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German Pages [730] Year 2017
Peter Zimmerling (Hg.)
Handbuch Evangelische Spiritualität Band 2: Theologie
Peter Zimmerling (Hg.)
Handbuch Evangelische Spiritualität Band 2: Theologie
Vandenhoeck & Ruprecht
Mit 11 Abbildungen Umschlagabbildung: © Maria Einert, Leipzig, „saat“, 2014 www.maria-einert.de Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. ISBN 978-3-666-56720-9 Weitere Ausgaben und Online-Angebote sind erhältlich unter: www.v-r.de © 2018, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Theaterstraße 13, D-37073 Göttingen/ Vandenhoeck & Ruprecht LLC, Bristol, CT, U.S.A. www.v-r.de Alle Rechte vorbehalten. Das Werk und seine Teile sind urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung in anderen als den gesetzlich zugelassenen Fällen bedarf der vorherigen schriftlichen Einwilligung des Verlages. Satz: Konrad Triltsch GmbH, Ochsenfurt
Danksagung
Das Handbuch Evangelische Spiritualität insgesamt und so auch sein zweiter Band sind ein Gemeinschaftswerk. Ohne die Fachkompetenz der Beiträgerinnen und Beiträger wäre er nicht zustande gekommen. Als Herausgeber danke ich zuerst den Kolleginnen und Kollegen, die Artikel zur Verfügung gestellt haben. Dass die meisten Leipziger Kollegen am Handbuch mitarbeiten, ist für mich ein wichtiges Zeichen kollegialer Verbundenheit. Vielleicht entwickelt sich das Thema Spiritualität in Zukunft als einheitsstiftendes Moment der unterschiedlichen theologischen Fächer, die sich aufgrund ihrer zunehmenden Spezialisierung in der Vergangenheit immer weiter auseinanderentwickelt haben. Mein Dank gilt auch meinen Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern, hier besonders Herrn stud. theol. Kevin Stilzebach, ohne dessen großes Engagement der Band nicht hätte erscheinen können. Er hat nicht nur alle anfallenden redaktionellen Arbeiten sorgfältig erledigt, sondern auch einen Großteil der Korrespondenz mit den Autorinnen und Autoren geführt. Der Leipziger Künstlerin Frau Maria Einert danke ich dafür, dass sie auch das Titelbild für den zweiten Band des Handbuchs bereitgestellt hat. In bewährter Weise hat Frau Margitta Berndt (Herrnhut) Korrektur gelesen. Eine besondere Freude ist für mich, dass Nikolaus Schneider, der frühere Ratsvorsitzende der Evangelischen Kirche in Deutschland, ein Geleitwort für den zweiten Band des Handbuchs verfasst hat. Den folgenden Kirchen, Stiftungen, Vereinen und Institutionen bin ich für finanzielle Unterstützung des Gesamtprojekts überaus dankbar: EKD (Evangelische Kirche in Deutschland), Evangelische Kirche Berlin-Brandenburg-schlesische Oberlausitz, Evangelische Kirche in Hessen und Nassau, Evangelische Landeskirche in Baden, Evangelisch-lutherische Landeskirche Sachsen, Dr. Heinz-Horst Deichmann Stiftung, Evangelische Diaspora e.V. , Förderverein der Theologischen Fakultät Leipzig e.V. , Stiftung Geistliches Leben.
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Danksagung
Last not least habe ich den Herren Christoph Spill und Dr. Bernhard Kirchmeier vom Verlag Vandenhoeck & Ruprecht für die Zusammenarbeit zu danken, die immer erfreulich war. Leipzig, im Frühjahr 2017
Peter Zimmerling
Geleitwort des ehemaligen Ratsvorsitzenden der EKD Nikolaus Schneider
„Wie Jesus Christus Gottes Zuspruch der Vergebung aller unserer Sünden ist, so und mit gleichem Ernst ist er auch Gottes kräftiger Anspruch auf unser ganzes Leben; […] Wir verwerfen die falsche Lehre, als gebe es Bereiche unseres Lebens, in denen wir nicht Jesus Christus, sondern anderen Herren zu eigen wären, […]“ (aus der 2. These der Barmer Theologischen Erklärung).
Diese theologische Erkenntnis und Lehre beansprucht nicht nur mit Worten gepredigt und bezeugt, sondern auch in allen Bereichen und mit allen Sinnen gelebt zu werden. Wie kann das ganz praktisch geschehen? Wie kann Gottes Geist den menschlichen Geist so inspirieren, dass eine ganzheitliche und alltägliche Nachfolge Jesu Christi möglich wird? Zur Beantwortung dieser Frage greifen auch die Kirchen der Reformation auf eine überkonfessionelle religiöse Vorstellung zurück: auf die Spiritualität. Der Begriff „Spiritualität“ verweist darauf, dass Menschen auf das Wirken eines „Geistes“ vertrauen, der ihr Leben über ihr eigenes, individuelles Denken, Verstehen, Empfinden und Entscheiden hinaus ausrichtet. Christenmenschen bekennen diese „Geist-Kraft“ als den „Heiligen Geist“, als die je aktuelle Wirkmacht Gottes. Evangelische Spiritualität bindet sich deshalb nicht an einen Geist, der von einem undefinierbaren „Irgendwoher“, aus einem unbestimmten „Numinosen“ oder einem philosophischen „Weltgeist“ bestimmt wird. Evangelische Spiritualität bindet sich an den Geist Gottes, wie er sich in der Heiligen Schrift – und im Besonderen im biblischen Zeugnis von Jesus Christus – manifestiert. Evangelische Spiritualität weist ihre besondere Fokussierung also darin auf, dass sie nach biblischer Orientierung fragt, wenn es um die geistliche Durchdringung aller Lebensbereiche geht. Sie legt Wert darauf, dem freien Wirken Gottes durch seinen Geist Raum zu geben und sich ihm anzuvertrauen. Evangelische Spiritualität vertraut darauf, dass Gottes Geist in jeder Zeit seine Wirksamkeit entfaltet, dass er – wie Bonhoeffer es formulierte – „der rechte Zeitgeist“ ist. Deshalb ist es auch die Aufgabe jeder Generation, darüber nachzudenken, wie Spiritualität in ihrer Zeit verstanden und gelebt werden will. Das vorliegende Buch über „Evangelische Spiritualität“ unterzieht sich dieser Auf-
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Geleitwort des ehemaligen Ratsvorsitzenden der EKD Nikolaus Schneider
gabe. Für mich mit einem faszinierenden Ansatz: Das heutige Wirken des Geistes Gottes, seine orientierende und ausrichtende Kraft, wird im Blick auf alle drei trinitarischen Dimensionen des theologischen Denkens und Redens über Gott beschrieben. Es geht also bei der Entfaltung evangelischer Spiritualität nicht allein um den dritten Artikel unseres Glaubensbekenntnisses, es geht auch um Gott, den Schöpfer, und um Gott in Jesus Christus. Themen wie „Evangelische Spiritualität und Ökologie“, „Spiritualität und Ehe“, „Evangelische Spiritualität als Existenz aus der Gewissheit des ewigen Lebens“, „Evangelische Spiritualität und interreligiöser Dialog“ machen dabei deutlich: Das Buch zielt darauf ab, dass gelebte evangelische Spiritualität im 21. Jahrhundert sowohl für einzelne Christinnen und Christen wie auch für ein friedliches Zusammenleben in Familie, Kirche und Gesellschaft dienlich ist. Den orientierenden Anstößen der Beiträge dieses Buches wünsche ich eine „inspirierende“ Verbreitung, damit Gottes Zuspruch und Anspruch zum Segen werden für „alles Volk“. Nikolaus Schneider
Inhalt
Danksagung
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Geleitwort des ehemaligen Ratsvorsitzenden der EKD Nikolaus Schneider
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Peter Zimmerling Das Handbuch Evangelische Spiritualität. Idee und Vorgeschichte
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Peter Zimmerling Zur Theologie der Evangelischen Spiritualität. Eine Einführung in Band 2 des Handbuchs Evangelische Spiritualität . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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Erster Teil: Der erste Artikel. Von der Schöpfung Hansjörg Hemminger Gottes Wildnis und des Menschen Garten. Evangelische Spiritualität und Ökologie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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Almut Beringer Evangelische Spiritualität im Dienst der Nachhaltigkeit. Unterwegs zu einer zeitgemäßen reformatorisch-transformativen Glaubenspraxis . . . .
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Thomas Görnitz, Brigitte Görnitz Naturwissenschaft und evangelische Spiritualität . . . . . . . . . . . . . .
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Georg Gremels Spiritualität und Ehe . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 111 Brigitte Enzner-Probst Spiritualität von Frauen (und Männern) heute
. . . . . . . . . . . . . . . 127
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Inhalt
Christoffer H. Grundmann „Gesunden Leib gib mir …“. Gesundheitssorge als Topos evangelischer Frömmigkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 148 Michael Utsch Evangelische Spiritualität und Psychologie
. . . . . . . . . . . . . . . . . 168
Arnd Barocka Risiken und Nebenwirkungen – Evangelische Spiritualität und psychische Gesundheit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 191 Sabine Bobert Postmoderne Spiritualität am Beispiel der Therapieszene Thorsten Dietz Evangelische Spiritualität und Gefühl
. . . . . . . . . 208
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Peter Bubmann „… weil sie die Seelen fröhlich macht“. Musik und Spiritualität . . . . . . 249 Peter Zimmerling Die Bedeutung der Volksfrömmigkeit für die evangelische Spiritualität – am Beispiel der Advents- und Weihnachtsfrömmigkeit . . . . . . . . . . . 267 Ralph Kunz, Rebecca A. Giselbrecht Evangelische Spiritualität und Bildung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 291
Zweiter Teil: Der zweite Artikel. Von der Erlösung Wolf Krötke Spiritualität im Geiste Jesu Christi . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 317 Jens Herzer Evangelische Spiritualität und das Neue Testament . . . . . . . . . . . . . 335 Bernd Janowski Ein Spiegel der Seele. Der Psalter und die christliche Spiritualität . . . . . 358 Gunda Schneider-Flume Spiritualität im Blick der rechtfertigenden Gnade . . . . . . . . . . . . . . 382
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Inhalt
Helmut Burkhardt Spiritualität und Umkehr. Umkehr als Grunddatum und Wesensmerkmal christlicher Spiritualität . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 401
Dritter Teil: Der dritte Artikel. Von der Heiligung Gregor Etzelmüller Die Bedeutung des Heiligen Geistes für die evangelische Spiritualität . . . 423 Wolfgang Ratzmann Evangelische Spiritualität und Gottesdienst . . . . . . . . . . . . . . . . . 443 David Plüss Evangelische Spiritualität und Sakrament . . . . . . . . . . . . . . . . . . 464 Eilert Herms Die Spiritualität des ordinierten Amtes
. . . . . . . . . . . . . . . . . . . 485
Holger Eschmann Evangelische Spiritualität und Heiligung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 510 Christian Möller Evangelische Spiritualität und Alltag . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 527 Johannes Eurich Evangelische Spiritualität in der Diakonie . . . . . . . . . . . . . . . . . . 543 Rochus Leonhardt Evangelische Spiritualität und Prophetie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 566 Reinhold Bernhardt Evangelische Spiritualität im ökumenischen Horizont Werner Thiede Evangelische Spiritualität und interreligiöser Dialog
. . . . . . . . . . . 591
. . . . . . . . . . . . 608
Gert Pickel Evangelische Spiritualität und Säkularismus oder Atheismus
. . . . . . . 627
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Inhalt
Christian Herrmann Evangelische Spiritualität als Existenz aus der Gewissheit des ewigen Lebens . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 648 Corinna Dahlgrün Die Unterscheidung der Geister . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 668 Eberhard Winkler Spiritualität zwischen Wirklichkeit und Anspruch Andreas Müller Evangelische Spiritualität und Mystik
. . . . . . . . . . . . . 688
. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 703
Autorinnen und Autoren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 721 Personenregister . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 726
Peter Zimmerling
Das Handbuch Evangelische Spiritualität Idee und Vorgeschichte
Die Idee, ein Handbuch Evangelische Spiritualität zu edieren, hat – wie wohl alle derartigen Projekte – eine längere Vorgeschichte. Seit meiner Habilitationsschrift über das pfingstlich-charismatische Christsein von 20011 haben mich spirituelle Fragestellungen nicht mehr losgelassen. Dabei konzentrierte ich mich mehr und mehr auf das Phänomen evangelischer Spiritualität.2 Mir war deutlich geworden: Im Raum der römisch-katholischen Theologie existiert eine Fülle von Publikationen zur christlichen Spiritualität. Auch die beiden Handbücher zur christlichen Spiritualität, die in den vergangenen Jahrzehnten erschienen, sind katholischer Provenienz.3 Währenddessen führt die Spiritualität im Bereich der wissenschaftlichen evangelischen Theologie trotz einer in den vergangenen Jahren zu beobachtenden Zunahme an Veröffentlichungen zum Thema immer noch weithin ein Schattendasein. Im wissenschaftlich-theologischen Bewusstsein sind konkrete Kenntnisse über die mannigfachen Erscheinungsformen evangelischer Spiritualität häufig nur ansatzweise vorhanden. Diese Feststellung korrespondiert mit dem Befund, den aktuelle empirische Studien aus dem Bereich der Religionssoziologie erbracht haben, wonach sich das spirituelle Interesse selbst vieler Kirchenmitglieder eher auf esoterische und fernöstliche Spiritualitätsformen richtet, und dass, wenn überhaupt, vor allem charismatische und fundamentalistische Erscheinungsformen von Spiritualität im Rahmen des Protestantismus an Vitalität gewinnen. Wenn die Theologie jedoch nicht auf die Spiritualität bezogen ist, schneidet sie sich selbst von ihrem Wurzelboden ab. Ohne
1 Die charismatischen Bewegungen. Theologie, Spiritualität, Anstöße zum Gespräch, 22002; Charismatische Bewegungen, UTB 3199, Göttingen 2009. 2 2003 konnte mein Buch „Evangelische Spiritualität. Wurzeln und Zugänge“, 2015 „Evangelische Mystik“ erscheinen. 3 Geschichte der christlichen Spiritualität, Bd.1–3, hg. von Dupré, Louis/Saliers, Don E. in Verbindung mit Meyendorff, John, Würzburg 1993–1997; Waaijman, Kees, Handbuch der Spiritualität. Formen, Grundlagen, Methoden, Bd. 1–3, Mainz 2004–2007.
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Peter Zimmerling
Wurzelboden aber wird sie nicht nur merkwürdig ortlos, sondern auch steril und ist auf Dauer nicht überlebensfähig.4 Angesichts dieser Beobachtungen lag es nahe, ein Handbuch Evangelische Spiritualität zu erarbeiten, zumal die Reformationsdekade zusätzlich zur Selbstreflexion und Selbstdarstellung evangelischen Christseins herausforderte. Das Projekt eines solchen Handbuchs ließ sich naturgemäß nur als Gemeinschaftswerk und im interdisziplinären Diskurs durchführen. Darum arbeiten daran sowohl Fachvertreterinnen und -vertreter aus den unterschiedlichen theologischen Disziplinen (Bibelwissenschaften, Kirchengeschichte, Systematische Theologie, Praktische Theologie und Diakonik) und solche aus den Humanwissenschaften, den Kulturwissenschaften, aber auch aus den Wirtschaftsund Naturwissenschaften mit. Um der innerprotestantischen Vielfalt Rechnung zu tragen, habe ich mich darum bemüht, ausgewiesene Fachvertreter zu Wort kommen zu lassen, die den unterschiedlichsten spirituellen, theologischen und kirchlichen Traditionen angehören.
1.
Ziel
Ziel des auf drei Bände angelegten Handbuchs Evangelische Spiritualität ist es, die reichen Traditionen evangelischer Spiritualität in das theologische Bewusstsein zu bringen und für gegenwärtige wissenschaftliche Diskurse zur Verfügung zu stellen. Das Handbuch soll die Frage klären helfen, inwiefern es eine genuin evangelische Spiritualität gibt und worin ihre Konstitutionsbedingungen und theologischen Grundlagen, ihre Erscheinungsformen, ihre geschichtlichen Veränderungen, ihre Praxis und aktuelle Relevanz, aber auch ihre Gefährdungen bestehen. Eine wichtige Leitfrage lautet: Worin besteht der spezifische Beitrag der evangelischen Tradition im Hinblick auf Geschichte, Theologie und Praxis christlicher Spiritualität? Es waren vor allem zwei Spiritualitätslehrer aus dem Bereich der Orthodoxie und des römischen Katholizismus, der Mönch Mitrophan vom Berg Athos und Abt Emmanuel Jungclaussen von der Benediktinerabtei Niederaltaich, die mich für das besondere Profil und die besonderen Gestaltungsformen evangelischer Spiritualität sensibilisierten. Sie machten mir deutlich, dass diese spirituelle Prägung in der Weltchristenheit nicht verloren gehen dürfe, sondern stärker als bisher zur Geltung gebracht werden sollte. Der Grund dafür lag bei beiden darin, dass sie durch die evangelische Spiritualität nachhaltige Impulse empfangen hatten.
4 So auch Reich, Christa, Evangelium: klingendes Wort. Zur theologischen Bedeutung des Singens, hg. von Möller, Christian in Verbindung mit der Hessischen Kantorei, Stuttgart 1979, 105.
Das Handbuch Evangelische Spiritualität
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In meiner Antrittsvorlesung an der Theologischen Fakultät der Universität Leipzig im Jahr 2005 plädierte ich für eine Integration der Spiritualität in das Studium der Evangelischen Theologie.5 Inzwischen haben die meisten Landeskirchen und viele Theologischen Fakultäten erkannt, dass die Theologiestudierenden auf dem Weg zur Gewinnung einer eigenen reflektierten Spiritualität nicht alleingelassen werden dürfen und entsprechende Angebote entwickelt.6 Die wissenschaftliche Theologie war in der Vergangenheit gut darin, Studierenden zu helfen, die Enge und Beschränktheit ihres mitgebrachten Kinderglaubens infrage zu stellen und zu überwinden. Meist blieben sie jedoch ohne Hilfe, wenn es darum ging, einen lebendigen und gereiften Glauben einschließlich konkreter Gestaltungsformen zu entwickeln.7 In Leipzig dient u. a. das von Zeit zu Zeit durchgeführte Studium spirituale diesem Ziel. Auch das dreibändige Handbuch Evangelische Spiritualität möchte einen Baustein im Rahmen dieser Aufgabe zur Verfügung stellen. Als profundes Sammelwerk soll es neben Theologiestudierenden vorwiegend für Fachwissenschaftler, aber auch für Theologen und theologisch gebildete, in der kirchlichen Praxis engagierte Laien als wissenschaftliches Nachschlagewerk und als Einstiegslektüre in das vertiefende Studium der evangelischen Spiritualität fungieren.
2.
Zum Begriff „evangelische Spiritualität“
Der Siegeszug des Begriffs „Spiritualität“ im Protestantismus begann mit der Fünften Vollversammlung des Ökumenischen Rates der Kirchen in Nairobi 1975. Im Schlusskommuniqué der Vollversammlung hieß es: „Wir sehnen uns nach einer neuen Spiritualität, die unser Planen, Denken und Handeln durchdringt“.8 In Deutschland wurde der Begriff durch die Ende 1979 erschienene EKD-Studie „Evangelische Spiritualität“ kirchlich anerkannt.9 Mit ihr vollzog die evangelische
5 Vgl. Zimmerling, Peter, Plädoyer für eine neue Einheit von Theologie und Spiritualität, in: PTh 97/2008, 130–143. 6 Vgl. Hermisson, Sabine, Modelle zur Förderung von Spiritualität in Vikariat und kirchlicher Studienbegleitung. Eine qualitativ-empirische Analyse, in: Kunz, Ralph/Kohli Reichenbach, Claudia (Hg.), Spiritualität im Diskurs. Spiritualitätsforschung in theologischer Perspektive, Zürich 2012, 143–157. 7 So vor Jahren schon Ruhbach, Gerhard, Theologie und Spiritualität. Beiträge zur Gestaltwerdung des christlichen Glaubens, Göttingen 1987, 17. 8 Krüger, Harald/Müller-Römheld, Walter (Hg.), Bericht aus Nairobi 1975. Ergebnisse, Erlebnisse, Ereignisse. Offizieller Bericht der Fünften Vollversammlung des Ökumenischen Rates der Kirchen. 23. Nov. bis 10. Dez. 1975 in Nairobi/Kenia, Frankfurt a.M. 21976, 1, hier wird „spirituality“ noch mit „Frömmigkeit“ übersetzt; anders bereits 321ff, dem Bericht über den Workshop „Spiritualität“. 9 Evangelische Spiritualität. Überlegungen und Anstöße zu einer Neuorientierung, vorgelegt von
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Peter Zimmerling
Kirche einen Paradigmenwechsel: Sie nahm das Problem der Spiritualität als eine für das Christsein in der modernen Welt wesentliche Fragestellung auf. Der Begriff besitzt gegenüber „Frömmigkeit“, „Religiosität“ und „Glaube“ verschiedene Vorteile: Er ist im Bereich der gesamten Ökumene verständlich; er macht deutlich, dass es Spiritualität nur im Plural gibt;10 er bringt das in der abendländischen Theologie lange ungenügend berücksichtigte Wirken des Geistes neu zu Bewusstsein;11 der Aspekt der Gestaltwerdung macht deutlich, dass die soziale Dimension zum Glauben untrennbar dazugehört. Schließlich spricht für die Verwendung des Begriffs „Spiritualität“, dass er im Gegensatz zu den traditionellen Begriffen „Frömmigkeit“, „Religiosität“ und „Glaube“ für junge und ältere Menschen, auch für solche, die dem christlichen Glauben fernstehen, einen positiven Klang besitzt. Während viele Menschen in einer postchristlichen Gesellschaft meinen, mit dem altbekannten Christentum fertig zu sein, weist der Begriff „Spiritualität“ auf Unbekanntes. Gerade die häufig konstatierte Vagheit macht neugierig, verlockt dazu, sich mit den damit bezeichneten Phänomenen näher zu beschäftigen. Weil „Spiritualität“ einen Containerbegriff darstellt, sollte derjenige, der ihn verwendet, sagen, was er darunter versteht. Das tun die meisten der am Handbuch beteiligten Autorinnen und Autoren mehr oder weniger ausführlich zu Beginn ihrer Beiträge. Als Herausgeber habe ich keine weitergehenden Vorgaben gemacht, was ein Autor unter dem Begriff verstehen soll, um ihn nicht zu stark einzuengen. Zudem birgt eine zu starre Begriffsbildung die Gefahr in sich, den Blick für die konkreten spirituellen Phänomene eher zu verstellen als zu schärfen. Die Beschäftigung mit den geschichtlichen Erscheinungsformen der Spiritualität bietet die beste Chance dafür, dem, was Spiritualität ist, auf die Spur zu kommen. Ich habe allerdings immer wieder auf mein Buch „Evangelische Spiritualität“ verwiesen, in dem ich in Aufnahme von Überlegungen der genannten EKDStudie von folgendem weiten Spiritualitätsbegriff ausgehe: Ich verstehe unter Spiritualität den äußere Gestalt gewinnenden gelebten Glauben, der die drei Aspekte rechtfertigenden Glauben, Frömmigkeitsübung und Lebensgestaltung umfasst. Evangelische, d. h. vom Evangelium geprägte, Spiritualität wird dabei durch den Rechtfertigungsglauben sowohl motiviert als auch begrenzt. Die Erfahrung, durch Gott gerechtfertigt zu sein, befreit dazu, den Glauben in immer neuen Formen einzuüben und in der alltäglichen Lebensgestaltung zu bewähren. einer Arbeitsgruppe der Evangelischen Kirche in Deutschland, hg. von der Kirchenkanzlei im Auftrag des Rates der Evangelischen Kirche in Deutschland, Gütersloh 21980. 10 Fahlbusch, Erwin u. a., Art. Spiritualität, in: Evangelisches Kirchenlexikon, hg. von ders. u. a., Bd. 4, Göttingen 31996, 402–419; Wiggermann, Karl-Friedrich, Art. Spiritualität, in: TRE, Bd. 31, Berlin/New York 2000, 708–717. 11 Vgl. dazu im Einzelnen Zimmerling, Peter, Charismatische Bewegungen, Göttingen 2009, 29– 33.
Das Handbuch Evangelische Spiritualität
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Umgekehrt bewahrt der Rechtfertigungsglaube davor, das eigene spirituelle und ethische Streben zu überschätzen. Eine so verstandene Spiritualität vermag einerseits den heutigen Reichtum an spirituellen Möglichkeiten positiv aufzunehmen. Die seit einigen Jahren zu beobachtende Erweiterung von spirituellen Formen im Raum des Protestantismus sollte als Bereicherung des evangelischen Glaubens anerkannt werden, auch wenn die neuen Formen häufig aus dem Bereich der katholischen (wie z. B. das Pilgern), der orthodoxen (wie z. B. das sog. Jesusgebet) und zum Teil aus anderen religiösen Traditionen (wie z. B. die Meditation) stammen. Spirituelle Suchbewegungen der Gegenwart können auf diese Weise gewürdigt werden. Andererseits geht mit der neuen spirituellen Vielfalt häufig eine Patchwork-Spiritualität einher, verbunden mit einer spirituellen Überanstrengung des Subjekts. In dieser Situation ermöglicht der Glaube, dass Gott mir in Jesus Christus auch ohne mein eigenes spirituelles Tun und Streben gnädig ist, mich in spiritueller Hinsicht zu begrenzen. Ich kann und brauche mir durch mein spirituelles Streben den Himmel nicht zu verdienen. Dass mir meine Gerechtigkeit von außen als iustitia aliena, als fremde Gerechtigkeit, zugeeignet wird, ist keine spirituelle Beschränkung, sondern hilft mir, dass ich meine Selbstbegrenzung als Geschöpf auch in spiritueller Hinsicht bejahen kann. Ich muss nicht mehr sein als ich vor Gott und Menschen bin: ein heilsam begrenzter Mensch. Auf diese Weise ist sichergestellt, dass spirituelle Übungen – wie die Zugehörigkeit zu einem Hauskreis oder die Inanspruchnahme von geistlicher Begleitung oder die Teilnahme an der Aktion „Sieben Wochen ohne“ – nicht unter der Hand zum Ausweis von Christsein werden. Da meine Seligkeit nicht an einer bestimmten spirituellen Praxis hängt, ist für evangelische Spiritualität ein Raum der Freiheit konstitutiv.
3.
Inhalt
Die drei Bände des Handbuches „Evangelische Spiritualität“ sind inhaltlich folgendermaßen gegliedert: Im ersten Band werden die geschichtlichen Erscheinungsformen evangelischer Spiritualität von der Reformation bis in die Gegenwart dargestellt. Der Protestantismus bildete seit seiner Entstehung im ersten Drittel des 16. Jahrhunderts eine Fülle von Erscheinungsformen der Spiritualität aus. Diese Vielfalt war ein wesentlicher Grund für seine Vitalität. Gleichzeitig erlebte der Protestantismus im Lauf seiner Geschichte mehrere schwere Krisen: z. B. die Gegenreformation, den 30jährigen Krieg, das Dritte Reich, die SEDHerrschaft. Dabei stellte sich mir die Frage, ob bestimmte Formen evangelischer Spiritualität diese Krisen begünstigt haben. Ich hoffe, dass der zweite Band des
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Peter Zimmerling
Handbuchs, in dem es um die Theologie der evangelischen Spiritualität geht, hierauf Antworten gibt. Im zweiten Band wird die Theorie evangelischer Spiritualität entfaltet. Dabei geht es darum, theologische Kriterien zu entwickeln, um eine evangelische Spiritualität zu konturieren, die rechtfertigungstheologisch orientiert und im Kontext der spätmodernen Gesellschaft lebbar ist. Von hier aus lässt sich auch der Ort evangelischer Spiritualität im Kontext der Ökumene und des interreligiösen Dialogs näher bestimmen. Im dritten Band sind die vielfältigen Praxisformen evangelischer Spiritualität darzustellen. Dabei geht es neben der Entfaltung ihrer Gestalt und der Untersuchung ihrer Beziehungen zueinander um ihre kritische Würdigung. Die Unterteilung in Geschichte, Theologie und Praxis erlaubt, sich dem Phänomen der evangelischen Spiritualität aus drei unterschiedlichen Perspektiven anzunähern. Dadurch ist es möglich, voneinander verschiedene Aspekte wahrzunehmen. Zusammengenommen erlauben sie eine Gesamtschau evangelischer Spiritualität.
4.
Evangelische Spiritualität im ökumenischen Kontext
Um Missverständnissen vorzubeugen: Die Konzentration des Handbuchs auf die evangelische Spiritualität ist nicht in konfessionalistischem oder gar antiökumenischem Sinne gemeint, war doch die gelebte Spiritualität immer schon das Feld, auf dem der ökumenische Austausch zwischen den Konfessionen am besten funktionierte. Das Gleiche gilt für alle praktischen Fragen wie den Einsatz für Gerechtigkeit, Frieden und Bewahrung der Schöpfung. Zu allen Zeiten beeinflussten sich die Mitglieder der verschiedenen Konfessionen auf diesem Gebiet – häufig ohne sich entsprechender Abhängigkeiten bewusst zu sein. Offensichtlich wirkt gerade die Unterschiedlichkeit der gelebten Spiritualität anziehend. Fremder Reichtum fasziniert! Ihn möchte man selbst ausprobieren; an ihm möchte man selbst Anteil haben. Zeiten, in denen die offizielle Ökumene stagniert, tun deshalb gut daran, das ökumenische Potenzial gelebter Spiritualität zu entdecken. Vielleicht kann in Zukunft über diesen Umweg die organisierte Ökumene neue Dynamik gewinnen. Evangelische, katholische und orthodoxe Spiritualität zeichnet sich durch je besondere Prägung und eigene Schwerpunkte aus. Meine These ist: Die einzelnen Traditionen gewinnen an Reichtum und Relevanz, wenn sie bereit sind, voneinander zu lernen. Außerdem ermöglicht der gegenseitige Austausch, falsche Einseitigkeiten zu überwinden. Voraussetzung dafür ist allerdings, dass auch der Protestantismus bereit ist, sich seiner eigenen Spiritualität bewusst zu werden, diese zu pflegen und an die nachwachsende Generation weiterzugeben. Obwohl
Das Handbuch Evangelische Spiritualität
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bei dem Handbuch der Akzent auf der Selbstvergewisserung und Selbstdarstellung der evangelischen Spiritualität liegt, besteht das übergreifende Ziel darin, auf der Basis der eigenen Identität ein qualifiziertes Gespräch mit den ökumenischen Partnern zu ermöglichen. Evangelische Spiritualität sollte in Zukunft an den Stellen weiterentwickelt werden, wo sie sich angesichts der Herausforderungen der Gegenwart als defizitär erweist. Dabei ist vor allem die Bedeutung von Emotionalität und Sinnlichkeit, aber auch die Frage nach einer Pluralisierung der Formen zu bedenken. Menschen wollen den Glauben heute nicht nur denken, sondern auch mit Leib und Seele erfahren.12 Die fortschreitende Ausdifferenzierung der ästhetischen Milieus in unserer Gesellschaft lässt nicht länger zu, sämtliche Kirchenmitglieder oder gar alle Mitglieder der Gesellschaft auf einige wenige traditionelle Spiritualitätsformen der eigenen Konfession festzulegen. Eine Erweiterung der Formenvielfalt ist dringend geboten. Die unterschiedlichen Konfessionen tun angesichts dieser Situation gut daran, bei den anderen Konfessionen in die Schule zu gehen, um spirituelle Formen zu entdecken, die zur Bereicherung des eigenen spirituellen Profils beitragen. Dass darüber hinaus auch nichtchristliche religiöse Traditionen als Inspirationsquelle für neue spirituelle Formen fungieren können, hat die Entwicklung der christlichen Meditationsbewegung nach dem Zweiten Weltkrieg gezeigt.
12 So auch Meyer-Blanck, Michael, Inszenierung des Evangeliums. Ein kurzer Gang durch den Sonntagsgottesdienst nach der Erneuerten Agende, Göttingen 1997, 133.
Peter Zimmerling
Zur Theologie der Evangelischen Spiritualität Eine Einführung in Band 2 des Handbuchs Evangelische Spiritualität
1.
Die Notwendigkeit einer Theologie evangelischer Spiritualität
1.1
Interdependenz zwischen Spiritualität und Theologie
Für die Reformation standen gelebter und gedachter Glaube in einem Wechselverhältnis. Spiritualität und Bildung bildeten die zwei Seiten der gleichen Medaille. Philipp Melanchthon, der Begründer des evangelischen Bildungswesens, hat diese unauflösliche Zusammengehörigkeit in seinem Bildungsprogramm auf den Punkt gebracht: „Zwei Begriffe sind es, auf die gleichsam als auf das Ziel das ganze Leben ausgerichtet ist: Frömmigkeit und Bildung“.1 Zu einer vollständigen Bildung gehört die Beschäftigung mit religiösen Themen und Inhalten und eine reife Spiritualität schließt umgekehrt ihre Reflexion ein: „Bildung ist unvollständig, wenn sie nicht die Dimension des Glaubens und die Themen religiöser Verständigung einschließt; und Glaube ist unbegriffen, wenn er nicht verantwortet und damit auch auf der Ebene der Bildung artikuliert wird“.2
Das reformatorische Bildungsprogramm ist biblisch begründet: Mit der Ausgießung des Geistes Gottes an Pfingsten (Apg 2) sind alle Christen zur Mündigkeit berufen. Die Forderung Kants, dass der Mensch sich eigenständig seines Verstandes zu bedienen lerne, ist bereits in Mt 23,8–10 präfiguriert, wo Jesus sagt: „Aber ihr sollt euch nicht Rabbi nennen lassen; denn einer ist euer Meister; ihr aber seid alle Brüder. Und ihr sollt niemanden unter euch Vater nennen auf Erden; denn einer ist euer Vater, der im Himmel ist. Und ihr sollt euch nicht Lehrer nennen lassen; denn einer ist euer Lehrer: Christus“. 1 Philipp Melanchthon, Supplementa Melanchthoniana VI/1, Leipzig 1910, 373. 2 Wolfgang Huber, Kirche in der Zeitenwende. Gesellschaftlicher Wandel und Erneuerung der Kirche, Gütersloh 1998, 294.
Zur Theologie der Evangelischen Spiritualität
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Die Reformation brachte die biblischen Vorstellungen von der Mündigkeit jedes Christen in der Forderung nach dem allgemeinen Priestertum zum Ausdruck. Damit diese Forderung keine bloße Theorie blieb, entwickelte die Reformation ein Bildungsprogramm, das zur Gründung bzw. Reform von Schulen und Universitäten führte. Spiritualität und Bildung gehören auch heute noch zusammen. Egal, zu welchem Ergebnis jemand bei der Auseinandersetzung mit religiösen bzw. spirituellen Fragen für sich kommen mag: Niemand wird bestreiten, dass „zur Ausbildung einer individuellen Identität auch die Suche nach Antworten auf die Gottesfrage gehört“.3
1.2
Theologie der Spiritualität interdisziplinär
Die Aufgabe, Kriterien für eine lebensförderliche Spiritualität zu entwickeln, wird die Theologie nur interdisziplinar, d. h. zusammen mit anderen Wissenschaften erfüllen können. Sonst droht angesichts der Rückkehr der Religion in die Öffentlichkeit eine zunehmende Kommerzialisierung und Verwilderung der Spiritualität. Bereits heute existiert eine Reihe von unterschiedlichen wissenschaftlichen Zugangsweisen zur Spiritualität. Humanwissenschaftliche, historische und theologische Methoden stehen dabei im Vordergrund. Sie alle sind in der Lage, nur jeweils eine Dimension der Spiritualität zu erfassen. Darum kann sich die Erforschung der Spiritualität nicht auf eine einzige Methode beschränken. Mit Hilfe der Psychologie lässt sich genauer untersuchen, welche Wirkungen unterschiedliche Formen der Spiritualität auf das gesundheitliche Befinden eines Menschen haben. Die Religionssoziologie hat empirische Untersuchungsmethoden entwickelt, mit deren Hilfe sich zumindest annäherungsweise erforschen lässt, was Menschen innerhalb und außerhalb der Kirche wirklich glauben. Historische Forschungsansätze erlauben, die unterschiedlichen Erscheinungsformen evangelischer Spiritualität im Lauf der Geschichte zu untersuchen. Von Anfang an gab es evangelische Spiritualität nur im Plural. Zudem hat die Vielzahl evangelischer Spiritualitäten im Lauf der Zeit tiefgreifende Entwicklungs- bzw. Wandlungsprozesse durchgemacht. Im Hinblick auf die Erneuerung der evangelischen Spiritualität ist die Erforschung ihrer Geschichte unerlässlich: Erneuerung wird es nur in Aufnahme, Kritik und Weiterentwicklung der spirituellen Traditionen geben. Einerseits ist die Besinnung auf die reformatorischen Wurzeln evangelischer Spiritualität notwendig. Andererseits tut evangelische Spiritualität gut daran, bei den vorreformatorischen Konfessionen in die Schule 3 A. a. O., 299.
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zu gehen, um spirituelle Erkenntnisse und Formen zu reintegrieren, die diese bewahrt haben – ein Prozess, der sich seit einigen Jahren in vollem Gang befindet. Man denke nur an das evangelische Pilgern, an evangelische Exerzitien, an geistliche Begleitung und das Aufstellen von Lichterbäumen in evangelischen Kirchen. Darüber hinaus ist zu fragen, wo evangelische Spiritualität von den spirituellen Traditionen anderer Religionen lernen kann. Geschichte und Gegenwart zeigen, dass den verschiedenen Erscheinungsformen evangelischer Spiritualität unterschiedliche theologische Ansätze zugrunde liegen. Dabei werden schöpfungstheologische, christologische, pneumatologische und trinitätstheologische Ansätze erkennbar. Reformatorische Spiritualität ist von Haus aus christologisch geprägt, während die Spiritualität der unterschiedlichen charismatischen Bewegungen der Gegenwart sich durch einen pneumatologischen Ansatz auszeichnet. Ich plädiere dafür, die evangelische Spiritualität in Zukunft mit Hilfe eines trinitätstheologischen Ansatzes weiterzuentwickeln, um z. B. neben der Natur die unterschiedlichen Aspekte des Menschseins unter Einschluss von Sinnlichkeit und Emotionalität in der Spiritualität stärker als bisher berücksichtigen zu können.
1.3
Theologie als Korrekturinstanz der Spiritualität
Dass evangelische Spiritualität die Theologie als Korrekturinstanz braucht, zeigt die neuere deutsche Kirchengeschichte. Nicht nur die Deutschen Christen, sondern auch viele pietistisch geprägten Gruppen, in denen eine lebendige Spiritualität gepflegt wurde, haben im Dritten Reich die Dämonien der nationalsozialistischen Ideologie nicht durchschaut.4 Es bedurfte der theologischen Einsichten Karl Barths und seiner Weggefährten, um die Nazi-Verführung zu entlarven. Wichtigstes Dokument dieses Durchblicks ist die „Theologische Erklärung der Bekenntnissynode von Barmen“ vom 29. bis 31. Mai 1934 (EG 810, Ausgabe für die Evangelisch-Lutherische Kirche Sachsens), die mittlerweile in vielen evangelischen Kirchen Europas Bekenntnischarakter besitzt. Das Beispiel lässt erkennen, dass selbst eine intensive Frömmigkeit in Gefahr steht, vom Geist der Zeit überrollt zu werden. Es gibt eine Übermacht der spirituellen Erfahrung, die jede kritische Distanz zu sich selbst auflöst und eine Selbstkorrektur unmöglich macht. Um dem Sog des Faktischen nicht zu erliegen, benötigt Spiritualität die Theologie als kritische Instanz.
4 Vgl. dazu im Einzelnen: Dietrich Kuessner, Die Spiritualität der Deutschen Christen. Ein Versuch, in Bd. 1 dieses Handbuchs (Göttingen 2017), 733–754.
Zur Theologie der Evangelischen Spiritualität
1.4
23
Apologetische Aufgabe der Theologie im Hinblick auf die Spiritualität
Wie nötig die apologetische Funktion der Theologie im Hinblick auf die gelebte Spiritualität ist, lässt sich besonders gut am Verhältnis von Glaube und Naturwissenschaften zeigen. Auf der einen Seite gibt es immer noch eine Vielzahl von Zeitgenossen, für die naturwissenschaftliche Theorien und Erkenntnisse unüberwindliche Hindernisse gegenüber dem Glauben bilden. Auf der anderen Seite hat eine erstaunliche Anzahl von führenden Naturwissenschaftlern seit einiger Zeit begonnen, zu theologisieren.5 Zur Vorbereitung und Begleitung des Glaubenszeugnisses gegenüber naturwissenschaftlich geprägten Menschen ist eine theologische Apologetik unerlässlich. Kirche und Gemeinde brauchen die akademische Theologie bei der denkerischen Verantwortung ihrer Spiritualität in der Öffentlichkeit.
1.5
Herausbildung einer reflektierten spirituellen Biografie
Die Herausbildung einer persönlichen spirituellen Biografie stellt, zumal in einer zunehmend säkularen und entkirchlichten Gesellschaft, eine wesentliche Aufgabe für jeden Christen dar. Schon aus den neutestamentlichen Texten wird deutlich, dass der Glaube auf individuelle Aneignung zielt. Jesus ruft Menschen persönlich, mit ihrem Namen, in seine Nachfolge (z. B. Mk 2,13f). Die Reformation hat die Bedeutung der individuellen Dimension des christlichen Glaubens wiederentdeckt. Das wird besonders deutlich an Martin Luthers Auslegung des Apostolischen Glaubensbekenntnisses im Kleinen Katechismus: „Ich glaube, dass mich Gott geschaffen hat samt allen Kreaturen […]“ „Ich glaube, dass Jesus Christus […] sei mein Herr […]“ „Ich glaube, dass ich nicht aus eigener Vernunft noch Kraft an Jesus Christus, meinen Herrn glauben oder zu ihm kommen kann […]“ (EG 806.2). Ähnlich heißt es im Heidelberger Katechismus in Frage 1: „Was ist dein einziger Trost im Leben und im Sterben? Dass ich mit Leib und Seele, im Leben und im Sterben, nicht mir, sondern meinem getreuen Heiland Jesus Christus gehöre“ (EG 807). Zur Entwicklung einer eigenen spirituellen Biografie muss die Fähigkeit kommen, diese zu reflektieren, um vor frommer Gettoisierung und fundamentalistischer Selbstverabsolutierung der eigenen Spiritualität bewahrt zu bleiben. Angesichts des Fundamentalismus als Verlockung in der Risikogesellschaft stellt diese Reflexionsfähigkeit für jeden Christen eine wichtige Kompetenz dar. Die Fähigkeit, gegenüber dem eigenen spirituellen Tun eine kritische Distanz ein5 Eine erste Einführung dazu bietet John Polkinghorne, Theologie und Naturwissenschaften. Eine Einführung, Gütersloh 2001.
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zunehmen, bildet die Voraussetzung zur offenen Kommunikation mit Anhängern anderer Spiritualitäten. Eine respektvolle interreligiöse Begegnung ist am ehesten dann möglich, wenn beide Partner sich ihrer je eigenen Spiritualität gewiss sind. Nur unter dieser Voraussetzung lässt sich Angehörigen anderer Religionen angstfrei begegnen. Die Begegnung mit einer anderen Religion stellt immer eine Fremdheitserfahrung dar, die automatisch die Infragestellung der eigenen Position einschließt. Das beste Mittel, die natürlichen menschlichen Abwehrmechanismen gegenüber dem religiös Fremden außer Kraft zu setzen, ist die reflektierte eigene Spiritualität. Zur Vergewisserung der eigenen spirituellen Traditionen beizutragen, wird der wirksamste Weg sein, damit sich Menschen in unserer Gesellschaft für die Achtung anderer religiöser Traditionen einsetzen. Angesichts zunehmender Pluralität und Unübersichtlichkeit ist heute für jeden Christen die Herausbildung von Orientierungskraft und Unterscheidungsfähigkeit auf dem Feld unterschiedlicher christlicher und außerchristlicher spiritueller Angebote unerlässlich. Dazu ist die Kenntnis von Kriterien zur Unterscheidung zwischen lebensförderlichen und lebensbeeinträchtigenden bzw. lebenszerstörenden Spiritualitätsformen nötig. Dazu gehört auch die Fähigkeit, zu erkennen, welche spirituellen Formen zur Persönlichkeit und der jeweiligen Lebenssituation passen oder nicht. Die meisten westlichen Menschen haben heute kaum Zugang zu den Dimensionen von Geist und Seele, die doch unverzichtbar zum Menschsein gehören und dieses erst zur Erfüllung bringen. „Die Lebenswelt des postmodernen Menschen ist weit gespannt, wenn man sie am Verbrauch von Raum, Zeit und materiellen Gütern misst. Aber sie ist eine enge Welt, misst man sie an den Bedürfnissen von Geist und Seele“.6
Nur eine Minderheit ist in Westeuropa in den Räumen des Geistes und der Seele noch zu Hause und bereit, Zeit und Kraft in diese Bereiche des Menschseins zu investieren. Die Sehnsucht nach ständig neuen äußeren Erlebnissen lässt den weiten Raum übersehen, den gerade die Gottesbeziehung dem Geist und der Seele eröffnen kann. Das Ergebnis ist eine „öffentliche Realitätsschrumpfung“.7 Dem steht die Beobachtung gegenüber, dass für Menschen aus anderen Kulturen die Spiritualität häufig einen ungleich höheren Stellenwert besitzt. Nur jemand, der eine eigene, reflektierte Spiritualität entwickelt hat, wird für diese ein ernstzunehmender Gesprächspartner sein. Sicherlich erfordert das Pfarramt neben der gelebten Spiritualität noch andere Fähigkeiten.8 Aber gerade für Theologinnen und Theologen erscheinen mir die
6 Hansjörg Hemminger, Baiersbronn, unveröffentlichtes Vortragsmanuskript. 7 A. a. O. 8 Vgl. hier und im Folgenden: Peter Zimmerling, Integration der Spiritualität in das Studium der
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Herausbildung und die Reflexion der eigenen Spiritualität grundlegend zu sein. Die traditionelle wissenschaftlich-theologische Ausbildung lässt gerade an dieser Stelle immer noch gravierende Defizite erkennen.9 Die mitgebrachte, vom Engagement in der Gemeinde geprägte Spiritualität der Studierenden wird zwar in Reflexion überführt, jedoch nur ungenügend durch Reflexion geklärt und vertieft wieder freigegeben.10 Drastisch formuliert: Theologische Fakultäten sind gut darin, den mitgebrachten Kinderglauben der Studierenden zu destruieren, sie stellen aber keine ausreichenden Hilfen bereit, um einen eigenen reflektierten Glauben zu entwickeln. Damit Studierende eine persönliche reflektierte Spiritualität entwickeln können, sollte die Beschäftigung mit der Spiritualität in das Theologiestudium integriert werden. Der Verzicht darauf mochte ohne größeren Schaden angehen, solange die Studierenden noch kirchlich sozialisiert waren. In einer Zeit, wo das nicht mehr ohne Weiteres vorausgesetzt werden kann, ist eine Einführung in elementare spirituelle Vollzüge und deren Reflexion unerlässlich. Rudolf Bohren forderte deshalb schon Anfang der 1960er Jahre eine Erneuerung der theologia ascetica.11 Andere – wie Manfred Seitz, Gerhard Ruhbach, Manfred Josuttis und Christian Möller – sind ihm darin gefolgt.12 Wie sollen Pfarrerinnen und Pfarrer, Religionspädagoginnen und -pädagogen andere Menschen auf dem Weg zur Gestaltwerdung des Glaubens begleiten, wenn sie nicht selbst während des Studiums in die Vollzugsseite des christlichen Glaubens eingeführt worden sind? Erst auf dem Boden einer reflektierten persönlichen Spiritualität kann sich auch geistliche Sprachfähigkeit entwickeln.
9
10 11 12
Theologie, in: Ralph Kunz/Claudia Kohli Reichenbach (Hg.), Spiritualität im Diskurs. Spiritualitätsforschung in theologischer Perspektive, Zürich 2012, 125–142. Die „Grundsätze für die Ausbildung und Fortbildung der Pfarrer und Pfarrerinnen der Gliedkirchen der EKD“ von 1988 sind z. B. noch ganz auf das Lernen in Form der Auseinandersetzung mit Texten ausgerichtet (in: Michael Ahme/Michael Beintker (Hg.), Theologische Ausbildung der EKD. Dokumente und Texte aus der Arbeit der Gemischten Kommission/Fachkommission I zur Reform des Theologiestudiums (Pfarramt und Diplom) 1993–2004, Leipzig 2005, 11–67, bes. 25ff). Eine Reflexion und Einführung in spirituelle Vollzüge kommt nicht in den Blick. So auch Gerhard Ruhbach, Theologie und Spiritualität. Beiträge zur Gestaltwerdung des christlichen Glaubens, Göttingen 1987, 17. Rudolf Bohren war der erste, der nach dem Krieg wieder eine förmliche Lehre von der Aszetik als Lehre vom christlichen Leben gefordert hat (ders. (Hg.), Einführung in das Studium der evangelischen Theologie, München 1964, 25f). Manfred Seitz, Erneuerung der Gemeinde. Gemeindeaufbau und Spiritualität, 2., durchgesehene Auflage, Göttingen 1991, bes. 57–94; Ruhbach, Theologie und Spiritualität, bes. 16–27; Manfred Josuttis, Die Einführung in das Leben. Pastoraltheologie zwischen Phänomenologie und Spiritualität, Gütersloh 1996, bes. 31–33.
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2.
Defizite traditioneller evangelischer Spiritualität13
2.1
Zurücktreten des trinitarischen Gottesverständnisses
Evangelische Spiritualität wurde nachhaltig von den reformatorischen Erkenntnissen des 16. Jahrhunderts geprägt. Reformatorische Spiritualität ist wesentlich christozentrische Spiritualität. Alle vier Exklusivpartikel: solus Christus, sola scriptura, sola gratia und sola fide – allein Christus, allein die Schrift, allein die Gnade, allein durch Glauben – haben ihre inhaltliche Mitte in der Christologie. Das solus Christus der Reformation richtet sich dabei nicht gegen den trinitarischen Gottesbegriff oder gegen die Bedeutung des Vaters und des Geistes für die christliche Spiritualität. Im Streit mit der mittelalterlichen Kirche waren für die Reformatoren nicht die trinitätstheologischen und christologischen Aussagen der Alten Kirche strittig, wie sie auf den ersten ökumenischen Konzilien festgehalten worden waren, sondern die Lehre von Amt und Werk Jesu Christi. In den Schmalkaldischen Artikeln schreibt Martin Luther in Artikel 1: „Diese Artikel [gemeint sind die Artikel, die göttliche Majestät betreffen, d. h. die Gotteslehre und die Christologie im eigentlichen Sinn] sind in keinem Zank und Streit, weil wir zu beiden Teilen dieselbigen bekennen. Darum nicht vonnöten, jetzt davon weiter zu handeln“. Das solus Christus der Reformation richtet sich gegen die Fülle von Mittlergestalten, die sich in der mittelalterlichen Frömmigkeit zwischen Gott und Mensch geschoben haben. Anknüpfend an die Auffassung des Neuen Testaments (vgl. z. B. 1Tim 2,5), ist für die reformatorische Theologie und Spiritualität Jesus Christus der einzige Mittler zwischen Gott und Mensch. Im Verlauf der weiteren Geschichte des Protestantismus trat allerdings – nicht zuletzt aufgrund der alles überragenden Zentralstellung der Rechtfertigungslehre – der Glaube an den dreieinigen Gott im Bewusstsein der Gläubigen mehr und mehr zurück. Die Trinitätslehre führte zwar in den kirchlichen Liturgien ein respektables Eigenleben, bestimmte aber das christliche Selbstverständnis immer weniger.14 Der evangelischen Spiritualität sind damit wichtige Dimensionen verloren gegangen. Nicht zuletzt, um die in den vergangenen Jahren von unterschiedlichen Seiten diagnostizierte „Selbstsäkularisierung“ und „Selbstbanalisierung“ des Protestantismus zu überwinden,15 geht es darum, der Lehre 13 Die folgenden Überlegungen habe ich erstmals vorgetragen in: Peter Zimmerling, Auf dem Weg zu einer trinitarischen Grundlegung evangelischer Spiritualität, in: Michael Welker/ Miroslav Volf (Hg.), Der lebendige Gott als Trinität. Jürgen Moltmann zum 80. Geburtstag, Gütersloh 2006, 360–376. 14 So schon Eberhard Jüngel in Anlehnung an Karl Rahner, in: ders., Gott als Geheimnis der Welt, Tübingen 51986, 508. 15 Huber, Kirche in der Zeitenwende, 10.
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von der Dreieinigkeit die ihr angemessene Stellung in Theorie und Praxis der evangelischen Spiritualität zurückzugeben.
2.2
Verlust der Dimension der Schöpfung
Zurücktreten von Emotionalität, Sinnlichkeit und Natur Die Konzentration der reformatorischen Theologie auf Jesus Christus ließ die Dimension des Ersten Glaubensartikels in der evangelischen Spiritualität im Lauf der Geschichte des Protestantismus mehr und mehr zurücktreten. Dass Emotionalität und Sinnlichkeit angesichts der überragenden Bedeutung des Intellekts kaum noch eine Rolle spielten, zeigt sich besonders deutlich am evangelischen Gottesdienst nach dem Zweiten Weltkrieg. Vor allem feministische und semiotische Ansätze haben den herkömmlichen Gottesdienst in dieser Hinsicht kritisiert.16 Sie warfen dem protestantischen Gottesdienst eine einseitige Intellektualisierung vor. Mit der seit den 1970er Jahren zunehmenden Skepsis gegenüber der Intellektualität, hervorgerufen durch die ökologische Bedrohung und das Scheitern der politischen Utopien, geriet eine auf Intellektualität reduzierte Religiosität mit in die Krise. Gerade die geistig beanspruchten Menschen wollen den Glauben heute nicht nur denken, sondern auch spüren, wollen ihn mit allen Sinnen erleben.17 Von einem vornehmlich auf den Intellekt zielenden Gottesdienst fühlen sie sich deshalb nicht mehr angesprochen. Claus Westermann stellte schon vor Jahren im Hinblick auf das alttestamentliche Gotteslob fest: „Schroff ausgedrückt: der Intellekt kann nicht Gott loben, nur der atmende, sich freuende, singende Mensch“.18 Auch die Natur kommt in traditioneller evangelischer Spiritualität kaum vor. Dem steht heute die Sehnsucht vieler Menschen nach Naturerfahrungen gegenüber. Eine Sehnsucht, die angesichts fortschreitender Überlagerung der Natur durch die technisierte Zivilisation in den Industrienationen und den damit verbundenen progressiven Erfahrungsverlusten nur zu verständlich ist. Wo eröffnet evangelische Spiritualität Menschen die Chance, Gottes Schöpferkraft in der Natur wahrzunehmen und lässt die geschaffene Welt durchsichtig werden für die Realität Gottes?
16 Vgl. dazu Michael Meyer-Blanck, Inszenierung des Evangeliums, Göttingen 1997, bes. 24–40. 17 A. a. O., 133. 18 Claus Westermann, Art. hll pi. loben, in: Ernst Jenni/Claus Westermann, Theologisches Handwörterbuch zum Alten Testament, Bd. 1, München/Zürich 31978, 495f.
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Vernachlässigung des Moments der Übung Der alte protestantische Vorbehalt gegenüber jeder Form von Übung im Bereich des Glaubens lautet: Diese sei gesetzlich und verdunkle die voraussetzungslose Annahme des Menschen durch Gott. Das hat dazu geführt, dass man je länger je mehr meinte, ohne Anleitung und Hilfen im Hinblick auf die konkrete Gestaltung der Spiritualität auskommen zu können. Der Aspekt der Einübung trat – zunächst im Hinblick auf Erwachsene – mehr und mehr in den Hintergrund. Dabei wurde jedoch übersehen, dass das Geschöpfsein des Menschen solche Übung nötig macht. Evangelische Spiritualität steht heute vor der Herausforderung, den Aspekt der Übung und damit die pädagogische Dimension der Spiritualität wiederzugewinnen.19 Dem gesamten Neuen Testament gilt die spirituelle Übung als etwas Selbstverständliches. Eine Belegstelle hierfür ist Hebr 5,14: „Die Vollkommenen haben durch Gewohnheit geübte Sinne, zu unterscheiden Gutes und Böses“. Die Paulusbriefe lassen durch ihren besonderen Aufbau erkennen, dass es im Raum der Spiritualität Dinge gibt, die erlernt und geübt werden können. Aus der Entfaltung der Botschaft von der Erlösung in Jesus Christus werden im zweiten Teil der Briefe jeweils die Konsequenzen aus der Erlösung für die persönliche Lebensgestaltung gezogen. Dietrich Bonhoeffer hat im „Gemeinsamen Leben“ und in der „Nachfolge“, aber auch in „Widerstand und Ergebung“ überzeugend gezeigt, dass der Aspekt der Übung den Geschenkcharakter des Glaubens keineswegs schwächen muss, sondern erst zur Entfaltung kommen und zur persönlichen Erfahrung werden lässt. In einem Brief an Karl Barth vom 19. 9. 1936 schreibt er: „Die Fragen, die heute im Ernst von jungen Theologen an uns gestellt werden, heißen: wie lerne ich beten? wie lerne ich die Schrift lesen? Entweder wir können ihnen da helfen oder wir helfen ihnen überhaupt nicht. Selbstverständlich ist da wirklich gar nichts“.20
Als Beispiel für Bonhoeffers Hochschätzung der Übung für den Glaubensvollzug seien im Folgenden noch einige Auszüge aus seinen Überlegungen zur täglichen Schriftmeditation zitiert: „Wer sich mit großem Ernst der täglichen Übung der Meditation unterzieht, der wird bald in große Schwierigkeiten geraten. Meditieren und beten will lange und mit Ernst geübt sein […]. Mannigfaltig sind die Hilfen, die sich jeder für seine besonderen Schwierigkeiten suchen wird: Immer wieder dasselbe Wort lesen, sich die Gedanken niederschreiben, zeitweilig die Verse auswendig lernen […]. Hinter allen Nöten und
19 Vgl. hier und im Folgenden Manfred Seitz, Evangelische Askese, in: ders./Hans-Rudolf Müller-Schwefe, Evangelische Askese. Einübung in die Zeitlichkeit, Kassel 1979, 7ff. 20 Dietrich Bonhoeffer, Illegale Theologenausbildung: Finkenwalde 1935–1937, in: DBW 14, Gütersloh 1996, 237f.
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Ratlosigkeiten steht ja im Grunde unsere große Gebetsnot; allzu lange sind da viele von uns ohne jede Hilfe und Anleitung geblieben. Dagegen hilft nichts, als die allerersten Übungen des Gebets und der Meditation treu und geduldig wieder anfangen […]. Wenn wir wirklich einmal nicht wissen, was wir beten sollen, und darüber ganz verzagen, so wissen wir doch, dass uns der heilige Geist vertritt mit unaussprechlichem Seufzen“.21
Im Bereich von Sport und Kunst gilt die Übung in unserer Gesellschaft als etwas Selbstverständliches. Hieran könnte die Rede von der Notwendigkeit spiritueller Übung anknüpfen. Verlust von Form, Ritual und Symbol Bis vor wenigen Jahren konnte der Eindruck aufkommen, als sei die Gestaltlosigkeit geradezu ein Markenzeichen des Protestantismus.22 Es ist hier nicht der Ort, die Gründe für diesen Vorgang zu erläutern. Mitverantwortlich war jedenfalls ein „Transponieren der Christusnachfolge ins ‚Bürgerliche‘“.23 Daneben führte die protestantische Angst vor der toten Form zur Ablehnung von festen Formen überhaupt, worauf Fulbert Steffensky in seinen Veröffentlichungen immer wieder hingewiesen hat.24 Dem Mangel an spirituellen Formen im Protestantismus stehen exegetische Beobachtungen, die Selbstverständlichkeit spiritueller Formen bei den Reformatoren und neuere humanwissenschaftliche Einsichten diametral entgegen. Angesichts der Pluralität religiöser Angebote, aber auch des Lebens in einer Risikogesellschaft „[bedarf] die Bewahrung und Weitergabe von grundlegendem Orientierungswissen […] einer Absicherung durch Symbole und Riten“.25 Mit Manfred Seitz gesprochen: „Einen Glauben, der nicht gestaltet ist und bloß als gedacht und in Gedanken existiert, verweht der Wind“.26 Für die Zukunft des Protestantismus wird es entscheidend sein, ob es gelingt, der nächsten Generation Zugänge zu alltagsverträglichen spirituellen Formen wie z. B. Tischgebeten und Zu-Bett-Bring-Ritualen zu eröffnen. Dem Verlust spiritueller Formen im Protestantismus insgesamt korrespondierte die Entwicklung speziell im Rahmen des Theologiestudiums, das seit dem 19. Jahrhundert Theologiestudierende nicht mehr wissenschaftlich verantwortet in die evangelische Spiritualität einführte. Die reformatorische Disziplin der „theologia ascetica“ erhielt nach einiger Zeit ihren Ort in der Pastoraltheologie, wurde dann im Rahmen der Ethik verhandelt und verschwand schließlich ganz.27 21 22 23 24 25 26 27
A. a. O., 949f. Christian Grethlein, Christliche Lebensformen – Spiritualität, in: GuL 6, 1991, 114. Ebd. Vgl. z. B. Fulbert Steffensky, Was ist liturgische Authentizität, in: Pth 89, 2000, 105–116. Grethlein, Christliche Lebensformen, 115. Manfred Seitz, Art. Frömmigkeit II, in: TRE 11, Berlin/New York 1983, 676. Nach dem 30jährigen Krieg wurde sie eingeengt auf den Pfarrerstand, ging auf in der Pas-
30
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Eine Einführung wenigstens in elementare spirituelle Vollzüge ist aber unerlässlich.
2.3
Mangelnde Berücksichtigung der Dimension des Heiligen Geistes
Neben einer Vernachlässigung der Dimension des Ersten Glaubensartikels verlor die traditionelle evangelische Spiritualität auch die Bedeutung des Geistes aus dem Blick. In der Theologie konnte man von einer regelrechten „Geistvergessenheit“ sprechen.28 Spiritualität hat es jedoch nicht nur mit der Erfahrung von Vergebung in Jesus Christus zu tun, sondern auch mit der Gestaltung des neuen Lebens in der Kraft des Geistes inmitten der christlichen Gemeinde. Einseitige Betonung der Kategorie der Erinnerung Durch die zentrale Stellung der Rechtfertigungsbotschaft wurde im Protestantismus automatisch der Blick auf Gottes große Taten in der Vergangenheit gerichtet. Für die traditionelle evangelische Spiritualität bestimmend wurde die Kategorie der Erinnerung.29 Demgegenüber trat die Erwartung des Handelns Gottes in der Gegenwart und in der Zukunft zurück. Das führte dazu, dass evangelische Spiritualität die Dynamik des Geisteswirkens weder angemessen erkannte noch entsprechend erwartete. Neuere Überlegungen zur Pneumatologie und die Aufnahme von Impulsen aus den charismatischen Bewegungen lassen hier mittlerweile eine Trendwende erkennen.30 Verlust der Erfahrung Eine lange protestantische Tradition interpretierte Luthers Rechtfertigungslehre so, dass sie keinen Raum für die Erfahrung des Glaubens ließ. Aus lauter Angst, das „sola gratia“ zu beeinträchtigen, verblieb die neue Existenz des Glaubenden nach dieser Interpretation im Unanschaulichen. Man musste auch den Glauben glauben. Vor allem die frühe dialektische Theologie hat diese Tendenz noch toraltheologie, die immer erbaulicher wurde und darum schließlich aus der Praktischen Theologie ausschied. Zum letzten Mal hat wohl der Tübinger Theologe Johann Friedrich Flatt (1759–1821) im Rahmen der Praktischen Theologie eine „Aszetik“ gelesen. 28 So etwa Otto A. Dilschneider, Die Geistvergessenheit der Theologie, in: ThLZ 86, 1961, 261. 29 Ähnlich Werner Krusche beim Vergleich zwischen der Gemütslage der Landeskirchen und der charismatischen Bewegungen (ders., Wort des Bischofs an die Synode der Kirchenprovinz Sachsen, 117ff). 30 Vgl. z. B. Jürgen Moltmann, Der Geist des Lebens. Eine ganzheitliche Pneumatologie, München 1991; Michael Welker, Gottes Geist. Theologie des Heiligen Geistes, Neukirchen-Vluyn 1992; Peter Zimmerling, Charismatische Bewegungen, Göttingen 2009.
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31
einmal verstärkt. Eine derartige Interpretation entsprach jedoch keineswegs den Intentionen der reformatorischen Theologie. Evangelische Spiritualität ist von ihrem Ursprung her erfahrungsbezogene Frömmigkeit. Darauf hat gerade Martin Luther immer wieder hingewiesen. Richtig ist, dass Luther davon ausgeht, dass der Mensch durch den Glauben keine neue sittliche Qualität verliehen bekommt. Das Gute, das im Leben eines Christen wirklich wird, entspringt nicht aus einer Qualität des Menschen.31 Trotzdem hält Luther fest, dass der Rechtfertigungsglaube dem Menschen zur gelebten Erfahrung werden muss. Für eine solche Interpretation Luthers existieren eine Reihe von Belegen: „Da muss nun angehen die Erfahrung, dass ein Christ könne sagen: bisher hab ich gehöret und gegläubt, dass Christus mein Heiland sei, so meine Sünd und Tod überwunden habe. Nun erfahre ichs auch, dass es also sei. Denn ich bin jetzt und oft in Todes Angst und des Teufels Stricken gewesen, aber er hat mir herausgeholfen und offenbaret sich mir also, dass ich nun sehe und weiß, dass er mich lieb habe, und dass es wahr sei, wie ich gläube“.32
Einer der Ersten, der an dieser Stelle im 20. Jahrhundert wieder an Luther anzuknüpfen versuchte, war Dietrich Bonhoeffer. Ein Großteil seines Wirkens war davon geprägt, Theologiestudierenden und Vikaren Zugänge zur Erfahrungsdimension des evangelischen Glaubens, zur Spiritualität, zu vermitteln. Ausgangspunkt ist dabei seine Wiederentdeckung der Nachfolge als konstitutiven Bestandteil des Christseins. Bonhoeffer versucht durch eine neue Interpretation der Bergpredigt, über die reformatorische Theologie hinaus den Anschluss an das Urchristentum zu gewinnen. Dadurch will er das vielbeklagte Erfahrungsdefizit des Protestantismus, seinen Mangel an Konkretion des Glaubens, überwinden. Tatsächlich sind im Neuen Testament den Paulusbriefen nicht ohne Grund die Evangelien einschließlich der Apostelgeschichte vorgeschaltet: Rechtfertigungsbotschaft und Bergpredigt sind wechselseitig aufeinander zu beziehen. In seinem Buch „Nachfolge“ von 1937 findet Bonhoeffer dafür die klassische Formulierung: „Nur der Glaubende ist gehorsam, und nur der Gehorsame glaubt“.33
31 Wilfried Joest, Martin Luther, in: Martin Greschat (Hg.), Gestalten der Kirchengeschichte, Bd. 5 Die Reformationszeit 1, Stuttgart u. a. 1981, 140. Der Christ wird „gerade aus seinem eigenen Sein- und Können-wollen […] wieder und wieder herausgerufen in das Zusammensein mit Christus, in das, was Christus kraft dessen, dass er mit ihm ist, in ihm, seinem Tun und Leben ‘kann’. Das geschieht in dem Maß, als der Mensch glaubt, d. h. sich an Christus hält […] was in seinem Leben und Tun geschieht, geschieht nicht aus ihm selbst, sondern aus der Gegenwart und Kraft des Gottes, der in Christus mit ihm ist“ (a. a. O., 140f). 32 WA 45, 599, 9, zit. nach Paul Althaus, Die Theologie Martin Luthers, Gütersloh 1962, 63, Anm. 58. 33 Dietrich Bonhoeffer, Nachfolge, in: DBW 4, Gütersloh 21994, 52.
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Vernachlässigung der Sozialität Im landeskirchlichen Protestantismus herrscht bis zum heutigen Tag ein Frömmigkeitstypus vor, der weitgehend von Individualismus, Subjektivismus und Innerlichkeit geprägt ist. Die Konsequenz der Ausblendung der christlichen Gemeinde aus dem Frömmigkeitsvollzug ist eine entscheidungs- und profillose protestantische Spiritualität. Die neuzeitliche Denkfigur von Gott und der Einzelseele stellt jedoch eine Abstraktion dar. Dringend nötig ist ein neues Bewusstsein, dass es evangelische Spiritualität nicht unabhängig von der Kirche gibt, sondern nur eingebunden in die „Gemeinschaft der Heiligen“, wie es im Apostolischen Glaubensbekenntnis heißt. Die Überwindung der Geistvergessenheit evangelischer Spiritualität würde automatisch dazu führen, die Bedeutung der Gemeinschaft für die evangelische Spiritualität wiederzuentdecken. In 1Kor 12–14 und Röm 12 entfaltet Paulus eine Ekklesiologie vom Charisma her.34 Die vom Geist begabte Gemeinde zeichnet sich dadurch aus, dass sich jedes Gemeindeglied als unterschiedlich und darin als zum Nutzen aller begabt erfährt. Die soziale Ausrichtung des Geisteswirkens wird paradoxerweise gerade an der Unterschiedlichkeit der Begabungen erkennbar: Weil kein Christ alle Gaben besitzt, ist er auf die Gemeinschaft mit den anderen Gemeindegliedern angewiesen. Die christliche Gemeinde macht sichtbar, dass die bleibende Andersartigkeit der anderen sogar die Voraussetzung dafür ist, dass mein eigenes Leben gelingt, und dass umgekehrt meine besondere Begabung dazu hilft, das Leben der anderen zu bereichern.
Einbußen an Pluralität spiritueller Formen Die Vernachlässigung des Geistes im Rahmen traditioneller evangelischer Spiritualität war mitverantwortlich dafür, dass es seit der Reformationszeit zu fortschreitenden Einbußen an spirituellen Formen kam. Im Laufe der Geschichte des Protestantismus, verstärkt im 20. Jahrhundert, sind spirituelle Formen mehr und mehr verloren gegangen. Aufgrund der christologischen Konzentration reformatorischer Theologie wurde das Geisteswirken kausativ an Wort und Sakrament gebunden. Der im Neuen Testament bezeugten Pluralität der pneumatischen Wirkungsweisen konnte dadurch nicht angemessen Rechnung getragen werden. Eine konsequent trinitarische Orientierung evangelischer Spiritualität würde es im Gegensatz dazu erlauben, die Wirksamkeit des Geistes nicht länger kausativ an Wort und Sakrament zu binden, sondern von einer Pluralität an Geisterfahrungen auszugehen. Dazu müsste die Bindung des Geistes an Wort 34 Ernst Käsemann, Amt und Gemeinde im Neuen Testament, in: ders., Exegetische Versuche und Besinnungen, Bd. 1, Göttingen 31964, 109–134.
Zur Theologie der Evangelischen Spiritualität
33
und Sakrament allerdings mehr kriteriologisch bestimmt werden.35 In der Konsequenz wäre eine theologisch begründete Öffnung evangelischer Spiritualität für eine Vielfalt spiritueller Formen möglich.
3.
Die Trinitätslehre als Rahmentheorie evangelischer Spiritualität36
3.1
Überwindung des traditionellen metaphysisch-philosophischen Ansatzes der Trinitätslehre
Wenn im Folgenden eine trinitarische Grundlegung evangelischer Spiritualität skizziert werden soll, muss dieser Versuch mit Widerstand rechnen. Die Trinitätslehre ist trotz mancher Neuansätze in den letzten Jahrzehnten weit davon entfernt, im Raum der Theologie selbstverständlich anerkannt zu sein. Die Ursache liegt darin, dass Vorbehalte gegenüber ihrer Abstraktheit weit verbreitet sind. Ich stimme mit den neueren trinitätstheologischen Bemühungen von Leonardo Boff, Gisbert Greshake, Eberhard Jüngel, Jürgen Moltmann u. a. darin überein, dass der traditionelle metaphysisch-philosophische Ansatz der Trinitätslehre überwunden werden muss.37 Die Trinitätslehre ist auch aus einem weiteren Grund aus der Abhängigkeit von metaphysischen Prämissen zu befreien. Solche Prämissen verhindern, dass die Trinitätslehre im gelebten Glauben vorkommt.38 Angesichts einer von philosophischen Vorstellungen geprägten Gotteslehre geht es um eine Verchristlichung des Gottesbegriffs. Sie wird möglich aufgrund eines Neuansatzes bei den biblischen Texten: Der überwiegend vom Geschichtsbezug geprägte Stil der biblischen Sprache steht in spürbarer Spannung zum systematisierenden Reflexionsstil der herkömmlichen Dogmatik.39 Nicht mehr die philosophisch begründete göttliche Einheit, sondern die in den biblischen Erzählungen geoffenbarte göttliche Dreiheit sollte den Ausgangs35 So auch in anderem Zusammenhang Reinhold Bernhardt, Der Geist und die Geister. Esoterik in systematisch-theologischer Perspektive, in: Esoterik. Herausforderung für die christliche Kirche im 21. Jahrhundert, hg. im Auftrag der Bischofskonferenz der VELKD von Hans Krech/Udo Hahn, Hannover 2003, 132. 36 Die folgenden Überlegungen habe ich erstmals vorgetragen in: Zimmerling, Auf dem Weg zu einer trinitarischen Grundlegung evangelischer Spiritualität, 360–376. 37 Leonardo Boff, Der dreieinige Gott, Düsseldorf 1987 (Bibliothek Theologie der Befreiung); Gisbert Greshake, Der dreieinige Gott. Eine trinitarische Theologie, Freiburg u. a. 1997; Jüngel, Gott als Geheimnis; Jürgen Moltmann, Trinität und Reiche Gottes. Zur Gotteslehre, München 1980. 38 In ähnliche Richtung weisen Überlegungen von Greshake, Der dreieinige Gott, 28ff.42. 39 Vgl. zu diesem Problem im Einzelnen Gerhard Ebeling, Dogmatik und Exegese, in: ZThK 77, 1980, 271ff.
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punkt der Rede von Gott bilden.40 Dazu ist das herkömmliche trinitätstheologische Denken des Abendlandes umzukehren. Entsprechende Vorstellungen finden sich bereits in der griechisch-orthodoxen Tradition trinitätstheologischen Denkens: Basilius der Große ordnet die Dreiheit der göttlichen Personen als Gegenstand der Verkündigung ihrer Einheit als theologischer Spekulation vor.41 Die Vorordnung der Dreiheit der göttlichen Personen vor deren Einheit ist nötig, damit der Glaube an die Trinität zur praktischen Erfahrung werden kann: Gemeinschaft ist nur mit drei konkreten, in der Geschichte offenbarten trinitarischen Personen, nicht aber mit einer abstrakt verstandenen metaphysischen Gottheit möglich. Die Anschaulichkeit, die die Offenbarung der göttlichen Personen in den biblischen Texten auszeichnet, ist die Bedingung dafür, dass Menschen mit dem dreieinigen Gott in Beziehung treten können. Auch der philosophisch begründete Grundsatz der herkömmlichen Gotteslehre, dass Gott leidensunfähig ist, das sog. Apathie-Axiom, lässt sich mit dem Neuansatz trinitätstheologischen Denkens bei den biblischen Texten überwinden.42 In ihnen wird ein vom Gott der griechischen Philosophie, dem unbewegten Beweger, unendlich verschiedener Gott beschrieben: Der Gott der Bibel durchlebt ein gewaltiges Drama!43 Das wird am konkretesten erkennbar im Leiden und Sterben Jesu Christi. Nur ein leidenschaftlicher Gott kann ein echtes Gegenüber des Menschen sein. Ein vom menschlichen Schicksal unberührt bleibender metaphysischer Gott ist letztlich uninteressant und irrelevant.
3.2
Vorteile einer trinitarischen Orientierung evangelischer Spiritualität
Die Trinitätslehre erlaubt, die gesamte Wirklichkeit auf ein und denselben Gott zu beziehen. Die Alte Kirche hat in diesem Zusammenhang die sog. Appropriationslehre entwickelt. Sie appropriiert den einzelnen Personen der Trinität verschiedene Dimensionen der Wirklichkeit: Dem Vater die Schöpfung, dem Sohn die Erlösung und dem Heiligen Geist die Heiligung. Wegen des altkirchlichen Grundsatzes opera ad extra sunt indivisa hat der Mensch es trotzdem überall – in Natur, Geschichte und eigener Existenz – mit ein und demselben 40 So auch Moltmann, Trinität und Reich Gottes, 166ff. 41 Vgl. im Einzelnen mit Nachweisen Karl Christian Felmy, Orthodoxe Theologie der Gegenwart. Eine Einführung, Darmstadt 1990, 46. Genau wie die großen orthodoxen Theologen des 4. Jahrhunderts begründet übrigens Nikolaus Ludwig Graf von Zinzendorf die Einheit der Trinität personal: allerdings nicht mit der Person des Vaters, sondern mit der des Sohnes (vgl. dazu Peter Zimmerling, Gott in Gemeinschaft. Zinzendorfs Trinitätslehre, Hildesheim u. a. 2 2002, 118ff, in: Nikolaus Ludwig von Zinzendorf, Materialien und Dokumente, Reihe 2, hg. von Erich Beyreuther u. a., Bd. 32). 42 Moltmann, Trinität und Reich Gottes, 36ff. 43 Vgl. dazu Jack Miles, Gott. Eine Biographie, München/Wien 1996.
Zur Theologie der Evangelischen Spiritualität
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trinitarischen Gott zu tun.44 Die trinitarische Orientierung ermöglicht evangelischer Spiritualität, alle Bereiche der Welt als Gottes Schöpfung wahrzunehmen. Auf der Basis dieser Erkenntnis wird es möglich, sämtliche Dimensionen des Menschen – Leib, Seele und Geist – in die Spiritualität zu integrieren.45 Ein radikal trinitarischer Ansatz der christlichen Gotteslehre ist auch die Voraussetzung dafür, Gott als Liebe identifizieren zu können. Es ist nur schwer begründbar, wieso ein einsamer Gott im Himmel ein liebender Gott sein soll. Wenn Gott aber in sich selbst bereits von Ewigkeit her liebende Gemeinschaft ist, lässt sich nachvollziehen, warum er auch in seiner Offenbarung in Jesus Christus ganz und gar Liebe und Anteilnahme ist. Indem evangelische Spiritualität von einem dezidiert gemeinschaftlichen Gottesbegriff ausgeht, könnte auch der Dialog mit dem Judentum und dem Islam befruchtet werden. Denn nur von seinem speziellen christlichen Gottesverständnis her kann das Christentum sein eigenes Profil wahren und in den Dialog einbringen.46 Die trinitarische Orientierung evangelischer Spiritualität ist angesichts fortschreitender Pluralisierungsprozesse in unserer Gesellschaft besonders geeignet, den christlichen Gottesgedanken denkerisch in der Postmoderne zu verantworten.47 Da die bleibende Unterschiedenheit der göttlichen Personen im Rahmen der Trinitätslehre Voraussetzung für ihre Einheit ist, erlaubt sie, größte Verschiedenheit mit höchster Einheit zu verbinden. Überdies illustriert ein trinitarisches Gottesverständnis, dass die Andersartigkeit des anderen Menschen, sein besonderer Charakter, seine jeweils eigenen Begabungen nicht Bedrohungen, sondern Ergänzungen und Bereicherungen sind. Der trinitarische Ansatz des christlichen Gottesbegriffs stellt schließlich eine wichtige Begründung für die sozialethische Dimension evangelischer Spiritualität dar. Die Trinität als Gemeinschaft sich liebender, gleichwertiger Personen ist der Zielhorizont, auf den hin gesellschaftliche Veränderungsprozesse Gestalt gewinnen sollten. Eine trinitarisch orientierte evangelische Spiritualität kann so zur Inspirationsquelle und Verpflichtung für die Umgestaltung der kirchlichen und gesellschaftlichen Verhältnisse in Richtung auf Gleichheit und Anteilhabe aller Menschen bei gleichzeitiger Pflege ihrer Unterschiede werden.
44 Reinhold Seeberg, Lehrbuch der Dogmengeschichte, Bd. 2, Leipzig 41933, 145. 45 Karlmann Beyschlag, Grundriss der Dogmengeschichte, Bd. 1 Gott und Welt (Grundriss 2), Darmstadt 1982, 274ff. 46 Vgl. dazu Jürgen Moltmann, Kein Monotheismus gleicht dem anderen. Destruktion eines untauglichen Begriffs, in: EvTh 62, 2002, 112–122. 47 Vgl. dazu Albrecht Grözinger, Erzählen und Handeln. Studien zu einer trinitarischen Grundlegung der Praktischen Theologie, München 1989.
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4.
Peter Zimmerling
Kriterien evangelischer Spiritualität
Evangelische Spiritualität wird nur dann dauerhaft trinitarisch verankert werden können, wenn es gelingt, mit den entsprechenden Einsichten und praktischen Veränderungen an die reformatorischen Erkenntnisse anzuknüpfen und diese weiterzuführen. 1. Evangelische Spiritualität ist Spiritualität im Horizont des dreieinigen Gottes. Evangelische Spiritualität kann nicht unabhängig von Gottes Geschichte mit der Welt als Vater, Sohn und Heiliger Geist gedacht werden. Auch wenn nicht jede spirituelle Erfahrung im Raum des Protestantismus explizit Erfahrung des dreieinigen Gottes sein muss, sollte sie doch auf den dreieinigen Gott hin offen sein. Das „materialiter“ nicht zu überbietende Zentrum der Offenbarung des dreieinigen Gottes liegt in Jesu messianischem Leben,48 seinem Kreuz und seiner Auferstehung.49 Das Ziel evangelischer Spiritualität ist die Gleichgestaltung des Menschen in das Bild Jesu Christi hinein: „Wir werden ihm gleich sein; denn wir werden ihn sehen, wie er ist“ (1Joh 3,2).50 2. Evangelische Spiritualität ist offen für eine Vielfalt und Unterschiedlichkeit von Formen. Die Lehre vom dreieinigen Gott öffnet die evangelische Spiritualität für unterschiedliche Bereiche und Formen. Weil der dreieinige Gott Schöpfer, Versöhner und Heiligmacher ist, lässt er sich in Schöpfung und Geschichte und in den unterschiedlichen Dimensionen des Menschseins von Körper, Seele und Geist erfahren. Natur und Technik, Sonntag und Alltag, Sinnlichkeit, Emotionalität und Verstand mit ihren unterschiedlichen Ausprägungen sind allesamt potenzielle Orte spiritueller Erfahrung. 3. Ausgangspunkt evangelischer Spiritualität ist die Erkenntnis der voraussetzungslosen Annahme des Menschen durch Gott (sola gratia). Die voraussetzungslose Annahme des Menschen durch Gott wird durch Luther zum konstitutiven Merkmal der Gottesbeziehung. Dabei bietet sich die Recht48 Zum Begriff vgl. Jürgen Moltmann, Weg Jesu Christi. Christologie in messianischen Dimensionen, München 1989, 38ff.92ff. 49 Die Urgemeinde hat ihre Wurzeln in der Zeit vor Pfingsten: vgl. das jeweilige Ende der Evangelien und Apg 1; dazu Peter Stuhlmacher, Biblische Theologie des Neuen Testaments, Bd. 1 Grundlegung. Von Jesus zu Paulus, Göttingen 1992, 197f; vgl. auch Hans Urs von Balthasar, der – gut katholisch – davon ausgeht, dass es die Kirche bereits vor Ostern, nämlich seit dem Petrus-Bekenntnis von Caesarea Philippi gab: ders., Theologik, Bd. 3 Der Geist der Wahrheit, Einsiedeln 1987, 366. 50 Vgl. dazu Dietrich Bonhoeffer, DBW 4, 85ff.
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fertigungslehre als diakritisches Prinzip für eine dem Evangelium gemäße Lehre von der Geisterunterscheidung an.51 Sie bewahrt das religiöse Subjekt bzw. die religiöse Gemeinschaft vor spiritueller Überanstrengung und befreit beide zur Entfaltung ihrer spirituellen Potenziale. 4. Evangelische Spiritualität wird bestimmt von den beiden Polen Wort und Glaube. Evangelische Spiritualität geht davon aus, dass der dreieinige Gott durch das biblische Wort zum Menschen redet und dieser in Glaube und Tat darauf antwortet. Schon der Gedanke der Gottesebenbildlichkeit aus Gen 1,27 zeigt, dass der Mensch zur Beziehung mit Gott berufen ist. Eine lebendige Beziehung ist jedoch dauerhaft nur als Dialog denkbar. Insofern ist evangelische Spiritualität nicht nur wortorientiert, sondern von ihrem Wesen her worthaft konstituiert. Die traditionelle evangelische Theologie neigte dazu, die Spiritualität allein an Wort und Sakrament zu binden. Das bedeutete eine Engführung, zumal damit außerordentliche spirituelle Erfahrungen eo ipso ausgeschlossen waren. Umgekehrt muss verhindert werden, dass die abstrusesten religiösen Erfahrungen als mit evangelischer Spiritualität vereinbar ausgegeben werden. Wort und Sakrament als Kriterien des Geisteswirkens sollten in Zukunft weniger kausativ, als vielmehr kriteriologisch verstanden werden.52 Nur wenn Wort und Sakrament den Resonanzboden, d. h. das Inspirationsfeld, und den kritischen Maßstab bilden, ist eine theologische Beurteilung spiritueller Erfahrungen möglich. Damit ist der Weg frei, das Wirken Gottes etwa in der Natur neben Bibelwort und Sakrament theologisch zu würdigen. 5. Evangelische Spiritualität hat einen individuell-personalen und einen ekklesiologischen Aspekt, die beide komplementär aufeinander zu beziehen sind. Durch die reformatorische Erkenntnis, dass jeder Christ durch die Taufe Priester vor Gott ist, wird die Kirche ihrer Mittlerfunktion zu Gott entkleidet. An die Stelle der Kirche als Heilsanstalt tritt die Kirche als Gemeinschaft der Heiligen. Evangelische Spiritualität befreit Menschen zu sich selbst. Psychologisch gesprochen setzt sie ein Potenzial zur Förderung des Individuationsprozesses frei. Auch wenn evangelische Spiritualität heute häufig mit Individualismus, Subjektivismus und Innerlichkeit gleichgesetzt wird, war für sie von Anfang an neben der Befreiung des Individuums eine kirchliche bzw. gemeinschaftliche Verwurzelung charakteristisch. Keine evangelische Spiritualität ohne Kirche! Zwar mag es berechtigt sein, angesichts der „Selbstsäkularisierung“ (Wolfgang Huber) des 51 Carl Heinz Ratschow, Rechtfertigung. Diakritisches Prinzip des Christentums im Verhältnis zu anderen Religionen, IEZW 96, Stuttgart 1985. 52 So auch Bernhardt, Geist, 132.
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Peter Zimmerling
Protestantismus die individuelle Seite der Spiritualität zu betonen, doch sollte dabei deren ekklesiologische Orientierung nicht vergessen werden. Formen evangelischer Spiritualität, die die Kirche als überflüssig infrage stellen, sind defizitär. 6. Evangelische Spiritualität führt zur Überschreitung des Ichs. Die Erfahrung Gottes als die alles bestimmende Wirklichkeit der Welt relativiert die Fixierung auf das eigene Ich und setzt paradoxerweise gerade dadurch unerschlossene Potenziale an Kreativität und Liebesfähigkeit frei. Der Prozess der Verwandlung, der Umformung des Ichs, umfasst die Erfahrung „des Loslassens und Sterbens, des Wachsens und Erwachsenwerdens, des Lernens und Reifens“.53 Dabei steht Gott selbst und nicht die Befriedigung der Wünsche des eigenen Ichs im Vordergrund: „In der Erfahrungserkenntnis Gottes geht es also nicht etwa um den geistlichen Genuss des Menschen, schon gar nicht um die Vereinnahmung Gottes zur Erfüllung der je eigenen Lebenswünsche, sondern radikal um Gott selbst, um seiner selbst willen. Jede geistliche Genusssucht oder gar äußerliche Vorteile intendierende Haltung muss auf dem Weg der Erfahrungserkenntnis Gottes losgelassen werden, damit sich der Mensch Gott wirklich unbedingt, ohne Bedingungen zu stellen, überlässt, mithin unter Preisgabe aller Erfahrungserwartungen und Erkenntniserwartungen in Hinsicht auf Gott und seine Gnade“.54
7. Evangelische Spiritualität ermöglicht die Integration von Leiden und Schmerz in das Leben. Leiden und Schmerz sind integraler Bestandteil jedes Lebens. Darum besteht eine wesentliche Herausforderung jeder Form von Spiritualität in der Frage des Umgangs mit dem Leid. Für evangelische Spiritualität ist von Anfang an die Integration des Leids charakteristisch. Zu ihr gehört das Bewusstsein, es immer und überall mit Gott zu tun zu haben. „Siehe, Er steht hinter der Wand und sieht durch die Fenster. Das ist so viel wie: Unter den Leiden, die uns gleich von Ihm scheiden wie eine Wand, ja eine Mauer, steht Er verborgen und sieht doch auf mich und lässt mich nicht. Denn Er steht und ist bereit zu helfen in Gnaden und durch die Fenster des dunklen Glaubens lässt Er sich sehen“.55
53 So Michael Plattig in Aufnahme von Überlegungen des Johannes vom Kreuz (in: Michael Plattig, „Jakob hinkte an seiner Hüfte“ (Gen 32,32). Die Begegnung mit Gott ist nicht harmlos, in: Dietlind Langner/Marco A. Sorace/Peter Zimmerling (Hg.), Gottesfreundschaft. Christliche Mystik im Zeitgespräch, Studien zur christlichen Religions- und Kulturgeschichte, Bd. 9, Dr. Gotthard Fuchs zum 70. Geburtstag gewidmet, Fribourg/Stuttgart 2008, 50). 54 Ralf Stolina, Erfahrungserkenntnis Gottes. Kriterien christlicher Mystik, in: Johannes Schilling (Hg.), Mystik. Religion der Zukunft – Zukunft der Religion?, Leipzig 2003, 97. 55 Martin Luther, WA 6, 206.
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Im Hinblick auf die Spiritualität sollte deshalb jede einseitige Fixierung auf emotionale Gipfelerlebnisse vermieden werden, weil diese gerade bei psychisch labilen Gläubigen leicht zu seelischen Störungen führt. Beglückende spirituelle Erfahrungen müssen im Glaubensalltag in das Nichtfühlen hinein überschritten werden, um Gott auch durch Nachterfahrungen hindurch in tieferer Weise erkennen zu lernen.56 Evangelische Spiritualität steht an dieser Stelle in der Tradition paulinischer Einsichten in das Wesen christlicher Existenz, der schreibt: „Wir haben aber diesen Schatz in irdenen Gefäßen, damit die überschwängliche Kraft von Gott sei und nicht von uns“ (2Kor 4,7); „Wir wandeln im Glauben und nicht im Schauen“ (2Kor 5,7). „Die Erfahrung der Nacht ist dabei kein Widerspruch zur Freude und Heiterkeit des Glaubens. Allerdings beruht diese dann nicht auf einer Verdrängung, sondern auf dem grundlegenden, liebenden Vertrauen in Gott, der auch noch einmal die Erfahrung der Nacht umfängt, hält und darin segnet“.57
8. Evangelische Spiritualität ist demokratisch und alltagsverträglich. Gegenüber der mittelalterlichen Frömmigkeit stellte die reformatorische Spiritualität in mehrfacher Hinsicht einen qualitativen Fortschritt dar. Sie ermöglichte deren Demokratisierung, d. h. die Befreiung der Spiritualität aus der Usurpation durch religiöse Eliten. Reformatorische Spiritualität war eine Spiritualität für jedermann und jedefrau: Sie war für Verheiratete und Zölibatäre, für Theologen und Laien, gleichermaßen lebbar. Die Freiheitsgeschichte des modernen Europa wäre ohne diesen Vorgang nicht denkbar gewesen. Dazu kam die Alltagsverträglichkeit reformatorischer Spiritualität, indem sie die Grenzen zwischen Sonntag und Alltag, und zwischen heilig und profan relativierte. Sie zeichnete sich durch „Begeisterung für das Alltägliche“58 aus und wurde darum vom Engagement für den Nächsten und die Gesellschaft geprägt. Hinter diese Erkenntnisse der Reformation sollte evangelische Spiritualität nicht wieder zurückfallen. 9. Evangelische Spiritualität und Freiheit bedingen sich gegenseitig. Für die Zukunft des Protestantismus in Deutschland wird entscheidend sein, ob es ihm – zusammen mit den anderen Konfessionen – gelingt, plausibel zu machen, dass christliche Spiritualität eine Angelegenheit der Freiheit ist. Darüber hinaus sollte deutlich werden, dass die evangelische Spiritualität zum Erhalt unserer freiheitlichen Gesellschaftsordnung einen wichtigen Beitrag leistet. Es 56 Heribert Mühlen, Von der Anfangserfahrung zum Alltag des Glaubens. Wege der Vertiefung, in: Erneuerung in Kirche und Gesellschaft, Heft 8, 1980, 38–43. 57 Plattig, Jakob, 51. 58 Christian Möller, Reformatorische Spiritualität. Begeisterung für das Alltägliche, in: Maria Jepsen (Hg.), Evangelische Spiritualität heute. Mehr als ein Gefühl, Stuttgart 2004, 35–46.
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Peter Zimmerling
war ein Schritt in die richtige Richtung, dem Reformpapier der EKD von 2006 den Titel „Kirche der Freiheit“ zu geben.59 Der Protestantismus bejaht den weltanschaulich neutralen Staat, der die Religionsfreiheit gewährleistet.60 Theologisch steht dahinter die mühsam errungene Erkenntnis: Ohne Freiheit vom Glauben keine Freiheit zum Glauben. Das Grundgesetz der Bundesrepublik Deutschland sichert nicht nur die Freiheit vom Glauben. Es gewährleistet umgekehrt genauso die Freiheit zum Glauben: Jeder Mensch soll deshalb freien Zugang zur religiösen Bildung haben. Unser freiheitlich-demokratischer Staat hat dazu eine Reihe von Möglichkeiten unter seinen Schutz gestellt: die Theologischen Fakultäten an den Universitäten, den Religionsunterricht an den Schulen und die kirchlichen Sendungen im öffentlich-rechtlichen Rundfunk und Fernsehen, um nur drei Beispiele zu nennen. Dass evangelische Spiritualität und Freiheit sich nicht ausschließen, sondern gegenseitig bedingen, lässt sich gut an den Friedensgebeten in der DDR im Herbst 1989 zeigen.61 Vornehmlich die evangelischen Landeskirchen praktizierten damals eine Form von politischer Diakonie an der Gesellschaft. Staatlicherseits bespitzelt und benachteiligt, zeitweise auch bekämpft, bildeten sie die einzige verbliebene Großinstitution, die im SED-Staat nicht gleichgeschaltet worden war. In den kirchlichen Räumen, im Windschutz der Kirche, hatten sich in den Jahren vor der Wende gesellschaftliche Gruppen formieren können, die sich für Frieden und Abrüstung und für Umweltschutz und Reisefreiheit einsetzten. In diesen Gruppen lag eine wichtige Wurzel der ostdeutschen Demokratiebewegung. Die Kirche bewährte sich im Herbst 1989 als Raum der Freiheit inmitten gesellschaftlicher Unfreiheit. Die kirchliche Kanzel war der einzige Ort in der Gesellschaft, an dem eine freie Rede möglich war. Ein wesentlicher Aspekt reformatorischer Spiritualität und des damit verbundenen Gemeindeverständnisses stellte die Wiederentdeckung des Gedankens vom allgemeinen Priestertum im Neuen Testament dar. Leider blieb schon in der Reformationszeit die praktische Umsetzung dieser Erkenntnis in den Anfängen stecken. Die heutige Situation abnehmender Kirchlichkeit könnte die Chance bieten, dass sich an dieser Stelle etwas ändert. Die meisten gegenwärtigen Ansätze zur Reform der evangelischen Kirche zeichnen sich durch die Forderung nach mehr Partizipation und Mündigkeit ihrer Mitglieder aus.62 Eine partizipa59 Kirche der Freiheit. Perspektiven für die Evangelische Kirche im 21. Jahrhundert. Ein Impulspapier des Rates der EKD, Hannover 2006. 60 Vgl. hier und im Folgenden Peter Zimmerling, Glaube und Freiheit. Warum beides zusammengehört, in: Deutsches Pfarrblatt 113, 2013, 252–255. 61 Hermann Geyer, Nikolaikirche, montags um fünf. Die politischen Gottesdienste der Wendezeit in Leipzig, Darmstadt 2007. 62 Um nur eine winzige Auswahl zu nennen: Kirche mit Hoffnung. Leitlinien künftiger kirchlicher Arbeit in Ostdeutschland, im Auftrag des Kirchenamtes der EKD, hg. von Helmut
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torische Gemeindestruktur entspricht dem Klima unserer demokratischen Gesellschaft, in der alle zur Mitverantwortung und Mitsprache und zum Mittun aufgefordert sind. Sie würde zur Umwandlung der bisherigen Versorgungskirche in eine „unternehmende Kirche“ führen und damit die Konkurrenzsituation positiv aufnehmen, der die verschiedenen religiösen Angebote in einer pluralistischen Gesellschaft zunehmend ausgesetzt sind. Die bundesdeutsche Gesellschaft zeichnet sich durch Freiheiten aus, die noch nie zuvor eine staatliche Ordnung in Deutschland den Menschen gewährt hat. Diese Freiheitsgewinne zu bewahren und auszubauen, ist eine wichtige Aufgabe. Gleichzeitig ist es unerlässlich, immer wieder daran zu erinnern, dass Freiheit nach christlichem Verständnis erst in der Liebe zum Nächsten zur Erfüllung kommt. Das Ziel evangelischer Spiritualität ist keine abstrakt verstandene Freiheit, sondern die Liebe zum Nächsten! Modern gesprochen: Der Einsatz zum Wohl der Mitbürgerinnen und Mitbürger. Unsere Gesellschaft kann nur bestehen, wenn es Menschen gibt, die ihre Freiheit in Verantwortung für den Nächsten leben, d. h., die bereit sind, sich, wenn nötig, freiwillig selbst zurückzunehmen. Aktuelle philosophische Überlegungen des bekannten Philosophen Jürgen Habermas fordern den Protestantismus zusammen mit den anderen christlichen Konfessionen heraus, eine hermeneutische Aufgabe zu erfüllen, nämlich die eigenen religiösen Überzeugungen in eine für alle verständliche säkulare Sprache zu übersetzen.63 Umgekehrt trägt er den säkularen Mitgliedern der Gesellschaft auf, sich in religiöser Hinsicht als hör- und lernfähig zu erweisen. Diese Aufforderung wiegt schwer, weil sie von einem bekennenden „religiös Unmusikalischen“ ausgesprochen wird. In Zukunft wird eine entscheidende Aufgabe evangelischer Spiritualität sein, sich an dieser großen zweiseitigen Aufgabe zu beteiligen, das Gespräch zwischen religiös Musikalischen und religiös Unmusikalischen in Gang zu bringen. Eine weitere wichtige Aufgabe evangelischer Spiritualität wird es sein, die in den westlichen Gesellschaften mühsam errungene Religionsfreiheit den Angehörigen nicht-christlicher Religionen im Land glaubwürdig zu vermitteln. Das ist Zeddies, Hannover 1998; Wachsen gegen den Trend. Auf dem Weg zu einer missionarischen Kirche, Büro der Landessynode der Evangelischen Kirche in Berlin-Brandenburg, Berlin 1998; Heike Schmoll (Hg.), Kirche ohne Zukunft? Evangelische Kirche – Wege aus der Krise, Berlin 1999; Klaus Douglass/Kai Scheunemann/Fabian Vogt, Ein Traum von Kirche. Wie ein Gottesdienst für Kirchendistanzierte eine Gemeinde verändert, Asslar 21999. 63 Jürgen Habermas, Glauben und Wissen, Frankfurt a.M. 2001, bes. 20–23; vgl. dazu Martin Petzoldt, Universitätsgottesdienst an der Universität Leipzig: Christlich-spirituelle Chancen inmitten eines universitären Wissenschaftsbetriebs, in: Rüdiger Lux/Martin Petzoldt (Hg.), Vernichtet, vertrieben – aber nicht ausgelöscht. Gedenken an die Sprengung der Universitätskirche St. Pauli zu Leipzig nach 40 Jahren, bes. 73–85; Rüdiger Lux, „Die Wissenschaft befreit uns von Gott…“ – Über die Beseitigung eines ideologischen Störfaktors, in: a. a. O., 45– 49.
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Peter Zimmerling
um des Zusammenlebens der verschiedenen Religionen willen ein Gebot der Stunde. Allerdings gilt: Toleranz verliert an Wert, wenn sie auf Gleichgültigkeit beruht. Wirklichen Wert hat die Duldung anderer Überzeugungen nur, wenn sie mir weh tut, weil ich von der eigenen Glaubenswahrheit überzeugt bin. Angehörige anderer Religionen spüren genau, ob meine Toleranz lediglich auf Desinteresse beruht.
5.
Aufbau und Inhalt des Handbuchs Evangelische Spiritualität, Bd. 2: Theologie
Ich verzichte auf ein Referat der einzelnen Artikel des vorliegenden Bandes, das angesichts der Vielzahl nur stichpunktartig ausfallen könnte. Ich hoffe, dass die trinitarische Gliederung der Beiträge durch meine einleitenden Ausführungen plausibel geworden ist. Dass bei dem einen oder anderen Artikel auch eine abweichende Zuordnung möglich wäre, sei ohne weiteres zugestanden. Auch mag es einzelne theologische Aspekte geben, die keine Berücksichtigung fanden. Dennoch hoffe ich, dass die verschiedenen Beiträge in ihrer Gesamtheit die Konturen und wesentlichen Inhalte einer Theologie evangelischer Spiritualität erkennen lassen. Vielleicht ist es hilfreich, sich die einzelnen Artikel als Steine eines Mosaiks vorzustellen. Bei aller Unterschiedlichkeit der theologischen Ansätze ihrer Autorinnen und Autoren ergeben sie doch, mit etwas Abstand im Zusammenhang betrachtet, ein stimmiges Gesamtbild.
Erster Teil: Der erste Artikel. Von der Schöpfung
Hansjörg Hemminger
Gottes Wildnis und des Menschen Garten Evangelische Spiritualität und Ökologie
1.
Was ist Ökologie?
1.1
Ökologie naturwissenschaftlich und politisch
Der Begriff „Ökologie“, abgeleitet vom griechischen οἶκος (oikos, Haus oder Haushalt), ist ursprünglich die Bezeichnung für eine Teildisziplin der Biologie. Sie beschäftigt sich mit den Beziehungen der Lebewesen untereinander (Synökologie) und mit der Beziehung einer Art zu ihrer unbelebten Umwelt (Autökologie). In der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts hat sich die Bedeutung des Begriffs jedoch stark ausgeweitet. Ökologische Erkenntnisse werden auf gesellschaftliche Fragen angewandt und zur politischen Argumentation verwendet, um das Verhältnis des Menschen zu seiner natürlichen Umwelt zu beschreiben und zu gestalten. Die Ökologie wurde zur Leitwissenschaft einer Ökologiebewegung. Diese Bezeichnung steht als ein übergreifendes Synonym für die vielfältigen Natur- und Umweltschutzbewegungen der Gegenwart. Darüber hinaus wurde der Begriff Ökologie auf die psychologische, soziologische bzw. interdisziplinäre Analyse der Umweltbeziehungen von nicht lebendigen Organisationen, Lebenswelten usw. übertragen. Soziale Ökologie, Stadtökologie, Bauökologie usw. wurden zu stehenden wissenschaftlichen bzw. technischen Begriffen. Von dieser Begriffsausweitung wird der folgende Artikel weitgehend absehen, in ihm wird „Ökologie“ im engeren Sinn als biologische Fachrichtung verstanden, und im weiteren Sinn als die naturwissenschaftlichen, ethischen und politischen Leitideen von Natur- und Umweltschutzbewegungen. In dieser Form fand der Begriff „Ökologie“ Eingang in die Umgangssprache. Das Adjektiv „ökologisch“ steht dort für eine Vielzahl positiver Bewertungen wie „wirtschaftlich nachhaltig“, „nach biologischen Grundsätzen erzeugt“, „abbauund wiederverwertbar“, „gesund und unbelastet“ usw. Auch die Kurzform „Öko“ in Kombination mit Bezeichnungen, die mit ökologischen Wirtschaftsformen in
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Hansjörg Hemminger
Verbindung zu bringen sind, setzt sich umgangssprachlich immer mehr durch. Es gibt Ökobauern, Ökosiedlungen, Ökoenergie oder Ökostrom; es gibt sogar Ökomode und „ökofaire“ Waren, also sowohl ökologisch erzeugte als auch fair gehandelte Produkte. Diese Bezeichnungen sind zum erheblichen Teil als Marketing- und Werbemittel zu betrachten, ebenso wie die nahezu gleich genutzte Bezeichnung „biologisch“ und die Vorsilbe „Bio“. Allerdings wird gerade dadurch die hohe Bedeutung eines „ökologischen Bewusstseins“ in einigen Milieus der Gesellschaft dokumentiert. Wäre dieses Bewusstsein nicht normativ wirksam, könnte man es nicht markt- und werbetechnisch nutzen.
1.2
Die ökologische Krise
Hintergrund der Verbreitung des Begriffs „Ökologie“ ist die Gefährdung der natürlichen und menschlichen Lebenswelt durch das technisch-industrielle Wirtschaften. Als Ausgangspunkt der Umweltbewegung, die sich gegen diese Gefährdung wehrt, wird oft das 1962 erschienene Buch „Der stumme Frühling“ von Rachel Carson genannt. Es thematisiert die Zerstörung des ökologischen Gleichgewichts durch den Einsatz von Pestiziden und Herbiziden. Diese und andere Gefahren rückten ab ca. 1970 immer mehr ins öffentliche Bewusstsein.1 Ein Ausdruck davon war der Bericht „Grenzen des Wachstums“ von Dennis Meadows et al. (Massachusetts Institute of Technology), der 1972 dem Club of Rome vorgelegt wurde: Spätestens 2100 stoße das Wachstum der Menschheit an endgültige Grenzen, falls die Zunahme der Weltbevölkerung und der Industrialisierung, die Umweltverschmutzung und die Nahrungsmittelproduktion sowie die Ausbeutung natürlicher Rohstoffe unverändert anhielten. Eine weitere Wurzel der Ökologiebewegung war der Streit um die Atomenergie. Die Angst vor einem Atomkrieg und einem „nuklearen Winter“ war im „kalten Krieg“ zwischen Ost und West allgegenwärtig. Durch die Katastrophen von Harrisburg (1979) und Tschernobyl (1986) kam die Angst vor der zivilen Nutzung der Kernenergie hinzu. Die Liste der Krisenzeichen umfasste schließlich – die Umweltverschmutzung durch Industrieabfälle und durch den enormen Verbrauch fossiler Brennstoffe – den Eingriff in die Natur durch synthetische, chemische Wirkstoffe – die Umweltgefahren der Energiegewinnung durch Nukleartechnik 1 Die Naturschutzbewegung entstand in Deutschland bereits im 19. Jahrhundert, gesetzliche Vorschriften zur Luftreinhaltung, zum Gewässerschutz usw. ebenso. Umweltschutz etablierte sich als eigenes politisches Ressort jedoch erst in den 1980er Jahren. Ein politisches Schlüsseldatum ist die UN-Umweltkonferenz von Stockholm 1972, s.: Jänicke, Umweltpolitik; Hünemörder, Frühgeschichte.
Gottes Wildnis und des Menschen Garten
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– den hemmungslosen Verbrauch natürlicher Ressourcen und die damit verbundene Umweltzerstörung – die Verarmung der Natur durch Artensterben – den Klimawandel durch die Verschmutzung der Atmosphäre Dass technischer Fortschritt ethisch und sozial ambivalent ist, war nicht an sich neu, sondern war ein Thema der Politik spätestens seit der Industrialisierung und Urbanisierung in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts. Die Spannung zwischen Technikbegeisterung und Wissenschaftsglauben einerseits und dem Leiden an der Zerstörung der Natur und ihrer Schönheit andererseits, begleitet die neuzeitliche Geistesgeschichte seit über 200 Jahren. Dass allerdings der technische Fortschritt die Lebenswelt in einem solchen Ausmaß belastet und zerstört, dass sogar die Grundlagen des Lebens und Überlebens verloren gehen, setzte sich als politische Einsicht erst um 1970 durch. Mit dieser Einsicht wurde eine weltanschauliche Grundorientierung der westlichen Moderne infrage gestellt, nämlich die Fortschrittsutopie, nach der es dem Menschen durch Vernunft und Wissenschaft gelingen könne, die Übel menschlicher Existenz zu mildern und schließlich abzuschaffen. Die Utopie gipfelt in der Hoffnung, den Menschen selbst durch die Wissenschaft erneuern zu können. Der vernünftige, friedensfähige, glücksfähige neue Mensch2 sollte durch Pädagogik, Psychologie, durch Eugenik, später durch technisches „Enhancement“, herstellbar werden. Den weltanschaulichen Rahmen dieser Utopie bildet die „große Erzählung“ von der stetigen Höherentwicklung der Welt und des Menschen, der sich durch Vernunft und Technik dem Dunkel der Verblendung entringt und ein goldenes Zeitalter hervorbringt. Diese Utopie verlor durch die Umweltkrise an Geltung und änderte ihre Gestalt. Ihre materialistische Seite wurde herabgestuft, ihre geistige oder spirituelle Seite aufgewertet. Das „wissenschaftliche Denken“ habe die Natur zum reinen Objekt herabgewürdigt, so wurde gesagt, und dem Menschen die Rolle des Subjekts zugewiesen, das Macht über die Natur ausübt. Dieser Dualismus von Subjekt und Objekt sei ursächlich für die Entfremdung des Menschen von der Natur und für deren Zerstörung durch Gier und Hochmut. Nicht selten wurde die biblische Bestimmung des Menschen als „Krone der Schöpfung“ als Kern des Übels ausgemacht, u. a. von Carl Amery.3 Die Trennung von Mensch und Natur sei aufzuheben, „Ganzheitlichkeit“ und ein „Leben im Einklang mit der Natur“ sei anzustreben. Die Anthropozentrik des Fortschrittsdenkens sei in einen Monismus zu überführen, der Tiere, Pflanzen und die ganze irdische Le-
2 Küenzlen, Der neue Mensch. 3 Amery, Das Ende der Vorsehung.
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benswelt mit einbezieht; Tierrechte hätten gleichrangig neben die Menschenrechte zu treten und so weiter.4 Eine typische „Welterzählung“ mit einer solchen Tendenz ist die Gaia-Hypothese von James Lovelock.5 Sie schreibt der Erde die Merkmale eines Organismus zu, der im globalen Maßstab ein ökologisches Gleichgewicht erhält und eine harmonische Evolution erfährt. Die Irrungen und Wirrungen des Fressens und Gefressenwerdens, aber auch menschliche Umweltsünden, sind aus der Perspektive des Superorganismus „Gaia“ als belanglose Ausschläge auf kleiner und mittlerer Ebene zu verstehen. Diese Hypothese ist keine Naturwissenschaft, es handelt sich um eine metaphysische bzw. spirituelle Narration. Auch solche „ökologischen“ und „ganzheitlichen“ Weltdeutungen bleiben allerdings insofern wissenschaftsgläubig, als ein verändertes Denken die Versprechen der Neuzeit nun doch wieder einlösen soll. Die Vision des „Neuen Menschen“ bleibt wirksam, allerdings in einer an die „Dialektik der Aufklärung“ angepassten Form.
1.3
Die Technisierung der Lebenswelt
Das praktische Credo der Ökologiebewegung lautet: Natur und Mensch werden von dem Drang des neuzeitlichen „Homo faber“ bedroht, all das zu tun, was technisch möglich ist. Also muss der Fortschritt gebändigt und beschränkt werden. Das gilt nicht nur für die Umweltkrise im engeren Sinn. Der Fortschritt der Wissenschaft selbst ist verdächtig, denn er erzeugt ein Konvolut von Fachwissen, das niemand mehr überblickt, und in dem sich selbst Spezialisten nur jeweils in einem kleinen Sektor orientieren können. Fragen nach dem Sinn, dem Ziel und dem Wesen des Ganzen werden damit unbeantwortbar. Es lässt sich (wiederum außer von wenigen Spezialisten) kaum mehr beurteilen, was von den zahllosen Weltdeutungen, die sich alle auf Wissenschaft berufen, solide begründet ist und was nicht. Die Wissenschaft, die Wahrheit herstellen sollte, die also der Kontingenzbewältigung dienen sollte, wird damit selbst kontingent. Sie verunsichert, weil keine Orientierung mehr in einer komplizierten Lebenswelt gelingt. Denn sie wird von der Technik in einem früher undenkbaren Ausmaß beherrscht. Sie wird durchaus auch positiv als Gestaltungsraum und als Hoffnungsort erfahren. Aber man erfährt sie ebenso – vielleicht noch mehr – als ein Feld von Zwängen und bedrohlichen Mächten. Eine verbreitete Reaktion darauf ist die Subjektivierung und Individualisierung der Weltdeutungen. Alle Sinngebungen und Orientierungen, die auf dem unübersichtlichen, öffentlichen Deutungsmarkt angeboten werden, werden tendenziell individualistisch rezi4 S. u.a. Ferguson; Capra. 5 Lovelock, GAIA.
Gottes Wildnis und des Menschen Garten
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piert in einem Ausmaß, das bis zum Anti-Realismus reicht.6 Die letzte Entscheidung über das, was in diesem Moment gilt, liegt beim autonomen Selbst. Oder man flüchtet in die radikale Reduktion des Weltwissens auf eine simple Ideologie, auf eine Verschwörungstheorie usw. und stellt so „Ganzheitlichkeit“ auf Kosten des Realismus her. Denn die technisch produzierte Lebenswelt ist, so paradox diese Feststellung wirkt, für den Menschen unverständlicher und unkontrollierbarer als jede natürliche Umwelt. Zu entscheiden oder zu regeln gibt es für das Individuum scheinbar nichts, die technischen Innovationen beherrschen den Alltag unentrinnbarer als jede Naturgewalt. Sie entwickeln dabei ein geradezu dämonisches Eigenleben. Die Hi-Tech-Ökonomie, die elektronisch funktionierenden Finanzmärkte, die IT-Branche, die ständig beschleunigte digitale Kommunikation, die Biotechnik usw. produzieren Zwänge, die niemand mehr beherrscht, nicht einmal die Mächtigen in Politik und Industrie. Daraus ergibt sich eine Sehnsucht, dass sich wenigstens in der selbst gestalteten Teilwelt der Freizeit das Glücksversprechen der Neuzeit erfüllen möge: Freiheit, Spaß, Selbstverwirklichung, erfüllende Erlebnisse, gelingendes Leben. Dafür spielt der Rückbezug zur Natur eine wichtige Rolle, denn sie wird als Gegenbild und Antithese zur technisierten Lebenswelt verstanden. Man sucht die Natur als Raum des Freizeiterlebens (sicherlich die häufigste Form), man sucht sie als Inspiration und Vision für alternative Lebensentwürfe, man sucht sie als Ziel einer grundsätzlichen Ausstiegshoffnung. Dahinter lässt sich eine Sehnsucht nach Beheimatung erkennen, nach einem „natürlichen Leben“ und einer lebenswerten Welt. Es ist leicht, diesen „antimodernen“ Sehnsuchtsort Natur als unrealistisch zu entlarven. Damit ist die Sehnsucht allerdings nicht entwertet. In einer vorindustriellen Kultur bestand die Lebenswelt aus einer vom Menschen gebändigten Natur einerseits, aus Garten, Acker, Weide, nutzbaren Wegen und befahrbarem Wasser, und aus der Wildnis andererseits. Der sinnbildliche Lebensraum für den Menschen war der Garten, den man durch Arbeit der Wildnis abgerungen hatte. Ein „Zurück zur Natur“ hätte für einen Bauern oder Handwerker der Reformationszeit keine Bedeutung gehabt. Hätte er wie Henry David Thoreau in eine Hütte in der Wildnis ziehen sollen? Ein „Zurück zur Natur“ in Form einer Idealisierung des „edlen Wilden“ findet sich erst bei JeanJacques Rousseau als Reaktion auf den Rationalismus der Aufklärung, als eine Vision des einfachen Lebens bei Dichtern des 19. Jahrhunderts wie Ralph Waldo Emerson, Thoreau und anderen. Was es allerdings seit vielen Jahrhunderten gibt, 6 S. den Begriff der Postmoderne bei Lyotard, Das Postmoderne Wissen. Lyotard vertritt die These, dass die „großen Erzählungen“ der Moderne an ein Ende gekommen seien: „In äußerster Vereinfachung kann man sagen: ‚Postmoderne‘ bedeutet, dass man den Meta-Erzählungen keinen Glauben mehr schenkt“ (7).
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zumindest für ein städtisches Bürgertum, ist die Polarität von Stadt und Land. Naturromantik war für den Städter im Wesentlichen eine Romantisierung des Landlebens, wie in der Schäferidylle des Rokoko. Aber die vorindustriellen Städte waren klein, die Gärten waren nur einen Spaziergang entfernt. Heute haben die Städte das Land und die Wildnis verschlungen. Fast die ganze Lebenswelt besteht aus Asphalt und Beton, aus mobilen Metallbehältern, in denen wir uns bewegen, aus dem Mikrokosmos unserer technisch aufgerüsteten Wohnungen und Häuser, aus virtuellen Kommunikationsräumen usw. Die Flächen der technisierten Landwirtschaft und der industriell genutzten Wälder sind weder Garten noch Wildnis, sie sind Teil einer menschengemachten Welt. Garten und Wildnis sind zu Accessoires der technischen, nämlich wirklichen Welt geworden, im besten Fall sind sie noch Gebrauchsgegenstände des Freizeitlebens. Denn in einer paradoxen Umkehr ist es nun die Wildnis, die einer von Technik gestalteten Lebenswelt abgerungen wird. Hier ein Nationalpark, dort ein Naturschutzgebiet werden als Erinnerungen an die Wildnis kultiviert. Der Zaun, der einst den Garten vor der Wildnis schützte, schützt nun die Wildnis (oder was davon übrig ist) vor dem Zugriff des Menschen. Die sogenannte unberührte Natur wird dadurch zur Utopie im wörtlichen Sinn, zu einem Ort, der nicht ist, der aber sein sollte.
2.
Die Geschöpflichkeit des Menschen und die Bewahrung der Schöpfung
2.1
Evangelische Spiritualität und die Ökologiebewegung
Welche Antwort gibt der Protestantismus auf die ökologische Krise, auf die Technisierung der Lebenswelt, die Entfremdung von der Natur und die sich daraus ergebende Natursehnsucht und auf den Verlust des modernen Fortschritts-Optimismus? Die Reaktionen sind nicht in erster Linie spiritueller, sondern ethischer, politischer und theologischer Art. Dies gilt zumindest für die reflektierte und organisierte Rezeption der Ökologiebewegung. Mit den spirituellen Aspekten dieser Rezeption wird sich der zweite Teil des Textes beschäftigen. Eine von der Ökologiebewegung angestoßene, praktizierte und erlebte Natur- oder Schöpfungsspiritualität lässt sich dagegen im evangelischen Raum nur spurenweise finden. Warum dies so ist, und wie es anders sein könnte, wird Thema des dritten Teils sein. Zuerst zur ethischen und politischen Verantwortung für die Natur: Vor der „ökologischen Krise“ des letzten Jahrhunderts wurde diese Verantwortung vor allem als Haushalterschaft über die Gaben aus Gottes Schöpfung verstanden. Das
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biblische Bild für sie ist der Garten Eden mit seinen Bäumen, die sowohl „schön anzusehen“ sind als auch gute Nahrung bringen. Den Garten pflanzt nicht der Mensch, sondern Gott. Aber der Mensch soll ihn „bebauen und bewahren“. Diese traditionelle Seite des biblischen Schöpfungsglaubens rückt in einer veränderten Form durch die Ökologiebewegung in die Mitte evangelischer Weltverantwortung. Bekanntester Ausdruck ist der 1983 in Vancouver bei der VI. Vollversammlung des Ökumenischen Rats der Kirchen angestoßene konziliare Prozess für Gerechtigkeit, Frieden und Bewahrung der Schöpfung. Von der Ökumenischen Weltversammlung 1990 in Seoul wurden zehn Grundüberzeugungen formuliert, deren Paragraphen VII und VIII sich direkt auf die „Bewahrung der Schöpfung“ beziehen.7 Theologisch verbunden damit ist eine Erinnerung an die Geschöpflichkeit des Menschen und seine Einbindung in die ganze Schöpfung. Diese Einbindung war kaum Gegenstand des bewussten Erlebens, solange die Abhängigkeit des Menschen von der Natur selbstverständlicher Teil des Weltbezugs war. Dass es „dem Menschen geht wie dem Tier“ (Pred 3,19), und dass Gott Mensch wie Tier mit seinen Schöpfungsgaben am Leben erhält, war keine Frage. Die Technisierung der Lebenswelt hebt diese Selbstverständlichkeit jedoch auf und macht die Begegnung mit Gottes Schöpfung zu einer Erinnerung daran, dass der Mensch, der die Natur zerstört, selbst Natur ist. Diese Einsicht besitzt eine Nähe zu der bereits erwähnten romantischen und „gegenkulturellen“ Sehnsucht nach einem Leben im Einklang mit der Natur. Die christliche Verantwortung für die Schöpfung ist von diesem anti-aufklärerischen und antitechnischen Protest allerdings auch zu unterscheiden (siehe den folgenden Abschnitt 2.2). Der vielleicht elementarste spirituelle Ausdruck des Schöpfungsglaubens ist das Lob des Schöpfers, verbunden mit dem Dank für den Segen, den Gott dem Menschen zukommen lässt. Das Gotteslob geht über den Nutzen für den Menschen hinaus, es erfasst die großen und kleinen Erscheinungen der Natur als Ausdruck göttlicher Ordnung und Fülle. So werden die vergänglichen Blumen, die Narzissen und Tulpen, bei dem Dichter Paul Gerhardt zur Erfahrung mit Gottes Schöpferwerk. In dem bekanntesten aller Gesangbuchlieder übertreffen „Narzissus und die Tulipan…“ jeden menschlichen Schmuck an Schönheit. Das lustvolle ästhetische Naturerleben und das Lob des Schöpfers sind jedoch nicht nur eine spirituelle Erfahrung, sondern auch ein Erkenntnisweg. Diese Erkenntnis zum Ausgangspunkt dogmatischer Schlüsse zu machen, wird allerdings in der evangelischen Theologie zwiespältig betrachtet. Die alte christliche Idee der „zwei Bücher der Offenbarung“, nämlich neben der Heiligen Schrift auch das „Buch der Natur“, stößt insofern auf Misstrauen, als dabei eine Wiederkehr der „natürlichen Theologie“ vermutet wird, die den christlichen Glauben aus der 7 Schmitthenner, Oekumenische Weltversammlung, 153f.
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vernünftigen Betrachtung der Natur begründen will.8 Von daher unterscheidet die evangelische Theologie mit Recht eine „Theologie der Natur“ von einer solchen „natürlichen Theologie“. Der Widerspruch ersterer gegen den Versuch, die Schöpfungstheologie rein rational zu begründen, schließt aber die Gotteserkenntnis aus der Natur nicht von vornherein aus. Vielmehr schließt die Selbstoffenbarung Gottes in Jesus Christus, die den Glauben begründet, eine solche Möglichkeit mit ein. Mehr muss dazu als Begründung einer ökologischen Spiritualität nicht gesagt werden. Denn wenn man – wie es dem spirituellen Erleben entspricht – das „Lesen im Buch der Natur“ vorwiegend als Kontemplation und glaubendes Staunen begreift, lassen sich alle genannten Aspekte „ökologischer“ Spiritualität (die Bewahrung der Schöpfung, die Verbundenheit des Menschen mit seinen Mitgeschöpfen, das Lob Gottes aus seiner Schöpfung) daran anschließen. Sie alle sind außerdem im Protestantismus weitgehend unstrittig. Eine Ausnahme bildet lediglich der rechtskonservative US-Fundamentalismus, der aufgrund seiner ideologischen Wissenschaftskritik dazu neigt, die Grunderfahrungen der Ökologiebewegung abzustreiten. Ein großer Teil der „Klimaskeptiker“, die den von Menschen verursachten Klimawandel bestreiten, sind zum Beispiel fundamentalistische Protestanten. Abgesehen von solchen extremen Milieus gibt es wenig Dissens. Allerdings haben „ökologische“ Themen in der Spiritualität verschiedener evangelischer Strömungen einen unterschiedlichen Stellenwert. Die evangelikale Bewegung beschäftigt sich zum Beispiel weit weniger mit ihnen als sogenannte liberale bzw. politisch progressive Milieus.
2.2
Sieh an der schönen Gärten Zier
Die Wildnis, die großen Wälder und die weiten Wüsten, oder gar die unendlichen Ozeane, waren vor der Industrialisierung und Urbanisierung Europas kein Gegenstand menschlicher Fürsorge. Sie unterlagen nicht der Macht des Menschen, sondern in ihnen war das menschliche Leben durch Naturmächte bedroht. Dass der Mensch umgekehrt die Existenz der Wildnis bedrohen könnte, war nicht denkbar. Ein „Leben im Einklang mit der Natur“ hat es in der Menschheitsgeschichte dennoch nie in dem Sinn gegeben, dass der Mensch die Wildnis nicht kultiviert und verändert hätte. Bekannte Beispiele sind die Ausrottung der Megafauna Australiens und Amerikas durch einwandernde Steinzeitjäger,9 die 8 S. u.a. Pannenberg, Natürliche Theologie II; Michel, Physikotheologie. 9 Das Stichwort in der Ökologie lautet „holozäne Aussterbeereignisse“, insbesondere in Australien, Amerika und (allmählicher) in Europa. Die menschliche Verursachung im kontinentalen Maßstab ist wahrscheinlich, aber immer noch strittig. Die Ausrottung der Megafauna
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Entwaldung des Mittelmeerraums in der Antike usw. Allerdings waren vormoderne Kulturen durch eine intime Kenntnis ihrer natürlichen Umwelt mit deren Pflanzen- und Tierwelt verbunden. Diese archaische Intimität drückte sich in einer reichen Welt von aus der Natur entnommenen Symbolen und Mythologien aus.10 Sie sind heute nicht mehr ohne weiteres verständlich, eine „ökologische“ Spiritualität muss und kann deshalb neu am biblischen Schöpfungszeugnis ansetzen. Anders als in den meisten außerbiblischen, mythologischen Naturdeutungen sind die Wildnis und die wilden Tiere aus biblischer Perspektive nicht unoder widergöttlich, sie sind auch keine Träger spiritueller Kräfte. Zum Beispiel gibt es in der biblischen Tradition keine „Naturmantik“, keine Deutungen von Vogelflug und keine Visionen von Krafttieren. Die wilden Tiere gehören zu Gottes Schöpfung, sie sind nicht mehr und nicht weniger als Mitgeschöpfe. Das gilt sogar für die riesigen, geheimnisvollen Tiere des Meeres, wie für den sagenhaften Leviathan. Gott versorgt die (rituell unreinen) Raben mit Speise wie alle seine Geschöpfe (Ps 147,9). Sie alle sind in Gottes Ordnung eingebunden, der Mensch kann deshalb von ihnen lernen. „Der Storch unter dem Himmel weiß seine Zeit, Turteltaube, Kranich und Schwalbe halten die Zeit ein, in der sie wiederkommen sollen; aber mein Volk will das Recht des Herrn nicht wissen“ (Jer 8,7).
Von daher ist im biblischen Schöpfungsglauben eine positive Verbundenheit mit der Lebenswelt angelegt. Ganz im Sinn des Psalters spannt das bereits erwähnte Sommerlied von Paul Gerhardt „Geh aus mein Herz…“ den Bogen von „der schönen Gärten Zier“, vom handfesten Segen des Ackers bis zu den wilden Geschöpfen, zu der Taube in der Waldschlucht und der Schwalbe am Himmel. Das heißt aber, dass Haushalterschaft über die Schöpfung Gottes in der biblischen Tradition auch bedeutet, der Wildnis einen Garten für den Menschen abzuringen, die wilden Tiere zu zähmen, das Meer mit Schiffen zu befahren und nützliche Bäume in der Ödnis zu pflanzen. Die lebensnotwendigen Güter für den Menschen liefert aus biblischer Sicht eine fruchtbare Kulturlandschaft, in der Korn, Wein und Ölbaum gedeihen, in der es genug Wasser, gute Wege und einen sicheren Hafen gibt. Auch die vormoderne Idealisierung des Landlebens schildert keine Ödnis, sondern einen weitläufigen Park mit zahmen Nutztieren. Die pastorale Idylle ist ein Landschaftsgarten. Erst die Romantik fügt eine idealisierte Wildnis hinzu, die finstere Schlucht, den hohen Berggipfel, den tiefen Wald. Aber durch den Menschen bei der Besiedelung großer Inseln wie Madagaskar und Neuseeland ist dagegen unstrittig. 10 Zu der vorwissenschaftlichen, christlichen Natursymbolik wie beispielsweise im von der Antike bis ins späte Mittelalter verbreiteten „Physiologus“ haben neuzeitliche Christen, vor allem Protestanten, keinen Zugang mehr. Selbst ein altes und wirkmächtiges Symbol wie das Kreuz als Lebensbaum spielt im Protestantismus kaum eine Rolle.
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sie war nicht zu „bebauen und bewahren“, sondern sie war Fluchtpunkt für Herz und Gemüt vor der kalten, aufgeklärten Vernunft. Von daher ist daran zu erinnern, dass der Fortschrittsgedanke der Neuzeit ebenso vom Schöpfungsglauben motiviert war wie der spätere Gedanke des Lebens- und Naturschutzes. „Die mechanische und medizinische Kunst und Technik, d. h. der Erwerb von Wissen als Macht über die Natur (Francis Bacon, René Descartes), führt zur Verbesserung der durch den Sündenfall verdorbenen Schöpfung und zur Wiederherstellung der verlorenen Gottesebenbildlichkeit des Menschen (Paracelsus, Kepler)“.11
Die Nähe von Protestantismus und Fortschrittsdenken im 18. und 19. Jahrhundert war praktisch äußerst fruchtbar. Immer wieder waren evangelische Geistliche und Laien an der Verbesserung des Wirtschaftens, an der Bekämpfung der Armut der bäuerlichen Bevölkerung, an der Überwindung der ständig drohenden Hungersnöte usw. beteiligt. Von daher sollte man sich davor hüten, in Zeiten der ökologischen Krise in eine blinde Negativreaktion auf das aufgeklärte Fortschrittsdenken zu verfallen. Die Versorgung der Menschen mit lebensnotwendigen Gütern und der Schutz der Umwelt müssen vielmehr in ein Gleichgewicht gebracht werden. Dabei führt der in der gemäßigten Ökologiebewegung entwickelte Gedanke der Nachhaltigkeit des Wirtschaftens weiter als unrealistische Ideen von revolutionären Umstürzen und Maschinenstürmen. Die beiden „ökologischen“ Grundüberzeugungen der Ökumenischen Versammlung von Seoul (s. 2.1) betonen den Schutz der Umwelt und alles Lebendigen, wissen aber auch um den Auftrag, die Natur zugunsten des Menschen zu nutzen: Grundüberzeugung VII: „Wir bekräftigen, dass Gott die Schöpfung liebt. Gott, der Schöpfer, ist der Ursprung und der Erhalter des ganzen Kosmos. Gott liebt die Schöpfung […] Da die Schöpfung von Gott ist und seine Güte die ganze Schöpfung durchdringt, sollen wir alles Leben heilig halten“.
Grundüberzeugung VIII: „Wir bekräftigen, dass die Erde Gott gehört. Das Land und die Gewässer bedeuten Leben für die Menschen […] Der Mensch soll Boden und Gewässer so nutzen, dass die Erde regelmäßig ihre lebensspendende Kraft wiederherstellen kann, dass ihre Unversehrtheit geschützt wird und dass die Tiere und Lebewesen den Raum zum Leben haben, den sie brauchen. Wir werden jeder Politik widerstehen, die Land als bloße Ware behandelt […] Wir verpflichten uns außerdem, den ökologisch notwendigen Lebensraum anderer Lebewesen zu achten“.
11 Beuttler, Glaubenswissen und Wissenschaftsglauben, 41.
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Die „Grundüberzeugungen“ verfolgen pragmatische, politische und ethische Anliegen. Die damit verbundene Nüchternheit gehört mit zur evangelischen Spiritualität. Die neuzeitliche Entfremdung von der Natur soll einerseits realistisch wahrgenommen werden. Auf sie soll andererseits progressiv geantwortet werden, nämlich von der Mitte des Schöpfungsglaubens her mit dem Ziel der Bewahrung alles Lebens. Es entspricht nicht der evangelischen Weltverantwortung, Tagträumen von einer Regression zu einem „natürlichen Leben“ nachzuhängen. Wenn Wissenschaft und Technik benötigt werden, um die Versorgung der Menschen und den Schutz der Umwelt zusammenzubringen, dann verlangt es die biblische Weisheit, sie zu nutzen.
2.3
Der Mensch: Geschöpf unter Mitgeschöpfen
Die historische Wurzel des Tierschutzgedankens im erwecklichen Pietismus des 19. Jahrhunderts kann hier aus Platzgründen nicht näher dargestellt werden. Zentrale Personen waren die württembergischen Pfarrer Christian Adam Dann und Albert Knapp. Deren Ausgangspunkt war der Tierschutz als biblisches Gebot. So wie Gott barmherzig mit allen seinen Geschöpfen verfährt, so solle auch der Mensch verfahren: „Der Gerechte erbarmt sich seines Viehs, aber das Herz der Gottlosen ist unbarmherzig“ (Spr 12,10). Als Wegbereiter einer ökologischen Spiritualität im 20. Jahrhundert kann dagegen Albert Schweitzer angesehen werden, obwohl er dessen ökologische Krise nicht mehr erlebte.12 Der für ihn zentrale Begriff „Ehrfurcht vor dem Leben“ steht für ein ethisches Grundprinzip: Gut ist ein Handeln, das Leben erhält und fördert; böse ist es, Leben zu schädigen, zu vernichten und seine Entfaltung zu verhindern. Nach Schweitzer bedarf dieses Prinzip keiner argumentativen Begründung, es wird für ihn denknotwendig durch die Einsicht: „Ich bin Leben, das leben will inmitten von Leben, das leben will“. Diese Einsicht ist allerdings Menschen nicht ohne Weiteres zugänglich, sie muss ihnen eröffnet werden. Genau genommen handelt es sich also eher um ein spirituelles als um ein philosophisches Prinzip. Denn dass für den philosophierenden Intellekt von einer Denknotwendigkeit keine Rede sein kann, hat die moderne Geistesgeschichte demonstriert. Man kann aus dem Angewiesensein des Lebens auf anderes Leben und aus der Konkurrenz alles Lebens um die Grundlagen des Lebens auch biologistische und materialistische Schlüsse ziehen. Eingebunden in das universale Liebesgebot Jesu führt diese Einsicht jedoch dazu, dass die goldene Regel, seinen Nächsten zu lieben wie sich selbst, sich auf alles Lebendige erstreckt. Praktisch bedeutet dies auch Pazifismus und Vegetarismus. Je nach den Umständen kann 12 Oermann, Albert Schweitzer.
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die Liebe zum Lebendigen auch Entsagung bedeuten, nämlich die Verneinung eigener Lebenswünsche, wenn sie mit dem Lebenswillen anderer Geschöpfe kollidieren. Dies gilt besonders für nichtmenschliche Geschöpfe, die dem menschlichen Handeln hilflos ausgesetzt sind. Sie dürfen nicht aus Gleichgültigkeit oder Gewinnsucht geschädigt werden. Tiere zu töten ist für Albert Schweitzer immer ein Verschulden, auch wenn man es nicht immer vermeiden kann. Daher hielt Schweitzer eine vegetarische Ernährung für eine moralische Pflicht.13 Ohne Albert Schweitzers philosophische Ethik pauschal zu übernehmen, kann man sie als spirituellen Anstoß für eine „ökologische Askese“ ansehen. Damit kommt die Askese als eine traditionell bedeutsame Seite christlicher Spiritualität neu in den Blick, Askese nicht in erster Linie als Verneinung der eigenen Natur, sondern als Bescheidung und Verzicht zugunsten des von Gott gewollten Lebens. Diese „ökologische Askese“ kann viele Ausdrucksformen haben: Die Rückkehr zu einer weniger fleischlastigen Ernährung nicht nur zugunsten des Tierschutzes, sondern auch zugunsten des Weltklimas und zur Verminderung von großflächiger, industrieller Landwirtschaft; die Bevorzugung lokaler Produkte, der Verzicht auf die rücksichtslose Nutzung von Wildtieren, der Verzicht auf Produkte qualvoller Tierhaltung, der Verzicht auf Mobilität zugunsten des Klimas. Die Bereitschaft, den technisch und ökonomisch möglichen Konsum einzuschränken, sich mit „weniger und einfacher“ zu begnügen, ist heute Teil einer evangelischen Spiritualität über die politische Mitverantwortung für den Tierund Umweltschutz hinaus. Wenn man der spirituellen Seite dieser Verantwortung einen Namen geben will, kann man sie „Achtsamkeit gegenüber den Mitgeschöpfen“ nennen. Sie begründet nicht nur eine ethische Haltung, sondern erinnert an die Einbindung des Menschen in die natürliche Lebenswelt und weist evangelische Christen auf ihre Geschöpflichkeit hin. Sie richtet sich damit auch gegen die Hybris des neuzeitlichen Menschen, der meint, sich den geschöpflichen Abläufen immer mehr entziehen zu können, bis hin zur technischen Überwindung des Todes. Es ist ein Kennzeichen unserer Kultur, dass die Abhängigkeit des Menschen von den Gaben der Natur auch für Christen kaum mehr zur lebendigen Erfahrung wird. Es gibt zwar traditionelle Reste dieser Erfahrung, zum Beispiel das Erntedankfest. Aber grundsätzlich erfährt der heutige Mensch seine Abhängigkeit von anderen Menschen sowie von menschengemachten Mächten viel intensiver als seine Abhängigkeit von Naturvorgängen. Seine Ängste und Hoffnungen richten sich auf sich selbst, nicht auf die Natur und nicht auf seinen Schöpfer. Die ökologische Perspektive leitet dagegen zu einer Spiritualität an, die 13 Eine Diskussion von Vegetarismus und Veganismus heute findet sich bei Funkschmidt, Erlösung durch Ernährung.
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das eigene Leben als Gottes Gabe begreift, die uns durch die gesamte Schöpfung hindurch zukommt.
3.
Naturbegegnung und Naturspiritualität
3.1
Schmelzwasserbäche und Osterhimmel: Die Poesie der Schöpfung
Der schwedische Diplomat und UN-Generalsekretär Dag Hammarskjöld hat in seinem posthum publizierten Tagebuch „Zeichen am Weg“ eines der wenigen schriftlichen Beispiele für eine evangelische Naturspiritualität hinterlassen. „Schmelzwasserbäche und Osterhimmel. Abend. Zu Tisch Veilchenduft.“ lautet eine Gedichtstrophe.14 Hammarskölds Naturerleben entsprang, soweit dies bekannt ist, keiner meditativen Methode, sondern einer spontanen ästhetischen Begegnung. Menschsein und Christsein verbinden sich bei ihm mit den Erscheinungen von Pflanzen, Tieren, Landschaft und Himmel. Daraus entsteht ein Naturerleben, das mehr ist als eine Assoziation des lyrischen Ichs. Das Schmelzwasser richtet den Blick auf Ostern, die Linien der Landschaft auf das Kreuz. Die Natur wird durchscheinend nicht nur für die Gegenwart Gottes, sondern auch für die geistliche Dimension des menschlichen Tuns. Die üppigen Sommerwiesen und der wachsende Mais auf dem Feld werden zu der Frage an den Menschen: „War hier, hier des Paradieses Fata Morgana einen Augenblick während der Mittsommernacht?“ Entscheidend für die Naturspiritualität und die Naturmystik – darum handelt es sich ebenso – des schwedischen Diplomaten ist das Gespür für die Sprache der natürlichen Dinge, der „res naturalia“. Denn die Schöpfung erfahren wir sinnlich nicht als ein Ganzes, sondern in unendlich vielfältigen Erscheinungen, die in einer ständigen Selbstbegrenzung des Schöpfers seinem Willen entspringen. Sie sprechen zu uns mit vielen Stimmen von sich, von uns, von ihrem Schöpfer. Hammarskjölds Naturspiritualität ist Ausdruck einer mystischen Gottesbegegnung: „Der Mensch soll mit allen Kreaturen zu seinem Vorteil verkehren, aber sich an Gott allein erfreuen“.15 Eine theologische Begründung für eine solche Begegnung mit den Geschöpfen findet sich bei dem calvinistischen, später anglikanischen, Theologen George MacDonald:16
14 Hammarskjöld, Zeichen am Weg, 95. 15 A. a. O., 59, englisch, als Zitat gekennzeichnet, Quelle unbekannt. 16 MacDonald, Unspoken Sermons, Übersetzung vom Autor.
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„Die Wahrheit der Blume sind nicht die Tatsachen über die Blume, mögen sie auch so korrekt sein, wie die Naturwissenschaft sie machen kann. Die Wahrheit der Blume ist das leuchtende, glühende, geduldige Ding, das auf seinem Stängel thront, und das Kindern und Propheten ein Lächeln und eine Träne entlockt […] Gottes Naturwissenschaft in der Blume ist dafür da, die Blume und ihre Beziehung zu den Kindern Gottes hervorzubringen. Wenn wir das verstehen, wenn wir die Blume lieben und mit ihr eins sind, haben wir das, wofür Naturwissenschaft da ist. Und das allein rüstet uns dafür aus, die Mittel und Wege zu erkennen, durch welche die göttliche Idee der Blume geschaffen und uns vor Augen geführt wurde. Die Idee Gottes ist die Blume selbst, seine Idee ist nicht die Botanik der Blume“.
Für MacDonald ist die tiefste Wahrheit, die geschaffene Dinge dem Menschen sagen, in ihrer sinnlichen Erscheinung verschlüsselt, in ihrer Wirkung aufeinander und miteinander, auch in ihrer Wirkung auf den Menschen. Da die Natur aller Dinge aus Gottes Schöpferwillen hervorgeht, ist das Geflecht ihrer Beziehungen zueinander Teil des Geschaffenen, auch der Zusammenklang zwischen den Sinnen, dem Geist, der Seele des Menschen und der Natur um ihn her. Wir wissen, dass die Schönheit der Blume nicht nur von deren Biologie erzeugt wird, sondern von unseren Sinnen und unserem Nervensystem. Aber diese sind Gottes Werk, und MacDonald betont, dass unser Schöpfer uns für den Zusammenklang oder, wie Hammarskjöld es ausdrückt, für die Kommunion mit unseren Mitgeschöpfen geschaffen hat. In diesem Sinn spricht Oswald Bayer unter Berufung auf Johann Georg Hamann von der Schöpfung als „einer Rede an die Kreatur durch die Kreatur“.17 Diese Sichtweise widerspricht dem neuzeitlichen „wissenschaftliche Weltbild“, in dem die Erkenntnisse der Botanik die eigentliche Wahrheit über die Blume sind, und ihre Erscheinung für den Menschen ein Epiphänomen. Aber dieses wissenschaftliche Weltbild weiß auch nichts davon zu sagen, was der Mensch jenseits dessen ist, was die Naturwissenschaft über ihn sagt. Wenn der Mensch mehr ist, ist auch die Natur mehr. Der englisch-irische Apologet Clive S. Lewis, ein Bewunderer von George MacDonald, nutzte dessen Naturspiritualität für ein überraschendes Bild: In dem Gedicht „Pattern“18 widerspricht er der üblichen Vorstellung, dass die Bäume im Sommer grün, wach und lebendig sind, während sie im Winter ihr Laub abwerfen und in eine Schlafstarre verfallen. Im Gegenteil, so dichtet er, die kahlen Winterbäume sind wach, sie sehen und hören. Schlaf und Traum umfangen den Baum im Sommer, wenn er grün ist und eingeflochten in das Geschäft des Wachsens und Fruchtens. Befreit davon, wird der Geist des Baums wach und greift in die Weite aus. Die Übertragung auf das menschliche Leben wird in dem Gedicht nur angedeutet, sie findet sich ausformuliert bei seinem Vorbild Mac17 Bayer, Schöpfung als Anrede, 9,14ff. 18 Lewis, Poems, 79.
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Donald.19 Auch das Alter, das Sterben und der Tod des Menschen sind kein Hinwegdämmern, kein Einschlafen, sondern ein Erwachen aus dem Traum des Lebens, aus den vielfältigen Wünschen und Ängsten unserer Natur. Das biologische Leben leben wir in einem Traum, aus dem uns der Winter des Lebens erwachen lässt. Man kann sich vorstellen, wie dieses Bild gerade für einen alten Menschen bei einer Waldwanderung zur spirituellen Erfahrung werden könnte: An einem Wintertag hebt sich zwischen grünen Tannen eine kahle Eberesche vom grauen Himmel ab. Sie scheint tot zu sein, die Flechten auf ihren dunklen Ästen wirken wie Aussatz. Aber dieser winterlich kahle Baum ist nicht tot, sein Leben ist verborgen, wie unser menschliches Leben in Gott verborgen sein wird, wenn wir sterben. Und wie den Baum erwarten uns ein neuer Frühling und ein neues Leben.
3.2
Herr, gib uns Kraft und Mut wie deinen Spatzen…
Im deutschen Sprachraum findet man kaum Beispiele für eine evangelische Spiritualität, die aus poetischem Naturerleben entsteht, zumindest nicht in der Gegenwart und nahen Vergangenheit. Wie kam es zu dieser Armut? Eine denkbare Antwort findet sich in einem Briefwechsel zwischen Carl Zuckmayer und Karl Barth.20 Der Dichter hatte wohl in einem persönlichen Gespräch geäußert, dass er Gott auch in der Begegnung mit einem Baum, im Erschauen und Ertasten der Rinde, anbeten könne. Diese Bemerkung beunruhigte den Theologen, der ansonsten dem katholischen Dichter einen priesterlichen Dienst am Menschen zugestand: „Gott in jeder Baumrinde – gut, ich gehe auch mit. Aber Gott in jeder Baumrinde ist Gott der Schöpfer […] Im priesterlichen Dienst handelt es sich um Gott den Versöhner der von ihm abgefallenen, ja gegen ihn streitenden Schöpfung, der mit Jenem gewiss Einer und Derselbe, aber nun eben doch der in Jesus Christus allein wahrhafte, handelnde und redende Gott ist. Ihm und ihm als solchem allein gebührt also Anbetung […] Gott in der Baumrinde doch wohl nur indirekt, inklusive, mittelbar“.
Würde der Theologe sich von einer unbestimmten oder esoterischen Vergöttlichung der Natur abgrenzen, man müsste ihm zustimmen. Denn Pan, der Gott der Wildnis, ist unwiderruflich tot. Er kommt nicht zurück, auch nicht durch Fantasien von Naturgeistern und feinstofflichen Naturenergien. Man mag das aus christlicher Sicht begrüßen wie Elisabeth Barrett Browning21 und Gilbert K. 19 In: MacDonald, George, Lilith – a Romance, Grand Rapids 2000. 20 O. Hg., Späte Freundschaft, 23f. 21 Browning, Elisabeth B., The Dead Pan, (www.bartleby.com/270/9/3.html, Zugriff Dezember 2015, Gedicht von 1844.
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Chesterton22. Man mag es bedauern oder man mag sogar behaupten, Pan sei auferstanden, wie in Esoterik und Neuheidentum.23 Aber einer solchen Naturverehrung war der fromme Katholik Zuckmayer unverdächtig, und Karl Barth unterstellte sie dem Freund auch nicht. Er hatte vielmehr dogmatische Bedenken dagegen, von einer Anbetung des Schöpfers in der sinnlichen Begegnung mit der Natur zu sprechen. Er verwies auf den in Jesus Christus „allein wahrhaften, handelnden und redenden Gott“. Gott der Schöpfer, so sagte Barth, ist wohl mit Christus eins. Aber die erste Person Gottes, so hat man den Eindruck, handelt und redet aus seiner Sicht nicht so mit dem glaubenden Menschen, dass dieser es spirituell wahrnehmen könnte. Die Anbetung Gottes in seinem Schöpfungswerk kann, so Barth, nur indirekt und vom Wort des Evangeliums vermittelt sein. Die heutige Schöpfungstheologie24 ist weniger anthropozentrisch und grenzt die Spiritualität der Begegnung mit den Mitgeschöpfen nicht derart ein. Denn der Zugang zum Evangelium kann ebenso von der Begegnung mit der Schöpfung vermittelt werden wie umgekehrt. Bei Zuckmayer lebte die Spiritualität der Schöpfung davon, dass er nicht dogmatisch vorgab, was ihm Gott in der Begegnung von Geschöpf und Geschöpf erschließen wollte. Sympathisch berührt, dass Karl Barth umgekehrt einräumte, zu den Gedichten Zuckmayers im Unterschied zu seiner Prosa kaum Zugang zu haben, da ihm „[…] das so direkte, zugleich exakte und intime Verhältnis zu Tieren und Pflanzen, Erde Luft und Himmel nie auch nur entfernt so zu eigen war“.25 Damit spricht er, so müssen wir befürchten, heute noch für viele andere Evangelische, auch wenn deren Theologie nicht mehr die Karl Barths ist. Zu den Gedichten, die ihm nichts sagten, mag auch das bekannte „Lob der Spatzen“ von 1927 gehört haben, in dem der Dichter den ökologisch anpassungsfähigen Kulturfolger und deshalb global verbreiteten Haussperling zum Vorbild christlicher Weltweisheit macht. Ausgerechnet dieser struppige Opportunist der Vogelwelt soll ein Bild des mutig Glaubenden sein? Aber das Spektrum der spirituellen Erfahrungen mit Tieren und Pflanzen ist bei dem katholischen Poeten eben weit gespannt. Davon sollten wir lernen, wenn wir auf die Natursehnsucht unserer Mitmenschen, die vergeblich das machtlose Gespenst des toten Pan beschwören, christlich antworten wollen. Dass eine Naturerfahrung wie die Zuckmayers missverständlich und missbrauchbar ist, kann man durchaus zugestehen. Aber 22 Chesterton, Gilbert K., The Collected Works of G.K. Chesterton II (The Everlasting Man), San Francisco 1986, 292. 23 Zum Beispiel in der Wicca-Bewegung oder bei Robert O. Crombie, einem der Gründer der esoterischen Findhorn-Gemeinschaft in Schottland: ders., The Findhorn Garden, New York 1975. 24 S. u.a. Moltmann, Gott in der Schöpfung; Bayer, Schöpfung als Anrede; zur Geschichte der neueren evangelischen Schöpfungstheologie s. insbes. Bayer, a. a. O. Kapitel 1 (Einleitung). 25 O. Hg., Späte Freundschaft, 22.
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das gilt für jede spirituelle Erfahrung. Man kann auch von einer Bachkantate menschlich tief bewegt werden und sich dadurch in einem innerweltlichen Ästhetizismus bestätigt sehen, der mit Bachs Theologie nichts zu tun hat. Carl Zuckmayer zieht demgegenüber aus seiner Begegnung mit dem Schöpfer der Bäume und ihrer Rinde keine fragwürdigen dogmatischen Schlüsse. In der abwehrenden Reaktion Barths zeigt sich indirekt ein grundsätzliches Misstrauen gegen jede spontane und autonome spirituelle Erfahrung, die nicht dogmatisch und ethisch domestiziert ist. Das ist heute, im Zeichen der Ökologiebewegung und der verbreiteten Sehnsucht nach Naturspiritualität, ein schwer wiegendes Defizit. Denn auch unter evangelischen Christen ist die Sehnsucht nach Erfahrungen der Schönheit, der Stille, der Entschleunigung und der Entgrenzung durch die Begegnung mit der Natur weit verbreitet. Aber sie wird auch weitgehend unreflektiert gesucht, denn seriöse theologische Anleitungen und praktische Angebote sind fast nirgends in Sicht.
3.3
„O Heiland aus der Erden spring“
Der Mangel an glaubwürdiger evangelischer Naturspiritualität ist ein Grund, zurück in die eigene Geschichte – zum Beispiel bis zu Johann Georg Hamann – und über den konfessionellen Horizont hinaus zu blicken. Das Adventslied „O Heiland reiß die Himmel auf“ mit seinem erstaunlichen Bild von der grünenden Erde, aus der Christus entspringt, stammt von dem Jesuiten Friedrich Spee. Es wurde aber schnell auch in die evangelischen Gesangbücher aufgenommen. Das Bild bezieht sich auf Jes 45,8, auf die Verheißung, dass Regen vom Himmel das Land fruchtbar machen wird, und dass die Erde nicht nur Früchte des Ackers, sondern Gottes Gnade hervorbringt. Der Dichter spitzt dieses Bild zu: Der Erlöser, der den Himmel für uns öffnet, kommt uns auch aus der Erde entgegen, nämlich im Grün der Wälder und Wiesen. Eben dieser kühne, kreative Umgang mit Schöpfung und Mitgeschöpfen ist im heutigen Protestantismus kaum mehr anzutreffen. Die evangelische Theologie und Verkündigung ist sowohl in konservativen als auch in progressiven Milieus theoretisch und praktisch auf Dogmatik und Ethik fixiert, wenn auch mit unterschiedlichen Gewichtungen. Dogmatik und Moral sind beide notwendig, aber sie entfremden den glaubenden Menschen von der unmittelbaren Natur- und Welterfahrung. Sie nehmen die Schöpfung für das Subjekt „Mensch“ in Besitz, die Dogmatik als Objekt von vernünftigen Propositionen (christlichen Wahrheiten), die Ethik als Objekt von Aufgaben und Pflichten. Das ist, wie gesagt, notwendig. Aber es ist nicht genug. Die Entfremdung zwischen dem Geschöpf Mensch und seinen Mitgeschöpfen muss immer wieder auch aufgehoben werden, es muss der Schöpfung erlaubt werden zu sprechen. Solange wir selbst reden, sei es dogmatisch oder moralisch,
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redet die Schöpfung nicht zu uns. Darum kann eine ökologische Spiritualität nur dort entstehen, wo das Reden durch Schweigen und Hören ausbalanciert wird. Eine Theologin soll in ihrer Kurzandacht im Radio auch einmal nicht von der Pflicht sprechen, Bäume zu schützen, etwas gegen den Klimawandel zu tun und Arten zu erhalten. Das ist alles gut, aber es ist nicht immer die Zeit dafür. Denn ein Baum ist mehr als ein Item auf einer evangelischen To-Do-Liste, und der Christ ist mehr als ein frommer Baumpfleger. Ein Pfarrer soll beim Gottesdienst im Grünen einmal nicht dogmatisch korrekt vom ersten Artikel des Credos sprechen. Dafür ist nicht immer die Zeit, wenn man mitten in der Natur sitzt. Er soll in die Begegnung mit dem Mitgeschöpf „Baum“ hineinführen, unter dessen Laub die Gemeinde singt und betet. Denn der Mensch hat die Verantwortung dafür, dass die Mitgeschöpfe zu Wort kommen. Sie können den Menschen nicht zum Schweigen bringen, der Mensch sie umgekehrt schon. Wenn es gelingt, zu schauen, zu staunen und vom eigenen Selbst abzusehen, wird ein weiterer und letzter Schritt christlicher Naturerfahrung möglich. Die Erscheinungen enthüllen sich selbst als bloße Erscheinungen, als ein Bühnenbild, als ein sichtbarer Vorhang vor dem Unsichtbaren, als vergängliches Spiel für unsere Sinne, die das Ewige nicht erkennen können. Hinter dem geschaffenen Licht des Sommerhimmels, hinter dem Horizont der Wälder und Berge wohnt ein ungeschaffenes Licht, das nur glaubend erahnt werden kann. Der blaue Himmel, die ziehenden Wolken, der gezackte Horizont der bewaldeten Höhen, das Licht der Sonne auf dem Morgendunst, werden zum Weg in ein größeres Licht, einen tieferen Raum, sie werden zu einem Schleier über der eigentlichen Wirklichkeit. Eine solche Erfahrung führt von der Poesie der Natur, von der spirituellen Begegnung hinein in die christliche Naturmystik, eine Erfahrung, über die am Schluss dieses Texts nur andeutend gesprochen werden kann. Unsere heutige Welt ist so voll menschengemachter Bilder, dass wir vergessen, dass auch die unmittelbar geschaute Natur ein Bild ist, das zwar nicht von Apparaten erzeugt wird, aber von Organen, von unseren Augen und unserem Gehirn. Alles, was uns an Natur begegnet, ist Bild, alle Erscheinungen sind gleichzeitig wahr und unwahr. Die Erscheinungen sind keine Trugbilder, denn sie betrügen uns nicht. Wenn wir sie sprechen lassen, sprechen sie von dem, was wirklich ist, von Gott und seinem Werk. Aber sie können über sich hinaus auch auf das verweisen, was unsichtbar und unwandelbar ist, auf Gottes Ewigkeit. Dann wird die Welt der grünen Berge und Täler durchscheinend für das ewige Leben, das Christus uns und aller Kreatur bringt: „O Heiland aus der Erden spring“! Die spirituelle Begegnung mit der Natur ebenso wie die mystische Schau dessen, was hinter den Erscheinungen der Natur liegt, bleiben in unserem irdischen Leben Bruchstück. Die unio mystica und der große Tanz mit den Mitgeschöpfen vollenden sich erst in Gottes Ewigkeit. Aber das Staunen über das
Gottes Wildnis und des Menschen Garten
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Ganze, das Staunen über das Einzelne, über die Qualität und Quiddität der Natur, weisen bereits jetzt über die Vergänglichkeit der Schöpfung hinaus. Dort, wo wir als Glaubende noch nicht sind und noch nicht sein können, ist unsere Heimat. Der Garten Eden verheißt uns den Himmel.
Literatur Quellen Amery, Carl, Das Ende der Vorsehung. Die gnadenlosen Folgen des Christentums, Reinbek 1972. Hammarskjöld, Dag, Zeichen am Weg, München/Zürich 1979 (TB), schwedisches Original 1963. Lewis, Clive S., Poems, New York/London 1977. Lovelock, James, GAIA – die Erde ist ein Lebewesen, Bern 1992. MacDonald, George, Unspoken Sermons, Series 3, The Truth, www.online-literature.com/ george-macdonald/unspoken-sermons/28/ (Zugriff Dezember 2015). Schmitthenner, Ulrich (Hg.), Oekumenische Weltversammlung in Seoul 1990. Arbeitsbuch für Gerechtigkeit, Frieden und Bewahrung der Schöpfung, Frankfurt/Essen 1990. 153f (Teil II, Grundüberzeugungen). Schweitzer, Albert, Die Ehrfurcht vor dem Leben. Grundtexte aus fünf Jahrzehnten, München 61991. O. Hg., Späte Freundschaft, Carl Zuckmayer – Karl Barth in Briefen, Zürich 1977, 23f.
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Hansjörg Hemminger
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Almut Beringer
Evangelische Spiritualität im Dienst der Nachhaltigkeit Unterwegs zu einer zeitgemäßen reformatorisch-transformativen Glaubenspraxis
1.
Evangelische Spiritualität im Kontext der Nachhaltigkeit
Das Leitbild der nachhaltigen Enwicklung, das die umfassende anthropogene Bedrohung des Erdökosystems anerkennt und Zukunftsfähigkeit für das 21. Jahrhundert normativ setzt und gesamtgesellschaftlich einfordert, hat 2015 mit den UN Nachhaltigen Entwicklungszielen (Sustainable Development Goals, SDGs) sowie dem Pariser Klima-Abkommen neue politische Schärfe gewonnen. Der dringliche Appell für Nachhaltigkeit an die Staatengemeinschaft trifft auf das Motto Reformation und die eine Welt des Jahres 2016 der EKD-Lutherdekade. “Die eine Welt” ist aufgefordert, Reformation – evangelischen Glauben, Kirche und Theologie – bezüglich Nachhaltigkeit und Zukunftsfähigkeit zu reflektieren – und ggf. zu reformieren bzw. zu transformieren. So stellt sich die Frage nach einer zeitgemäßen evangelischen Spiritualität – d. h. eines gelebten, evangelischen Glaubens, der, fest in der Tradition verwurzelt, transformativ in Zielrichtung Nachhaltigkeit wirksam ist. Säkular-wissenschaftlich gesprochen, geht es um Formen der Frömmigkeit und der Religiosität, die gutes Leben für alle innerhalb der planetarischen Grenzen1 ermöglichen; um intra- und intergenerationelle Gerechtigkeit für alle Menschen weltweit, um Wohlergehen für die Natur und nicht-menschliche Lebensformen, um den Erhalt des Erdsystems in seinem ökologischen Gleichgewicht. Theologisch gesprochen, geht es um die Bewahrung der Schöpfung; gesucht wird eine Spiritualität, die zum einen den Schöpfergott als alleinigen Bewahrer seiner Schöpfung2 dankend 1 Rockström, space for humanity; https://www.pik-potsdam.de/aktuelles/pressemitteilungen/ar chiv/2009/planetarische-grenzen-ein-sicherer-handlungsraum-fuer-die-menschheit; https:// www.pik-potsdam.de/aktuelles/pressemitteilungen/vier-von-neun-planetaren-grenzen201dbereits-ueberschritten; Vgl. Raworth, A safe operating space for humanity; WBGU, Zivilisatorischer Fortschritt. 2 Vgl. Konradt, Schöpfung und Neuschöpfung; Schmid, Schöpfung, 341.
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Almut Beringer
lobpreist, zum anderen auf das anthropologische Spannungsfeld antwortet, dass der Mensch zugleich Naturzerstörung in gewaltigen, existenziell-beängstigendem Ausmaß verursacht als auch gottebenbildlich Hüter der Schöpfung sein soll.3 Welche Ressourcen und Potenziale hierfür, welche Hindernisse und Tücken beherbergt der evangelische, der lutherische Glaubensschatz? Diese These liegt meinem Aufsatz zugrunde: Evangelische Spiritualität im Zeitalter des Anthropozän4 beginnt in und mit der Schöpfung; sie wurzelt in Schöpfungstheologie und Schöpfungsspiritualität.5 Dessen ungeachtet beruht evangelische Spiritualität auf Martin Luther sowie den anderen Reformatorinnen. Eine zeitgemäße evangelische Spiritualität reflektiert ihre Gründereltern kritisch, zelebriert die Schätze und Potenziale ihres Glaubens, akzeptiert aber auch dessen Lücken und Desiderata.6 Insbesondere bzgl. der ökologischen Zukunftsfähigkeit der Erde7 sind der ambivalente Wert und die Rolle der Natur im evangelisch-lutherischen Glauben zu hinterfragen. Spiritualität hat einen gesamtgesellschaftlichen Auftrag; dementsprechend muss sie auf die „Zeichen der Zeit“ antworten und konstruktiv in die Gesellschaft hineinwirken, auch politisch.8 Folglich weitet sich eine evangelisch-lutherische Spiritualität heute, in der globalen, existenziellen Krise der Nicht-Nachhaltigkeit, aus zu einer erdverbundenen Schöpfungsspiritualität. Zentral für erdverbundene Schöpfungsspiritualität im Kontext der Nachhaltigkeit ist das Leitbild der Gerechtigkeit.9 Ihre Anklänge und Bereicherung findet eine solche reformatorisch-transformative Spiritualität interkonfessionell, in den anderen Weltreligionen und in indigenen spirituellen Traditionen.10 So verstanden, wird evangelische Spiritualität aktuell für das 21. Jahrhundert, das geprägt ist von der großen, zweifachen Herausforderung der Nachhaltigkeit sowie der multikulturellen inklusive interreligiösen Vermischung der Menschheit. Frieden mit Gott, Mensch und Natur – das Zusammenwachsen der Menschheit zu „der einen Welt“, auf dem einen Planeten Erde unter Achtung der planetarischen Grenzen, ist das Faktum unserer Zeit, auf das jede Spiritualität antworten muss.11 Prinzipiell geht es in 3 Busch, Beitrag zur Diskussion, 186. 4 Crutzen et. al., Raumschiff Erde. 5 Vgl. Internationales Wissenschaftliches Symposium “Evangelische Spiritualität,” Universität Leipzig, Februar 2016, welches unter dem Thema “Wurzeln lutherischer Spiritualität” mit Vorträgen zu J. von Staupitz und M. Luther eröffnete. 6 Vgl. Zimmerling, Evangelische Spiritualität, 18, der Verengungen des Protestantismus thematisiert; vgl. a. a. O., 285. 7 U. a. Lucht, Global change; ders., Vortrag. 8 Vgl. hierzu die Rezeption des Statement of Faith and Spiritual Leaders on the upcoming United Nations Climate Change Conference, COP21 in Paris in December 2015, http://actalli ance.org/wp-content/uploads/2015/10/COP21_Statement_englisch2.pdf. 9 Siehe z. B. Ekardt, Prinzip Nachhaltigkeit. 10 Vgl. hierzu auch den Beitrag von B. Enzner-Probst. 11 Vgl. Küng, Projekt Weltethos.
Evangelische Spiritualität im Dienst der Nachhaltigkeit
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einer zeitgemäßen Spiritualität für das Erdzeitalter des Anthropozän und der Nachhaltigkeit um gelebte Glaubenspraxis, die die Zukunftsfähigkeit der Erde inklusive der Menschheit – theologisch: Gottes gute Schöpfung – kraftvoll unterstützt, als lebensdienliche, affirmative Spiritualität (life-affirming spirituality). So als „Spiritualität im Dienst der Nachhaltigkeit“12 verstanden, können evangelische Christinnen ihren gelebten, praktischen Glauben in den (Liebes-) Dienst des Schöpfers stellen, der allein die Schöpfung bewahrt. Der Aufsatz beginnt mit einer kurzen Begriffssynopsis evangelischer Spiritualität (Teil 2), auf dessen Basis eine kritische Erhebung der Ökospiritualität, wie sie sich insbesondere seit den 1970er Jahren in Reaktion auf die sog. „Umwelt“krise13 ausdifferenziert hat, folgt (Teil 3). Dies ist Ausgangspunkt für systematisch-theologische Überlegungen zu einer evangelischen Spiritualität im Dienst der Nachhaltigkeit. Spiritualität muss dogmatisch gefestigt und abgesichert sein; die Ausführungen zur systematisch-theologischen Fundierung bilden den Hauptteil dieses Aufsatzes. Ich konzentriere mich auf drei Topoi: Schöpfung, Kreaturen und Christologie (Teil 4). Die abschließenden Thesen skizzieren eine evangelische Spiritualität für das Zeitalter des Anthropozän und der Nachhaltigkeit (Teil 5); sie laden ein zu weiterem Nachdenken. Liturgische Facetten und die Glaubenspraxis im Alltag müssen einer zukünftigen Untersuchung vorbehalten bleiben. In allem setze ich eine Grundkenntnis der nachhaltigen Entwicklung voraus, die sich insbesondere seit den 1990er Jahren über die UNKonferenzen und Agenden der Vereinten Nationen international manifestiert. Auch gehe ich davon aus, dass das Engagement der Kirchen, inbesondere des World Council of Churches (WCC), bekannt ist, die seit Mitte der 1970er Jahre den Imperativ einer „just and sustainable society“ propagieren und in verschiedensten Agenden, Initiativen und Projekten die politische, wirtschaftliche und gesellschaftliche Umsetzung einfordern.14
12 „Spiritualität der Nachhaltigkeit“ oder „nachhaltige Spiritualität“ sind sprachlich inkorrekt: Spiritualität soll nachhaltige Entwicklung ermöglichen bzw. bekräftigen. 13 Das Verständnis einer „Umwelt“ (environment), die den Mensch als (Bewusstseins-)Zentrum umgibt, ist ursächlich der anthropogenen Bedrohung der Erdökosphäre in ihren vielfältigen Ausprägungen. Mit Meyer-Abich, Aufstand für die Natur, bevorzuge ich den Begriff „Mitwelt“. 14 Für detaillierte Übersichten siehe Vogt, Prinzip Nachhaltigkeit; Beringer, Unterwegs zu einem „neuen Himmel und einer neuen Erde“; siehe auch www.fore.yale.edu/climate-change/state ments-from-world-religions/more-statements-from-world-religions/; vgl. WCED, Our common future.
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2.
Almut Beringer
Evangelische Spiritualität: Begriffssynopsis
Jegliche Reflexion evangelischer Spiritualität muss auf dem Hintergund und im Kontext erfolgen, dass es eine spezifisch evangelisch-reformatorische Spiritualität – in Abgrenzung christlicher Spiritualität anderer Konfessionen – gibt. Für Zimmerling15 ergibt sich das Charakteristische evangelischer Spiritualität aus einer „doppelten, gegenläufigen Bewegung“ der Konzentration und Grenzüberschreitung: Konzentration auf Jesus Christus, die Bibel, Gottes Handeln und (persönlichen) Glauben; Grenzüberschreitung als Austreten aus der Binnenkirche hinein in Verantwortung für die Welt, u. a. in Familie, Beruf und gesellschaftlichem Engagement.16 Voraussetzung dafür sind die reformatorische Freiheit des Gewissens sowie die Wertschätzung des Individuums.17 Diese protestantische Gewissensschärfe, die „ständige Gewissensunruhe“18 angesichts des bedrohlichen ökologischen Zustands der Erde, wirkt als individuelle und kollektive Erfahrungstatsache hinein in einen ökologisch sensibilisierten, reformatorischen Glauben; sie ist eine Quelle evangelischer Ökospiritualität19 sowie ihr Ziel. Ein Defizit reformatorischer Spiritualität ist besonders zu beachten: Durch den Fokus auf Jesus Christus wurde „die Natur nicht länger als Schöpfung Gottes wahrgenommen“;20 Gottes Schöpfung als Quelle von und Korrekturinstanz für (persönliche) Gottesbegegnung, Christuserfahrung und Offenbarung wurde vernachlässigt bzw. ausradiert.21 Natur-/schöpfungsbasierte Spiritualität gab es vor- bzw. gibt es nichtreformatorisch (man denke bspw. nur an franziskanische Spiritualität);22 viele (insbesondere nicht-religiöse) Menschen spüren sowohl die Schönheit als auch das Leiden der Kreatur über spirituelle Zugänge.
15 16 17 18 19 20 21
Zimmerling, Evangelische Spiritualität, 284. Ebd. Ebd. Busch, Beitrag zur Diskussion, 185. Vgl. Stückelberger, Gestaltung der Schöpfung. Zimmerling a. a. O., 284. Vgl. Zimmerling, a. a. O., 22–26, der auch lediglich Wort und Sakrament für spirituell-mystische Glaubenserfahrung gelten lässt; vgl. Zimmerling, Evangelische Mystik, 244, wo er mystische Gotteserfahrung, das Wirken des Geistes Gottes „neben Bibelwort und Sakrament“ anerkennt und theologisch gewürdigt wissen möchte. 22 Siehe auch Beringer, Sonnengesang: franziskanische Spiritualität ist auch im evangelischen Gesangbuch rezipiert.
Evangelische Spiritualität im Dienst der Nachhaltigkeit
3.
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Ökospiritualität aus Perspektive der Nachhaltigkeit
„Evangelische Spiritualität im Dienst der Nachhaltigkeit“ – ich nenne diese – noch zu bestimmende – Ausprägung evangelischer Spiritualität (vorläufig) so, um sie bewusst abzugrenzen von einer Ökospiritualität, wie sie vornehmlich seit den 1970er Jahren als Reaktion auf die „Umwelt“krise ihren Ausdruck fand. Nicht nur in esoterischen Kontexten enstanden theologisch fragwürdige Formen von Natur„religionen“ und Erdspiritualitäten (engl.: earth spirituality/spiritualities, earthen spiritualities, nature-based spirituality).23 Auch evangelisch hat Ökospiritualität ihren Niederschlag gefunden.24 Im Kontrast zu „seicht-harmonisierender“ Ökospiritualitat fokussiert eine Spiritualität im Dienst der Nachhaltigkeit das zentrale Leitbild der Nachhaltigkeit, die Gerechtigkeit. Intra- und intergenerationelle Gerechtigkeit, in den vier Dimensionen der ökologischen, sozialen, wirtschaftlichen und kulturellen Gerechtigkeit, ist für nachhaltige Entwicklung normativ-konstitutiv. In die kulturelle Gerechtigkeit schließe ich den Respekt für andere Weltreligionen und spirituelle Traditionen ein (spirituellreligiöse Gerechtigkeit). Im Sinne der starken Nachhaltigkeit25 ist hierbei die ökologische Gerechtigkeit – die Gerechtigkeit zwischen Mensch, nicht-menschlicher Mitwelt, Ökosystemen und Ökosphäre – grundlegend.26 Das normative Prinzip der Gerechtigkeit findet biblisch-christlich ein starkes Echo, sowohl erst- als auch neutestamentlich.27 Wenn Gerechtigkeit der Fokus und der Rahmen einer evangelischen Spiritualität im Dienst der Nachhaltigkeit ist, bekräftigt dies das jesuanische, urchristliche Engagement für die Armen, die Schwachen, die Benachteiligten und Ausgestoßenen dieser Welt. Dass hierzu auch der Planet Erde gehört, haben ökologisch sensibilisierte Theologinnen erkannt: „[…] [T]he planet […] cannot ‚speak for itself‘ and hence the planet is also among the weak Christians are called to serve.“28 Dies hat politische Konsequenzen: Auseinandersetzungen um Ressourcenzugang und -verteilung tangieren fundamentale Machtfragen. Hunger-, Armuts- und Fluchtursachenbekämpfung sind Probleme der Ressourcen- und Verteilungsgerechtigkeit; sie thematisieren somit nicht nur die Umverteilung endlicher natürlicher Ressourcen sowie den Zugang zu Gemeingütern, sondern fordern u. a. auch die Be23 Vgl. Zimmerling, Evangelische Spiritualität; ders., Evangelische Mystik, 17–18: es gibt Spiritualität und Mystik nur in religiöser Ausprägung, als jüdische, christliche, buddhistische etc. Spiritualität bzw. Mystik. 24 Vgl. die jährliche Feier der Schöpfung zwischen 1. September und 4. Oktober. 25 Ott/Döring, Theorie und Praxis starker Nachhaltigkeit. 26 Was ökologische Gerechtigkeit theoretisch und praktisch bedeutet, ist Aufgabe der Umweltbzw. Nachhaltigkeitsethik, auch der theologischen Ethik bzw. der ökologischen Theologie. 27 Fischer, Gerechtigkeit / Gerechter / gerecht (AT); Rose, Gerechtigkeit (NT). 28 Northcott/Scott, Introduction, 2.
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Almut Beringer
grenzung von Reichtum.29 In der nachhaltigen Entwicklung sind soziale und wirtschaftliche von ökologischer Gerechtigkeit nicht mehr zu trennen; die Klimagerechtigkeit bringt dies vehement zum Vorschein: die Länder des globalen Südens, die am wenigsten zu den globalen Treibhausemissionen beitragen, sind die größten Leidtragenden in der Klimakrise; arme Menschen in Asien und Afrika sind direkt, persönlich, betroffen von einem steigenden Meeresspiegel, extremen Stürmen, Dürre, Desertifikation u. a.. Die spirituelle Kraft von Laudato Si liegt nicht zuletzt darin, dass in der ganzheitlichen Ökologie, wie sie Papst Franzikus in seiner Enzyklika darlegt, soziale und ökologische Gerechtigkeit zusammengedacht werden müssen.30 Laudato Si greift eine integrale, ganzheitliche Ökologie nontheistischer Religionen und indigener Traditionen auf, in der die Verbundenheit des Einzelnen sowie der Menschheit mit der ökologischen Mitwelt zentral ist. Faszinierend in Laudato Si ist die Interpretation des ökologischen Gleichgewichts in spiritueller Dimension, als inneres Gleichgewicht mit sich selbst, als solidarisches mit den anderen, natürliches mit allen Lebewesen und als geistliches Gleichgewicht mit Gott.31 Erfasst ist die politische Dimension spirituellen Tuns: Franziskus’ Provokation im Dienst der Armen und der ökologischen Mitwelt ermöglicht Dialog „auf Augenhöhe“ mit allen gesellschaftlichen Gruppen, mit anderen Konfessionen und Religionen und mit der säkularen Umwelt- und Entwicklungsbewegung.32 So fordert die Enzyklika Entscheidungsträgerinnen in Politik und Wirtschaft.33 Laudato Si erfüllt die Auflage an eine Spiritualität im 21. Jahrhundert der Nachhaltigkeit: sie inspiriert zum politischen und wirtschaftlichen Handeln für nachhaltige Entwicklung in Respekt vor anderen Traditionen, Religionen und Weltanschauungen. Die Neuinterpretation des erst- sowie neutestamentlichen Leitmotivs der Gerechtigkeit in Bezug auf Nachhaltigkeit inklusive Klimagerechtigkeit steht in der evangelischen Theologie noch weitgehend aus.34 Das Reformationsjubiläum mit seinem Nachdenken über lutherisch-protestantische Verantwortung für Welt, Kirche und Glauben gibt auch hierfür Anlass. Der frühe „ökologische Impuls“ der Kirchen,35 die Fort- und Weiterführung der ökologischen Theologie36 als theologische Reflexion der Nachhaltigkeit findet sich in der katholischen 29 30 31 32 33 34
Vgl. Stückelberger, Gestaltung der Schöpfung, 116. Bals, Eine gelungene Provokation; vgl. Heidel, Die Enzyklika Laudato Si. Bals, a. a. O., 5. A. a. O., 67. A. a. O., 67. Bedford-Strohm, Einleitung, 13; Beringer, Unterwegs zu einem „neuen Himmel und einer neuen Erde“; vgl. Meireis, road und ders., Pilgerweg. 35 Charles Birch, WCC-Konsultation Bukarest 1974 und WCC-Vollversammlung Nairobi 1975. 36 U. a. Günter Altner, Gerhard Liedke, Jürgen Moltmann, Rosemary Radford Ruether, Sally McFague; vgl. Beitrag von H. Hemminger.
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Soziallehre/-ethik;37 eine ähnliche gründliche Auseinandersetzung, inklusive der Zusammenführung bestehender Ansätze, ist in protestantischer Perspektive nötig. Kraftvolle, innovative Initiativen, wie sie beispielsweise Papst Franziskus mit seiner Namenswahl, mit seiner Provokation „diese Wirtschaft tötet“38 sowie der wirkmächtigen Enzyklika Laudato Si vorgebacht hat; wie sie der „grüne“ Patriarch Bartholomäus I von Konstantinopel seit Jahrzehnten immer wieder unterbreitet39 und wie sie der katholische Sozialethiker M. Vogt wissenschaftlichtheologisch ausgearbeitet hat,40 drängen auf ein evangelisches Pendant. EKDDokumenten und -Projekten, die die existenzielle Situation des 21. Jahrhunderts thematisieren und religiös wie politisch fruchtbar machen,41 ist eine ähnliche Rezeption in Politik, Wirtschaft, Zivilgesellschaft und der breiten Öffentlichkeit zu wünschen. Wenn über existenzielle ökologische Zukunftsfragen theologisch nachgedacht wird, fällt die Verengung der Nachhaltigkeit auf den Klimawandel auf – als ob die globale Klimaerwärmung zwar die ubiquitäre, doch alleinige Ausprägung der Nicht-Nachhaltigkeit sei.42 Übersehen werden in theologischen Reflexionen bisher zumeist die kosmologischen und ontologischen Dimensionen der Krise der Nicht-Nachhaltigkeit: der Klimawandel und andere Erscheinungen der Nicht-Nachhaltigkeit, vorrangig der Biodiversitätverlust, sind lediglich Symptome einer Krise, die in einer gestörten Beziehung zwischen Gott-Schöpfer, Mensch-Geschöpf und Natur-Mitschöpfung begründet ist.43 Wenn Menschen die Erde als geheiligte Schöpfung (divine creation) vergessen,44 die Erde lediglich als tote Materie und als Quelle natürlicher Ressourcen angesehen wird, handelt es sich bei der Krise der Nicht-Nachhaltigkeit um eine zutiefst spirituell-religiöse 37 Insbesondere durch M. Vogt, LMU München; siehe Vogt, Prinzip Nachhaltigkeit. 38 Papst Franziskus, Evangelii Gaudium. 39 U. a. Bartholomäus (12. 05. 2014), Stuttgart, http://www.swr.de/international/ehrenober haupt-besuchte-stuttgart/-/id=233334/did=13373758/nid=233334/ujfvv0/index.html. 40 Vogt, Prinzip Nachhaltigkeit. 41 Z. B. EKD Rat, Umkehr zum Leben; EKD Kammer für nachhaltige Entwicklung, Debatte über neue Leitbilder. 42 Z. B. Bedford-Strohm, Einleitung; Clifford, All creation groaning; Durber, Song of the prophets; EKD Rat, Umkehr zum Leben; Lienkamp, Klimawandel und Gerechtigkeit; Northcott/ Scott, Introduction; Anders glauben im Klimawandel? Eine theologische Werkstatt. Ev. Akademie Loccum 14. – 16. Oktober 2015. Loccumer Protokolle 62/15; „Und Gott sah, dass es gut war“ – Schöpfung und Endlichkeit im Zeitalter der Klimakatastrophe. Tagung der Gesellschaft für Evangelische Theologie. Ev. Akademie Hofgeismar 16. – 18. 2. 2009; vgl. auch Geht doch! Ökumenischer Pilgerweg für Klimagerechtigkeit 2015 (www.klimapilgern.de) – wo bleibt das Äquivalent für Biodiversität? 43 Ob die Krise der Nicht-Nachhaltigkeit in der Gottesferne bzw. einem Gottesverlust ihre Ursache hat, lasse ich hier offen (vgl. Nasr, Religion and the environmental crisis). Siehe auch Northcott/Scott, Introduction, 10: „From a refusal of moral, physical and spiritual relatedness to God spring distorted relationships with other persons and other creatures“. 44 Vgl. Northcott/Scott, a. a. O., 4.
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Krise.45 Welche Konsequenzen aus einer solchen Analyse der kosmologischspirituell-religiösen Dimension der sog. Umweltkrise folgen, hat der herausragende Islamwissenschaftler S.H. Nasr bereits 1966 präzisiert.46 Für ihn sind die Weisheitstraditionen der Weltreligionen der Schlüssel, um das gestörte Verhältnis zwischen Mensch und Schöpfer zu heilen, um die „kosmische Harmonie“ wiederherzustellen. In den Lehren Luthers findet Nasr Aspekte einer Weisheitsdimension des Christentums sowie Elemente einer Spiritualität, die, ungeachtet der Betonung des Glaubens, auf heiliger Erkenntnis und Wissen vom Heiligen beruhen.47 Inwieweit evangelische Theologie und Kirche solche kosmologischen, ontologischen und epistemologischen Fragestellungen im Zeitalter der Nachhaltigkeit aufgreifen, bleibt abzuwarten. Wie Reformation und Transformation zueinander stehen, ob und wie aus dem spirituell-reformatorischen Impuls des 16. Jahrhunderts ein beschleunigter transformativer Impuls des 21. Jahrhunderts werden kann und soll, wird diskutiert.48 Mit Bezug auf ihre Rezeption und Wirkmacht in Theologie, Kirche/n und Gesellschaft kann abschließend zusammengefasst werden: Spiritualität im Dienst der Nachhaltigkeit ist konstruktivtransformativ: sie ist gegenwarts- und zukunftsorientiert und zielt auf eine rechtsbasierte, große sozial-ökologische Transformation zur Nachhaltigkeit.49
4.
Systematisch-theologische Aspekte
Spiritualität, die Verknüpfung von Frömmigkeitsübung und Lebensgestaltung mit dem Glauben,50 bedarf der Verwurzelung in der und Begründung durch die Dogmatik. Eine zeitgemäße, realisierbare evangelische Spiritualität – d. h. eine gelebte protestantische Glaubenspraxis, die die existenzielle Krise der NichtNachhaltigkeit ernst nimmt und darauf antwortet – benötigt die systematischtheologische Fundierung, um so – im biblischen Wort, der christlichen Tradition und ihrer protestantischen Ausführung gefestigt – gesellschaftlich-politisch wirksam zu werden. Dies beinhaltet, aus der spirituellen Kraft des trinitarischen Gottes in gesellschaftliche Diskurse einzugreifen, Position zu beziehen und 45 46 47 48
Beringer, Reclaiming a sacred cosmology; Stückelberger, Gestaltung der Schöpfung, 111. Nasr, Religion and the environmental crisis. Nasr, Die Erkenntnis und das Heilige, 41–42. Z. B. Brot für die Welt 2015–2020, Kirchentag 2017, r2017 Weltausstellung Reformation, Klima-Allianz r2017 Projekt „Reformation – Transformation!“. 49 Vgl. WBGU, Welt im Wandel; vgl. Beringer, Evangelische Theologie im Zeitalter der Nachhaltigkeit; Brot für die Welt/eed/BUND, Zukunftsfähiges Deutschland; BUND/Misereor, Zukunftsfähiges Deutschland. Ein Beitrag; Heidel, Den Wandel gestalten. 50 Zimmerling, Evangelische Spiritualität, 15.
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einzutreten für Gottes Anliegen: die Bewahrung der Schöpfung; soziale, ökologische, ökonomische und kulturell-spirituelle Gerechtigkeit; Liebe zu Schöpfung und Mitgeschöpfen, Mitmenschen inklusive. Die Kirchen sind hier ebenso gefordert wie einzelne Christenmenschen; die spirituelle Gemeinschaft von Kirchengemeinde und Volkskirche stärkt Engagement und ermöglicht die diskursive Reflexion spirituellen Tuns und auch Unterlassens.51 Wo Menschen sich gefestigt im Glauben und getragen von ihrer Kirche wissen, sind Offenheit, Zuhören, Dialog, Verständigung und konstruktive nachhaltige Zukunftsgestaltung möglich.52 Die christliche Theologie, insbesondere auch die protestantische Tradition, hat sich seit jeher nicht besonders um die biologisch-ökologische Dimension des Lebens auf Erden inklusive des bedrohlichen Zustands des Erdsystems bemüht. „Theologen,“ schreibt der Naturphilosoph Meyer-Abich, „haben sich […] von jeher kaum für die Natur interessiert.“53 Und doch: für die Reformatorinnen war die nicht-menschliche Mitwelt Teil der Heilsgeschichte, „[d]ass zum Reich Gottes die Befreiung aller Kreatur gehört, wusste schon Paulus (Röm 8), und es wurde von allen Reformatoren, wenn auch unterschiedlich stark, aufgenommen. Die Heilsgeschichte war für diese nie nur Heilsgeschichte für den Menschen, sondern alles von Gott Geschaffene.“54 Die Krise der Nicht-Nachhaltigkeit hat dieses Defizit der lutherisch-protestantischen Glaubenslehre und -praxis zum Vorschein gebracht; nun gilt es, dieses u. a. auf Basis christlicher Schöpfungslehre, im Allgemeinen, und lutherischer Schöpfungslehre, im Speziellen, auszugleichen. An welchen systematisch-theologischen Diskursansätzen kann sich wissenschaftliche evangelische Theologie und Spiritualität orientieren? Im Folgenden sollen drei systematisch-theologische Topoi – Schöpfung, Kreaturen und Christologie – bezüglich einer evangelischen Spiritulität im Dienst der Nachhaltigkeit beleuchtet werden.
51 Vgl. Welker, Schöpfung und Endlichkeit, 17. 52 Z. B. EKBO: Lausitz-Zukunftstagung, Peitz 08. 09. 2016 (Liechtenstein Institut für strategische Entwicklung/Ev. Kirchenkreis Cottbus/Grüne Liga Umweltgruppe Cottbus), EVLKS: Forum für Gemeinschaft und Theologie, Peterskirche Leipzig 27. 08. 2016 (http://www.frei-undfromm.de/forumstag/). 53 Meyer-Abich, Mitwahrnehmung, 48; s. auch Gregersen, Christology, 35–36; Janssen, Sehen lernen, 177. 54 Stückelberger, Gestaltung der Schöpfung, 107–108.
74 4.1
Almut Beringer
Schöpfung
Wenn von „Schöpfung“ die Rede ist, ist es hilfreich, sich anfangs die Differenzierung zu „Natur“ bewusst zu machen. Theologisch wird das Bewusstsein von dem Schöpfer als „anders“ als die Schöpfung, die Geschöpfe, geschärft; auch wird über ein Verständnis von „Schöpfung“ vs. „Natur“ an die Unverfügbarkeit der Natur erinnert sowie auf unsere Verantwortung auf etwas außerhalb von uns selbst verwiesen. Theologisch meint „Schöpfung“ ihre vier Dimensionen der creatio ex amore, originalis, continua und nova.55 Die Ansätze einer „neuen ökologischen Schöpfungstheologie“,56 wie sie u. a. schon früh von G. Liedke, später von J. Moltmann und C. Link entworfen wurden, sind weitreichend bekannt.57 In seiner Schöpfungshermeneutik Schöpfung als Anrede58 verweist O. Bayer auf das Schöpfungsverständnis Luthers, der Schöpfung in der Zusage „Ich bin der Herr, dein Gott“ als Gottes Anrede an mich und alle Mitgeschöpfe versteht.59 Schöpfung ist Gottes Anrede an den Menschen und die Kreaturen, ist Gottes Gabe und Zusage.60 Unauflöslich verschränkt mit Gottes freier Anrede an alle Kreaturen ist seine weltimmanente Gegenwart.61 Gott manifestiert und zeigt sich liebend in seiner Immanenz.62 Glaube an den Schöpfer ist eine Antwort auf diese Anrede und eine Form der Welterfahrung; der Mensch antwortet auf das, was Gott uns in dieser Welt zusagt.63 Als creatio continua bezieht sich Schöpfung auf die Gegenwart; fortgesetzte Schöpfung ist Gottes persönliche Kommunikation mit uns, ist Gottes aktive und persönliche Gegenwart in allem, das in dieser Welt geschieht.64 Der Schöpfer ist in seiner Schöpfung gegenwärtig; die Gegenwart Gottes, seine frei gewollte Weltimmanenz, ist konstitutiv für Glauben, Handeln und Verheißung. In Rückbezug auf J.G. Hamann schreibt Bayer: „Gott redet weltlich, durch die Kreatur, aber doch so, daß sich diese Rede als Rede an die Kreatur zu verstehen gibt; […]“.65 Die Transzendenz und Immanenz Gottes möchte Bayer besser als Gottes „wechselseitige Verschränkung seiner Freiheit und Liebe“66 verstanden wissen: 55 Bedford-Strohm, Einleitung, 8–9,11. 56 A. a. O., 7. 57 Liedke, Im Bauch des Fisches; ders., 30 Jahre nach „Im Bauch des Fisches“; ders., „Auch die Schöpfung wird befreit werden“; Link, Schöpfung; Moltmann, Gott in der Schöpfung. 58 Bayer, Schöpfung als Anrede. 59 A. a. O., 5. 60 A. a. O., 5,71,73; Muis, Anrede und Anfang (Zusammenfassung). 61 Bayer, a. a. O. (Vorwort, keine Seitenzahlangabe). 62 A. a. O., 6; Muis, a. a. O. (Zusammenfassung). 63 Ebd. 64 Ebd. 65 Bayer, a.a.O, 6. 66 Ebd.
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„In seiner Freiheit hat Gott Distanz zur Welt, indem er sie sich nimmt, um anzureden und in solcher Anrede ein Anderes sich gegenüberzusetzen (Rede an die Kreatur). In seiner Liebe bezieht er sich so auf die Welt, daß er nicht nur auf, sondern in sie eingeht, sich nach Luther und den schwäbischen Lutheranern ganz und gar in sie „ausschüttet“ und sich ein Geschöpf zum Schöpfungsmittler erwählt (Rede durch die Kreatur)“.67
Die lutherische These von der Einheit und Identität des Schöpfers und der Kreatur bemüht Bayer,68 um auf menschliche Schuld in der Zerstörung der Natur, auf ökologische Sünde69 hinzuweisen: der Mensch zerstückelt Gottes Buch der Natur,70 verwirkt die göttliche Natursprache; die Folge ist, dass die Schöpfung, „Rede an die Kreatur durch die Kreatur, nicht mehr gehört wird“.71 In seinen Worten: „Das Buch der Natur als Buch der Schöpfung wird unleserlich; Gott wird darin nicht mehr vernommen“.72 Und weiter: „Gott kann uns durch die Natur nicht mehr anrufen und berufen. Er kann dies nicht mehr, wenn der Umgang mit der Natur nicht nur partiell, was berechtigt und notwendig ist, sondern im unersättlichen Ausgriff auf alles unter den Kategorien des Besitzens, Habens und Verfügens geschieht. […] Sie können den Schöpfer nicht mehr aus den Dingen der Welt hören, weil sie sie nicht mehr in einem Kommunikationzusammenhang dankend, empfangend und weitergebend gebrauchen“.73
Röm 8,19–23 ist bzgl. der Wahrnehmung der Welt als Schöpfung, der menschlichen Verknechtung der Natur sowie Gottes erhaltendem Schöpferhandeln für Bayer zentral: „Dieser unerhört dichte und tiefe Text kann für die [christliche] Theologie und Kirche nicht nur in jener heute so einleuchtenden Hinsicht – im Bewußtsein der Gefährdung der Erde as Lebensraum und der Schuld des Menschen an dieser Gefährdung – gebraucht werden; er muß in allen seinen Aspekten und Dimensionen zur Geltung kommen – das heißt vornehmlich: in seiner eigentümlichen Verschränkung der Zeiten“.74
Gegenwart und Zukunft sind ineinander verwoben, „[d]ie Zukunft der Welt kommt aus Gottes Gegenwart. […] Das gegenwärtig sich mitteilende Heil verbürgt die kommende Vollendung der Welt […]“.75 Aus dieser „Verschränkung der Zeiten“ erschließt Bayer die Hoffnung in der lutherischen Schöpfungslehre: 67 Ebd. 68 A. a. O., 19,24,28–29. 69 A. a. O., 19,24; bzgl. „ökologische Sündenfälle“ s. auch Busch, Beitrag zur Diskussion,185; vgl. Messer, Sin and salvation. 70 Vgl. Bayer, a. a. O., 32. 71 A. a. O., 20. 72 A. a. O., 25. 73 A. a. O., 70–71. 74 A. a. O., 48–49,57. 75 A. a. O., 49.
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„Gottes zugesagte Welt bleibt kraft seiner Treue bestehen. In seiner Langmut und Geduld bewahrt Gott die Welt vor dem von uns Menschen selbstverschuldeten Chaos und erhält sie auf seine Zukunft hin“.76 Gottes erhaltendes Schöpferhandeln77 geschieht aus der rechtfertigenden Gnade Gottes. Dazu braucht es Glaubende sowie das Wort und die Sakramente.78 Das durch Luther reformierte mittelalterliche Verständnis vom „Buch der Natur“ ist für Bayer die Schlüsselfrage nicht nur der Schöpfungslehre, sondern der Theologie überhaupt:79 „Eine der signifikantesten Besonderheiten der Schöpfungslehre Luthers besteht darin, daß er die Schöpfungswerke Gottes durchweg als dicta dei begriff: […] (WA 14; 306,10f.29). Hinter dieser Auffassung der kreatürlichen Welt als einer Ansammlung von vocabula oder dictiones dei steht die überkommene, von Luther neu begründete Tradition des liber naturae. Ihr gilt die Schöpfung als ein neben der Bibel stehendes zweites Buch Gottes, in dem man ebenso lesen kann wie in der Schrift“.80
Um die nicht-menschliche, kreatürliche Schöpfung Gottes lesen und verstehen zu können, ist zum einen der Glaube an den Schöpfergott, zum anderen der hermeneutische Bezugsrahmen der Bibel als das hinreichende und vollständige Offenbarungswort Gottes obligatorisch.81 „Als unerläßliche Voraussetzung solcher Lesbarkeit der Kreatur hat Luther allerdings den Glauben geltend gemacht: Erst wenn ich glaube, was Gott in der Bibel von sich gesagt hat, vermag ich ihn dann auch in der Schöpfung lesend zu finden“.82 Bezeichnend für eine evangelische ökologische Spiritualität ist, dass nach lutherischem Verständnis Gott sich nicht in der Natur offenbart, sondern die Natur, das Wort Gottes, die Bibel, illustriert: „Das Buch der Natur [hält] nicht etwa eine zweite Quelle der Offenbarung [bereit], sondern [macht] die erste und einzige Offenbarungsquelle Gottes für den Glauben anschaulich […]“.83 Evangelische Christinnen, die spirituelle Erfahrungen in und mit der Natur machen, die Gott in der Schöpfung suchen und meinen, Gott dort auch zu begegnen, können sich von Luther bestätigt fühlen: „Es ist eine wenig beachtete, aber entscheidende Pointe der Schöpfungslehre Luthers, daß er immer wieder dazu angehalten hat, auf die verba creata zu hören und diese Quelle des Wortes Gottes nicht zu verschütten: „Stecket brillen auff die nasen und sehet Gottes wort an, was Gott in der ersten Schöpffung […] geredet hab“ (WA 47; 315,12–14). 76 77 78 79 80 81 82 83
A. a. O., 50. A. a. O., 51. A. a. O., 49–50. A. a. O., 32. Beutel, Wort Gottes, 365–366. A. a. O., 367. Ebd. A. a. O., 366.
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Weil alle Dinge in der Welt als verba creata zu verstehen sind, kann Gott, der nur in seinem Wort zu erkennen ist, auch in der Schöpfung erkannt werden (WA 32; 327,12f). Die Worthaftigkeit der Kreaturen macht sie gleichnisfähig, so daß man in ihrer sichtbaren Gestalt das verborgene Wort Gottes wahrnehmen kann. Wenn wir uns dieser grammatica divina öffneten, so würden wir in allem, was wir haben, die Güte Gottes erkennen und nicht als Habe, sondern als Gabe wertschätzen (WA 31,1; 70,15–71,10). Darum mahnte Luther für alles, was einem eigen ist: „Las ein donum bleiben […], schreib drann: ‚Dedit‘“ (WA 40,3; 250,1f. 251,5)“.84
Natürliche Ressourcen als Geschenke Gottes wahrnehmen, die unsere Dankbarkeit wachrufen. Diese spirituelle, auch moralische Implikation klingt an in der epistemologischen Dimension einer gelebten Glaubenspraxis im Dienst der Nachhaltigkeit: Gott kann in der Schöpfung, in den nicht-menschlichen Mitkreaturen, erkannt werden. Die anthropogene Ausrottung von Tier- und Pflanzenarten bekommt in dieser Hermeneutik eine verschärfte ethische Dimension: Wenn der Mensch das Buch der Natur zerstört, Seiten aus dem Werk Gottes unwiderruflich heraus- und zerreißt, verbaut er auch Erkenntniswege zu Gott. In welcher Diskussion über den Biodiversitätsverlust wird diese spirituelle Verarmung, dieser religiöse Aspekt der Ausrottung thematisiert? Wenn jede Kreatur das Angesicht Gottes widerspiegelt, wo spiegelt sich Gott, wenn die Kreatur ausgelöscht ist?
4.2
Kreaturen
In ihrem 2014 erschienenen Buch Systematic theology and climate change85 erweitern die Herausgeber die Systematische Theologie um einen neuen Topos: Kreaturen (creatures, vs. die Kreatur, die Schöpfung). Theologische Reflexion über creatures ist wichtig, da erstens, „[i]t forces us to acknowledge nonhuman creation in its needs, desires, interests and relation to God“; zweitens, „pausing at ‚creatures‘ has the positive function of enabling us to attend to them – simply as they are, in their scale, power, beauty, diversity, unpredictability and order“; und drittens, „[it] locates humanity among the ‚creatures‘“.86 Reflexion über Kreaturen ist Teil des Gerechtigkeitsmandats sowie befreiungstheologisch konnotiert: “[…] there is an issue here of justice in the doing of theology, with important though not exact parallels to the concerns of liberation theologies. If nonhuman creatures are not
84 A. a. O., 367; vgl. Janssen, Sehen lernen, 177, bzgl. Naturerfahrung als Gotteserfahrung in evangelischer Weltanschauung. 85 Northcott/Scott. 86 Muers, Creatures, 91.
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heard and recognised within theological texts – in their specificity as well as general catch-all acknowledgement – theology perpetuates a wrong”.87
Muers’ Ausführungen zu Erde und Pflanzen substantiieren eine erdverbundene evangelische Spiritualität. Theologie, so Muers, ist immer situierte, platzierte Theologie (situated, placed), sie wird immer aus einem bestimmten Lebensraum (habitat) ausgeführt – von der Erde (from „earth“). Diese Lokalisierung hat spirituelle Folgen – Demut – und ist der Ausgangspunkt theologischer Reflexion der menschlichen Abhängigkeit von der Natur: “The insight that humans (adam) are made of cultivable soil (adamah) has been picked up in recent ecological theology, not merely to inculcate the kind of „humility“ that should arise from being made of „humus“, but more positively as a starting point for reflection on our creaturely dependence on fertile soil and habitable earth”.88
Land, als theologischer Topos, gewinnt nicht nur in der ökologischen Theologie an Bedeutung.89 Nur auf der Erde und mit dem Land ergibt sich auch Sinn für das Erdenleben. Erde ist gleich Leben; die Erde ohne Leben ist, auch biblisch begründet, Sinn-los.90 Theologische Überlegungen zu Klage, zu An-Klage, in Anbetracht der anthropogenen Mitweltzerstörung, wiederum in Rückbezug auf den biblischen Befund, sind selten. Trauer – die Notwendigkeit der Trauer – als Ausdruck der Erkenntnis der Schuld, auch der Wut über die mitverschuldeten Verluste, über das eigene menschliche Versagen im Anblick der toten Mitgeschöpfe, ist noch seltener.91 Die Erde selbst trauert; dass sie trauern kann – dieser Anthropomorphismus klingt für evangelische Theologinnen fremd. „In numerous biblical texts, in the context of a disruption of the conditions of life and the increase of desert, the earth mourns“.92 Muers wehrt sich gegen eine verallgemeinernde, allumfassende Auffassung von Erde und argumentiert für eine differenzierte Betrachtung ganz bestimmter Habitate (multiple specific habitats), Klagen spezifischer Regionen und Orte (lands and places), wie sie in den Folgen des Klimawandels regional unterschiedlich erlebt wird: “[…] the lament and mourning of the Artic and the lament and mourning of the tropical rainforests may relate to the same events, but they may also merit attention in
87 88 89 90 91
A. a. O., 91. A. a. O., 98. Ebd. A. a. O., 98–99. Vgl. Beringer, Earth requiem; Macy, Despair and personal power in the nuclear age; Stückelberger, Gestaltung der Schöpfung, 112. 92 Muers, Creatures, 98.
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their specificity, and in their different relationships to the particular places we inhabit”.93
Das hebräische adamah, so Muers, bezeugt eine spezifische Verantwortung für das Land (im Sinne von Grund und Boden, Terrain, Gebiet) (a responsibility towards the land), nicht nur für die ganze Erde (not merely the whole earth). Theologie muss sich der Habitatsverluste und der unfreiwilligen Migration (forced displacement) auch nicht-menschlicher Arten annehmen. Der Klimawandel, so Muers, bedroht nicht die physische Existenz des Planeten Erde oder des Kosmos; er bedroht die spezifische Bewohnbarkeit von spezifischen Regionen der Erde (habitabiliy of parts of the earth).94 In Anbetracht nicht nur der Möglichkeit, sondern auch der Notwendigkeit der Klage – in dreifacher Funktion: als Element eines Schuldeingeständnisses, als menschliche Ohnmachtsbekundung gegenüber dem Schöpfergott sowie als Hilfeschrei an Gott – wird für Muers die Frage nach dem Lobpreis des Schöpfers existenziell: “One of the key questions about „creatures“ that is posed by anthropogenic climate change is whether the chorus of creations’ praise will continue without many of its members (including perhaps, without humanity)”.95
Unter dem Einwand, dass eschatologischer Frieden bzw. Friedensarbeit in der Realität der Nicht-Nachhaltigkeit, der bedrohten Zukunftsfähigkeit der Erde, sehr unrealistisch sind, rekurriert Muers auf die gefallene und die bewahrte Schöpfung. Sie kommt zu dem Fazit: “In terms of a theological response to the suffering of creatures in anthropogenic climate change, perhaps the best that can be done at this point is to recall that theologies of creation – even the summons to creation to praise God – are of necessity developed from the context of fallen and preserved creation. […] The loss of species and habitats is grounds, in the first instance, for lament rather than for theodical explanation”.96
4.3
Christologie
„Müsste nicht das Freiheitspotential einer Christusbindung im Sinne der Barmer Theologischen Erklärung viel stärker in das Zentrum der Ökologie-Thematik gerückt
93 94 95 96
A. a. O., 102. A. a. O., 99; auch Northcott/Scott, Introduction, 9. A. a. O., 102. Ebd.
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und durchbuchstabiert werden? Hier würden sich dann Fragen des Lebensstils – auch in ekklesiologischer Perspektive – anschließen“.97
Die Botschaft Jesu von der Gottesherrschaft und sein Christusweg als schöpferische und formende Kraft einer nachhaltige(re)n Lebensweise zu revitalisieren98 – diesem Verlangen nach einer christologischen Antwort auf die Zukunftsfähigkeit der Erde wird mit einer „Durchdeklination“ des Kolosserhymnus (Kol 1,15–20) entsprochen. Der dänische lutherische Theologe Gregersen entziffert in der synoptischen Jesus-Tradition eine Identifizierung mit der Erde sowie einer gewaltfreien Beziehung zur Natur als wiederkehrendem Topos in der Predigt Jesu.99 „Here the Christian confession to Jesus as Christ is inextricably interwoven with what Luther […] called the ‚beautiful confession‘ to the world as God’s own creation“.100 Die basileia tou theou-Lehre Jesu impliziert eine erdverbundene Schöpfungstheologie, die Gott und Welt niemals trennt.101 Gregersen entfaltet seine ökologisch erweiterte Christologie im Kontext einer trinitarischen Schöpfungslehre;102 das Verständnis des ewiglich in der materiellen Welt inkarnierten Gott-Christus lässt anklingen, dass der kosmische Christus in der Kreatur lebt und die Welt zusammenhält: “Christology is carried by the conviction that God’s eternal Logos has revealed and reidentified itself – once and for all – as Jesus Christ within the matrix of materiality that we share with other living beings. „He himself is before all things, and in him all things hold together“ (Col 1.17). In this way, divine transcendence and radical immanence are held together in Jesus Christ. […] [T]he Son of God, who is eternally born out of the Father, is present as the incarnate Jesus Christ, forever living with and for all other creatures in the universe through the workings of the Holy Spirit. Jesus Christ is thus […] synchronous with each creature in time and co–inherent in all that exists in time and space”.103
Der inkarnierte Logos als Christus ist in der Schöpfung präsent und beteiligt sich aktiv an der Schöpfung; Christus ist der Schöpfungsmittler.104 Durch Christus-inder-Schöpfung „lässt sich der Schöpfer auf [die Welt] ein, leidet an und mit seinen Geschöpfen, heilt ihre Gebrechen und führt sie zum Ziel ihrer Vollen97 Busch, Beitrag zur Diskussion, 187; Tagung der Gesellschaft für Evangelische Theologie, Ev. Akademie Hofgeismar 02/2009; vgl. Theologische Werkstatt Loccum 10/2015 (s. Anm. 42). 98 Bedford-Strohm, Einleitung, 14; Busch, Beitrag zur Diskussion, 187. 99 Gregersen, Christology, 42–44; vgl. Küng, Jesus. 100 A. a. O., 36. 101 Ebd. 102 A. a. O., 36–37; vgl. Moltmann, Gott in der Schöpfung. 103 Gregersen, Christology, 36, kursiv im Original; vgl. Bayer, Schöpfung als Anrede; Link, Schöpfung, 5.3.3; Northcott/Scott, Introduction, 3,6. 104 A. a. O., 306.
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dung“.105 Diese Vorstellung des kosmischen Christus in der Schöpfung ist als Verpflichtung zur Nachhaltigkeit für eine zeitgemäße evangelische Spiritualität zu bedenken: “[T]he New Testament and Patristic vision of the cosmic Christ, who is also appointed as the judge of history at the end of time, is the doctrine which […] enables present humans to respond with full existential seriousness to their duty to future perons and creatures to mitigate climate change”.106
Die kosmische Christologie, wie sie im Kol-Hymnus erfasst ist, ist nicht nur neutestamentlich die „bedeutsamste Neuorientierung der biblischen Schöpfungstheologie“;107 sie ist auch die theologische Fundierung des christlich-neutestamentlichen Auftrags zur Nachhaltigkeit.108 Die Schlussfolgerung, die sich aus der inkarnierten Schöpfungsmittlerschaft Christi ergibt, ist theologisch provokant: ist somit nicht die Ausrottung von Arten, die flächenmäßige Zerstörung von Ökosystemen, wie sie bspw. beim Aufschluss neuer Braunkohletagebaue in der Lausitz geschieht, eine erneute, die zweite bzw. fortgesetzte Kreuzigung des Herrn? Kol 1,15–20 besingt nicht nur die Inkarnation und Mitgeschöpflichkeit Christi; auch die Weltherrschaft des Erhöhten wird als die jetzt schon vollzogene universale Erlösung gepriesen.109 Christus der Auferstandene hat nicht nur die Menschheit mit Gott versöhnt, „er ist der Stifter eines kosmischen Friedens und weltumgreifender Versöhnung (Kol 1,20)“.110 Die eschatologisch-hoffnungsvolle „Verschränkung der Zeiten“ klingt auch hier an: „Der auferstandene Christus hält den Bestand des als brüchig empfundenen Kosmos und seiner Ordnungen […] zusammen und befestigt ihn neu. Er tut das in der totenerweckenden Kraft Gottes, von der die Welt das Letzte und Äusserste erwarten darf, ihre Erlösung. So wird die Schöpfung in einem epochal neuen Schritt in die „jetzt“ erschienene letzte Etappe der Geschichte Gottes eingezeichnet. Sie rückt in das messianische Licht“.111
Die „brüchig empfundene“, d. h. vom Menschen bedrohte bzw. schon zerstörte Schöpfung, bereits erlöst durch den auferstandenen Christus, erleuchtet durch das messianische Licht – ein kraftvoll-inspirierenderes, hoffnungsvolleres,
105 106 107 108 109 110
A. a. O., 302. Northcott/Scott, Introduction, 7. Link, Schöpfung, 301,300–303. Beringer, Unterwegs zu einem „neuen Himmel und einer neuen Erde“. A. a. O., 302. A. a. O., 301, kursiv im Original. In der jetzt schon vollzogenen universalen Erlösung grenzt sich Kol 1,15–20 von Röm 8,19ff ab (Link, Schöpfung, 302–303). 111 Link, Schöpfung, 300.
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tröstenderes Bild für eine gelebte evangelische Spiritualität im Dienst der Nachhaltigkeit ist wohl kaum möglich!
5.
Als Fazit: Thesen112
Zeitgemäße evangelische Spiritualität ist eine Spiritualität im Dienst der Nachhaltigkeit. Evangelische Spiritualität im Dienst der Nachhaltigkeit… … ist begründet in Jesus Christus. Sie ist eingebunden in eine trinitarische Schöpfungstheologie. So ist sie schöpfungstheologisch fundiert und christologisch gefestigt. Fundiert in ökologisch revidierter, lutherischer Schöpfungslehre und zentriert im reformatorischen solus Christus erfährt evangelische Spiritualität ihr Alleinstellungsmerkmal und ihren Mehrwert in dem allen Religionen und Traditionen gemeinsamen Auftrag zur Bewahrung der Schöpfung. … speist sich aus dem Lobpreis des Schöpfers und dem Mitleiden mit den Mitgeschöpfen; sie lebt aus dem Einklang mit dem kosmischen Christus als Schöpfungsmittler. Evangelische Spiritualität kann von franziskanischer, buddhistischer und hinduistischer Spiritualität Mitgefühl für die Mitgeschöpfe (compassion) und Mitleiden mit (com-passion) den Mitgeschöpfen lernen – und somit das Seufzen der Kreatur (Röm 8) – zu hören, mehr, zu spüren. Evangelische Christinnen können lernen, Christus als den in der Schöpfung präsenten Schöpfungsmittler (Kol 1,15–20) nicht nur zu glauben, sondern von ihm zu wissen, ihn wahrzunehmen, ihm zu begegnen, ihn in der Schöpfung zu erkennen. … kann Glaubensdogmen reflektieren und korrigieren. Die lutherische Anthropologie des grundlegend bösen, sündigen, Menschen (Gen 6,5; 8,21)113 steht trotz der reformatorischen Zusage der Rechtfertigung allein aus Gnade einer Alltagsmotivation zur Zukunftsgestaltung im Weg. „Doxologische Lebensfreude“,114 gespeist aus meinem „Gut-sein“ und der Kraft der Transformation, die Gott selbst wirkt und den Menschen schenkt, bewirkt die notwendige Motivation und Kraft für die große sozial-ökologische Transformation zur Nachhaltigkeit,115 mehr als moralische Prinzipien und Anstrengungen. … ist liturgisch relevant und findet ihren Widerhall in den Elementen des evangelischen Gottesdienstes. 112 S. für eine explizierte Ausführung: Beringer, Evangelische Theologie im Zeitalter der Nachhaltigkeit. 113 U. a. Bayer, Schöpfung als Anrede, 46; EG 799. 114 Welker, Schöpfung und Endlichkeit, 28. 115 WBGU, Welt im Wandel.
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Bayers Dreiklang Staunen – Seufzen – Schauen116 verdient als Schöpfungspraxis fruchtbar gemacht zu werden, wie auch der fundamentale Dreiklang der evangelischen Sakramente Taufe – Abendmahl117 (- Beichte).118 … wird in einer Ethik der „praktizierten Gerechtigkeit“119 umgesetzt, auch politisch. So wird sie gesamtgesellschaftlich erfahrbar und wirkmächtig. Das zwischenmenschliche „Ethos der Dankbarkeit, der Liebe, der Verantwortung und der doxologischen Lebensfreude“120 erstreckt sich auf Kreaturen, spezifische Habitate (land) und die Erde. Dies umfasst die Überwindung von Gewalt, d. h. aktive Friedens- und Heilungsarbeit auch für die Mitwelt.121 … lebt aus der Zusage Gottes zum ewigen Bund und der Verheißung der neuen Schöpfung. So wird sie konstruktiv. Sie ist getragen von der Dialektik von Kontemplation und Aktion, von Gebet und Veranwortung für Gott, Schöpfung und Welt. Der Regenbogen (Gen 9,13; vgl. Offb 4,3; 10,1) bedeutet in ganz elementarer Weise Lebenskraft, legt ein tiefes Gefühl der Geborgenheit in die Seele und drückt eine Hoffnung aus, die kaum aktueller gewesen ist als heute.122 Die Rolle und Aufgabe von Religionsgemeinschaften in der nachhaltigen Entwicklung liegt in Gottes-Dienst, Meditation und Gebet, in ihren verschiedensten Formen, konkret: in einer ziel- und wirkungsorientierten Spiritualität, die sich Ungerechtigkeit und Zerstörung als Gewalt entgegenstellt und die Macht- und Reichtumsbegrenzung und -umverteilung einfordert und umsetzt. Für evangelische Christinnen speist sich die Kontemplation aus dem evangelischen Gottesdienst, dem Wort und der Predigt, der Kirchenmusik – und der Natur. … ist begründet in und orientiert sich an dem reformatorischen solus Christus, sola scriptura, sola fide und sola gratia. So eingegrenzt und gefestigt lebt sie die Ökumene, den interreligiösen Dialog sowie die Kooperation mit indigenen spirituellen Traditionen. Evangelische Spiritualität ist unverzichtbares und wichtiges Element im Mosaik der Spiritualitäten der Konfessionen, der Religionen und Traditionen. Im interkonfessionellen/-religiösen Dialog stärkt die evangelische Stimme Gott als die Instanz des Heiligen, die dem fehlbaren, imperfekten Menschen vergibt allein
116 Bayer, Schöpfung als Anrede, 169–184. 117 Z. B. A. a. O., 29–32. 118 Vgl. Zimmerling Evangelische Spiritualität, 4.4., der die Beichte in die sakramentale Dimension der evangelischen Spiritualität einbezieht. 119 Welker, Schöpfung und Endlichkeit, 27. 120 A. a. O., 28. 121 Vgl. Liedke, 30 Jahre nach „Im Bauch des Fisches“, 38–40; Stückelberger, Gestaltung der Schöpfung, 116. 122 Nach der Auslegung des ersten Glaubensartikels von Bedford-Strohm, Einleitung, 9.
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aus Gnade. Auch zeigt sie im Kontext einer trinitarischen Schöpfungslehre GottChristus auf als Mitleidenden in und Erlöser der Schöpfung … ist konstruktiv, motivierend, transformativ, lebensdienlich. Das evangelische Christentum hält für die notwendige große sozial-ökologische Transformation zur Nachhaltigkeit mit seiner Betonung des allgemeinen Priestertums, seiner Pionierarbeit der Volksbildung, seiner synodalen Kirchenstruktur sowie der daraus unterstützten demokratischen Tradition einen einmaligen Traditions- und Glaubensschatz bereit.123 … ist ein sehr wichtiger, vielleicht der wichtigste Beitrag, den reformatorischer Glaube und protestantische Kirche/n und Theologie zur Transformation zur Nachhaltigkeit beitragen können. Die Notwendigkeit zu beten und die Wirkmacht des Gebets – die Bitte an die Trinität und Gottes Heerscharen (Engel) um Bewahrung der Schöpfung, der Dank für die göttliche Kraft der Transformation und Heilung – wird in Nachhaltigkeitsanstrengungen bisher zumeist übersehen, auch von Theologie und Kirche.124
6.
Schlussmeditation/Mantra-Gebet125
Der auferstandene Christus hält den als brüchig empfundenen Kosmos zusammen und befestigt ihn neu. Er tut das in der totenerweckenden Kraft Gottes, von der die Welt ihre Erlösung erwarten darf. So rückt die Schöpfung in das messianische Licht.
Literatur Quellen Bals, C., Eine gelungene Provokation für eine pluralistische Weltgesellschaft. Die Enzyklika Laudato Si – eine Magna Charta der integralen Ökologie als Reaktion auf den suizidalen Kurs der Menschheit. Hintergrundpapier. Germanwatch e.V., Januar 2016. Bayer, O., Schöpfung als Anrede, J.C.B. Mohr 21990. Busch, W., Ein Beitrag zur Diskussion, in: Bedford-Strohm, H. (Hg.), Und Gott sah, dass es gut war. Schöpfung und Endlichkeit im Zeitalter der Klimakatastrophe, Neukirchener 2009, 185–187.
123 Stückelberger, Gestaltung der Schöpfung, 116. 124 Vgl. LWF, Creation – not for sale (Juni 2016); Wartenberg-Potter, Klimagerechtigkeit. 125 Link, Schöpfung, 300, gekürzt, mit Dank.
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Gregersen, N.H., Christology, in: Northcott, M.S./Scott, P.M. (Hg.), Systematic theology and climate change: ecumenical perspectives, Routledge 2014, 33–50. Muers, R., Creatures, in: Northcott, M.S./Scott, P.M. (Hg.), Systematic theology and climate change: ecumenical perspectives, Routledge 2014, 90–107. Northcott, M.S./Scott, P.M., Introduction, in: Northcott, M.S./Scott, P.M. (Hg.), Systematic theology sand climate change: ecumenical perspectives, Routledge 2014, 1–14.
Forschungsliteratur Altner, G. (Hg.), Ökologische Theologie, Kreuz Verlag 1989. Bedford-Strohm, H., Einleitung. In: Bedford-Strohm, H. (Hg.), Und Gott sah, dass es gut war. Schöpfung und Endlichkeit im Zeitalter der Klimakatastrophe, Neukirchener 2009. (7–14). Beringer, A., Der „Sonnengesang“ des Heiligen Franziskus von Assisi im Evangelischen Gesangbuch: protestantische Verkündigung eines panentheistischen, immanenten Gottes? Universität Leipzig Theologische Fakultät Dezember 2012, Unveröffentlichtes Manuskript. –, Earth requiem. Association for Experiential Education Individual Monograph 300198, 1999. –, Evangelische Theologie im Zeitalter der Nachhaltigkeit. Unveröffentlichtes Manuskript, 2016. –, Reclaiming a sacred cosmology: Seyyed Hossein Nasr, the perennial philosophy, and sustainability education, Canadian Journal of Environmental Education 11 2007, 26–42. –, Unterwegs zu einem „neuen Himmel und einer neuen Erde“. Nachhaltigkeit als Nachfolge in evangelischer Theologie und Kirche, Masterarbeit, Universität Leipzig Theologische Fakultät, Juli 2013. Beutel, A., Wort Gottes, in: Beutel, A. (Hg.), Luther Handbuch. UTB Mohr Siebeck 22010, 362–370). BMZ Bundesministerium für Wirtschaftliche Zusammenarbeit, Partners for change. Religion and the Agenda 2030 for sustainable development. Berlin 17.–18. 02. 2016. Brot für die Welt/eed/BUND (Hg.), Zukunftsfähiges Deutschland in einer globalisierten Welt, Fischer 2008. BUND/Misereor (Hg.), Zukunftsfähiges Deutschland. Ein Beitrag zu einer global nachhaltigen Entwicklung, Birkhäuser Verlag 1996. Clifford, P., All creation groaning: a theological approach to climate change and development, Christian Aid 2007. Crutzen, P.J. et al., Das Raumschiff Erde hat keinen Notausgang. Energie und Politik im Anthropozän, Suhrkamp 2011. Durber, S., Song of the prophets. A global theology of climate change, Christian Aid 2014. Ekardt, F., Das Prinzip Nachhaltigkeit. Generationengerechtigkeit und globale Gerechtigkeit, C.H. Beck 22010. EKD Kammer für nachhaltige Entwicklung, „…damit sie das Leben und volle Genüge haben sollen“. Ein Beitrag zur Debatte über neue Leitbilder für eine zukunftsfähige
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Danksagung Herzlichen Dank an Prof. Dr. Wolfgang Lucht, Potsdam-Institut für Klimafolgenforschung (PIK) / Alexander von Humboldt Chair in Sustainability Science Humboldt-Universität zu Berlin für den Gaststatus am PIK 2016/17 und den bereichernden Austausch.
Thomas Görnitz, Brigitte Görnitz
Naturwissenschaft und evangelische Spiritualität
1.
Einführung
Wenn man heute über evangelische Spiritualität sprechen will, und das auch im Zusammenhang mit Naturwissenschaft, so ist es sinnvoll, leitmotivisch mit zwei berühmten Zitaten zu beginnen. Das erste betrifft das Christsein allgemein: „Der Christ der Zukunft wird ein Mystiker sein. Einer, der etwas erfahren hat, oder er wird nicht mehr sein“.1
Das zweite Zitat greift einen besonders für das Evangelische wichtigen Zusammenhang auf: „In dem, was wir erkennen, sollen wir Gott finden, nicht aber in dem, was wir nicht erkennen; nicht in den ungelösten, sondern in den gelösten Fragen will Gott von uns begriffen sein“.2
Diese beiden Zitate von dem katholischen Theologen Karl Rahner und dem evangelischen Theologen Dietrich Bonhoeffer, der diese Zeilen noch kurz vor seiner Ermordung durch die Nazis schrieb, stellen eine Basis für die folgenden Überlegungen dar. Gegenwärtig ist bei vielen Menschen zu beobachten, dass Versatzstücke aus Religionen möglichst fremder Kulturen mit aus dem Zusammenhang gerissenen naturwissenschaftlichen Aussagen bzw. mit Vorstellungen, die naturwissenschaftlich klingen, zu einem Konglomerat verschmolzen werden, welches individuelle spirituelle Bedürfnisse befriedigen soll. Noch bis vor wenigen Jahrzehnten erschien es vielen evident, dass die Begriffe „Evangelisch, Spiritualität, Naturwissenschaft“ nichts miteinander zu tun haben. Schließen sich nicht protestantische Nüchternheit und eine fast immer nach Esoterik klingende Spiritualität einander aus? Und ist nicht Naturwissenschaft notwendig ein Gegenteil von jeder wie auch immer interpretierten Religiosität und 1 Rahner: Frömmigkeit heute und morgen, 335. 2 Bonhoeffer, Widerstand und Ergebung, 170f.
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Spiritualität? Fast jeder Naturwissenschaftler verschwendete keine Gedanken auf etwas, was sich nicht auf elementare materielle Bausteine reduzieren ließ. Auf der anderen Seite teilten und teilen viele Theologen die Wirklichkeit dualistisch in einen materiellen und einen nichtmateriellen Bereich, die säuberlich voneinander getrennt sind. Die Strukturen des Teils, von dem die Naturwissenschaften handeln, werden zumeist als für sie nicht sonderlich bedeutungsvoll erachtet. In Seminaren und Vorträgen, aber auch in der therapeutischen Situation wird oft deutlich, dass vielfach die Meinung besteht, dass es einem gebildeten und aufgeklärten Bewusstsein fast unmöglich sein muss, für spirituelle Fragen offen zu sein – und erst recht keinesfalls für religiöse. Zu den offensichtlichen Gründen dafür gehört ein Glaube an unerschütterliche deterministische Naturgesetze. Dieser erlaubt, religiöse und spirituelle Bedürfnisse durch vermeintlich gesicherte wissenschaftliche Erkenntnisse zu ersetzen. Ein anderer Grund ist wohl bei einer Theologie zu suchen, die als in der Vergangenheit steckengeblieben interpretiert wird. Durch eine hedonistische Ersatzsuche, aber auch durch Drogen oder durch esoterische Spiritualitäts-Surrogate scheint es manchen möglich, spirituelle Bedürfnisse zu befriedigen.
2.
Was kann unter Spiritualität verstanden werden?
„Unter Spiritualität verstehen wir ein – in der Regel nichtwissenschaftliches – Wahrnehmen der Einheit der Welt“.3 Eine solche allgemeine Definition lässt Raum sowohl für eine religiöse als auch für eine sich als atheistisch verstehende Spiritualität.4 Eine solche Definition wird schärfer, wenn man auf die Realität des Geistigen eingeht, zugleich eröffnet sich damit ein Zugang zur Spiritualität von einer unerwarteten Seite: Auch die Spiritualität ist, wie jeder andere Bereich des Realen, von verschiedenen Seiten zugänglich. Einmal gibt es Begabungen und Erfahrungen, zum anderen gibt es den Zugang von der Wissenschaft her. Spiritualität ist Wahrnehmung der Einheit der Wirklichkeit und Anerkennen des Geistigen als Realität.5
Dazu ist anzumerken, dass der Gedanke einer Einheit der Wirklichkeit noch nicht wieder in den naturwissenschaftlichen Mainstream zurückgefunden hat. Es gilt vielfach noch als modern, um jeden Teilbereich von naturwissenschaftlicher Erkenntnis einen Zaun zu ziehen, um darin die eigenen Einsichten zu hegen und vor anderen Einflüssen zu schützen. Es mag für Theologen unerwartet klingen, aber nicht nur viele von ihnen, sondern auch viele Naturwissenschaftler wehren 3 Görnitz, Th. & B., Evolution, 323. 4 A. a. O., 324. 5 A. a. O., 325 (Hervorhebung im Original).
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sich gegen „reduktionistische Ansätze“, dass man komplexe Strukturen auf einfache Strukturen zurückführt und dadurch erklärt, ein solches Bestreben stößt auch in der Naturwissenschaft nicht überall auf Zustimmung. Solange „Reduktion“ als „Zurückführen auf kleinste materielle Objekte“ verstanden wird, ist eine Ablehnung solcher primitiver Vorstellungen begründet. Tatsächliche Reduktion meint jedoch, zu zeigen, wie in der kosmischen Evolution die komplexen Strukturen aus einfachen Strukturen entstanden sind – und dies wird durch die Quantentheorie ermöglicht. Im evangelischen Raum war lange Zeit eine gewisse Abwehr gegen „schwärmerische Ansichten“ tonangebend. Manche Texte lassen die Legitimation dafür als vollkommen berechtigt erscheinen. Johann Scheffler, der nach dem 30jährigen Krieg unter dem Namen Angelus Silesius Sentenzen wie „GOtt lebt nicht ohne mich“6 veröffentlichte, hatte offenbar selbst erkannt, dass dies sehr leicht zu Missdeutungen führen muss. Er sprach von Reimen mit „vil seltzame paradoxa oder widersinnische Reden, […] welchen man wegen der kurtzen Verfassung leicht einen Verdamlichen Sinn oder böse Meinung könte andichten“ .7 Ähnliche paradoxe Aussagen über Gott findet man bereits bei Meister Eckhart: „Du sollst ihn lieben wie er ist: ein Nichtgott, ein Nichtgeist, eine Nichtperson, ein Nichtbild, sondern: wie er ein blosses, pures, reines Eins ist, gesondert von aller Zweiheit, und in dem Einen sollen wir ewiglich versinken von Nichts zu Nichts. Das walte Gott“.8
Bis heute erscheint es vielen als Problem, dass bestimmte innere Erlebnisse lediglich in Form von Paradoxien in Worte umgesetzt werden können. Mit dem Eintritt des Unendlichen in die Mathematik hatten sich ähnliche Paradoxien auch dort eingebürgert. Man lernte jedoch bald, mit ihnen geordnet umzugehen. Auch die Zeitvorstellungen sind in den Naturwissenschaften sehr viel differenzierter geworden. Heute können sie offener sein gegenüber Aussagen wie diesen: „Dort in der Ewigkeit geschihet alls zugleich // Es ist kein vor noch nach / wie hier im Zeitenreich“.9
3.
Paradoxien des Unendlichen in der Mathematik
Zwei bedeutende Mathematiker und Logiker ihrer Zeit, Georg Cantor für das 19. und Kurt Gödel für das 20. Jahrhundert, kennzeichnen die Umbrüche in der Mathematik in Bezug auf das Unendliche und auf die für die Mathematik vermutete absolute Gewissheit. 6 7 8 9
Angelus Silesius: Wandersmann, Kap. 4, Nr. 8. A. a. O., Kap. 2. Meister Eckhart, Predigten, 8867. Angelus Silesius, Wandersmann, Kap. 17.
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Warum sind diese beiden für Überlegungen über Beziehungen zwischen naturwissenschaftlichen Einsichten und spirituellen Erfahrungen von Interesse? Manche Erlebnisse, die in spirituellen Situationen erfahren werden, kann man vielleicht wie folgt formulieren: Der Mensch ist absolut verschieden von Gott und zugleich kann er sich wahrnehmen, als ob er mit diesem identisch sei. Ähnliche Probleme zwischen einem Ganzen und Teilen davon hatte Cantor auf eine neue Stufe der gedanklichen Behandlung gehoben. Zwischen 1 und 100 gibt es zehn Quadratzahlen, das sind 10 % dieser Zahlen. Zwischen eins und 10 000 gibt es 100 Quadratzahlen, das ist 1 %. Zwischen 1 und 1 Million gibt es 1000 Quadratzahlen, das ist nur noch 1 ‰. Je größer der betrachtete Bereich der Zahlen ist, desto kleiner wird die relative Häufigkeit der Quadratzahlen. Der Alltagsverstand möchte daher wohl vermuten, dass die Menge der Quadratzahlen in Relation zu den natürlichen Zahlen verschwindend klein ist. Wenn jedoch das Unendliche einbezogen wird, dann ist dieser Schluss grundfalsch. Dann nämlich zeigt es sich, dass es genauso viele Quadratzahlen wie natürliche Zahlen geben muss. Anderenfalls müsste es mindestens eine natürliche Zahl geben, die man nicht mehr quadrieren könnte – und das ist eine absurde Vorstellung. Dass ein echter Teil genauso groß wie das Ganze sein kann, aus dem er stammt, klingt wie eine paradoxe Aussage. Mit Cantors mathematischen Erkenntnissen wird deutlich, dass mit dem Einbeziehen des Unendlichen echte Teilmengen aus einer unendlichen Menge genauso groß („gleichmächtig“) wie die ganze Menge sein können. Die mathematischen Unendlichkeiten betreffen Möglichkeiten, denn die Mathematik ist die Wissenschaft der möglichen Strukturen, während die Physik die Wissenschaft der in der Natur zu findenden Strukturen ist. Auch in der Physik sind Unendlichkeiten nur möglich, nicht faktisch. Cantors große Entdeckung war, dass die Unendlichkeit der unendlichen Dezimalbrüche so viel größer ist als die der natürlichen Zahlen, dass für diese Dezimalbrüche keine Möglichkeit mehr besteht, dass sie wenigstens im Prinzip abgezählt werden könnten. Sie sind überabzählbar unendlich viele. Für seine Erkenntnisse wurde Cantor von einigen der führenden Mathematiker seiner Zeit massiv angegriffen. Es ist offen, inwieweit dies und die beruflichen Zurücksetzungen zu seiner psychischen Erkrankung beigetragen haben. Neue Erkenntnisse haben es also selbst in den mathematischen Wissenschaften nicht leicht, sich durchzusetzen. In Diskussionen über mögliche Beziehungen zwischen spirituellen Erfahrungen und naturwissenschaftlichen Erkenntnissen wird oft die Sentenz verwendet: „Die Wissenschaft hat bewiesen, dass …“. Wer auch nur die geringste Einsicht in die Struktur von naturwissenschaftlichen Theorien besitzt, der weiß,
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dass diese zwar einen sehr hohen Grad an Gewissheit haben können, dass aber der Terminus „Beweis“ für sie völlig unangebracht ist. Der „Beweis“ impliziert, dass das Bewiesene mit Sicherheit gilt. Dies ist bei theoretischen Aussagen über die Ergebnisse von hinreichend komplexen Experimenten prinzipiell unmöglich. Naturwissenschaft bezieht sich auf Erfahrungen, die also in der Vergangenheit gemacht worden sind. Ob die Abstraktionen, die zur Aufstellung einer Theorie gemacht werden, in künftigen Experimenten und damit unter geänderten Bedingungen vielleicht unangepasst sind und daher eine Änderung der Theorie erforderlich werden lassen, genau das kann man vor solchen Experimenten noch nicht wissen. Ein „Beweis“ würde jedoch eine künftige Änderung und Präzisierung der Theorie bereits jetzt schon mit Gewissheit ausschließen. Vielfach wird darauf verwiesen, dass man seit Popper wisse, dass empirisch gestützte Theorien niemals bewiesen – verifiziert −, sondern höchstens falsifiziert werden können. Die Situation ist jedoch noch komplizierter. Eine Falsifikation würde voraussetzen, dass das entsprechende Experiment mit einem Gerät durchgeführt wurde, welches einwandfrei gemäß einer wahren – also verifizierten – Theorie funktioniert. Es ist weniger bekannt, dass bereits Popper darauf verwiesen hat, dass die Verifikation einer Falsifikation nicht möglich ist. Der Naturwissenschaft kann eine hohe Sicherheit und Glaubwürdigkeit zugesprochen werden. So gibt es bisher unter wohl Milliarden von Experimenten keinen einzigen Hinweis auf einen Widerspruch zu quantentheoretischen Vorhersagen, dennoch ist dies kein „Beweis“. Für die Mathematik jedoch wurde eine solche absolute Gewissheit bis in die 1930er Jahre eigentlich als so gut wie selbstverständlich erachtet. Kurt Gödel hat dann gezeigt, dass der Beweis der Widerspruchsfreiheit eines mathematischen Systems mit den Mitteln dieses Systems prinzipiell unmöglich ist. Die Widerspruchsfreiheit einer mathematischen Struktur kann – wenn überhaupt – dann nur mit Mitteln einer umfassenderen mathematischen Struktur gezeigt werden. Deren Widerspruchsfreiheit jedoch kann dabei nur postuliert, aber nicht bewiesen werden. Eine absolute Gewissheit ist nicht einmal in der Mathematik möglich. Dennoch hat Gödel auf der Basis der Modal-Logik einen (unveröffentlicht gebliebenen) Gottesbeweis erstellt.10 Bei beiden Mathematikern übertrug sich ihr geniales streng logisches Denken allerdings nicht auf die eigene psychische Verfasstheit. Cantor wurde zeitweilig in die Psychiatrie eingeliefert und Gödel hatte Angst, vergiftet zu werden, sodass er 10 S. Benzmüller/Woltzenlogel, Formalization.
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vor allem an den Folgen seiner Unterernährung starb, als seine Frau für längere Zeit ins Krankenhaus musste.
4.
Neue Einsichten in die fundamentalen Strukturen der Natur
Mit der Quantentheorie haben sich vollkommen neue Einsichten in Dasjenige eröffnet, was man als fundamental für eine mögliche Naturerklärung verstehen kann. Über die Quantentheorie gibt es die verbreitete Meinung, sie sei unverstehbar. Ein tieferes Durchdringen zeigt jedoch, dass ihre Grundpostulate vollkommen evident sind. Die klassische Physik zerlegt die Welt in getrennte Objekte und in Kräfte, welche zwischen diesen Objekten wirken. Wie bei jeder Zerlegung muss man dabei darauf gefasst sein, dass dadurch auch Beziehungsstrukturen verloren gehen können. Die Quantentheorie ist die den Physikern aufgezwungene Einsicht, dass ein Ganzes oftmals mehr sein kann als die Teile, aus denen es gebildet oder in die es zerlegt werden kann. Im Gegensatz zu der bloßen Sentenz „ein Ganzes ist mehr als die Summe seiner Teile“ beinhaltet die Quantentheorie eine klare mathematische Struktur und somit ein wirkliches Verständnis. Die Quantentheorie ist die einzige naturwissenschaftliche Theorie, die das Entstehen von etwas vollkommen Neuem tatsächlich beschreiben kann. Damit wird der − nach unserer Erfahrung auch in der Theologie beliebte − Terminus „Emergenz“ überflüssig, der lediglich darauf verweist, dass man nicht den Schimmer einer Ahnung hat, auf welchem Wege und wieso das Neue „auftaucht“. Für uns Menschen ist es evident, dass unsere Handlungen nicht nur von den Fakten der Vergangenheit, sondern auch von den Möglichkeiten beeinflusst werden, die wir erwarten, befürchten oder erhoffen. Die Quantentheorie ist eine mathematische Fassung der Einsicht, dass eine sehr genaue Betrachtung der Natur zeigt, dass nicht nur die Fakten, sondern auch die Möglichkeiten bereits in der Gegenwart Wirkungen hervorrufen. Die Quantentheorie kann gekennzeichnet werden als die Physik der Beziehungen und der Möglichkeiten, wohingegen die klassische Physik sich als Physik der Objekte und der Fakten erweist. Beides wird durch die Dynamische Schichtenstruktur zusammengefasst.11 11 Görnitz Th & B., Der kreative Kosmos.
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Die Struktur der Quantentheorie hat zur Folge, dass sich Unterschiede in der Tiefe auflösen, die im Alltag unüberbrückbar erscheinen. Sie relativiert die Unterschiede zwischen Materie und Bewegung, zwischen Kraft und Stoff, zwischen Lokalisiertheit und Ausgedehntheit, zwischen Fülle und Leere und zwischen Objekt und Eigenschaft.12 Seit Jahrtausenden ist in Naturphilosophie und Naturwissenschaft die Vorstellung erkenntnisleitend gewesen, dass durch die Zerlegung der Natur in immer kleinere „Bausteine“ schließlich das Fundament für jede Naturerklärung gefunden werden kann. Die Vorstellungen von Atomen haben zu den unerhörten Erfolgen der Chemie geführt. Ohne sie wären Chemie und Biochemie vollkommen unverstehbar. Milliarden von komplexen Molekülen lassen sich in die Atome von weniger als 100 Elementen zerlegen. Allerdings ermöglichte erst die Quantentheorie zu verstehen, wieso ein Molekül vollkommen neue Eigenschaften hat und somit etwas vollkommen anderes ist als die Atome, aus denen es gebildet wurde.
5.
Die Sackgasse „elementarer materieller Bausteine“
Nachdem sich die „Atome“ als zerlegbar erwiesen, wurden Begriffe wie Elementarteilchen oder Strings für die postulierten „Bausteine“ eingeführt. Auch für mich (TG) hat es eines langen Nachdenkens bedurft, bis ich den Widerspruch zwischen der mathematischen Struktur der Quantentheorie und irgendwelchen Formen kleinster materieller elementarer Bausteine so klar formulieren konnte:13 Die „kleinsten elementaren Bausteine“ sind so tief im naturwissenschaftlichen Denken verankert, dass man über viele Jahrzehnte hinweg nicht erkennen konnte, dass diese Vorstellungen einen Widerspruch zu der grundlegenden mathematischen Struktur der Quantentheorie bedeuten. Seitdem Max Planck vor über 100 Jahren die Grundformel der Quantentheorie gefunden hatte, weiß man, dass immer kleinere Strukturen zugleich mit immer größeren Energien oder Massen verkoppelt sind. E = h ν = h c / λ = m c²
12 Görnitz, Th. & B., Bewusstsein, Kap. 10.2.1. 13 A. a. O., Kap. 9.5.
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In dieser Kombination von Plancks und Einsteins Formel bezeichnet E die Energie einer Quantenstruktur und h das Wirkungsquantum, das Maß für die kleinste mögliche Wirkung.14 Über die Lichtgeschwindigkeit c wird die Masse m mit der Energie äquivalent. Die Frequenz ν charakterisiert die Welle, welche der Quantenstruktur zugeordnet ist, und λ ist die damit verbundene charakteristische Ausdehnung. Für masselose Quanten wie Photonen, die Quanten des Lichts, ist λ die Wellenlänge, für Quanten mit einer Ruhmasse, wie Elektronen oder Protonen, bezeichnet man λ als Compton-Wellenlänge. Seit der Antike gibt es die Vorstellung, dass es immer einfacher wird, wenn man ins immer Kleinere geht. Die Quantentheorie zeigt auf, dass dazu immer größere Energien notwendig sind. Die riesigen Beschleuniger der Hochenergiephysik wie im CERN zeigen dies auch dem physikalischen Laien. Dass jedoch immer mehr an Energie zu immer einfacheren Strukturen führen soll, das dürfte wohl zu Recht als das Gegenteil einer plausiblen Annahme verstanden werden. Je kleiner die zu untersuchenden Strukturen sind, desto komplexer werden sie sein. Daher verwendet man für deren Beschreibung die komplexesten mathematischen Strukturen, die man heute kennt – relativistische Quantenfelder, die Beschreibungsmittel der Hochenergiephysik. Ein Quantenfeld kann verstanden werden als eine beliebige – möglicherweise unendliche – Anzahl von Quantenteilchen, den Feldquanten. Quantenteilchen stellen daher einfachere Strukturen als Quantenfelder dar. Aber auch ein Quantenteilchen benötigt für seine Beschreibung einen unendlichdimensionalen Raum von Zuständen. Auch dies wird man noch nicht als eine tatsächlich „einfache Struktur“ verstehen wollen. Die aus mathematischen Gründen einfachsten quantenphysikalischen Strukturen besitzen einen lediglich zweidimensionalen Raum von Zuständen. Gegenwärtig bezeichnet man eine solche Struktur zumeist als Quantenbit. Einem Quantenbit kann außer seiner nackten Existenz weder eine Eigenschaft noch ein sonstiges Merkmal zugeschrieben werden. Es ist die einfachste Quantenstruktur, die überhaupt vorstellbar ist – auch aus mathematischen Gründen. Die Spannung zwischen Endlichkeit und Unendlichkeit tritt bereits bei ihm hervor. Ein einziges Qubit beinhaltet unendlich viele Möglichkeiten, jedoch kann an ihm nur einer von zwei jeweils einander ausschließenden Fällen faktisch werden. Mit sehr vielen Qubits wird es jedoch möglich, alle die Quantenteilchen zu konstruieren, die man in der Physik beschreibt.15 C.F.v. Weizsäcker war der erste, der seit den 1950er Jahren darauf verwiesen hatte, dass nur derartige Strukturen für eine tatsächliche Grundlegung der Physik 14 S. Görnitz, Th., Quanten. 15 Görnitz/Graudenz/v. Weizsäcker, Quantum Field Theory; Görnitz, Th./Schomäcker, Quantum Particles.
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geeignet sind. Er nannte sie Ur-Alternativen, kurz Ure. Weizsäcker war von der Quantenlogik ausgegangen, daher waren bei ihm die Ure immer auch mit Bedeutung und mit Wissen verkoppelt. Einen absoluten Begriff der Information lehnte er ab.16 Jedoch ohne einen absoluten Wert der Quanteninformation wird deren Äquivalenz zu Materie und Energie nicht möglich. Schließlich ist für Materie und Energie ein absoluter Wert klar festgelegt, an „0 Gramm Masse“ ist alles absolut und nichts relativ oder undefiniert. Ohne eine solche Äquivalenz zwischen Quanteninformation, Bewegung und Materie bleibt es eine bloße Behauptung, dass diese einfachen Quantenstrukturen tatsächlich die Basis all dessen darstellen, was durch die Physik beschrieben werden kann. Der Begriff der Information wird im Alltag fast automatisch mit „Bedeutung“ verbunden. „Bedeutung“ hat jedoch stets einen sehr großen subjektiven Anteil, der sich aus dem jeweiligen Kontext ergibt und der von einer aufs Objektive zielenden Wissenschaft wie der Physik nicht erfasst werden kann. Es war daher notwendig, diese fundamentale Quanteninformation noch wesentlich abstrakter als bei Weizsäcker aufzufassen und nicht nur von Sender und Empfänger, sondern auch von „Bedeutung“ oder von „Wissen“ zu abstrahieren. Für diese abstrakte bedeutungsfreie und kosmologisch fundierte Quanteninformation war ein neuer Begriff zu verwenden, der keinerlei Vorstellungen und somit auch keine falschen hervorrufen würde. Wir nahmen oft gemeinsam an wissenschaftlichen Kolloquien eines Arbeitskreises von Geistes- und Naturwissenschaftlern an meiner Universität teil, zu dem neben mir (TG) auch der leider früh verstorbene Altphilologe Roland Schüßler gehörte. Er hatte die Reichweite unseres Konzeptes verstanden und sich dafür begeistert. Als wir uns überlegten, dass ein neuer Begriff notwendig sei, schlug er uns „Protyposis“ vor. Im Wörterbuch findet sich: προ-τύπωσις, ἡ, das Vorbilden. Die Protyposis ist ein Begriff für etwas, das sich als eine abstrakte und noch bedeutungsfreie quantische Vorstruktur zu Materie, zu Energie und schließlich auch zu bedeutungsvoller Information ausformen und bilden kann. Mit Einsteins Formel kann die Materie als geformte, verdichtete oder kondensierte Bewegung verstanden werden. Der Alltagsbegriff „Bewegung“ dürfte auch dem Laien besser als der physikalische Begriff der „Energie“ verdeutlichen,
16 Weizsäcker, Aufbau, 172.
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welche gewaltigen Anforderungen an unsere Vorstellungskraft hierbei notwendig sind. Diese Formel kann erweitert werden: E = N h / tKosmos 12 π² Die Energie eines Quantensystems E ist äquivalent zu einer Anzahl von Quantenbits N. Der Proportionalitätsfaktor besteht aus dem Wirkungsquantum h, welches durch das Weltalter tKosmos und einen Zahlenfaktor geteilt werden muss. Mit der Protyposis lässt sich daher formulieren, dass Materie und Energie dichtgepackte oder kondensierte Formen einer abstrakten Quanteninformation sind. Da wir unsere Gedanken als spezielle Formen von Quanteninformation verstehen können, kann mit der Protyposis als einer monistischen geistigen Struktur erstmals ein zusammenhängender naturwissenschaftlicher Weg der Evolution vom Beginn des Kosmos bis zum menschlichen Bewusstsein durchlaufen werden. Weizsäckers Ur-Theorie, vor allem die von ihm vorgeschlagenen Zahlwerte – ein Proton sind 10 40 Bit –, stießen unter den Fachleuten auf Ablehnung und auch auf Spott. Fast niemand konnte sich in dieser Zeit bereits schon derartige Entropiewerte (Entropie ist unbekannte Information) für ein Quantenteilchen vorstellen. Den Anschluss an die konventionelle Physik herzustellen gelang mir (TG) mit Arbeiten, in denen gezeigt wurde, dass mit den Schwarzen Löchern eine solche Verbindung zur bekannten Physik prinzipiell erreicht werden kann.17 In dieser Zeit bestanden bei den etablierten Physikern und auch bei Weizsäcker selbst noch massive Zweifel an der Existenz dieser so merkwürdigen und damals nur theoretisch postulierten astrophysikalischen Gebilde. Jacob Bekenstein und Stephen Hawking hatten gezeigt, dass die Schwarzen Löcher eine ungeheuer große Entropie besitzen müssen. Ich hatte ausgerechnet, dass wenn man in das theoretisch denkbar größte Schwarze Loch (welches die Masse des gesamten Universums enthalten würde) noch ein einziges Proton hinzufügen würde, dann die Entropie dieses hypothetischen Schwarzen Loches um etwa 10 40 Bits zunehmen würde. Damit wurde erkennbar, dass auf diesem Wege Weizsäckers Abschätzung tatsächlich mit der bereits etablierten Physik verbunden werden kann. Mit der Protyposis werden die einfachsten Strukturen nicht mehr im Kleinen, sondern in den räumlich größten Strukturen erkannt. 17 Görnitz, Th., New Look; ders., Abstract Quantum Theory.
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Ein Qubit der Protyposis ist vorstellbar als eine Grundschwingung des kosmischen Raumes. Aus Plancks Formel folgt, dass die geringste mögliche Energie verbunden ist mit der größten möglichen Ausdehnung. Ein Qubit ist also das Ausgedehnteste, was man sich vorstellen kann. Die mathematische Struktur der Quantentheorie zeigt, dass erst sehr viel von diesem Ausgedehnten – wenn es in Resonanz miteinander steht – zu etwas sehr Lokalisiertem werden kann.18 Dies ist auch vernünftig, weil mit wenig Information nur schlecht lokalisiert werden kann. Hat man jedoch viel Information zur Verfügung, dann kann man einen Ort sehr genau erfassen. Die Quantentheorie lässt also erkennen, dass etwas Nichtlokales einfacher sein kann als stark lokalisierte Strukturen.
6.
Die Protyposis und die fundamentale Struktur der Zeit
Mit der Protyposis zeigt sich, dass die fundamentalen Strukturen der Wirklichkeit als ausgedehnt gedacht werden müssen. Die enge Verknüpfung zwischen Raum und Zeit, die erstmals durch Einsteins Spezielle Relativitätstheorie erkennbar wurde, erfordert eine neue Sicht auch auf die Zeit. Von der Relativitätstheorie dürfte hinlänglich bekannt sein, dass in schnell bewegten Systemen oder in Systemen unter größeren Beschleunigungen oder in größeren Schwerefeldern die Zeit langsamer vergeht. Weniger bekannt ist, dass im Rahmen einer quantentheoretischen Beschreibung innerhalb eines isolierten Systems kein Zeitablauf existiert. Die Quantentheorie ist eine Theorie über Möglichkeiten, in ihrem Rahmen gibt es keine Fakten. Die Struktur der Zeit beruht aber auf der Unterscheidung zwischen „vor einem Ereignis“ und „nach einem Ereignis“. Da jedoch Ereignisse an einem Quantensystem nur dadurch geschehen, dass Information über die aktuell möglichen Zustände aus dem System unwiederbringlich entweicht,19 gibt es für ein tatsächlich isoliertes Quantensystem keine Ereignisse. Niels Bohr hat einen solchen Vorgang als einen „individuellen Prozess“ bezeichnet, wir nennen es eine „ausgedehnte Gegenwart“.20
18 S. auch Görnitz, Th. & B., Bewusstsein. 19 Görnitz, Th., The Meaning. 20 Görnitz, Th. & B., Bewusstsein, 104,108.
100
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Augustinus kennzeichnet die Abwesenheit von Vergangenheit und Zukunft als „Ewigkeit“, ebenso Angelus Silesius.21 Somit kann man die ausgedehnte Gegenwart mit ihrer Abwesenheit von Fakten „Ewigkeit“ nennen – oder paradoxerweise auch „Augenblick“, in dem es ebenfalls weder Vergangenheit noch Zukunft gibt.
7.
Die Protyposis und die Evolution der Strukturen der Materie
Nach sehr glaubhafter Kenntnis über die Entwicklung des Kosmos hat es vor etwa 13,8 Milliarden Jahren einen Zustand gegeben, den wir heute als den Beginn von Raum und Zeit verstehen. Naturwissenschaft beschreibt, was innerhalb von Raum und Zeit geschieht. Ihr Arbeitsfeld beginnt also mit dem, was heute mit dem Begriff „Urknall“ bezeichnet wird. Ehrlicherweise muss man zugeben, dass wir Menschen in der Regel keine Vorstellungen darüber haben, was mit „vor“ der Existenz der Zeit und mit „außerhalb“ des Raumes überhaupt gemeint sein könnte. Die Existenz des Kosmos beginnt also mit einem Zustand, der von allem verschieden ist, was wir heute kennen. Er wird in der Regel als extrem heiß und dicht beschrieben. Aus der Quantentheorie ergibt sich, dass wir einen unstrukturierten Zustand von wenigen Quantenbits vorliegen haben. Die Anzahl dieser Quantenbits vermehrt sich – dies ist eine äquivalente Formulierung für die Expansion des Kosmos oder für den Ablauf der Zeit.22 Die ursprüngliche kosmische Ganzheit der Protyposis kann in einer sehr guten Näherung so beschrieben werden, dass sie sich im Laufe der kosmischen Expansion u. a. zu dem formt, was man heute als materielle Quantenteilchen und als die Quanten der Kräfte bezeichnet, die zwischen diesen wirksam werden. Bereits sehr früh in der kosmischen Evolution formte sich ein gewisser Teil der Protyposis zu Atomen von Wasserstoff und Helium. Unter der Wirkung der Gravitation bildeten sich daraus die ersten Sterne. In denen entstanden durch kernphysikalische Prozesse weitere Elemente des Periodensystems bis zum Eisen. Mit dem Eisen endet die kernphysikalische Energieerzeugung. Sehr große Sterne können am Ende der Energieerzeugung unter ihrer eigenen Gravitationswirkung als Supernova explodieren. In diesem Vorgang entstehen auch schwere Elemente bis zum Uran. Der größere Teil der Protyposis ballt sich jedoch nicht zu lokalisierten Quantenteilchen zusammen. Diese nicht als Teilchen erscheinende Form der Protyposis wird auch nicht durch die drei Wechselwirkungsformen beeinflusst, 21 Angelus Silesius: Wandersmann, Kap.17, zitiert unter Punkt 2 (Ende). 22 Görnitz, Th., General Relativity.
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die wir für Quantenteilchen kennen. Sie bildet die sogenannte Dunkle Materie und unterliegt nicht der schwachen, der elektromagnetischen oder der starken Wechselwirkung, sondern nur der Gravitation. Letztere, als eine Rückwirkung des Kosmos auf seinen Inhalt, wirkt auf alles, was in Raum und Zeit existiert. Der Vollständigkeit halber sei erwähnt, dass die sogenannte „Dunkle Energie“ der notwendige negative kosmologische Druck der Protyposis ist.23
8.
Die Verschiebung spiritueller Bedürfnisse in das Feld der Kosmologie
Nicht nur die Science-Fiction-Literatur, sondern auch die moderne Wissenschaft wird vielfach genutzt, um spirituelle Vorstellungen zu befriedigen – vor allem dann, wenn dabei gleichzeitig der Eindruck von Aufgeklärtheit erweckt werden kann. Besonders die Quantentheorie wird vielfach für derartige Zwecke verwendet. So ist darauf zu verweisen, dass Begriffe wie „Photonen, Quanten oder Protyposis“ als wissenschaftliche Begriffe nicht unter das Markenrecht fallen und daher beliebig frei genutzt werden können. Immer wieder wird uns zugetragen, dass sie in wilden Kombinationen mit anderen Begriffen auch zur Durchsetzung von sehr zweifelhaften privaten Geschäftsinteressen verwendet werden. Dies ruft bei vielen Menschen eine verständliche Abwehr hervor. Die Quantentheorie kann als „Physik der Möglichkeiten“ nicht das Entstehen von Fakten erklären. Man benötigt dazu einen Grenzübergang zu den Strukturen der klassischen Physik, so wie es die Dynamische Schichtenstruktur beschreibt.24 Erst die Dynamische Schichtenstruktur, die das Wechselspiel zwischen Möglichem und Faktischem, zwischen Zufall und Festgelegtheit erfasst, ermöglicht eine hinreichend vollständige Beschreibung der Realität. Der Übergang von den quantischen Möglichkeiten zu den Fakten geschieht letztlich dadurch, dass Information über mögliche Zustände aus dem System unwiederbringlich in die Tiefe des kosmischen Raumes entweicht. Ein verbleibender Zustand kann dann als Faktum interpretiert werden. Mit dieser Erweiterung der Kopenhagener Interpretation kann der Beobachter in eine naturwissenschaftliche Beschreibung eingebunden werden.25
23 Ebd. 24 Görnitz, Th., Quanten, Kap. 5. 25 Görnitz, Th., The Meaning.
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Durch das Setzen des Faktums wird das Quantensystem vom Rest der Welt getrennt. Die „Many-Worlds-Interpretation“ ersetzt diese Zusammenhänge durch die unüberprüfbare These, dass sich die Realität bei der Entstehung eines jeden Faktums, also in jedem Augenblick, in so viele neue reale Universen aufspaltet, wie zuvor als Möglichkeiten virtuell gegeben waren, also immer wieder unendlich viele neue Universen mit unendlich vielen Exemplaren von mir – die allerdings alle nichts voneinander wissen! Diese reichlich absurde Vorstellung wurde auch in die Kosmologie übertragen. So sind „Multiversen“ sehr modern. Wieso man glaubt, darüber Naturwissenschaft betreiben zu können, bleibt ein Rätsel. Denn da das Universum definiert werden kann als die Gesamtheit all dessen, wovon eine naturwissenschaftliche Kenntnisnahme nicht prinzipiell unmöglich sein darf, ist es notwendig eines. Dann ist das einzige, was man über die Multiversen wissen kann – und das mit absoluter Gewissheit – die Unmöglichkeit, auch nur die geringste Kenntnis über sie erhalten zu können. In meiner (TG) langen wissenschaftlichen Tätigkeit habe ich immer wieder einmal erlebt, dass kosmologische Vorstellungen mit Bildern von ewiger Wiederkehr verbunden werden – das Universum vergeht und entsteht immer wieder neu, so dass damit ein unerwünschter Anfang ausgeschlossen würde. Mit dem Schlagwort „Multiversum“ und mit den damit postulierten unendlich vielen Universen lassen sich manche unbewussten spirituellen Antriebe absättigen. Zugleich kann man dabei im Bewusstsein die höchst befriedigende Überzeugung beibehalten, aufgeklärt zu sein und deshalb nicht das Geringste mit Spiritualität oder Religion zu tun haben zu müssen. Dafür werden also Fantasien eingesetzt, die als Wissenschaft deklariert werden.
9.
Die Photonen tragen die Information des Lebendigen
Mit dem Entstehen von Elementen, die schwerer sind als Helium, wird es möglich, dass sich auch so kleine astronomische Objekte wie Planeten bilden können. Wenn diese Planeten einen günstigen Abstand zu ihrer Sonne haben, dann können sich auf diesen Lebensformen entwickeln. Ermöglichen die astrophysikalischen Bedingungen eine hinreichend lange Entwicklungszeit für das Leben, dann werden sich auch Lebewesen mit Bewusstsein herausbilden. Zwei zentrale Aufgaben der Naturwissenschaft bestehen darin, zu erklären, wie Leben aus unbelebten Vorformen und wie Bewusstsein aus nicht bewusstseinsfähigen Lebensformen entstehen kann. Mit der Protyposis wird verstehbar,
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dass die Grundstruktur der Realität eine abstrakte bedeutungsfreie Quanteninformation ist und somit beides erklärt werden kann. Die drei Erscheinungsformen der Protyposis können wie folgt klassifiziert werden: Materie ist dasjenige, was Widerstand gegen Veränderungen leistet. Energie ist diejenige Entität, die in der Lage ist, Veränderungen an Materie zu bewirken. Information wird bedeutungsvoll, wenn sie in der Lage ist, bereitgestellte Energien auszulösen. Information kann nur in instabilen Situationen wirksam werden. In stabilen Situationen ist stets ein Aufwand von Energie notwendig, um etwas zu verändern. In instabilen Situationen kann die notwendige Energie beliebig gering werden, weil dabei die Bedeutung der Information das Entscheidende ist. Lebewesen können definiert werden als thermodynamisch instabile Fließgleichgewichte, welche sich durch Information steuern und selbst stabilisieren. Steuerung hat zur Folge, dass Information, z. B. aus Gedanken und Gefühlen, wirksam ist und Veränderungen verursacht von den Molekülen bis hin zu anatomischen Strukturen. Damit erst wird naturwissenschaftlich verstehbar, dass das Bewusstsein und seine unbewusste Basis Wirkungen auf den Körper und seine Organe ausüben können. Für das Leben ist fast ausschließlich die elektromagnetische Wechselwirkung bedeutsam. Die gesamte Chemie und Biochemie beruhen auf ihr. Bis auf die Wirkungen der Schwerkraft, die eine Unterscheidung zwischen oben und unten erlauben, werden sämtliche Vorgänge in allen Lebewesen durch die Informationen gesteuert, welche reale und virtuelle Quanten der elektromagnetischen Wechselwirkung, also Photonen, als Träger haben. Im Begriff der „Erleuchtung“ wurde seit langem geahnt, dass die Photonen, von denen die Quanten des sichtbaren Lichtes nur eine einzige Oktave im Spektrum sind, dafür notwendig sind, dass einem „ein Licht aufgeht“. Die Quanteninformation der Protyposis ist primär bedeutungsfrei. In einem Lebewesen können Informationen durch den jeweiligen Kontext für dieses bedeutungsvoll werden. Dafür ist es zumeist auch notwendig, sie für eine gewisse Zeit speichern zu können. Wenn Information sowohl im Raum als auch in der Zeit lokalisiert erscheinen und auch über eine längere Zeit vorhanden bleiben soll, dann ist dafür aus physikalischen Gründen ein Träger mit Ruhmasse notwendig. Dies können ein Buch, ein Bildschirm oder auch für die Informationen der Psyche die Proteine mit ihren Faltungen, Zucker, synaptische Verbindungen im Gehirn und nicht zuletzt die Gene sein.
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Diese Träger können ihrerseits als dichtgepackte Protyposis-Bits verstanden werden, von denen ein winziger Bruchteil für den Empfänger zu bedeutungsvoller Information geworden ist bzw. werden kann. Ist die Information, die in einem Lebewesen bedeutungsvoll werden kann, an energetische Träger gebunden, also an Photonen, dann ist sie lediglich „jetzt“, aber keineswegs nur an einem Ort. Die Photonen eines Rundfunkprogrammes erzeugen ihre Wirkung nicht nur in meinem Gerät. Sie haben die Möglichkeit, an vielen Orten zugleich Wirkungen zu entfalten. Dass sie auch durch meinen Körper hindurchgehen, merke ich allerdings nicht. Dort, wo die Information der Photonen wirkt, wurden diese absorbiert und die Information auf Ruhmasse übertragen. Anderenfalls haben sie sich einen Augenblick später bereits von dieser Stelle wegbewegt. Information auf einem energetischen Träger ist also nur „jetzt“, aber nicht „hier“ an einem Ort verbleibend. Der kosmische Aspekt der Protyposis mit den Quantenbits als Grundschwingungen des Universums erfordert keineswegs, dass diese Information stets lokalisiert an einen materiellen oder an energetische Träger gebunden sein muss. In der Konsequenz folgt dann daraus, dass sie weder „hier“ noch „jetzt“ sein kann, sondern dass sie ohne einen solchen Träger gleichsam „immer und überall“ existiert.
10.
Bewusstsein ist Quanteninformation, die sich erlebt und kennt
Die Photonen sind nicht nur die Träger der Informationsverarbeitung der physiologischen Vorgänge im Körper, sondern auch die Träger von allem aktiv Psychischen, vom Bewusstsein und vom Unbewussten. Von den Trägern des Gedächtnisses, den Proteinen und Synapsenstrukturen, wird die Information auf die Photonen übertragen, um aktiv zu werden. Bekanntlich ist ein zentrales Kennzeichen des Hirntodes das Ausbleiben sämtlicher elektromagnetischer Aktivität im Gehirn. Wenn also im EEG keinerlei Photonen der Gehirnaktivität mehr messbar sind, dann ist es sehr wahrscheinlich, dass die lebendig gewesene Persönlichkeit unwiderruflich verloren ist, auch wenn beispielsweise der Kreislauf durch technische Geräte noch in Gang gehalten wird.
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Mit der Protyposis ist es möglich geworden, im Rahmen der Naturwissenschaft nicht mehr nur über das Gehirn, sondern auch über das Bewusstsein und die anderen Aspekte der Psyche sprechen zu können. Die bedeutungsvolle Quanteninformation, welche die Psyche im jeweiligen Moment ist, wird durch die Gesamtheit der Photonen getragen, welche durch die Aktivität der neuronalen Netze erzeugt wurden und die wieder auf diese zurückwirken. Für die jeweils konkrete Bedeutung sind die Herkunft der Photonen von den jeweiligen Netzarealen, also ihre räumliche und auch zeitliche Zuordnung, sowie ihre Frequenz und Polarisation bedeutsam.26
Während das „Ich“ als zentraler Organisator des psychischen Geschehens in seinem Kern verstanden werden kann als ein wesentlicher Anteil an dem individuellen Prozess, welcher die Einmaligkeit und Subjektivität der Informationsverarbeitung eines Menschen begründet,27 abstrahiert das Selbst von den Unterschieden zwischen „Ich“ und „Körper“ und erfasst somit die leib-seelische Einheit.28 Im Zusammenhang mit dem Spirituellen wird gern auf die These von C. G. Jung verwiesen: „Wo Ich war, soll Selbst werden“. Oft wird in Esoterik oder Hirnforschung der Irrtum kolportiert, dass es „kein Ich gibt“. Dabei verweist z. B. auch Jung darauf, dass nur ein voll ausgebildetes Ich sich im spirituellen Erleben „auflösen“ kann.29
11.
Meditation, Kontemplation, Gebet
In der Literatur finden sich vielfach Erwägungen, welche hirnphysiologische Basis und welche evolutionären Vorteile im Sozialen das Spirituelle möglicherweise haben kann. Während man aber sonst nicht genug über die evolutionär so gut angepassten Beziehungen des Psychischen zur Realität reflektieren kann, ist es doch ein interessanter Aspekt, dass Überlegungen über Beziehungen der spirituellen Erfahrungen auch zur ontologischen Realität tunlichst vermieden werden. Mit der Protyposis kann nicht nur beschrieben, sondern auch erklärt werden, wie die aus der Erfahrung gespeicherten Informationen mit den Emotionen und dem Geistigen zusammenwirken. So kann die Einheit von Körperlichem und Seelischem, von Rationalem und Emotionalem, wieder in eine vernünftige Mit-
26 27 28 29
Görnitz, Th. & B., Evolution, Kap. 6.4. A.a.O, Kap. 13.6. A. a. O., Kap. 13.6.1. Jung, Geleitwort, 32f.
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telstellung gebracht werden. Das Zulassen einer solchen Einheit ist eine Voraussetzung für spirituelle Erfahrungen. Kontemplation, Meditation und Gebet beruhen bei aller Differenz gemeinsam auf einer anderen Weise der Informationsverarbeitung als das normale Alltagsgeschehen. Dass die meditative Versenkung bis zu anatomischen Veränderungen führt, zeigen Untersuchungen aus dem Bereich der Hirnforschung auf. In der Versenkung kann es um Konzentration auf bestimmte Inhalte gehen und darum, alle internen geistigen bewussten Vorgänge von Bewertungen und von einem Faktensetzen auszuschließen oder auch um ein Offensein für das, was sich mir vor meinem gefühlhaften Erfassen und inneren Auge zeigen wird. Der Zen-Meister, Jesuit und Hiroshima-Überlebende H. Enomiya-Lassalle verweist darauf,30 dass es in der Versenkung darum geht, Sinneseindrücke auszuschalten. Naturwissenschaftlich ist dazu festzustellen, dass die meditative Grundhaltung einen gewissen Abstand von den äußeren Umständen des Handelns wahren muss. Ein Rekurrieren über die Sinnesorgane auf die lokalen Fakten unterbricht durch deren Bewertungen ständig die quantischen Bewusstseinsprozesse. Eine innere Sicht auf die quantische Information der „Einheit“ erfordert, in diesem Vorgang auch eine rational reflektierende Vernunft mit ihren Bewertungen auszuschließen. Dies erklärt auch die Veränderungen im Zeitempfinden. Das lange Üben, sich nicht durch Äußeres ablenken zu lassen, kann dann im Alltag wiederum die Konzentration auf das zu Erledigende erleichtern.31 Jahrtausendealte Erfahrungen verweisen darauf, dass Übungen und Rituale hilfreich sein können. Rituale sind zwar von außen gesehen Handlungen, aber wegen ihres ritualisierten Ablaufes erfordern sie keine faktischen Reflexionen im Bewusstsein. Ein rituelles oder übendes Geschehen kann daher einen tranceähnlichen Zustand bewirken. Sammlung und Versenkung kann bei gleichzeitiger Offenheit erreicht werden. Im therapeutischen Rahmen könnte dem die „gleichschwebende Aufmerksamkeit“ der Therapeutin nahekommen. Der Raum der ganzheitlichen Erfassung wird vergrößert und erweitert. Mehr quantische Wahrnehmungen verbleiben und weniger Fakten werden erzeugt. Die Nichtlokalität in Raum und Zeit, die ein zentrales Kennzeichen der Quantentheorie ist, kann dann in solchen Bewusstseinszuständen leichter wirksam werden. Aus der Theorie und auch aus Experimenten ist bekannt, dass sich Quantensysteme in Zuständen befinden können, in denen sie als ausgedehnte und 30 Enomiya-Lassalle, Zen, 53ff. 31 A. a. O., 56f.
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trotzdem teilelose Ganzheiten verstanden werden müssen (verschränkte oder kohärente Zustände). Dies trifft besonders auf Systeme von Quanteninformation zu und ermöglicht einen Zugang zu Transzendenzerfahrungen, welche die räumlich und zeitlich lokalisierten Situationen übersteigen, da sie von einer Trennung davon durch das Setzen von Fakten Abstand nehmen. Konzentration oder Übung kann die Möglichkeit erhöhen, dass jemandem solches widerfährt. Wenn der Eindruck vermittelt wird, als könnten derartige Erfahrungen so wie ein Faktum herbeigeführt werden, so ist dies ein deutlicher Hinweis auf fehlende Seriosität. Aus der Quantentheorie ist bekannt, dass es prinzipiell unmöglich ist, ein unbekanntes Quantensystem in einem Schritt in einen erwünschten Zustand zu versetzen. Man kann lediglich Bedingungen schaffen, die das Eintreten eines solchen Zustandes ermöglichen, muss aber dann warten, wann oder in welchem Experimentierschritt dies tatsächlich geschehen wird. Für das Nachdenken über Spiritualität gibt es einen wichtigen Aspekt der Protyposis, der die Grenzen der Naturwissenschaft zu überschreiten scheint. Wir wissen, dass nach unserem Tod kein Atom unseres Körpers aus dem Kosmos verschwindet. In gleicher Weise entschwindet auch kein Bit der Quanteninformation unserer Psyche aus dem Kosmos. Allerdings lösen sich die Strukturen auf, welche Leib und Seele verbunden hatten. Manche spirituellen Erfahrungen verweisen darauf, dass die These z. B. der naturalistischen Philosophie wohl neu überdacht werden muss, es bliebe dann nur das „reine Nichts“.
12.
Evangelische Spiritualität
Luthers reformatorische Einsicht, dass ich den gnädigen Gott nicht durch eigene Kraftanstrengungen erzwingen kann, sondern dass er sich mir frei schenkt, ist für das Verstehen von evangelischer Spiritualität weiterhin bedeutsam. Eine Nichterzwingbarkeit eröffnet sich auch beim Blick auf andere Kulturen. So kann man beispielsweise von Mönchen lesen, die jahrzehntelang meditieren, ohne dass ihnen ein Satori-Erlebnis zuteilwird. Allerdings ist dazu anzumerken, dass Spiritualität keineswegs nur auf mystische Höhepunktserlebnisse beschränkt ist. Auch im Lied, in der Liturgie und im Gebet kann spirituelles Erleben geschenkt werden. Allerdings klingt z. B. wie in manchem evangelischen Kirchenlied noch sehr vieles mit, was in unserer nachaufklärerischen Zeit den meisten Menschen in Verbindung mit ihren naturwissenschaftlichen Vorstellungen als nicht mehr akzeptierbar erscheint und einen Trennungsschritt mitbewirken kann. Eines der Probleme, welches viele Menschen haben, ist die Vorstellung eines persönlichen Gottes. Dies mag auch darin begründet sein, dass die dazugehörigen Bilder zumeist überaus anthropomorph vermittelt werden.
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Der Begriff der „Persönlichkeit“ kann definiert werden als die Möglichkeit, über die eigenen geistigen Vorgänge reflektieren zu können. Wenn der Kosmos aus naturwissenschaftlicher Sicht im Grunde als „geistig“ aufgefasst werden kann, dann ist notwendigerweise einer der vielen und uns als Antinomien erscheinenden Aspekte des Göttlichen – wenn dieser Begriff überhaupt einen Sinn haben soll – derjenige der Persönlichkeit. An diesen Zusammenhängen zeigt sich, dass die notwendige Verarbeitung der Naturwissenschaften – so wie sie von Dietrich Bonhoeffer aufgezeigt worden ist – eine große Aufgabe für die evangelische Theologie bedeutet. Naturwissenschaft beschreibt sehr gut die Entitäten und Vorgänge innerhalb von Raum und Zeit, jedoch nicht die Gründe für die Existenz von Raum und Zeit. Bezüglich der Existenz des Seienden kann man dessen Beginn von der Zeit t=0 nach t=-∞ transformieren – was die Fragestellung nach dem Grund des Seienden jedoch nicht beantwortet, sondern lediglich verdeckt. Oder man nimmt diesbezüglich eine agnostische Haltung ein. Als dritte Möglichkeit kann man sich – philosophisch gesprochen – für die Transzendenz öffnen. Wenn man das mit der naturwissenschaftlichen Einsicht verbindet, dass der tiefste Grund des Seins besser mit dem Begriff des Geistes als mit dem der Materie gekennzeichnet wird, dann entsteht dadurch die Möglichkeit, offen zu werden für die philosophische und theologische Aussage: Gott ist Geist. Innerhalb des kosmischen Geschehens ist die Menge der Fakten zu jeder Zeit endlich, während es zu allen Zeiten unendlich viele Möglichkeiten gibt. Wenn also die Vorstellungen von Transzendenz überhaupt einen Sinn besitzen, so werden sie auf jeden Fall mit der Unendlichkeit verbunden sein. Damit eröffnet sich im Evangelischen eine Annäherung an die Vorstellungen Schleiermachers, welche das Göttliche mit dem Unendlichen verbinden. Es ergibt sich damit eine sehr abstrakte Vorstellung über das Göttliche, welches als den Kosmos umfassend und zugleich diesen in sich enthaltend gedacht werden muss. Aus dieser Sicht würde eine pantheistische Gleichsetzung von Gott mit Natur zu kurz greifen.
13.
Fazit
Die moderne Quantentheorie lässt erkennen, dass die Grundlage der Wirklichkeit eine Beziehungsstruktur ist, die als „geistig“ bezeichnet werden kann, da sie eine Informationsstruktur ist. Die Protyposis zeigt auf, wie sich eine abstrakte Quanteninformation schließlich bis zu Lebewesen und zu Bedeutung ausformen kann. Die dabei unvermeidlichen Paradoxien haben bereits seit dem frühen Judentum zu der Forderung geführt: „Du sollst dir kein Bildnis machen“.
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Die positiv besetzte Beziehungsstruktur formt sich als Liebe aus. „Liebe deinen Nächsten wie dich selbst“ ist als ethische Norm nicht aufs Religiöse beschränkt. In spirituellen Erlebnissen kann sich diese Beziehung über den sozialen Bereich hinaus ausdehnen. Gefühle sind eine quantische Information, die ausgedehnt über den ganzen Körper wirksam ist. Die Grenzen des Eigenen können in der Versenkung wie auch im Gebet überwunden werden. Erweitert sich im spirituellen Erleben der Möglichkeitsraum, dann werden Veränderungen im Handeln folgen. Auch hierbei ist wie bei der Schichtenstruktur eine Dynamik zwischen erlebter spiritueller Erfahrung und den sich ergebenden Fakten erkennbar. Die Einheit der Wirklichkeit kann nicht mehr nur vorgestellt oder gefühlt werden, sie ist auch naturwissenschaftlich fassbar geworden. Die Protyposis als die Grundlage der Realität ist zugleich das Abstrakteste, was gedacht werden kann. Einem Qubit kann man außer der Möglichkeit seines Seins keine einzige weitere Eigenschaft zuordnen. Zugleich eröffnet die monistische Struktur der Protyposis durch die Vermehrung ihrer Qubits und die damit bewirkte Gestaltbildung alle die Möglichkeiten, die im Universum existieren können. Spiritualität ist primär nicht konfessionell, nicht einmal religionsspezifisch. Mit der Protyposis wird verstehbar, dass es eine naturwissenschaftliche Basis gibt, die auf einen universalen Aspekt der Wirklichkeit verweist, der aller Spiritualität zugrundeliegt. Jedoch die Beschreibungen und die religiösen Deutungen sind jeweils sehr spezifisch und können sich wesentlich unterscheiden. In Paradoxien oder in Metaphern wird noch deutlich, dass sie einen notwendigen Interpretationsspielraum beinhalten. Paradoxe Sprechweisen zeichnen im Übrigen auch andere zentrale Aussagen über den Menschen aus: „Ein Christenmensch ist ein freier Herr über alle Dinge und niemand untertan. Ein Christenmensch ist ein dienstbarer Knecht aller Dinge und jedermann untertan“.32 Je konkreter allerdings die religionsspezifischen Aussagen und die Vorstellungen über die Welt und das Transzendente werden, desto mehr tritt der universelle Aspekt in den Hintergrund. Ein Qubit ist – wenn überhaupt – eher mit unseren Gedanken als mit unserem Körper vergleichbar. Die Grundlage der Realität kann also durch die moderne Quantentheorie als etwas eher Geistiges verstanden werden. Eine Metapher, die das zum Ausdruck bringt und natürlich den Rahmen der Naturwissenschaft übersteigt, wäre: Die Realität, das sind die Gedanken Gottes. 32 Luther, Freiheit.
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Georg Gremels
Spiritualität und Ehe „Wiewohl mir grauet und ich nicht gern vom ehlichen Leben predige, darum, dass ich besorge, wo ich’s einmal recht anrühre, wird mir’s und anderen viel zu schaffen geben“. (Martin Luther, Vom ehelichen Leben)1
Vorbemerkungen Spiritualität ist für mich sprachlich und sachlich eng mit dem lateinischen Begriff spiritus – dem Geist, der Gott ist (Joh 4,24) – verbunden. Ich bestimme sie daher als eine Geisteshaltung, die nach lebendigen Geisterfahrungen sucht und durch sie erfüllt wird. Sie ist damit ein Beziehungsgeschehen zwischen dem Geist, der Gott ist, und dem Geist, der ich bin, das auf beiden Seiten durch Sehnsucht und Erfüllung bestimmt ist. Mir ist bewusst, dass mit der Spiritualität selbst eine komplexe Begriffsgeschichte verbunden ist.2 Spiritualität und Ehe: Damit öffnet sich ein weites Themenfeld, das mich zu Präzisierungen nötigt. Impulse zur spirituellen Praxis in Ehe und Familie fehlen weitestgehend. Sie gehören in den dritten Band dieser Reihe.3 Ich werde einer Spiritualität der Ehe am Leitfaden lutherischer Theologie nachgehen. Weder die breite Tradition evangelischer Eheverständnisse noch die Fülle ihrer wirkungsgeschichtlichen Entfaltungen können hier berücksichtigt werden. Dabei beschränke ich mich vor allem auf Luthers eigene Äußerungen zur Ehe, um deren spirituelle Dimension zu entfalten und bis in die Gegenwart hinein auszuziehen. Das schließt die – für ihn typische – streng auf der biblischen Offenbarung gründende Orientierung ein. 1 WA 10, II, 275,1–3; zitiert nach Luther 13. 2 Zum Begriff der Spiritualität vgl. Köpf, Spiritualität; EKD, Spiritualität; Zimmerling, Evangelische Spiritualität. 3 Dazu könnte die Rolle der Losungen, Kalender wie die Feste Burg oder der Neukirchner, die der Tischgebete, des Gesangbuches und Luthers Morgen- und Abendsegen gehören. Insbesondere nenne ich Luthers Schrift Wie man beten soll, in der er eine spirituelle Praxis für seinen Barbier (1536) entfaltet (WA 38,358–375), vgl. Köpf/Zimmerling, Meister Peter.
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Georg Gremels
Luther bestimmt die Ehe in drei Grunddimensionen: erstens als Schöpfung, zweitens als „Orden“ und „weltliches Ding“ und drittens als Liebesgemeinschaft. Dem will ich in drei Hauptkapiteln nachgehen. Noch eine letzte Bemerkung dazu: Die heutige Liebesehe setzt sich als Hauptform der Ehe seit der Romantik immer weiter durch. Die Liebe ist der tiefste Grund, warum sich zwei Menschen für eine Ehe entscheiden.4 Vieles von dem, was Luther rund fünfhundert Jahre zuvor wichtig war, kann daher in seiner Nüchternheit heute befremden.
1.
Spiritualität der Ehe als Schöpfungswirklichkeit
Die lutherische Verwurzelung der Ehe in der Schöpfung kommt in Luthers Schrift Vom ehelichen Leben (1522) klar zum Ausdruck (WA 10, II, 275,14–18; Luther 13): „‚Gott schuf den Menschen, daß er ein Männlein und ein Fräulein sein sollt‘ (1. Mose 1,27). Aus dem Spruch sind wir gewiß, daß Gott die Menschen in die zwei Teil geteilet hat, daß es Mann und Weib oder ein Er und Sie sein soll. Und das hat ihm also gefallen, daß er’s selbst ein gut Geschöpfe nennet“.
Menschen gibt es grundsätzlich in der Zweigeschlechtlichkeit von Mann und Frau, von zahlenmäßigen Ausnahmen einmal abgesehen, die gleichwohl die gegenwärtige Diskussion stark bestimmen. Der Fortbestand der Menschheit beruht auf dieser geschlechtlichen Verschiedenheit (WA 10,II , 276,9 … 26; Luther 14; Hervorhebung von mir): „Da er Mann und Weib gemacht hatte, segenet er sie und sprach zu ihnen: ‚Wachset und mehret euch‘ (1. Mose 1,28). Aus dem Spruch sind wir gewiß, daß Mann und Weib sollen und müssen zusammen, daß sie sich mehren. […] Denn dies Wort […] ist […] mehr denn ein Gebot, nämlich ein göttlich Werk, das nicht bei uns stehet zu verhindern oder nachzulassen […] Es ist eine eingepflanzte Natur und Art eben so wohl als die Gliedmaßen, die dazu gehören“.
Mannsein und Frausein gehören somit zum guten Werk göttlichen Schaffens. Die Kinder aus der Vereinigung beider sind ebenfalls ein Werk Gottes.5 Menschen 4 Schenk, Ehe, schildert das bunte Bild verschiedener Eheverständnisse und ihrer Entwicklungen, beispielhaft schon bei den Germanen (40): „Die Germanen kannten die ‚Muntehe‘ (die in etwa der römischen manus-Ehe entsprach), daneben die muntfreie ‚Friedelehe‘ und schließlich die nicht vollwertige ‚Kebsehe‘. […] (D)die undotierte muntfreie Friedelehe […] beruhte auf der persönlichen Zuneigung von Mann und Frau und kam durch individuelle Übereinkunft zustande“. Zum Siegeszug der Liebesehe seit der Romantik vgl. 123–236; dort insbesondere auch die Gefährdungen der Ehe durch die Liebe. 5 Durch die modernen Verhütungsmittel wird dieser ehemals viel engere Zusammenhang von
Spiritualität und Ehe
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erleben in Ehe und Familie ihre Geschöpflichkeit (Natur) und erfahren darin, wie Gott durch sie hindurch wirkt. Evangelische Spiritualität in der Ehe ist daher ein Spezialfall einer Spiritualität der Natur.
1.1
Geschlechtlich-natürliche Neigung
Mit der Geschlechtlichkeit stehen wir sogleich mitten in dem weiten Feld natürlicher Liebe. Frau und Mann ziehen einander an. Das beginnt im Körperlichen, geht über das Seelische bis hin zum Geistigen. Alles gehört schöpfungsgemäß zum einen Menschsein. Darauf weist Werner Elert hin: „Gott sorgt, sagt Melanchthon in der Apologie, für die Durchführung seiner Absichten, indem er dem Menschen die Στοργή ϕυσική (die zärtlich-natürliche Liebe) einpflanzt“.6 Bei Luther findet sich eben diese Hochschätzung natürlicher Liebe, wie sie beispielhaft bei seiner Auslegung der Jakobsgeschichte zum Ausdruck kommt (zu Gen 29,9–12): „Dann sofort, auf den ersten Blick, entbrennt seine Liebe, und natürliche Neigung (Στοργη ϕυσικη!) gegenüber seiner Verwandten kommt zur Geltung. So wurden sein Leib und seine Seele stärker belebt von dem zweifachen Impuls von Glaube und Liebe. Er wollte sich nämlich männlich, robust und agil zeigen, um das Herz des Mädchens zu fangen und sie anzureizen, ihn lieb zu gewinnen. Und dies sind nur natürliche Dinge, sie werden aber vom Heiligen Geist aufgeschrieben, damit niemand denke, sie seien schändlich oder unehrenhaft“.7
Die spirituelle Dimension geschöpflicher Liebe thematisiert Walter Schubart in seinem Buch Religion und Eros unter dem Begriff der Schöpfungswonne.8 Sie macht die spirituelle Erfahrung natürlicher Liebe aus.
Sexualität und Fortpflanzung gelockert, ja, gelöst. Dennoch gilt weiterhin: Kein Mensch ist ohne die Vereinigung eines Mannes und einer Frau entstanden. 6 Elert, Ethik 125 (vgl. nächste Anmerkung): Die „natürliche Neigung (Στοργή ϕυσική)“ stammt aus Luthers Genesisvorlesung (WA 43,622,37). Vgl. Melanchthon in der Apologie XXIII,7 (BSLK 334f): „Und das ist Gottes Geschöpf und Ordnung, dass der Mann zum Weib geneigt sei, das Weib zum Mann. So nun die göttliche Ordnung und die angeschaffene Art niemands ändern mag noch soll, denn Gott selbst, so folget, daß der Ehestand durch kein menschlich Statut oder Gelübde mag abgetan werden“. 7 Diesen Hinweis verdanke ich Volker Keding, vgl. ders., Gottes Geist erfahren am ganzen Menschen; vgl. WA 43,622,36–623,4 (vgl. Walch2 II, 477; Hervorhebung von mir). 8 Schubart, Eros, 24: „Schöpfungswonne ist ein religiöses Gefühl. Die Schönheit und Fruchtbarkeit des Werdens überwältigt den Menschen und wirft ihn zur Anbetung nieder“.
114 1.2
Georg Gremels
Spiritualität der Natur: Schöpfungswonne und Endlichkeitserfahrung
Spirituelle Erfahrungen in Liebe und Ehe erleben Menschen allerdings – beispielhaft am Wahrnehmen der Sexualität – in höchst widersprüchlicher Weise: Die französische Umschreibung für den Orgasmus „la petite mort, d. h. der kleine Tod“, spiegelt beispielhaft die enge Zusammengehörigkeit von Lust und „Frust“, von intensiver Lebens- und Todeserfahrung wider. Darin verdichtet sich die Erfahrung aller Natur, die in der polaren Spannung von Werden und Vergehen existiert. Eine Spiritualität der Natur gründet daher einerseits im Staunen über das Wunder der Liebe. Wer über die Schönheit des anderen, das Glück der Vereinigung, das Werden und Wachsen neuen Lebens staunen kann, erhebt gleichsam sein stilles Gebet zu dem, der das alles werden, ja, mir zuteil hat werden lassen. Voller Lust und Freude können wir solche „Schöpfungswonne“ erleben.9 Andererseits gehört auch ein Sich-Einlassen auf ihre schwer erträgliche Wirklichkeit zur Spiritualität der Natur: Je tiefer Menschen diese Natur erleben, desto schmerzhafter werden sie auch ihre Täler und Tiefen erfahren müssen. Niemals werden zwei verschiedene Menschen ganz eins werden. Niemals gibt es Liebe ohne Leiden, niemals höchstes Glück ohne Erfahrungen der Leere und der Abgründigkeit. Solchen Leid- und Todeserfahrungen begegnet der Glaube mit der Hoffnung auf die Auferstehung von den Toten. Eine Spiritualität der Ehe erfordert daher neben dem fröhlichen Einlassen auf die beglückenden Erfahrungen der Liebe ebenso – christologisch gesprochen – die Bereitschaft zur Kondeszendenz, zum Einlassen in ihre Endlichkeit, die auch das Sterbliche und Leidvolle umfasst und bejaht.
1.3
Die „erbsündliche“ Verdüsterung auch ehelicher Liebe
Aus dem Scheitern aller klösterlichen Bemühungen Luthers, Gott aus eigener Kraft gerecht zu werden, erwächst sein tiefes Wissen um die Fehlbarkeit jedes Menschen in jedem Bereich des Lebens, also auch in der Liebe. Daher kann er die „Erbsünde“ (CA II!) nicht von der Reinheit natürlicher Erfahrungen trennen. In seiner sonst so durch und durch positiven Schrift Vom ehelichen Leben (1522) hält er doch noch mit einem letzten, kurzen Absatz auch diese Dimension menschlicher Fehlbarkeit fest (WA 10, II, 304,6–12; Luther 44):
9 Wenn auch nicht über die Ehe, so doch über die Natur dichtet Paul Gerhardt EG 503,5; Geh aus mein Herz …: „Die Wiesen liegen hart dabei und klingen ganz vom Lustgeschrei der Schaf und ihrer Hirten“ oder (7) „Der Weizen wächset mit Gewalt, darüber jauchzet jung und alt“.
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„Aber mit all diesem Preis des ehlichen Lebens will ich nicht der Natur zugegeben haben, daß keine Sünde da sei, sondern ich sage, daß Fleisch und Blut, durch Adam verderbt, in Sünden empfangen und geboren wird, laut des 50. Psalms (Ps. 51,7), und daß keine Ehepflicht ohn Sünd geschieht. Aber Gott verschonet sie aus Gnade darum, daß der ehliche Orden sein Werk ist und behält auch mitten und durch die Sünde hindurch all das Gut, das er darein gepflanzt und gesegnet hat“.
Luther wollte und musste die bleibende Macht der Erbsünde in seiner Zeit so herausheben, um dem absoluten Vorrang von Gottes Wirken vor jedem eigenen, nicht durch den Geist Gottes gewirkten Werk festzuhalten. Sie betrifft zwar alle menschlichen Taten. Sie steht aber in Gefahr, angesichts ihrer Fokussierung auf die Geschlechtlichkeit alle anderen Verfehlungen zweitrangig erscheinen zu lassen. Leider verdüsterte sich die gebotene Hochschätzung natürlicher Spiritualität der Liebe zusätzlich durch das Missverständnis, diese Sünde werde mit dem Geschlechtsakt übertragen. Das wird auch hinter der Vorstellung von der unbefleckten Empfängnis Mariens stehen. Dieses lang tradierte Missverständnis kann in der Bindung der Fehlbarkeit des Menschen an die Sexualität gegenwärtig nicht mehr übernommen werden. Nein, im Menschsein des Menschen liegt seine Fehlbarkeit, ohne Ausnahme. Es ist das Phänomen der Freiheit, die mit dem Bewusstsein des Menschen gegeben ist. In ihr liegt die Bedingung der Möglichkeit sich zu verfehlen, weder in den Trieben noch in irgendeiner anderen menschlichen Handlung und Haltung.10 Das weit verbreitete Missverständnis der Erbsünde erklärt m. E. auch die überstarke Betonung sexuell-erotischer Verfehlungen mit ihrer Fokussierung auf das sechste Gebot. Doch sei zur Ehrenrettung dieser so grundlegenden Einsicht der Reformation in Kürze dargelegt, wie diese Erbsünde sich heute auswirken könnte: Der Wunsch jedes Menschen geht dahin, das zwischen Glück und Leid schwingende Pendel der Natur auf der beglückenden und erfüllenden Seite festzuhalten. Das gilt auch für das Liebesleben von Mann und Frau. Sobald jedoch die leidvollen Seiten ausgespart und die beglückenden mit Gewalt festgehalten werden sollen, kann sich ein natürlicher Umgang mit der Liebe in einen missbräuchlichen verkehren. Dann können Ausnutzung und Verzweckung der Natur, der Liebe des Partners oder der eigenen drohen. Die starke Konzentration der Kirche auf die Gefahren, ja, Entgleisungen im Umgang mit der Liebe mochten ihr das Thema natürlicher Spiritualität für lange Zeiten verschlossen haben. Sexualfeindlichkeit, Erotikfeindlichkeit und Leibfeindlichkeit haben sich daher tief in ihre Geschichte eingegraben. Dem hält Schubart die religiöse Dimension des Geschlechtlichen entgegen und will damit den Gegensatz von Religion und Eros überwinden. Das ist eine unverzichtbare Vorbedingung für eine Spiritualität der Ehe in ihrer Natürlichkeit (Eros, 7): 10 Vgl. dazu Kierkegaard, Angst, 17–22.
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„Das Religiöse und das Geschlechtliche sind die beiden stärksten Lebensmächte. Wer sie für ursprüngliche Widersacher hält, lehrt die ewige Zwiespältigkeit der Seele. Wer sie zu unversöhnlichen Feinden macht, zerreißt das menschliche Herz. Und es ist zerrissen worden!“
Hier sei daran erinnert, dass für Luther die Ehe schon im Paradies gestiftet wurde und daher grundsätzlich jenseits des Sündenfalls steht. Die natürliche, ganzheitliche Liebe als Quelle ihrer Spiritualität zu entdecken und zu leben, ist die gegenwärtige Herausforderung.
2.
Die Ehe als „Orden“ und „weltlich Ding“
Luther kann sich der Ehe als einer von Gott gestifteten, zugleich weltlichen Einrichtung deswegen so frei zuwenden, weil er sich zutiefst von der Rechtfertigung getragen weiß.
2.1
Die Ehe als göttlicher „Orden“
Gegenwärtig werden spirituelle Erfahrungen vor allem in Klöstern und Meditationszentren gesucht. Befremdlich muss daher der Versuch erscheinen, die Ehe als besonderen Ort der Spiritualität entdecken zu wollen, wiewohl jene sich bei Luther höchster Wertschätzung erfreut (Traubüchlein für die einfältigen Pfarrherrn. 1529): „Denn obwohl (der Ehestand) ein weltlicher Stand ist, hat er dennoch Gottes Wort auf seiner Seite und ist nicht von Menschen erdichtet oder gestiftet wie der Stand der Mönche und Nonnen. Darum soll er geistlich auch hundert Mal wertvoller geschätzt werden als der Stand der Klosterleute“.11
Die Hochschätzung der Ehe durch einen von klösterlicher Überfremdung befreiten Luther lässt sich so gar nicht mit der gegenwärtigen Suche nach Spiritualität in Klöstern und spirituellen Meditationszentren zusammenfügen. Er schätzt diesen „Orden“ bzw. „ehelichen Stand“, höher ein als alle anderen Stände: „Darümb habe ich immerdar gelehret, daß man diesen Stand nicht verachte […], sondern nach Gottes Wort ansehe, damit er geschmückt und geheiligt ist, also daß er nicht allein andern Ständen gleich gesetzt ist, sondern vor und über sie alle gehet, es seien Kaiser, Fursten, Bischofe und wer sie wollen“.12 11 WA 30, III, 75,15–19, Übertragung in heutiges Deutsch von mir. Vgl. auch Gr. Kat. 4. Gebot, 126 (BSLK 529): „Denn Gott hat diesen Stand obenan gesetzt, ja an seine Statt auf Erden gestellet“. 12 BSLK 613, Gr. Kat. 6. Gebot (209).
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Trotz seiner Hochschätzung der Ehe käme gegenwärtig wohl kaum ein Mensch auf die Idee, seine Spiritualität in der Ehe zu suchen. Dazu kommt noch ein Weiteres: Die Rede vom Ehestand ist in einer Zeit, in der sich die ständische Gesellschaftsordnung überholt hat, fragwürdig geworden. Zwar spricht man noch vom „Stand der Ehe“ und nennt die staatliche Behörde das Standesamt. Aber längst hat sich das Eheverständnis dynamisiert und wird – wenn überhaupt – durch die Kraft der Liebe, nicht aber durch den Stand, schon gar nicht als einem „Seinsgefüge“, zusammengehalten.13 Dennoch: Wie könnte der Stand der Ehe, den Luther so entschieden ins Zentrum rückt, zu einer Spiritualität der Ehe beitragen? Das Wohlgefallen Gottes ist es, das diesen Stand für ihn so sehr auszeichnet (WA 10, 2, 294,32f; Luther 34): „Nun sage mir, wie kann ein Herz größeres Gut, Fried und Lust haben denn in Gott, wenn es gewiß ist, daß sein Stand, Wesen und Werk Gott gefället“? Insofern jeder spirituelle Mensch die Nähe Gottes sucht, ist er doch immer schon darauf aus, das Wohlgefallen Gottes zu gewinnen. Da liegt es nahe zu meinen, auf dem Schriftforschenden, dem Betenden, dem Meditierenden ruhe Gottes besonderes Wohlgefallen, denn sie wenden sich ihm mit ganzer Aufmerksamkeit zu. Dagegen scheinen die mit natürlichen und weltlichen Geschäften Befassten bildlich gesprochen Gott ihren Rücken zuzuwenden. Das könne doch, so ein ganz spontanes Lebensgefühl, dem spirituellen Wachstum nicht förderlich sein. Von daher wird die Hierarchie verständlich, die in der katholischen Kirche zwischen den weltlichen Ständen und dem Stand der Ehelosen herrscht. Luther geht gegen beides an, die Spiritualität gesetzlich zum Weg der Gottesannäherung zu verklären und dem weltlichen Tun die spirituelle Dimension nehmen zu wollen. Was könnte ihm nach den Ehestand – und eine Ehe heute – spirituell so wertvoll machen? Auf die Verteidigung des damals normalerweise gering geachteten Ehestandes bedacht – schließt er (WA 10, 2, 297,16–19; Luther 37): „Das sag ich darum, daß wir lernen, wie gar ein edles Ding es ist, wer in dem Stand ist, den Gott eingesetzt hat, und darinnen Gottes Wort und Wohlgefallen ist, dadurch alle Werk, Wesen und Leiden solchen Stands heilig, göttlich und köstlich werden […]“.
Ich greife Luthers Werkbegriff heraus: Gott wirkt, er schafft durch Mann und Frau hindurch neue Menschen. Das Wohlgefallen Gottes ruht auf solchem Wirken der Ehepartner. Die Ehe wird so zum Raum schöpferischer Spiritualität. Das gilt zunächst ganz wörtlich für die Ehe als Zeugungsgemeinschaft (WA 10, 2, 276,26–28, Luther 14): „Drum, gleich wie Gott niemandem gebietet, daß er Mann
13 Elert, Ethik, 112f.
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sei oder Weib, sondern schaffet, daß sie so müssen sein, also gebietet er auch nicht, sich zu mehren, sondern schafft, daß sie sich müssen mehren“.14 In der Ehe haben zwei Menschen am Schöpfungswerk Gottes teil, genauer, das Schaffen Gottes geht durch sie hindurch: „Ein Christ gleicht einer Röhre, durch welches Wasser fließt, durch das Gott gleichsam wie mit einem Instrument allen Gutes tun und sein Werk und Willen durch sie treibt“.15 Auch wenn der Vergleich einer lebendigen Person mit einer Röhre etwas ungewöhnlich klingt, wird doch der Sinn des Gleichnisses klar: Die göttliche Energie, ja, der gestaltende, göttliche Geist geht durch einen Menschen, im Falle der Ehe durch zwei Menschen hindurch und bringt Neues hervor. Auf die Spiritualität ausgezogen, erfahren zwei Menschen in ihrer Ehe diese schöpferische Spiritualität. Nirgends wird die Einswerdung in der Ehe so sinnenfällig wie in dem Kind, das aus der Vereinigung beider hervorgeht. Doch geht die schöpferische Spiritualität weit darüber hinaus, insofern zwei Partner im gegenseitigen Austausch, im Gestalten und Ausbilden ihres Lebensraums Neues in die Welt bringen. Sie „inspirieren“ sich gegenseitig. Nach Luther macht es das Besondere einer ehelichen Spiritualität aus, solche Inspiration nicht nur als ein innerweltliches Phänomen zu erleben, sondern sich von Gott durchströmt zu wissen. Doch auch auf der Erziehung zur Welttüchtigkeit ruhe Gottes Wohlgefallen (WA 2, 169,38–170,7; Luther 8): „Aber das solln die Eheleut wissen, daß sie Gott, der Christenheit, aller Welt, sich selbst und ihren Kindern kein besser Werk und Nutz schaffen mögen, denn daß sie ihre Kinder wohl aufziehen. Es ist nichts mit Wallfahrten gen Rom, gen Jerusalem, zu Sankt Jakob. Es ist nichts Kirchen bauen, Messe stiften oder was für Werk genannt werden mögen, gegen dieses einzige Werk, daß die Ehelichen ihre Kinder ziehen, denn dasselbe ist ihre gerichtste Straß gen Himmel, können auch den Himmel nicht näher und besser erlangen denn mit diesem Werk. Es ist auch ihr eigen Werk, und wo sie sich desselben nicht befleißigen, so ist es gleich ein verkehret Ding als wenn Feuer nicht brennet, Wasser nicht netzet“.16
Die Ehe als Hort schöpferischer und bildender Spiritualität: Dieses Tor für ein neuzeitliches Verständnis der Zweierbeziehung hat Luther aufgestoßen. Der Reformator weiß allerdings, wie leicht eine solche, aus dem Glauben hervorge-
14 Vgl. dazu WA 10, II, 276,22; Luther14: „[…] ein göttlich Werk […]“. 15 Übersetzt von mir; WA 17, 1, 265,3–5 (Predigt am Pfingsttage): „Christianus est similis einer roren, per quam fluit aqua, per quem vult deus velut instrumento bene fieri omnibus et opus suum per eos et voluntatem agit […]“. 16 Vgl. WA 2, 170,28f; Luther 9: Es sei für jeden Ehepartner höchst notwendig, dass er „sein Kind nicht anders achte denn als einen köstlichen, ewigen Schatz, der ihm von Gott befohlen sei zu bewahren […]“.
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hende geistliche – spirituelle – Haltung egoistischen Überlegungen weichen kann (WA 10, 2, 295,16–22; Luther 34f): „Nun siehe zu, wenn die kluge Hure, die natürliche Vernunft (welcher die Heiden gefolgt haben, da sie am klügsten sein wollten), das ehliche Leben ansiehet, so rümpft sie die Nase und spricht: ‚Ach, sollt ich das Kind wiegen, die Windeln waschen, Betten machen, Gestank riechen, die Nacht wachen, seines Schreiens warten, seinen Grind und Blattern heilen, darnach des Weibs pflegen, sie ernähren, arbeiten, hier sorgen, da sorgen hier tun, da tun, das leiden und dies leiden, und was denn mehr an Unlust und Mühe der Ehestand lehret […]‘“.
Eine dunkle Seite tut sich auf, wenn die Lasten und Leiden der Ehe vermieden und verachtet werden. Dagegen wendet sich die schon erwähnte, andere Dimension lutherischer Spiritualität, die in der Herablassung Gottes, in seiner Menschwerdung und seiner Einwilligung ins Leiden begründet ist und sich selbst in die Begrenztheit irdischer Existenz hinabsenkt (WA 10, 2, 295,27–296,2f; Luther 35) „Was sagt aber der christlich Glaube hiezu? Er tut seine Augen auf und siehet alle diese geringen, unlustigen, verachteten Werk im Geist an und wird gewahr, daß sie alle mit göttlichem Wohlgefallen als mit dem köstlichsten Gold und Edelsteine geziert sind […]“.
Somit wird der „Orden“ der Ehe nicht nur zu einer Gabe spiritueller Kreativität, sondern auch zu einer Herausforderung einer Spiritualität des Glaubens, der die Herrlichkeit Gottes in der Niedrigkeit entdeckt und annimmt.
2.2
Die Ehe als ein „weltlich Ding“: von der spirituellen Dimension der Vernunft
Religionsgeschichtlich ist offensichtlich, dass die Ehe eine kulturelle Einrichtung – Institution – aller Völker zu allen Zeiten ist. In dieser Allgemeinheit gehört sie zum weltlichen Leben aller Menschen: „Der Begriff E. beschreibt eine zw. zwei oder mehr Personen unterschiedlichen Geschlechts geknüpfte Beziehung, die rituell geschlossen wird, auf Dauer angelegt und gesellschaftlich legitimiert ist. Bestimmungen über ökonomische und sexuelle Rechte und die Übertragung des sozialen Status auf die Kinder gehören in allen Kulturen zu den gesellschaftlich festgelegten Rahmensetzungen“.17
Luthers Zuordnung der Ehe zum weltlichen Regiment trifft ein ganz wesentliches Element der Ehe. Als eine weltliche Institution ist sie gleichsam das gesellschaftlich-öffentliche Gefäß, in dem die Liebe gefasst wird. Knapp und treffend 17 Nehring, Andreas, Art. Ehe, RGG4 2, 1069.
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hat Luther seine Eheauffassung als kulturelle Institution in seinem Traubüchlein für die einfältigen Pfarrhern. 1529. dargelegt (WA 30, III, 74,2–6; vgl. BSLK 528): „Demnach, weil die Hochzeit und der Ehestand ein weltliches Geschäft sind, gebührt es uns Geistlichen oder Kirchendienern, nichts darin zu ordnen oder zu regieren, sondern wir belassen einem jeglichen Stand und Land hierin ihre gewohnten Gebräuche“. Ein Jahr später schreibt er noch unmissverständlicher, wie er seine Aussagen verstanden haben will: „Es kann ja niemand leugnen, daß die Ehe ein äußerlich weltlich Ding ist, wie Kleider und Speise, Haus und Hof, weltlicher Obrigkeit unterworfen, wie das beweisen so viel kaiserliche Rechte, darüber gestellt. So finde ich auch kein Exempel im Neuen Testament, daß sich Christus oder die Apostel hätten solcher Sachen angenommen, ausgenommen, wo es die Gewissen berühret hat, z. B. S. Paulus 1. Kor. 7,1ff […]“.18
Vielfach wurde und wird seither Luthers Bestimmung der Ehe als ein „weltlich Ding“ zitiert. Seine Auffassung zweier Reiche bzw. zweier Regimente durchherrscht seit fast 500 Jahren die lutherische Theologie (WA 30, III, 206,6–13; MA 5,214): „Nun weiß ja (Gott Lob) alle Welt wohl, mit was für Fleiß und Mühe ich daran gearbeitet habe und noch daran arbeite, daß die zwei Ämter oder Regimente, weltlich und geistlich, unterschieden und voneinander gesondert, ein jeglichs zu seinem Werk eigentlich unterrichtet und gehalten würde, welche das Papsttum hat also ineinander gemengt und verwirrt, daß keines bei seiner Macht noch Kraft noch Recht ist geblieben, und sie niemand wiederum kann voneinander reißen. Davor grauet mir, und will mich mit Gottes Hilfe davor hüten und bei meinem Amt bleiben […]“.
Wer seine klare Zuordnung der Ehe zum weltlichen Regiment verinnerlicht, muss sich allerdings wundern, mit welcher Vehemenz sich auch die lutherische Kirche bis heute in viele durch die Politik zu regelnde Fragen der Institution Ehe einmengt. Das gilt beispielsweise sowohl für das zähe Ringen um die Zivilehe zu Bismarcks Zeiten wie gegenwärtig für die Fragen gleichgeschlechtlicher Paarbeziehungen. Deswegen sei dazu nochmals Luther zitiert (WA 30, III, 205,6–11; MA 5,213): „Ich wehre mich sehr, rufe und schreie, man solle solche Sachen der weltlichen Obrigkeit lassen und wie Christus spricht: ‚Die Toten lassen ihre Toten begraben‘, Gott gebe, sie machens recht oder unrecht. Denn wir sollen ja Diener Christi sein, das ist, mit dem Evangelio und Gewissen umgehen, damit wir auch übrig gnug zu tun hätten wider Teufel, Welt und Fleisch“.
Um dem Reformator zu folgen, fehlt scheinbar oft genug der Mut zu einer konsequenten Verweltlichung der Ehe und eine Konzentration auf die geistliche Aufgabe der Kirche. Der Staat tut das Seine, um Ehe und Familie zu schützen 18 Von Ehesachen (1530);WA 30, III, 205; MA 5,213.
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(Artikel 6 des Grundgesetzes): „Ehe und Familie stehen unter dem besonderen Schutze der staatlichen Ordnung“. Wer Luthers radikale Weltlichkeit der Ehe bejaht, steht vor einer ganz anderen Frage. Gibt es eine Spiritualität in weltlichen Angelegenheiten? Wenn ja, dann gibt es sie auch für den speziellen Fall der Ehe als einem „weltlichen Ding“. Folker Siegert hat in Kirche und Synagoge jüngst auf die Rolle der Vernunft in der lutherischen Theologie aufmerksam gemacht, insbesondere auf die Freiheit der Christen, „neue Dekaloge“ zu schreiben. In weltlichen Angelegenheiten hat die Vernunft zu regieren, wie ich dort anhand ausgewählter Thesen Luthers zum Gesetz (de lege) dargelegt habe: „30. Denn gleichwie ein Mensch ohne Christus eine Ziege melken, ein Pferd weiden, ein Haus bauen kann, gleichwie auch die Heiden getan haben. 31. So kann er [der Mensch] auch ohne Christus Kleider waschen, Locken scheren, verschiedene Feiertage halten, heilige Schlachtopfer schlachten, Lampen entzünden, gleichwie die ungläubigen Priester als Mörder Christi und der Propheten getan haben“.19
Gesetze und Werke in dieser Welt werden durch die menschliche Vernunft erforscht, festgelegt und befolgt. Was hier für das Berufsleben gesagt ist, gilt entsprechend für das Eheleben. Seine Regelungen unterliegen ebenfalls der Vernunft. Wenn sich also Christen als Staatsbürger in der Diskussion über Ehe- und Familienfragen engagieren, dann tun sie das kraft ihrer Vernunft – nicht mit Setzungen der Offenbarung – und begeben sich in den weltlichen Diskurs mit vernünftigen Argumenten. Dabei gilt als grundsätzliche Orientierung, dass in allen vernünftigen Regelungen die unverlierbare Menschenwürde gewahrt bleibt. Hier ist jedoch darüber hinaus die Frage nach der Spiritualität der Ehe zu stellen: Wie könnte eine Spiritualität der Vernunft aussehen, nachdem Luther doch gerade noch über die „Hure Vernunft“ hergezogen hat? So nennt er sie gern, wenn ihr Denken mit einer Selbstüberhöhung, mit einer Selbstherrlichkeit einhergeht. Im Unterschied dazu gibt es auch die Erfahrung, dass sich der Heilige Geist aus dem Allerinnersten des Menschen der Vernunft mitteilt. Davon weiß Luther in seiner Auslegung des Magnifikat und in seiner Schrift für Meister Peter Bedeutsames zu sagen.20 Er kennt also eine durch den Heiligen Geist erfüllte Ver19 In: Siegert, Dekaloge; Gremels, Gesetz, 136, (WA 39/I, 50; übersetzt aus dem Lateinischen von mir). 20 Vgl. die Wohnung des Heiligen Geistes im Innersten des Menschen (WA 7, 551,14ff; hier zitiert nach Siebenstern-TB 112, München, Hamburg 1968, 29): „Mose machte ein Zelt mit drei verschiedenen Abteilungen. Die erste hieß sanctum sanctorum [d. h. das Allerheiligste]; darin wohnte Gott, und es war kein Licht darin. […] Sein Geist ist das sanctum sanctorum, Gottes Wohnung im finstern Glauben ohne Licht, denn er glaubt, was er weder sieht noch fühlt noch begreift“. Luther, Meister Peter, 46: „Und wenn auch solche reichen, guten Gedanken kommen, so soll man die anderen Gebete fahren lassen und solchen Gedanke Raum
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nunft, die in sich einen großen Reichtum von Eingebungen, Inspirationen und Einfällen erfahren kann. Das gilt auch für die Vernunft im Eheleben, die sich solchen spirituellen „Einbrüchen“ verdanken kann.
3.
Die Ehe als Schicksalsgemeinschaft
3.1
Die Ehe als Fügung Gottes
Mann und Frau kommen in der Ehe zusammen, weil nach Luther im guten Falle Gottes Führung im Hintergrund wirkt. So jedenfalls legt er die Erschaffung Evas als Gefährtin Adams aus (WA 2, 166,30–167,4; Luther 4): „Wenn Gott selber nicht gibt ein Weib oder Mann, so geht es zu, wie es mag. Denn das ist hier angezeigt, daß Adam kein ehlich Gemahl fand, aber sobald Gott Eva geschaffen hatte und zu ihm gebracht, da empfand er eine rechte ehlich Liebe zu ihr, und erkennet, daß sie sein ehlich Gemahl wäre. Also sollt man lehren, die da zum ehlichen Stand sich geben wollen, daß sie mit rechtem Ernst Gott bitten um ein ehlich Gemahl“.
Die von ihm in der Schöpfung erkannte Fügung Gottes wird – meine These – heute in der Liebesehe erfahren. Doch dass die Liebe eine Partnerschaft bereichern kann, wusste Luther – wenn damals noch nicht aus persönlicher Erfahrung – aus seiner intensiven Kenntnis der Schrift: Wie sehr sich für ihn die Ehe in der Erfahrung der Liebe erfüllt, wird beispielhaft an seiner Auslegung der Liebe zwischen Rebekka und Jakob deutlich (zu Gen 26,8): „Ein solcher Mann, der fast 80 Jahre alt ist, kost noch mit seiner Frau, die auch fast 70 Jahre ist. Hat denn der Heilige Geist dazu Lust, dass er solches Narrenwerk aufschreibt und sich so herablässt, von solchen schlichten Nettigkeiten in der Ehe zu erzählen? […] Mit der Ehe ist es aber nicht so beschaffen, dass die beiden nur leiblich zusammen sind, sondern auch mit dem Herzen, was sich an bestimmten Anzeichen erkennen lässt […]“.21
Die Liebeserfahrung in der Ehe zeigt eine neue Dimension der Spiritualität an: Wie diese grundsätzlich als Beziehung zwischen Gott als Geist und dem Geist des Menschen lebendig ist, so findet sie ihre Entsprechung in der liebenden, ehelichen Beziehung einer Frau mit einem Mann. „Denn ich will schweigen, was für Nutz und Lust mehr drinnen sei, wenn ein solch Stand wohl gerät, daß Mann und Weib sich lieb haben, eines sind, eins des andern wartet und was mehr Gutes dran
geben und mit Stille zuhören und sie beileibe nicht hindern: denn da predigt der Heilige Geist selbst, und ein Wort seiner Predigt ist besser aus tausend unserer Gebete“. 21 WA 43, 449,8–10 und 450,36f, (Walch2 II, 157ff); vgl. Anm. 7.
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ist […]“. Die eheliche Liebe ist für ihn die höchste Form der Liebe zwischen Menschen (WA 2, 167,25–34; Luther 5): „Nun gibt es dreierlei Liebe: falsche, natürliche, ehliche. Falsche Liebe, die sucht das ihre, wie man Geld, Gut, Ehre und Weiber außer der Eh liebet wider Gottes Gebot. Natürliche Liebe ist zwischen Vater und Kind, Bruder und Schwester, Freund und Schwager und dergleichen. Aber über die alle geht die eheliche Liebe, das ist eine Brautliebe, die brennet wie das Feuer und sucht nicht mehr denn das ehliche Gemahl, die spricht: ‚Ich will nicht das deine, ich will weder Gold noch Silber, weder dies noch das, ich will dich selber haben, ich will’s ganz oder nichts haben.‘ Alle andere Liebe sucht etwas anderes, denn den sie liebet, diese allein will den Geliebten eigen selbst ganz haben“.
Hier beschreibt er die leidenschaftliche Kraft erotischer Liebe zwischen Mann und Frau in geradezu paradiesischer Reinheit. Daran kann das moderne, romantische Verständnis der Liebesehe unmittelbar anknüpfen. So hoch seine Meinung von der ehelichen Liebe ist, bleibt sich Luther dennoch bewusst, dass in ihr Störungen durch Selbstherrlichkeit und Begehrlichkeit nicht auszuschließen sind.22
3.2
Die bräutliche Liebe als Symbol der Vereinigung Gottes mit der Seele
Der erbsündliche Schatten, der auf alles, auch auf die Liebe in der Ehe fällt, kann blind für das größte Geheimnis der Ehe machen, nämlich die eheliche Vereinigung: Sie dient in der Heiligen Schrift im Gleichnis von Braut und Bräutigam, um die Vereinigung Gottes mit der Seele fühlbar und anschaulich zu machen. Der Eros – hier verstanden als ganzheitliche Liebe von Mann und Frau – wird als göttliche Qualität geadelt. Das stellt eine Unterscheidung wie die von Andres Nygren in Frage, der meint, den Eros gegenüber der Nächstenliebe als Agape abwerten zu müssen.23 Schubart hingegen versucht, dem Eros angesichts seiner Verkennung durch die Religion neue Anerkennung zu verschaffen. Für ihn gehören Geschlechterliebe und Gottesliebe ebenso zusammen wie Schöpfungswonne und Erlösungsglück (Schubart, Eros, 283,287): 22 WA 2, 168,1–4; Luther 5: „Derhalben ist der ehlich Stand nun nicht mehr rein und ohn Sünd und die fleischliche Anfechtung so groß und wütend worden, daß der ehlich Stand nun hinfort gleich einem Spital der Siechen ist, auf daß sie nicht in schwerere Sünd fallen“. 23 Nygren, Andres, Eros und Agape, Gestaltwandlungen der christlichen Liebe, Berlin 21955, 140: „Religion ist Gottesgemeinschaft. Dies kann man sich auf zwei Wegen erreichbar vorstellen. Einmal dadurch, daß das Menschliche zum Göttlichen hinauf gesteigert wird: Die ist die Antwort der egozentrischen Religion, die Antwort des Eros. Oder aber dadurch, daß das Göttliche sich in Erbarmen zum Menschen herabsenkt: Dies ist die Antwort der theozentrischen Religion, die Antwort der Agape“.
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„Echte Geschlechterliebe ist daran zu erkennen, daß sie zu Gott hinführt. Macht oder lässt sie gottlos, so ist sie gerichtet. Geschlechterliebe und Gottesliebe stören sich nicht, sondern wachsen aneinander und reichen sich gegenseitig die leuchtende Fackel zu. Auch die christliche Vorstellung, Gott, der Weltschöpfer, sei zugleich suchende Liebe, legt beides, Schöpfungswonne und Erlösungsmotiv, in Gott hinein und legt sie in ihn zusammen als die beiden Seiten des göttlichen Wesens“.
Eine solch leidenschaftliche, zuneigende Liebe spielt gewiss auch bei der Frau eine Rolle, die Jesus so verschwenderisch liebt, dass sie ein Vermögen ausgibt, um ihm die Füße zu salben. Und als Jesus den „reichen Jüngling“ ansah und ihn liebgewann, ist eine herzliche Zuneigung gar nicht zu verkennen. Die Liebessehnsucht, Liebeserfüllung und Liebesbeziehung zwischen zwei Sich–Liebenden werden zum Symbol der spirituellen Beziehung zwischen Gott und Mensch und damit zum Ausdruck höchster Liebe. Das bezeugt die reiche mystische Tradition, die sich um das Hohe Lied der Liebe – diese ursprünglich durch und durch rein „erotische“ Liebesdichtung – im Laufe seiner Wirkungsgeschichte rankt und einen überreichen Schatz spiritueller Deutungen hervorgebracht hat. Auch im Neuen Testament findet sich eine vergleichbare Nähe menschlicher und göttlicher Liebe (Eph 5,25): „Ihr Männer, liebt eure Frauen, wie auch Christus die Gemeinde geliebt hat und hat sich selbst für sie dahingegeben […]“. Von der Spiritualität der Ehe und ehelichen Liebe kann daher nicht geredet werden, ohne sich auch den spirituellen Reichtum des Gleichnisses von Braut und Bräutigam in der Bibel zu vergegenwärtigen. Schon Jesus hat sich im Verhältnis zu seiner Jüngergemeinde als Bräutigam verstanden. Aber auch Luther dient das Bild von Braut und Bräutigam in seiner Schrift Von der Freiheit eines Christenmenschen, um die Einswerdung und den mit ihr verbundenen gegenseitigen Austausch der Güter und Gaben zu beschreiben: Der Glaube „vereiniget auch die Seele mit Christo wie eine Braut mit ihrem Bräutigam; aus welcher Ehe folget, wie St. Paulus sagt, daß Christus und die Seele ein Leib werden; so werden auch beider Güter, Fall, Unfall und alle Ding gemeinsam, so daß, was Christus hat, das ist eigen der gläubigen Seele; was die Seele hat, wird eigen Christi. So hat Christus alle Güter und Seligkeit: die sind der Seele eigen; so hat die Seele alle Untugend und Sünde auf sich: die werden Christi eigen. … Ist nun das nicht eine fröhliche Wirtschaft, da der reiche, edle, fromme Bräutigam Christus das arme, verachtete, böse Hürlein zur Ehe nimmt und sie entledigt von allem Übel, zieret mit allen Gütern?“24
Eine so durch und durch „weltliche Sache“ wie die Ehe wird hier zum höchsten Symbol der Vereinigung Gottes mit dem Menschen, des Glaubenden mit Christus. Und typisch für eine protestantische Spiritualität ist der Gedanke, dass 24 WA 7, 25,28 … 26,7; hier nach Münchner Ausgabe Band 2, 3. Aufl., 274.
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die Fülle Christi und die Fehlbarkeit des Menschen zu einem fröhlichen, d. h. evangelischen „Tausch“ führen. Genauso wird die Ehe als freiwillige Schicksalsgemeinschaft zum Ort gegenseitigen Austauschs der Gaben und Güter, aber auch zur Teilhabe an den Schwächen und Mängel. Ehe und Liebe tragen somit im Geheimnis der Einswerdung und im Reichtum gegenseitigen Austausches eine göttliche Dimension in sich. In die hohen Momente der Einswerdung – gerade auch von Mystikern häufig besungen – gipfelt diese spirituelle Dimension der Ehe. Es ist, als würde der Mantel Gottes die Erde streifen. Nahe bei Gott und doch nicht Gott selbst – diese Wahrheit gehört ins Herz, ins Zentrum einer Spiritualität der Liebe und Ehe! Was Matthias Claudius einmal über die Natur im Monat Juni sagt, lässt sich von daher über Liebe und Ehe sagen: „(E)’s ist, als ob Er vorüber wandle, und die Natur habe Sein Kommen von ferne gefühlt und stehe bescheiden am Weg in ihrem Feierkleid, und frohlocke!“25
Literatur Quellen Luther, Martin, Werke. Kritische Gesamtausgabe, Weimar 1883ff (WA). –, Von Ehesachen 1530; Münchener Ausgabe Band 5, München 31962; zitiert als MA und Seitenzahl. Perfahl, Jost (Hg.), Matthias Claudius, Sämtliche Werke, München 1976.
Forschungsliteratur EKD, Evangelische Spiritualität, Überlegungen und Anstöße zur Neuorientierung, vorgelegt von einer Arbeitsgruppe der Evangelischen Kirche, Gütersloh 1979. Elert, Werner, Das christliche Ethos, Grundlinien der lutherischen Ethik, Hamburg 21961. Kierkegaard, Sören, Der Begriff Angst, übersetzt und mit Glossar, Bibliographie sowie einem Essay ‚Zum Verständnis des Werkes’ herausgegeben von Liselotte Richter, Frankfurt 31988. Köpf, Ulrich, RGG4 VII, Art. Spiritualität, Tübingen 2014, Sp. 1589–1591. –/ Zimmerling, Peter (Hg.), Martin Luther, Wie man beten soll, Für Meister Peter den Barbier, Göttingen 2011, 38ff; WA 38, 258–275. Lorenz, Dagmar C.G. (Hg.), Martin Luther, Vom ehelichen Leben und andere Schriften über die Ehe, Stuttgart 1978..
25 Perfahl, Claudius, 32.
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Georg Gremels
Schenk, Herrat, Freie Liebe – wilde Ehe; Über die allmähliche Auflösung der Ehe durch die Liebe, München 1987. Schubart, Walter, Religion und Eros, (Hg.) Friedrich Seifert, München 1978 (1966), ungekürzte Sonderausgabe der Originalausgabe von 1941. Siegert, Folker (Hg.), Kirche und Synagoge, Ein lutherisches Votum, Göttingen 2012; zitiert als Siegert, Dekaloge; darin: Gremels, Georg, Freiheit vom Gesetz, im Gesetz und durch das Gesetz, zitiert als Gremels, Gesetz. Vgl. auch Siegert, Folker, Luther und das Recht, Bielefeld 2014, 36ff. Zimmerling, Peter, Evangelische Spiritualität, Wurzeln und Zugänge, Göttingen 22010.
Brigitte Enzner-Probst
Spiritualität von Frauen (und Männern) heute
1.
Vorklärungen
Unter Spiritualität verstehe ich im weitesten Sinn das, was dem Leben „Sinn, Tiefe und Mitte“1 gibt, das also, religiös gesprochen, was die „Innenseite“ der Gottesbeziehung eines Menschen ausmacht. Sie ist einer Analyse nur insoweit zugänglich, als sie sich „äußert“, d. h. als gelebte Spiritualität sichtbar wird. Es lassen sich dabei unterschiedliche Äußerungsfelder bestimmen, die in einem wechselseitigen Austausch stehen. Die Reflexion von Spiritualität ist deshalb immer erfahrungsbezogen. Alle spirituellen Äußerungsformen verdichten sich wie in einem Kaleidoskop in Ritual und Liturgie. Die hier vorgelegte Perspektive erfasst deshalb vor allem die rituell-symbolische Äußerung der Spiritualität. In der Frauenliturgiebewegung der letzten Jahrzehnte wird dies besonders deutlich. Zugleich liegen dazu zahlreiche Quellen vor.2 Nach einem geschichtlichen Überblick werden sich meine Überlegungen deshalb besonders auf das Profil dieses spirituell-liturgischen Aufbruchs von Frauen in der Kirche in den letzten vierzig Jahren beziehen. Warum aber über eine „Spiritualität von Frauen“ überhaupt gesondert nachdenken? Haben Frauen nicht von Anfang an Kirche und Theologie mitgeprägt? Werden mit einer solchen Themenstellung Frauen nicht schon sprachlich „als andere“ aus der Deutungsmehrheit ausgegrenzt, werden GeschlechterMachtverhältnisse festgeschrieben (Derrida)? Gegenwärtige Überblicksdarstellungen zur Spiritualität (Dahlgrün, Möde, Waaijmann, Zimmerling) verzichten wohl auch deshalb auf diese Perspektive. Trotz aller Einwände erscheint die genderspezifische Erörterung von Spiritualität immer noch notwendig.3 Frauen haben über Jahrhunderte hinweg ihre spirituellen Erfahrungen, liturgischen Gestaltungen und theologischen Er1 Steichele, Spiritualität, 1060. 2 Enzner-Probst, Frauenliturgien II. 3 Bendel-Maidl, Theologie, 185.
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kenntnisse eben nicht gleichberechtigt in Kirche und Theologie einbringen können, sondern wurden, wie der geschichtliche Überblick zeigt, zunehmend marginalisiert. Dabei lassen sich vier unterschiedliche Strategien der Marginalisierung im Lauf der kirchengeschichtlichen Entwicklung erkennen. Zunächst wird die selbstbestimmte Spiritualität von Frauen durch strukturelle (Kirchenordnungen) und homiletischpädagogische Maßnahmen (Predigten der Kirchenväter) negativ qualifiziert oder einfach übergangen. Wenn genannt, wird ihr Denken und Tun trivialisiert und schließlich in androzentrischer Geschichtsschreibung und theologischer Forschung „vergessen“, insofern im jeweiligen Forschungsdesign die Frage nach genderspezifischer Spiritualität nicht gestellt wird.
Diese Ausschlussverfahren sind bis heute gerade in Deutschland wirksam. Die Forschungsergebnisse feministischer Theologinnen bilden sich im akademischen Diskurs nicht im erforderlichen Ausmaß ab. Insofern ist es tatsächlich sinnvoll, die Vielfalt einer „Spiritualität von Frauen“ eigens zu reflektieren. Der Begriff „feministische Spiritualität“ akzentuiert zudem die Forderung, dass jede Frau zum Subjekt ihrer spirituellen Praxis und theologischen Reflexion werden soll. Ein solches Querschnittsthema kann sachgerecht zudem nur interdisziplinär4 und nur im Miteinander einer Spiritualität von Frauen und Männern erfasst werden. Nur so wird deutlich, dass es keineswegs um die Erörterung ontologischer Befindlichkeiten geht, sondern um unterschiedliche Perspektiven, die durch genderspezifische Vorgaben geprägt sind.
2.
Geschichtlicher Überblick
Die spirituelle Herkunftsgeschichte zu erforschen und dabei an bekannte wie vergessene Frauen zu erinnern, ist für viele Frauen eine wichtige spirituell-heilende Aufgabe. In zahlreichen Litaneien, in biografischen Projekten (Frauenkirchenkalender), sowie in eigens dafür gestalteten Liturgien5 wird dieser Akt des „re-membering“, der Wieder-Einfügung vergessener Frauen der Kirche in den „Leib Christi“ spirituell-liturgisch manifest. Zugleich werden die Mechanismen des Ausschlusses von Frauen aufgrund des kirchlich-androzentrischen Frauenbildes deutlich. Der folgende geschichtliche Durchgang zeigt exemplarisch anhand von vier Themenbereichen auf, wie Frauen die Teilhabe an der Gestaltungsund Definitionsmacht in der Kirche eingefordert haben. Erst auf diesem Hin-
4 Schneiders, Study, 42. 5 Mitscha-Eibl/Enzner-Probst, Frauenmesse.
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tergrund ist dann auch der spirituell-liturgische Aufbruch von Frauen in den letzten Jahrzehnten angemessen zu verstehen.
2.1
Spirituelle Autorität von Frauen zwischen Charisma und Amt
Die egalitären Impulse der Jesusbewegung wirken zunächst innerhalb der Frühen Kirche fort. Frauen haben charismatisch-geistliche Autorität als Apostelinnen (Maria von Magdala, Thekla), Prophetinnen (Töchter des Philippus; Ammia von Philadelphia, Prisca und Maximilla in der phrygischen Kirche) und Märtyrerinnen (Perpetua, Felicitas).6 Lydia ist Vorsteherin ihrer eigenen Hausgemeinde. Auch als Lehrerinnen treten Frauen hervor (Melania d.Ä.; Makrina). 1Tim 5,13– 14 ist deshalb als Hinweis auf Lehr- und Gesprächsrunden von Frauen zu lesen.7 Asketisch lebende Anachoretinnen sind als „Wüstenmütter“ gefragte Seelsorgerinnen. Amtliche Befugnis haben Frauen als Diakoninnen (Junia, Prisca), die die Taufvorbereitung leiten und dem Klerus angehören. In der Westkirche ist das Amt der Witwen Teil des Klerus. Auch in der Ostkirche ist das Amt der Diakoninnen belegt,8 ein bis heute in den orthodoxen Kirchen gültiges, wenn auch nicht praktiziertes Amt. Eine berühmte Diakonin an der Hagia Sophia ist Olympia, die in ihrem Gästehaus in Konstantinopel Bischöfe beherbergt und in theologischen Fragen berät. Auch der theologische Einfluss der Kaiserinnen darf nicht unerwähnt bleiben.9 Durch die zunehmende Öffentlichkeit kirchlicher Ämter im 3. und 4. Jahrhundert wird der Aktionsradius von Frauen jedoch drastisch eingeschränkt. Gab es in der Phrygischen Kirche im 2. Jahrhundert noch Priesterinnen und Bischöfinnen,10 wird diese Bewegung später als häretisch ausgeschieden. Institutionell-kirchliche Ämter von Frauen in der Kirche verschwinden. Nur die Klöster bieten noch gewisse Freiräume – unter kirchlicher Aufsicht. Hier können durch die Jahrhunderte hindurch Frauen Bildung erwerben und in einem streng vorgegebenen Rahmen ein spirituelles Leben führen. In den mystischen Theologinnen des Hochmittelalters, bei Mechthild von Magdeburg, Juliana von Norwich, Hildegard von Bingen und vielen anderen bricht sich dann, gegen alle Widerstände, erneut eine eigenständige Spiritualität Bahn. Durch den Geist legitimiert, wagen sie es, ihre Visionen, ihre spirituellen Erkenntnisse, aber auch ihre politischen Mahnungen (Hildegard von Bingen, Birgitta von Schweden) zu äußern. Einfluss haben diese Frauen allerdings nur kurze Zeit. Manche 6 7 8 9 10
Jensen, Überlegungen, 14ff. A. a. O., 19. A. a. O., 21f. Payer, Kaiserinnen. Jensen, Töchter, 323.
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bezahlen für ihre Einsichten mit dem Leben (Marguerite Porete). Auch die anerkannte Autorität einer Katharina von Siena (1347–1380) oder Teresa von Avila (1515–1582) als Kirchenlehrerinnen ändert nichts an der grundsätzlich untergeordneten Stellung von Frauen in der Kirche. Eine „Demokratisierung von Spiritualität“ und damit ein erneutes Erstarken charismatisch-spiritueller Autorität und theologischer Reflexion von Frauen erfolgt in der Reformationszeit. Im Rückgang auf die Bibel als der eigentlichen Begründung des Glaubens wird die Gottesbeziehung „demokratisiert“. Alle Menschen, auch Frauen, haben den gleichen Zugang zu Gott, ohne Vermittlung des (männlichen) Klerus. Um die Bibel lesen zu können, werden Schulen eingerichtet, die auch Mädchen offenstehen. In der Frühzeit der Reformation greifen theologisch gebildete Frauen in die Auseinandersetzungen ihrer Zeit ein (Argula von Grumbach), verfassen Flugschriften (Katharina Zell, Margareta von Treskow, Ursula Weida), übersetzen biblische Bücher und widmen sich der religiösen Erziehung der Kinder. Frauen dichten Lieder, um ihren Glauben auszudrücken (Elisabeth Cruciger). Catharina Regina von Greiffenberg besingt im 17. Jahrhundert die Geisterfülltheit von Frauen. Doch bleiben auch diese geschichtlich greifbaren Frauen singuläre Erscheinungen, die aufgrund ihrer persönlich-charismatischen Autorität gehört werden. Dies gilt auch für die Erneuerungsbewegung des Pietismus. Die Theologin Johanna-Eleonore von ErlauPetersen etwa wirkt durch zahlreiche theologische und geistlich-autobiografische Bücher. Die Spiritualität und Theologie des Grafen Nikolaus von Zinzendorf ist von Frauen beeinflusst. Aber auch Frauen und Töchter der Bürgerschicht betätigen sich als religiöse Lehrerinnen (Antoinette Bourignon, 1606–1680), Predigerinnen (Beate Sturm), Rednerinnen oder leiten wie Anna Maria von Schurmann Hausgottesdienste. Ursula Meyer11 wird als Prophetin geschätzt. Frauen in den Täufergemeinden werden auch vonseiten der evangelischen Kirche verfolgt (Hille Feicken; Katharina Kreutter) und sind bis heute nicht rehabilitiert worden. In der Gemeinschaft der Quäker wirken Frauen als Predigerinnen und Missionarinnen (Mary Dyer, 1660 in Boston hingerichtet), Margaret Fell (1614– 1702) als Lehrerin und Schriftstellerin. In der Gemeinschaft der von Ann Lee (1736–1784) gegründeten Shaker teilen sich Männer und Frauen die Leitung. Die hier beschriebene charismatisch ausgeübte spirituelle und theologische Autorität von Frauen wird mit dem Erlöschen einer Bewegung wieder vergessen. Die Rehabilitierung von Frauen im ordinierten Amt ist deshalb ein wesentlicher Schritt auf dem Weg zu einer erneuten Institutionalisierung spiritueller Beauftragung und theologischer Kompetenz von Frauen. Begonnen in den 1920er Jahren, wird diese Vision erst in den 1970er Jahren Wirklichkeit, als die Frauenordination sukzessive in den evangelischen Landeskirchen eingeführt 11 Noth, Pietismus.
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wird (Bayern 1975). Jetzt endlich werden die Lebens- und Glaubenserfahrung von Frauen, ihre Gottesbeziehung und theologische Kompetenz, ihre Sozialisation als Mädchen, der Spagat zwischen Familie und Beruf 12 als Kontext ihrer pastoralen Berufung erneut Teil des gesamtkirchlichen Lebens und ihrer theologischen Reflexion. Noch immer steht jedoch die Frauenordination in der lettischen sowie in afrikanischen lutherischen Kirchen aus. Ebenso fordern Theologinnen in der römisch-katholischen Kirche bislang vergeblich die Zulassung zu Diakonat und Priesteramt.13 1996 führt die altkatholische Kirche, 1997 die anglikanische Kirche die Ordination von Frauen ein. Innerhalb der orthodoxen Kirchen fordern Theologinnen das Diakoninnen-Amt.14
Am steinigen Weg der frühen Theologinnen15 zeigt sich, wie tiefsitzend die misogyne Prägung, das dualistische Welt- und Körperbild war, das die eigentlichen Impulse des Christentums in ihr Gegenteil verkehrt hatte.
2.2
Der Körper von Frauen – Ort mystischer Gotteserfahrung
Dieses dualistische Wirklichkeitsbild ist letztlich auf die Übernahme der neuplatonischen Weltsicht und das hierarchische Geschlechterverhältnis zurückzuführen, von dem die spätantike Gesellschaft geprägt ist. Es wird von einem Akzeptanz erhoffenden Christentum übernommen. Grundlegend ist dabei die Vorstellung einer Seinspyramide, in der die Gottesbeziehung mit dem männlich vorgestellten Logos, das Gottferne dagegen mit allem Materiellen, LeiblichSinnlichen, Weiblichen verknüpft wird. Asketinnen oder „Jungfrauen“ in der Frühen Kirche folgen deshalb in ihrer Spiritualität dem Ziel, logoskonform und damit „männlich“ zu werden im Sinn von „geistlich erwachsen, stark“.16 Diese Metaphorik wird schließlich durch die Übernahme aristotelischer Geschlechtervorstellungen durch Thomas von Aquin biologisiert. Das Weibliche ist körperlich, aber auch seelisch-geistig minderwertig. Dieses Denken prägt jahrhundertelang Spiritualität, Theologie und Kirche. Eine selbstbestimmte positive leibbezogene Spiritualität und Gottessprache findet sich erst wieder bei den mystischen Theologinnen des 12.–14. Jahrhunderts. Mechthild von Magdeburg (1208–1282/97) etwa beschreibt in Bildern der mittelalterlichen Brautmystik ihre Christusbeziehung als innige Liebesbeziehung oder als Tanz. Beides ist mit intensiver körperlicher Erfahrung verknüpft. Ein 12 13 14 15 16
Enzner-Probst, Pfarrerin. Raming, Priesteramt; Macy, History. Kasselouri, Women. Erhart, Himmel. Vogt, Aspekte, 439.
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zweiter Bildbereich ist das Mit–Leiden mit Christus. Der „schwache“ Frauenkörper wird mit dem erniedrigten Christus am Kreuz identifiziert. Dadurch wissen sich gerade Frauen als Nachfolgerinnen Jesu gewürdigt.17 Eine kosmologische Ausweitung von Körpererfahrung zeigt sich in der Mystik einer Hildegard von Bingen (1098–1179) oder bei Herrad von Landsberg.18 Ein viertes Metaphernfeld stellt die Mutterschaft Gottes dar (Julian of Norwich; Marguerite Porete). Die Visionärin Christina Ebner (1277–1356) von Engelthal beschreibt ihre mystische Einigung mit Christus als Gebären des Christuskindes. Birgitta von Schweden (1302/03–1273) identifiziert sich als Mutter mit Maria aus Nazareth und weiß sich darin als Mithelferin bei der Inkarnation Christi. Die pietistische Theologin Eleonore von Erlau-Petersen nennt in ihren Visionen die weibliche Seite der Trinität, den Geist, eine fruchtbare Mutter. In der Herrnhuter Brüdergemeine wird Gott als „liebes Mutterherz“ und „unschätzbarer Muttersinn“ besungen. Auch im mystisch-ekstatischen Pietismus erfahren sich Frauen als Mitgebärende der Christuswirklichkeit.19 Im Teinacher Altar der Prinzessin Antonia von Württemberg wird eine durchgängig weibliche Heilsgeschichte dargestellt.20 Zugleich wird in den „dunklen Jahrhunderten“ (12.–17. Jahrhundert) in der Ermordung Tausender so genannter „Hexen“ der Mut zu einer selbstbestimmten Spiritualität in Frauen ausgelöscht. Eine sich verstärkende androzentrische, misogyne Auslegung von Bibel und Kirchenvätern (Hexenhammer), aber auch Äußerungen der Reformatoren, „rechtfertigen“ das Auslöschen selbstbestimmter Spiritualität von Frauen. Die Kritik an diesen, gerade auch in evangelischen Gebieten, erfolgten Hinrichtungen wurde in den deutschen evangelischen Landeskirchen erst nach dem Zweiten Weltkrieg begonnen.21 Sie stößt aber nach wie vor auf Widerstand (Hannover 2015), wenn es darum geht, als Evangelische Kirche in Deutschland in einem Schuldbekenntnis die theologisch begründete Mitschuld an der Auslöschung von Frauen einzugestehen.
2.3
Der Alltag als Ort selbstbestimmter Spiritualität von Frauen
Ein dritter, sich geschichtlich durchhaltender Themenbereich ist die Würdigung des Alltags von Frauen als eines Ortes von Gotteserfahrung und Spiritualität. In keltischer Spiritualität (4.–8. Jahrhundert) etwa wird er als „heiliges Tun“ ver17 18 19 20 21
Walker Bynum, Fragmentierung. Lerner, Entstehung, 83. Lerner, Entstehung, 123f. Schauer, Dramaturgia. Bayerische Landeskirche 1997; Track, Stellungnahme, darin Schuldanerkenntnis, 7–13.
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standen und ist, wie auch in der Volksfrömmigkeit durch die Jahrhunderte hindurch, von Segenssprüchen, Anrufungen und Ritualen durchzogen.22 Im 19. Jahrhundert gliedert sich aus der Alltagsarbeit von Frauen ein eigener sozialdiakonischer Berufszweig aus und wird, da mit dem kirchlichen Frauenbild kompatibel, von vielen Frauen mit Leben erfüllt. Ein Beispiel für viele andere ist die Gründung der Kaiserswerther Diakonissengemeinschaft durch Friederike Fliedner.23 Ihre zukunftsweisenden Leitlinien für diese Lebensgemeinschaft konnte sie allerdings nicht durchsetzen. Auch im 20. Jahrhundert prägen spirituell und sozial-politisch engagierte Frauen die Spiritualität von Frauen nachhaltig. Dorothy Day24 etwa verbindet Frömmigkeit, Pazifismus und freiwillige Armut miteinander. Als „Mystikerinnen der Armut“ sind u. a. Edith Stein, Simone Weil, Etty Hillesum, Maria Skobtsova zu nennen, die erneut eine radikale Nachfolge des leidenden Christus leben.
2.4
Frauengemeinschaften und -bewegungen als Orte selbstbestimmter Spiritualität
Von Anfang an haben Frauen Austausch und Stärkung in spirituellen Gemeinschaften gesucht. Neben den Klöstern gestalten Beginen im 12.–14. Jahrhundert eine neue Gemeinschaftsform. In der Zeit der Reformation werden Ehe und Familie spirituell aufgewertet. Pfarrfamilie und Pfarrhaus lösen das Kloster in seiner Vorbildfunktion ab, die Pfarrfrau wird zum Vorbild vieler Frauen. Im Pietismus wird das Amt der Hausmutter, eine Art „Leiterin ihrer Hausgemeinde“ zu einer wichtigen spirituellen Aufgabe.25 Im 18. und 19. Jahrhundert werden auf katholischer Seite zahlreiche sozial-diakonische (Barmherzige Schwestern) oder bildungsorientierte Frauengemeinschaften (Schulschwestern) gegründet. Im Kontext der Ersten Frauenbewegung in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts entstehen zudem konfessionell geprägte Frauenverbände. Auch der Weltgebetstag der Frauen ist eine Frucht dieses Aufbruchs von Frauen in der Kirche. Als größte ökumenische Basisbewegung von Frauen wird er seit 1897 jeweils am ersten Freitag im März gefeiert und ist zu einem wichtigen Wegbereiter der ökumenischen Bewegung geworden. In den 1970er Jahren kommt es dann erneut zu einem Aufbruch von Frauen. Eine Neue Kirchliche Frauenbewegung entsteht.
22 23 24 25
Jones, Power, 12. Zimmerling, Friederike, 78–89. Sölle, Mystik, 309ff. Gleixner, Pietismus, 300ff.
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Wichtige Impulse dafür sind die Bürgerrechts- und Studentenbewegungen in den USA und in Deutschland, die säkulare Frauenbewegung, sowie die Ökumenische Bewegung mit ihren emanzipatorischen Konferenzen (Berliner Sexismus-Konferenz 1974, Konsultation von Sheffield 1981) und ihrer Rezeption in den deutschen Mitgliedskirchen (EKD-Synode 1989 Bad Krozingen). Die darin sichtbar werdende befreiungstheologische Perspektive wird ergänzt durch eine breite Strömung, die durch den Rückgang auf matriarchale spirituelle Quellen26 den Selbstwert von Frauen stärken will.
Neben dem kirchenpolitischen Engagement für Gleichstellung (Ökumenische Dekade; Frauenreferate) bietet die Kirchliche Frauenbewegung in ihrem spirituell-liturgischen Zweig (Frauenliturgiebewegung) erneut Frauen Raum für die Gestaltung selbstbestimmter Spiritualität. Spiritualitätsgeschichtlich interessant ist die Tatsache, dass sich fast zeitgleich mit der Einführung der Ordination im Bereich der evangelischen Kirche diese spirituell-liturgische Erneuerungsbewegung rasch im gesamten deutschsprachigen Bereich ausbreitet.27 Auf Frauensynoden (1. Europäische Frauensynode Gmunden 1996) und Tagungen (Ludwigsburger Frauenkongress 1997) finden sich Tausende von Frauen zusammen und feiern in diesem Zusammenhang u. a. auch Liturgien. Hunderte von Liturgiegruppen, in Gemeinden, an den Universitäten werden zu einem nährenden Raum für die rituelle Gestaltung selbstbestimmter Spiritualität. In über vierzig Jahren werden unzählige kreativ-performative Liturgien gefeiert. Neue alltagstaugliche, lebensbezogene, leibsinnliche Symbole, Gottesbilder, Handlungen sowie signifikante Gestaltungsweisen28 zeichnen das Profil dieser spirituell-liturgischen Bewegung. Mit und ohne Pfarrerinnen, quer durch alle Konfessionen macht diese performativ-kreative liturgische Praxis von Frauen deutlich, dass es nicht genügt, sich in androzentrisch geprägte amtskirchliche Sprach- und Denkmuster einzufügen. Die im spätmodernen Kontext brüchig gewordene symbolische Ordnung der Kirche will gendersensibel, sinn- und geistvoll weiterentwickelt werden.
3.
Phänomenologie liturgisch geäußerter Spiritualität von Frauen
Spiritualität, so sagte ich eingangs, will geäußert, gelebt werden. Sie manifestiert sich innerhalb der Frauenliturgiebewegung in ritueller Weise. Wie lässt sich das Profil dieser liturgischen Praxis von Frauen nun phänomenologisch skizzieren?
26 Weiler, Matriarchat; Sorge, Religion. 27 Enzner-Probst, Frauenliturgien II. 28 Enzner-Probst, Frauenliturgien I.
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Zunächst eine Übersicht über die gewählten Themen. Auffällig viele Frauenliturgien stellen die Erinnerung an biblische oder kirchengeschichtliche Frauengestalten in den Mittelpunkt. Das Vorbild dieser „Mütter und Schwestern“ ermutigt Frauen heute, ihren eigenen spirituellen Weg zu gehen. Neben der Erwähnung bekannter Frauen (Maria von Magdala; Maria von Nazareth) geht es darum, die unbekannten und namenlosen Frauen zu würdigen (Jephthas Tochter). Aber auch bislang negativ interpretierte Frauengestalten (Isebel, Lots Frau) werden im Kontext neu gedeutet. Auch die als Hexen oder in der Zeit der Kolonialisierung verfolgten Frauen werden erinnert.29 Ein zweiter Themenkreis befasst sich mit der Revision von Gottesbildern und dogmatischer Topoi. Weibliche Gottesbilder in der Bibel werden entdeckt, die Feiernden ermutigt, ihre eigene Gottessprache zu finden und sich darüber auszutauschen. Gott wird als Freundin, Begleiterin, aber auch als Hebamme, Schwester, Mutter angerufen. Sie ist Adlermutter, die ihre Küken unter ihren Flügeln schützt. Sie ist Hirtin, die den Weg bahnt. Die Anrede als „Mutter“ ist zwar für viele Frauen durch eigene Mutterkonflikte beladen, findet sich jedoch immer wieder. Häufig wird Gott, etwa in den Neufassungen des Vaterunsers, als „Mutter-Vater“ angesprochen, um zu zeigen, dass keines dieser menschlichen Beziehungsworte ausreicht. Gott wird als alte Frau angerufen, etwa in lebenszyklischen Liturgien zum Übergang ins Alter. Auf den Re-Imagining-Konferenzen in den USA, aber auch in den Sophia-Liturgien in Schweden steht die Gestalt der Weisheit im Mittelpunkt. Zudem werden nichtpersonale Gottesnamen gebraucht (Licht, Quelle), wie sie sich schon in den Psalmen finden. Trinitarische Gottessprache wird um die Geistkraft oder die Weisheit ergänzt. Viele Lieder- und Gebetbücher werden veröffentlicht, in denen neue Sprachmöglichkeiten aufgezeigt, liturgische Formeln und Voten umgesprochen oder mit Erfahrungen von Frauen angereichert werden.30 Nicht zuletzt stellt das Projekt „Bibel in gerechter Sprache“ im deutschsprachigen Raum das bislang umfassendste Unternehmen einer Revision biblisch-liturgischer Gottessprache unter feministisch-theologischen Gesichtspunkten dar. Es hat zum Ziel, eine Frauen und Männer, jüdische und christliche Traditionen einschließende Sprache in der Übersetzung biblischer Texte zu verwenden.
Die Gruppe biografisch-lebenszyklischer Liturgien schließlich bezieht sich auf den Körper von Frauen und die Erfahrung körperlicher wie lebensgeschichtlicher Übergänge. Als so genannte Neue Kasualien (rites de passages) thematisieren sie sowohl körperliche (Schwangerschaft) wie lebensgeschichtliche Schwellenerfahrungen (Operation; Umzug). Gemeinschaftlich wird die Klage über den Verlust von Lebensmöglichkeiten rituell gestaltet. Freudige und traurige Erleb-
29 Enzner-Probst, Leid, 241–256. 30 Heinrich, Frauen.
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nisse, Hoch-Zeiten und Trauer – alles kann zum Anlass einer solchen Übergangsliturgie werden. Schöpfungsbezogene Liturgien bilden die vierte Gruppe in der liturgischen Praxis von Frauen. Sowohl der Tageslauf, die Jahreszeiten, aber auch die Elemente werden gefeiert und mit lebenszyklischer Körpererfahrung, mit eigener Lebensgeschichte in Verbindung gebracht. Das Kirchenjahr, das seinerseits das Naturjahr heilsgeschichtlich deutet, wird damit verschränkt, etwa in der Pfingstliturgie „Women of Fire“.31 Auch Symbolgottesdienste, in denen z. B. Dunkelheit oder Licht thematisch meditiert werden, gehören in diesen Themenbereich. Zuletzt sind Liturgien zu nennen, in denen politische Themen gestaltet werden. Das ethische Handeln im Alltag, im Berufsleben, aber auch politische Katastrophen, die Massenvergewaltigung von Frauen in Bosnien etwa, sind Anlass für Klagegottesdienste. Expression von Trauer, Schrecken, Ohnmacht und die Suche nach einer friedensfördernden Basis, nach einem gerechten Miteinander von Frauen und Männern sind das Ziel. Neben der thematischen Vielfalt finden sich spezifische Gestaltungselemente. Schon der Prozess der Vorbereitung sowie das „Bereiten des Raumes“ markieren den Beginn der Feier. Häufig wiederkehrende Raumfiguren sind Kreis, Spirale und Weg. Der „Kreis um die Mitte“ symbolisiert die göttliche Präsenz. Nur in der Bündelung unterschiedlicher Aspekte und individueller Zugänge ist sie annähernd zu erfassen, nur im Tanz zu um-wandeln. Häufig findet sich ein gemeinsamer Ein-oder Auszug. Das Prinzip der Partizipation zeigt sich in der geteilten liturgischen Leitung, in chorisch-dialogischer Struktur. Wichtig sind Zäsuren und Wiederholungen, Verschränkungen, Pausen und Stille. Zentrales liturgisches Gestaltungsmedium ist jedoch der Körper von Frauen selbst. Er wird, wissenschaftstheoretisch gesehen, zum archimedischen Punkt der hermeneutischen Begründung theologischer Reflexion. Es ist das corporeale Sein, das sich in den verschiedenen signifikanten Gestaltungsweisen, die eingesetzt werden, zeigt. Nähe wird gewagt. Berühren, Berührtwerden und Fühlen, der haptische Code also, hat einen zentralen Stellenwert und wird in der ganzen sinnlichen Vielfalt von Möglichkeiten gebraucht, so etwa durch Salbung und Segnung, im Riechen, im Essen und Trinken. Eigenleibliches Spüren und Fühlen ist verknüpft mit der Wahrnehmung von Gefühlen, die geäußert werden. Auch Gewalterfahrung und Missbrauch werden thematisiert, ebenso der kranke oder behinderte Körper von Frauen.32 Konstituieren sich Eigenwahrnehmung und Kommunikation im hap-
31 Enzner-Probst, Frauenliturgien I, 146. 32 Enzner-Probst, Leib, 230–233.
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tischen Code noch vorverbal und polyvalent, so hilft die Liturgie, sie zu deuten, zu vereindeutigen. Der expressive Code bestimmt die zweite Gruppe corporealer Ausdrucksweisen. Der Körper wird erfahren in Tönen, in der stimmlich-musikalischen wie sprachlichen Äußerung. Die eigene Stimme wird entdeckt. Vorverbale Äußerungsmöglichkeiten finden sich vor allem in Klagegottesdiensten. Die feiernde Gemeinschaft „antwortet“ darauf durch Schweigen, durch intensives gemeinsames Hören. Lieder, Kanons, Liedrufe oder Refrains werden gesungen, in die alle einstimmen können. Expression ist auf Gehörtwerden aus, sucht Kommunikation. Sprechen von Einzelnen ist deshalb eingebettet in Möglichkeiten des Austauschs. Gemeinschaftliches Predigen, Bibelteilen, Erzählen der eigenen Lebensgeschichten brechen die traditionelle homiletische Struktur auf. Der kinästhetische Code als Möglichkeit, sich zu bewegen, zu tanzen, ist schließlich die auffallendste Besonderheit in der liturgischen Praxis von Frauen. Tanzgottesdienste werden gestaltet oder Tanzelemente in die Liturgie eingebracht. Netzwerke für spirituellen Tanz entstehen. Das Pilgern wird von vielen Frauen als spiritueller Weg geübt. Prozessionen entlang unterschiedlicher Stationen induzieren einen inneren Erlebensprozess. Die Labyrinthbewegung, von der Zürcher Frauenbewegung ausgehend, hat sich mittlerweile in ganz Europa ausgebreitet.33 Durch ihre Themen, ihre frauenbezogene Gottessprache, besonders aber durch ihre Gestaltungsweisen wird der Körper von Frauen, umfassender verstanden als ihre corporeal-ganzheitliche Existenz,34 zu einem zentralen liturgischen Wahrnehmungs-, Ausdrucks- und Kommunikationsmedium. Corporealität befindet sich zudem in ständiger Veränderung, will immer neu geäußert und interpretiert werden.35 Durchgängig ist deshalb die offene, performative Gestaltung, die nach einer offenen, dynamisch-prozessualen Anthropologie ruft. In Präsenz, Resonanz und Prozess werden Liturgien zu Performances, die im Jetzt die spirituelle Selbstwerdung von Frauen sowie die Erfahrung gleichberechtigter Gemeinschaft ermöglichen. Wie lassen sich diese Akzente theologisch qualifizieren?
33 Seifried, Labyrinth. 34 Enzner-Probst, Frauenliturgien I, 227. 35 Ruffing, Knitting, 242ff.
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4.
Theologische Reflexion
4.1
Der Körper als Ort spiritueller Erfahrung – Schöpfungsspiritualität
Der Körper ist für Frauen zentraler spiritueller Erfahrungsraum. Das, was in vielen Jahrhunderten patriarchaler Definition als gottfern interpretiert wurde, wird nun als heilig und gut gewürdigt. Ereignisse im Leben von Frauen wie Schwangerschaft, Geburt und Stillen von Kindern werden als positiv-spirituelle Teilhabe am schöpferischen Ganzen interpretiert. Ihre corporeale Existenz verknüpft Frauen mit der materiell-spirituellen Matrix der Wirklichkeit. Mehr noch, alle corporeal erfahrenen Transformationsprozesse sind Ausdruck der großen Schöpfungswirklichkeit. Auch Zeiten von Chaos und Unfruchtbarkeit, Leiden, Schwinden von Möglichkeiten und Sterben gehören zum Rhythmus der Schöpfung. Diese corporeal-ganzheitliche Existenz aller Menschen ist zugleich geistdurchwirkter Teil der von göttlicher Geistkraft und Liebes-Weisheit erfüllten Schöpfung. Alles ist mit allem im Geben und Nehmen verbunden. Schöpfungstheologie und Pneumatologie verschränken sich im Konzept einer spirituellen dynamisch-prozessualen Anthropologie und Kosmologie unauflöslich miteinander. Dies entspricht dem biblischen Befund der weisheitlichen Tradition und ihrer panentheistischen Weltsicht.36 Der Zerstörung dieses schöpfungsmäßigen Zusammenhangs durch Gewalt, Übergriff und Missbrauch muss widersprochen werden. Den Zusammenhang von Gewalt gegen Frauen und Gewalt gegen die Natur analysieren Konzepte des kulturellen oder sozialen Ökofeminismus.37 Die auf Dualismen aufgebaute Weltund Kirchenordnung führt zu gewaltförmigen Hierarchien. Schöpfungsmystik setzt an ihre Stelle die Erfahrung gegenseitiger Verbundenheit.38 Alles kann nun zum Zeichen des göttlichen Geheimnisses werden. Die kirchlichen Sakramente sind Zeichen, die auf diesen größeren Wirklichkeitszusammenhang deuten. Christus, gegenwärtig in Brot und Wein, in Leben und Leiden, weist auf die ganze Schöpfung als seinen „kosmischen Leib“.39 Die Sakralität der Schöpfung bedingt eine ganzheitliche „Sakramentalität des Lebens“,40 ist im Geben und Nehmen Teil einer umfassenden Kommunion und Lebensgemeinschaft. Die Dualismen von Natur und Geist, Natur und Kultur werden durch performativ-ganzheitliche Konzepte ersetzt. Dies bedeutet einen Paradigmenwechsel im Verstehen von Natur und Materie. Sie sind keineswegs unbeschriebene Flächen, sondern autopoietisch wirksam und ihrerseits veränderlich. Im 36 37 38 39 40
Sölle, Mystik, 142. Ruether, Gaia; Mies/Schiva, Ökofeminismus. Sölle, Mystik, 146ff. McFague, Body. Sölle, Mystik, 150.
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Konzept einer „posthumanist performativity“41 werden deshalb materielle wie diskursive, soziale und wissenschaftlich-technische, menschliche und nichtmenschliche, natürliche und kulturelle Faktoren als Parameter von Wirklichkeit verknüpft. Dieses offene Konzept hat Konsequenzen z. B. für die Lebensformen von Frauen und Männern. Sie sind nicht mehr fixiert vorgegeben. „Geschlecht“ muss als sozial konstruierte Kategorie, als Kontinuum unterschiedlicher Ausprägungen verstanden werden. Die eigene Lebensform und sexuelle Identität wird zur Aufgabe, die immer neu mit Leben erfüllt werden will. In ihr wird menschliche Beziehung wie auch Gotteserfahrung möglich.
Auch Natur oder Schöpfung ist also als ein offener, dynamisch-performativer Prozess zu verstehen. Dies lässt sich evolutionsgeschichtlich wie astrophysisch belegen. Schon Paulus beschreibt dies, wenn er die Schöpfung mit einer Frau vergleicht, die in Wehen liegt und sehnlich auf die Zeit ihrer Entbindung wartet (Röm 8,19–23). Das Schicksal der „schwangeren Erde“ verknüpft er mit der Befreiung der Kinder Gottes. Schöpfung lässt sich nicht trennen von Erlösung.42 Die Schöpfung selbst ist interessiert am Gelingen von gerechter Gemeinschaft, die schöpferische Weisheit Richterin (Spr 1,10–33) menschlich-politischen Handelns. Die Einsicht in den Prozesscharakter der Schöpfung wird gegenwärtig weiter entwickelt in Richtung einer „kosmischen Spiritualität“. Wenn das Universum sich ausdehnt, stellt sich die Frage, woraufhin diese Entwicklung zielt. Gen 2,2 beschreibt das Telos dieses schöpferischen Prozesses als „Ruhe“, apokalyptische Bildsprache als „neue Erde-neuen Himmel“ (Offb 21,1). In den Christushymnen (Joh 1; Kol 1) wird die Christuswirklichkeit als Ziel der Schöpfung beschrieben. Was bedeutet dies und worin besteht die Aufgabe der Menschheit in diesem Prozess?
4.2
Gottesbilder, Gottessprache und Gottesebenbildlichkeit von Frauen
Da Gott sich ganz mit Materie und Leben verbunden hat und nichts ihr/ihm fremd ist, kann alles, gerade auch der Körper, aber auch jedes alltägliche Tun zum Spiegel des göttlichen Geheimnisses werden. Dies drückt sich in der Gottessprache aus, die Frauen finden. Sie wissen sich darin als Ebenbilder der göttlichen Schöpferinnenkraft, als Mit-Schöpferinnen, als Subjekte ihrer spirituellen Ausdrucksmöglichkeiten. Die Fülle der Gottesbilder und Gottesnamen wurde 41 Barad, Performativity, 126ff. 42 Enzner-Probst, Erlösung, 23.
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schon erwähnt. Ruach, die Geistkraft, ist Schwester Geist, die Frauen auf ihrem Weg begleitet. Gegenüber der Reduktion durch einen männlich geprägten Monotheismus betonen Frauen außerdem die Unterschiedlichkeit spiritueller Erfahrungsebenen. Wie die Schöpfung selbst ein subtiles Beziehungsnetz ist, so hat sie eine gestufte spirituelle Innenseite. Transzendenz betont nicht das völlige Anderssein Gottes jenseits der Schöpfung, sondern ist als „immanente Transzendenz“ aufzufassen, die „in, mit und unter“ alltäglicher Wirklichkeit erfahrbar wird.
4.3
Jesus der Mann – ein Christus auch für Frauen? Christologische Zugänge
Erst relativ spät hat sich feministisch-theologische Reflexion mit Fragen der Christologie befasst. Zu belastet waren offensichtlich die traditionellen Aussagen zum Opfertod Jesu, zu lähmend eine Kreuzestheologie, die es Frauen unmöglich machte, sich gegen Gewalt zu wehren. Und kann ein männlicher Erlöser überhaupt das Leben und die Gewalterfahrungen von Frauen verstehen? Akzeptabel ist der arme, Frauen in seine Nachfolge rufende Rabbi aus Nazareth: Jesus – der ideale, Frauen verstehende Mann. Für Theologinnen der befreiungstheologischen Richtung ist er dagegen ein Prophet, der die Übel seiner Zeit kritisch beim Namen nennt. Wie aber ist die Beziehung zu Jesus, dem Christus Gottes zu denken? Hier wird die Erkenntnis wichtig, dass nicht das Mannsein Jesu, sondern die Menschwerdung Gottes das christologische Zentrum bildet.43 Die Begrenzung durch geschlechtliche Zugehörigkeit, Rasse oder Sprache gehört konstitutiv zum Menschsein und kann deshalb kein Hindernis darstellen. Sie wird erst zum Problem, wenn daraus eine Überwertigkeit des Mannseins über das Frausein gefolgert wird. Eben dies ist allerdings in der Entfaltung christologischen Denkens in der Folgezeit geschehen. Jesus, der die sozialen und sexistischen Hierarchien seiner Zeit prophetisch kritisierte und für die Marginalisierten eintrat, verschwindet hinter einem Christus-Symbol, das die religiöse und politische Macht von Männern legitimiert.44 Menschwerdung bedeutet außerdem, in Beziehung zu sein. In Jesus zeigt sich „Gott in Beziehung“.45 In seiner Nachfolge werden Menschen ermutigt, es ihm gleichzutun. Umgekehrt artikulieren Frauen, damals wie heute, ihre ganz eigene Beziehung zu Christus.46
43 44 45 46
Johnson, Ich, 229ff. Ruether, Sexismus, 152ff. Heyward, Kleid. Taube, Frauen.
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Das Leiden Jesu und sein gewaltsamer Tod ist für feministische Spiritualität nicht Opfer für die Sünde der Menschen, sondern Ausdruck des Mitleidens Gottes an der Gewaltförmigkeit und Unmenschlichkeit der Welt, Zeichen der Solidarität mit Unterdrückten und Ausgeschlossenen. Als widerständiges Leiden mobilisiert es Kräfte, um Strukturen der Ungerechtigkeit zu verändern. Die Menschwerdung Gottes in Christus will aber noch umfassender verstanden werden. Sie kommt erst da ans Ziel, wenn sie die gesamte Menschheit, jenseits aller Religionen, durchwirkt und eint. Der „Leib Christi“ als Gemeinschaft von „Juden und Griechen, Sklaven und Freien, Mann und Frau“ (Gal 3,28) will eine dynamische und transformative Kraft entfalten, die unterschiedliche Gruppen, Beziehungssysteme und Strukturen in einen Prozess hineinnimmt, der sie „eins in Christus“ werden lässt, über alle religiösen und politischen Grenzen hinweg. Die Begrenzungen des Menschseins Jesu werden erst in der Gesamtheit des Menschengeschlechtes aufgehoben sein.47
4.4
Gemeinschaft, Alltag und Netzwerk Kirche
Die Suche nach tragfähiger, alltagstauglicher wie universaler Gemeinschaft hatte sich schon im geschichtlichen Durchgang wie auch in der phänomenologischen Beschreibung der Frauenliturgiebewegung gezeigt. Erst in Beziehung kann Menschwerdung im tiefsten Sinn erfahren werden. Deshalb sind Liturgiegruppen und spirituelle Netzwerke, Tagungen und Frauensynoden so wichtig. Alltag und Fest werden als spirituelle Erfahrungsräume verknüpft. Beruf, Hausarbeit und Erziehungsarbeit, politisches Engagement und Für-sich-Sein – alles kann zu einem Zeichen umfassender Kommunion werden. Auch am Küchentisch lässt sich Eucharistie feiern.48 Eine solche Spiritualität ist grundsätzlich ökumenisch geprägt. Sie fordert zudem die gendersensible Entwicklung einer Spiritualität von Männern ein. Es ist an der Zeit, dass auch Männer ihre jeweils eigene Form des Mannseins leben und ihre spirituellen Erfahrungswege gehen.49 Erst auf Augenhöhe ist eine neue Beziehungsgerechtigkeit zwischen Frauen und Männern möglich. Eine solche Gemeinschaft ist offen auch für interreligiöse Begegnung. Der von Frauen entwickelte hermeneutische Ansatz einer „interreligiösen Diapraxis“50 nutzt Alltagsbegegnungen als Lernerfahrungen. Übernommene Einstellungen verändern sich, Grenzen religiöser Identität werden durchlässig.51 Liminale, 47 48 49 50 51
Johnson, Ich, 227. Hammar, Tradition. Zulehner/Volz, Männer. Rasmussen, Diapraxis. Schmidt-Peukel, Einfluss.
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dogmatisch undefinierte Räume entstehen, in denen neue Einsichten wachsen können. Auch die Grenze zur säkularen Sinnsuche von Menschen wird durchlässig. Eine solche Gemeinschaft im schöpferischen Geist der Liebe wird schon in neutestamentlicher Sprache in unterschiedliche Bilder gefasst. Die Leib-Metapher (1Kor 12,27) ist zentral in paulinischer Ekklesiologie. Sie ist erkenntnisleitend im Erinnern von Frauen, wie der spiritualitätsgeschichtliche Durchgang zeigte. Im Konzept von „Women-Church“,52 wie es innerhalb der kirchlichen Frauenbewegung in den USA entwickelt wurde, beschreiben Frauen, z. B. in der Liturgiegruppe WATER, ihre Gemeinschaft als ausgerichtet auf die Vision von „passion, pain, and politics“. In ihrem politischen Engagement wie in der liturgischen Feier geht es darum, sich leidenschaftlich für Gerechtigkeit zu engagieren. Dabei sind Männer, Frauen und Kinder in ihrer Einzigartigkeit willkommen. Ein anderes Bild ist das einer „Kirche am runden Tisch“.53 Die Kreisform im liturgischen Feiern von Frauen wird hier ekklesiologisch gespiegelt. Lebens- und Gesprächsformen werden erprobt, die jede und jeden „auf Augenhöhe“ an der Mitgestaltung und Definition von kirchlicher Gemeinschaft beteiligen. Ein weiteres Bild von Gemeinschaft ist das des Netzes, wie es sich in den digitalen Medien zeigt. Frauen vernetzen sich spirituell, liturgisch und theologisch über viele Grenzen hinweg. Kirche in diesem Sinn ist offen, erweiterbar, lädt ein, sich einzuknüpfen. So verschieden die ekklesiologischen Bilder sind, die Frauen entwickeln, so drücken sie alle die Sehnsucht aus, gemeinschaftlich und dennoch die Unterschiede der Einzelnen würdigend, sich an einer größeren Aufgabe, einem übergreifenden Ziel, einer umfassenderen Vision zu beteiligen, die sich auf die ganze Menschheit, die Schöpfung, den Kosmos bezieht.
5.
Zusammenfassung und Ausblick
Die selbstbestimmte Spiritualität von Frauen innerhalb der Frauenliturgiebewegung entsteht im Kontext einer Gesellschaft der Spätmoderne. Die performative Akzentuierung, die Betonung von Corporealität, die Bildung von Milieus auf Zeit teilt diese Bewegung mit anderen Kunstformen, etwa modernem Theater, Tanz- und Musik-Events. Dekonstruktive Prozesse im Blick auf liturgisch-spirituelle Traditionen ebenso wie rekonstruktive Suchbewegungen sind dafür typisch. Bricolage-Techniken werden eingesetzt, in denen sich Tradition und Neuinterpretation mischen.
52 McPhilips, Women Church. 53 Russell, Church.
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Liturgiepraktisch sind die Impulse dieser liturgischen Erneuerungsbewegung an der kirchlichen Basis vielfältig aufgenommen worden, etwa in der rituellen Gestaltung lebensgeschichtlicher Übergänge, in Salbungs-, Segnungs- und Heilungsgottesdiensten, durch Prozessionen im Rahmen der Schöpfungszeit, in der Gestaltung eines Labyrinths als Anleitung zur Meditation. Auch im Evangelischen Gottesdienstbuch und Gesangbuch konnten Aspekte dieser Praxis integriert werden. Eine umfassende spiritualitätstheologische und liturgiewissenschaftliche Rezeption und Diskussion der durch die Spiritualität von Frauen gesetzten Impulse steht allerdings noch weitgehend aus. Ein paar Stichworte müssen hier genügen. Die von mir skizzierte spirituelle Frauenkultur ist adäquat nur zu erfassen durch einen weiten Religions- und Spiritualitätsbegriff, wie er etwa in den USA gebräuchlich ist.54 Der sichtbar werdende Paradigmenwechsel weg von dualistisch-statischen Denksystemen hin zur Wahrnehmung performativ-ganzheitlicher Prozesse wird in der ästhetischen Wende der Praktischen Theologie zwar anvisiert, doch muss der Körper bzw. die performativ-ganzheitlich verstandene corporeale menschliche Existenz sowohl als spirituelles Ausdrucks- und Kommunikationsmedium, wie als Zeichengrund aller symbolischen Zeigehandlungen – noch vor allen geschichtlichen und symbolischen Traditionen – ernster genommen werden. Die empirische Religions-, Spiritualitäts- und Liturgieforschung muss stärker auf Frauen als Mehrheit der gemeindlich engagierten Kirchenmitglieder bzw. den Genderaspekt fokussiert werden. Homiletisch ist ein sensiblerer Umgang mit den Gewaltanteilen biblischer und kirchlicher Texte notwendig. Der transzendente „Mehrwert“ göttlicher Wirklichkeit kann in anderen Bildern anschaulich werden als in denen von Unter- und Überordnung. Die Liste der Stichworte könnte fortgesetzt werden. Praktische Theologie als reflexives Begleiten kirchlicher Erneuerungsbewegungen hat hier subsidiäre Verpflichtungen. Zur Wahrnehmung dieser Aufgaben ist jedoch allererst die Etablierung gendersensibler Theologie notwendig, d. h. die Einsicht in die genderspezifische Abhängigkeit alles theologischen Sprechens und Forschens. Die Forderung einer solchen gendersensiblen Theologie wurde etwa jüngst von der Deutschen Bischofskonferenz als Leitlinie verabschiedet.55 Erst die Einsicht in die soziale Gewordenheit von Geschlecht schafft die Grundlage, auf der dann unterschiedliche Aspekte von Frauen- und Männerspiritualität, etwa im Schöpfungsbezug, im Gottesbild, in ekklesiologischer und ethischer Hinsicht sowie in liturgischer Praxis fruchtbar aufeinander bezogen werden können. 54 Schneiders, Study, 38ff. 55 Keul, Geschlechtersensibel.
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Die Spiritualität von Frauen, als „Avantgarde“ spätmoderner Spiritualität verstanden,56 zeigt in ihrem spirituellen, liturgischen wie theologischen Profil notwendige Veränderungsprozesse auf, die aufzunehmen sind, damit Kirche und Theologie zukunftsfähig bleiben. Es wäre kurzsichtig, sie als Randerscheinung des spirituell-liturgischen Lebens der Kirche abzutun.
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Christoffer H. Grundmann
„Gesunden Leib gib mir …“ Gesundheitssorge als Topos evangelischer Frömmigkeit
1.
Begriffsklärungen
Obwohl das Abstraktum „Gesundheit“ bereits seit den Tagen Luthers im Deutschen heimisch wurde,1 ist dessen eigenständige Thematisierung relativ jungen Datums; denn als Selbstzweck konnte Gesundheit erst vor dem Hintergrund der Effektivität moderner, rational-naturwissenschaftlich begründeter Medizin, hygienischer Lebensbedingungen und allgemeiner wirtschaftlicher Prosperität konzipiert werden, wie dies in der Präambel der Weltgesundheits Organisation von 1946 pointiert Ausdruck2 und seitdem allgemeine Verbreitung gefunden hat.3 Gemeinhin gilt aber das Verspüren von Vitalität als „Gesundheit“ und die mehr oder weniger intensiv gemachte Erfahrung leiblicher Schwäche sowie mental-emotionalen Unwohlseins, durch die der gewohnte Lebensvollzug spürbar beeinträchtigt wenn nicht gar ganz unmöglich gemacht wird, als „Krankheit“.4 Die folgende Erörterung über die Sorge um Gesundheit im evangelischen Glaubensleben bzw. über evangelische Spiritualität und Gesundheit behandelt daher Krankheit und Gesundheit nicht im idealtypischen Sinne, sondern als Universalphänomene menschlicher Existenz, nämlich als Ausdruck je subjektiver Erfahrungen von Lebensminderung bzw. –mehrung und die Bitte um Gesundheit als Ausdruck existenzieller Verlustangst angesichts akut-vitaler Lebensbedrohung; erst in der Perspektive elementar-existenzieller Betroffenheit 1 Grimm, Deutsches Wörterbuch, 5, Sp. 4321–4335. 2 https://www.admin.ch/opc/de/classified-compilation/19460131/201405080000/0.810.1.pdf; für die christliche Adaption dieses Gesundheitsverständnisses s. Die Suche, 21. 3 Grundmann, Körperkult. 4 Erst seit dem späten 17. Jh., nämlich seit den Observationes medicae (31676) des „englischen Hippokrates“ Thomas Sydenham (1624–1689), in der eine nosologische Systematik von Krankheitsarten bzw. –typen entfaltet wird, gewinnt Krankheit den heute geläufigen idealtypischen Sinn.
Gesundheitssorge als Topos evangelischer Frömmigkeit
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gewinnt die thematisierte Problemstellung ihre Relevanz für den theologischen Diskurs. Da der Terminus „evangelisch“ die heutzutage nicht mehr überschaubaren, aus der Reformation hervorgegangenen bzw. sich darauf berufenden protestantischen Kirchen und Bekenntnisse mit ihren teils markanten Divergenzen, oft auch ausgesprochenen Gegensätzen bezeichnet,5 sind Ab- bzw. Eingrenzungen notwendig, nämlich Beschränkung auf Lehraussagen und gelebte Frömmigkeitspraxis in denjenigen protestantischen Kirchen, die dem Lutherischen Weltbund (LWB) und/oder dem Ökumenischen Rat der Kirchen (ÖRK) und/ oder der Weltgemeinschaft Reformierter Kirchen (WGRK) angehören, während fundamentalistische oder charismatische Sondergemeinschaften mit ihrer Betonung von Geist- und Glaubensheilung im Folgenden unberücksichtigt bleiben müssen. Der Terminus „Spiritualität“, der im Grimmschen Deutschen Wörterbuch noch nicht verzeichnet ist, aber in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts über das Französische spiritualité und das Englische spirituality – d. h. über den wachsenden ökumenischen Austausch – Eingang in den deutschen Sprachschatz gefunden hat, ist ebenfalls gegenüber Missverständnissen abzugrenzen.6 Allgemein sei Spiritualität hier verstanden als eine sich auf eine bestimmte bzw. bestimmbare Geisteshaltung beziehende Lebenspraxis, die in entsprechenden Verhaltensweisen ihren Ausdruck findet bzw. gefunden hat, seien diese nun säkularer oder religiöser Natur. Evangelische Spiritualität ist näherhin zu bestimmen als eine in der reformatorischen Einsicht gnädiger Rechtfertigung der Sünder durch Gott wurzelnde Lebensgrundhaltung, kraft derer unterschiedlichste existenzielle Herausforderungen einschließlich der Erfahrungen von Erkrankung, Genesung und Heilung gedeutet und bewältigt werden. Um eine sinnvolle Verständigung über das Thema Gesundheit und evangelische Spiritualität zu ermöglichen, ist es unabdingbar, sich zunächst einen groben Überblick darüber zu verschaffen, wie Gesundheit im Laufe evangelischer Frömmigkeitstradition und Theologie verstanden und erlebt wurde, bevor in einem weiteren Schritt die theologische Interpretation des so eruierten Materials erfolgen kann.
5 Der Atlas of Global Christianity listet 26 „distinct traditions“ des Protestantismus auf und zählt weltweit mehr als 2720 verschiedene „Protestant Denominations“ (a. a. O., 90). 6 Allerdings führt schon Meyers Großes Konversations-Lexikon Spiritualität als Stichwort auf. Der kurze, einsätzige Eintrag dort (6. Auflage, Bd. 18, 757) lautet: „Spiritualität (lat.), soviel wie Geistigkeit im Gegensatz zur Körperlichkeit (Materialität)“.
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2.
Christoffer H. Grundmann
Befund
Luthers theologische Aussagen zur Gesundheit sind augustinisch geprägt, d. h. sie sind in Augustins theologia medicinalis und deren alt-kirchlicher Tradition verwurzelt, die das Erlösungswerk Christi in medizinisch-therapeutischen Kategorien deutet.7 Das klingt in dem von ihm eingedeutschten Abendmahlslied „Jesus Christus unser Heiland“ an, dessen fünfte Strophe lautet: „Du sollst glauben und nicht wanken, dass eine Speise sei den Kranken, den ihr Herz von Sünden schwer und vor Angst ist betrübet sehr“.8 Darüberhinaus exemplifizierte Luther einmal den Stand des gerechtfertigten Sünders in Analogie zu sanctificatus mit dem von ihm geprägten Neologismus sanificatus9 und bekannte: „Verbum Dei est nostra Vita, Lux, Pax, Sanitas et Salus“10 bzw. in einer Auslegung zu Mt 9,1–8: „extra Christum nulla est sanitas, nulla iustitia, nulla salus“.11 Letztlich ist, wie bei Augustinus so auch bei Luther, nur der erlöste, d.i. der um sein Angewiesensein auf Gott wissende und dieses Angewiesensein anerkennende Mensch, der wahrhaft gesunde Mensch; denn „sub lege infirmitas et condemnatio, sub alis Christi, sub evangelio sanitas, robur et salus“.12 In Melanchthons Verständnis von Gesundheit, das durch genaue Kenntnis antiker Autoritäten der Heilkunst geprägt ist,13 tritt der Aspekt der Unverfügbarkeit von Gesundheit zurück. Weil Gott auch die Heilkunst geoffenbart habe, darf diese nicht missachtet werden; das wäre Torheit und Zeichen mangelnder Frömmigkeit.14 Doch auch das Gebet um Gesundheit bleibt wichtig, das allerdings nur mit dem Vorbehalt zu sprechen sei: „wenn es Gott nicht mißfällt.“15 Während in Calvins Theologie Gesundheit keine erkennbare Rolle spielt, weil die einst den Aposteln gegebene Gnadengabe der Wunderheilung erloschen sei16 und nunmehr die Medizin für Heilung zuständig ist, derer man sich im Vertrauen auf die durch sie vermittelte väterliche Fürsorge Gottes zu bedienen habe, hält Zwingli die Bitte um Gesundheit für nicht recht, da sie Gottes Hoheit und absolute Verfügung über seine Geschöpfe infrage stellt.17 Sein „Pestlied“ von 1519, das Reformierten wie Mennoniten als nachahmenswertes Muster in Krank7 Siehe dazu Fichtner, Christus als Arzt; Schneider, Augustins ‘theologia medicinalis’; Steiger, Medizinische Theologie, 28–47. 8 WA 35, 436; siehe auch EG 102. 9 WA 56, 347. 10 WA 48, 284. 11 WA 27, 376c. 12 WA 13, 701. 13 Vgl. Hofheinz, Philipp Melanchthon, 78–83. 14 A. a. O., 97. 15 Jung, Frömmigkeit, 264; s. auch 218f. 16 Instiutio IV, 19, 18, S. 542. 17 S. Lutz, Ergib dich, 29.
Gesundheitssorge als Topos evangelischer Frömmigkeit
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heitszeiten dient,18 ist ein eindrücklicher Beleg dafür, wie dementsprechend zu beten sei. Doch haben sich, nach Zwingli, die Menschen auch um ihre Gesundheit zu kümmern, nicht nur, um dadurch Gottes Schöpfungswerk zu erhalten, sondern auch, um dem Staatswohl zu dienen, was vor allem diejenigen in die Pflicht nimmt, die für die Erziehung von Kindern und Jugendlichen zuständig sind.19 Im 17. Jahrhundert werden Krankheit und Gesundheit oft in der Gebets-, Erbauungs- und Hausväterliteratur20 sowie im Bildmotiv des Christus apothecarius thematisiert.21 Besonders in der aufblühenden geistlichen Dichtung, die in den für das Luthertum typisch werdenden Gesangbüchern rasch Aufnahme und weite Verbreitung fand, kommt man darauf zu sprechen. So heißt es in Ludwig Helmbolds „Nun lasst uns Gott, dem Herren“: „Ein Arzt ist uns gegeben, der selber ist das Leben; Christus, für uns gestorben, der hat das Heil erworben“ (EG 320,4). In „O Gott, du frommer Gott“ (EG 495) Johann Heermanns ertönt die Bitte: „Gesunden Leib gib mir, und dass in solchem Leib ein’ unverletzte Seel und rein Gewissen bleib“. Paul Gerhardt erinnert in seinem Lied „Nun danket all und bringet Ehr“ daran, dass Gott es ist, „der uns von Mutterleibe an frisch und gesund erhält, und, wo kein Mensch nicht helfen kann, sich selbst zum Helfer stellt“ (EG 322,3). In „Die güldene Sonne“ bekennt er: „Sein [sc. Gottes] Heil und Gnaden, die nehmen nicht Schaden, heilen im Herzen die tödlichen Schmerzen, halten uns zeitlich und ewig gesund“ (EG 449,8). Der Gnesiolutheraner Johannes Olearius bezeugt in seinem innigen Gebetslied „Herr, öffne mir die Herzenstür“: „Dein Wort [sc. Herr] bewegt des Herzensgrund, dein Wort macht Leib und Seel gesund, dein Wort ist’s, das mein Herz erfreut, dein Wort gibt Trost und Seligkeit“ (EG 155,2). Samuel Rodigasts Dichtung „Was Gott tut, das ist wohlgetan“ spricht davon, dass Gott „als mein Arzt und Wundermann […] mir nicht Gift einschenken“ wird „für Arzenei“ (EG 372,3). Schließlich erinnert auch noch der Text von Joachim Neanders „Lobe den Herren“ daran, dass es der „Herr“ ist, „der künstlich und fein dich bereitet, der dir Gesundheit verliehen, dich freundlich geleitet“ (EG 316/317,3). Ohne Rückbezug auf den umfassenderen geistlichtheologischen Kontext der theologia medicinalis können diese Aussagen zynisch missverstanden werden. Auch im Pietismus, besonders dem lutherischer Prägung, werden Krankheit und Gesundheit thematisiert, allen voran von P.J. Spener, A.H. Francke und von N. von Zinzendorf. Spener z. B. nimmt die Heilung der zehn Aussätzigen (Lk. 17,11–19) zum Anlass, um über „Leibliche Gesundheit und Krankheit“ zu predigen und betont: 18 19 20 21
Zwingli, gesang; Yoder, Zwingli. S. Rückert, Ideen, 31–35. Vogler, Gebetbücher. Steiger, Medizinische Theologie, 51–144.323–328; Krafft, Christus als Apotheker.
152
Christoffer H. Grundmann
„Gott hat in der Schöpfung den Menschen erschaffen, […] nach seinem Bild, also auch ohne Tod […]; folglich in lauter Gesundheit. […] Wer gesund ist, hat solche Gesundheit wohl in acht zu nehmen; denn wer sich selbst um seine Gesundheit bringt, ist ein Mörder an sich selbst und hat deswegen ein schweres Gericht“.22
Anders als Spener betont A.H. Francke in einer über den gleichen Text gehaltenen Predigt die Notwendigkeit rechter Buße und Bekehrung, „so lange noch Zeit ist“, man sei krank oder gesund.23 Krankheitszeiten bieten deswegen eine vorzügliche Gelegenheit zu echter Herzensbekehrung, weil sie, körperlich spürbar, auf die Not der Seele verweisen, die zu retten und zu bewahren ist. Dennoch verlor Francke auch den Leib nicht aus den Augen. Im Gegenteil, die Krankenversorgung und Gesundheitspflege in den Halleschen Anstalten, die sich auch auf die 1705 begonnene Missionsarbeit in Tranquebar, Südindien, erstreckte,24 wurden zu Vorbildern für ähnliche Einrichtungen anderswo, dieweil die Medikamente der Apotheke des Waisenhauses Weltruhm erlangten.25 Wie in Halle, so gab es auch in der Herrnhuter Brüdergemeine eine bemerkenswerte Gesundheitsfürsorge. Weil nach Zinzendorf der Leib nicht Hindernis der Erlösung ist, sondern die sterbliche „Hütte“, in die sich Gott durch die Menschwerdung selbst hineinbegeben hat, darum gibt es eine geistliche Pflicht, auch auf die Gesundheit des Leibes zu achten gemäß dem von Zinzendorf ausgegebenen Motto: „Ich bedien mein sterbendes Gebeine, weil ich’s anzusehen hab als Seine“.26 Ein Indiz dafür, wie sehr trotz allem praktischen Engagement in der Krankenund Gesundheitspflege im Pietismus des 17. und 18. Jahrhunderts das Hauptaugenmerk der Seelengesundheit galt, sind die Anfang des 18. Jahrhunderts erscheinenden, auch für ein Laienpublikum verfassten Manualia für Krankenbesuche,27 die praktische Anleitungen und Hilfen geben, und dies mit einer gelegentlich durchaus modern anmutenden, quasi psychosomatischen Akzentuierung. Kranke waren nicht nur zu trösten, sondern sollten auch durch Andacht, gemeinsames Singen, dem Vorlesen erbaulicher Geschichten und durch Gespräche aufgeheitert und ermuntert werden, um ihre körperliche oder seelische Krise besser zu bewältigen.28 Dem gab G. Neumark mit seinem Lied „Wer nur den lieben Gott lässt walten“ gültigen Ausdruck. Darin rät er: 22 23 24 25 26 27
Spener, Evangelische Glaubens-Lehre, 297. Francke, Bekehrung; Zsindely, Krankheit, 20–22. Grundmann, Gesandt zu heilen!, 110–114. Poeckern, Waisenhaus-Apotheke. Spangenberg, Leben, 2149. Marperger, B.W., Getreue Anleitung zur wahren Seelen-Cur bey Krancken und Sterbenden, Nürnberg 1717; Urlsperger, S., Der Krancken Gesundheit und der Sterbenden Leben, Augsburg 1723. 28 Schenda, Leidensbewältigung; Zsindely, Krankheit, 38–39.
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„Wer nur den lieben Gott lässt walten und hoffet auf ihn allezeit, den wird er wunderlich erhalten in aller Not und Traurigkeit. […] Was helfen uns die schweren Sorgen? Was hilft uns unser Weh und Ach? Was hilft es, dass wir alle Morgen beseufzen unser Ungemach? Wir machen unser Kreuz und Leid nur größer durch die Traurigkeit. Man halte nur ein wenig stille und sei doch in sich selbst vergnügt, wie unsres Gottes Gnadenwille, wie sein’ Allwissenheit es fügt; Gott, der uns sich hat auserwählt, der weiß auch sehr wohl, was uns fehlt“ (EG 369,1–3).
Unter dem Einfluss neuer naturwissenschaftlicher, auch medizinischer Erkenntnisse29 und der sich im Gefolge R. Descartes’ allmählich durchsetzenden mechanistisch-vitalistischen Auffassung von Leben, verliert das Verständnis von Krankheit und Gesundheit mehr und mehr die einstige transzendental-eschatologische Dimension. Immer weniger wird dazu angeleitet, die durch Erkrankung evozierten existenziellen Ängste mit Gebet, Gesang und Andacht zu bewältigen bzw. die angefochtenen Gewissen zu trösten. Vielmehr belehren in der Zeit der Aufklärung Pfarrer und Prediger als bestallte „Lehrer der Religion“ in ihren „Kanzelreden“ die Gemeinden über die Ursachen von Krankheit und Gesundheit im vernünftigen Sinne und informieren über neueste medizinische Erkenntnise wie z. B. die Blatternimpfung30 oder „Die Kunst alt zu werden nach Hufeland“.31 Doch gab es auch andere Stimmen in jener Zeit, wie z. B. die des Leipziger lutherischen Universitätspredigers J.F. Bahrdt, für den Gesundheit „die edelste Gabe“ Gottes ist, über die „dermaleinst […] Rechenschaft vor Gott abzulegen“ sein wird. Letztlich könne zwar auch der rechte Glaube nicht vor den „Zufälle[n] des Leibes“ bewahren, doch übe solcher Glaube immerhin „einen gesegneten Einfluss aus, die verlorene Gesundheit […] wieder zu erlangen“, weil er dazu ermutigt, „die Hilfe des Arztes [zu] suchen und die ordentlichen Hilfsmittel [zu] gebrauchen, die Gott zur Gesundheit des Leibes verordnet hat“.32 Auf breiter Basis wandelte sich das Verständnis von Gesundheit und Krankheit aber erst in der Mitte des 19. Jahrhunderts infolge bahnbrechender medizinischer Entdeckungen, die zur Identifizierung der Erreger der meisten bis dahin oft tödlich verlaufenden Epidemien und zur Entwicklung wirksamer Medikamente und Präventionsmaßnahmen führten.33 Dadurch verloren in kürzester Zeit viele der gefürchteten Krankheiten, die man bislang als unabänderliches Schicksal hatte ertragen müssen, ihren lebensbedrohlichen Charakter. Das wurde nicht nur von praktizierenden Medizinern, sondern auch von erwecklichen Kreisen Englands, Nordamerikas und Deutschlands mit Begeisterung 29 Toellner, Medizin. 30 Johann Christian Grot hält in St. Petersburg „Kanzelvorträge über die Blatternimpfung“ und publiziert diese 1781. 31 Krause, Predigt, 139. 32 Bahrdt, Grund, 1317–1318. 33 Grundmann, Gesandt zu heilen!, 120–125.
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zur Kenntnis genommen, sah man doch in den neuen medizinischen Möglichkeiten, zumindest anfangs, ein Wiederaufleben der einst den Jüngern gegebenen Heilungsvollmacht. Das führte 1838 zur Entstehung der ärztlichen Mission, deren Anliegen es war, durch tätige imitatio Christi (Nachahmung Christi) den Armen in städtischen Slums daheim und den Menschen in Übersee Heilung und Heil zukommen zu lassen.34 Auch die Heilungsbewegung, die, vom Wirken charismatischer Persönlichkeiten wie z. B. J. Ch. Blumhardt inspiriert, in dieser Zeit vor allem in angelsächsischen Ländern zur Entfaltung kam, hat die Wiederherstellung von Gesundheit zum Ziel, oft allerdings mit einer antirationalistischen Tendenz das „Wunder“ der „Heilung allein durch Glauben“ betonend.35 Auch die vielen in der Erweckungsbewegung entstehenden Diakonissenkrankenhäuser legen ein beredtes Zeugnis für die engagierte Sorge um Gesundheit ab; vor allem verkörperte die evangelische Gemeindeschwester, die „von vielen als die ‚Krone der Diakonie‘ angesehen“ wurde,36 eine umfassende, keineswegs nur medizinische, sondern auch soziale und geistlich orientierte Gesundheitsfürsorge an der Basis. Soweit bekannt, hat sich in dieser Zeit auch zum ersten Mal ein systematischer Theologe dem Thema Gesundheit in einem Grundlagenwerk gewidmet. Richard Rothe bemerkte dazu in seiner Theologischen Ethik, dass es „unsere Pflicht“ sei, „für die Wiederherstellung unserer gestörten Gesundheit Sorge zu tragen […] mittelst des Gebrauches ärztlicher Hülfe […]“.37 Diese im deontologischen Sinne Kants zu verstehende Pflicht zur Gesundheit, die dann knapp fünfzig Jahre später von den Nationalsozialisten für ihre volks- und rassenhygienische Gesundheitsideologie pervertierend umgedeutet wurde,38 will Rothe ausdrücklich bei chronischen Krankheiten bewährt sehen.39 Über die Jugendbewegung kommt Anfang des 20. Jahrhunderts das Thema Gesundheit auch auf die Tagesordnung evangelischer Christen. In kritischer Abgrenzung von der Absicht, durch Lebensstilreformen den „neuen Menschen“ zu bilden, äußerte sich W. Stählin dazu in seinem 1930 erschienenen Buch „Vom Sinn des Leibes“. Darin entfaltet er ein biblisch-christliches Leibverständnis, für das die Sorge um Gesundheit nicht losgelöst von der Frage nach dem Sinn des Lebens betrieben werden kann; denn „nirgends anders als an unserem Leib und durch unseren Leib will das Gestalt gewinnen, was der Sinn unseres menschlichen Lebens ist“.40 Auch in der Dichtung seines Zeitgenossen O. Riethmüller 34 35 36 37 38 39 40
A. a. O., S. 130–230. Record, IV–V; Porterfield, Healing, 159–185. Katscher, Krankenpflege, 161. Rothe, Ethik, § 916, 35–36. Proctor, Blitzkrieg. Rothe, Ethik, 36. Stählin, Sinn, 58; zur Gesundheitssorge a. a. O., 44–52.
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zeigen sich Verbindungen zur Jugendbewegung, wie dessen „Nun gib uns Pilgern aus der Quelle“ erkennen lässt. Darin wird ja nicht nur das Motiv der Pilger- bzw. Wanderschaft aufgenommen, sondern auch das des Lichtes und das der Gesundheit: „Gib deiner Liebe Lichtgedanken mit Vollmacht uns in Herz und Mund; mach, woran Leib und Seele kranken, durch deine Wunderhand gesund“ (EG/Württemberg 579,2). Als systematische Theologen behandeln im 20. Jahrhundert, um nur zwei namhafte Repräsentanten zu nennen, Karl Barth und Paul Tillich das Thema Gesundheit. Barth bestimmt Gesundheit als die „Kraft zum Menschsein“ im umfassenden, d. h. im vital-natürlichen, im persönlich-individuellen, im sozialen und im politischen Sinn.41 Tillich hingegen versteht Gesundheit wesentlich individuell als dynamischen Ausgleich zwischen „Selbst-Identität und SelbstVeränderung“ in allen Dimensionen menschlichen Lebens.42 In Verbindung mit seinen Reflexionen über Heilung43 befruchteten seine Erwägungen nicht nur das Gespräch zwischen Medizinern und Theologen nachhaltig, sondern auch die Evangelische Pastoralmedizin,44 die sich im Laufe der Zeit zur professionellen therapeutischen Seelsorge wandelte.45 Auf ökumenischer Ebene kommt es 1968 beim Weltrat der Kirchen zur Gründung der Christlichen Gesundheitskommission (so die deutsche Übersetzung des englischen Christian Medical Commission CMC), um das aus der Arbeit der ärztlichen Mission sowie der Erweckungsbewegung entstandene institutionalisierte Engagement von Kirchen in der Krankenfürsorge global zu koordinieren und „das Wesen des christlichen Heilungsauftrages […] in einer sich ändernden Welt“ zu studieren.46 Dabei wurde deutlich, dass sich weder Kirche noch Theologie von den Fragen nach Heilung und Gesundheit dispensieren können.47 Vielmehr gehört es zum Amt der Kirche, das semireligiöse Vertrauen in die Medizin heutzutage vom Evangelium her zu kritisieren; denn der „Versuch, das rechte Verständnis von Gesundheit und einen kreativen […] Einsatz“ dafür „zu fördern“ ist „Verkündigung der Frohbotschaft“, Zeugnis „für Gott und seine Macht“ und Teil der „Befreiung der Menschen von falschen Hoffnungen und Abhängigkeiten“.48 Die seit 1990 mit öffentlicher Förderung durchgeführten Studien zum Einfluss religiöser Lebensführung auf den individuell-persönlichen wie auch den Ge41 42 43 44 45 46 47 48
Barth, Kirchliche Dogmatik III,4, 423. Tillich, Gesammelte Werke, IX, 288–295. Grau, „Healing Power“. Allwohn, Evangelische Pastoralmedizin. Stollberg, Therapeutische Seelsorge. McGilvray, Gesundheit, 62. Grundmann, Legacy, 129–132. McGilvray, Gesundheit, 10.
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sundheitszustand von Gemeinschaften haben mittlerweile zu einer Flut von Publikationen und Programmen zu „Spiritualität und Gesundheit“ geführt;49 seit 2005 gibt es ein entsprechendes Forschungsinstitut in Bern und seit 2011 eine wissenschaftliche internationale Gesellschaft.50 Dies sind weniger Indizien dafür, dass Religion und Spiritualität naturwissenschaftlich hoffähig geworden sind als vielmehr dafür, dass das gesundheitsförderliche Potenzial religiös begründeter Lebensstilregeln als wichtiger kostenreduzierender Faktor im Gesundheitswesen einer überalternden Gesellschaft erkannt worden ist und dementsprechend nutzbar gemacht werden soll.51
3.
Folgerungen für das Verhältnis von evangelischer Spiritualität und Gesundheit heute
Vorgehende Skizze hat gezeigt, wie Gesundheit seit dem Aufkommen der evangelischen Frömmigkeitstradition wahrgenommen wurde. Zugleich wurde deutlich, wie sich protestantische Theologen diesem Thema näherten. Die auf diese Weise gewonnenen Einsichten sind nun in einem weiteren Schritt in ihrer Bedeutung für das gegenwärtige Verhältnis von Spiritualität und Gesundheit zu befragen. Krankheit und Gesundheit sind, wie eingangs erwähnt, Universalphänomene menschlicher Existenz. Sie sind Ausdruck je subjektiver Erfahrungen von Lebensminderung bzw. -mehrung, während sich in der Bitte um Gesundheit existenzielle Verlustangst angesichts akut-vitaler Lebensbedrohung artikuliert. Die Sorge um Gesundheit und Wohlbefinden ist ganz natürlich, sie ist lebensnotwendig, um die Herausforderungen des Lebens zu meistern. Wird Gesundheit vernachlässigt, schwinden die Kräfte rasch, und körperlicher, oft auch geistiger Verfall setzt ein. Das aber wäre nicht nur in Zwinglis Augen eine Missachtung leiblicher menschlicher Existenz, die Gott geschaffen hat. Auch Philipp Jakob Spener erinnerte mit starken Worten daran, dass, „wer sich selbst um seine Gesundheit bringt“, ein „Mörder an sich selbst“ sei und „deswegen ein schweres Gericht“ zu erwarten habe. Dem stimmte auch noch Johann Friedrich Bahrdt im Zeitalter der Aufklärung zu, als er erklärte, dass Gesundheit „die edelste Gabe Gottes“ sei, über dessen Pflege „dermaleinst […] Rechenschaft vor Gott abzulegen sein“ wird. Evangelischerseits kann daher Gesundheit nicht nur, wie es in der Definition der WHO heißt, als „Zustand des vollständigen körperlichen, 49 Koenig, Handbook. 50 http://www.klinik-sgm.ch/index.php/forschungsinstitut-fuer-spiritualitaet-und-gesundheit. html bzw. http://www.iggs-online.org/. 51 Koenig, Medicine, 21–36.
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geistigen und sozialen Wohlergehens“, also statisch-reduktionistisch verstanden werden. Evangelischerseits ist stets zu betonen, dass Gesundheit auch durch ein entsprechendes lebensförderliches Verhalten im umfassenden Sinne als solche zu bewähren, also auch dynamischer Natur ist. Die Hochschätzung von Gesundheit, wie sie z. B. in Bahrdts Predigt Ausdruck gefunden hat, mutet auf den ersten Blick recht modern an, zumal in einer Zeit, in der „Gesundheit“ als „das höchste Gut […] unserer Gesellschaft“ gepriesen wird.52 Darin spiegelt sich die längst zur Selbstverständlichkeit gewordene Maxime, dass Gesundheit in der Tat eine ultimative Bedeutung für gelingendes Leben zukommt. Das zeigt sich ja nicht nur in der Bereitschaft zu entsprechend hohen Ausgaben für Gesundheit, in 2013 immerhin annähernd 315 Mrd. Euro, das sind etwa 11,2 % des Bruttosozial- bzw. Bruttoinlandprodukts,53 sondern auch in den rund 105 Mrd. Euro, die noch darüber hinaus zusätzlich in Deutschland für Wellness und Wohlbefinden ausgegeben werden.54 Diese quasi semireligöse Bedeutung, die der Gesundheit in unserer Gesellschaft zugesprochen wird, ist „tief symptomatisch für das, was“ Menschen „aus dem Leben machen und was das Leben aus ihnen macht“.55 Eine derartige Apotheose von Gesundheit ist evangelischerseits als solche zu demaskieren, damit Menschen zu einem „rechten Verständnis von Gesundheit“ finden können, zu einem Verständnis, das Gesundheit in den Dienst des Lebens nimmt, anstatt Menschen zu Sklaven von Gesundheit zu machen. Indem evangelische Spiritualität sich diesen Herausforderungen gegenüber nicht verschließt, trägt sie unmittelbar zur „Befreiung der Menschen von falschen Hoffnungen und Abhängigkeiten“ bei und damit zu deren Bekehrung von „falschen Göttern zu dem wahren Gott“.56 Niemand wird ernsthaft bestreiten, dass es, um am Leben zu bleiben, einer entsprechend achtsamen Lebensführung und eines Wissens um Gesundheit bedarf. Doch die heutigentags zu beobachtende, auf gesundheitsschädliche Lebensgewohnheiten reagierende und daher gesundheitspolitisch durchaus verständliche Betonung von Wellness und Gesundheit stilisiert Gesundheit zum verlockenden Ideal eines beschwerdefreien, leistungsstarken und jugendlichen Lebens. Um dieser Fiktion so nahe wie möglich zu kommen, werden alle nur erdenklichen Anstrengungen gemacht, um Jugendlichkeit zu erhalten und um 52 So programmatisch am Anfang einer Resolution von 2004 des für das deutsche Gesundheitswesen repräsentativen Bündnisses Gesundheit 2000, zu dem z. Zt. 38 Verbände und Organisationen des Gesundheitswesens Deutschlands wie Pflegeverbände, Ärztekammern, Apotheker u. a. gehören; http://www.bundesaerztekammer.de/buendnis/30buendnis.html (Pressemitteilung Bündnis Gesundheit 2000 vom 24. 03. 2004). 53 Statistisches Bundesamt Wiesbaden http://www.destatis.de. 54 http://de.statista.com/themen/2027/wellness-industrie/. 55 McGilvray, Gesundheit, 10f. 56 A. a. O., 10.
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das eigene Leben zu verlängern. Das führt oft zu geradezu kurios-rigiden, puristischen Lebensstilen und gelegentlich zu groteskem Verhalten in Bezug auf bestimmte „gesunde“ Diäten und Leibesübungen. Weitaus bedenklicher ist allerdings, dass solche Fixierung auf Fitness und individuelles Wohlergehen einen fatalen Welt- und Lebensverlust bewirkt; denn trotz aller Präventionsmaßnahmen wird sich die conditio humana, werden sich Tränen und Schmerz, Sterben und Tod letztlich nicht verhindern lassen. Die Reformatoren und die in der Tradition der von diesen begründeten Theologie und Spiritualität stehenden Nachfolger wussten sehr genau darum, dass sich eines von Tränen und Schmerz, von Verfall und Tod unbeeinträchtigten Lebens auf Dauer zu erfreuen jenseits menschlicher Möglichkeiten liegt und erst für die Zeit des neuen Himmels und der neuen Erde verheißen ist, wenn Gott selbst alle Tränen abwischen wird; erst dort werden weder „Leid noch Geschrei noch Schmerz“ sein, erst dort wird es keinen Tod mehr geben (Offb 21,4). Evangelische Spiritualität hat das Wissen um diesen Horizont in den Gesundheitsdiskurs einzutragen; denn nur dieser Horizont bewahrt vor falschem Aktivismus und trügerischen Hoffnungen, da er zu realistischer Nüchternheit befreit. Um der Erhaltung von Gesundheit willen ist es also in der Tat von eminenter Bedeutung, dass die eschatologische Dimension nicht aus den Augen gerät. Ein weiterer, aus der obigen Skizze sich ergebender Aspekt verweist auf den unlöslichen Zusammenhang von Gesundheitsfürsorge und Leibverständnis, den Zinzendorf auf die schlichte Formel brachte „Ich bedien mein sterbendes Gebeine, weil ich’s anzusehen hab als Seine“. Es ist ja nicht nur das säkularisierte, mechanistisch-vitalistische Gesundheitsverständnis als solches, das der Kritik bedarf; in einem noch viel stärkeren Maße ist Kritik an dem dahinter stehenden Menschenbild und Körperverhältnis nötig, weil diese selektiven Idealen vom Menschsein verpflichtet sind, Idealen, die ästhetischen Standards folgen, die teils durch medizinische Möglichkeiten, Marktangebote der Kosmetikindustrie und durch die Mode gesetzt werden, teils aber auch auf kollektiven, sozialen Gruppenzwängen beruhen wie zum Beispiel die Propagierung der Persönlichkeitsdistinktion in der anonymen Masse durch Körperdekoration mittels Tattoos und Piercing oder durch die Popularisierung schriller Idole des Showbusiness. Entgegen der gnostisch-mystischen Abwertung des Leibes als vergänglicher, sich zu entledigender Hülle bzw. entgegen jeder Art von einer einklagbaren Pflicht zur Gesundheit, bezeugt evangelische Spiritualität ein Körperverständnis, das, weil es darum weiß, dass der Mensch „nach dem Bilde Gottes“ (Gen 1,27) geschaffen ist, weder einem Körperkult in all seinen medizinischen, kosmetischen und antiaging Schattierungen huldigt, noch die Verachtung des Leibes in Gestalt von Ausbeutung jedweder Art, von Verstümmelung und todbringenden Lebensstilen widerspruchslos hinzunehmen bereit ist. Die Rede vom Menschen als dem Bilde Gottes etabliert eine Repräsentationsrelation, die ganz anderer
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Natur ist als diejenige, denen die Leitbilder der Bodysculpting Ideologie, der Schönheitschirurgie oder der Genetik verpflichtet sind; denn diese orientieren sich an einem mehr oder weniger statischen Körperbild, das von jungen, gesunden, erfolgreichen, wohlhabenden, unabhängigen Menschen bestimmt ist, die selbstbewusst auftreten, kein soziales Engagement erkennen lassen und auf der Höhe ihrer körperlichen Kraft über ihr Leben ganz nach eigenem Ermessen verfügen zu können meinen. Dieses eskapistische Ideal bedient die Wünsche und Sehnsüchte vieler Menschen; es entspricht aber, wie alle wissen, in keiner Weise der tatsächlichen Wirklichkeit, die immer auch von Alter und Krankheit, von Versagen und Misserfolg, von Angst und Unsicherheit sowie von Behinderungen und Entstellungen mancherlei Art geprägt ist. Wird dieses von Realitäts- und Weltverlust geprägte Ideal zu gültiger Norm erhoben, dann kehrt sich der Traum vom „neuen“ bzw. vom „perfekten Menschen“ gegen sich selbst und wird unmenschlich, worauf ja Wilhelm Stählin am Vorabend der nationalsozialistischen Machtergreifung hellsichtig hingewiesen hatte. Wie evangelische Spiritualität alle Tendenzen zur Apotheose von Gesundheit unter Hinweis darauf zu kritisieren hat, dass Gesundheit kein ultimativer Selbstzweck ist, so hat sie sich auch der diesem Gesundheitsverständnis impliziten Anthropologie genüber kritisch abzugrenzen. Menschen leben nicht, um gesund zu sein; Menschen sorgen sich um ihre Gesundheit, um sich möglichst lange ihres Lebens erfreuen zu können, eines Lebens, das immer auch von Krankheit und Leiden, von Sterben und Tod gezeichnet sein wird. Deswegen kann Gesundheit nicht die menschliche Lebensmaxime sein; diese sollte vielmehr darin bestehen, dem als ultimativ erkannten Lebenssinn glaubwürdigen Ausdruck zu geben. Neben diesen sehr grundsätzlichen Einsichten ist aus obiger Skizze auch deutlich geworden, dass schon die Reformatoren je unterschiedliche, teils gegensätzliche Ansichten darüber hegten, wie sich Glaubende in Krankheitszeiten zu verhalten haben. Ist das Gebet um Heilung für diejenigen zulässig, die erklärtermaßen dazu bereit sein wollen, alle Widerfahrnisse ihres Lebens vertrauend aus Gottes Hand zu nehmen? Mutet ihnen dann Gott letztlich nicht auch Krankheit und Leiden zu? Daran bestanden sowohl für H. Zwingli als auch für J. Calvin keinerlei Zweifel. Kranke haben auch in Krankheitszeiten Gottes Souveränität über ihr Leben vorbehaltlos anzuerkennen und daher ihr Leiden geduldig zu ertragen, anstatt sich dagegen vermittels der – sicherlich verständlichen – Bitte um Heilung aufzulehnen. Krankheiten werden dementsprechend, wie dann später auch oftmals im Pietismus,57 als „Züchtigungen“ Gottes, als Arznei, die „frei macht von den Leidenschaften dieser Welt“, und als „Botschaften vom
57 Zsindely, Krankheit, passim.
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Tode“ verstanden, wodurch sie ihren rein negativen Charakter und ihre Lebensbedrohlichkeit verlieren.58 Melanchthon und vor allem Luther haben mit derlei Vorbehalten allerdings weniger bzw. keine Probleme gehabt. Beide haben inbrünstig um Heilung gebetet und auch anderen geraten, es ebenso zu tun. Luther begehrte sogar einmal derart leidenschaftlich gegen den drohenden Tod seines schwer erkrankten Mitstreiters Friedrich Myconius auf, dass er diesem mitteilte, er bete darum, dass sein, Luthers, nicht Gottes Wille geschehen möge, damit Myconius am Leben bleibe: „Hoc peto, hoc volo, & fiat mea voluntas, Amen“ (Dies fordere ich, dies will ich, und mein Wille geschehe).59 Neben dem Gebet um Heilung machte Luther selbstverständlichen, wenn auch sehr eigenwilligen Gebrauch von Arzneien und hielt wiederum auch andere dazu an, ihre Medizin einzunehmen. Eine Polemik gegen die Hilfsmittel, wie sie Medizin und Pharmazie bereitstellen, fehlt. Melanchthon hielt gar dafür, dass die Missachtung von Medizin und Arznei Ausdruck mangelnder Frömmigkeit sei, eine Überzeugung, die so gut wie von allen protestantischen Glaubenszeugen geteilt wurde. Allerdings wurde solch reifer Pragmatismus, der ja auch schon im hellenistisch geprägten apokryphen Jesus Sirach 38,1–15 festzustellen ist, von Vertretern der gegen Ende des 19. Jahrhunderts aufkommenden Glaubensheilungsbewegung nicht mehr geteilt. In polemischer Abgrenzung gegenüber der monistischen Wissenschaftsgläubigkeit formulierten sie die radikale Alternative: entweder Glaube oder Medizin,60 eine unselige Alternative, die in bestimmten protestantischen Kreisen wie z. B. dem Power Healing bis heute nicht überwunden ist.61 Unselig ist diese Alternative deswegen, weil sie zunächst einmal Denken und Forschen mit ihren unzähligen lebensförderlichen praktischen Errungenschaften von vorn herein als widergöttlich diskreditiert; sodann aber auch deswegen, weil sie verkennt, dass sowohl Glaube als auch wissenschaftliches Forschen und Erkennen Ausdruck menschlicher Kontingenzbewältigung sind, um je spezifische existenzielle Herausforderungen zu meistern; die Wissenschaft, um die praktischen Dinge des Lebens zu lösen, der Glaube, um eine tragfähige existenzielle Geborgenheit angesichts eigener Endlichkeits- und Vergänglichkeitserfahrung zu finden. Die Alternative Glaube oder Medizin entpuppt sich damit als Scheinalternative, die evangelische Spiritualität – um der Gesundheit willen – immer wieder als solche zu entlarven hat. Es geht gar nicht um Glaube oder Ratio, um Vertrauen in Gott oder Vertrauen in die ärztliche Kunst. Worum es geht, ist
58 59 60 61
Schwarz, Calvins Lebenswerk, 742. Brief vom 9. 1. 1541, WA, Briefwechsel, 9, S. 303; meine Hervorhebung. Record, passim. Wimber, Power Healing.
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vielmehr die möglichst erfolgreiche Bewältigung einer akuten Lebenskrise zur Vermeidung unzeitgemäßen Todes. Unter Hinweis auf die creatio continua wird durchgängig betont, dass Medizin und ärztliche Kunst dank Gottes gnädiger Fürsorge den Menschen nach dem Fall zur Hilfe in Krankheitszeiten gegeben worden sind. Deswegen habe man sich ihrer auch entsprechend zu bedienen. Das führte, wie erwähnt, sowohl bei den Mennoniten als auch in Halle und Herrnhut zum Aufbau einer beachtlichen Gesundheitsfürsorge. Die im Aufklärungszeitalter einsetzende Säkularisierung des Verständnisses von Gesundheit und Krankheit, die seit dem 19. Jahrhundert zu vollem Durchbruch kam, führte aufgrund von vordem ungeahnten Möglichkeiten medizinischer Intervention auch zu einem veränderten, sich verselbständigenden Gesundheitsparadigma. Statt wie bisher als Freiheit von Krankheit und Beschwerden verstandenes Geschenk wurde die nunmehr rein materialistisch-funktionalistisch konzipierte Gesundheit zu einem durch entsprechende Lebensstilerziehung des „neuen Menschen“ sowie durch pharmakologische und chirurgische Manipulation zu einem herstellbaren bzw. konservierbaren, von Laborwerten genormten Produkt. Diesem Konzept widersprach Karl Barth vehement mit seiner Bestimmung von Gesundheit als der „Kraft zum Menschsein“, dieweil erweckliche Kreise mit institutionalisierten Initiativen, in denen Heilung und Heil im Sinne praktizierter imitatio Christi Gestalt gewannen – Diakonissenkrankenhäuser, Gemeindeschwestern, ärztliche Mission – dem tatkräftigen Protest entgegensetzten. Hinsichtlich der Wahrnehmung des schriftgemäßen Auftrags, die Kranken zu besuchen (Mt 25,36), bestanden evangelischerseits niemals Fragen. Krankenbesuche waren für ordinierte Amtsträger wie für Laien eine Selbstverständlichkeit. Alle engagierten sich dabei gemäß ihrer jeweiligen Gaben. Vornehmlichstes Anliegen dieser Besuche war es, die Kranken aus und mit dem Worte Gottes zu trösten, in ihnen die Gewissheit ewigen Lebens durch Hinweis auf Kreuz und Auferstehung Jesu Christi zu stärken, mit ihnen zu singen und zu beten. Luthers Trostschriften für Kranke z. B.62 zeigen ihn als einen um die Unverfügbarkeit von Leben und Gesundheit wissenden Seelsorger, der, ohne Leiden und Schmerzen zu verherrlichen oder die Todesgefahr zu verschweigen, die Kranken unter Hinweis auf Christi Leiden, Kreuz und Auferstehung zum geduldigen Ertragen ihrer Krankheit ermutigte, wie auch immer diese verlaufen mag, lässt doch Leiden, so Luther in tröstender Absicht, nicht zuletzt auch dem Bilde Christi und den Heiligen gleichförmig werden.63 62 Neben Briefen (vgl. Mennecke-Haustein, Luthers Trostbriefe), allen voran der Sermon von der Bereitung zum Sterben (1519) und die Tesseradecas consolatoria (1520). 63 Dies wird eindringlich deutlich in seinen Briefen an seinen sterbenden Vater vom 15. 2. 1530
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Die geistliche Bewältigung von Krankheit – und damit die Gesundung im umfassenden Sinn – ist im Kontext evangelischer Frömmigkeit also über lange Zeit durch den den biblischen Trost des Wortes Gottes mitteilenden Zuspruch von Seelsorgern und Laien, durch das sich an Christus wendende Gebet sowie durch geistliche Lieder während der Krankenbesuche geprägt. Eine sakramentale Handlung wie die Extrema Unctio („Letzte Ölung“– seit dem Zweiten Vaticanum wieder das „Sakrament der Krankensabung“) fehlt, ebenso gibt es keine Anrufung von fürbittenden Stellvertretern. In seinen Tesseradekas consolatoria von 1520 für seinen damals schwer erkrankten Kurfürsten Friedrich von Sachsen wies Luther ausdrücklich darauf hin, dass er die Zahl vierzehn in bewusster Analogie zu den Vierzehn Nothelfern, den quattuordecim Divorum, gewählt habe, die in Krankheitsfällen abergläubisch angerufen werden, quos superstitio nostra omnium malorum depulsores fecit et appellavit, anstatt den Trost allein aus der Heiligen Schrift zu holen, solatia nostra e scripturis sanctis esse petenda,64 wie er es dann in den folgenden vierzehn Kapiteln gleichsam schulmäßig durchführt. Sich an Christus wendendes Gebet und tröstender Zuspruch aus dem Wort Gottes haben daher als typische Merkmale evangelischer Krankenpastoral zu gelten, wie dies ja auch in den pietistischen Manualia für Krankenbesuche des 18. Jahrhunderts betont wird. Im heutigen, auf Effektivität bedachten, Medizin- und Gesundheitswesen gewinnen Krankenbesuche der dargestellten Art eine ganz besondere Bedeutung; denn während der in Kliniken und im organisierten Gesundheitswesen unvermeidlich körperfixierte Blick dazu verführt, aufzugeben, wenn „nichts mehr zu machen ist“, steht den Menschen christlicher Hoffnung ein viel weiterer Verhaltens- und Handlungsspielraum zu Verfügung. Diejenigen, die zuversichtlich darauf vertrauen, dass Sterben und Tod nicht sinnlose Vernichtung und radikale Auslöschung bedeuten, sind nämlich frei, zu gegebener Zeit alle unangemessene Leibsorge als solche zu erkennen und fahren zu lassen. Als Menschen, die um Erlösung vom Tode wissen, werden sie sich auf ihr Sterben vorbereiten und ihr „Haus bestellen“. Als Angehörige und Besucher werden sie sich den Leidenden mit deren Tränen, Ängsten und in ihrer Agonie nicht verschließen, die sie ja auch stets an ihre eigene Vergänglichkeit erinnern. Bis zuletzt werden sie anwesend zu sein suchen und damit nicht nur ein Zeichen existenzieller Solidarität setzen, sondern zugleich auch Zeugnis der Hoffnung geben, die in ihnen ist (1Petr 3,15). Das verwandelt das Sterben in einen Akt des Lebens. Gegenwärtig wird die oft stark verbal orientierte Krankenpastoral durch leibhafte, taktile Elemente wie Salbung und Segnung bereichert, wozu die Verund an seine sterbende Mutter vom 20. 5. 1531 (WA Br 5, 238–241; 6, 103–106). Vgl. auch WA Tr 2, Nr. 2194 (355–358); 5, Nr. 6445 (666). 64 WA 6, 106.
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einigte Evangelisch-Lutherische Kirche in Deutschland (VELKD) bereits seit 1994 eine eigene, immer wieder überarbeitete Agende vorgelegt hat.65 In Aufnahme von ökumenischen Anregungen aus den Orthodoxen Kirchen und dem Anglikanismus, aber auch aus charismatischen und pfingstlerischen Kreisen, werden Krankensalbung und -segnung unter Hinweis auf Jak 5,14–16 schriftgemäß legitimiert.66 Sie sind als ein notwendiges Korrektiv zu einer oft abstraktverkopften, zu sehr das Wort in seiner sprachlichen Artikulation betonenden protestantischen Theologie zu begrüßen; denn ein nur auf den Informationsgehalt reduziertes Wortverständnis widerspricht der Frohbotschaft, die darum weiß, dass das Wort „Fleisch geworden ist“ (Joh 1,1). Im aktuellen Diskurs um Spiritualität und Gesundheit, der in den USA schon seit Jahren viel selbstverständlicher geführt wird als in Kontinentaleuropa, sind schließlich auch noch die sich aus der Bezugnahme auf die altkirchliche theologia medicinalis sowie das Aufkommen des Christus apothecarius-Motivs ergebenden theologischen Implikationen kurz zu bedenken, da diese ja nicht nur das Erlösungsgeschehen in medizinischen bzw. pharmazeutischen Kategorien artikulieren, sondern auch Heilung und Genesung religiös konnotieren. Das nötigt dazu, das Verhältnis von Heilung zu Erlösung theologisch genauer zu bestimmen. Heilung ist keine nota ecclesiae, sie kann es nicht sein; denn während das Heil all denjenigen zuteil wird, die danach ehrlichen Herzens verlangen, kann dies von Heilung nicht gesagt werden. Nicht alle, die ihrer bedürfen und sie ersehnen, erfahren Heilung, wie schon der Apostel Paulus erleben musste (2Kor 12,7–9). Heilung ist Ausdruck von Gottes erhaltendem Schöpferhandeln und, wie die Geschichte von den zehn Aussätzigen (Lk 17,11–19) belehrt, zugleich immer auch eine potenzielle Heilserfahrung. Dass aus der potenziellen eine aktuelle Heilserfahrung wird, das ergibt sich nicht von selbst, sondern aus der unmittelbaren Erfahrung von Heil bzw. das bedarf der expliziten Evangeliumsverkündigung, durch die die Mehrdeutigkeit des vital Erlebten in die Eindeutigkeit eines persönlich-individuell ansprechenden Zuspruchs verwandelt wird. Desweiteren ist in diesem Zusammenhang auch an die Unverfügbarkeit jeder Heilung zu erinnern, was zur Vorsicht gegenüber einem allzu selbstsicheren Verhalten seitens derjenigen mahnt, die als medizinische, therapeutische oder auch als geistliche Heilungsexperten auftreten. Niemals sind es Menschen, die Heilung bewerkstelligen. Wohl können Menschen mit Geschick und Sachverstand erkannte Heilungshindernisse beseitigen und durch Medikamente oder Therapien den Heilungsprozess stimulieren. Dass aber Heilung tatsächlich eintritt, das hängt mit komplexen Regenerationskräften des durch Krankheit ge65 VELKD, Dienst. 66 Zimmerling, Gebet.
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schädigten biologischen Systems und Organismus zusammen bzw. kommt, christlich gesprochen, von Gott als der Quelle allen Lebens (s. Dtn 32,39). Bereits die ersten Jünger haben schmerzlich erfahren müssen, dass auch sie entgegen allen ihnen gegebenen Verheißungen und trotz all ihrer Anstrengungen nicht über Heilung als ein demonstratives Zeichen des Heils verfügen konnten (Mt 17,14–20). Derlei bittere Erfahrungen lehrten sie zu erkennen, dass ihr Auftrag nicht darin bestand, die Stelle Gottes einzunehmen, sondern schlicht darin, zu bezeugen, dass es der in Christus sich offenbarende lebendige und die Menschheit liebende Gott ist, der allen, die danach verlangen, „Leben zur Genüge“ geben will (Joh 10,10), und zwar „umsonst“, aus lauter Gnade. Dieser letzte Punkt, das „umsonst“ der göttlichen Gnade, wurde eigens in den zuerst in evangelischen Kirchen des 17. Jahrhunderts auftauchenden Christus apothecarius-Bildern thematisiert und veranschaulicht. Weder durch gutgemeinte Anstrengungen noch durch vorbildhaftes, verdienstliches Verhalten können Gottes Gnade und umfassende Gesundheit an Leib und Leben erworben werden. Gott selbst schenkt dieses frei und „umsonst“ all denjenigen, die es in Christus suchen. In der Feier des Gottesdienstes, so die Botschaft dieser Bilder, werden den Menschen diejenigen Arzneien dargereicht, die das Grundübel der Sünde und die Beschwerden der Seele kurieren; denn Jesus Christus hat nicht nur Zugang zum Baum des Lebens; sein Blut ist auch „das Gegengift gegen das Gift der Sünde“, das im Wort und den Sakramenten der Kirche bewahrt und an alle ausgeteilt wird, die dessen aufrichtigen Herzens begehren.67 Heutzutage ist evangelische Spiritualität hinsichtlich der Gesundheitssorge in wenigstens zweierlei Weise grundlegend herausgefordert: einmal durch die an Messbarkeit interessierte Fragestellung, inwiefern und über welche Mechanismen eine religös motivierte Lebensführung das körperliche Wohlergehen beeinflusst, eine Fragestellung also, die Glauben ausschließlich unter der Perspektive eines Mittels zum Zweck – und eben damit als Werk – betrachtet; zum anderen ist evangelische Spiritualität durch das hinter dieser Fragestellung stehende kulturell sanktionierte Gesundheitsverständnis mit der diesem eigenen Menschenbild herausgefordert, das mit seinem verbissenen Bemühen um Fitness, mit seiner Verdrängung von Behinderung und Altern, von Sterben und Tod einen fatalen Welt- und Lebensverlust bewirkt. Diesen Herausforderungen gegenüber ist die reformatorische Einsicht der gnädigen Rechtfertigung des sterblichen, aber durch Christus erlösten Sünders mit ihrem radikalen, kritischen Potenzial in überzeugender Weise neu zur Geltung zu bringen, damit Gesundheit als diejenige zuversichtliche Lebensfreude erkennbar wird, kraft derer Leben wahrhaft menschlich zu gestalten und zu bewältigen ist.
67 Steiger, Medizinische Theologie, 55.81.
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Michael Utsch
Evangelische Spiritualität und Psychologie
Zusammenfassung Nach einer Begriffsbestimmung von Spiritualität (1) wird der Streit um die Seele zwischen Psychologie und Theologie nachgezeichnet (2). Die Religionspsychologie wird als Vermittlerin in diesem Streit vorgeschlagen (3), und als eine unzulässige Vermischung wird der Ansatz einer spirituellen Psychologie dargestellt (4). Es folgt eine psychologische Beschreibung christlicher Spiritualität als Gottesbeziehung (5). Abschließend werden Nutzen und Grenzen einer Psychologie der Spiritualität aufgezeigt (6).
1.
Begriffsbestimmungen
Nach wie vor ist die Bedeutung des Konzepts „Spiritualität“ umstritten. Besonders die Zuordnung zum Religionsbegriff wird kontrovers diskutiert. Was ist das umfassendere Konzept – Religion oder Spiritualität?1 Während in der deutschsprachigen Theologie und Religionswissenschaft eher Zurückhaltung und Skepsis gegenüber „Spiritualität“ als einem wissenschaftlichen Begriff herrschen, hat dieser in der englischsprachigen Literatur in kurzer Zeit einen rasanten Aufstieg erlebt und „Religion“ längst ins Abseits gestellt. „Spirituell, aber nicht religiös“ ist dort eine häufig anzutreffende Selbsteinschätzung, die auch hierzulande im Aufschwung begriffen ist. Nach dem Religionsmonitor 2013 gab schon jeder Fünfte in Deutschland an, „spirituell“ gegenüber „religiös“ als Selbstbezeichnung zu bevorzugen. Die Bielefelder Forschergruppe um Heinz Streib bevorzugt dagegen weiterhin den Religionsbegriff und ordnet Spiritualität als privatisierte, erfahrungsbezogene Variante der Religion unter.2 Die Bielefelder Forscher grenzen Spiritualität durch ihre Erfahrungsorientierung und Privati1 Utsch/Klein, Bestimmungsversuche, 32–40. 2 Streib/Keller, Spiritualität, 35.
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sierung von den beiden anderen Formen der Religion, der Kirche und der Sekte, ab. Spiritualität setzen sie damit dem klassischen, von Ernst Troeltsch beschriebenen Konzept der Mystik gleich. Wird Spiritualität aber als eine Variante von Religion gesehen, werden das Selbstverständnis und die zumeist antireligiösen Affekte der „Spirituellen“ übergangen, die eine solche Einordnung als Untergruppe von Religion ablehnen würden. Häufig wird heute Religion mit menschenfeindlichen Dogmen, mittelalterlichen Moralvorstellungen und verstaubten Ritualen in Verbindung gebracht. Demgegenüber betreffe die Spiritualität persönliche Empfindungen und intensive Erfahrungen, die sprachlich kaum vermittelbar seien. Einige Forscher humanistischer und atheistischer Provenienz fordern sogar für das 21. Jahrhundert eine gänzlich „undogmatische“ Spiritualität, weil jede traditionelle Religion letztlich im Fundamentalismus ende.3 Diese Hypothese ist jedoch schon deshalb nicht haltbar, weil „Spiritualität das Herz und die Seele der Religion ist. Die Suche nach dem Heiligen ist die zentralste Funktion der Religion“.4 Ebenso ist zu bedenken, dass sich auch neue spirituelle Bewegungen einem Institutionalisierungseffekt und einer „religiösen“ Dogmenbildung nicht entziehen können. Ein anschauliches Beispiel für diesen Veränderungsprozess aus der jüngeren Religionsgeschichte liefert die BhagwanOsho-Bewegung.5 Ein praktischer Vorschlag, die persönliche Spiritualität mit gemeinschaftlich praktizierter Religion zu verbinden, stammt von Helmut Aßmann. Der Theologe geht von einem menschlichen Grundbedürfnis nach Glauben und Vertrauen aus. Damit folgt er empirischen Umfragen, die belegen, dass häufig nicht religiös oder spirituell, sondern „gläubig“ als Selbstbezeichnung bevorzugt wird, um sich gegen eine zunehmend säkulare Umwelt der „Ungläubigen“ abzugrenzen. In einem „spirituellen Dreieck“ setzt Aßmann die religiöse Erfahrung, die theologische Lehre und die gelebte Gemeinschaft des Glaubens als fundamentale Bausteine der Spiritualität in Beziehung zueinander.6 Nach seiner Überzeugung sind diese drei Elemente für ein gelingendes Leben unverzichtbar. Er plädiert für eine Ausbalancierung der drei Elemente, weil sie die wichtigsten Quellen der Lebenskraft darstellen würden. Ohne Zweifel ist die individuelle spirituelle Erfahrung anfällig für Verzerrungen, Täuschungen und Wunsch- bis hin zu Wahnvorstellungen. Deshalb erweisen sich sowohl die theologische Lehre als auch die gelebte Gemeinschaft als hilfreiche Korrektive. Aßmanns praktische
3 4 5 6
Walach, Spiritualität. Pargament, Psychology, 13. Utsch, Bhagwan-Osho-Bewegung. Aßmann, Anleitung, 23.
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Anleitung zum geistlichen Leben integriert die drei Bereiche von Religion, Spiritualität und Glaube stimmig. Spiritualität trägt viele Gesichter – präziser spricht man besser von Spiritualitäten. Die Begriffswurzel, das lateinische spiritualis, ist die Übersetzung des neutestamentlichen Begriffs pneumatikós. Diese Übersetzung ist seit ca. 200 n. Chr. dokumentiert und meint die christliche Lebensgestaltung – Leben in und aus der Kraft des Geistes Gottes.7 Gewöhnlich werden zwei Traditionslinien unterschieden, ein weiter und ein enger Spiritualitätsbegriff. Der weite, aus der angelsächsischen Tradition stammende, meint die Verbundenheit mit etwas Heiligen, die Bezogenheit auf ein größeres Ganzes. Aus religionswissenschaftlicher Sicht zählt Spiritualität zu einer anthropologischen Grundfunktion. Demnach gehört eine heilvolle und identitätsstiftende Bezogenheit auf eine letzte Wirklichkeit zum Menschsein dazu. Die enge Begriffsfassung stammt aus der französischen Ordenstheologie, die im Bereich der Klöster und Kirchen versucht hat, spirituelles Leben aus dem Geiste Gottes umzusetzen. Nach diesem Verständnis fehlt dem weiten Konzept „Bezogenheit auf ein größeres Ganzes“ sein Ziel und Gegenüber. Bei dieser Zweiteilung ist zu beachten, dass sich eine geschulte Aufmerksamkeit für das Geheimnis Gottes (enge Definition) von der Wahrnehmung der Verbundenheit mit einem großen Ganzen (weite Definition) unterscheidet. Zwischen einer anthropologisch gedeuteten, transpersonalen Spiritualität als „Bezogenheit auf ein größeres Ganzes“ und einer theologisch verstandenen, personalen Spiritualität als persönlicher Gottesbeziehung bestehen Spannungen. Wird das zugrundeliegende Spiritualitätsverständnis nicht erläutert, können Missverständnisse entstehen. Der Züricher Theologe Peng-Keller hat die doppelte Begriffsbedeutung in eine enge (französische) und weite (englische) Fassung kürzlich einer Revision unterzogen. Zum einen sei die nouvelle spiritualité nicht „ordenstheologisch“ qualifiziert, weil die beiden bedeutendsten Protagonisten keine Ordensleute, sondern die fünffache Mutter Jeanne-Marie Guyon und der hochadelige Erzbischof Fénelon gewesen seien. Zum anderen habe der Weg von der französischen spiritualité zur angelsächsischen spirituality über das evangelical revival des 18. Jahrhunderts geführt. Ein „Hauptvertreter, der Methodist John W. Flecher, verteidigte die mystischen Bewegungen des 17. Jahrhunderts und vertrat im Anschluss an sie einen ‚evangelical myticism‘, den er als ‚way of seeing the invisible and spiritual‘ verstand“.8 Über eine mystikfreundliche, pietistische Frömmigkeit habe sich der enge Spiritualitäts-Begriff geöffnet und sich bis hin in esoterische Varianten erweitert. 7 Köpf, Spiritualität; Peng-Keller, Herkunft. 8 Peng-Keller, Klärung, 10.
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Das evangelische Ringen um eine angemessene Theologie der Spiritualität bewegt sich zwischen den Polen orthodoxer und postmoderner Glaubenspraxis. Während Spiritualität viele Jahrzehnte lang unter dem evangelischen Verdacht der Werkgerechtigkeit stand, sucht der Glaube auch in der protestantischen Tradition heute nach zeitgemäßen Ausdrucksformen, die besonders den Körper, die Gefühle und die persönliche Übung mit einbeziehen. Der Hunger nach Spiritualität wird dabei durch unterschiedliche Quellen gestillt. Einerseits entdecken die evangelischen Kirchen mit ihren Einkehrtagen, geistlichen Gemeinschaften, mit besonderen Gottesdienstformen und Meditationsangeboten die Stärken der monastischen Tradition neu, was dem reformatorischen Grundanliegen entspricht.9 Andererseits boomen evangelische Meditationsangebote, die ausdrücklich buddhistische und esoterische Elemente mit einbeziehen.10 Eine besondere Herausforderung besteht darin, Anregungen nichtchristlicher Traditionen aufzunehmen, ohne das eigene Profil zu verlieren. Im Bereich meditativer Praxis ist es in einzelnen Landeskirchen in den letzten Jahren immer wieder zu Auseinandersetzungen um das Profil evangelischer Meditation und Spiritualität gekommen. Hier besteht ein hoher Gesprächsbedarf zwischen interreligiösmultiplen und monastisch-kontemplativen Ansätzen und Erfahrungen, der besonders die Pfarrerausbildung betrifft.11 Nur im Dialog kann es gelingen, sich nicht über unterschiedliche Gottesbilder und -erfahrungen auseinanderzustreiten, sondern im Hören aufeinander die Stärken des Kultur- und Offenbarungsprotestantismus’ miteinander zu verbinden und der evangelischen Spiritualität ein schärferes Profil zu verleihen. Mit Hans-Martin Barth kann evangelische Spiritualität definiert werden als Beziehung: „Glaube ist die – von Gott geschenkte – Gottesbeziehung des Menschen“.12 Die erweiterte Definition von Corinna Dahlgrün ergänzt die Beziehungs-Dimension um die biografischen Aspekte Erfahrung, Gestaltung und Prozess.13 Weil die genannten vier Dimensionen psychologische Kategorien sind, liegt das Gespräch mit dieser Sozialwissenschaft auf der Hand. Was kann die Psychologie zu einem besseren Verständnis des Glaubens und der Spiritualität beitragen?
9 10 11 12 13
Zimmerling, Mystik. Bobert, Coaching; Küstenmacher, Gott 9.0. Hermisson/Rothgangel, Ausbildung; Hermisson, Kompetenz. Barth, Dogmatik, 82. Dahlgrün, Spiritualität, 153.
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2.
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Spiritualität und Psychologie im Streit um die Seele
Die Psychologie als die Wissenschaft vom menschlichen Erleben und Verhalten verfügt über eine reichhaltige Vorgeschichte in allen Kulturen und Religionen. Ob man an die Erfindung des inneren Menschen in der Antike denkt, sich Platons Höhlengleichnis vor Augen hält, die Seelenlehre des Aristoteles in Erinnerung ruft oder die schonungslose Selbstanalyse des Kirchenvaters Augustinus in seinen Bekenntnissen nachliest – in verschiedensten Zusammenhängen wurde vorwissenschaftliche Psychologie getrieben. Die Vielfalt der vorliegenden Seelenlehren ist beeindruckend. Vor allem aber verwirrt sie, weil das KörperSeele-Geist-Zusammenspiel in ganz unterschiedlichen Modellen erklärt wird.14 Dabei besteht ein Grundkonflikt zwischen der psychologischen und religiösspirituellen Perspektive. Die fundamentale Frage bezieht sich auf das Wesen des Menschseins – seiner Besonderheit, seinen Entwicklungsmöglichkeiten und seinem Gestaltungspotential. Diese Frage ist bis heute nicht endgültig beantwortet. Einige betrachten den Menschen mit Goethes Worten als „edel, hilfreich und gut“. Andere folgen eher Darwin und sehen den Menschen als eine Bestie, als ein menschelndes Tier an, das seinen Artgenossen zum Wolf werden kann. In der Pädagogik existiert seit Jahrzehnten ein Richtungsstreit zwischen Strenge und „Laissez-faire“, das in einem Kind entweder einen zu zähmenden Tyrannen oder einen kleinen Gott erkennt. Welches Menschenbild ist zutreffend? Was die Seele ausmacht, hängt von den perspektivischen Voraus-Setzungen ab. Betrachtet man den Menschen unter theologischen Vorzeichen als Ebenbild Gottes, dessen Leib durch Gottes Geist Leben eingehaucht wurde, der eingeladen ist zu einer Partnerschaft mit seinem Schöpfer, in den Worten von Ps 8,6 nur „wenig geringer als Gott“ verortet und mit Verwaltungskompetenz betraut? Oder werden aus psychologischer Sicht die Umwelteinflüsse betont, Sozialisation oder die genetische Ausstattung problematisiert und die Seele als ein „Triebschicksal“ entworfen, die ihren Bedürfnissen ausgeliefert scheint? Diese überzeichnete Gegenüberstellung verdeutlicht, wie unterschiedliche Menschenbilder die Entwürfe der menschlichen Seele geprägt haben. Die anthropologischen Grundlagen eines spirituellen und eines psychologischen Standpunktes sind oftmals unterschiedlich, ja sogar gegensätzlich, was das Gespräch über die psycho-spirituelle Einheit der Seele erschwert. Als eindrückliches Beispiel eines innerseelischen Kampfes zwischen einer immanent-psychologischen und religiös-transzendenten Deutung der Lebensgeschichte kann auf den Freiburger Psychotherapeuten Tilmann Moser verwiesen werden, der neben zahlreichen wissenschaftlichen Werken auch schonungslose Selbstanalysen vorgelegt hat. In der Buchbesprechung von Mosers 14 Überblicke bei Pongratz, Problemgeschichte; Jüttemann, Seele; Hinterhuber, Seele.
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Autobiografie „Bekenntnisse einer halb geheilten Seele“ bezeichnet ihn sein Kollege Wolfgang Schmidbauer als „pietistischen Ikarus“.15 In seinen Erinnerungen beschreibt Moser detailliert seine seelischen Berg- und Talfahrten, die ihn von einem Therapeuten zum nächsten treiben, ohne ihn wirklich heilen zu können. Schmidbauer spricht in seiner Rezension vom Größenwahn Mosers, der auch seinen Glauben beeinträchtigt habe: „Mit Jesus konnte ich mich nie anfreunden, er war ein Rivale“. Aber nicht nur eine selbstverliebte Psychologie versperrt den Zugang zur Spiritualität. „Bis zum Beginn des 20. Jahrhunderts war das Gespräch zwischen Spiritualität und Psychologie von zwei Seiten blockiert“, fasst der Karmeliter Kees Waaijman in seinem „Handbuch der Spiritualität“ die Ausgangslage zusammen.16 Theologen und Psychologen stritten um die Deutungshoheit über die Seele. Obwohl Religiosität und Spiritualität zentrale Bereiche seelischen Erlebens berühren, findet im stärker säkularisierten Europa –im Unterschied zu den USA – kein nennenswerter interdisziplinärer Dialog über die Seele aus theologischer und psychologischer Perspektive statt.17 Das Gespräch zwischen Psychologie und Theologie verläuft schleppend, weil sie sich als Rivalinnen der Lebensklugheit gegenüberstehen. Das umworbene Streitobjekt von Psychologie und Theologie ist die Seele – ihr Wesen, ihre Bestimmung und der Weg zu ihrer bestmöglichen Entfaltung. Gegenüber philosophischen und religiösen Seelenlehren orientierte sich die junge und aufstrebende Psychologie von Beginn an, also seit Ende des 19. Jahrhunderts, streng an naturwissenschaftlich-empirischen Forschungsidealen. Damit wollte man sich von den geisteswissenschaftlichen „Eltern“ der Philosophie und Theologie abgrenzen. Zuallererst wurden deshalb die philosophischen und theologischen Seelenmodelle als veraltet abgetan. Man verschrieb sich dem naturwissenschaftlichen Erkenntnisideal des Messens und Berechnens, um sich als empirische Sozialwissenschaft zu profilieren. Zwar verlor man die Religiosität nicht gänzlich aus den Augen, reduzierte sie aber auf beobachtbare Faktoren wie religiöses Verhalten oder experimentierte mit der individuellen Reaktion auf religiöse Texte. Nach den beiden Weltkriegen haben Psychologie und Theologie eine gegenläufige gesellschaftliche Akzeptanz erlebt. Während heute psychologischen Kriterien weitreichende Entscheidungskompetenzen zugestanden werden, hat die Theologie massiv an Einfluss verloren. Psychologische Deutungen – zumal wenn sie mit empirischen Daten begründet werden – haben den Bedeutungsverlust des christlichen Wirklichkeitsverständnisses für sich zu nutzen gewusst. 15 Schmidbauer, Ikarus, 73. 16 Waaijman, Handbuch, 117. 17 Utsch, Integrative Studiengänge.
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Heute treten sie teilweise ganz unverblümt als Sinngeber und Orientierungsmaßstab auf, ohne dabei ihre fachlichen Grenzen zu beachten.18 Kritiker sprechen sogar ganz unverblümt von Psychologie als der Religion unserer Zeit, die einer Ersatzreligion gleichkomme.19 Die Erfolgsstory der Psychologie wäre allerdings ohne die Schwächung religiöser Deutungsmuster nicht denkbar gewesen. Unbestritten hat die Psychologie mehr Fakten über das Seelenleben herausgefunden: welche hohe Bedeutung frühkindliche Bindungen haben, wie wichtig die Entfaltung eigener Begabungen ist, wie man die eigenen Gefühle besser wahrnehmen und ausdrücken kann, wie Gedächtnisleistungen gesteigert werden können, wie neurotische Fehlhaltungen verändert werden können, welche Faktoren ein zufriedenes Älterwerden begünstigen, was Kommunikationsprozesse fördert und hemmt und vieles mehr. Auch die Gleichberechtigung der Frau wurde durch psychologische Einsichten gefördert. Doch zwei gravierende Schwächen schmälern die unbestreitbaren Erfolge der Psychologie: ihre zum Teil maßlose Selbstüberschätzung und ihre Anfälligkeit für ideologische Heilsversprechen. Diese Schwächen können nur ausgeglichen werden, wenn die Psychologie sich einbringt in eine Menschenkunde, in der auch das Wissen anderer Perspektiven (Philosophie, Theologie, Religionswissenschaft) mit einfließt. Der Mensch als Leib-Seele-Geist-Einheit kann nur in dieser Zusammenschau richtig verstanden werden. Die Religionspsychologie übernimmt eine wichtige Vermittlerrolle, um den Deutungsstreit über die Seele zwischen Psychologie und Theologie zu überwinden. Außerdem ist die Psychologie in der Lage, krankhafte Glaubensvollzüge zu entlarven und die Glaubensüberzeugungen einer kritischen Realitätsprüfung zu unterziehen.
3.
Religionspsychologie als Vermittlerin
Die Religionspsychologie strebt einen unvoreingenommenen, neutralen Zugang zum religiösen Erleben und Verhalten sowie zur Spiritualität an. Ein solch neutraler Zugang ist nicht einfach zu gewährleisten, denn „die Religionspsychologie des 20. Jahrhunderts entstand aus dem Geist der Erweckungsbewegungen des 18. und 19. Jahrhunderts“.20 Als Beleg führt Peng-Keller den puritanischen Prediger Jonathan Edwards an, der als Pfarrer bereits 1746 eine der ersten empirisch-psychologischen Abhandlungen verfasst hat, in der er echte spirituelle Erfahrungen von falschem Enthusiasmus unterschieden hat. Es ist 18 Illouz, Errettung. 19 Bergmann, Tanz; Pollak, Psychoanalyse; Gebhardt, Sünde; Vitz, Kult. 20 Peng-Keller, Einführung, 135.
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unbestritten, dass die sich gegen Ende des 19. Jahrhunderts konstituierende moderne Religionspsychologie von Edwards psychologischen Studien der Bekehrung und Heiligung wesentliche Impulse erhalten hat. Pietisten machten „die Seele zum Gegenstand frommer Techniken wie Bußkampf und Bekehrung. Den Pietismus des 18. Jahrhunderts erklärte man deshalb auch als den Übergang von der kirchlichen Seelsorge zur Psychologie“.21 Skeptischer betrachtet Horst Gundlach die pietistische Frömmigkeit als eine Vorform der Erfahrungsseelenkunde.22 Auch wenn er einzelne Verbindungen vom Pietismus zur empirischen Psychologie an Einzelbeispielen belegen kann, weist er dem Pietismus keine nennenswerte Position in der Geschichte der Psychologie des 18. Jahrhunderts zu. Geprägt von den massiven Säkularisierungsprozessen in Europa hat die Psychologie religiöse und spirituelle Erfahrungen hierzulande viele Jahrzehnte lang vernachlässigt und als ein außergewöhnliches, eher pathologisches Phänomen abgetan. Primär wurden damit spektakuläre Erscheinungen wie außersinnliche Wahrnehmungen, paranormale Erfahrungen oder transpersonale Bewusstseinszustände in Verbindung gebracht, kaum aber gewöhnliches seelisches Erleben. Amerikanische Religionspsychologen waren viel stärker daran interessiert, welchen Einfluss traditionell als religiös empfundene Gefühle auf die alltägliche Lebens- und Beziehungsgestaltung nehmen. In Europa haben erst die Hospizbewegung und die Palliativmedizin Themen wie religiöse Bedürfnisse und spirituelles Erleben akademisch „salonfähig“ gemacht und dazu beigetragen, dass religionspsychologische Fragestellungen auch in der Psychologie ernsthaft behandelt werden. Als Begründer dieser Disziplin gilt der Pfarrerssohn Wilhelm Wundt, der im Jahr 1879 in Leipzig das weltweit erste Institut für experimentelle Psychologie gründete, das vor allem Sinnesreize erforschte. Neben einer „Allgemeinen Psychologie“ legte Wundt eine zehnbändige „Völkerpsychologie“ vor. In dieser kulturwissenschaftlichen Untersuchung werden die höheren geistigen Prozesse wie die Entwicklung des Denkens, der Sprache, der Phantasie und der Religion beschrieben. Neben der kulturwissenschaftlichen Untersuchung kann man in der Blütezeit der deutschsprachigen Religionspsychologie bis in die späten 1920er Jahre drei weitere methodische Zugänge zur Religiosität unterscheiden. Bei der „experimentellen Introspektion“ wurden unmittelbar nach der Lektüre religiöser Schriften die inneren Erlebnisse protokolliert und analysiert. In der phänomenologischen Richtung wurden religiöse Rituale untersucht, und aus tiefenpsychologischer Perspektive wurden systematische Zusammenhänge zu unbewussten Wünschen hergestellt. 21 Reiter, Pietismus, 198. 22 Gundlach, Psychologie.
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Durch den Behaviorismus, die dialektische Theologie und die Diskreditierung der Religion durch den Nationalsozialismus kam die Forschung zum Erliegen. Während in den USA seit den 1960er Jahren die religionspsychologische Forschung einen enormen Aufschwung verzeichnete, entsprechende Fachgesellschaften gegründet wurden und zahlreiche Fachbücher erschienen, blieb die Wiederbelebung dieser psychologischen Teildisziplin in Deutschland aus. Während andere kulturelle Phänomene wie Sport, Musik, Arbeit oder Werbung heute psychologisch intensiv erforscht werden, fristet die Religionspsychologie in Deutschland immer noch ein Schattendasein. Die mangelnde professionelle Bearbeitung der existenziellen Fragen hat in der Psychotherapie zu einem ausufernden psycho-spirituellen Lebenshilfemarkt mit zum Teil fragwürdigen, teilweise gefährlichen Angeboten beigetragen. Es boomen asiatische Bewusstseinsübungen, magische Rituale sowie esoterische Praktiken. Mittels schamanischer Trancetechniken sollen beispielsweise in therapeutischen Sitzungen Informationen aus der unsichtbaren Welt der Ahnen und Geister zugänglich sein und die Heilung erleichtern. Besucherinnen von Esoterik-Messen wurden in einer psychologischen Studie auf ihre Erwartungen und Motive hin befragt.23 Die Angebote und Produkte der Messe wurden als subjektive Hilfsmittel zur Lebensbewältigung beschrieben. Dabei konnte die Psychologin zwar kurzfristige positive Wirkungen feststellen, konstatierte aber in der Mehrzahl der Fälle schädigende Effekte bis hin zur Selbstaufgabe. Zum Glück enden nur wenige Behandlungsfälle so dramatisch wie die psycholytische Therapie eines Berliner Arztes, der 2009 in einer Gruppentherapie bewusstseinserweiternde Medikamente einsetzte. Aufgrund seiner Fehldosierung starben zwei Klienten nach dem Selbsterfahrungs-Seminar. Die dort verwendete psycholytische Therapie führte auch zum ärztlichen Abbruch einer Weiterbildung im September 2015 in der Lüneburger Heide, weil sich zwei Teilnehmer durch Drogeneinnahme in Lebensgefahr gebracht hatten. Eine verbindliche Leitlinie zum professionellen Umgang mit religiös-spirituellen Bedürfnissen und existenziellen Fragen seitens eines psychotherapeutischen Fachverbandes steht noch aus. Eine religionspsychologische Perspektive trägt dazu bei, auf die jeweiligen professionellen Grenzen von psychologischer und spiritueller Begleitung zu achten. Sowohl Psychotherapeuten als auch Seelsorger sollten ihre jeweiligen Kompetenzen reflektieren und kommunizieren. Therapeutische Seelsorger und spirituelle Therapeuten vermischen ihre Zuständigkeitsbereiche, weil sich Voraussetzungen, Methoden und Ziele einer therapeutischen und spirituellen Begleitung maßgeblich unterscheiden.24 Bei klarer Kompetenzverteilung können Psychotherapeuten und Seelsorger voneinander lernen und einander in ihrer 23 Barth, Esoterik. 24 Utsch, Qualitätsstandards.
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Arbeit sinnvoll ergänzen. Exemplarisch wird im folgenden Abschnitt die unzulässige Vermischung einer spirituellen Psychologie beschrieben.
4.
Unzulässige Vermischung: Spirituelle Psychologie
In der Psychotherapie vollzog sich in den letzten Jahren unter dem Einfluss östlicher Weisheitslehren und meditativer Bewusstseinstechniken ein bemerkenswerter „spiritual turn“. Angestoßen durch die humanistische Psychologie wurde es populär, professionelle Beratung und Psychotherapie mit spirituellen Zielen und Methoden zu verbinden. Seit zwei Jahrzehnten ist besonders die von Ken Wilber ins Leben gerufene Transpersonale Psychologie bestrebt, östliche Weisheitskultur mit westlicher Psychologie und damit Spiritualität und Rationalität zu verbinden und eine „integrale“, spirituelle Methoden einbeziehende Psychotherapie zu entwickeln.25 Hinweise auf eine zunehmende Spiritualisierung der Psychotherapie bis hin zu einer neuen, „postmaterialistischen“ Psychologiekonzeption nehmen deutlich zu.26 Unter sehr verschiedenen weltanschaulichen Prämissen wird versucht, Spiritualität psychologisch zu verstehen und die Geist-Seele-Verschränkung differenzierend zu beschreiben und zu erklären. So baute etwa Rudolf Steiner seine Menschenkunde auf geisteswissenschaftlichen Grundlagen zu einer „spirituellen Psychologie“ aus.27 Die im Jahr 2008 gegründete „Deutsche Gesellschaft für Anthroposophische Psychotherapie“ sieht in der Geisteswissenschaft Rudolf Steiners eine wissenschaftliche Grundlage, um Erkenntnisse über Zusammenhänge der Wirkung des Geistigen im Menschen, seiner Seele und seinem Organismus sowie den Krankheits- und Heilungsvorgängen zu gewinnen. Im Rückgriff auf das anthroposophische Menschen- und Weltbild soll die Psychotherapie um die geistige Dimension erweitert werden.28 Im Herbst 2014 hat eine von der Fachgesellschaft veranstaltete dreijährige berufsbegleitende Fortbildung in „Anthroposophischer Psychotherapie“ begonnen, die auf den bestehenden fachlichen Qualifikationen aufbauen und die Aufmerksamkeit für das Geistige im therapeutischen Prozess schulen möchte.29 Das therapeutische Erbe der Weltreligionen – insbesondere des Buddhismus – wird gegenwärtig in der Psychotherapie auf seine Ressourcen hin untersucht und fruchtbar gemacht. Insbesondere die Achtsamkeitspraxis mit ihren therapeutischen Möglichkeiten sowie die verändernde Kraft des Mitgefühls und die Ent25 26 27 28 29
Wilber, Integrale. Utsch, Postmaterialistisch. Treichler, Steiners. http://www.anthroposophische-psychotherapie.de (letzter Abruf am 05. 08. 2016). Meyer, Bewusstseinsforschung.
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wicklung von Weisheit stoßen bei Psychotherapeuten auf großes Interesse. Das buddhistische Geistestraining verspricht, neuartige Möglichkeiten zur Überwindung von ungünstigen Selbstkonzeptionen zur Verfügung zu stellen. Achtsamkeitsbasierte Konzepte sollen einerseits die Akzeptanz unangenehmer Lebensumstände und Emotionen verbessern helfen, andererseits eine emotionsfreie Beobachtung intrapsychischer Prozesse ermöglichen. Buddhistische Psychologie wird neuerdings als konstitutiver Rahmen und ethische Haltung beschrieben, um bedingungslose Wertschätzung zwischen Therapeut und Patient zu kultivieren und zu stärken.30 Manche Forscher wollen das Achtsamkeitskonzept zur Grundlage einer schulenübergreifenden Psychotherapie machen.31 Weil heute auf dem Markt alternativer Lebenshilfe spirituelles oder geistiges Heilen weit verbreitet ist und vielfach angewendet wird, stellt dieses Phänomen eine besondere Herausforderung für die wissenschaftliche Psychotherapie dar. Spirituelle Rituale und esoterische Therapiemethoden finden zunehmend Eingang in die Fachdiskussion und lösen Kontroversen aus.32 Im Sommer 2014 hat Österreichs Gesundheitsministerium esoterische, spirituelle und religiöse Methoden in der Psychotherapie als Verstoß gegen die Berufsethik bewertet und per Richtlinie ihren Mitgliedern verboten, spirituelle Methoden in den Behandlungen zu verwenden.33 Andererseits weisen englischsprachige Studien eine hohe Wirksamkeit von spirituellen Interventionen bei bestimmten Patientengruppen und Störungsbildern nach.34 Grundsätzlich ist zu unterscheiden, ob die professionelle Psychotherapie als Referenzrahmen bestehen bleibt, in den spirituelle Aspekte integriert werden, oder ob die spirituellen Interventionen zu einer Basistherapie hin tendieren. Bernhard Grom hat idealtypisch vier Formen der Integration von Spiritualität und Psychotherapie unterschieden (vgl. Übersicht 1):
Übersicht 1: Vier Formen der Integration von Spiritualität und Psychotherapie35 Typ I:
30 31 32 33 34 35
Therapeutische Anregungen werden vom Patienten spirituell integriert (z.B. bei den Anonymen Alkoholikern, wo die weltanschaulich neutralen Impulse von gläubigen Klienten religiös gedeutet werden)
Grossmann/Reddemann, Achtsamkeit. Harrer/Weiss, Wirkfaktoren. Brentrup/Kupitz, Rituale. Utsch, Richtlinie. Utsch, Bewältigungshilfe. Grom, Ressource.
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Typ II: Spirituelle Interventionen in eine professionelle Psychotherapie integriert (z.B. ein Gebet, Meditation oder Schriftlesung punktuell und begründet einsetzen) Typ III: Psychotherapeutische Methoden spirituellen Ursprungs (z.B. achtsamkeitsorientierte Verfahren) Typ IV: Spiritualität mit der Tendenz, Basistherapie zu werden (z.B. die transpersonale Psychologie, die von bestimmten weltanschaulichen Setzungen vorausgeht)
Bei den Typen 1 und 2 bleibt die professionelle Psychotherapie das Bezugsmodell, deren Wirkfaktoren durch religiös-spirituelle Inhalte ergänzt und verstärkt werden. Bei Typ 3 werden die religiös-spirituellen Elemente säkularisiert und weltanschaulich neutral eingesetzt, während in Typ 4 die spirituelle Intervention als entscheidender Wirkfaktor angesehen wird. Bei allen Erwägungen einer Einbeziehung spiritueller Methoden muss aber stets der Behandlungsauftrag gewahrt bleiben: eine Psychotherapie zielt auf eine Verbesserung der psychischen Befindlichkeit ab, nicht auf religiöses oder spirituelles Wachstum. Wenn es fallbezogen nötig ist und Klient und Therapeut zustimmen, können einzelne religiöse oder spirituelle Elemente begründet in eine professionelle Behandlung einbezogen werden. Zu warnen ist jedoch davor, beide Bereiche unkritisch zu vermischen, weil sonst eine wissenschaftliche Heilbehandlung in eine weltanschauliche Heilsvermittlung überführt wird. An der Schnittstelle von Psychotherapie und Spiritualität sind noch viele Fragen ungeklärt. Es ist zu wünschen, dass bei der Weiterentwicklung der Psychotherapie die Gratwanderung zwischen dem Patientenschutz und den Möglichkeiten einer Nutzung empirisch geprüfter Ressourcen der Spiritualität – sofern beim Patienten vorhanden – in die Behandlung gelingt. Insbesondere ist auch die Zusammenarbeit mit Seelsorgern bei spirituellen Themen zu verbessern.
5.
Christliche Spiritualität aus psychologischer Sicht: Gottesbeziehung
Die zentralen christlichen Tugenden „glauben, hoffen, lieben“ werden sehr unterschiedlich interpretiert. Glauben verstehen manche als Willenskraft des positiven Denkens im Sinne der Autosuggestion, andere als mentale Technik mit Placebo-Effekt. Im biblischen Verständnis ist damit jedoch eine Beziehungsweise gemeint, die sich im persönlichen Vertrauen auf die verborgene Gegenwart Gottes ausdrückt. Glauben zu können, ist aus theologischer Sicht zuallererst ein Geschenk. Auf das Beziehungsangebot Gottes antwortet jeder Mensch nach seinen kommunikativen Gewohnheiten und Möglichkeiten. Die christliche
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Formung der Identität durch den Glauben hängt maßgeblich von den charakterlichen Voraussetzungen und der religiösen Sozialisation ab. Das persönliche Beziehungsverhalten und die Erfahrungen mit primären Bezugspersonen bestimmen das Gottesbild und den Glaubensstil mit. Gegenwärtig werden die Ressourcen positiver Religiosität und Spiritualität psychologisch erforscht. Psychologen erkunden mit staatlichen Forschungsgeldern die befreiende Wirkung des Verzeihens, die stabilisierenden Funktionen der Dankbarkeit, die Widerstandskraft von Hoffnung und Vertrauen, besonders im Kontext der Positiven Psychologie.36 Die Positive Psychologie steht in großer Nähe zur Religionspsychologie, weil sich beide um Persönlichkeitswachstum und Sinnfindung bemühen. An dieser Schnittstelle liegt noch ein großes Potenzial zur Weiterarbeit.37 Auf der Suche nach tragenden Werten und weltanschaulicher Orientierung hat das therapeutische Erbe der Weltreligionen das Interesse der Gesundheitsforscher geweckt. Religionsvergleichende Untersuchungen haben ergeben, dass die großen Weltreligionen folgende sechs Kerntugenden beinhalten: Weisheit/Wissen, Mut, Liebe/Humanität, Gerechtigkeit, Mäßigung, Spiritualität/Transzendenz. Weil das therapeutische Potenzial dieser Haltungen offensichtlich ist, fragen auch Psychotherapeuten vermehrt nach Wegen, diese Einstellungen zu vermitteln und therapeutisch zu nutzen. Psychoanalytisch orientierte Religionspsychologen haben in den letzten Jahren Fragebögen konzipiert, um die spirituelle Entwicklung einer Person zu erfassen. Die Grundlage dieses Fragebogens liefert ein Modell, das die Beziehungen zu Gott oder einer höheren Wirklichkeit auf den unterschiedlichen Stufen der Persönlichkeitsentwicklung beschreiben kann. In diesem Ansatz einer „relationalen Spiritualität“ werden Elemente der Bindungstheorie mit der psychoanalytischen Auffassung der Gottesrepräsentation kreativ verbunden. Dabei zeigte sich, dass insbesondere die Erfassung des subjektiven Gottesbildes ein guter Indikator der spirituellen Entwicklung ist. Gottesbilder können heilsam oder krankmachend sein, und sie stehen in Wechselwirkung mit den Selbstbildern eines Menschen. „Gott“ ist aufgrund des begrenzten menschlichen Wahrnehmungsvermögens nur als Begriff oder Bild denk- und beschreibbar. Dieses Gottesbild entspricht jeweils einer Projektion des Selbst. Da dieses aber aufgrund neurotischer Verzerrungen gespalten ist, trifft dies auch auf das Gottesbild zu. Für den Psychoanalytiker Dieter Funke ist daher das Gottesbild mit denselben Einseitigkeiten behaftet wie das Selbst des betreffenden Menschen.38 36 Esch, Glück; Oettingen, Gelingen. 37 Fischer et al., Psychologie der Religion. 38 Funke, Spaltung; Utsch, Gottesbilder.
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Wenn das Persönlichkeitswachstum und die Glaubensentwicklung gemeinsam betrachtet werden, können reife und unreife Formen von Glaubensvollzügen plausibel unterschieden werden. Die Bindungsforschung weist darauf hin, dass die Übergänge zwischen fundamentalistischer Rechthaberei und erwartungsvollem Hoffen fließend sind. Aus psychoanalytischer Sicht lässt sich besonders der destruktive Einfluss fehlgeleiteter religiöser Sehnsüchte nachweisen. Dabei kommt der Vermittlung von Idealen und Leit-Bildern eine Schlüsselstellung zu. Wenn Glaubensinhalte aufgrund der Sehnsucht nach einer idealen Welt emotional gepuscht werden und keine rationale Prüfung mehr durchlaufen, kann leicht ein fanatischer Glaube entstehen. Aus psychoanalytischer Sicht dient ein fanatischer Glaube dem Ziel, „alles Böse in der Welt zu bannen, damit es sich nicht mehr in inneren oder äußeren Katastrophen auswirken kann“.39 Im Rückgriff auf psychoanalytische Entwicklungsmodelle zeigt der Theologe und Psychoanalytiker Winfried Ruff überzeugend auf, wie blindes Vertrauen in abhängigen Beziehungen mit wachsender Lebenserfahrung zu gläubiger Hoffnung in Eigenständigkeit heranreifen kann. Hier fällt dem Zweifel die wichtige Funktion der Realitätsprüfung zu: „Indem der Mensch seinen […] Glauben aufgrund seiner immer wiederkehrenden Zweifel jeweils auf seine Vernünftigkeit hin beurteilt, entwickelt er eine Haltung von gläubiger Hoffnung“.40 In sektiererischen Gruppen würden jedoch der religiöse Führer idealisiert und seine Lehre ideologisiert, um den Glauben an eine absolute Wahrheit mit Gewissheit und Sicherheit festhalten zu können. Die reife gläubige Hoffnung hingegen zeichne sich dadurch aus, dass sie Zweifel zulasse und dennoch zu einem Handeln aus gläubiger Zuversicht motiviere. Weil Gottesbilder selten in Beratung, Therapie und Seelsorge thematisiert werden, liegen bisher auch wenige Untersuchungen zur Behandlung krankmachender Gottesbilder vor. Drohende Gottesbilder kommen nicht nur in fundamentalistischen christlichen Splittergruppen vor. In einer aufwändigen Untersuchung von knapp 600 Katholiken stieß Karl Frielingsdorf bei der Mehrzahl seiner Probanden auf „dämonische Gottesbilder“, die vor allem durch die Überlagerung mit negativen Vaterbildern entstanden waren.41 Aber auch im protestantischen und freikirchlichen Bereich sieht das vermutlich nicht viel besser aus, worauf die spärlichen Untersuchungen hindeuten.42
39 40 41 42
Ruff, Heilkraft. 51. A. a. O., 50. Frielingsdorf, Gottesbilder. Von Heyl, Burnout.
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Nutzen und Grenzen einer Psychologie der Spiritualität
Um spirituelle oder mystische Erfahrungen angemessen verstehen zu können, ist das Gespräch zwischen Theologie, Religionswissenschaft und Psychologie zwingend notwendig. Deshalb schließt einer der renommiertesten Mystik-Experten den ersten Band seiner Mystik im Abendland angesichts der feindlichen „Lager, die sich wie zu Beginn des Jahrhunderts gegenüberstehen“, etwas resigniert: „Wer wie ich der Überzeugung ist, dass eine rein empirische Interpretation mystischer Texte aus einer reduktiven psychologischen Perspektive fragwürdig ist, muss dennoch angesichts des völlig unzureichenden interdisziplinären Dialogs beunruhigt sein. Bei diesem dialogue de sourdes haben beide Seiten eine Bringschuld“.43 Wegen der Kulturgebundenheit von Religion und Spiritualität kann es jedoch keine allgemeine Psychologie der Spiritualität geben. Sie kann nur in ihrer buddhistischen, anthroposophischen oder christlichen Ausprägung etc. untersucht werden. Der Züricher Mystik-Experte Alois Haas bemerkt ebenfalls skeptisch: „Dass psychologische Bestimmungen von Versunkenheitserfahrungen […] relativ bescheidene Kategorien zur Qualifikation bereitstellen, relativiert meines Erachtens die medizinisch-empirisch-psychologischen Untersuchungen entscheidend. […] Dass allerlei modischer Psycho-Kitsch sich authentischer mystischer Texte habhaft macht, ist unvermeidlich. Ich würde über dem Tor zur Mystikforschung gerne ein ‚Cavete psychologiam‘ anbringen – ohne die psychologische Erforschung der Mystik an sich verbieten zu wollen“.44
Auch der bekannte Trappistenmönch Thomas Merton (1915–1968) warnte vor irreführenden psychologischen Vorstellungen über die spirituelle Wirklichkeit: „Man kann sie nur andeuten, umschreiben, in ihre Richtung zeigen, sie mit Symbolen bezeichnen. […] Je objektiver und wissenschaftlicher man sie zu analysieren versucht, desto mehr entleert man sie ihres wirklichen Inhalts, denn diese Erfahrung liegt jenseits der Fassbarkeit in Worte und Verstandeskategorien. Nichts ist aufstoßender als eine pseudo-wissenschaftliche Definition der kontemplativen Erfahrung“.
Merton bekräftigt: „Man unterliegt allzu leicht der Versuchung, psychologisch vorzugehen, aber eine angemessene Psychologie der Kontemplation gibt es überhaupt nicht. Beschreibt man ‚Reaktionen‘ und ‚Gefühle‘, so lokalisiert man die Kontemplation in einem Bereich, worin sie sich nicht findet, nämlich im Oberflächenbewusstsein“.45
43 McGinn, Mystik, 481. 44 Haas, Mystik, 30. 45 Merton, Kontemplation, 30.
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Hier kommen die Grenzen psychologischer Spiritualitätsforschung deutlich zum Vorschein. Spiritualität ist nämlich viel mehr als eine außergewöhnliche Bewusstseinserfahrung! Spiritualität hat nichts mit Spiritismus oder parapsychologischen Phänomenen zu tun. Gegen den esoterischen Zeitgeist bezeichnet auch der Züricher Psychiater Christian Scharfetter mit Spiritualität eine bewusste, im weiteren und überkonfessionellen Sinne verstandene religiöse Lebenseinstellung und -weise.46 In ihr drücke sich eine Haltung und Beziehungsweise zu dem den Menschen umgreifenden und übersteigenden Sein aus, das ihm als unfassbar „Geistiges“ (lat. spiritus) im Gegensatz zur materiellen Dingwelt erscheint. Über das Geistige gebe es kein gesichertes Wissen, es vermittele sich in ahnungsvoller Schau oder einer ergreifenden Erfahrung. Ob sich eine spirituelle Praxis hilfreich oder hinderlich auf das seelische Wohlbefinden auswirke, könne jedoch mithilfe der Psychologie sehr wohl unterschieden werden. Angesichts der Gefahren psychologischer Irrläufer sollte der Dialog mit der Psychologie und empirischen Forschungen intensiviert werden, um spirituelles Erleben besser zu verstehen.47 Bernhard Grom hat präzise beschrieben, welche psychosozialen und intrapsychischen Bedingungen die menschlichen Erfahrungen mit dem Heiligen Geist ermöglichen bzw. verhindern.48 Schon einer der wegweisenden Theologen des vergangenen Jahrhunderts, Karl Rahner, hat nachdrücklich die Zusammenarbeit von Psychologie und Theologie eingefordert. Ob etwa die „mystische Erfahrung eine normale Entwicklungsfrage auf dem Weg zur christlichen Vollendung“ sei, wollte Rahner nicht generell beantworten: „Die Antwort hängt an der Psychologie: Inwiefern nämlich solche an sich natürlichen Versenkungsphänomene notwendig in einen personalen Reifungsprozess gehören“.49 Bemerkenswert ist, dass Rahner die Entscheidung der Psychologie überlässt, ob eine spirituelle Erfahrung personal authentisch ist und sich stimmig in die Gesamtpersönlichkeit einfügt. Hier zeigt sich die besondere Herausforderung einer Zusammenschau theologischer und psychologischer Perspektiven, um den menschlichen Reifungsprozess bestmöglich zu unterstützen. Für den bekannten Trappisten Thomas Keating (Jg. 1923), der die Meditationsbewegung durch seine Methode des „Centering Prayers“ bereichert hat, ist „die Psychologie zur neuen Helferin der Theologie geworden“.50 Sein Ansatz verbindet die Ansätze der modernen Psychologie mit klassischen geistlichen Lehrern des Christentums. Nach seiner Überzeugung liegen die größten Hin46 Scharfetter, Weg. 47 Peng-Keller, Gottespassion; Waaijman, Handbuch, 117–123; Baier, Spiritualitätsforschung, 25ff. 48 Grom, Geist. 49 Rahner, Visionen, 99. 50 Keating, Gebet, 50.
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dernisse für geistliches Wachstum in den Abgründen unbewusster Motive verborgen. Dank psychologischer Analyse könnten diese Motive des „falschen Selbst“ erkannt und durch eine regelmäßige Übung des kontemplativen Gebets überwunden werden. Diesen Heilungsprozess könne man als „göttliche Therapie bezeichnen“.51 In ähnlicher Weise skizziert Anselm Grün das Verhältnis zwischen spiritueller Erfahrung und Psychologie. Wie Keating sieht er „Spiritualität als Mittel zur Selbstheilung“.52 Als eine ebenso wichtige Funktion arbeitet Grün die kritische Funktion der Psychologie gegenüber spiritueller und mystischer Erfahrung heraus. Bis heute ist psychologisch ungeklärt, wie das religiöse Identitätsprofil einer Person entsteht. Ohne Zweifel sind dafür zahlreiche Einflussfaktoren, sowohl genetisch-biologische Voraussetzungen als auch die prägende Umwelt, zu berücksichtigen. Während die psychologischen Bildungsprozesse kognitiver, emotionaler, sozialer oder moralischer Intelligenz intensiv untersucht wurden, sind die psychologischen Merkmale und Qualitäten religiöser oder spiritueller Kompetenzen noch unklar.53 Fest steht jedoch, dass die Glaubensentwicklung eingebettet sein muss in den personalen Reifungsprozess, sonst sind innere Konflikte und Krisen unvermeidbar. Besonders deutlich hat das die katholische Kirche in den letzten Jahren durch die ans Licht gekommenen Missbrauchsfälle erlebt. Deshalb wird dort seit einigen Jahren in besonderer Weise auf die richtige Auswahl der zölibatär lebenden Menschen geachtet. Es war längst überfällig, dass die Bildungskommission des Vatikans in ihren Leitlinien festgeschrieben hat, dass Priesteramtsanwärter eine psychologische Eignungsprüfung durchlaufen müssen.54 Den Nutzen eines solchen Vorgehens unterstreicht eine kürzlich durchgeführte Untersuchung an 150 Nonnen. Eine Franziskanerin und ausgebildete Psychologin analysierte in ihrer Dissertation Ordensschwestern mit Hilfe von biografischen Tiefeninterviews. Die Studie ergab den überraschenden Befund, dass in dieser Gruppe ein in sechs Dimensionen erhobenes Maß an „seelischer Reife“ sehr ungewöhnlich verteilt war: Ordensschwestern im Mittelbereich gab es wenige, dagegen war die Gruppe mit sehr hohen und sehr niedrigen Reifewerten überproportional stark vertreten.55 Besonders die zahlenmäßig deutlich am stärksten ausgeprägte Gruppe mit sehr geringen Reifewerten machte der Psychologin deutlich, dass hier ein hoher Handlungsbedarf im Hinblick auf psychologische Nachreifungsprozesse besteht.
51 52 53 54 55
A. a. O., 14. Grün, Mystik. Utsch, Identitätsbildung; Hermisson, Kompetenz. Zollner, Priesterausbildung. Kluitmann, Ordensgemeinschaften, 132ff.
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Obwohl die Verschränkung von psycho-spiritueller Entwicklung auf der Hand liegt, wird diese Zusammenschau nur selten gewagt. David Tacey hat aufgrund von empirischen Studien ein Stufenmodell der spirituellen Entwicklung aufgestellt, das insbesondere die krisenhaften Entwicklungsübergänge vom Jugendzum Erwachsenenalter beschreibt (Übersicht 2):
Übersicht 2: Fünf Entwicklungsstufen der spirituellen Entwicklung56 1. Geburtsglauben. Das erste Stadium ist gekennzeichnet durch die Religion der Familie, ihre Traditionen und Institutionen. 2. Trennung als Jugendlicher. In der Jugend werden Fragen über Glauben geäußert, wofür die bisherigen Antworten nicht ausreichen. 3. Säkulare Identifikation. Schrittweise gehen der Geburtsglaube und die institutionelle Zugehörigkeit verloren oder werden aktiv beendet. Begriffe wie säkular, humanistisch, agnostisch oder atheistisch werden gewählt. In dieser Ablösungsphase lockern oft auch die Eltern ihre eigenen religiösen Bindungen und bestehen nicht weiter auf eine religiöse Anbindung des Jugendlichen. 4. Säkulare Enttäuschung. Mit zunehmendem Alter und Erfahrung tritt eine Desillusionierung über die Werte der gegenwärtigen Gesellschaft ein. Ein Gefühl von Mangel und eine Sehnsucht entstehen, die durch die Ausrichtung auf Konsum, Besitz und Ablenkung letztlich nicht erfüllt werden. 5. Säkulare Erwachsenen-Spiritualität. Als letzter Schritt wird eine persönliche Spiritualität entwickelt, die relativ unabhängig von religiösen Einflüssen und Institutionen ist.
Auch in der neueren psychoanalytischen Entwicklungspsychologie wird der Dimension des Lebensglaubens stärkere Aufmerksamkeit gewidmet. Psychoanalytiker, früher in der Regel Verfechter radikaler Religionskritik, gehen heute unbefangener und konstruktiver mit religiösen Glaubensüberzeugungen ihrer Klienten um. Die moderne psychoanalytische Bindungsforschung bezieht nämlich im Entwicklungsprozess des Selbst auch Beziehungen zu einem transzendenten Gegenüber ein. Weil der christliche Glaube im Kern ein Beziehungsgeschehen darstellt, ergeben sich hier fruchtbare Dialoge. So kann überprüft werden, ob der Kommunikationstyp zum Glaubensstil passt. So wie sich unsere Persönlichkeit lebenslang weiterentwickelt, verändert sich auch der Glaube mit seinen Gottesbildern und Frömmigkeitspraktiken. Wenn das Persönlichkeitswachstum und die Glaubensentwicklung gemeinsam betrachtet werden, können reife und unreife Formen von Glaubensvollzügen plausibel unterschieden und psychotherapeutisch bearbeitet werden. 56 Von Gontard, Spiritualität, 71.
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Seit einigen Jahren erlebt die klassische Seelsorgeform der „Geistlichen Begleitung“ eine Renaissance in den christlichen Kirchen. Bei diesem Beratungsansatz steht die Förderung der persönlichen Gottesbeziehung im Mittelpunkt. Man kann ihn auch als eine Kombination von Glaubens- und Persönlichkeitsentwicklung verstehen. Die Begleitung erfolgt vor dem Hintergrund des seelischen Entwicklungsprozesses des Gegenübers. Die emotionale Tönung des Gottesbildes, die religiösen Übertragungen der primären Bezugspersonen oder die Deutung der eigenen Lebensgeschichte sind biografisch geprägt worden. Um die Gefahren der Realitätsflucht, infantiler Größenphantasien, Projektionen, Übertragungen, Identifizierungen und andere Irrtümer zu minimieren, die auf jedem spirituellen Weg lauern, hat sich die Geistliche Begleitung als ein nützliches Werkzeug erwiesen.57. Diese Seelsorgeform ist als eine Wegbegleitung konzipiert und versucht eine geistliche Interpretation des Lebensverlaufs. Nicht nur in Glaubenskrisen erweist sich diese Begleitung als hilfreich. Durch das begleitende Mitverfolgen eines Lebensabschnitts können die geistliche Entwicklung eingeschätzt und Impulse für weiteres Wachstum gegeben werden. In einer kürzlich veröffentlichten Untersuchung wurden 160 Teilnehmer Geistlicher Begleitung aus 16 (katholischen) Bistümern und drei (evangelischen) Landeskirchen zu ihren Erfahrungen befragt.58 Dabei erwies sich das Gespräch über die emotionale Tönung des Gottesbildes als ein wertvolles Hilfsmittel, um die Qualität der Gottesbeziehung zu bestimmen. Darüber hinaus zeigte sich, dass Begleiterinnen und Begleiter mit positiv besetzten Gottesbildern eher in der Lage waren, das Leben vom Glauben her zu deuten. Ein weiteres interessantes Teilergebnis besagt, dass durch die Fokussierung auf die Gottesbeziehung in der Geistlichen Begleitung auch signifikante Veränderungen auf der menschlichen Beziehungsebene eintraten. Dieser Befund kann als ein Beleg dafür verstanden werden, dass die seelischen Bewältigungsmechanismen in ähnlicher Weise sowohl bei der Glaubens- als auch der Persönlichkeitsentwicklung wirksam sind. Glauben zu können ist aus theologischer Sicht zuallererst ein Geschenk. Auf das Beziehungsangebot Gottes antwortet jeder Mensch nach seinen kommunikativen Gewohnheiten und Möglichkeiten. Die christliche Formung der Identität durch den Glauben hängt maßgeblich von den charakterlichen Voraussetzungen und der religiösen Sozialisation ab. Das persönliche Beziehungsverhalten und die Erfahrungen mit primären Bezugspersonen bestimmen das Gottesbild und den Gebetsstil mit. Hier kann eine professionelle psychologische Analyse in der geistlichen Begleitung helfen, die Gefühle und unbewussten Haltungen besser zu verstehen und dadurch zu verändern.
57 Utsch, Förderung. 58 Wagener/Kießling, Zugang.
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„Wes Geistes Kind man ist“, erläutert der erfahrene Münchener Jesuit Willi Lambert, „das zeigt sich in seinen inneren Einstellungen, Haltungen, Motivationen. Dieser Innenwelt nachzuspüren, sie zu pflegen, ihr Wachstum zu fördern, das ist zentrales Geschehen geistlichen Begleitens. In diesem Sinne könnte man vielleicht auch sagen: Spiritualität ist der Kreuzungspunkt zwischen Theologie und Psychologie“.59
Bilder wie die „Wohnung Gottes in der menschlichen Seele“ oder der „Schatz in irdenen Gefäßen“ verdeutlichen diesen Zusammenhang. Weil der Glaube auch eine menschliche Seite hat – das individuelle Erleben von Gottes Reden und Handeln sowie die Gestaltung der Beziehung zu Gott –, haben psychologische Überlegungen ihre Berechtigung und ihren Sinn.60 Psychologie und Theologie können sich hilfreich ergänzen. Sie verfolgen auf verschiedenen Wegen das Ziel, ein ganzer Mensch – als Gegenüber Gottes – zu werden. Die Psychologie bringt vor allem die Bedeutung der Gefühle, der Erinnerung, der Vorstellungskraft und der Beziehungsqualität ein, die Theologie das Wissen und die Erfahrung um die Wirklichkeit und Wirksamkeit des dreieinigen Gottes. Für die Theologie kann sich bei einer Kooperation mit der Psychologie ihr seelsorglich-therapeutisches Potenzial neu und vertieft erschließen, für die Psychologie der Umgang mit religiösen Fragen verbessern.61 Die große Herausforderung besteht darin, beide Sichtweisen so ins Gespräch zu bringen, dass sie ohne Totalanspruch auf die Deutungsmacht gemeinsam die Wirklichkeit des Menschen erkunden. Für die Psychologie hieße das, das Einwirken der Schöpferkraft Gottes durch den Heiligen Geist in Jesus Christus und damit eine transzendente Wirkmacht nicht auszuschließen. Seitens der Theologie würde die Bereitschaft erforderlich sein, stärker die psychologischen Funktionen religiösen Erlebens und Verhaltens zu untersuchen und die menschliche Seite des Glaubens in den Blick zu nehmen. Diese Modellskizze einer dialogischen Kooperation wird aber nur möglich, wenn beide Seiten auf der Basis eines gemeinsamen Menschenbildes zusammenarbeiten, ihre jeweiligen Kompetenzen einbringen und die fachlichen Grenzen anerkennen.
59 Lambert, Landschaft, 15. 60 Utsch, Gratwanderung. 61 Utsch, Dialogische Perspektive.
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Literatur Quellen Grün, Anselm, Mystik und Psychologie, in: ders., Mystik, Freiburg 2009, 81–104. Mager, Alois, Mystik als seelische Wirklichkeit. Eine Psychologie der Mystik, Graz 1945. McGinn, Bernard, Die Mystik im Abendland, Bd. 1, Freiburg 1994. Peng-Keller, Simon, Gottespassion in Versunkenheit. Die psychologische Mystikforschung Carl Albrechts, Würzburg 2003. Rahner, Karl, Visionen und Prophezeiungen, Freiburg 1989. Streib, Heinz/Keller, Barbara, Was bedeutet Spiritualität?, Göttingen 2016. Utsch, Michael, Gottesbilder und religiöse Entwicklung, in: Wege zum Menschen 66/2014, 579–589. –, Professionelle Qualitätsstandards für Geistliche Begleitung, in: Wege zum Menschen 67/ 2015, 386–391. –, Psychologie der Spiritualität? Grenzen, Anwendungen und eine herausfordernde Gratwanderung, in: Geist und Leben 87/2014, 261–274. –, Psychologische Hilfen zur Förderung der spirituellen Entwicklung, in: Greiner, Dorothea/Raschzok, Klaus/Rost, Matthias (Hg.), Geistlich begleiten. Eine Bestandsaufnahme evangelischer Praxis, Leipzig 2011, 177–197. Waaijman, Kees, Handbuch der Spiritualität, Bd. 2, Mainz 2005.
Forschungsliteratur Aßmann, Helmut, Glauben leben – Leben lernen. Eine Anleitung zum geistlichen Leben, Hannover 2012. Baier, Karl, Spiritualitätsforschung heute, in: ders. (Hg.), Handbuch Spiritualität, Darmstadt 2006, 11–46. Barth, Claudia, Esoterik – die Suche nach dem Selbst. Sozialpsychologische Studien zu einer Form moderner Religiosität, Bielefeld 2012. Barth, Hans-Martin, Dogmatik. Evangelischer Glaube im Kontext der Weltreligionen, Gütersloh 2003. Bergmann, Jens, Der Tanz ums Ich. Risiken und Nebenwirkungen der Psychologie, München 2015. Bobert, Sabine, Mystik und Coaching mit MTP – Mental Turning Point®, Münsterschwarzach 2011. Brentrup, Martin/Kupitz, Gaby, Rituale und Spiritualität in der Psychotherapie, Göttingen 2015. Bucher, Anton A., Psychologie der Spiritualität. Handbuch, Weinheim 2014. Dahlgrün, Corinna, Christliche Spiritualität. Formen und Traditionen der Suche nach Gott, Berlin 2009. Esch, Tobias, Die Neurobiologie des Glücks: Wie die Positive Psychologie die Medizin verändert, Stuttgart 2014.
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Arnd Barocka
Risiken und Nebenwirkungen – Evangelische Spiritualität und psychische Gesundheit
In diesem Beitrag soll die volkspsychologische Vorstellung überprüft werden, dass bestimmte Formen religiöser Praxis die Entstehung psychischer Leidenszustände und Problematiken begünstigen. Denn auf dem spirituellen Weg scheinen nicht geringe Gefahren den Gläubigen zu bedrohen. Dämonen greifen ihn an.1 Jesus Christus selbst wurde in der Wüste vom Satan versucht. In einschlägigen Werken2 wird darauf hingewiesen, dass man den spirituellen Weg nicht ohne Begleitung eines erfahrenen Führers, zum Beispiel eines Exerzitienmeisters betreten solle. Die spirituelle Gefährdung zeigt sich vorzugsweise im psychischen oder sogar psychopathologischen Bereich. In Frage kommen Anwandlungen von Schwermut, schwärmerische Höhenflüge, Rückzug von Freunden und Verwandten, Weltfremdheit, Störung des Realitätssinns, Selbstschädigung und manches andere, was aber in geistlichen Viten (so in der Legenda aurea des Jacobus de Voragine)3 gerade als Ausdruck besonderer Heiligkeit gewertet wird. Im Extremfall sind echte psychische Erkrankungen zu diagnostizieren.4 Eine kritische Darstellung dieses Zusammenhangs von spiritueller Praxis und psychischer Belastung ist das Ziel der folgenden Überlegungen. Dabei sind aber eine Reihe methodischer Probleme zu bedenken. Der Begriff „Spiritualität“ muss, wenn er in eine kausale Beziehung mit seelischen Tatbeständen gebracht werden soll, gewissermaßen in Einzelteile zerlegt werden. Wovon reden wir konkret? Ist es die Religiosität in ihrer Gesamtheit („Sind Sie religiös? Ja/Nein“), ist es die Zugehörigkeit zu einer Religionsgemeinschaft, ist es eine bestimmte Haltung oder Färbung der Religiosität wie die intrinsische versus extrinsische Religiosität nach Allport,5 eine bestimmte religiöse Praxis (etwa regelmäßiger Gottesdienstbesuch, regelmäßiges Gebet, Teil1 2 3 4 5
Hell, Sprache der Seele. Scholem, Die jüdische Mystik; Jalics, Der kontemplative Weg; Bobert, Mystik und Coaching. Voragine, Legenda aurea. Heimann, Religion und Psychiatrie. Darvyri u. a., Scale.
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Arnd Barocka
nahme an Exerzitien) oder sind es bestimmte religiöse Überzeugungen (glauben oder nicht glauben an Wunder, an den Einfluss von Dämonen, an übernatürliche Heilungen), was den beobachteten Effekt erklärt. Wobei noch zu bedenken ist, dass eine Reihe anderer Faktoren, wie etwa genetische oder psychosoziale Einflüsse, ebenfalls ursächlich wirken können. Elemente der Spiritualität sind zum Beispiel das Gebet, die Kontemplation, eine monastische oder quasi-monastische Strukturierung der Zeit, das Leben in einer Gemeinschaft, die Liturgie, der Gesang, die Predigt oder die Sündenvergebung. Zu jedem dieser Praxiselemente gehört eine besondere seelische Färbung, sodass, wer der jeweiligen spirituellen Praxis „exponiert“ ist, unterschiedliche psychische Reaktionen zeigt. Zumindest erscheint der jeweilige Zusammenhang dann eher plausibel. Dass charismatische Gesänge aufputschen, Bußpredigten bedrücken, die Benediktregel zwanghaftes Verhalten begünstigt und zu langes Meditieren zu Halluzinationen führen kann, scheint auf den ersten Blick einleuchtend. Leider kann die Mehrzahl dieser möglichen Zusammenhänge gegenwärtig nicht auf der Grundlage empirischer Forschung geklärt werden; die Datenbasis ist schmal. Zugleich werden die „volkspsychologischen“, d. h. rein auf Plausibilität und Anmutungen basierenden Attribuierungen gern in der innerkirchlichen oder auch antireligiösen Polemik eingesetzt. Ein junges Mädchen erkrankt bedauerlicherweise an Schizophrenie. In den Wochen davor besuchte sie mit besonderer Hingabe die Jugendgottesdienste einer Gemeinde. Ist es nicht naheliegend, dass die aufgeheizte religiöse Atmosphäre dieser Gottesdienste die Psychose zum Ausbruch brachte? Die Antwort auf diese Frage lautet: Es ist überhaupt nicht naheliegend. Stattdessen hat man es mit einem sehr vielschichtigen „multifaktoriellen“ Geschehen zu tun. Neben den vorbestehenden genetisch-konstitutionellen Merkmalen der Krankheit muss man berücksichtigen, dass zur Symptomatik der Psychose nicht nur die dramatischen Manifestationen wie Stimmen und Wahn gehören. Heute weiß man, dass schon Jahre vor dem „Ausbruch“ der Krankheit diskretere Symptome bestehen können. Es ist gut möglich, dass in dem vorliegenden – konstruierten – Beispiel schon länger eine Verunsicherung bestand, die die Kranke erst veranlasst hat, sich der jungen Gemeinde anzuschließen. Es ist möglich, dass vorbestehende Defizite im zwischenmenschlichen Kontaktverhalten dazu führten, dass Mitglieder der jungen Gemeinde die einzigen Personen waren, die die Kranke in ihren Reihen tolerierten und damit die einzigen verbliebenen sozialen Kontakte. So zeigt sich bei näherer Betrachtung, dass die ursprüngliche kausale Zuschreibung eine unzutreffende Vereinfachung war. Das Bespiel mahnt grundsätzlich zur Vorsicht bei Überlegungen zum Zusammenhang von Spiritualität und psychischer Störung.
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1.
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Die spirituelle Haltung
Was bedeutet es, wenn ein Mensch eine spirituell geprägte Haltung einnimmt – für sein Lebensgefühl, sein Verhalten und seine Reaktionen auf die Welt, die ihn umgibt? Der springende Punkt scheint zu sein, dass er von einer Reihe unsichtbarer Konstanten ausgeht, die für seine nicht-spirituellen Mitmenschen keine Rolle spielen. William James6 charakterisiert diese transzendenten Konstanten (wobei er sich auf Kant beruft) dahingehend, dass sie zwar einerseits nicht empirisch nachweisbar seien, andererseits aber in der empirischen Welt eine Wirkung ausüben – vermittelt durch die Menschen, die an sie glauben.7 Für uns stellt sich die Frage, wie diese Menschen es schaffen, zugleich in der virtuellen Welt des Glaubens und der realen Welt der Dinge zu leben und ob damit eine Schwächung oder Gefährdung ihrer psychischen Funktionalität verbunden ist. Nun weiß jeder, dass die Fähigkeit zu glauben für den Menschen grundsätzlich kein Problem darstellt. Es scheinen zwei anthropologische Merkmale zu sein, die sie ermöglichen. Das erste Merkmal beruht auf der Tatsache, dass wir uns nur zu einem kleineren Teil unserer bewusst verbrachten Zeit im „Hier und Jetzt“ aufhalten. Unsere unmittelbare Umgebung, das, was wir aktuell wahrnehmen, sehen, tasten oder riechen, interessiert uns meist weniger. Stattdessen sind wir schon „in Gedanken woanders“, zum Beispiel bei einer bevorstehenden Aufgabe, einem Meeting oder überhaupt an einem anderen Ort. Kognitive Psychotherapeuten8 bezeichnen diesen Mechanismus als Autofokus und meinen damit, dass man gewissermaßen automatisch, ohne bewusstes Zur-Kenntnis-Nehmen durch das jeweilige Hier und Jetzt fahren kann. Achtsamkeitsmeditation und psychosomatische Anti-Stress-Programme bemühen sich, das Gewahrsein für das aktuell Umgebende auszudehnen unter der Vorstellung, dass damit ein größeres Maß an Entspannung ermöglicht wird. Das ändert aber nichts an der grundsätzlichen Tatsache, dass sich der menschliche Geist gern an einem anderen als dem aktuellen Ort aufhält. Dabei sind seiner Phantasie und seinem Glauben keine Grenzen gesetzt, sodass der gleiche Mensch zum Beispiel sein Kraftfahrzeug durch den Großstadtverkehr lenken und gleichzeitig zum Gott seines Glaubensbekenntnisses beten kann. Diese subjektive Seite der spirituellen Haltung ermöglicht die gleichzeitige Existenz in der wahrgenommenen und einer konstruierten Welt. Es ist übrigens möglich, dass diese Konstruktion ihrerseits auf Wahrnehmungen beruht, in denen das Göttliche sinnlich erlebt wird. Dabei kann es sich um interpretierende Deutungen handeln wie die Vogelflugsemiotik bei Homer, 6 James, Varieties. 7 A. a. O., Lecture III. Kant’s Theological Ideas. 8 Williams/Teasdale, Der achtsame Weg.
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um Mustererkennungen, aber auch um Auditionen, Visionen oder Gedankeneingebungen. Hier lassen sich leicht Verbindungen zu psychopathologischen Phänomenen (epileptischen Auren, Halluzinationen oder überhaupt schizophrenen Symptomen) herstellen. Grundsätzlich gilt: Je typischer und ausgeformter die psychischen Phänomene sind, sodass Beziehungen zur Psychopathologie hergestellt werden können, desto seltener treten sie in einem „spirituellen Alltag“ auf; hier ist der Stoff für Religionsgründungen oder biografische Krisen von Glaubenshelden – oder eben doch für das Krankenblatt einer Nervenklinik. Dass der spirituelle Mensch zugleich in der realen Welt und in der virtuellen Welt des Glaubens kompetent agieren kann, ist somit nichts Überraschendes, sondern beruht auf einer allgemeinen menschlichen Fähigkeit zur Konstruktion von Welt. Neben den eigenen Erfahrungen des Göttlichen durch den Einzelnen, die umso seltener sind, je spektakulärer sie sich gestalten, gibt es ein zweites anthropologisches Merkmal, das den Glauben in vielen Fällen begründet und aufrechterhält, nämlich die soziale Bezogenheit. Der religionssoziologische Aspekt lehrt, dass Glaube häufig durch Eltern vermittelt wird und auf jeden Fall das Merkmal der sozialen Zugehörigkeit eine wichtige Rolle spielt. Die soziale Zugehörigkeit manifestiert sich in bestimmten Riten wie dem festlichen Begehen von Weihnachten oder Glaubensinhalten, wie sie im Glaubensbekenntnis während des Gottesdienstes laut ausgesprochen werden, auch ohne dass die persönliche Gotteserfahrung zugrunde liegen muss. Die Zugehörigkeit bedingt dann eine Loyalität, die ihrerseits wieder zur Grundlage einer konstruierten Welt des Glaubens wird, in der der Betreffende sich dann als spirituelles Wesen bewegt. So oder so spielt sich das Wesentliche jenseits des Horizontes von Hier und Jetzt ab. Das ist, wie wir gesehen haben, für die menschliche Psyche keine ungewöhnliche Leistung. Es stellt sich aber doch die Frage, ob es nicht ein Unterschied ist, wenn sich das Konstrukt – wie zum Beispiel das Leben in einer anderen Stadt – zumindest gelegentlich konkret überprüfen lässt oder wenn die Überprüfung – wie beim Himmelreich – in dieser Welt nicht stattfinden kann. An dieser Stelle setzt auch die Kritik an. Ein besonders heftiger Kritiker des religiösen Konstrukts war Albert Ellis (1913–2007). Er ist vielleicht weniger bekannt als Freud,9 begründete seine Kritik aber mit allgemein besser zugänglichen Argumenten. Freuds Argumentation ist an seinen Neurosebegriff gebunden. Die Reifungsblockade, welche der religiösen Haltung seiner Meinung nach zugrunde liegt, ist eine Blockade, die in Freuds psychoanalytischem Entwicklungsmodell zu verorten ist. Pikanterweise ist Freud der Auffassung, dass die kollektive Neurose der Religiösen sie sogar vor der 9 Freud, Zukunft einer Illusion.
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Ausbildung einer individuellen klinischen Neurose schützen könne. Der Unwert der Religion liegt für ihn nicht in ihrem krankmachenden Charakter, sondern darin, dass etwas, das dem Menschen in seiner moralischen Entwicklung aufgegeben ist – nämlich nüchterne Selbsterkenntnis – vermieden wird. Dagegen kritisiert Ellis direkt die Irrationalität des religiösen Konstrukts.10 Irrationalität ist für ihn dann gegeben, wenn rigide, absolutistische Überzeugungen herrschen. Irrationalität ist nach Ellis auch die Grundstörung psychischer Krankheit (seine Therapie heißt „rational-emotive Therapie“), und somit sind religiöse Personen auch anfälliger für psychische Erkrankungen – eine These, die sich empirisch überprüfen lässt (und inzwischen widerlegt ist s. u.). Während Autoren mit einem naturwissenschaftlichen Selbstverständnis wie Freud und Ellis das Leben mit einer religiös konstruierten Welt ablehnten, fand das gleiche Phänomen mehr Sympathie bei ihren Zeitgenossen Jung11 und Frankl.12 Jungs Sympathie galt dem mythischen Charakter der Religion, der ja in der Tat eine an die Romantik erinnernde „Verzauberung der Welt“ ermöglicht. Während man diese unter psychohygienischen Gesichtspunkten durchaus zwiespältig sehen kann (Tröstung angesichts der Kälte des industriellen Alltags auf der einen Seite, Weltfremdheit, Lethargie und Passivität auf der anderen), konnte Frankl als KZÜberlebender die hilfreiche Kraft des religiös begründeten Sinnerlebens unwidersprochen für sich reklamieren. Wir sehen, dass Argumente sowohl dafür wie dagegen sprechen, dass es psychisch ungesund sein könnte, mit dem Bild einer unsichtbaren religiösen Welt durchs Leben zu gehen. Gibt es jenseits allen Argumentierens auch konkrete Erfahrungen, die uns an dieser Stelle weiterbringen?
2.
Kranke oder gesunde Spiritualität
Es ist ebenso eindrucksvoll wie niederdrückend, wenn an Depression erkrankte gläubige Menschen sich mit Schuldgefühlen quälen, die keiner seelsorgerlichen Einrede zugänglich sind, wenn Zwangskranke sinnlose Rituale wiederholen oder Wahnkranke prophetische Berufungserlebnisse beschreiben. Allerdings wird hier das Problem gewissermaßen von der falschen Seite angefasst, da ja auch nicht-spirituelle Personen an den gleichen Erkrankungen leiden. Es ist problematisch, die psychischen Symptome dem Glaubensleben der Patienten zuzuschreiben.
10 Ellis, The Case Against Religiosity. 11 Jung, Schriften. 12 Frankl, Trotzdem.
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Die Frage, ob Religiosität gesund oder ungesund ist, lässt sich deshalb nicht pauschal klären, weil seit langem sowohl gesunde wie ungesunde Formen von Religionsausübung beschrieben werden. Schon William James unterschied in seinen Vorlesungen den healthy-minded und den morbid-minded Typ.13 Damit meinte er allerdings Eigenschaften der Persönlichkeit oder eines bestimmten – z. B. optimistischen amerikanischen – Milieus. Während das dekadente Europa der vorletzten Jahrhundertwende von traurigen Gestalten wie Leo Tolstoi geprägt schien, hatte das Christentum in Amerika einen geradezu therapeutischen Charakter, wie er sich noch heute in Gestalten wie Billy Graham oder Joyce Mayer äußert. Tolstoi ist ein gutes Beispiel dafür, dass eine primär problematische Persönlichkeit – er wuchs als Waise auf und erlebte Perioden tiefer Verzweiflung – sich mit einer Extremtheologie verbinden kann, die es ihrem Protagonisten erlaubt, radikaler Ankläger der Verhältnisse zu sein. Gordon Allport führte zusammen mit J.M. Ross 1967 die Unterscheidung in sog. intrinsische und extrinsische Religiosität ein. Die intrinsische ist die gute, d. h. die echte, von einer tiefen Glaubensüberzeugung geprägte Religiosität. Demgegenüber ist extrinsische Religiosität eher oberflächlich und auf soziale Teilhabe ausgerichtet, ohne dass der Betreffende in seinem Inneren stark davon bereichert würde.14 Die in einem Fragebogen erfassten Merkmale der intrinsischen Religiosität15 sollen jedenfalls mit einem positiven Gesundheitsverhalten korrelieren. Das 20. Jahrhundert war noch vom Konzept der ekklesiogenen Neurose geprägt, das von den Autoren Schätzing und Thomas in den 50iger Jahren entwickelt wurde.16 Dieses Konzept ging von zwei Annahmen aus: 1. Psychische Gesundheit erfordert eine frei gelebte Sexualität. 2. Im Christentum wird gerade diese Freiheit unterdrückt, was zu unvermeidbaren Schuldgefühlen insbesondere Onanieskrupeln führt. Daraus resultieren dann Depressionen und Ängste, welche bei Christen besonders häufig auftreten. Inzwischen sind diese Vorstellungen durch den gesellschaftlichen Wandel überholt. Die als „sexuelle Revolution“ bezeichneten Veränderungen im Sexu13 James. Varieties, Lectures IV–VII: The Religion of Healthy Mindedness. The Sick Soul. 14 Darvyri u. a., Scale. 15 Intrinsisch: „I enjoy reading about my religion. It is important to me to spend time in private thought and prayer. I have often had a strong sense of God’s presence. I pray mainly to gain relief and protection. I try hard to live all my life according to my religious beliefs. Prayer is for peace and happiness“. Extrinsisch: „I go to church because it helps me to make friends. I go to church mostly to spend time with my friends. My whole approach to life is based on my religion. I go to church mainly because I enjoy seeing people I know there. It doesn’t much matter what I believe so long as I am good. Although I am religious, I don’t let it affect my daily life. Although I believe in my religion, many other things are more important in life“. 16 Simon, Ekklesiogene Neurosen.
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alverhalten seit den 1970er Jahren haben gezeigt, dass auch ein intensives Sexualleben nicht vor psychischen Erkrankungen schützt. Zugleich sind am Beginn des 21. Jahrhunderts sorgfältige epidemiologische Studien durchgeführt worden, die im Gegenteil zeigen, dass aktive Beteiligung an christlichen religiösen Aktivitäten das Risiko, psychisch zu erkranken, verringern kann. Eine dieser klassischen Studien soll aufgrund ihres exemplarischen Charakters und weil der Erstautor auch auf anderen Gebieten der psychiatrischen Epidemiologie einen sehr guten Namen hat, etwas genauer dargestellt werden. Kendler u. a.17 führten eine Studie an 2600 Zwillingen durch, bei der es möglich war, auch auf die Komplexität des religiösen Konstrukts einzugehen (Tabelle 1). Die hier angeführten Dimensionen sind aus einem Material von 78 Merkmalen abgeleitet. Tab.1 Dimensionen von Religiosität in der Untersuchung von Kendler et al. 2003 1 Allgemeine Religiosität „Haben religiöse Themen eine große Bedeutung für mich?“ 2 Soziale Religiosität „Praktiziere ich meine Religion in einer Gemeinschaft, gehe ich zur Kirche?“ 3 Gott im Leben aktiv „Glaube ich an einen Gott, der in mein Leben eingreift?“ 4 Vergebungsbereitschaft „Bin ich liebevoll, fürsorglich und vergebend in meiner Haltung zur Welt?“ 5 Gott als Richter „Erlebe ich Gott strafend, richtend und als Autorität?“ 6 Verzicht auf Rache „Entscheide ich mich für Rache oder verzichte ich darauf ?“ 7 Dankbarkeit „Bin ich ärgerlich auf Gott oder dankbar?“
Die Autoren vertreten die Auffassung, dass jede einzelne dieser Dimensionen des religiösen Lebens auf ganz eigene Weise in Beziehung zu psychischen Erkrankungen treten kann. Inzwischen weiß man, dass ihre Verteilung in der Gruppe stark von einem genetischen Faktor beeinflusst ist, dass also das „religiöse Profil“ des oder der Einzelnen zu einem nicht geringen Anteil konstitutionell bedingt ist.18 Die meisten Dimensionen waren häufiger bei Frauen ausgeprägt (mit der Ausnahme von „Gott als Richter“ – häufiger bei Männern!), insgesamt nahm ihre Ausprägung mit dem Alter zu. Soziale Religiosität war stärker ausgeprägt bei geringerer Schul-/Universitätsbildung, höhere Bildung förderte die Ausprägung von „Verzicht auf Rache“.19 Die untersuchten Erkrankungen waren entweder emotionale Störungen (Depression, Angst, Panik, Phobie oder Bulimie) oder verschiedene Suchterkrankungen sowie die „Antisoziale Persönlichkeitsstö-
17 Kendler u. a., Dimensions of Religiosity. 18 Vance u. a., influences. 19 Es ist zu wünschen, dass dies auch für deutsche Universitätsabsolventen gilt.
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rung“ – d. h. solche psychische Störungen, die den Betroffenen sehr wahrscheinlich mit dem Gesetz in Konflikt bringen. Die Ergebnisse sind differenziert zu sehen: Suchterkrankungen sind seltener, wenn die Dimensionen 3, 4, 6 und 7 hoch ausgeprägt sind. Soziale Religiosität scheint ein Risikofaktor für alle psychischen Erkrankungen zu sein. Das bedeutet nicht, dass man den sonntäglichen Gottesdienstbesuch als psychisch ungesund meiden sollte, sondern ist eher ein Ausdruck davon, dass psychisch Kranke sich in Gemeinden sammeln, weil sie hier akzeptiert werden und Unterstützung finden. Nach Meinung der Autoren bilden ihre Dimensionen „Verzicht auf Rache“ und „Dankbarkeit“ am besten Allports „intrinsische Religiosität“ ab; diese Dimensionen sind protektiv für Depression, generalisierte Angst und Bulimie; das ist ein in der Literatur häufig beobachteter Befund. Auf der anderen Seite hängen allgemeine Religiosität und Panikstörung zusammen, was in der Literatur ebenfalls schon mehrfach beobachtet wurde. Alle Dimensionen schützen – das ergibt sich aus dem typischen Verhalten der Religiösen – vor antisozialen Störungen. Zusammenfassend kann man sagen, dass intrinsische Religiosität d. h. – in der Sprache dieses Handbuchs – eine gelebte Spiritualität einen Schutzfaktor gegen Störungen im emotionalen Bereich darstellt. Auch Suchterkrankung und antisoziales Verhalten sind bei allen (christlich) Religiösen seltener. Die hohe Belastung der sozial Religiösen mit psychischen Störungen spricht für die Gemeinden und ihren diakonischen Dienst an den psychisch Kranken. Dagegen bedeutet der höhere Anteil an Panikstörung bei hoch ausgeprägter allgemeiner Religiosität nichts Gutes. Er spricht für eine schlechte Integration dieser allgemeinen Religiosität, für unsichere Bindung und Angstbereitschaft und das bedeutet konkret: Ein stark religiös gefärbtes Weltbild wird dann zum Problem, wenn nicht die Möglichkeiten einer persönlichen Gottesbeziehung, von Gebet, Stille und dem Erleben, geliebt zu sein, ebenfalls gegeben sind. Dieses insgesamt positive Ergebnis mag überraschen nach der von psychologischer Seite über Jahrzehnte vorgetragenen Kritik, das christliche Welt- und Menschenbild sei für eine gesunde seelische Entwicklung hinderlich. Die Erklärung für die Diskrepanz liegt ganz einfach darin, dass sich die kritischen Stimmen auf spektakuläre Einzelfälle20 oder Studien mit einer heute nicht mehr als angemessen betrachteten Methodik bezogen haben, während die neueren Studien mit großen Fallzahlen und anspruchsvollen statistischen Methoden arbeiten.21 Darüber hinaus können natürlich auch Änderungen des intellektuellen Klimas eine Rolle spielen, die aber schwieriger zu erfassen sind als Unterschiede in der Studienmethodik; letztere sind jedenfalls offensichtlich. 20 Moser, Gottesvergiftung. 21 Schowalter/Murken, Religion und Gesundheit.
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Abschließend kann man sagen, dass die mit dem Konzept der ekklesiogenen Neurose einhergehende antichristliche Polemik heute keine Rolle mehr spielen dürfte, wenn man von negativen Erfahrungen Einzelner absieht und sich stattdessen mit allgemeinen Trends in der Bevölkerung befasst.
3.
Antagonismen, Widerstände und Widersacher
Wer es gelernt hat, das Bild einer unsichtbaren höheren Welt zu integrieren, dürfte auch kein Problem haben, Mächte des Bösen darin zu finden. Inwieweit Dämonen, Flüche, Besessenheiten und der Satan selbst in der Vorstellung eine Rolle spielen, hängt von den Instruktionen ab, die der Gläubige durch seine Kirche, Gemeinde, Gruppierung oder eine bestimmte Literatur erhalten hat. Literatur, die auf das Wirken des Bösen und anderer anthropomorpher Akteure hinweist, gibt es in nicht geringer Zahl,22 auch wenn die evangelische Kirche derartige Vorstellungen nicht fördert. Dagegen sollen die katholische Kirche, Pfingstkirchen und evangelische Kirchen in Übersee für diese Dualität im übernatürlichen Bereich offen sein.23 Häufig werden Krankheiten und bevorzugt psychische Krankheiten dem Wirken der bösen Mächte zugeschrieben. Dabei ergeben sich interessante Übersetzungsprobleme zwischen dem dämonologischen und dem psychologischen Modell. Aus psychologischer Sicht vereinigt ein Exorzismus – als Kulmination des Umgangs mit dem Bösen – zwei Aspekte, die Suggestion und die Externalisierung. Die Suggestion ergibt sich aus der formelhaften und unter Umständen dramatisch vorgetragenen Anrede. Die Externalisierung besteht in der zugrunde liegenden Annahme, dass etwas Fremdes, dem Gläubigen nicht Zugehöriges und deshalb auch nicht von ihm zu Verantwortendes nun vom ihm abgetrennt und ausgeschieden werde. Bis vor kurzem galt dies bei Psychotherapeuten als grundsätzlich schädlich, denn man ging davon aus, dass alles, was im Bewusstsein einer Person zutage tritt, auch zu ihr gehört. Die psychotherapeutische Arbeit besteht dann in der Integration „des Schattens“, also der Persönlichkeitsanteile, denen sich der Leidende zunächst einmal nicht stellen möchte und die er als „Nicht-Ich“ denunziert. Das wäre sicherlich auch für eine seelsorgerliche Begleitung eine problematische Position. Schwierig ist der dämonologische Ansatz vor allem dann, wenn stärkere ichstrukturelle Defizite bestehen wie bei der Schizophrenie mit ihren „Stimmen in Rede und Gegenrede“ oder bei der multiplen Persönlichkeitsstörung. Ein Versuch, diese „Stimmen“ oder einen dissoziativen Persönlichkeitsanteil zu verbannen, würde die Ich-Struktur ja noch weiter schwächen und eine unmittelbare 22 Z. B. Rohrbach, Mit dem Unsichtbaren leben. 23 Utsch, Zugänge.
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Verschlimmerung des Krankheitsbildes befürchten lassen. Dies alles bleibt weiter gültig. Dennoch hat es in der psychotherapeutischen Technik Weiterentwicklungen in Richtung eines mehr erlebnisorientierten Vorgehens gegeben, die den Exorzismus in einem freundlicheren Licht erscheinen lassen. Grundsätzlich ist es ja durchaus vorstellbar, dass es Persönlichkeitselemente gibt, die man zu Recht loswerden möchte: quälende insbesondere traumatische Erinnerungen oder negativ prägende elterliche Maximen („aus dir wird nichts“). Psychotherapeuten haben symbolische Handlungsformen entwickelt („Begraben“ einer Erinnerung, Selbstbehauptung im Dialog mit einem leeren Stuhl), die genau die oben genannten Merkmale der Suggestion und der Externalisierung aufweisen.24 Im Leben psychisch gesunder Gläubiger scheint das dämonologische Weltbild außerhalb des pfingstlich-charismatischen Christentums keine besondere Rolle zu spielen. Wahrscheinlich hat es seinen Schwerpunkt eher in kirchenfernen, der Esoterik zuneigenden Bevölkerungsgruppen.
4.
Das Gebet
Im Zentrum eines spirituell geprägten Lebens steht das Gebet. Seine Formen sind vielfältig und dementsprechend mit ganz unterschiedlichen psychologischen Auren versehen. Wenn eine Gemeinde im Gottesdienst das Vaterunser spricht oder ein Einzelner längere Zeit für sich allein betet, hat man es mit verschiedenartigen psychischen Mechanismen zu tun; nämlich im ersten Fall mit einem ritualisierten Gemeinschaftserlebnis, im zweiten Fall mit einer intimen Form des Austausches und der Öffnung des Inneren. Aus Bevölkerungsumfragen geht hervor, dass viele Menschen beten. Doch weiß man wenig über die Verteilung auf die verschiedenen Formen, das Stoßgebet mit der Bitte um Hilfe, Anbetung, Lob und Dank sowie die verschiedenen Fürbitten. Gebet gilt deshalb als eine Form des „religiösen Coping“, weil es gerade in schwierigen Situationen als hilfreich erlebt wird und dem Beter neuen Mut, Vertrauen und innere Stärke geben kann. Daneben ist zu berücksichtigen, dass jemand, der betet, in diesem Moment etwas anderes unterlässt: Er wendet sich von seinem Tagesgeschäft ab und Gott zu. Damit wird der Alltag unterbrochen und die Zivilisation mit ihren Schädigungsmöglichkeiten in Grenzen gehalten. Ob es sich dabei um eine reale, für die psychische Gesundheit förderliche Verhaltensweise handelt oder nur um eine Sehnsucht, der man gerne folgen würde, ohne es im Alltag zu schaffen, bleibt eine offene Frage. Die vielen Ratgeberbücher zu Gebet und Meditation und die vollen Vortragssäle von Autoren wie Pater Grün sprechen für ein weit verbreitetes Bedürfnis in diese Richtung. 24 Grabe, Dämonen austreiben.
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Wenn man aber den Alltag unserer Informationsgesellschaft betrachtet, hat man nicht den Eindruck, dass er von Menschen geprägt wäre, die häufig aus ihrem Gebet Gelassenheit und Entspannung schöpfen. Man muss vielmehr den Verdacht haben, dass das Gebet – und auch die diesbezügliche Positionierung in Umfragen – eher einen Wunsch als die Realität darstellt. Denn in der Praxis erfordert es erhebliche Selbstdisziplin, sich aus dem Alltag mit seinem Informationsstrom zurückzuziehen und sich der Stille des Gebets auszusetzen. Ein Hauptproblem des Gebets besteht also möglicherweise darin, dass zu wenig gebetet wird. Ein weiteres Problem entsteht, wenn Gebet – z. B. um Heilung – nicht erhört wird. Hier ist seelsorgerliche Begleitung für den Beter erforderlich, um ihm zu helfen, seine Enttäuschung zu überwinden und eine neue Bewertung seiner Situation zu entwickeln. Gebet kann durch formelhafte nichtssagende Wendungen der persönlichen Entwicklung oder – beim gemeinsamen Gebet – einem echten Dialog ausweichen. Die Wohltat des Gebets, dass nämlich der Lärm des Alltags für einen Moment ausgeblendet wird, kann in dem Sinne Plage werden, dass ein viel zu weit gehender Rückzug aus der Realität und ihren Forderungen stattfindet, der den Beter in einen Teufelskreis von Misserfolg und Rückzug hineinführt.
5.
Gebet und Zwang
Unter Zwang versteht man in der Psychologie ein sich wiederholendes („Wiederholungszwang“) Verhalten, dessen Unterlassung beim Betroffenen quälende negative Gefühle auslöst, obwohl oder gerade dann, wenn ihm die Sinnlosigkeit dieses Verhaltens bewusst ist. Die „Zwangsstörung“ ist eine gravierende psychische Erkrankung, die mit einer Häufigkeit von etwa 1 % in der Bevölkerung auftritt. Daneben gibt es „Zwanghaftigkeit“ auch als Akzentuierung persönlicher Eigenschaften, bei extrem ordentlichen, gründlichen, ja „perfektionistischen“ Menschen. Das alles hat eigentlich nichts mit Religion oder Spiritualität zu tun. Es kann aber sein, dass auch derartige Personen ein spirituelles Bedürfnis haben und eine spirituelle Praxis entwickeln. In diese Praxis werden sie dann ihre typischen Verhaltensweisen einbringen, die sie jedweder Praxis zugrunde legen. Man unterscheidet zwischen Zwangsgedanken und Zwangshandlungen. Typischerweise religiös gefärbte Zwangshandlungen sind sehr lange Gebete, oder zwanghaft wiederholtes Bekennen von Sünden. Typische Zwangsgedanken sind Blasphemien oder Zweifel. Ein besonders strenges Moralempfinden akzeptiert keine kleinen oder zu vernachlässigenden Fehler; jeder kritische Gedanke, auch der relativ harmlose, muss nach Art des Zwangs neutralisiert werden und gewinnt erst dadurch seine pathologische Kraft.
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Für die religiöse Frage kommt ein Problem aus der Geschichte der Religionswissenschaft hinzu: Freud25 interpretierte die Religion generell als eine „Kollektive Neurose“, genauer als eine „Kollektive Zwangsneurose“. Eigentlich könnte uns das kalt lassen. Wir wissen heute besser als Freud, wie Zwangsstörungen entstehen: die neurobiologischen und genetischen Anteile des Krankheitsbildes konnte er in seinem Entwicklungsmodell nicht berücksichtigen. Wir würden heute auch zögern, Krankheitsbilder aus der Individualpathologie auf soziale Institutionen zu übertragen. Dennoch: semper aliquid haeret (Plutarch) – es bleibt immer etwas hängen, schon aufgrund der Macht der Sprache. Die repetitiven Zwänge werden z. B. als Ritual bezeichnet; so ist eine Nähe zum gottesdienstlichen Ritus zumindest sprachlich hergestellt. Das Phänomen „Zwang“ erinnert uns allerdings auch daran, dass es in der spirituellen Praxis eine Dialektik von Spontaneität und Regel gibt. Gebetszeiten, bestimmte Meditationen, Jahrestage, Fasten und ähnliches erfolgen sinnvollerweise regelmäßig und geben dem geistlichen Leben eine tragfähige Struktur. „Zwang“ wird daraus nur, wenn die Regel sich verselbstständigt, ihren Zweck nicht mehr erfüllt und deshalb ständig wiederholt werden muss. Es gibt also ein formales Kriterium, das den pathologischen Zwang von der religiösen Praxis unterscheidet; die inhaltlichen Kriterien der Angstabwehr oder Wunscherfüllung sind so unspezifisch, dass man sie immer unterstellen kann.
6.
Meditation und Mystik
Meditation und mystische Versenkung sind Sonderformen der Gebetspraxis. Dabei hat die Meditation eine spezielle soziale Funktion durch die Verbreitung paramedizinischer Praktiken, denen Stressreduktion und damit positive Gesundheitseffekte zugeschrieben werden. Tatsächlich haben achtsamkeitsbasierte Meditationstechniken auch in der seriösen Depressionsbehandlung einen Platz.26 Sie enthalten aber trotz ihrer Herkunft aus dem Buddhismus keine religiösen Inhalte, sondern fokussieren den Meditierenden auf seinen Atem und einen distanzierten („nicht wertenden“) Umgang mit auftretenden Gedanken und Gefühlen. Auch die evangelische Kirche bietet in größerem Umfang Meditationen und Exerzitien an, wobei sie an klösterliche und ostkirchliche Traditionen anknüpft. Wahrscheinlich entspricht sie damit dem modernen Bedürfnis, ein Gegengewicht zur Konsum- und Informationsgesellschaft zu schaffen. Hier gilt die eingangs genannte Empfehlung, dass man für den Einstieg eine Begleitung haben sollte. 25 Freud, Zukunft einer Illusion. 26 Williams/Teasdale, Der achtsame Weg.
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Der plötzliche Entzug von Sinnesreizen („sensorische Deprivation“), der zum Meditieren gehört, kann seinerseits ein starker Stressor sein. Wenn es etwas zu verdrängen gibt und dies vorher im Getriebe des Alltags gut gelang, kann der Meditierende mit der jetzt erfolgenden Konfrontation überfordert sein. Auch reine Nachhalleffekte der unterforderten und sich langweilenden Hirnzellen können unangenehme Halluzinationen auf allen Sinnesgebieten produzieren. Der zu mystischen Erfahrungen führende „kontemplative Weg“27 ist eine Spezialform und vielleicht auch Steigerung des „spirituellen Weges“. Während Spiritualität bedeutet, das Leben mit Gott zu führen, gewissermaßen unter seinen Augen und im Bewusstsein seines Handelns, führt die Kontemplation direkt in die Gegenwart und zur Anschauung Gottes. „Lass mich deine Herrlichkeit sehen“. Das daraus resultierende mystische Erleben wird epochen- und religionsübergreifend ähnlich beschrieben und ist ein Gegenstand der Religionspsychologie. Es muss sehr schön sein. Begriffe wie „ozeanisch“ oder Aufhebung der Subjekt-Objekt-Spaltung28 werden dafür verwendet. Offenbar führen diese Erlebnisse bei den Betroffenen zu einer besonderen Weisheit dahingehend, dass sie sich von Verantwortung entlastet fühlen, sich dem Handeln Gottes anvertrauen und ähnlich wie die Lilien der Bergpredigt nicht mehr „spinnen oder weben“ müssen. Auf der anderen Seite ist die mystische Literatur voll von Erlebnissen erschreckender psychopathologischer Phänomene; offenbar kann der Weg zur reinen Schau des Unendlichen auch durch einen Horrortrip mit voll ausgeprägten psychotischen Zuständen führen.29
7.
Schuld und Vergebung
Zwischen Karfreitag und Ostern erleben Christen die Spannung zwischen bedrückendem Leid, das aus menschlicher Schuld resultiert, und der Überwindung dieses Leids durch die Auferstehung, verbunden mit der Vergebung der Schuld. Das ergibt, wenn man es ernst nimmt, ein heftiges Wechselbad der Gefühle, das eine gewisse seelische Stabilität erfordert sowie die Fähigkeit, sich emotional radikal umzustellen. Auf längere Sicht werden die meisten Menschen wohl eine Wahl treffen, ob sie in ihrem emotionalen Leben den Schwerpunkt eher auf österliche Freude oder vorösterliche Leiderfahrung legen. Welche Wahl sie treffen, dürfte von ihrer Persönlichkeit und biografischen Vorerfahrungen bestimmt sein. Die Welt ist – wie das Evangelium – diesbezüglich gemischt, Geburt und Tod finden im gleichen Krankenhaus nur wenige Meter voneinander entfernt statt. 27 Jalics, Der kontemplative Weg. 28 Jaspers, Weltanschauungen. 29 Albrecht, Psychologie.
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Der korrekte Umgang mit Schuld ist nach christlicher Lehre, dass man sie erkennt, bekennt und die Vergebung dafür empfängt, üblicherweise im Rahmen des Abendmahlsgottesdienstes, gelegentlich auch in der Einzelbeichte. Diesen korrekten Umgang kann man in zweierlei Weise verfehlen: durch Ignorieren der eigenen Schuld und durch krankhafte Schuldgefühle, die dem gesunden Bewusstsein massiv übertrieben erscheinen. Fehlgeleitete Schuldgefühle als Symptom einer meist depressiven Erkrankung sind ein klinisches Phänomen. Im Extremfall kann es sich um einen regelrechten Schuldwahn handeln, der definitionsgemäß einem vernünftigen Argumentieren nicht zugänglich ist. Besonders charakteristisch ist die „Sünde wider den Heiligen Geist“, die jeder Seelsorger kennen sollte. Es ist die Sünde, von der es heißt, sie könne nicht vergeben werden. Das entspricht exakt dem aktuellen Lebensgefühl des wahnhaft Depressiven; er fühlt, ja er weiß, er ist verdammt. Dies ist eine Situation, in der man ohne den Arzt und seine Medikamente nicht weiterkommen wird. Dennoch braucht der Kranke, denn um Krankheit handelt es sich, die mitmenschliche Nähe seiner Gemeinde. Auch wenn es sinnlos ist, mit ihm zu diskutieren, ist es doch immer noch sinnvoll, einfach da zu sein. Es kann auch sinnvoll sein, einer Person mit krankhaften Schuldgefühlen die Vergebung zuzusprechen. Dabei muss man bedenken, dass ein Gefühl der Befreiung nicht zu erwarten ist, denn in der Depression ist das Gefühlsleben allgemein gestört. Die Tatsache, dass der Seelsorgesuchende sich nicht befreit fühlt, sollte nicht dazu veranlassen, den Vorgang zu wiederholen. Stattdessen kann mit Autorität auf die Gültigkeit der Vergebung hingewiesen werden. Bonelli30 erwähnt mit Recht, dass die meisten Schuldgefühle nicht pathologisch sind. Die Fähigkeit, auf eigenes Fehlverhalten aufmerksam zu werden, und zwar durch ein Gefühl, nicht durch rationales Erkennen, ist ein Wert, der es erlaubt, an der eigenen Entwicklung zu arbeiten. In diesem Sinne sind Schuldgefühle „ein Zeichen für psychische Gesundheit“ (Bonelli).Während in kirchlichen Kreisen die Möglichkeit der Beichte anscheinend immer weniger genutzt wird, sind Psychotherapeuten anhaltend begeistert von der damit verbundenen Möglichkeit der Entlastung und der Persönlichkeitsentwicklung.
8.
Psychotherapeuten und die Gemeinde
Angesichts der hohen und zunehmenden Zahl psychischer Störungen und der immer besseren Versorgung mit niedergelassenen Psychotherapeuten muss auch die Kirche damit rechnen, dass ihre Mitglieder einmal psychotherapeutische Hilfe in Anspruch nehmen. Diese Begegnung findet nicht ohne Ängste und 30 Bonelli, Schuldgefühle.
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Spannungen statt. Wo sind die Schnittstellen? Wie soll man seelsorgerliches Handeln und psychotherapeutische Interventionen voneinander abgrenzen oder miteinander in Beziehung bringen? Wird die Therapeutin (es sind meist Frauen) den geistlichen Hintergrund ihrer Klientin respektieren, ignorieren oder kritisieren, vielleicht sogar zu Recht kritisieren? Kann es peinlich werden? Oder erleben wir als Gemeinde einen ganz ungewohnten Bedeutungsverlust – man interessiert sich einfach nicht für uns? Im Folgenden soll eine kleine Einführung in das System „Psychotherapie“ in Deutschland gegeben werden mit dem Ziel, Ängste zu vermindern und Kirchengemeinden den Zugang zu erleichtern. Die ambulante Versorgung in Deutschland erfolgt durch Hausärzte, niedergelassene Psychiater oder Ärzte für Psychosomatische Medizin, die auch Medikamente verschreiben können, Psychologische Psychotherapeuten in eigener Praxis und die Institutsambulanzen der Psychiatrischen Kliniken. Daneben gibt es auch Psychologen mit Zulassung als Heilpraktiker und freie Berater, die aber nicht Teil des offiziellen Gesundheitssystems sind und nicht von Krankenkassen erstattet werden können. Für die in diesem Kapitel erwähnten Störungen wird man in den meisten Fällen eine Therapie bei einer Psychologischen Psychotherapeutin anstreben. Diese Therapien sind aufwändig. Man muss damit rechnen, ein Jahr oder länger einmal wöchentlich eine einstündige Sitzung zu absolvieren. Es gibt mehrmonatige Wartezeiten, die man mit Hilfe der niedergelassenen Ärzte oder der Ambulanzen überbrücken muss. Die soziale Unterstützung durch die Gemeinde kann in dieser Zeit besonders wichtig sein. Aber nicht nur dann. Wenn die Therapie begonnen hat, zeigt sich, dass 167 Stunden einer Woche ohne therapeutische Unterstützung bleiben. In ihnen muss man allein zurechtkommen. Die Therapie schleppt sich von Woche zu Woche hin und lässt kaum Fortschritte erkennen. Im Gegenteil, die angesprochenen Themen sind belastend, und es kommt immer wieder zu Stimmungseinbrüchen. Auch jetzt ist die Gemeinde besonders wichtig mit ihren Veranstaltungen, Festtagen, Strukturen und menschlichen Kontakten. Man kann davon ausgehen, dass der Therapeutin das bewusst ist und dass sie sich darüber freut. Sie weiß um die Bedeutung sozialer Teilhabe bei psychischen Störungen und umgekehrt um die Gefahr sozialer Isolierung. Wenn sie gut ausgebildet ist – und die Psychotherapeutenausbildung in Deutschland ist aufgrund gesetzlicher Vorgaben sehr gut – wird sie keine persönlichen Ressentiments gegen das Christentum pflegen; sie hat sich mit ihnen im Rahmen ihrer Selbsterfahrung auseinandergesetzt. Sie wird sagen: Ich respektiere und schätze Ihre Überzeugungen als eine wertvolle Ressource, die Ihnen Kraft gibt. Sie wird unter Umständen die eine oder andere Überzeugung hinterfragen, wenn sie den Eindruck hat, dass sie die Selbstständigkeit oder das Selbstbewusstsein mindert. Das wird dem Glauben nicht schaden. Tatsächlich – und das ist die Beantwortung der am Anfang des Kapitels gestellten Frage – kann
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sich die Gemeinde gut fühlen, weil sie weiß, dass sie einen wichtigen Beitrag zur psychischen Gesundheit leistet. Oft fragen christliche Patienten nach einem „christlichen“ Therapeuten. Es gibt amerikanische Studien, die für übereinstimmende Glaubensüberzeugungen einen therapeutischen Vorteil beschreiben.31 Angesichts der Versorgungssituation in Deutschland kann man aber die Therapie bei einer Therapeutin, die sich nicht explizit als „christlich“ etikettiert, ebenfalls empfehlen. Für die Gemeinde ist es möglich, diese Therapie seelsorgerlich zu begleiten. Denn auch psychisch Kranke brauchen Gebet.
Literatur Albrecht, Carl, Psychologie des mystischen Bewusstseins. Schünemann Verlag 1951. Bobert, Sabine, Mystik und Coaching. MTP-Verlag 2011. Bonelli, Raffael, Schuldgefühle, Psychotherapie und Beichte, in: Utsch/Bonelli/Pfeifer (Hg.): Psychotherapie und Spiritualität. SpringerMedizin 2013. Darvyri, Panagiota u. a., The Revised Intrinsic/Extrinsic Religious Orientation Scale in a Sample of Attica’s Inhabitants. Psychology 5, 2014, 1557–1567. Ellis, Albert, The Case Against Religiosity. New York Institute for Rational-Emotive Therapy 1983. Frankl, Viktor E., Trotzdem Ja zum Leben sagen. Ein Psychologe erlebt das Konzentrationslager. Kösel Verlag 1992 (1946). Freud, Sigmund, Die Zukunft einer Illusion. Studienausgabe, Band IX. Hg. v. Mitscherlich, Alexander/Richards, Angela/Strachey, James, Frankfurt am Main 1974, 135–189 (1927). Grabe, Martin, Dämonen austreiben wie Jesus? Was moderne Psychotherapie mit spiritueller Wirklichkeitswahrnehmung verbindet. Psychotherapie und Seelsorge 3, 2016, 11–19. Heimann, Hans, Religion und Psychiatrie, in: Gruhle, H.W. u. a. (Hg.), Psychiatrie der Gegenwart. Band III. Springer Verlag 1961. Hell, Daniel, Die Sprache der Seele verstehen: Die Wüstenväter als Therapeuten. Herder Verlag 2007. Hook, Joshua N. u. a., Empirically Supported Religious and Spiritual Therapies. J of Clinical Psychology 66, 2010, 46–72. Jalics, Franz, Der kontemplative Weg (Ignatianische Impulse). Echter Verlag 2010. James, William, The Varieties of Religious Experience: A Study in Human Nature Penguin1982 (1902). Jaspers, Karl, Psychologie der Weltanschauungen. Springer Verlag 62006. Jung, Carl Gustav, Schriften zu Spiritualität und Transzendenz. Hg. v. Dorst, Brigitte, Patmos Verlag 2013. Kendler, Kenneth u. a., Dimensions of Religiosity and Their Relationship to Lifetime Psychiatric and Substance Use Disorders. American J of Psychiatry 160, 2003, 496–503. 31 Hook u. a., Therapies.
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Moser, Tilmann, Gottesvergiftung. Suhrkamp Taschenbuch 1980. Rohrbach, Hans, Mit dem Unsichtbaren leben. Brockhaus Verlag 1976. Scholem, Gershon, Die jüdische Mystik in ihren Hauptströmungen. Suhrkamp Taschenbuch 1980 (1957). Schowalter, Marion/Murken, Sebastian, Religion und Gesundheit – empirische Zusammenhänge komplexer Konstrukte, in: Henning, Christian u. a. (Hg.), Einführung in die Religionspsychologie. Schöningh Verlag 2003. Simon, Uwe, Ekklesiogene Neurosen: Überprüfung des Konzeptes und Vergleich zwischen Theologiestudierenden verschiedener christlicher Konfessionen. Verlag für Medizin und Theologie 1995. Utsch, Michael, Unterschiedliche Zugänge zum Phänomen „Besessenheit“, in: Utsch/Bonelli/Pfeifer (Hg.): Psychotherapie und Spiritualität. SpringerMedizin 2013. Vance, Todd u. a., Genetic and environmental influences on multiple dimensions of religio sity: A twin study, J of Nervous & Mental Disease 198, 2010, 755–761. Voragine, Jacobus de, Legenda aurea. Manesse Verlag 2000. Williams, Mark/Teasdale, John, Der achtsame Weg durch die Depression. Arbor Verlag 2009.
Sabine Bobert
Postmoderne Spiritualität am Beispiel der Therapieszene
Im Folgenden fokussiere ich den Dialog mit der postmodernen Spiritualitätsszene auf ihre Auswirkungen auf die Therapieszene, mit Schwerpunkt auf die Achtsamkeitsbasierten Therapien (Teil 1). Hierbei ist mir vor allem die neue Offenheit von Wissenschaftlern für Spiritualität wichtig. In einem zweiten Teil zeige ich exemplarisch für die evangelische Seelsorge auf, inwieweit eine wissenschaftlich reflektierte Respiritualisierung, die die Errungenschaften der modernen Seelsorge aufgreift und weiterentwickelt, die angemessene evangelische Antwort auf die postmodernen spirituellen Bewegungen ist. Nicht Abschottung oder undifferenzierte Öffnung, sondern ein Dialog, der zu zeitgemäßen Formen der Neuaneignung aus der christlichen spirituellen Praxis führt, ist die angemessene Antwort und der Weg in die Zukunft.
1.
Heilsame Spiritualität: Achtsamkeitsbasierte Therapien
Die Situation der spätmodernen Gesellschaft wird häufig mit dem Merkmal der „Respiritualisierung“1 (Matthias Horx), Desecularization (Peter L. Berger) oder als Wiederverzauberung der Welt (Ulrich Beck) beschrieben, im Unterschied zur Säkularisierung der Gesellschaft in der Moderne. An die Stelle von Prognosen, dass Modernisierungsprozesse wie Industrialisierung, Urbanisierung, Individualisierung und kulturelle Pluralisierung zur Marginalisierung von Religion führten, tritt inzwischen die Beobachtung, dass religiöse Glaubensvorstellungen und Praktiken mit der Moderne kompatibel bleiben und sogar zu einer Quelle von Modernität werden können.2 1 Matthias Horx nennt „Respiritualisierung“ als „Megatrend“ seit den 1990er Jahren. Vgl. Horx, Trendbuch. Vgl. die Rezeption des Respiritualisierungs-Trends bei Psychologen wie Tanja Scagnetti-Feurer, Himmel und Erde, 51ff: „Religiosität und Spiritualität im gesellschaftlichen Wandel“. 2 Vgl. Pollack, Differenzierung, 224ff.
Postmoderne Spiritualität am Beispiel der Therapieszene
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Die Respiritualisierung führte unter anderem zu neuen therapeutischen Ansätzen. Neben vielen wissenschaftlich betrachtet vagen Verfahren ragen vor allem die sogenannten Achtsamkeitsbasierten Therapien mit ihrer wissenschaftlichen Begründung heraus. Für eine zeitgemäße evangelische Seelsorge mit wissenschaftlichem Profil ist es unabdingbar, mit diesen Therapieverfahren in einen Dialog zu treten und eine eigenständige profilierte Antwort zu entwickeln. Dies soll im Folgenden in zwei Teilschritten unternommen werden. Zunächst (1.1) wird der neurowissenschaftliche Hintergrund der Achtsamkeitsbasierten Therapieansätze beschrieben. Anschließend (1.2) wird exemplarisch der Therapieansatz „Mindfulness Based Stress Reduction“ (MBSR) und dessen Arbeit mit fernöstlichen spirituellen Übungen vorgestellt. MBSR ist nur eines von vielen spirituell basierten therapeutischen Verfahren der Postmoderne. Der emeritierte Professor für Klinische Psychologie an der Universität Koblenz-Landau Renaud van Quekelberghe hat 2007 in seinem Handbuch „Grundzüge der Spirituellen Psychotherapie“ einen Überblick über derzeit wichtige Verfahren veröffentlicht.3 MBSR eignet sich exemplarisch gut aufgrund seiner Wissenschaftlichkeit und weil aus ihm weitere Achtsamkeitsbasierte Therapieansätze abgeleitet wurden. Die Mindfulness Based Verfahren und die zahlreichen weiteren Therapien mit spirituellen Ansätzen fordern die Seelsorge dazu heraus, ein zeitgemäßes eigenes spirituelles Profil zu bilden und dabei zugleich wissenschaftlich fundiert vorzugehen. In der Postmoderne ist es für Menschen zunehmend selbstverständlich geworden, mit spirituellen Übungen zur Selbstklärung, Persönlichkeitsentwicklung und zu therapeutischen Zwecken zu arbeiten.
1.1
Neurowissenschaftlicher Hintergrund: Neuroplastizität
Die Achtsamkeitsbasierten Therapien wurden im engen Dialog mit neurowissenschaftlicher Forschung entwickelt. Im Folgenden stelle ich die für diese Verfahren grundlegende neurowissenschaftliche Entdeckung vor: Neuroplastizität. Unter neuronaler Plastizität versteht man die Fähigkeit von Synapsen, Nervenzellen oder auch ganzen Hirnbereichen, sich zur Verbesserung laufender Prozesse in ihrer Anatomie und Funktion zu verändern. Bereichsspezifisch spricht man zum Beispiel von synaptischer Plastizität oder kortikaler Plastizität. Das Gehirn verändert sich lebenslang. Es ist nicht dauerhaft durch einen Lebensabschnitt wie die Kindheit programmiert, sondern es bleibt ein dynamisches Organ. Es wird vor allem durch die Form der Aufmerksamkeit des Nutzers verändert. Etwas Unscheinbares wie die Gedanken des „Benutzers“, seine all3 Vgl. den Versuch eines umfassenden Überblicks bei Quekelberghe, Grundzüge.
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täglichen Handlungen und seine Gefühle formen ständig die Strukturen und Funktionsweisen des Gehirns mit. Das Gehirn lässt sich aufgrund seiner Dynamik angemessener mit einer Pflanze als mit einer Maschine oder einem Computer vergleichen. Der Psychologe Daniel Goleman korrigiert veraltete Grundannahmen der Neurowissenschaft: „Ein Jahrhundert lang lautete das herrschende Dogma der Neurowissenschaft, dass das Gehirn sich in der frühen Kindheit bildet und später nicht mehr verändert“.4 Mit dem Abschied vom Maschinen- oder Computerparadigma des Gehirns sind neue Therapieansätze entstanden, die gezielt neuroplastische Prozesse initiieren wollen. Der entscheidende Durchbruch zum Nachweis der lebenslangen Neuroplastizität des Gehirns gelang durch bildgebende Untersuchungsverfahren wie MRT sowie durch Verfahren wie EEG, die stärker zeitliche Abläufe widerspiegeln. Sie zeigen, wie schnell und auch langfristig sich das Gehirn umorganisieren kann.5 Inzwischen ist erwiesen: Nicht nur das kindliche Gehirn, sondern auch das eines Erwachsenen kann lebenslang neue Nervenzellen und neue Verbindungen erzeugen. „Sie wandern dorthin, wo sie gebraucht werden und wo sie sich in die bereits bestehenden Gehirnschaltkreise einfügen oder sogar die Grundlage für einen neuen Schaltkreis bilden“.6 Das Gehirn vergrößert auch in fortgeschrittenem Alter bereits nach kurzer Zeit Funktionsbereiche, die stark gefordert werden wie Gehörsinn und Tastsinn, so zum Beispiel beim Erlernen eines Instruments. Das Gehirn kann auch Schaltkreise für krankhafte Reaktionen stillegen. Je nachdem, was ein Mensch konzentriert denkt, intensiv fühlt oder häufig tut, vergrößert oder verkleinert er damit bestimmte Gehirnareale. Für häufig ausgeführte Funktionen stellt das Gehirn mehr Gewebe zur Verfügung, und es begrenzt den Bereich, der für Aktivitäten verantwortlich ist, die seltener ausgeführt werden. Der US-amerikanische Neurowissenschaftler Richard Davidson beschreibt die Konsequenzen aus der Entdeckung der lebenslangen Neuroplastizität und der dynamischen Sicht des Gehirns als revolutionär für therapeutische Ansätze: „Ich bin davon überzeugt, dass die Psychologie in den nächsten Jahren von der Neuroplastizität umgekrempelt wird“.7 Davidson weiter: „Die gegenwärtige Psychologie beruht zum Großteil auf der Vorstellung, dass im Gehirn unveränderliche Programme ablaufen, die das Verhalten, die Persönlichkeit und die emotionalen Zustände bestimmen. Diese Sichtweise ist durch die Entdeckungen der Neuroplastizität zutiefst erschüttert worden. Neuroplastizität wird das Gegengewicht
4 5 6 7
Begley, Neue Gedanken, XIV. Vgl. einführend das Buch des deutschen Meditationsforschers Ott, Meditation, 139ff. Begley, Neue Gedanken, 112. A. a. O., 433.
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zur deterministischen Sichtweise (dass die Gene das Verhalten bestimmen) bilden. Die Botschaft, die ich meiner eigenen Arbeit entnehme, besteht darin, dass ich die Wahl habe, wie ich reagiere. Wer ich bin, hängt von den Entscheidungen ab, die ich treffe. Ich selbst bin verantwortlich für das, was ich bin“.8
Der Professor für Neurowissenschaften Michael M. Merzenich an der University of California konstatierte bereits 1996: „Wir entscheiden uns in einem sehr realen Sinn dafür, wer wir im nächsten Moment sein werden, und diese Entscheidungen hinterlassen in uns einen physischen Abdruck“.9 Der Nutzer des Gehirns muss nicht in unglücklich sozialisierten oder ungünstig selbst geprägten Strukturen des Gehirns gefangen bleiben. „Identität“ wird zu einem freiheitlichen Projekt. „Wir sind keine Gefangenen des Gehirns, mit dem wir geboren werden, sondern in der Lage, bewusst zu bestimmen, welche Funktionen wir verstärken und welche wir abschwächen, welche moralischen Fähigkeiten wir entwickeln und welche Gefühle wir nähren wollen und welche nicht“.10
Der Neurowissenschaftler Fred Gage äußert dies klar: „Wenn das Gehirn sich verändern kann, dann können auch wir uns verändern. Und wenn das Gehirn falsche Veränderungen vornimmt, dann würden auch wir uns in die falsche Richtung entwickeln. Es war [lange Zeit – SB] einfacher zu glauben, dass überhaupt keine Veränderung möglich ist. Auf diese Weise konnte das Individuum so bleiben, wie es war“.11
Eine Schlüsselrolle für die Persönlichkeitsentwicklung des Menschen spielt in den Religionen die aufmerksame Beobachtung der eigenen mentalen, emotionalen und voluntativen Prozesse. Die Innenschau, die einst vorwiegend von Mönchen und Nonnen trainiert wurde, sowie die Fähigkeit zur Aufmerksamkeitslenkung wird inzwischen durch die Vertreter der Positiven Psychologie umfassend als Schlüssel zu seelischer Gesundheit und Glück anerkannt und therapeutisch nutzbar gemacht. Francisca Cho, eine buddhistische Wissenschaftlerin von der George-Washington-Universität, verweist auf die Zusammenhänge zwischen buddhistischer Lehre und den Achtsamkeitsbasierten Therapieverfahren: „Die Entdeckung, dass reines Denken genauso eine Wirkung hat wie konkretes Handeln, zeigt eine faszinierende Übereinstimmung mit der buddhistischen Lehre“.12 Auch Richard Davidson hebt die zentrale Rolle der vormals in Religionen gelehrten Achtsamkeit hervor: „In vielerlei Hinsicht ist die
8 9 10 11 12
A. a. O., 433f. A. a. O., 284. A. a. O., 430, vgl. 287ff. A. a. O., 8. A. a. O., 20.
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Aufmerksamkeit der Schlüssel zur Formbarkeit des Gehirns“.13 Für Helen J. Neville, Professorin für Psychologie und Neurowissenschaften an der University of Oregon, ist Achtsamkeit ein nahezu physisch reales Werkzeug: „Die Menschen denken, dass Aufmerksamkeit nur eine Art psychologisches Konstrukt ist, aber in Wirklichkeit kann man sie anfassen. Sie besitzt eine Anatomie, eine Physiologie und eine Chemie“.14 Die Wissenschaftsjournalistin Sharon Begley fasst den Zusammenhang zwischen konzentrierter Aufmerksamkeit (Achtsamkeit) und Neuroplastizität wie folgt zusammen: „Das Gehirn ist nur dann formbar, wenn es in einem bestimmten Geisteszustand ist – nämlich in einem Zustand konzentrierter Aufmerksamkeit. Der Geist spielt eine entscheidende Rolle“.15 Achtsamkeitsbasierte Therapien schulen ihre Patienten in der Selbstbeobachtung und sie vermitteln ihnen Methoden zur mentalen Selbststeuerung. Die Methoden sind vorwiegend fernöstlichen spirituellen Traditionen entlehnt. Durch die therapeutische Rezeption alter Mönchsübungen sind TherapeutInnen in der Postmoderne zu säkularen MeditationslehrerInnen geworden.
1.2
Achtsamkeitsbasierte Therapien: Stressreduktion, Heilung von Depression, Zwangserkrankungen und Borderline-Störung durch fernöstliche Übungen
Das in der Theorieentwicklung grundlegende Verfahren der Achtsamkeitsbasierten Therapien ist die Mindfulness Based Stress Reduction (MBSR). Aus ihr wurden weitere Verfahren für vielfältige Anwendungsbereiche abgeleitet. Für ein eingehenderes Studium der Achtsamkeitsbasierten Therapien liegt inzwischen die umfassende Bibliografie von John C. Williams und Lidia Zylowska (2009) vor.16 Der US-amerikanische Molekularbiologe und Professor an der University of Massachusetts Jon Kabat-Zinn entwickelte in den späten 1970er Jahren ein Übungsprogramm für chronische Schmerzpatienten, die als austherapiert galten. Er wollte sie zu einem stressreduzierten Umgang mit ihren Schmerzempfindungen führen. Sein wichtigstes Ziel sah er darin, dass sie sich nicht durch zusätzliche Stressreaktionen belasteten. Kabat-Zinn war erfolgreich mit seinem Übungsprogramm und setzte es daraufhin auch bei Menschen mit Hauterkrankungen ein. Auch hier stieg der Behandlungserfolg durch die stress-sen13 14 15 16
A. a. O., 285. Ebd. A. a. O., 231. Mindfulness Bibliography, in: Mindful Awareness Research Center, UCLA (University of California, Los Angeles) Semel Institute, URL: http://marc.ucla.edu/body.cfm?id=38 (Abgerufen: 20. 03. 2016).
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kenden Übungen stark an. Inzwischen wird MBSR bei zahlreichen weiteren Erkrankungen mit eingesetzt. Kabat-Zinns Übungsprogramm „Achtsamkeitsbasierte Stressreduktion“ (MBSR) hilft, Stressreaktionen abzubauen. Denn Stress schwächt das Immunsystem und befördert dadurch negative Krankheitsverläufe. Im Buch „Gesund durch Meditation“ hat Kabat-Zinn sein Übungsprogramm öffentlich zugänglich gemacht und ausführlich kommentiert.17 Inzwischen bilden in Deutschland mehrere Einrichtungen, die im Dachverband „MBSR-MBCT-Verband“ zusammengeschlossen sind, MBSR-Lehrer aus.18 Wie wirkt MBSR? Die PatientInnen verringern durch spirituelle Übungen negative Bewertungen ihrer Situation. Sie erfahren dadurch weniger Ohnmacht und Hoffnungslosigkeit. Der Patient geht bei den Achtsamkeitsbasierten Therapien eigenverantwortlich mit seiner Situation um. Ihm wird zugetraut, die Krankheit mithilfe der Übungen besser bewältigen zu können oder sogar Selbstheilungskräfte zu mobilisieren. Es ist wichtig, dass er hierfür als Grundhaltung Akzeptanz entwickeln lernt und eine verbesserte Selbstwahrnehmung durch eine geschulte Aufmerksamkeit einübt. Achtsamkeitsbasierte Therapien können daher nur PatientInnen helfen, die zur Mitarbeit an der Verbesserung ihrer Situation bereit sind. Ein MBSR-Einführungskurs dauert in seiner Standardform acht Wochen. Er besteht aus je einer wöchentlichen Gruppensitzung von zweieinhalb Stunden. In der Zeit zwischen den Sitzungen wird von den PatientInnen erwartet, täglich etwa 45 Minuten daheim zu üben. Die Konzentrationsfähigkeit, die Selbstwahrnehmung und die akzeptierende Grundhaltung werden in MBSR durch folgende Übungen geschult: – Bodyscan: Einüben achtsamer Körperwahrnehmung, – Sitzmeditation: Kennenlernen und Einüben des Sitzens in der Stille, – Gehmeditation: Ausführen langsamer Bewegungen, z.B in der Gehmeditation, – einfache Yogastellungen sanft und achtsam ausführen, – Breathing-Space: eine dreiminütige Achtsamkeitsübung, – Aufrechterhalten der Achtsamkeit bei alltäglichen Verrichtungen wie beim Essen, Duschen oder der Hausarbeit. Zusätzlich zählen zum Kurs Kurzvorträge zu verschiedenen Themen, wie zum Umgang mit Stress, mit Gefühlen und dem Körper oder über achtsame Kommunikation, mit anschließendem Erfahrungsaustausch und Gruppengesprächen. In der sechsten Kurswoche findet ein Tag der Achtsamkeit statt. 17 Kabat-Zinn, Gesund durch Meditation; vgl. die kurze Einführung bei Ott, Meditation, 157ff; vgl. weiterführend auch die zahlreichen Online-Vorträge von Kabat-Zinn auf You Tube. 18 www.mbsr-verband.org.
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Der spirituelle Hintergrund von Kabat-Zinns MBSR-Programm ist offenkundig. Yoga stammt aus der hinduistischen Tradition, die Sitzmeditation aus Zazen, das Achtsamkeitstraining bei alltäglichen Verrichtungen spielt in Vipassana eine große Rolle. Bei all diesen Übungen geht es zunächst darum, eine nicht wertende Haltung zu erlernen, denn Stress wird vor allem durch negative Bewertungen ausgelöst. Die zu erlernende Grundhaltung der Akzeptanz zielt darauf, dass der Übende alles akzeptiert, was er im Augenblick wahrnimmt. Dies können angenehme oder unangenehme Gefühle sein, Körperempfindungen wie Anspannung oder Kribbeln, eigene Gedanken. Wissenschaftliche Studien haben die Wirkung von MBSR u. a. für folgende Erkrankungen nachgewiesen: bei der Behandlung von Schmerzzuständen (z. B. Kopfschmerzen und Migräne, Fibromyalgie), in der Reha nach Hirnverletzungen, bei Herzkrankheiten, Arthritis, Immunschwäche (AIDS), häufigen Infektionskrankheiten, Ängsten und Panikattacken, Depressionen, Hauterkrankungen, Schlafstörungen, Tinnitus, Magenproblemen, Fettleibigkeit und dem Burn-outSyndrom. Metaanalysen zur Wirksamkeit von MBSR haben erwiesen: MBSR hat „durchweg einen positiven Effekt mittlerer Größe auf die psychische Gesundheit der Teilnehmer“.19 „Die Effekte waren zeitlich stabil und fielen bei Gesunden höher aus als bei Patienten. Die positiven Wirkungen auf die körperliche Gesundheit waren im Durchschnitt geringer und variierten stärker zwischen den Studien“.20 MBSR wirkt hierbei unspezifisch auf den psychosomatischen Gesamtzustand. Deshalb kann es bei einer großen Bandbreite von stressbedingten Erkrankungen und inzwischen auch bei psychischen Erkrankungen eingesetzt werden. Für verschiedene seelische Erkrankungen wurden inzwischen eigene MBSRVarianten entwickelt. Die wichtigsten davon sind die Achtsamkeitsbasierte Kognitive Therapie (MBCT) zur Behandlung von Depression, die von Jeffrey M. Schwartz entwickelte Therapie von Zwangserkrankungen21 und die Dialektischbehavoriale Therapie (DBT) von Marsha M. Linehan zur Behandlung der Borderline-Erkrankung. Im Folgenden gehe ich näher auf die Achtsamkeitsbasierte Behandlung von Depressionen ein. Hierbei lege ich den Schwerpunkt auf den neuen Umgang mit Gedanken, den die Übenden dort erlernen. Die Psychotherapieforscher und kognitiven Verhaltenstherapeuten Zindel V. Segal, J. Mark G. Williams und John Teasdale entwickelten auf der Basis von MBSR ein Programm zur Rückfallprävention bei Depression. Hierfür fügten sie
19 Ott, Meditation, 166. 20 Ebd. 21 Schwartz/Beyette, Brain Lock; Schwartz, You Are Not Your Brain.
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Interventionen aus der Kognitiven Verhaltenstherapie bei Depression ein.22 Die Achtsamkeitsbasierte Kognitive Therapie (MBCT) verzichtet auf das Rekonstruieren von Ursachen der Depression. Sie zielt darauf, negative Denkmuster zu verändern, um dadurch auch die Emotionen zu verändern. „Der Therapieansatz besteht darin, dysfunktionales Denken neu zu bewerten und den Menschen dabei zu helfen, sich von negativen Gedanken wie ‚Ich habe den Job nicht bekommen, weil ich dazu verdammt bin, arbeitslos zu sein‘ zu befreien“.23 Zwei erste randomisierte kontrollierte Studien aus den Jahren 2000 und 2004 erwiesen die Wirksamkeit dieses Übungsprogramms. Bei Patienten, die bereits drei oder mehr depressive Episoden erlebt hatten, reduzierte sich im Vergleich zur Standardbehandlung signifikant das Rückfallrisiko. Aktuelle Metaanalysen bestätigen das Ergebnis. Ein MBCT-Kurs gleicht strukturell und inhaltlich weitgehend dem MBSRKurs. Meist umfasst er acht wöchentliche Sitzungen. In ihnen werden den PatientInnen die bereits oben beschriebenen MBSR-Übungen vermittelt: der Body Scan, die Sitzmeditation mit Atemfokus, die Achtsamkeitsmeditation bei alltäglichen Verrichtungen, die Gehmeditation und sanfte Yogaübungen. Parallel dazu verlaufen klassische kognitiv-verhaltenstherapeutische Interventionen: Psychoedukation (wissenschaftliche Aufklärung über die eigene Erkrankung) zur Depression, Hinweise zum Umgang mit automatischen Gedankenschleifen, Anregungen zum Aufbau angenehmer Aktivitäten. Segal, Williams und Teasdale gingen davon aus, dass bereits ein entscheidender Heilungserfolg erzielt wird, wenn die PatientInnen gelernt haben, depressive Gedankengänge nicht als die Wirklichkeit, sondern lediglich als Vorgänge im Geist wahrzunehmen. Diese Grundhaltung ermöglicht eine innere Distanzierung von negativen Gedankenschleifen. Wenn Gedanken lediglich als Gedanken eingestuft werden, dann lösen sie seltener einen depressiven Schub aus. Statt auf trostlose Gedanken als vermeintlich wahre Beschreibung der Wirklichkeit zu reagieren, lernen die Patienten, ihre Gedanken zu beobachten und sie kommen und gehen zu lassen. Der emotionale Abstand von den eigenen Gedanken – statt der Identifikation mit ihnen – erschließt den Übenden einen lichten Raum des offenen Bewusstseins und lässt depressive Gedanken zu einer „vorübergehenden Show“ verblassen. Die Einstufung von negativen Gedanken als „vorübergehende Show“ nimmt ihnen ihre tyrannische Macht und eröffnet neue Sichtweisen. Die MBCTTherapeutin Dr. Linda Lehrhaupt leitet ihre Patienten an: „Wenn wir im klaren, mächtigen Raum eines offenen Bewusstseins sind, in dem wir die Gedanken nur auftauchen und vergehen sehen können, macht es nicht wirklich etwas 22 Segal/Williams/Teasdale, Rückfallprävention. 23 Begley, Neue Gedanken, 252; vgl. ihre Einführung dort.
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aus, welche Gedanken in unserem Geist auftauchen. Wir können unsere Gedanken als die ‚vorübergehende Show‘ sehen, die sie sind“.24
Diese neuen Therapieansätze, die das heilende Potenzial spiritueller Übungen für ihre Patienten erschließen, fordern die heutige Seelsorge dazu heraus, einen eigenen christlichen Achtsamkeitsbasierten Seelsorgeansatz zu entwickeln.
2.
Respiritualisierung am Beispiel evangelischer Seelsorge: Grundzüge einer Achtsamkeitsbasierten Seelsorge in christlicher Tradition
2.1.
Respiritualisierung statt Selbstsäkularisation
Wie sollte sich evangelische Spiritualität in einer respiritualisierten Moderne verhalten? Ich veranschauliche meinen Lösungsvorschlag exemplarisch an der evangelischen Seelsorge, denn sie durchlief in den 1970er Jahren selbst einen Säkularisierungsprozess im Zuge ihrer Selbstprofilierung als therapeutische Seelsorge. Hierbei verzichtete sie zunehmend auf religiöse Praktiken wie Gebet, Beichte oder Arbeit mit biblischen Texten.25 Mein Vorschlag fußt darauf, die therapeutischen Errungenschaften der Moderne in der Seelsorge (und darüber hinaus in der Debatte über evangelische Spiritualität) zu erhalten und sogar im Dialog mit den Neurowissenschaften und der Meditationsforschung auszubauen, darüber hinaus aber eine theologisch reflektierte Respiritualisierung als Kern einer postmodernen Seelsorge (und evangelischen Spiritualität) zu verankern. Im Folgenden stelle ich das Konzept einer wissenschaftlich reflektiert respiritualisierten evangelischen Seelsorge mit bleibend modernem Profil vor: Achtsamkeitsbasierte Seelsorge. Eine erste praxisorientierte Darstellung einer Achtsamkeitsbasierten Seelsorge habe ich 2011 im Aufsatz „Postmoderne Seelsorge. Mentales Coaching, Heilung und Mystagogie“ gegeben. Im selben Jahr erschien das Übungshandbuch für die Achtsamkeitsbasierte Seelsorge unter dem Titel: „Mystik und Coaching“.26
24 Institut für Achtsamkeit und Stressbewältigung – Dr. Linda Lehrhaupt, Arbeitsheft für MBCT-KursteilnehmerInnen, o. J., Kapitel 6.7. 25 Vgl. damals federführend Joachim Scharfenberg und Dietrich Stollberg, einführend Nauer, Seelsorgekonzepte, 138ff.173ff. 26 Bobert, Mentales Coaching, mit Anknüpfung an die christliche Seelsorgetradition, die mit Übungen arbeitete: zuletzt im Rahmen der Kerygmatischen Seelsorge bei ihren Vertretern Hans Asmussen und Dietrich Bonhoeffer; Bobert, Mystik und Coaching.
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Achtsamkeitsbasierte Seelsorge kann an die überlieferten Traditionen von Achtsamkeitsübungen anknüpfen, die bereits aus dem frühen Mönchtum bekannt sind. „Die einübende Praxis ist der wichtigste Weg ins Christentum, zur Gottes- und Selbsterkenntnis. Das Reflexionsvermögen des Menschen ist so lange fehlgeleitet, wie er nicht selbst in der Wahrheit lebt. […] Daher gab es über Jahrhunderte Übungen dafür, dass der Mensch seinen Standort im Denken, Fühlen und Wollen in Bewegung bringt und diese seelischen Grundkräfte klärt (‘reinigt’) und reifen lässt“.27
Evangelische Seelsorgekonzepte, die Übungen in die Seelsorgepraxis integrieren, sind noch aus der lutherischen Seelsorgetradition bekannt. Eines der letzten großen Seelsorgekonzepte in dieser Tradition stammt von Dietrich Bonhoeffer. In seiner Finkenwalder Seelsorge-Vorlesung (1935–1939) unterteilt Bonhoeffer die Seelsorge in zwei Phasen: die der „diakonischen“ und die der „kerygmatischen“ Seelsorge.28 Übungen haben bei Bonhoeffer ihren Platz in der Phase der diakonischen Seelsorge. Sie dienen dazu, die Persönlichkeit des Ratsuchenden aufzubauen, ehe dieser mit geistlichen Themen und Herausforderungen konfrontiert wird. Achtsamkeitsbasierte Seelsorge als eine Grundgestalt postmoderner Seelsorge baut auf den Erkenntnissen und Methoden der pastoralpsychologischen Bewegung auf. Spiritualität und spirituelle Übungen ersetzen in ihr nicht die pastoralpsychologische Reflexion und Methodik. Das Neue an diesem Seelsorgemodell ist, dass es sich nicht mit einer therapeutischen Reduktion (und ebenso wenig mit einer sozial engagierten Reduktion) von Seelsorge begnügt. Achtsamkeitsbasierte Seelsorge ist, über therapeutische Anliegen hinaus, auch spirituell lebendige Seelsorge. Sie ist offen für Mystagogie.29 Mystagogische Praxis – als Teil der Seelsorgepraxis – begleitet Menschen auf dem christlichen mystischen Weg von Reinigung, Erleuchtung und Vereinigung. Inzwischen ist wissenschaftlich belegt, dass die mystische Einheitserfahrung ein großes therapeutisches Potenzial enthält. So führt Renaud van Quekelberghe, Professor für Klinische Psychologie, aus: „Auf das therapeutische Potenzial intensiver Einheitserfahrungen für Erwachsene wurde bei einer Vielfalt von Situationen und psychischen Störungen wiederholt hingewiesen, so z. B. in lebensbedrohlichen Situationen (z. B. Noyes und Slymen, 1979), bei
27 Bobert, Mentales Coaching, 260. 28 Vgl. Bobert-Stützel, Beratung oder Verkündigung. 29 Zu meinem Verständnis von Mystagogie und daraus abgeleiteten Konsequenzen für die Praktische Theologie vgl. die umfassende Darstellung in: Bobert, Jesusgebet, die Definition von Mystagogie dort: 95–103.
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der chronifizierten Trauerreaktion (z. B. Aberlach, 1987), bei den posttraumatischen Belastungsstörungen (z. B. Decker, 1993)“.30
Eine Einheitserfahrung oder Gottesbegegnung kann zwar nicht methodisch herbeigeführt werden, doch spirituelle Übungen können Menschen auf spirituelle und Einheitserfahrungen vorbereiten. Wie lassen sich spirituelle Übungen so in den Alltag integrieren, dass sie die Übenden nicht belasten, sondern entlasten und klärend wirken? Auch ein 45minütiges Übungsprogramm wie das von MBSR und MBCT (siehe oben) wird von Menschen mit einem angefüllten Familien- und Berufsalltag nur schwer durchzuhalten sein. Achtsamkeitsbasierte Seelsorge arbeitet mit einem inzwischen in der Seelsorgepraxis bewährten31 minimalistischen und zugleich leistungsstarken Trainingsprogramm. Sie verbindet fünf Anliegen miteinander, die zugleich ihr protestantisches Profil ausmachen: 1. Alltagstauglich sein: Die Übungen sollen handlich sein wie ein iPhone – eine „Mystik to go“, die nicht auf Kosten von Familien- und Berufsalltag geht. 2. Weltlichkeit stärken: Übungen sollen das Bewusstsein nicht weltflüchtig vernebeln, sondern für eine stärkere Präsenz im Hier und Jetzt klären. 3. Sicherheit durch Wissenschaftlichkeit: Die Übungen sollen wissenschaftlich reflektiert und sicher sein, damit Übende z. B. nicht tagelang in Ohnmacht fallen, wie von mittelalterlichen Klosterchroniken berichtet wird. 4. Autonomie stärken: Die Übenden sollen im Sinne des allgemeinen Priestertums autonom von Gurus sein und ihren spirituellen Weg selbst verantworten. Dies setzt eine intellektuelle Vermittlung der Übungen und ihres wissenschaftlichen Kontextes (Meditationsforschung, Psychologie, Theologie) voraus. 5. Solus Christus, sola gratia: Die Übungen sollen in ihrem christlichen Profil in Christi Gegenwart im Hier und Jetzt hineinführen und das sola gratia erfahrbar machen. Zugleich sind multikulturelle und multireligiöse Varianten für verschiedene seelsorgerliche Handlungsfelder (z. B. Krankenhaus- und Gefängnisseelsorge) vorgesehen. Die Offenheit für die spirituelle Dimension des Lebens und für die Gegenwart Christi in allen Dingen und Prozessen bildet die Mitte, von der her der Achtsamkeitsbasierte Seelsorger arbeitet. Diese Offenheit kann, aber muss nicht ex30 Vgl. Quekelberghe, Grundzüge, 87.102f, Zitat: 102f. 31 Derzeit arbeitet Maarja Eik an der Universität Kiel an einer Dissertation auf der Basis einer empirischen Langzeitstudie zu diesem Seelsorgeansatz: „Das Jesusgebet im postmodernen Kontext. Eine qualitative Studie zur Grundlegung einer achtsamkeitsbasierten (mindfulness based) Seelsorge“ (Arbeitstitel).
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pliziter Gesprächsinhalt werden. Sie bildet die Grundhaltung, aus der heraus der oder die SeelsorgerIn arbeitet. Die Anliegen des oder der Ratsuchenden bleiben, wie in der therapeutischen Seelsorge, führend. Achtsamkeitsbasierte Seelsorge verfolgt, im Unterschied zur traditionellen kerygmatischen Seelsorge, keine Missionsziele. Die Wertschätzung des Klienten und die Präsenz des Seelsorgers/ der Seelsorgerin für seine Anliegen stehen bei ihr im Vordergrund. Der Seelsorger der Postmoderne ist Dienstleister, kein Missionar. Je nach Anliegen des oder der Ratsuchenden begleitet Achtsamkeitsbasierte Seelsorge ihn oder sie zu drei möglichen Entwicklungsstufen bzw. Hauptzielen hin. Diese folgen dem mystagogischen Weg der mentalen Klärung und Reifung des Menschen. Seit der Antike wird dieser Weg in den Stufen von Reinigung (purificatio), Erleuchtung (illuminatio) und Vereinigung (unio) beschrieben. In den heutigen Sprachkontext übersetzt, lauten diese Stufen bei der Achtsamkeitsbasierten Seelsorge: Coaching (mentale Klärung), Heilung (durch Aufmerksamkeitslenkung auf Gottes Gegenwart), Mystik (Eintauchen in Gottes Gegenwart). Achtsamkeitsbasierte Seelsorge fokussiert weniger auf Einzelprobleme. Ihr Schwerpunkt liegt auf der Vermittlung grundsätzlicher Problemlösefähigkeiten und Kompetenzen durch die Schulung der drei grundlegenden Bewusstseinskräfte: Denken, Fühlen und Wollen anhand von drei Grundübungen. Die Übungen hierfür lassen sich rasch vermitteln. Der Seelsorger begleitet die Übenden bei der Integration der Übungen in den Alltag und beim Prozess der Selbst-Bewusstwerdung durch die Übungen. Hierbei sind auch die Methoden der therapeutischen Seelsorge aus verschiedenen psychologischen Schulrichtigungen sehr hilfreich. Auf der Coaching-Stufe (in der klassischen mystagogischen Terminologie: purificatio – Reinigung des Bewusstseins) der Achtsamkeitsbasierten Seelsorge geht es um Persönlichkeitsentwicklung durch Klärung der eigenen Willensimpulse, durch das Aussteigen aus Überlebenskampf-Gefühlen und durch Klärung des Gedankenchaos zugunsten einer zunehmenden inneren Stille und Klarheit. Ich skizziere im Folgenden die Arbeit mit den drei Grundübungen für die Coaching-Stufe. Für eine ausführliche Darstellung der drei Grundübungen sowie der Arbeit auf den mystagogischen Stufen sei auf das Übungshandbuch „Mystik und Coaching“ (2011) verwiesen.
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Exerzitium Wille: Bewusst mit Pflichtvorgaben und Wünschen Anderer umgehen
Die Willensübung besteht aus einer spielerischen Minihandlung eigener Wahl (zum Beispiel kurz mit dem Zeh zu wackeln) oder einer Powergeste. Die Powergeste sollte den Übenden an eine Handlung erinnern, die er gerne ausführt und bei der er sich ganz bei sich selbst fühlt (zum Beispiel eine angedeutete kurze Armbewegung für Schwimmen oder Fingerbewegungen für Klavierspielen). Es genügt, diese Minigeste eine Sekunde lang durchzuführen. Man muss dabei nichts zusätzlich denken oder empfinden. Die Übung sollte mitten in den Alltagstrubel passen. Zuviel Aufwand würde Alltagsabläufe stören. Wer die Übung intellektuell anreichern möchte, mag dazu denken: „Ich bin bei mir.“ oder: „Ich will auch etwas.“ Am wichtigsten ist der stündliche Übungsrhythmus, denn er erzeugt langfristig eine hohe Daueraufmerksamkeit im Willensbereich. Wer die Übung häufig vergisst, kann in einen halbstündlichen Rhyhthmus wechseln. Wer hingegen vom stündlichen Rhythmus ängstlich besessen ist, sollte die Übung seltener ausführen. Um Zwanghaftigkeit und Stress durch Leistungsorientierung zu vermeiden, empfiehlt sich ein toleranter Umgang mit den stündlichen „Treffern“: 15 Minuten vor oder und nach der vollen Stunde ergeben einen halbstündigen Ergebniskorridor für „Treffer“ („Korridor der Barmherzigkeit“). Das Übungsziel liegt in einer gesteigerten Aufmerksamkeit im Willensbereich. Übende nehmen bereits nach einigen Tagen wahr: – wie stark sie von eigenen kleinen Vorhaben wie dieser Minigeste ablenkbar sind, – wer die stärksten Ablenker sind, – wie das eigene Tagesprofil verläuft (Zeiten mit starker und geringer Ablenkung), – wann sie am stärksten Burnout-gefährdet sind. Zu den stärksten Ablenkern zählen Menschen, die durch Pflichtvorgaben inneren Druck aufbauen, und Menschen, die Wünsche an einen herantragen. Innere Ablenker sind häufig die eigenen Gedanken. Die Übung baut Kontakt zu den eigenen Wünschen auf. Sie nötigt durch die stündliche Fokussierung dazu, nicht mehr die volle Aufmerksamkeit nach außen zu lenken. Dadurch fördert sie, psychoanalytisch betrachtet, den Ausstieg aus Symbiosen (Zustand des völligen Verschmelzens mit Anderen und deren Wünschen) und die eigene Beziehungsfähigkeit (Fähigkeit, sich selbst weiterhin im Kontakt mit anderen zu spüren und Interaktionen bewusst gestalten zu können). Reißt der Kontakt zum bewussten eigenen Willen (überprüfbar durch die Minihandlung) zu lange ab, ist man deutlich Burnout-gefährdet, und umso
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schwerer wird der eigene Alltag und sein Beziehungsgeschehen steuerbar. Umgekehrt gilt: Je mehr die Übung dazu führt, Teile der Aufmerksamkeit in Interaktionen bei sich zu behalten, desto stärker nimmt das Kontrollgefühl über das eigene Leben zu. Desto weniger erlebt man sich als Opfer anderer oder als Opfer der Umstände. Man lernt zunehmend, Prioritäten zu setzen statt Dauerüberforderungen abzuarbeiten.
2.3
Exerzitium Gefühle: Neue neuronale Netzwerke verschalten
Ein selbstbewusster Wille ist eine notwendige, aber noch keine hinreichende Bedingung, um ein glückliches Leben zu führen. Ebenso wichtig ist die Fähigkeit, aus Überlebenskampfgefühlen aussteigen zu können und die eigentlich menschlichen Gefühle erleben zu können. Zu Überlebenskampfgefühlen zählen Angst, Wut, Schmerz, Scham, Schuld, Hoffnungslosigkeit, Lähmung. Die Gefühle, die uns Menschen als Wesen ausmachen, werden in der Bibel auch als „Früchte des Heiligen Geistes“ bezeichnet (vgl. Gal 5,22f): Liebe, Freude, Friede, Sanftmut, Langmut. Überlebenskampfgefühle sind Signalgefühle, die dringenden Handlungsbedarf anzeigen, weil Toleranzgrenzen überschritten wurden. Werden sie zu Dauersignalen, so schaden sie Menschen auch körperlich. Denn der Körper bekommt dann langfristig signalisiert, dass er um sein Überleben kämpfen muss und keine Zeit zur Regeneration hat. Aus der Meditationsforschung ist inzwischen bekannt: Bewusstseinsphänomene wie Gedanken, Gefühle, Worte sind starke Heilwerkzeuge! Sie können neuronale Netzwerke im Gehirn auf- und umbauen. Meditation hat diese Werkzeuge schon lange gekannt und gezielt für Heilungen eingesetzt. Ist man tief entspannt und konzentriert sich auf einen Gedanken, dann erscheint die Botschaft dem Gehirn realer als Signale aus der Außenwelt. Der Stirnlappen fängt an, neuronale Netze auszuwählen und miteinander zu verschalten, um den Inhalt widerzuspiegeln. Die innere Wirklichkeit fühlt sich danach wirklicher an als die äußere Situation. Der Gedanke wird zu einer inneren Erfahrung. Das Gehirn stellt chemische Botenstoffe her, erzeugt stimmige Gefühle und sendet einen Botenstoff – ein Neuropeptid – an Körperzellen. Am Ende der Sendekette erhält die DNA der Zellen eine Botschaft, den Körper passend zum vorgestellten Gedanken umzubauen. Die DNA reguliert Gene herunter, die zur vorgestellten Situation nicht mehr passen und reguliert Gene herauf, die dem vorgestellten neuen Zustand entsprechen.32 Die körperlichen Ergebnisse von Gedanken sind inzwischen messbar geworden. Wird der Körper zum Beispiel durch innere Bilder zu 32 Vgl. Dispenza, Placebo, 148ff.
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Emotionen wie Liebe, Freude, Vertrauen, Hoffnung geführt, dann laufen die Selbstheilungsprozesse wesentlich schneller ab.33 Religionen versuchen, Menschen durch heilsame Bilder aus einengenden und krankmachenden Überlebenskampfgefühlen zu heilsamen und für das Leben öffnenden Gefühlen wie Liebe, Glück, Ruhe zu führen. Beim Verinnerlichen biblischer Heilsszenen verwandeln Menschen diese Bilder in innere Seelenbilder und führen den Körper zur heilsamen Anpassung an die verinnerlichte Situation. Lässt sich ein Mensch auf diesen wahren menschlichen Grundzustand emotional ein, dann zieht ein neuer Geist, einschließlich heilsamer Hirnfrequenzen und chemischer Botenstoffe, körperlich in ihn ein. Arbeit mit inneren Bildern entfaltet also, inzwischen durch die Meditationsforschung erwiesen: – ein großes Heilungspotential, – einen Ausweg aus Überlebenskampfgefühlen, – eine Gefühle steuernde Kraft, – eine persönlichkeitsbildende Kraft. Solche Wirkungen kann jede innerliche Aneignung eines Evangelientextes entfalten. Da postmoderne Seelsorge jedoch interkulturell und interreligiös offen sein muss, arbeitet sie je nach Arbeitsfeld auch mit nichtbiblischen heilsamen Bildern, um Ratsuchende aus Überlebenskampfgefühlen zur Entfaltung ihres Wesens zu führen. Die religionsoffene Anleitung für diese Grundübung in der Achtsamkeitsbasierten Seelsorge lautet: „Erschaffen Sie sich in der Phantasie eine Szene, in der Sie völlig loslassen können und wo Sie sich völlig geborgen fühlen“. Bei ausdrücklich christlicher Ausrichtung können Menschen dazu ermutigt werden, sich in Evangelienszenen hineinzuversetzen oder sich an Momente der Geborgenheit in Gottes Gegenwart, möglichst mit allen Sinnen, zu erinnern. Besonders befreiend und heilsam wirkt die Arbeit mit Szenen aus der Tradition der Liebesmystik, angefangen vom Hohelied der Liebe bis hin zur Übertragung der Liebesmystik zwischen Gott und der menschlichen Seele in heutige Szenen.34 Wichtig ist die Verstetigung dieser Übung im Alltag. Anfangs können Übende die Zeit vor dem Einschlafen und Wartezeiten im Alltag nutzen, um zu lernen, innere Bilder aufzubauen und sinnlich in sie einzutauchen. Später sind die mit der inneren Szene verbundenen Gefühle auch ohne das Bild abrufbar.35
33 Vgl. a. a. O., 168–172. 34 Vgl. mein Aufgreifen dieser Tradition in Bobert, Jesusgebet, 259ff.346ff. 35 Zur näheren Beschreibung der Gefühlsübung vgl. Bobert, Mystik und Coaching, 45ff.
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2.4
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Exerzitium Gedanken: auf das Hier und Jetzt als Moment zur Gottesbegegnung fokussieren
Die wichtigste Übung der Achtsamkeitsbasierten Seelsorge ist das Jesusgebet bzw. in einer multikulturellen und multireligiösen Offenheit (z. B. in der Krankenhaus-, Gefängnis- und Militärseelsorge) das mantrische Beten bzw. religionsoffen bis säkular formuliert: Meditieren („Mantra“ heißt Wiederholungsgebet).36 Die christlichen Wüsteneinsiedler im vierten Jahrhundert wiederholten ständig einen einzigen Psalmvers. Mantrisches Beten führt in das Zentrum christlicher Mystik. Die großen spirituellen Lehrer im Christentum bevorzugten zur ständigen Aufmerksamkeitslenkung auf die Gegenwart Gottes die mentale Sammlung in einem kurzen Wiederholungsgebet. Die frühen christlichen Wüsteneinsiedler wählten Psalmverse wie „Der Herr ist mein Hirte“. Johannes Cassianus (etwa 360–435) brachte diese Gebetsweise der Wüsteneinsiedler in das westliche Christentum. Er wählte Ps 70,2: „Gott, komm mir zu Hilfe. Herr, eile mir zu helfen“. Cassian kennt die mystische Kraft mantrischer Gebete und nennt sie „Formel der geistigen Schau“.37 Benedikt von Nursia (480–547), auf den das benediktinische Mönchtum zurückgeht, übernahm Cassians Gebetsform für sein Kloster. Mit Cassians GebetsVers beginnen noch heute die Gebetszeiten der Benediktiner. Bruno von Köln (1027–1101), auf den das Mönchtum der Kartäuser zurückgeht, betete mit dem Wiederholungsgebet „O bonitas“ – „O Gutheit/Güte!“ Franz von Assisi (1181–1226), der Gründer des Franziskaner-Ordens, betete Nächte durch mit dem Mantra „Deus meus et omnia“ – „Gott, Du mein Ein und Alles“. Die Mystiker-Schule, die mit der Anleitung „Die Wolke des Nichtwissens“ aus dem 14. Jahrhundert betete, wiederholte spirituelle Wörter wie „Gott“, „Liebe“, „Sünde“.38 Der Gründer des Jesuiten-Ordens Ignatius von Loyola (1491–1556) lehrte seine Schüler das mantrische Beten zusammen mit einer Atemtechnik. Er gab ihnen hierfür die Gottesanrede „Vater unser“ und das Jesusgebet „Jesus Christus, Sohn Gottes, erbarme dich meiner“.39 Alle orthodoxen Mönche und Nonnen beten bis zum heutigen Tag ununterbrochen das Jesusgebet „Jesus Christus, Sohn Gottes, erbarme dich meiner“. Bis zur Gegenwart erreichen dadurch Christen höchste geistige Klarheit und Her36 Die ersten christlichen Wüsteneinsiedler nannten diese Gebetsform „ruminatio“ (lateinisch), zu deutsch „wiederkäuen“. Sie hatten dabei das Kamel als Widerkäuer vor Augen. 37 Cassian, Coll. X,10, 310, hier übersetzt mit: „eine Gebetsform für das Schauen im Geist“. 38 Massa, Meditation. 39 Bobert, Jesusgebet, 323ff.
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zensreinheit. Spirituelle Meister aus der griechischen Mönchsrepublik auf dem Berg Athos wie Vater Paisios40 und der Einblick in das Lehrer-Schüler-Verhältnis durch „Die Aufrichtigen Erzählungen eines russischen Pilgers“ aus dem 19. Jahrhundert bezeugen dies.41 Das Jesusgebet (bzw. das Wiederholungsgebet) führt, psychologisch betrachtet, wie in der Achtsamkeitsbasierten Kognitiven Therapie (MBCT) Menschen dazu, bedrückende oder ängstigende Gedankenschleifen (Grübelschleifen) lediglich als Vorgänge im Geist wahrzunehmen. Dadurch können sich die Übenden von ihren einengenden Gedanken distanzieren. Statt die selbstschädigenden Gedanken als wahr und wirklich einzustufen, lernen die Übenden, diese Gedanken zunehmend distanziert zu beobachten und sie kommen und gehen zu lassen. Aus medizinischer Sicht verweist Prof. Dr. Herbert Benson von der Harvard Medical School auf die zahlreichen Forschungsergebnisse zu Heilungserfolgen durch Mantra-Meditation bzw. durch mantrische Gebete: „Hier sind die zahlreichen Beweise, die meine Kollegen und ich am Mind/Body Medical Institute dafür gesammelt haben“:42 – der Bluthochdruck sinkt deutlich, – chronische Schmerzen verringern sich, – 75 % der Patienten mit Einschlafstörungen wurden geheilt und konnten wieder normal schlafen, die übrigen 25 % erlebten eine Besserung ihrer Schlafstörung, – bei Krebs- und Aidspatienten reduzierten sich die Symptome; – Übelkeit und Erbrechen als Nebenwirkungen der Chemotherapie ließen sich besser unter Kontrolle halten, – bei Patienten, die unter Angstzuständen und leichten oder mittelschweren Depressionen litten, trat eine deutliche Besserung ein, – bei Patienten mit Migräne reduzierten sich Häufigkeit und Heftigkeit der Anfälle.43 Nach Prof. Dr. Benson löst eine rund 20 minütige Konzentration auf ein Mantra eine „Entspannungsreaktion“ aus. Diese tritt an die Stelle der alltäglichen „Kampf- oder Fluchtreaktion“. Die Entspannungsreaktion bewirkt im Körper Regenerationsprozesse: – der Stoffwechsel wird entlastet – der Blutdruck sinkt 40 41 42 43
Paissios, Athonitische Väter; Markides, Mountain. Jungclaussen, Erzählungen; dazu Bobert, Jesusgebet, 316ff. Benson, Heilung, 176. Ebd.
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– die Herzfrequenz sinkt – die Atemfrequenz wird niedriger – die Muskeln entspannen sich.44 Im Unterschied zur bei Benson vorausgesetzten Sitzmeditation liegt der Übungsschwerpunkt bei der Achtsamkeitsbasierten Seelsorge im Alltag, da hier die Stress- und Konfliktmuster besonders rasch bewusst werden und der Alltag ein realistisches Feedback gibt. Die Einübungsstufen beim mantrischen Beten bzw. (religionsoffen bis säkular formuliert) Meditieren verlaufen über: 1. Schulung der Konzentration (inmitten zahlreicher Gedankenimpulse den Fokus halten lernen), 2. Automatisierung (der Fokus hat sich verstetigt und sinkt in tiefere Bewusstseinsschichten), 3. Klärung des vormals Unbewussten und zunehmende innere Stille. Diese Prozesse öffnen die Wahrnehmungsfähigkeit für Transzendenzerfahrungen. Cassian, der diese Gebetsform von den Wüsteneinsiedlern ins westliche Mönchtum brachte, nennt den mantrischen Gebetsvers „spiritalis theoriae formula“, zu deutsch: „Gebetsform für das Schauen im Geist“.45 In seinem Buch „Unterredungen mit den Vätern. Collationes Patrum“ beschreibt er die Übungsweise, den Verlauf mentaler Klärungsprozesse und Gotteserfahrungen mit dieser Gebetsform. Die ständige Sammlung des Geistes in Gott führt nach Cassian zur Unio mit Gott, in „jene Einheit, die nun zwischen Vater und Sohn besteht“. Es wird eine Einheit in „reiner und unauflöslicher Liebe“ sein, die das Ziel vorwegnimmt: „Damit alle eins sind, wie wir [Vater und Sohn] eins sind; ich in ihnen und du in mir“ (Johannes 17,22f).46 In der Achtsamkeitsbasierten Seelsorge lautet die Übungsanleitung für Einsteiger: Wiederholen Sie in ruhigen Phasen des Alltags, trotz des inneren Kopfkinos, möglichst oft ( je nach säkularer bzw. religiöser Ausrichtung:) den Namen Jesu Christi oder einen Psalmvers oder einen Satz wie: „Gott, Du in mir, ich in Dir“, „Ich bin ein Kind der Liebe“. Der gewählte Satz oder das Wort dienen dazu, das eigene Bewusstsein mit den höchsten, klarsten Bewusstseinsschichten zu verbinden. Für die richtige Ausrichtung benötigen wir einen Gottesnamen oder ein Symbolwort wie „Liebe“. Dadurch verstetigen die Übenden ihre Konzentration auf Gottes Gegenwart in allen Dingen unter allen Lebensumständen. Schon die ersten christlichen Wüsteneinsiedler berichten davon, wie krisenfest diese Gebetsfom macht. Sie ent44 A. a. O., 158. 45 Cassian, Coll. X,10, 310. 46 Ders., Coll. X,7, 307. Ergänzung in Klammer von SB.
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rümpelt nachhaltig unbewusstes Material: negative Selbstbilder, verinnerlichte Konfliktmuster, Überlebenskampfgefühle. Diese Gebetsform und die von ihr beförderten Prozesse der Bewusstwerdung können gut von therapeutischer Arbeit begleitet werden. Abschließend möchte ich auf Erfahrungen von Übenden eingehen. Sie verdeutlichen zugleich den Gewinn, den auch die Seelsorgerinnen und Seelsorger für ihre Arbeit erfahren werden, wenn sie auf einem achtsamkeitsbasierten Übungsweg sind: vertiefte Selbst- und Fremdwahrnehmung, achtsamer Umgang mit den eigenen Gedanken und Gefühlen, sich getragen fühlen vom Fluss des Lebens, im wachen Augenblick inspiriert werden und weniger „Macher“ sein. – „Manchmal läuft das Jesusgebet über einige Zeit parallel zu meinen Alltagsgedanken. Manchmal lasse ich es so laufen, aber manchmal rufe ich mich auch zurück. Freundliche Konzentration, ja, aber doch Konzentration. Seit ein paar Tagen stelle ich mir das Jesusgebet als Richtung vor, als Flussbett für meinen Lebensfluss. Ich lasse mich mit jedem Atem bzw. jeder Formel ins Flussbett fallen – damit ist auch die Richtung des Flusses klar. Ziel ist natürlich das Meer. Ich lasse mich also beim Beten ins Flussbett fallen, oder besser vom Fluss tragen. Seitdem ist auch mein Schreiben wieder klarer. Ich schreibe, um in Fluss zu bleiben, ich bete, um dem Fluss Boden und Richtung zu geben.“ – „Wann immer ich in schlechtes Grübeln verfalle, versuche ich lieber das Jesusgebet zu sprechen. Ich habe das Gefühl, dadurch falle ich nicht so tief, wie ich es ansonsten würde. Letzte Woche war ich alleine wandern. Eigentlich sollten es zwei Stunden sein. Unfreiwillig wurden vier daraus. Das war toll, mal so lange am Stück zu beten. Ich hatte das Gefühl, an dem einen Tag einen ganzen Schritt nach vorne gemacht zu haben.“ – Vertiefte Wahrnehmung des Gegenübers: „Ich sitze in einem Café mit einer guten Freundin, trinke Kaffee. Wir reden über dies und das, ein wenig Smalltalk, Examen, Uni, Freunde … Mir geht es gut, ich habe super Laune, die Sonne scheint. Auf einmal spüre ich ganz deutlich eine unglaublich starke Traurigkeit in mir, die immer stärker wird. Ich sage instinktiv: Dir geht es nicht gut. Du bist traurig, nicht wahr? Und in eben jenem Moment überschwemmt mich das Gefühl und mir schießen die Tränen in die Augen. Und meine Freundin fängt an zu weinen und stammelt nur ein: Ja, ich weiß auch nicht. Da ist seit Tagen was, aber ich wusste nicht genau was. Und wir gucken uns nach einer langen Umarmung etwas verwirrt an. Zufall?? … Meine Intuition stimmt in dieser Zeit immer. Merkwürdig. Ich bekomme eine SMS, ich weiß es vorher und von wem. Ich denke an jemanden, er ruft an. Ich fühle mich nicht mehr losgelöst, ich bin irgendwie
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mit allem verbunden. Ich muss nur in mich hineinhorchen, mich nicht ablenken lassen, alles ist in mir.“ Postmoderne Seelsorge zielt, wie die wachsende Anzahl spirituell basierter Therapien, auf Klärungs- und Heilungsprozesse durch (teils säkularisierte) spirituelle Übungen. Doch sie reduziert sich nicht auf Therapie. Als christlich motivierte Seelsorge geht sie im Kern davon aus, dass Gott der eigentliche Heiler ist und dass die Gotteserfahrung das stärkste Verwandlungs- und Heilungspotenzial enthält. Diese Erfahrung ist nicht machbar. Achtsamkeitsbasierte Seelsorge weiß um ihren vorbereitenden, adventlichen Charakter. Für eine postmodern profilierte evangelische Spiritualität gilt, über das exemplarische Gebiet der Seelsorge hinaus, mutatis mutandis: Die Zukunft verschließt sich einem historisierenden reprint von einer sogenannten praxis pietatis Luthers, des Pietismus oder Bonhoeffers, und sie verschließt sich ebenso einer banalen Selbstsäkularisierung, wie sie noch in den 1960er und 1970er Jahren für die Stadt ohne Gott verkündet wurde. Evangelische Spiritualität atmet in kultureller Offenheit und im wissenschaftlich verantworteten Dialog. Ihr Profil liegt in reflektierten Anleitungen zu einer Besinnungspraxis auf den gegenwärtigen Jesus Christus (solus Christus), die gleichzeitig die Persönlichkeitsentwicklung und Autonomie der Übenden (die Eigenverantwortung des je eigenen Glaubens und Lebens) fördert.
Literatur Quellen Cassian, Johannes, Unterredungen mit den Vätern, Collationes Patrum. Teil 1: Collationes 1 bis 10, Münsterschwarzach 2011. Kabat-Zinn, Jon, Gesund durch Meditation. Das große Buch der Selbstheilung, Frankfurt am Main 2006.
Forschungsliteratur Begley, Sharon, Neue Gedanken – neues Gehirn. Die Wissenschaft der Neuroplastizität beweist, wie unser Bewusstsein das Gehirn verändert, München 22007. Bobert, Sabine, Jesusgebet und neue Mystik, Kiel 2010. Bobert, Sabine, Mystik und Coaching, Münsterschwarzach 2011. Bobert, Sabine, Seelsorge in der Postmoderne. Mentales Coaching, Heilung und Mystagogie, in: WzM 63 (2011), 258–272.
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Sabine Bobert
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Thorsten Dietz
Evangelische Spiritualität und Gefühl
Einleitung Unter Spiritualität verstehe ich an dieser Stelle die Gestaltwerdung des Glaubens im persönlichen Lebensvollzug.1 So betrachtet, zeigt sich Spiritualität in einer Vielzahl von Ausdrucksformen, Riten und Medien, nicht zuletzt aber auch in persönlichen Erfahrungen des Einzelnen. Gerade für das moderne Verständnis von Spiritualität ist diese subjektive Seite von großer Bedeutung. Nun ist auch der Erfahrungsbegriff komplex. Unstrittig aber ist, dass Gefühle ein wesentlicher Bestandteil menschlicher Erfahrung sind. In ihnen verdichtet sich die persönliche Betroffenheit von etwas, das ich nicht produzieren kann, das mir widerfährt.2 Gefühle stehen für eine „Selbstempfindung im Betroffensein durch ein Anderes“.3 Es kann an dieser Stelle nicht darum gehen, das vielschichtige Verhältnis von Glaube und Gefühl zu bestimmen, auch wenn dieser Zusammenhang immer wieder der Ausgangspunkt der Darstellungen wird sein müssen. Konzentrieren möchte ich mich auf die Bedeutung der Gefühle in der evangelischen Spiritualität. Wie werden in diesem Zusammenhang Gefühle wahrgenommen, zum Ausdruck gebracht oder gestaltet? Gefühle spielen in der gegenwärtigen theologischen Forschung eine zunehmende Rolle.4 Im Moment sind wir weit entfernt von einem einheitlichen theoretischen Zugang zu diesem Feld. Das beginnt schon bei der Terminologie. Die historische Emotionsforschung zeigt, dass Phänomene wie Angst, Freude, Liebe, Lust etc. in immer anderen Konstellationen zusammengestellt und begrifflich geordnet worden sind. In der Reformationszeit diskutierte man diese Erfahrungen unter dem Obergriff der Affekte, im 18. Jahrhundert beschrieb man sie als Empfindung und schließlich als Gefühl, im 19. und 20. Jahrhundert zunehmend 1 Vgl. Utsch/Klein, Religion; Zimmerling, Spiritualität. 2 Vgl. die Bestimmung religiöser Erfahrung durch die Momente der Innerlichkeit, der Passivität und der Affektivität bei Köpf, Wesen. 3 Korsch, vergnügt, 98. 4 Vgl. die Beiträge in Barth/Zarnow, Theologie; Chabonnier/Mader/Weyel, Religion.
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als Emotionen – ohne dass die älteren Paradigmen einfach aufgehört hätten, die Sprache und unser Nachdenken zu beeinflussen. Alle diese Begriffe verfügen über eine Familienähnlichkeit. So konnten sie allesamt verwandt werden als Oberbegriff für subjektive Erfahrungen der Freude, Angst, Trauer etc. Gleichwohl wurden die Zuordnungen zu Vernunft, Sinnlichkeit, Wille usw. teilweise höchst unterschiedlich vorgenommen. Für einen Überblick über das Verhältnis von Spiritualität und Gefühl ist es weder sinnvoll noch möglich, eine bestimmte Emotionstheorie zugrunde zu legen. Gerade in historischer Perspektive sind uns Gefühle nicht anders zugänglich als so weit, wie diese kommuniziert werden. In der sprachlichen Kommunikation werden immer schon Bezeichnungen verwendet, die eine bestimmte klassifikatorische Logik voraussetzen und mit einer impliziten anthropologischen Zuordnung humaner Potenzen verbunden sind. Insofern kann es hier nur um einen ersten Überblick gehen. Viele spirituelle Erfahrungen haben eine emotionale Tönung. Wenn Menschen von Dankbarkeit ergriffen, von Begeisterung überwältigt, von Andacht erfüllt oder von Trost berührt werden, dann haben diese Erfahrungen stets eine emotionale Seite, die für wertvoll und wesentlich gehalten wird, die Menschen anstreben, ohne sie herstellen zu können. Die Tatsache, dass wir Gefühle nicht willentlich herstellen können, bedeutet nicht, dass wir ihrem Kommen und Gehen hilflos ausgeliefert sind. Vielmehr versuchen wir unentwegt, wenigstens mittelbar Einfluss auf unsere Gefühlswelt zu nehmen. Spiritualität als Gestaltung des eigenen Gottesverhältnisses hat es auch mit einer solchen aktiven Seite der Einflussnahme auf die eigene Gefühlswelt zu tun. In der historischen Emotionsforschung ist für solche Zusammenhänge der Terminus der „Gefühlsarbeit“ geprägt worden. Der Historiker William Reddy hat in seiner Monografie The Navigation of Feeling5 eine Reihe von Grundbegriffen entwickelt, um solche Prozesse emotionaler Orientierung und Gestaltung zu beschreiben. Gefühle stehen immer schon in einem sozialen Zusammenhang, in dem es implizite Normen und Maßstäbe (feeling rules) dafür gibt, welche Gefühle wir mit welcher Intensität bzw. Dauer und mit welchen Ausdrucksformen (leibliche bzw. verbale) als angemessen empfinden. Menschen finden sich in bestimmter Gefühlslage vor, die sie nach kulturellen Deutungsmustern bewerten. Als negativ empfundene Gefühle versuchen Menschen in positive zu wandeln, positive suchen sie zu verstärken oder zu verstetigen. Nicht zuletzt um solche Prozesse geht es auch in der Geschichte der Spiritualität. Zunächst soll ein historischer Überblick zum Verhältnis von Spiritualität und Gefühl im Protestantismus gegeben werden. Dabei orientieren wir uns an den zeitgenössischen Reflexionen repräsentativer Theologen der jeweiligen Epoche 5 Reddy, Navigation.
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zu Fragen der Frömmigkeit, des geistlichen Lebens, des Gebets etc., die wir aus heutiger Sicht als Aspekte von Spiritualität einordnen. Sodann soll im Blick auf die Gegenwart eine kleine Zeitdiagnose unterschiedlicher Entwicklungstendenzen gewagt werden. Schließen möchte ich mit einer kleinen systematischen Summe zum Verhältnis von Spiritualität und Gefühl.
1.
Spiritualität bei Martin Luther
1.1
Erfahrung und Übung
Wo die Forschung über Luthers Theologie längst unüberschaubar geworden ist, da sind seine Impulse zur Frömmigkeit noch lange nicht so zusammenhängend ausgewertet worden, wie man vielleicht erwarten könnte. Luther hat sich in vielen Texten über das Beten oder die Betrachtung der Heiligen Schrift mit klassischen Fragen der Spiritualität intensiv beschäftigt.6 Dieses praktische Interesse an der Gestaltungsseite der Frömmigkeit ist in seinem Glaubensverständnis verwurzelt. Luthers reformatorische Entdeckung führt zu einer neuen Konzentration auf den Glauben, der auf das Wort Gottes antwortet. Der junge Luther beschrieb das Wesen des Glaubens einmal so: es handelt sich um eine „transmutatio mentis et affectus“,7 eine Umwandlung des Geistes und des Herzens bzw. des Affekts. Im Glauben findet sich der Mensch in einem neuen Gottesverhältnis, das alle Bereiche menschlicher Selbsterfahrung berührt. Seine Aussagen zur emotionalen Dimension des Glaubens sind zunächst geprägt durch seinen Ausgang von der traditionellen Affektauffassung der Scholastik.8 Luthers Tendenz im Umgang mit diesem Erbe ist eindeutig: Im Unterschied zu den scharfen Distinktionen der Schultheologie und der Unterordnung der affektiven Regungen unter die Verstandeskräfte betont Luther die Ganzheitlichkeit des Menschen. Wenn der Glaube seinen Sitz im biblisch als Personzentrum des ganzen Menschen verstandenen Herzen hat, dann sind Verstehen und affektive Erfahrung wechselseitig miteinander verschränkt. Glaube lebt aus dem Hören und ist doch nie ohne affektive Beteiligung. Ein weiterer Grundbegriff in Luthers Umgang mit spirituellen Fragen ist der Begriff der Übung.9 Vor allem in seinen Katechismustexten betont Luther diesen Zusammenhang wieder und wieder: Glaube bedarf der Einübung. Das neue Gottesverhältnis lebt und gewinnt Gestalt in immer neuer Aneignung des Wortes 6 Vgl. grundlegend: Hamm/Leppin, Gottes Nähe; Zimmerling, Spiritualität; Buchholz, Katechismus-Spiritualität. 7 WA Br 1, 525ff. 8 Vgl. Zur Mühlen, Affekt; Stolt, Gefühlswelt. 9 Harms, Glauben.
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Gottes im Meditieren des Katechismus und im Hören der Predigt, im Singen, vor allem dem gemeinsamen Singen, aber auch im Hören von Musik, im Gebet mit seinen festen Formen des Psalmengebets, der Fürbitte, des Gebets in der Familie. In diesen geistlichen Übungen erneuert und vertieft sich das Gottesverhältnis. Es gewinnt seine inhaltliche Ausrichtung durch das Evangelium, erfährt persönliche wie gemeinsame Verinnerlichung in der Frömmigkeit und wird zum Quellgrund eines Handelns aus dem Glauben.
1.2
Befreiung der Frömmigkeit von der Angst
In und mit diesen Übungen geschieht aber auch das, was man modern als Gefühlsarbeit bezeichnen kann. Luthers theologische Reflexion der Spiritualität beginnt zunächst mit einer Kritik der klassischen Bußfrömmigkeit, wie sie sich im Ablasshandel zuspitzte.10 Im Blick auf die Volksfrömmigkeit sieht Luther in der gängigen Ablasspraxis ein zentrales Problem: dem einfachen Volk wird mit der Ablassgnade eine falsche Sicherheit geboten. Der Ablass ist ein perfides System, nicht auf die Gnade Gottes, sondern auf seine eigene (finanzielle) Mitwirkung am Heilswerk zu vertrauen. Jedes Vertrauen auf eigene Werke und Verdienste steht aber der bedingungslosen Gnade Gottes im Weg. Der zentrale Vorwurf lautet: der Machtanspruch der kirchlichen Ämter gründet auf ein System, das mit Angst arbeitet. Die große Gunst des Ablasses setzt eine Logik voraus, nach der Gnade nie umsonst sein kann. Sie muss zumindest im Nachhinein verdient, gerechtfertigt oder bezahlt werden. Der Ablass verstellt dadurch den Blick auf den wahren Schatz der Kirche: das Wort Gottes, die Zusage der bedingungslosen Gnade Gottes. Luthers Theologie ist von Anfang an Auslegung und wo nötig Kritik religiöser Erfahrungen. Innerhalb religiöser Kommunikation wurden und werden Gefühle und Erfahrungen Gegenstand von Deutungen, von Wertungen oder Problematisierungen. Dies galt für die klassischen theologischen Konzeptionen des Mittelalters: Im Kontext des Bußsakraments besaßen die Wahrnehmung und die Bewertung von Gefühlen wie Reue, Schmerz, Furcht oder Liebe eine Schlüsselbedeutung. Dass Glaube in solchen Erfahrungen lebt, war für Luther selbstverständlich. Seine Erfahrung war, dass der Mensch da fast notwendig scheitern muss, wo er sein Gottesverhältnis am Vorhandensein solcher Affekte beurteilen muss. Luthers Theologie will nicht solche Erfahrungen ersetzen oder verdrängen, sondern angemessen deuten. Luthers theologische Einsicht kann man so formulieren: Religiöse Erfahrungen werden da problematisch gedeutet, wo sie in 10 Vgl. Dietz, Furcht.
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bestimmter Gestalt für notwendig und erstrebenswert erklärt, oder umgekehrt, wo sie tabuisiert und verboten werden. Religiöse Erfahrung wird da heillos, wo das Gefühl reiner Liebe für notwendig erklärt oder das Erleben extremer Angst als Vorzeichen der Verdammnis gedeutet wird, wo keine Zweifel oder Zweideutigkeit sein dürfen. Die traditionelle Theologie erwies sich als unfähig, extreme Angst und Panik, wie Luther sie erfuhr, heilsam deuten zu können. Erst als Luther im Umgang mit der Bibel eine neue Einordnung solcher Erfahrungen fand, löste sich seine Verzweiflung. Mit seiner Formel „zugleich Gerechter und Sünder“ (simul iustus et peccator) schuf Luther Raum dafür, dass auch innere Widerspruchserfahrungen im Glauben erlebt werden können. Luthers Erfahrungstheologie steht gegen jede Art von Erfahrungsverabsolutierung wie Erfahrungsverdrängung. Seine Kritik richtet sich gegen alle Spiritualität, die unfrei und abhängig macht. Nicht die Negierung oder Verdrängung der affektiven Beteiligung ist die Lösung. In der extremen Angst zeigt sich die Verzweiflung einer auf sich selbst zurückgeworfenen Frömmigkeit. Dieser Erfahrung ist mit einem rein intellektuellen Glaubensbewusstsein nicht beizukommen, sie bedarf der Befreiung durch das Hören auf das Evangelium.
1.3
Freude und Dankbarkeit als Merkmale des Glaubens
Neben dieser intensiven Auseinandersetzung mit Angst, aber auch anderen negativen Emotionen sollte man nicht übersehen, welche große Bedeutung positive Emotionen für Luthers Glaubensverständnis haben. Das gilt zunächst für die Freude.11 Freudige, fröhliche Stimmung wird von Luther immer wieder als Grundgefühl des Glaubens beschrieben. So soll der Christ nach dem Morgensegen, wie er im Katechismus beschrieben wird, „mit Freuden an sein Werk gehen“.12 Parallel heißt es nach dem Abendsegen, nun möge man „flugs und fröhlich“13 schlafen. Die fröhliche Grundstimmung erweist sich als Ziel aller geistlichen Übung, wie sie mit Luthers Katechismus-Frömmigkeit verbunden ist. Nun ist klar, dass sich Freude genauso wenig wie jede andere Stimmung durch Gefühlsarbeit erzwingen lässt. Und doch ist Freude ein Merkmal des Glaubens, eine mit der Einsicht, bedingungslos in Christus angenommen zu sein, untrennbar verknüpfte innere Gestimmtheit, die sich als Ausdruck des Glaubens immer wieder durchsetzen wird. Eine vergleichbare Bedeutung hat die Dankbarkeit. Weil Glaube aus dem
11 Vgl. Stolt, Gefühlswelt, 93–99. 12 WA 30/1 262,9f. 13 WA 30/1, 262.
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Empfangen lebt, gewinnt die Freude des Glaubens immer wieder die Gestalt der Dankbarkeit. Die Bedeutung von Freude und Dankbarkeit zeigt sich nicht zuletzt in Luthers besonderer Wertschätzung der Musik. Für Luther war sie die schönste Kunst nach der Theologie,14 ein Geschenk Gottes, ein Teil der guten Schöpfung, die den Sinn hat, Freude und Fröhlichkeit zu verbreiten. Eine besondere Herausforderung stellte die Erfahrung der Schwermut dar. Luther kannte aus eigener Erfahrung das Erleben deprimierender Verstimmung. Im persönlichen Gespräch, in Predigten, aber auch in vielen Trostbriefen gab er Menschen Rat, wie sie diesem Erleben mittels frommer Übung entgegentreten können. Gerade in dieser Herausforderung wirkt die Musik auf das menschliche Gefühlsleben ein. Als Gabe Gottes dämpft die Musik alle negativen und problematischen Affekte wie Zorn oder Traurigkeit, sie steigert hingegen positive Regungen wie Freude oder Trost. Luther sagt schlicht: „Die Musik vertreibt den Teufel“.15 Die Musik bringt mit sich, was sonst Sache des Glaubens ist: ein fröhliches und getröstetes Herz. Als Teil der guten Schöpfung Gottes befreit sie den Menschen von sich selbst und seiner verzerrten Weltwahrnehmung. Gerade als von außen kommende und mich zugleich innerlich ansprechende Wirklichkeit ähnelt sie dem Evangelium. Musik ist ein Klang gewordenes Gleichnis des Evangeliums. Darum empfiehlt Luther den Umgang mit Musik gerade den Angefochtenen. Der Umgang mit Musik lehrt das Hören auf das, was heil macht; um nicht weniger geht es in der lutherischen Spiritualität insgesamt. Luther hat nicht nur mit seiner Theologie Maßstäbe für den Protestantismus aufgestellt, sondern auch mit seinen praktischen Impulsen zur Gestaltung der Frömmigkeit. Vor allem dieses Ineinander von äußerer Anregung und persönlicher Verinnerlichung, die Verschränkung von Wort und Erfahrung geben der affektiven Beteiligung des Menschen ihre besondere Stellung. Im Affekt erfährt sich der Mensch in besonderer Weise getroffen und beteiligt. Darum ist diese Dimension des Glaubens auch für die theologische Reflexion wesentlich. Im Affekt ist der Mensch von außen angerührt, und darum kann diese Erfahrung innerer Resonanz nicht selbst Grund religiöser Vergewisserung oder auch nur Gegenstand intensiver Aufmerksamkeit sein. Die Unverfügbarkeit des Glaubens macht seine Nichterfahrung immer wieder unvermeidlich, eine Erfahrung, die Luther als Anfechtung bezeichnete, die zu bewältigen immer wieder eine spirituelle Herausforderung darstellt.
14 Schilling, Musik. 15 WA 30/II, 695. Vgl. Schilling, Musik, 240.
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2.
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Jonathan Edwards und die großen Erweckungen
Der Protestantismus fächerte sich nach der Kirchenspaltung des Westens in den kommenden Jahrhunderten in immer neue Strömungen auf. Auf der einen Seite kam es zu einer staatskirchlichen Konsolidierung der geistlichen Aufbrüche, die im Ausbau der Lehre und der kirchlichen Ordnung ihre Gestalt fanden. Auf der anderen Seite gab es immer wieder neue religiöse Bewegungen, wie sie sich im Pietismus oder im Puritanismus zeigten.16 Einerseits wurde eine stark intellektuell orientierte Vertiefung der christlichen Lehre unter Betonung konfessioneller Gegensätze betrieben, die mit einer eindrücklichen Entfaltung des christlichen Glaubens in der Musik oder der Architektur von Barock und Rokoko einhergehen konnte. Andererseits übten die großen Umwälzungen der frühen Neuzeit auf ihre Weise einen Veränderungsdruck auf die Gestalt christlicher Frömmigkeit aus. Erfuhren die klassischen Staatskirchen im Zusammenhang der absolutistischen Herrschaftsformen eine zunehmende Einbeziehung in das Streben nach Disziplinierung der Bevölkerung, so konnte die Religion auch ein Feld zunehmender Individualisierung werden, insbesondere bei religiösen Minderheiten und Nonkonformisten. In verbindlichen religiösen Gemeinschaften wurden alternative Sozialformen jenseits eines hierarchischen Gefüges erprobt. In solchen religiösen Reformgruppen sind starke Gemeinschaftserfahrungen Kristallisationspunkt einer neuen persönlichen Gewissheit wie einer gemeinsamen Identität geworden. Der Umgang mit solchen Erfahrungen führte seinerseits zu neuen Herausforderungen. Mehr und mehr stellte sich die Nötigung ein, solche Erfahrungen angemessen zu kommunizieren und auf die Bedeutung für den eigenen Glaubensvollzug hin zu reflektieren. Für solche Entwicklungen ist der puritanische Erweckungstheologe Jonathan Edwards (1703–1758) ein guter Ausgangspunkt, sich generelle Tendenzen der Zeit vor Augen zu führen und exemplarisch an einem Modell eine ausgearbeitete Verhältnisbestimmung von Spiritualität und Gefühl kennenzulernen.17 Als bedeutender Prediger des Great Awakening in den amerikanischen Kolonien Englands der 1740er Jahre führte Jonathan Edwards seine Auseinandersetzung um Recht und Problematik der Erweckungsfrömmigkeit an zwei Fronten gleichzeitig. Auf der einen Seite musste er sich mit Kritikern der Erweckungsfrömmigkeit auseinandersetzen, die sowohl von einem klassisch puritanischen wie auch von einem frühaufklärerischen Standpunkt aus radikale Erscheinungen der Erweckungsfrömmigkeit in Frage stellten. Gegenüber solcher Kritik versuchte Edwards deutlich zu machen, dass die intensiven Erfahrungen und teilweise spektakulären Ausdruckformen der religiösen Erfahrung nicht als Beweis 16 Vgl. Condie, Puritans. 17 Zu Edwards siehe vor allem: McClymond/McDermott, Theology; Dietz, Gefühle.
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verwendet werden dürfen, dass eine solche Frömmigkeit irregeleitet ist. Vor allem die auffälligen Begleiterscheinungen der Erweckung – Tränen und Schreie, Ohnmachtsanfälle, Visionen etc. – wurden von den Kritikern als eindeutige Indizien verstanden, dass ein solcher Aufruhr niederer, animalischer Kräfte der Menschen nicht gut mit einem Werk Gottes zusammen bestehen könnte. Demgegenüber versucht Edwards vor allem in seinem großen Essay Religious Affections anhand vieler biblischer Beispiele zu zeigen, dass auch solche starken emotionalen Erfahrungen Kennzeichen wahren Glaubens sein können.18 Zugleich setzte er sich kritisch mit radikalen Erscheinungsformen der Erweckungen auseinander. Hier wurden teilweise die überwältigenden Erfahrungen im Pathos unmittelbarer Authentizität als Zeichen des Geistes Gottes verkündet. Gegenüber einer solchen Ineinssetzung von menschlicher Erfahrung und göttlicher Offenbarung machte Edwards deutlich, dass menschliche Erfahrungen stets auch natürliche Ursachen haben können. Die Auseinandersetzung mit dem sogenannten linken Flügel der Erweckung zeigt, dass es theologischer Kriterien bedarf, um religiöse Affekte angemessen bewerten zu können. In seinen Beschreibungen und Deutungen affektiver Zustände geht es Edwards zunächst um die Unterscheidung von „religious affections“ wie „gracious love“, „spiritual joy“ oder „godly sorrow“19 und natürlichen Gefühlen. Dabei ist nicht die Phänomenalität des Empfindens bzw. des Ausdrucksverhaltens entscheidend, die individuell sehr unterschiedlich sein kann, sondern die durch den Gegenstandsbezug religiöser Erfahrung vermittelte Intentionalität der jeweiligen Gefühle. Das maßgebliche Vorbild für alle christliche Erfahrung muss die Gestalt Jesu Christi sein. Die von ihm vorgelebte, auf Gott und den Nächsten bezogene Liebe ist das entscheidende Merkmal, an dem wahrer Glaube kenntlich wird. Edwards Auseinandersetzung mit der Frömmigkeit seiner Zeit läuft auf ein ethisches Kriterium hinaus. Nicht intensive Gefühle machen Frömmigkeit falsch, wohl aber eine selbstische Fokussierung auf das eigene Erleben, dass von der Ausrichtung auf Gott wie auf den Dienst gegenüber dem Nächsten ablenkt. Das zentrale Kriterium, das Zeichen aller Zeichen, sah Edwards in nichts anderem als in der christlichen Liebe. Diese müsse als Strukturprinzip aller echten Frömmigkeit begriffen werden. Von daher ergeben sich Leitlinien für die Gestaltung einer christlichen Spiritualität,20 die die Bedeutung der affektiven Dimension ganz ernst nimmt und diese zugleich versöhnt mit der intellektuellen Durchdringung und den ethischen Konsequenzen des Glaubens. Auch Edwards Ringen um den Lebenszusam-
18 Vgl. vor allem: Edwards, Affections; ders., Thoughts. 19 Edwards, Affections, 148. 20 Vgl. die Darstellung von Edwards Spiritualität bei Strobel, Glory.
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menhang von Gefühl und Gottesverhältnis zeigt eindrücklich, welche Momente in der Geschichte des Protestantismus wieder und wieder auseinanderstrebten.
3.
Glaube und Gefühl im Zeichen von Aufklärung und Romantik
Auch im europäischen Zeitalter der Aufklärung wurde der Stellenwert der Gefühle intensiv diskutiert.21 Die große Bedeutung des affektiven Erlebens für die Frömmigkeit zeigt sich bei Pietisten wie Gerhard Tersteegen (1697–1769) oder bei Graf Zinzendorf (1700–1760). Gefühle bzw. Empfindungen wie Freude, Dankbarkeit oder Trost haben auch in den Liedern des Barock und der Reformationszeit eine große Rolle gespielt. Im pietistischen Lied tritt das Ich mit seinem Gewissheits- und Gnadengefühl noch deutlicher hervor: „Wie bist Du mir so zart gewogen, und wie verlangt Dein Herz nach mir! Durch Liebe sanft und tief gezogen, neigt sich mein Alles auch zu Dir“.22 Wenn Tersteegen so die innige Nähe von Gott und Mensch besingt, ist offensichtlich das individuelle Gefühl das Organ der Wahrnehmung dieser Beziehungswirklichkeit. Entsprechend kann es weiter lauten: „Ich fühl’s, Du bist’s, Dich muss ich haben, ich fühl’s, ich muss für Dich nur sein“.23 Die grundsätzliche Bedeutung des emotionalen Erlebens für die Religion wird auch von Zinzendorf sowohl gegenüber den orthodoxen Lehrsystemen wie auch im Unterschied zur rationalistischen Aufklärung betont. Die Bedeutung des Wortes Gefühl, das damals überwiegend noch auf den äußeren Tastsinn bezogen wurde, erklärt der Graf so, „daß es nichts anderes heißt als: es ist mir so, es schmeckt mir so, das spüre ich so, das glaube ich so, das habe ich so“.24 Diese starke Betonung der persönlichen Erfahrung bei den Pietisten konnte zugleich auch Gegenkritik herausfordern. Johann Joachim Spalding (1714–1804) ist in den letzten Jahrzehnten mit Recht wiederentdeckt worden als klassischer Repräsentant der Aufklärungstheologie. Die besondere Bedeutung der Gefühle zeigt sich in seiner Schrift Vom Werth der Gefühle im Christentum.25 Spalding 21 „Für die Erklärung der Empfindsamkeit in Deutschland ist es unerlässlich, sich wieder auf die Bedeutung zu besinnen, welche die religiöse Gefühlsschwärmerei des Pietismus als Vorstufe für den empfindsamen Gefühlskult besitzt. In einem pietistischen Elternhaus ist vielen Autoren des 18. Jahrhunderts – übrigens auch Kant! – zum ersten Mal der Sinn für die seelische Innenwelt aufgegangen, eine Mitgift, die auch dann noch in ihnen wirksam bleibt, wenn sie später eine intellektuell bestimmte Entwicklung nehmen“ (Pikulik, Mündigkeit, 27). 22 Tersteegen, Blumengärtlein, 536. Vgl. das Lied: Ich bete an die Macht der Liebe, EG 661 (westfälischer Regionalteil). 23 Ebd. 24 Jüngerhausdiarium vom 15. Oktober 1750, zitiert nach Uttendörfer, Weltbetrachtung 191. 25 Spalding, Lebensbeschreibung, 149. Zum historischen Hintergrund der pietistischen Erweckung vgl. vor allem auch van Spankeren, Gefühl.
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setzt sich kritisch mit einem pietistischen Bekehrungsprogramm auseinander, in dem bestimmte Gefühlserfahrungen notwendiges Zeichen dafür sind, dass eine religiöse Umwandlung von Gott vollbracht wurde. Das eigene Erleben wird zum Wahrheitserweis religiösen Glaubens und wird zugleich zum Maßstab nicht nur der Selbstbeurteilung, sondern auch der Wahrnehmung und Beurteilung anderer. Die Maßstäbe dieses Bekehrungsprogramms sind dadurch ausgezeichnet, dass a) eine bestimmte Gefühlsqualität erfordert, b) eine möglichst hohe Intensität verlangt und c) eine bestimmte Chronologie des Gefühlsverlaufs erwartet wird. Nun sind auch für Spalding religiöse Gefühle und Erfahrungen ein wesentlicher Aspekt der Religion. Das Ziel aber müssen „aufgeklärte Empfindung[en]“26 sein, die sich biblisch verantworteten, klaren Vorstellungen verdanken. Das Konzept der aufgeklärten Empfindungen zeigt, worauf es Spalding mit seiner anthropologischen Konzeption ankommt: Die Ganzheit des Menschen mit all seinem humanen Vermögen ist das zentrale Anliegen. Friedrich Schleiermachers (1769–1834) Erneuerung der evangelischen Theologie lässt sich als eine Vertiefung dieses Anliegens verstehen. Der ehemalige Zögling der Herrnhuter Brüdergemeine verließ diese als Seminarist von deren theologischer Ausbildungsstätte in Barby bei Magdeburg, weil es ihm nicht gelang, die eigene Frömmigkeit vor den intellektuellen Anfechtungen seiner Zeit abzuschirmen. Der Anschluss an die Aufklärungstheologie und vor allem an die kritische Philosophie Kants wurden Begleiter seiner geistigen Reifung, aber zugleich ließen ihn diese neuen geistigen Quellen emotional und religiös unbefriedigt. In den Reden über die Religion (1799) entfaltet Schleiermacher die erste Gestalt seiner grundlegenden Neubestimmung der Religion. Wenn Schleiermacher Religion als „Sinn und Geschmak fürs Unendliche“27 bezeichnet, betont er zunächst ihre Basiertheit auf der Erfahrung. Noch zentraler ist seine Formulierung, Religion sei „weder Denken noch Handeln, sondern Anschauung und Gefühl“.28 Im Sinne der modernen Gefühlstheorie seit Nikolaus Tetens (1736–1807) steht der Ausdruck Gefühl für ein inneres Empfinden bzw. Fühlen angesichts eines äußeren Eindrucks. Die Außenseite einer solchen Affektation bezeichnet Schleiermacher als Anschauung. Beides aber ist untrennbar verbunden und nur von der Reflexion getrennt zu erörtern. Nun sind nicht Gefühle als solche religiös, religiöse Gefühle stellen vielmehr eine eigene Klasse innerhalb der Emotionen dar, die Schleiermacher in seinen Reden durch das „Anschauen des Univer-
26 Spalding, Werth, 39. 27 Schleiermacher, Religion, 80. 28 A. a. O., 79.
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sums“,29 d. h. vermittels eines solchen Unendlichkeits- und Unbedingtheitsbezugs als religiös qualifiziert. Im religiösen Gefühl sind Wahrnehmungs- und Deutungsaspekte untrennbar mit einem bestimmten qualitativen Erleben verwoben. Religiöse Gefühle sind zugleich deutungsimprägnierte Selbstdeutungen und -erfahrungen. Transzendenzbezug und Unbedingtheitsmoment des qualitativen Erlebens gehören eng zusammen. Die vielfache Kennzeichnung eines bestimmten Gefühls als „heilig“ verbindet diese Verknüpfung von Transzendenzbezug und religiöser Erlebnisqualität. Religiöse Gefühle sind zugleich vielfach gemischte Empfindungen. Sie stehen damit in der Tradition der differenzierten Gefühlswahrnehmung seit der Zeit der Empfindsamkeit30 und der Wertschätzung bestimmter kultivierungsfähiger wie -bedürftiger Gefühlserfahrungen. Im sozialen Raum sind religiöse Gefühle Deutungen, die ihrerseits gedeutet werden. Gefühle werden kommuniziert und dabei implizit wie explizit gewertet und hierarchisiert, für signifikant oder normativ erklärt und gewinnen entsprechend anziehenden oder abstoßenden Charakter. Angesichts dieser unvermeidlichen Wirkung der Gefühle als Mitteilungen entsteht die Herausforderung, Anregung zu authentischem Selbsterleben und bloße Nachahmung zu unterscheiden. In seinem späteren wissenschaftlichen Hauptwerk, der „Glaubenslehre“, hat Schleiermacher eine neue Zentrierung auf den Grundbegriff der Frömmigkeit vorgenommen. War in der fünften Rede über die Religion der Fokus auf Jesus Christus Zielhorizont seiner frühen Religionstheorie, so ist diese christologische Konzentration der Ausgangspunkt seiner Glaubenslehre. Man hat vielfach festgestellt, dass in der Glaubenslehre nicht mehr die Vielfalt empirischer Gefühle im Zentrum steht, sondern das Gefühl schlechthinniger Abhängigkeit zum Inbegriff des christlichen Gottesverhältnisses wird. Empirische Gefühle sind für diese Konzeption der Frömmigkeit jedoch keineswegs gleichgültig, Frömmigkeit bleibt vielmehr eine „das Gefühlsleben variierende und transformierende Kraft“.31 Noch stärker als in seinen frühen Reden gilt nun, dass Frömmigkeit nicht mit einzelnen spezifischen Erfahrungen in eins gesetzt werden kann, sondern sich in vielen emotionalen Erfahrungen zeigt, so diese durch das Gottesverhältnis ihre Prägung erfahren. Auf seinem Sterbebett werden Schleiermacher nach dem Zeugnis seiner Frau die Worte zugeschrieben: „In Innersten verlebe ich die göttlichsten Momente – ich muß die tiefsten spekulativen Gedanken denken und sie sind mir völlig eins
29 A. a. O., 81. 30 Siehe zur Bedeutung gemischter Empfindungen im 18. Jh. Sauder, Empfindsamkeit, 183–192. 31 Moxter, Gefühl, 126.
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mit den innigsten religiösen Empfindungen.32 Mag es sich mit der Authentizität dieser Überlieferung verhalten wie es will, diese Worte bringen prägnant zum Ausdruck, was sein wissenschaftliches und homiletisches Werk verkörpert. Religion ist eine Sache des individuellen Gefühls, ohne aufgeklärter Reflexion entzogen zu sein. Mit diesen beiden Impulsen, der Erfahrungsfrömmigkeit und der aufgeklärten Reflexion der Religion, wirkte Schleiermacher im 19. Jahrhundert vielfach nach, auch wenn es bei vielen zu einem Übergewicht einer eher rationalen oder traditionellen Verfestigung des Glaubens oder einer gefühlvollen und innerlichen Vertiefung kam.
4.
Das 20. Jahrhundert: Pfingstbewegung und Wort-Gottes-Theologie
Für den Protestantismus ist das 20. Jahrhundert eine Zeit ungeheurer Transformationen und Polarisierungen. Das im 19. Jahrhundert verfestigte konfessionelle Bewusstsein vieler Glaubensgemeinschaften verliert zunehmend seine Bindungskraft. Wo einserseits traditionelle Verbundenheit schwindet, erneuert sich evangelischer Glaube andererseits in immer neuen Aufbrüchen und Bewegungen. Manchmal verengt er sich auch in ihnen. Das Phänomen evangelischer Polarisierung möchte ich im Blick auf das Verhältnis von Spiritualität und Gefühl so zuspitzen. Auf der einen Seite gibt es protestantische Tendenzen, die sich kritisch abgrenzen von jeder subjektiven Erlebnisfrömmigkeit und strikt die objektive Dimension des Glaubens betonen. Eine solche Objektivierung kann im Rückgriff auf die eigene Bekenntnistradition, die Bibel oder auch die liturgische Gestalt der gottesdienstlichen Feier erfolgen. Auf der anderen Seite gibt es starke Trends, Religion von seiner subjektiven Erlebbarkeit her in Massenversammlungen und dichten Gemeinschaftserlebnissen neu zu beleben. Eine solche Fixierung auf intensive, gemeinsam geteilte religiöse Erfahrungen ist häufig verbunden mit einer oft großen Distanz zur kritischen Reflexion des Glaubens oder zur Theologie insgesamt. Der erste Trend zeigt sich exemplarisch in der Wort-Gottes-Theologie des frühen 20. Jahrhunderts, ein Aufbruch, der wohl nicht zufällig in zeitlicher Parallele zur Erscheinung der Neuen Sachlichkeit in der Kunstgeschichte steht. Die kritische Distanz zum religiösen Gefühl ist eines der markantesten Merkmale des neuen Aufbruchs. Besonders rigoros wurde dies von Emil Brunner formuliert in seiner vor allem gegen Schleiermacher gerichteten Schrift Die Mystik und das Wort (1924). In scharfer Kritik an Schleiermacher sieht er in dessen Religions32 Dilthey, Leben, 511f.
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konzept eine Betonung der reinen Innerlichkeit unter Preisgabe der objektiven Glaubenswahrheit. „Nur die Subjektivität selbst, nur das reine Insichsein, die reine Innerlichkeit ohne Gegenstand, in der nichts Objektiv-Fremdes mehr zu finden wäre, konnte das Wesen der Religion sein“.33 Auch Karl Barth konnte sich nicht minder eindeutig äußern. In seinem ersten Römerbriefkommentar von 1919 heißt es: „Es ist für euch und es ist für Gottes Sache vielleicht sogar besser, wenn ihr gegen das ganze emotionale Gebiet vorläufig einmal grundmißtrauisch und zurückhaltend werdet“.34 Diese Ablehnung des Gefühls geht einher mit einer kritischen Distanz zur Frömmigkeit und zur christlichen Erfahrung insgesamt. So will Karl Barth auf den Begriff der Erfahrung nicht völlig verzichten, kann diese aber ausschließlich als eine Erfahrung des Wortes Gottes fassen, in der sich der Mensch selbst nicht thematisch wird. Diese Erfahrung sei eine solche, „die ihren Grund und ihre Gewissheit nur außerhalb ihrer selbst haben kann“.35 Diese Formulierung macht die Problematik deutlich: Dass das äußere Wort als Grund und Haftpunkt der Erfahrung verstanden wird, deckt sich mit der Betonung des Wortes Gottes, wie wir sie bei Luther kennengelernt haben. Was soll es aber heißen, dass diese Erfahrung ihre Gewissheit „außerhalb ihrer selbst“ hat? Soweit wird man zwar mitgehen können, dass Gewissheit nie subjektiv verfügbar wird. Aber Gewissheit oder Zweifel sind nun einmal irreduzibel subjektive Kategorien, die gar nicht anders als in Gestalt einer Selbstwahrnehmung bewusst werden können; ein Umstand, den Barth durch seine ausschließliche Betonung der Sachlichkeit vergeblich zu marginalisieren sucht. Eine solche Wort-Gottes-Theologie hat innerhalb der wissenschaftlichen Theologie der letzten Jahrzehnte vielfach an Anziehungskraft verloren. Ich habe sie an dieser Stelle exemplarisch herangezogen als Beispiel für das Ideal einer ausschließlichen Objektivität des Glaubensbewusstseins. Diese Tendenz gibt es in vielen anderen Formen, vor allem in deutlich weniger reflektierter Gestalt, wie in Formen des protestantischen Bibelfundamentalismus oder Traditionalismus, wo die gegenwärtige Erfahrung nicht anders denn als mögliche Quelle der Versuchung und Irreführung gedeutet wird. Auf der anderen Seite des Spektrums stehen Frömmigkeitsbewegungen, in denen die individuelle Glaubenserfahrung nicht nur Ort der Vergewisserung und Gestaltung des eigenen Glaubens ist, sondern die Zugehörigkeit zu einem neuen erwecklichen Handeln Gottes in der Geschichte begründet. Die weltweite Ausbreitung pfingstkirchlicher bzw. charismatischer Frömmigkeit ist unverkennbar, und auch in Europa, wo diese Strömung noch deutlich weniger sichtbar ist, 33 Brunner, Mystik, 58. 34 Barth, Römerbrief, 470. 35 Barth, Dogmatik I/1, 233.
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handelt es sich um die einzige christliche Bewegung, die signifikantes Wachstum zu verzeichnen hat. Die Pfingstbewegung und die nachfolgenden Wellen charismatischer bzw. neopentecostaler Frömmigkeit36 teilen bei aller Verschiedenheit einen Grundimpuls: Ausgangspunkt ist die individuelle Erfahrung unmittelbaren göttlichen Handelns an der eigenen Person. Die Gestalten dieser Erfahrung variieren zwischen ekstatischem Reden, innerem Hören oder Sehen oder leiblicher Manifestation der Geisterfahrung im Umfallen, Zittern etc. Nun sind diese Erlebnisse ja nicht in sich selbst eindeutig, sie bedürfen so oder so bestimmter Deutungen und Sinnzuschreibungen. Grundlegend ist die Interpretation solcher Widerfahrnisse als Geisterfahrung. Worin ist aber die konkrete Deutung einer kontingenten Erfahrung als Geisthandeln begründet? Offensichtlich stützt sich diese Zuschreibung auf die kollektive Gewissheit der charismatischen Gruppe bzw. die innere Gewissheit des Betroffenen. Das Erlebnis als solches wird als Evidenzbegründung in Anspruch genommen. Diese Polarisierung von Erfahrungsskepsis und Erfahrungsbasierung der eigenen religiösen Identität, von kritischer Distanz zu den religiösen Gefühlen wie ihrer Aufwertung als eigentliches Medium der Wahrheitserkenntnis zeigt sich im heutigen Protestantismus vielerorts. Gemeinsam ist beiden Trends der Verzicht auf solche Verknüpfungsversuche, wie wir sie bei Luther, aber auch bei Edwards und Schleiermacher als wesentlich kennengelernt haben. Im Anschluss an die Synthetisierungsmodelle solcher Klassiker halte ich diese Entwicklung für verhängnisvoll. Die Entgegensetzung von persönlichem Erlebnis oder objektiver Sache selbst unterläuft die Strukturbedingungen des religiösen Bewusstseins als solches. Religion ist unrettbar subjektiv, da sie auf das Moment subjektiver Erschlossenheit schlechterdings nicht verzichten kann. Und so wesentlich diese persönliche Beteiligung auch ist, bleibt sie doch stets Erfahrung von etwas, das im Netz kulturell vorgegebener Zeichenwelten immer schon aller individuellen Aneignung voraus ist.
5.
Spiritualität und Gefühl
5.1
Wort und Erfahrung
Zu den Zeichen der Zeit, den besonderen Merkmalen gegenwärtigen Wandels des religiösen Klimas gehört es, dass sich zunehmend mehr Menschen (vor allem in den USA, aber auch in Europa) als spirituell und nicht religiös bezeichnen.37 Was drückt diese Unterscheidung aus? Sieht man sich diejenigen an, die sich als 36 Zimmerling, Bewegungen; siehe zuletzt: Zimmerling, Theologie. 37 Vgl. den Überblick über diese Debatte bei Utsch/Klein, Religion.
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spirituell, aber nicht religiös einordnen, fällt im Unterschied zu denjenigen, die sich als religiös und spirituell verstehen, Folgendes auf: sie besuchen weniger christliche Gottesdienste und sie haben mehr Abstand zu traditionellen theologischen Inhalten des Christentums. Vor allem bei den Jüngeren ist diese Haltung mit wachsender Tendenz verbreitet. Religion wird dabei ein zunehmend negativer Begriff: „Spiritualität ist etwas, das Du tief in Dir hast, und nicht etwas Oberflächliches, wie es die Religion sein kann“.38 Nun ist die empirische Entwicklung der Bedeutung einzelner Wörter kaum steuerbar, erst recht nicht, wenn sich internationale Trends im Zuge der Globalisierung durchsetzen. Soviel ist aber deutlich: diese Verwendung des Religionsbegriffs als Platzhalter für kirchliche Ordnung und traditionelle Sprache betreibt das Gegenteil von dem, was in der Aufklärung und Frühromantik einmal mit dem Begriff der Religion gemeint war. Insofern steht freie Spiritualität heute für einen Sachverhalt, auf den sich schon Schleiermachers Reden einließen und den sie als anthropologisch universales Phänomen der Religion beschrieben. Diese humane Resonanzfähigkeit für Unbedingtheitserfahrungen wurde in einem zweiten Schritt ausdrücklich zur positiven Religion in ein konstruktives Verhältnis gesetzt, wie sie in der überlieferten Symbol- und Lehrsprache der christlichen Überlieferung gespeichert ist. Worin mag in diesem Zusammenhang die Bedeutung der Gefühle liegen? Sie stehen in besonderer Weise für die Vielfalt individueller religiöser Erfahrungen. Die neue Aufmerksamkeit auf Rituale, Texte, Symbole und Metaphern hat mit Recht hingewiesen auf das Gewebe, in dem und durch das Religion allein lebendig sei. Diese Achtsamkeit hat die Berufung auf eine absolute Unmittelbarkeit des Religiösen desavouiert. Die alleinige Berufung auf die Gewissheit persönlichen Erlebens verweigert die Reflexion auf Formen des Geistes, die immer schon in Anspruch genommen werden. Darum ist eine solche Erlebnisfrömmigkeit der Kritik mit Recht als fundamentalistisch verfallen. Erfahrung und Interpretation stehen in einem nie aufzulösenden Wechselverhältnis.39 Umgekehrt sollte nicht im Umkehrschluss die individuelle Erlebnisgestalt des Glaubens verleugnet werden. Dieser Aspekt individueller Beteiligung ist für jede lebendige Religion unverzichtbar. Die historischen Studien haben gezeigt, dass vom christlichen Glauben ohne dieses Moment der Betroffenheit im Gefühl gar nicht gesprochen werden kann. Es ist m. E. die besondere Herausforderung der Gegenwart, diese Stränge konstruktiv aufeinander zu beziehen. Ich halte es für einen problematischen Verlust, wenn der Glaube entweder durch objektive Normierung nur gesichert oder durch Ablösung von den konkreten Symbolen der gemeinsamen Tradition ausschließlich befreit werden soll. Religion stabili38 Bucher, Psychologie, 54. 39 Vgl. Dietz, Herz.
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siert sich nicht anders denn im Wechselspiel traditionsvermittelter Bestimmtheit und individueller Aneignung. Mit der besonderen Betonung des Wortes, des Evangeliums und der Bibel verfügt evangelische Spiritualität über einen Bestimmungsgrund, der aller emotionalen Erfahrung vorausliegt und gerade nur in dieser seine Bestimmungskraft heilsam entfalten kann. Unter den klassischen Vermittlungsversuchen des Protestantismus dürfte die Pflege einer solchen Frömmigkeit zukunftsfähig sein, die beide Pole nicht als falsche Gegensätze auseinanderreißt.
5.2
Tradition und Übung
Spiritualität ist im Unterschied zum teils altertümlichen, teils breiteren Konzept der Frömmigkeit immer gestaltete Religion, in einer konkreten Gemeinschaft kultivierte und orientierte Ausprägung des eigenen Glaubens.40 Spiritualität existiert daher nie ohne das Moment der Übung, wie wir es bei Luther schon in seiner grundlegenden Bedeutung betont haben. Dieser Aspekt der Übung bedarf heute seiner Würdigung als einer spirituellen Grundkategorie. Ich möchte das an einem modernen Beispiel verdeutlichen. In seinen liturgischen Schriften hat Rudolf Otto darauf hingewiesen, dass jede missionarische Bemühung um den modernen Menschen auch Hilfestellung geben muss, den christlichen Glauben konkret einzuüben. „Welche Wege gibt es, um das Evangelium wieder einzuführen in die Kreise, denen es fremd geworden ist“?41 Mission darf daher nicht nur auf die Ausrichtung einer Botschaft beschränkt werden. Otto denkt dabei zuerst an den Gottesdienst als den zentralen Ort, wo Menschen dem christlichen Glauben begegnen. Dabei ist es nicht nur die Verkündigung, sondern die ganze Feier, die den Glauben repräsentiert und vermittelt. Der Glaube bedarf auch eines rituellen und sozialen Umfeldes, in dem er gedeihen kann. Beinahe provozierend fragt Otto in diesem Zusammenhang auch nach einer „Methodik des religiösen Erlebens“.42 Näher versteht er unter diesem im evangelischen Kontext erst einmal befremdlichen Stichwort „‚Exercitia‘, geistliche Übungen, ‚Retraiten‘, geistliche Führer, Andacht um ihrer selbst willen, Kontemplation und Meditation, Pflege und Staffelung des Gebetslebens“.43 Solche Übungen leisten offenbar etwas Wesentliches. Zum einen wird dabei ernstgenommen, dass es Religion nicht gibt ohne individuelle Aneignung. Zugleich ist deutlich, dass Übungswege die innere Verarbeitung immer an etwas 40 41 42 43
Vgl. so vor allem Köpf, Spiritualität. Otto, Erneuerung, 1. A. a. O., 9. A. a. O., 10.
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Bestimmtes binden, mögen es heilige Texte oder Bilder, Orte oder Zeiten sein, nicht zuletzt die bergende wie korrigierende Erfahrung einer Weggemeinschaft. Schließlich macht der Aspekt der Übung deutlich, dass Spiritualität nicht von punktuellen Erlebnissen lebt, sondern stets eine lebensbegleitende, auf langfristige Entfaltung angelegte Bedeutung hat. Im Kontext evangelischer Spiritualität kann Übung nur eine Praxis der Freiheit sein, ein Sich-Einlassen auf Lebenswege, in denen es nicht um die Überwindung, sondern die Entfaltung geschöpflichen Daseins geht.
5.3
Mystik zwischen Gipfelerfahrung und Erfahrungslosigkeit
Das Christentum erfährt gegenwärtig eine tiefgreifende Transformation. Es ist nicht hinreichend, nur von einem Gestaltwandel zu sprechen, als würde traditionelle, außengeleitete Frömmigkeit heute lediglich stärker individualisiert. Dabei kommt die Religion nicht an ihr Ende, sondern findet die prinzipielle Transzendenzoffenheit des Menschen neue, individuelle, oft auch nur implizite Erscheinungsformen. Allerdings steht die christliche Tradition mit ihrer Sprache und ihren Gemeinschaftspraxen in Gefahr, durch einen zunehmenden Verlust an Sprachfähigkeit und sozialer Zugänglichkeit marginalisiert zu werden, der nicht kompensiert wird durch neue individuelle Gestaltungsformen. Ich teile die Überzeugung, dass in dieser Situation das Erbe der mystischen Überlieferung besondere Zuwendung verdient, wenn es um die Frage geht, ob sich der christliche Glaube weiterhin verbinden lässt mit Formen persönlicher religiöser Suchbewegungen. Im Unterschied zur Tradition kann es bei einem solchen Rückgriff auf das mystische Erbe nicht mehr um die Frömmigkeitserfahrungen einiger weniger gehen, sondern um eine Entdeckung der mystischen Dimension des christlichen Glaubens für alle. Dorothee Sölle sprach in diesem Zusammenhang von einer Demokratisierung der Mystik.44 Was kann die Überlieferung der Mystik heute leisten? Sie stiftet ein Deutungsangebot, die äußersten Punkte affektiver Lebenserfahrung in den Horizont der Gottesbeziehung zu integrieren. Die jüngere Mystikforschung45 hat m. E. überzeugend gezeigt, dass sich die mystische Tradition nicht festlegen lässt auf das Motiv eines Aufstiegs zur Vereinigung mit dem Absoluten. Nicht die Linearität des spirituellen Entwicklungsgangs, sondern die Erfahrung einer Polarität von Nähe und Ferne, Präsenz und Entzogenheit des Göttlichen kann als das zentrale Thema mystischer Tradition gelten. Ihre Grundunterscheidung ist die von Gegenwart Gottes und Abwesenheit Gottes. Mit dieser Grundunterscheidung 44 Vgl. Sölle, Widerstand, 28. 45 Vgl. vor allem McGinn, Mystik. Siehe auch die Beiträge in Hamm/Leppin, Gottes Nähe.
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machen mystische Texte ein Orientierungsangebot, das offener ist für die individuelle Vielfalt religiöser Such- und Sehnsuchtsbewegungen als die dualisierenden und exkludierenden Muster der vorreformatorischen Bußfrömmigkeit bzw. des traditionellen ordo salutis protestantischer Bekehrungsfrömmigkeit. Neben Beschreibungen heilvoller Präsenzerfahrungen bis hin zu punktuellen Einheitserfahrungen stehen vielfältige Erörterungen über die Erfahrung der Gottesferne. Zur mystischen Überlieferung gehört sodann der Aspekt negativer Theologie bzw. apophatischer Theologie: Der Gedanke, dass jede positive religiöse Aussage zuletzt nur als Annäherung an ein göttliches Geheimnis verstanden werden kann. Damit ist keine irrationale Verweigerung gegenüber vernünftiger Rechenschaft entschuldigt, sondern die Einsicht formuliert, dass unbeschadet jeder Gefühlsdeutlichkeit und auch jeder begrifflichen Präzision symbolischer Theologie zugleich das Bewusstsein einer nicht einholbaren Transzendenz wachzuhalten ist, die unauslotbar und unverfügbar bleibt. Damit ermöglicht es die mystische Tradition, sowohl humane Erfahrungen der Selbsttranszendenz würdigen zu können als auch ihren Anschluss an eine religiöse Sprache anzubahnen. Dass es in den religiösen Suchbewegungen der Gegenwart auch viele Irrwege und Sackgassen gibt, ist banal. Nicht übersehen sollten wir die Zeugnisse der Selbsttranszendenz bzw. der Sehnsucht nach solchen Erfahrungen, die als Transzendenzoffenheit des Menschen erlebt und gedeutet werden können. Umgekehrt hat die Mystik eine lange Tradition darin, Erfahrungen innerer Leere, namenloser Angst und tiefster Verlassenheit geistlich so zu deuten, dass ihr negativer Gehalt ganz ernst genommen und nicht bagatellisiert wird, sie zugleich aber geöffnet werden für die Einsicht, dass auch solche Erfahrungen Teil eines religiösen Weges sein können. Der heute vielfach beklagte Erfahrungsverlust des religiösen Empfindens muss als Zeichen der Zeit ernstgenommen werden. Die mystische Rede von der Erfahrung der dunklen Nacht der Sinne und des Geistes ist eine Traditionsspur, die bis heute Worte dafür verleiht, solchen Erfahrungsverlust als Teil geistlicher Wegstrecke verstehbar zu machen. Traditionell ist es ein Anliegen der Rede Luthers von der Anfechtung, genau dies zu leisten. Von den Klassikern der spirituellen Tradition des Protestantismus ist heute neu zu lernen, wie die Vielfalt humaner Erfahrung im Lichte der christlichen Heilsoffenbarung erhellend gedeutet und die Botschaft der christlichen Verkündigung heilsam erfahren werden kann.
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„… weil sie die Seelen fröhlich macht“. Musik und Spiritualität
„Ich liebe die Musik, und es gefallen mir die Schwärmer nicht, die sie verdammen. Weil sie 1. ein Geschenk Gottes und nicht der Menschen ist, 2. Weil sie die Seelen fröhlich macht, 3. Weil sie den Teufel verjagt, 4. Weil sie unschuldige Freude weckt. Darüber vergehen die Zornanwandlungen, die Begierden, der Hochmut. Ich gebe der Musik den ersten Platz nach der Theologie. Das ergibt sich aus dem Beispiel Davids und aller Propheten, weil sie all das ihre in Metren und Gesängen überliefert haben. 5. Weil sie in der Zeit des Friedens herrscht. […]“ (Martin Luther)1
Während für Martin Luthers Frömmigkeit die Musik von herausragender Bedeutung war, spielt insbesondere das eigene Singen in aktuellen Überblicksdarstellungen zur evangelischen Spiritualität eine lediglich periphere Rolle.2 In der Praxis allerdings ist für viele Menschen geistliche Musik (im Sinne von 1 WA 30 II, 696 (lateinisch), übersetzt in: Söhngen, Theologie der Musik, 87. 2 Peter Zimmerling verweist zwar im geschichtlichen Rückblick auf die hohe Bedeutung des Singens für Martin Luther und rekurriert exemplarisch auf Johann Sebastian Bach (Zimmerling, Evangelische Spiritualität, 242–257), zieht aber daraus keine Konsequenzen für eine Darstellung heutiger Formen von Frömmigkeitspraxis und -übung. Das steht in sonderbarem Kontrast zur enormen Rolle, die Musik in den spirituellen Aufbruchsbewegungen, bei Kommunitäten, beim Kirchentag, in Taizé oder den charismatischen Anbetungsgemeinschaften der Praise-music-Kreise spielt. Noch auffälliger ist der Befund in Corinna Dahlgrüns umfänglicher Darstellung Christlicher Spiritualität (Dahlgrün, Christliche Spiritualität), in der zwar die (bildende) Kunst ein eigenes Kapitel erhält, das Singen (abgesehen von wenigen Zeilen zur möglichen Bedeutung des Singens von Chorälen beim Familienfrühstück, vgl. a. a. O., 472) hingegen zugunsten des Musik-Hörens unterbestimmt bleibt (vgl. a. a. O., 545). Und das, obwohl Dahlgrün durchaus die wichtige Studie von Christa Reich zum Singen (Reich, Evangelium) aufnimmt (a. a. O., 542, Anm. 216), dies allerdings lediglich als Verweis nutzt, dass neben dem Hören auch das Singen „für sich genommen als eine geistliche Übung angesehen werden“ könne (ebd.). Das wird im Versuch einer Gesamtdarstellung der „Christlichen Spiritualität“ dann doch der umfänglichen Tradition geistlichen Singens und Musizierens kaum gerecht.
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geistlich/spirituell wirkender Musik) zum primären Medium von Glauben und Spiritualität geworden. Wer sonst vielleicht nur selten den Weg in den Gottesdienst findet oder fast nie die Bibel aufschlägt, hört doch gelegentlich geistliche Klänge im Radio, singt vielleicht in der Kantorei mit, engagiert sich im Gospelchor oder spielt in der Gemeindeband. Oder interpretiert eigene Lieblings-Musikstücke oder Popsongs für sich als religiös bedeutsam und spirituell förderlich. Der Bereich der geistlichen Musik kann weit über den Bereich der kirchlich verantworteten Musik hinaus- und in die persönliche und private wie öffentliche gemeinschaftliche Musikpraxis hineinreichen. Allerdings darf im christlichen Kontext gerade Kirchenmusik als bewusst auf geistliche Rezeption hin geschaffene und aufgeführte Musik als exemplarischer Fall spiritueller Musik gelten. Dabei ist Kirchenmusik allerdings nicht – wie in röm.-katholischer Tradition lange geschehen – auf bestimmte Musikgattungen und Stile (etwa den gregorianischen Choral oder protestantische Choräle) oder Aufführungsorte (etwa den Kirchbau und die Liturgie) engzuführen. Vielmehr liegt Kirchenmusik „dort vor, wo musikalisch Handelnde und Hörende ihre Wahrnehmungen und ihr musikalisches Agieren als Teil der (auch) durch die Institution Kirche tradierten Kommunikation des Evangeliums erfahren. Sie ist daher zunächst ein Geschehen und Ereignis, eine religiöse Praxis, der sekundär ein institutionalisiertes kulturelles System mit seinen Zeichen, Werken und Strukturen dient“.3
Die Motive zur musikalisch-religiösen Praxis und zur musikalischen Mitarbeit in der Kirche sind unterschiedlich und erst ansatzweise empirisch erforscht.4 Manche, die an kirchenmusikalischen Veranstaltungen mitwirken oder sie besuchen, erwarten spirituell erhebende Momente, andere die Geselligkeit oder die Begegnung mit den Highlights der geistlichen Musik. Die vielfältigen Wirkmöglichkeiten der Musik legen solch unterschiedliche Rezeptionsweisen nahe: a) Musik erinnert, vergegenwärtigt und antizipiert religiöse Gefühle, Stimmungen und Atmosphären. Sie wird als Klangraum des Heiligen wahrgenommen und dient der Ausgestaltung gemeinsamer oder individueller Spiritualität. Weil sie häufig mit religiösen Schlüsselsituationen in der Lebensgeschichte verknüpft ist, wird sie nicht selten zu einem Anker religiöser Identität. Egal ob Orgelklänge, feierliche Bläserklänge, ein gemeinsamer Choral oder ein bestimmter Popsong bei der Trauung – Musik vertritt im Gedächtnis häufig das religiöse Ritual, und kann darüber hinaus auf religiöse Erfahrungen verweisen. b) Musik repräsentiert insbesondere bei den Passageriten das Element des Außeralltäglichen und Festlichen. Am häufigsten kommt Kirchenmusik daher in 3 Bubmann, Kirchenmusik, 580. 4 Vgl. als Überblick Kaiser, Erforschung; ders., Wie erleben; Koll, Kirchenmusik; Danzeglocke, Singen.
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Spielfilmen im Kontext von Trauungen und Beerdigungen vor. Das entspricht der realen Erfahrung einer Mehrheit der Bevölkerung im Kontakt mit religiöser Musik. c) Musik hilft, religiöse Texte und Botschaften zu transportieren. Vor allem die missionarisch aktiven Jugendverbände (CVJM, EC etc.), aber auch ein Großteil der institutionalisierten Kirchenmusik setzen hier den Schwerpunkt. Bedeutsam ist die textorientierte Verwendung von Kirchenmusik auch im Religionsunterricht. Für viele Menschen sind wenige Textzeilen von neuen Kirchenliedern das Einzige, was von ihrer religiösen Sozialisierung geblieben ist: „Von guten Mächten wunderbar geborgen“ oder „Danke für diesen guten Morgen“. d) Musik, vor allem als aktives Singen und Musizieren, stiftet Gemeinschaft und ist Ausdruck von Kreativität. Häufig geht es neben der Verkündigungsabsicht beim kirchlichen Singen und Musizieren auch darum, starke Gruppenerfahrungen zu machen, überhaupt noch eine Gelegenheit zum Singen zu finden und die eigenen Begabungen zu entfalten. e) Musik ermöglicht komplexe ästhetische Erfahrungen, die religiös deutbar und damit anschlussfähig sind für religiöse Erfahrungen. Diese ästhetischen Wahrnehmungen und Deutungen folgen individuell sehr unterschiedlichen Logiken. Sie sind dabei abhängig von individuellen Deutungsmustern, von Milieuzugehörigkeit und gesellschaftlichem Kontext.5 In hochkulturellen Milieus wird etwa kontemplativ im Kirchenkonzert eine vertiefte Sinnerfahrung gesucht, man wünscht sich einen „kognitiv differenzierten und gebildeten ästhetischen Musikgenuss, der offen ist auch für ein Erkennen der musikalischen Formen sowie des Wechselspiels von Text und Musik“.6 Bodenständigere Milieus suchen primär in bekannten traditionellen Musikstücken den Ausdruck harmonischgeordneter Feierlichkeit. Jüngere kritische oder stärker unterhaltungsorientierte Milieus sind popkulturell sozialisiert und erhoffen von Kirchenmusik entweder ekstatischexperimentelle Gipfelerfahrungen, oder die Alltagswelt transzendierende Klänge des ‚Ganz-Anderen‘, oder aber besonders intensives „Gänsehaut“-Feeling nach dem Maßstab popkultureller Top-Events.
Versteht man unter Spiritualität die geistgewirkte Gestaltwerdung der Gottesbeziehung und des Glaubens, so ist zunächst festzuhalten, dass evangelische Spiritualität die Sache der ganzen Gemeinde und aller Christinnen und Christen, nicht nur irgendwelcher Experten ist. Weil sie das Werk vieler unterschiedlicher Menschen ist, ist sie auch vielgestaltig. Einige Haupttypen gelebter Spiritualität
5 Vgl. zusammenfassend Hauschildt, Jedem das Seine. 6 A. a. O., 72.
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haben sich auch im Bereich des Protestantismus entwickelt, denen jeweilige musikalische Praxen entsprechen: – bibelorientiert-evangelistische Spiritualität (Beispiel: Christival und missionarische Popmusik bzw. Praise-Songs) – liturgisch-meditative Spiritualität (Beispiel: meditative Gesänge aus Kommunitäten z.B. aus Taizé) – emanzipatorisch-politische Spritualität (feministische und ökologische Spiritualität mit entsprechendem Liedgut; Kirchentagsmusik) – kulturell-künstlerische Spiritualität (Konzertbesuch und Festival-Teilnahme). Entsprechend solcher unterschiedlicher spiritueller Orientierungen, die Schneisen auch innerhalb der einzelnen Konfessionen schlagen, divergiert die Einschätzung der Bedeutung der Musik für das christliche Leben und die eigene Frömmigkeit bzw. Spiritualität ganz erheblich. Für diese stark subjektiv-individuell geprägte Bedeutung von Musik für das spirituelle Erleben und die Frömmigkeitspraxis ist auch die Eigenart der Musik im Ensemble ästhetischer Ausdrucksformen und ästhetischer Wahrnehmungsweisen mitverantwortlich.
1.
Zur Phänomenologie musikalisch-religiösen Verhaltens
Als Grundmodi ästhetischen (und damit auch musikalischen) Handelns und Erlebens lassen sich unterscheiden: (a) Wahrnehmung, (b) emotionale Berührung und Wertschätzung, (c) kommunikativ-kognitive Beurteilung ästhetischer Prozesse und (d) eigene kreative Gestaltung. a) Die musikalische Wahrnehmung beginnt mit dem Hören. Das Hören verbindet mit der Außen-Welt und orientiert im Gewohnten und Vertrauten. Andererseits wird durch das Gehör der aus der alltäglichen Lebens-Welt herausreißende Ruf vernehmbar. Sowohl Beheimatung/Vertrauen (Sesshaftigkeit) als auch Herausrufung (Exodus) sind so archaisch mit dem Hörsinn verbunden. Beides ereignet sich auch im musikalischen Hören. Das Hören ist an die zeitliche Struktur der eintreffenden Schallereignisse gebunden und somit der eigentliche Zeit- und Vergänglichkeitssinn. Zu einer erkennbaren Gestalt wird das Gehörte erst durch die Erinnerung und deutendordnende sowie prognostische Interpretation der Laute und Klänge. Wenn nach christlich-theologischer Überzeugung zur Begegnung mit Gott die hörende Wahrnehmung notwendig dazugehört (vgl. Röm 10,14), dann ist der Schärfung und Schulung des Gehörs aus theologischer Perspektive großer Wert beizumessen. Zu den Aufgaben und Übungen der musikalischen Spiritualität gehört daher die individuelle wie gemeindliche Hör-Bildung.
Musik und Spiritualität
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b) Die hörende Wahrnehmung führt zur emotionalen Berührung und Wertschätzung bzw. zu Gestimmtheiten. Musik stimuliert Gefühle und trägt so zum Erleben der eigenen Gefühlswelt bei. Elementare Grundvollzüge des ästhetischen Erlebens sind dabei das Staunen und Genießen. Im differenzierten Erfassen eines musikalischen Werkes oder im vollständigen Hineingesogenwerden in eine musikalische Dynamik (Involvement) steigert sich das eigene Lust- und Glücksempfinden. Die Anteilhabe an gelingender musikalischer Gestaltung, das Miterleben musikalischer Erfindung und Kreativität führt bestenfalls ins Staunen über die Schöpferkraft, die sich darin kundtut. Musik weckt auch religiöse Gefühle: Vertrauen und Angst, Staunen und Erschrecken, ekstatische Entzückung und Höllensturz, Dank und Sehnsucht. Zur musikalischen Spiritualität gehört daher die verantwortliche Gestaltung musikalischer Stimmungen. c) Ästhetisches Handeln hat auch damit zu tun, ästhetische Gestaltwerdung erkennen, verstehen und würdigen zu können. Das gilt nicht allein, aber besonders für die große Kunstmusik, die sich erst im verstehenden Nachvollzug erschließt. Wenn Menschen ästhetische Gestaltungsprozesse würdigen, kann ihnen das helfen, tragende kulturelle Traditionen gegenwärtig zu halten und Neues zu erschließen. Die verstehende Begegnung mit religiöser Kultur fördert die eigene religiöse Expressivität und Deutungskompetenz. d) Am intensivsten entwickelt sich die musikalische Erfahrung für die, die Musik selbst gestalten: singend oder musizierend.7 Singen ist ein sehr persönliches, weil den ganzen Leib und die eigene Stimme als sensibles Kommunikationsmedium nutzendes Geschehen. Es dient zur Spannungsabfuhr (Energieintegration) und zur Energiegewinnung gleichermaßen, darf aber nicht allein regressiv gedeutet werden, weil es auch zu stärkerer Selbst-Bewusstwerdung und Energietransformation in Bewusstseinsprozesse anregen kann.8 Singen tut gut, weil es „die Selbstentfaltung bis hin zur spirituellen Dimension fördern kann“.9 Wer singt, gibt Persönliches preis, öffnet sich und hofft auf das Hören anderer. Wer mit anderen gemeinsam singt, sucht die Einstimmung mit anderen und trägt zum Gesamtklang aktiv bei. Im Singen verdichtet sich die Wahrnehmung der selbst hervorgebrachten Klangschwingungen im eigenen Körper, Aktivität und Empfänglichkeit verschränken sich.10 Und es werden Resonanzen zwischen verschiedenen Personen erfahren. „In, mit und unter“ dem eigenen Singen mischen sich Klänge ein, die über die aktuelle Situation und die Beteiligten hinausreichen. Im Singen wird die Gegenwart überschritten – in Richtung Vergan7 8 9 10
Vgl. Leube, Singen. Vgl. Adamek, Singen, 199–202.211–213. A. a. O., 231. Vgl. Reich, Singen, 164.
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genheit wie in die Zukunft hinein. Das wiederholte Singen geistlicher Lieder (z. B. im Gottesdienst) stiftet einerseits Heimat, andererseits werden dadurch gerade auch Frei- und Spielräume für Aufbrüche eröffnet. Gesungene Lieder werden so zu „Wegweisern in die Zukunft, zu Lebensliedern“.11 Das Singen bildet in diesen anthropologischen Grundvollzügen die evangeliumsgemäße Verschränkung von Eigenresonanz, dialogischer Kommunikation und zugesprochener wie prozesshafter Identität ab. Es eignet sich in besonderer Weise als Modell christlicher Frömmigkeit und Lebenskunst.12 Für das gemeinsame Musizieren gilt Ähnliches, auch wenn hier die intensive Verbindung zum gesungenen Wort wegfällt. Die Dynamik gemeinsamen Musizierens kann aus der Alltagswelt entrücken und neue Lebensperspektiven vermitteln. Insbesondere das freie Spielen und Improvisieren eröffnet Freiräume zur musikalischen Selbsterfahrung.
2.
Biblische und kirchengeschichtliche Hinweise
Aufgrund ihrer spezifischen Wirkungsmacht hängen Musik und religiöse Kommunikation bzw. religiös-kultische wie spirituelle Praktiken von jeher eng zusammen.13 In den meisten Kulten, Ritualen und Feiern erklingt Musik. Sie dient dazu, den (heiligen) Ort der Zeremonie akustisch zu markieren, abzugrenzen, die Dramaturgie der Inszenierung des Kultes zu steuern, sakrale Atmosphären herzustellen, Texte zu transportieren und die religiöse Kommunikation mittels einer klingenden „Sprach“-Ebene zu vertiefen und zu gestalten. Die Integration von Gesang und Musik in den jüdischen wie christlichen Glauben ist schon biblisch belegt. Die biblischen Quellen bezeugen eine lebendige Musizierpraxis am Tempel in Jerusalem (vgl. 1Chr 15; 2Chr 5,12f), an der auch das Volk beteiligt war. Aus der Rezitation der heiligen Schriften und Gebete entwickelt sich die besondere Form des Sprechgesangs (der Kantillation) und des Psalmodierens. Für den jüdisch-christlichen (und islamischen) Kulturkreis ist diese rhetorische Dimension der Musik bestimmend geworden: Musik erwächst aus dem Sprachvortrag, trägt das gesprochene Wort und wird schließlich selbst zur verkündigenden Klangrede und Affektsprache. Die Musik im Gottesdienst der frühchristlichen Gemeinde stammt primär aus der synagogalen Tradition und aus den jüdischen Hausgottesdiensten. Darauf verweisen die Konzentration auf den Sprechgesang und der weitgehende Ausschluss von Instrumenten (in der Synagoge gab es bis 70 n. Chr. im Unterschied 11 Kunz Pfeiffer, Verzaubertes Hören, 301. 12 Vgl. Arnold, Singen & musizieren; Bubmann, Modell. 13 Vgl. Bubmann, Musik – Religion – Kirche, 13–28.
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zum Tempel keine Musikinstrumente und Chöre). In den Schriften des NT ist von Hymnen und Oden sowie von Psalmen die Rede (1Kor 14,26; Kol 3,16; Eph 5,19; Mk 14,26; dazu die Cantica Lk 1,47–55; 1,68–79; 2,29–32; vielleicht wurden auch die Christus-Hymnen Joh 1,1–18; Kol 1,15–20; Phil 2,6–11 u. a. gesungen). Mit der Konstantinischen Wende verlagern sich die Gottesdienste von den Häusern in die Basiliken, in denen nun (professionelle) Chöre musikalischen Dienst versehen. Während sich seit den Dichtungen des Ambrosius von Mailand die Hymnen verbreiten, fördern die Päpste seit Gregor I. (590–604) den lateinischen Kirchengesang und erheben den römischen Choral zum Modell liturgischer Musik für die Westkirche. Die Kirchenmusik wird dabei immer mehr zur Sache der Klerikerchöre. Martin Luther gibt mit der Einführung des deutschen Kirchenliedes in die Liturgie der Gemeinde ihr musikalisch-liturgisches Amt zurück. Der Ausschluss der Tonkunst aus der Liturgie in Zürich durch Huldreych Zwingli hat die religionsproduktive Folge, dass die religiöse Musik in die Häuser und Familien und somit aus dem kultischen Bereich in den Alltags- und Freizeitbereich sowie Konzertbereich übersiedelt. Die Reformation konzentriert die Aufgabe religiöser Musik auf die WortVerkündigung und das Gotteslob, die Musik wird primär in ihrer rhetorischen Dimension wahrgenommen. „…davon ich singen und sagen will“ – Martin Luthers Formel vom Singen und Sagen, wie er sie in seinem bekanntesten Weihnachtslied „Vom Himmel hoch“ verwendet, bringt auf den Punkt, was für ihn zusammengehört: Die Begegnung mit Gott verlangt nach Gesang.14 Im Erklingen des menschlichen Wortes, im Klang der menschlichen Stimme gewinnt der Glauben Gestalt und Tragkraft. Ab dem 17. Jahrhundert ist eine Tendenz hin zur Individualisierung der musikalischen Frömmigkeit zu beobachten. Musik als Predigt des Christus wird zum Gegenstand mystischer Kontemplation durch die Seele. In der Romantik wird diese Linie zum kunstreligiösen Verständnis von Musik hin gesteigert (während in der kirchenmusikalischen Praxis teils die restaurative Rückkehr zur vermeintlich objektiven Kirchenmusik der Palestrinazeit propagiert wird). Wilhelm Heinrich Wackenroder preist die Musik als heilige Kunst, Ludwig Tieck hält sie für das letzte Geheimnis des Glaubens und für mystische Religion.15 Beim evangelischen „Kirchenvater“ des 19. Jahrhunderts, Friedrich Daniel Ernst Schleiermacher, wird die Musik zur notwendigen Partnerin des Christentums. Er gesteht auch dem Gesang als solchen – unabhängig von den unterlegten Worten –
14 Vgl. zur „Spielmannsformel“ (Singen und Sagen) und zu Luthers Sing-Theologie: Klek, „Singen und Sagen“, hier besonders 13. 15 Vgl. Seidel, Kunstreligion, 107.
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religiösen Charakter als Erhebung der Seele zu.16 Richard Wagner setzt dann derartige musikreligiöse Vorstellungen in die Form der Oper und des „Bühnenweihfestspiels“ (Parsifal) um.17 Während die evangelische Kirche der Gegenwart die Bedeutung der Musik als geschichtlich und je individuell angeeignetes Medium des Glaubensausdrucks und als Charisma des Heiligen Geistes unterstreicht,18 hat auf römisch-katholischer Seite vor allem Josef Ratzinger in seinen Schriften zur Kirchenmusik deren Gottesbezug nochmals im Rückgriff auf antikes Denken primär kosmologischontologisch verankert: In der Musik der Liturgie ereigne sich das „An-sich-Ziehen des verborgenen Klangs der Schöpfung, Aufdecken des Liedes, das auf dem Grund der Dinge ruht“ und mithin die „Fleischwerdung des Wortes“, die zugleich eine „Geistwerdung des Fleisches“19 darstelle. Letztlich habe Kirchenmusik einzustimmen in den Gesang des Alls und sich damit „an den ‚Künstler‘, an Christus, an den Schöpfergeist“20 anzunähern. Gottesdienstliche Musik muss für Ratzinger daher als logosbezogene Musik kunstvoll sein, nicht allerdings im Sinn eines autonomen Ästhetizismus.21 Zwischen den Extremen einer rational-artifiziellen Avantgardemusik und einer banalisierten Massenmusik solle man sich vor allem der geschichtlich bewährten Musik zuwenden.22 Liturgische Musik müsse sich im Übrigen an den liturgischen Texten orientieren und am Gregorianischen Choral und Palestrina messen lassen.23 Mit diesem Rückgriff auf die private Musiktheologie des emeritierten Papstes wird Verschiedenes deutlich: Musiktheologien und Vorstellungen von der spirituellen Bedeutung von Musik sind meist ein komplexes Knäuel aus ideologischen Vorgaben (in diesem Fall: stoische Logosphilosophie), biografisch-kontingenten musikalischen Prägungen (in diesem Fall: die caecilianisch geprägte Musik der Regensburger Dommusik unter Georg Ratzinger und der konservativtraditionellen Münchner Dommusik) und spezifischen Denkangeboten der eigenen konfessionellen Tradition (in diesem Fall: des katholischen Naturrechts) und der je eigenen Form von Frömmigkeit bzw. Spiritualität (in diesem Fall: bayerisch-traditionell). Das ist bei evangelischen Positionen nicht anders. Es macht einen Unterschied, ob man musikalisch als Mitglied der Thomaner in Leipzig mit den 16 17 18 19 20 21 22 23
Vgl. a. a. O., 101. Vgl. Meyer-Blanck, Musik als Tempel. Vgl. Kirchenamt der EKD, „Kirche klingt“. Ratzinger, Ein neues Lied, 158. Ratzinger, Geist der Liturgie, 132. Vgl. Ratzinger, Ein neues Lied, 139. Vgl. a. a. O., 126f. Ausdrücklich nennt Ratzinger auch A. Bruckner, a. a. O., 161. Vgl. a. a. O., 162.
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Kantaten und Oratorien Johann Sebastian Bachs sozialisiert wurde oder primär durch Besuche in Taizé die eigene Form der Spiritualität gefunden hat, ob man im CVJM spirituell beheimatet ist (und dann vielleicht Praise-Songs liebt) oder beim Deutschen Evangelischen Kirchentag (und damit dem Sacropop eines Fritz Baltruweit etwas abgewinnen kann). Oder ob man sich vor allem von den Experimenten der Kunstmusik-Avantgarde angesprochen fühlt (und dann bei Tagen und Festivals Neuer Musik religiöse Anregungen erhält). Und theologisch hängt einiges davon ab, ob man der Tradition der Dialektischen Theologie verbunden ist, der Theologie Paul Tillichs, politischen Theologien oder eher einer neueren Spielart der liberalen Kulturtheologie. Entsprechend vielfältig fallen auch die theologischen Würdigungen von Musik aus: Musik kann als dienstbare Magd des gesprochenen Wortes erscheinen, als eigenständiges affektuoses Medium des Dialogs mit Gott und untereinander, als Symbol des verborgenen Schöpfungsklangs bzw. göttlichen Logos, als prophetischer Gegenklang zur Welt und Weckruf oder als je individuell gedeutetes Medium des Glaubensausdrucks wie der persönlichen Gotteserfahrung. Es gibt daher auch nicht die eine Art und Weise, mittels Musik Gott zu begegnen. Musik wird – je nach Vorprägungen und theologischen Vorannahmen – auf je individuelle und unterschiedliche Weise zum möglichen Raum der Gotteserfahrung (und bleibt manchen auch gänzlich verschlossen, die mit dem „Geplärr deiner Lieder“ [Am 5,21] nichts anfangen können).
3.
Evangelisch-theologische Würdigungen von Musik
Die evangelischen musiktheologischen Entwürfe der Gegenwart knüpfen mit unterschiedlichen Akzenten an die reformatorischen Positionen an.24 In Deutschland wurde vor allem Oskar Söhngens Entwurf einer trinitarischen Grundlegung der Musik einflussreich. Er unterstreicht stark den Gedanken der Musik als Schöpfungsordnung, bezeichnet sie als heimliche Vorimitation der Erlösung und konzentriert sie dann auf eine kultische Ur-Musik.25 Ausgehend von den biblischen Zeugnissen versteht Christoph Krummacher demgegenüber Kirchenmusik als geschichtliche Sprache des Glaubens.26 Aufgrund der Inkarnation Gottes in die Realität dieser Welt in Jesus Christus sei der christliche Glaube zur Wahrnehmung der profanen Kunst befreit. Zudem ermutige die pneumatologische These von der verheißenen, wenn auch unverfügbaren Gegenwart des Geistes Gottes dazu, Wahrnehmungen dieses Geistes 24 Vgl. Bubmann, Urklang, 175–184; Krummacher, Musik als praxis pietatis, 99–130. 25 Vgl. Söhngen, Theologie der Musik, 325. 26 Vgl. Krummacher, Musik als praxis pietatis, 131–149.
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auch in der Kunst zu erwarten. Die Freiheit des Glaubens bedürfe dabei keiner übergeschichtlichen Gesetze der Kirchenmusik. Noch einmal anders, nämlich primär phänomenologisch, setzt das praktischtheologische Handbuch zur Kirchenmusik „Kirchenmusik als religiöse Praxis“27 an: In einem mehrperspektivischen Zugang wird das kirchenmusikalische Feld von musikalischen Grundvollzügen (wie Hören, Singen, Komposition, Atmosphäre) her erschlossen und im Blick auf Grunddimensionen kirchlichen Handelns expliziert (Verkündigung und Kommunikation; Bildung und Sozialisation; Seelsorge und Diakonie; Leitung und Organisation). Beispielsweise setzt HansGünter Heimbrock – wie eine Reihe jüngerer Autoren (Peter Bubmann, HansMartin Gutmann, Gotthard Fermor, Harald Schroeter-Wittke u. a.) – bei seiner Würdigung der Musik zunächst bei konkreten Klangphänomenen und deren Rezeption an. Der regressive Charakter des Hörens sei zu berücksichtigen, aber nicht nur negativ zu bewerten. Religiöse Deutungen von musikalischen Verschmelzungserfahrungen, von Entschweben und Ekstase, seien theologisch zu würdigen. Heimbrock sieht in Klängen die theologische Möglichkeit, mit menschlichen Ausdruckmöglichkeiten „immanente Verweisung auf das Unsagbare“28 zu leisten. Klänge hätten vor allem die Potenz, den Alltag heilsam zu unterbrechen. Darin liege eine Nähe zum Evangelium. Heimbrock verortet seine musiktheologischen Überlegungen freiheitstheologisch: „Klang-Räume sind menschliche Spiel-Räume der Freiheit, in denen Erfahrung des Wohlgefallens an der Schöpfung, Erfahrungen der Zerrissenheit und Fragmentarität der Welt ebenso zum Ausdruck kommen können wie der Vorschein vom Reich Gottes“.29
Die Kirche habe sich nicht einfach dem Musikbetrieb und der bürgerlichen Musikkultur anzupassen, sondern „klangvolle Zeichen freiheitlicher Gegenkultur zu fördern“.30 Diese Impulse integrierend, kann Musik theologisch in der dreifachen (trinitarisch strukturierten) Perspektive als kreatives Spiel, als Symbol für Transzendentes und als geistgewirkte Erfahrung der Gegenwart des Heiligen im Fest gewürdigt werden.31 (1) Gott hat in seiner Schöpfung die Möglichkeit zu Klang und Musik mitgesetzt, dem Menschen die Klangwelt zum Spiel der Kreativität übertragen. Musik ist als Schöpfungsgabe Spiel der Freiheit, das sein eigenes Recht im Gottesdienst wie im ganzen christlichen Leben hat – auch unabhängig von der 27 28 29 30 31
Fermor/Schroeter-Wittke, Kirchenmusik. Heimbrock, Klang, 40. A. a. O., 41. Ebd. Vgl. Kirchenamt der EKD, „Kirche klingt“, 16–21, und: Bubmann, Musik – Religion – Kirche, 110f.
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Verbindung mit liturgischen Texten. Solches Spielen bereichert die Lebenskunst und bietet Material für spielerische Freiheitserfahrungen. (2) Musik kann zum Symbol der Befreiung zum neuen Sein in Christus und der guten Schöpfung werden. Dies geschieht, wo sie als Klangsprache der Gefühle in Regression wie Progression übergreifende Sinn- und Ordnungszusammenhänge ahnen und Erlösung gleichnishaft erfahren lässt und als Trägerin von Worten der Kommunikation des Evangeliums dient. (3) Musik vermittelt schließlich als geisterfülltes oder ekstatisches Zeiterleben in der Hoch-Zeit des Festes gleichsam sakramentale Vor-Erfahrungen der Ewigkeit und stimmt durch ihre transformative Macht die Herzen zu Gott um. Einstimmung ins Heilige, Umstimmung zum guten Leben, Verstimmung als notwendige Verstörung falschen Lebens und Hochstimmung als Vorgriff auf Gottes Ewigkeit können als musikalische Wirkungen des Heiligen Geistes interpretiert werden.32 Insgesamt öffnet sich von dieser lutherischen musiktheologischen Spur her denkend heute ein weiter Raum musikalisch-religiösen Handelns in christlicher Freiheit und Verantwortung. Die Kommunikation des Evangeliums (Ernst Lange) in ihren vielfältigen Gestalten und an allen möglichen Orten wird zur Sache und zur Aufgabe der evangelischen Kirchenmusik und geistlichen Musik. Diese ‚Kommunikation des Evangeliums‘ zielt inhaltlich zunächst darauf, die Glaubenden in die neue Freiheit der Kinder Gottes zu führen, die sich der Erfahrung der bedingungslosen Rechtfertigung durch Gott verdankt. Auch durch musikalische Erfahrungen und Praxis realisiert sich die christliche Freiheit als Konsequenz der Rechtfertigungserfahrung: im freudigen Gotteslob als Wissen um die Verdanktheit dieser Freiheit als Gabe und Anspruch Gottes; in der Verkündigung als Einlösung der kommunikativ-sprachlichen Dimension christlicher Freiheit; in künstlerischem Spiel, Unterhaltung und Seelsorge als Ausdruck des ganzheitlichen (eben auch affektiven) sowie solidarisch-barmherzigen Charakters christlicher Freiheit. Die evangelische Identität geistlich wirkender Musik lässt sich dabei nicht stilistisch festlegen und ist weder auf gottesdienstliche Gebrauchs- noch auf Kunstmusik fixiert. Entscheidend ist vielmehr die mögliche und tatsächliche Wirkung, die von der Musik im religiösen und kirchlichen Kontext ausgeht: Wo sie die christliche Freiheit befördert, wo sie ‚Christum treibet‘, also von ihm kündet, Gotteserfahrungen erschließt, die Entfaltung christlicher Glaubensidentität ermöglicht, zum humanen und gelingenden Leben hilft, Freude, Gerechtigkeit und Barmherzigkeit fördert, steht Musik im Dienst der ‚Kommunikation des Evangeliums‘ und ist daher im eigentlichen Sinn ‚spirituelle, evangelische Kirchenmusik‘ als Musik im Wirkungsfeld des Heiligen Geistes. 32 Vgl. Bubmann, Einstimmung, 90f.
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4.
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Musik in evangelischer Freiheit: Kriterien evangelisch-spiritueller Musik
Profil und Gestalt geistlicher Musik ergeben sich demnach aus den Konkretionen der Realisierung solch christlicher Freiheit. Bekanntlich zeichnet sich diese Freiheit gemäß der paulinischen Freiheitslehre durch zwei Grundaspekte aus: Sie ist Freiheit von den Mächten der Sünde und des Todes und sie ist Freiheit zum Leben aus Gottes Geist, also Kraft eines geistgewirkten Lebensstils des Glaubens, der Hoffnung und der Liebe. Beide Grundaspekte sind auch symbolisch-musikalisch zu erfahren: musikalische Praxis (Hören wie Musizieren und Singen) kann herausreißen aus den Zwängen der Alltagswelt, kann entheben und entrücken und damit zumindest eine Ahnung vermitteln von der „Befreiung aus den gottlosen Bindungen dieser Welt“.33 In musikalisch-ästhetischer Wahrnehmung und Deutung entstehen neue Möglichkeitsräume der Lebenskunst. Damit wird anfänglich-symbolisch auch Gottes Befreiung des Menschen zu „freiem dankbarem Dienst an seinen Geschöpfen“34 erlebbar. Musik kann Macht gewinnen über die Affekte und sie umstimmen und einstimmen lassen in den Willen Gottes: Christliche Freiheit wird so sinnlich erfahrbar als die große und täglich neue Transformation, als immer neue Umwendung zum Geber des Lebens, als Klang der Hoffnung, des Trostes und der neuen Lebenszuversicht. In den Formen musikalischer Kreativität bilden sich symbolisch-spielerisch die Freiheitsmöglichkeiten des Reiches Gottes ab, Musik wird zum ‚praeludium aeternitatis‘ (Vorspiel der Ewigkeit). Die neue Freiheit der Glaubenden steht in einer vierfachen Relation: zu Gott als dem Geber dieser Freiheit, zum Mitmenschen, zur Mitschöpfung und zu sich selbst. Musik kann zum Ausdrucksmittel aller dieser grundlegenden Beziehungen des Menschseins werden: a) Sie dient als Kommunikationsmittel im Dialog mit Gott, in affektiv-sinnlicher Anrede, Lobpreis und Klage, Dank und Bitte sowie in der Verkündigung seiner Botschaft. Dass Freiheit immer von Gott verdankte, geschenkte und endliche Freiheit ist, kommt so auch klingend zum Ausdruck. b) Musik verbindet im gemeinsamen Singen, Musizieren und Hören die Versammelten zur Gemeinde und bringt damit den kommunikativ-kooperativen Charakter christlicher Freiheit sinnenfällig zum Ausdruck. Dass christlicher Glaube auf eine Lebensform gemeinsam geteilter Freiheit zielt, wird im ge-
33 2. These der Barmer theologischen Erklärung von 1934, in: Evangelisches Gesangbuch. Ausgabe für die Evangelisch-Lutherischen Kirchen in Bayern und Thüringen. München o. J., 1579. 34 Ebd.
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meinsamen Gesang deutlich, weshalb die Christen von Anfang an auch an ihrem Gesang, der sich mit ihren Agapefeiern verband, identifiziert wurden. c) Dass Musik auch eine Brücke zur Umwelt, insbesondere zu Tieren, schlagen kann, war lange Zeit vergessen. Martin Luther konnte sich am Gesang der Nachtigall erfreuen und vermochte auch in ihrem Gesang den guten Schöpfergott zu hören.35 Das kann heute dazu motivieren, genauer auf die Klänge der nichtmenschlichen Natur zu hören, auf ihre Freudengesänge wie auf ihr bedrängtes Seufzen, das im solidarischen Mit-Seufzen der menschlichen Musik seinen Widerhall finden kann (Röm 8,22f). d) Wie Nächsten- und Selbstliebe zusammengehören, so auch die kommunikative und die selbstbezüglich-reflexive Relation der Freiheit in der musikalischen Praxis. Musikalische Erfahrung hat immer auch mit Selbsterkundung und Identitätsbildung zu tun. Das Singen, Musizieren und Hören verändert die Selbstwahrnehmung. Im Hören etwa auf die eigene Stimme wächst die Selbsterfahrung: Unerschlossenes wird neu entdeckt, Verschüttetes wieder gehört, Bekanntes neu erkannt und gewürdigt. Weil Musik eine zeitliche Kunst der Vergänglichkeit ist, die im Erklingen zugleich vergeht, lebt sie vom Erinnern und Erwarten und damit von der deutenden (Re-)Konstruktion der eigenen, persönlichen (Hör-)Geschichte. Musikalische Erfahrung kann so auch zum Material und zum Gleichnis der lebensgeschichtlichen Selbstdeutung werden, in der sich zugleich Gotteserfahrung ereignet. „Musik nimmt in einen Raum hinein, den kein Mensch machen kann und ohne den doch kein Mensch lebt – ein Raum des Für- und Mit-Denkens, sie generiert Zeit gegen das Gewohnte, gegen Unaufmerksamkeit und Gleichgültigkeit, sie ist ‚Zeitigung‘ des Anderen, Zeit eines unendlichen Gebets. Musik ist die Zeit, in der erfahrbar werden kann, was christlich unter Gott gedacht wird und in aller Menschenleben gegenwärtig ist, auch wenn diese Wirklichkeit vielleicht nicht mehr als Gott benannt wird. Ein Grund extra nos, der zugleich zutiefst zu uns gehört und uns trägt“.36
Musik als Freiheitsspiel hat in ihren zwei Grundaspekten und in ihrer vierfachen Relationalität ihren Ort in allen fünf Dimensionen des kirchlichen Auftrags der Kommunikation des Evangeliums: im darstellenden Handeln in der symbolischen Kommunikation des Glaubens in der Liturgie (leiturgia), im kommunikativen Handeln als Weitersagen, Bezeugen und Bekennen der guten Botschaft Gottes (martyria), im sozialen Handeln der Herstellung und Bewahrung von gemeinschaftlichen Lebensformen in Frieden und Gerechtigkeit (koinonia), im helfend-bewirkenden Handeln zugunsten Benachteiligter, Kranker und Armer (diakonia) und im selbstreflexiven Handeln als Bildungsvollzug in Erziehung und Bildung einer religiösen Persönlichkeit (paideia). 35 Vgl. sein Gedicht „Vorrhede auff alle gute Gesangbücher“ von 1538, in: WA 35, 484f. 36 Steinmeier, Musik als religiöses Medium, 136.
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„Die ganze Fülle des christlichen Lebens findet Gehör und Ausdruck in der Musik. Im Medium der Musik verdichten sich Grundvollzüge christlicher Existenz. Im Hören, Singen und Musizieren erhält die christliche Freiheit eine klingende Gestalt. Die Kirche der Freiheit achtet daher die Gottesgabe der Musik in besonderer Weise“.37
5.
Spirituelle Orte und Aufgaben der Musik im Raum der Liturgie
In der Geschichte der christlichen Kirchen haben sich bevorzugte Orte für die Entwicklung einer musikalischen Spiritualität ergeben: zunächst die Ordensgemeinschaften und Kommunitäten, für die – auch im evangelischen Bereich – das Stundengebet in der Regel als gesungenes Gebet mit vielen Gesängen aus dem Psalter gestaltet wird. Gemeinschaften wie Taizé oder auch die Kommunität Casteller Ring u. a. strahlen unter anderem durch ihre musikalische Form der Frömmigkeit überregional aus. Sodann sind alle Formen des Gottesdienstes zu nennen (dazu unten mehr), unter spätmodernen Bedingungen vor allem die Kasualien, wo die Musik bei Taufe, Konfirmation, Hochzeit und Beerdigung eine immense Rolle spielt.38 Häufig wird hier mit den Kasualbegehrenden um die passende Musik gerungen, für Eltern, Brautpaare, Angehörige oder Hinterbliebene stehen Klänge und Lieder nicht selten für biografische Schlüsselsituationen oder bestimmte gewünschte ‚heilige‘ Atmosphären, weshalb mit hohem Engagement auf die Auswahl der Musik Einfluss genommen wird. In der gemeinsamen musikalischen Arbeit in Chören und Posaunenchören sowie Bands und Musikgruppen verbindet sich musikalisch-ästhetisches Interesse mit spirituellen Erfahrungen.39 Natürlich lassen sich auch in ganz ‚normalen‘ Konzertveranstaltungen musikalisch induzierte religiöse Erfahrungen machen, manche Festivals wie die ION (Internationale Orgelwoche Nürnberg) und natürlich die diversen Bachtage und Treffen Neuer Musik in der Kirche sind ausgewiesene Spielfelder auch musik-religiöser Erfahrungen. Aber auch in der persönlichen Andacht und Meditation kann Musik als selbst produzierte bzw. gesungene oder gehörte eine große Rolle spielen (wichtig z. B. das Gute-Nacht-Lied mit Kindern). Versteht man Meditation vor allem als KonZentration, also als Zentrierung auf das, und Verwurzelung in dem, was mich unbedingt angeht, dann kann auch Musikmeditation (etwa durch das Hören gregorianischer Musik, beispielsweise der Lieder der Hildegard von Bingen) zu einer Variante der Konzentration auf Gott und des Wartens auf den Geist Gottes werden. 37 Kirchenamt der EKD, „Kirche klingt“, 8. 38 Vgl. Reinke, Kasualien. 39 Vgl. empirisch: Ahrens, Schlaglichter; Kaiser, Erforschung; empirisch und konzeptionell: Koll, Kirchenmusik.
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Exemplarisch seien die möglichen spirituellen Wirkungen musikalischer Praxis an der Form der gottesdienstlichen Liturgie erläutert. Vieles davon kann sich auch in individuellen und privaten Formen des Musikhörens und Musizierens wiederfinden. Insbesondere zu Beginn der Liturgie übernimmt die Musik (schon mit dem Glockengeläut und dem Orgeleinspiel) präparative Funktionen: Sie markiert akustisch einen besonderen Raum der Gottesbegegnung, stimmt ein auf die Nähe Gottes in Wort und Sakrament. Ähnlich können bestimmte von CD eingespielte Klänge in der persönlichen Meditation einen (Zeit-)Raum markieren, der dem Gebet oder der Meditation gewidmet ist. Die Vorbereitungsfunktion der Musik wiederholt sich zu Beginn des Eucharistieteils: die Herzen werden mit Gesang zu Gott erhoben („sursum corda“) und vereinen sich mit dem Heilig-Gesang der Engel im Sanctus. Musik dient zweitens der Doxologie (Lobpreis) und dem Gebet. Sie wird zum musikalischen Dialog mit Gott. Doxologische Musik und Lieder preisen Gott als Herrn der Welt, danken ihm für seine Taten und rufen ihn in Bitte und Klage als Kyrios an. Dies geschieht in der Gottesdienstform der Messe vor allem bei den Gesängen im Eingangsteil des Gottesdienstes (Eingangslied, Introituspsalm, Kyrie, Gloria), aber auch bei kürzeren Akklamationen im Lesungsteil („Halleluja“, „Lob sei dir Christus“) und in den eucharistischen Lobgesängen des Abendmahls (Präfation, Sanctus). Die großen Anrufungs- und Huldigungsgesänge kultivieren die ganzheitliche Zuwendung zu Gott und loten oft auch emotional das Feld dieser Beziehung aus. Ein weiteres klassisches Einsatzgebiet von Musik im christlichen Gottesdienst und Leben ist die Verkündigung. Hier wird sie zum Ausdruck und Anruf der Stimme Gottes im Wort der Heiligen Schrift. In Evangeliums- oder biblischen Spruchmotetten, Kantaten, Solo- und Gemeindeliedern verstärkt und vertieft die Musik als zweite Sprachebene die Wirkung der Verkündigung und des Bekennens. Musik wird so zu einem wesentlichen Medium der spirituellen Begegnung mit der biblischen wie dogmatischen Tradition. Musik stiftet weiterhin in der Liturgie in besonderer Weise Gemeinschaft, schließt Menschen beim Singen, Musizieren oder Hören zusammen – und dies über die Zeiten und Konfessionen hinweg und über die aktuell versammelte Gemeinde hinaus. Im gesungenen Credo und dem einander zugesungenen Segens- und Friedenswunsch kann die Nähe Gottes unter der Erfahrung einer tragenden menschlichen Gemeinschaft erspürt werden. Im persönlichen Musikhören und Musizieren wie auch in der Liturgie kann Musik seelsorgliche Kräfte entfalten. Aufgrund ihrer emotionsstabilisierenden und transformativen Kraft eignet sich Musik insbesondere in Phasen der Trauer und der Schwermut zum Lösen von Ängsten und zum Abbau von Verspan-
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nungen.40 Tröstliche Gottesbilder (etwa: Gott als Hirte nach Psalm 23) verbinden sich mit bestimmten Klängen und Melodien. Wichtig sind auch neuere Bemühungen um leibfreundliche liturgische „Tanz“-Musiken, die Leib und Seele ganzheitlich ansprechen und darin heilsam wirken. Gott wird so in der Verbindung von Musik und Bewegung als Lebensenergie und Kraft zum Leben erfahren. Musik in der Liturgie kann auch ihren Beitrag zur diakonischen Gotteserfahrung leisten. Gott lässt sich im fröhlichen Singen mit Menschen mit Handicap oder auch mit Demenzkranken eindringlich entdecken. Hier kann ein Vor-Klang einer gerechten und inklusiven Gesellschaft erfahren werden. Ihren liturgischen Ort hat diakonisch bzw. ethisch-politisch engagierte Musik innerhalb der Verkündigung, im Kontext des Fürbittengebets und Kyrie-Rufs oder in der Sendungsphase des Gottesdienstes. Gott wird so auch klanglich erfahrbar als ein Gott der Gerechtigkeit und Solidarität, der zum Friedens-Engagement in der Welt motiviert.41 In dem seit 1993 erschienenen Evangelischen Gesangbuch und seinen landeskirchlichen Beiheften bündeln sich die vielfältigen Aufgaben geistlichen Singens, seiner Formen und Stilrichtungen. Traditionelle und zeitgenössische Lieder stehen nebeneinander, Stilelemente von Jazz und Pop, Spirituals, Chansons und Lieder anderer Länder und Konfessionen haben Eingang in diese Sammlungen gefunden. Entstanden ist ein Handbuch gemeindlicher und persönlicher Frömmigkeit, ein Leitfaden für Gottesdienst, Gebet, Glaube und Leben. Im Jahr 2006 haben die Landeskirchen Baden und Württemberg zudem eine Kernliederliste „Unsere Kernlieder“ veröffentlicht, die 2007 durch die Liturgische Konferenz der EKD zum Gebrauch allen Landeskirchen empfohlen wurde und als Grundlage gemeinsam geteilter Sing-Spiritualität dienen kann.42 So existiert eine enorme Vielfalt an musikalischen Möglichkeiten, um in liturgischen wie persönlich-individuellen musikalischen Formen Gott zu begegnen und die eigene wie gemeinsame Spiritualität zu gestalten.
40 Vgl. Heymel, Trost für Hiob; ders., Musik für die Seele. 41 Zur Friedensaufgabe der Musik vgl. Bubmann, Musik – Religion – Kirche, 89–96. 42 Unsere Kernlieder. 33 Lieder aus dem Evangelischen Gesangbuch, Strube-Verlag München 2007. Einzelne Landeskirchen haben Varianten davon für ihren Bereich implementiert, z. B. für den Bereich der Evang.-luth. Kirche in Bayern: Gottesdienst-Institut Nürnberg (Hg.), Geh aus, mein Herz. Evangelischer Liederschatz | 22+2 Lieder, Nürnberg 2012.
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Literatur Quellen Kirchenamt der Evangelischen Kirche in Deutschland (Hg.), „Kirche klingt“. Ein Beitrag der Ständigen Konferenz für Kirchenmusik in der EKD zur Bedeutung der Kirchenmusik in Kirche und Gesellschaft (EKD-Texte, 99), Hannover 2009. Ratzinger, Josef, Der Geist der Liturgie. Eine Einführung, Freiburg/Basel/Wien 32000. –, Ein neues Lied für den Herrn. Christusglaube und Liturgie in der Gegenwart, Freiburg/ Basel/Wien 1995.
Forschungsliteratur Adamek, Karl, Singen als Lebenshilfe. Zur Empirie und Theorie von Alltagsbewältigung. Plädoyer für eine „Erneuerte Kultur des Singens“, Münster/New York 32003. Ahrens, Petra-Angela, Schlaglichter aus den Ergebnissen einer bundesweiten Befragung von Gospelchören, in: Bubmann, Peter/Weyel, Birgit (Hg.), Praktische Theologie und Musik (Veröffentlichungen der WGTh, 34), Gütersloh 2012, 29–48. Arnold, Jochen u. a. (Hg.), Gottesklänge. Musik als Quelle und Ausdruck des christlichen Glaubens, Leipzig 22014. –, Singen & musizieren, in: Bubmann, Peter/Sill, Bernhard (Hg.), Christliche Lebenskunst, Regensburg 2008, 103–112. Bubmann, Peter, Einstimmung ins Heilige. Die religiöse Macht der Musik (Herrenalber Forum 31), Karlsruhe 2002. –, Kirchenmusik, in: Gräb, Wilhelm/Weyel, Birgit (Hg.), Handbuch Praktische Theologie, Gütersloh 2007, 578–590. –, Musik – Religion – Kirche. Studien zur Musik aus theologischer Perspektive, Leipzig 2009. –, Singen als Modell christlicher Spiritualität und die Bedeutung der Hymnologie für die Aszetik, in: Heyl, Andreas von/ Kemnitzer, Konstanze Evangelia (Hg.), Modellhaftes Denken in der Praktischen Theologie, Leipzig 2014, 15–24. –, Urklang der Zukunft. New Age und Musik, Stuttgart 1988. Dahlgrün, Corinna, Christliche Spiritualität. Formen und Traditionen der Suche nach Gott. Mit einem Nachwort von Ludwig Mödl, Berlin/New York 2009. Danzeglocke, Klaus u. a. (Hg. im Auftrag der Liturgischen Konferenz), Singen im Gottesdienst. Ergebnisse und Deutungen einer empirischen Untersuchung in evangelischen Gemeinden, Güterloh 2011. Fermor, Gotthard/Schroeter-Wittke, Harald (Hg.), Kirchenmusik als religiöse Praxis. Praktisch-theologisches Handbuch zur Kirchenmusik, Leipzig 2005. Hauschildt, Eberhard, Jedem das Seine? Musik in der Kirche, in: Bubmann, Peter/Weyel, Birgit (Hg.), Praktische Theologie und Musik (Veröffentlichungen der WGTh, 34), Gütersloh 2012, 63–77. Heimbrock, Hans-Günter, Klang, in: Fermor, Gotthard/Schroeter-Wittke, Harald (Hg.), Kirchenmusik als religiöse Praxis, Leipzig 2005, 37–42.
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Peter Bubmann
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Peter Zimmerling
Die Bedeutung der Volksfrömmigkeit für die evangelische Spiritualität – am Beispiel der Adventsund Weihnachtsfrömmigkeit
Die Bedeutung der Volksfrömmigkeit ist im Rahmen evangelischer Spiritualität lange übersehen, wenn nicht gar abgelehnt bzw. bekämpft worden. Gleichzeitig lässt sich seit einiger Zeit in Kirche und Gesellschaft eine Konzentration auf die Weihnachtsspiritualität beobachten, für die das religiöse Volksbrauchtum prägend ist. Die Fokussierung auf das Weihnachtsfest macht es nötig, die Rolle der Volksfrömmigkeit für die evangelische Spiritualität neu zu bestimmen, und hilft gleichzeitig, die Defizite evangelischer Spiritualität zu erkennen.
1.
Volksfrömmigkeit und religiöse Volkskunde
1.1
Begriffsbestimmungen und Hintergründe
Die Volkskunde betrachtete seit ihrem Entstehen im 19. Jahrhundert im Gefolge der Romantik die Erforschung der Volksbräuche als ihre Aufgabe.1 Sie tut dies mit Hilfe von unterschiedlichen Methoden (philologischen, historischen, psychologischen, soziologischen und geografischen). Im „Atlas der deutschen Volkskunde“ (Bonn) werden seit 1937 deutsche Volksbräuche gesammelt; entsprechende Unternehmungen gibt es in Österreich und der Schweiz. Anfänglich meinte die Volkskunde, dass Bräuche ausschließlich von Religion bzw. Mythos abzuleiten und aus diesen ursprüngliche (germanische) Mythologien zu erschließen seien. Heute erkennt die Volkskunde, inzwischen meist Kulturanthropologie bzw. europäische Ethnologie genannt, neben der Religion auch andere Quellen für die Entstehung von Bräuchen an, wie z. B. Rechtsvollzüge, Arbeitsorganisationen, den menschlichen Spieltrieb, die Fähigkeit zum Symbol1 Zur ersten Orientierung: Burckhardt-Seebass, Art. Volkskunde, Religiöse, 262–265; Haustein, Art. Volksfrömmigkeit VI/2 Protestantische Kirchen, 242–244; Gräb, Art. Volksfrömmigkeit VII. Systematisch-theologisch, 245–248; Grethlein, Art. Volkskunde IV, 1192f; Drews, Art. Volkskunde, 1746–1754.
268
Peter Zimmerling
denken und den Drang zur Gruppenidentität. Sie ist überdies abgekommen von der Annahme einer Konstanz der Bräuche und untersucht stattdessen deren Zeitgebundenheit und damit ihren Wandel und die mögliche Veränderung ihrer Funktionen (Brauchbiografie).
1.2
Evangelische Theologie und Volksfrömmigkeit bzw. religiöse Volkskunde – eine wechselvolle Geschichte
Aufgrund ihrer Konzentration auf die Rechtfertigung allein aus Glauben kritisierte die lutherische Reformation nicht nur Lehren und Ordnungen der römischen Kirche, die dem Evangelium widersprachen, sondern auch die Volksfrömmigkeit und die mit ihr verbundenen volkstümlichen Sitten und Gebräuche. Besonders anstößig erschienen den Reformatoren Weihehandlungen, durch die Kerzen, Brot, Getreide und andere Materialien religiös aufgeladen werden sollten.2 Auch wenn Martin Luther einzelne Bräuche, wie z. B. das Sich-Bekreuzigen beim Gebet, empfehlen konnte, was aus den einleitenden Bemerkungen zu seinem Morgen- und Abendsegen hervorgeht, stellte er viele andere Bräuche infrage, weil sie vom Kirchenvolk als „verdienstliches Werk“ oder als magischabergläubisches Mittel verstanden wurden. Noch radikaler bekämpfte die Schweizer Reformation die überlieferte Volksfrömmigkeit. Ganz anders die liberale Praktische Theologie an der Wende vom 19. zum 20. Jahrhundert. Sie vollzog einen Paradigmenwechsel und verstand die religiöse Volkskunde als Grundlagenwissenschaft.3 Der erste Band der Praktischen Theologie von Friedrich Niebergall beginnt – nach einer kurzen Skizze der idealen Gemeinde als Ziel der Gemeindearbeit (16 Seiten) – mit einer ausführlichen „Religiösen Seelen- und Volkskunde“ (186 Seiten). Diese hat die grundlegende Aufgabe, die „gegebene Gemeinde“, mithin deren Situation, zu erfassen.4 Erst auf dem Hintergrund der mit Hilfe der Volkskunde wahrgenommenen empirischen Gemeindesituation ist es möglich und sinnvoll, den Gemeindegliedern das Evangelium in den verschiedenen praktisch-theologischen Handlungsfeldern zu vermitteln. Die religiöse Volkskunde erfüllt in der liberalen Praktischen Theologie somit eine wichtige hermeneutische Aufgabe. Niebergall weist ihr eine ähnliche Funktion zu, die nach der empirischen Wende in der Praktischen Theologie am Beginn der 1970er Jahre die Soziologie erfüllen sollte. Ungefähr zeitgleich mit dem Erscheinen des ersten Bandes der „Praktischen Theologie“ von Niebergall 1918 begann der Siegeszug der Theologie Karl Barths. 2 „… eitel Spott und Betrug“, Luther, Schmalkaldische Artikel, III. Teil, 15, BSLK 461–63. 3 Vgl. den programmatischen Artikel von Drews, „Religiöse Volkskunde“, 1–8. 4 Niebergall, Praktische Theologie, 31–216.
Evangelische Spiritualität und Volksfrömmigkeit
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Die frühe dialektische Theologie verstand Martin Luthers Rechtfertigungslehre so, dass der Glaube nirgends zur gelebten Erfahrung wird. Zu dieser Auslegung trug Sören Kierkegaard bei, der den Glauben als 1000 Klafter „über dem Abgrunde erbaut“5 definiert hatte. Man muss auch den Glauben glauben! Von dieser Definition her wird verständlich, wieso der Glaube beim frühen Karl Barth nirgends Bodenhaftung gewinnen, d. h. zur Erfahrung werden kann.6 Daraus ergab sich konsequenterweise die scharfe Ablehnung jeder Form von Volksfrömmigkeit durch die dialektische Theologie. Deren Erforschung durch die religiöse Volkskunde war schlichtweg theologisch überflüssig. Gottes Wort trifft den Menschen senkrecht von oben. Die Ablehnung der religiösen Volkskunde durch die dialektische Theologie wurde im Dritten Reich noch verstärkt infolge ihres Missbrauchs durch die nationalsozialistische Blut- und Boden-Ideologie.7 In der Nachkriegszeit kam es zu einer regelrechten Stigmatisierung der religiösen Volkskunde in der Praktischen Theologie.8 Seit dem Ende der 1960er Jahre lässt sich erneut ein theologischer Paradigmenwechsel beobachten. Im Gefolge der empirischen Wende kam es zu einer veränderten Interpretation des reformatorischen Glaubensverständnisses und zu einer Rehabilitierung der Kategorie der Erfahrung.9 Man erkannte: Auch wenn Luther davon ausgeht, dass der Mensch durch den Heiligen Geist keine neue sittliche Qualität verliehen bekommt, hält er doch gleichzeitig fest, dass der Rechtfertigungsglaube dem Menschen zur gelebten Erfahrung wird. Für eine solche Interpretation Luthers existieren eine Reihe von Belegen: „Da mus nu angehen die erfarung, das ein Christ koenne sagen: Bisher hab ich gehoret und gegleubt, das Christus mein heiland sey, so meine sund und tod überwunden habe, Nu erfare ichs auch, das es also sey, Denn ich bin itzt und offt inn tods angst und des Teuffels stricken gewesen, Aber Er hat mir heraus geholffen und offenbaret sich mir also, das ich nu sehe und weis, das er mich lieb habe, und das es war sey, wie ich glewbe“.10
In diesen Zusammenhang gehört auch das bekannte Lutherwort: „Das christliche Leben ist nicht Frommsein, sondern ein Frommwerden, nicht Gesundsein, sondern ein Gesundwerden, nicht Sein, sondern ein Werden, nicht Ruhe, sondern eine Übung. Wir sinds noch nicht, wir werdens aber. Es ist noch nicht getan 5 Kierkegaard, Philosophische Brocken, 95. 6 Erst der späte Karl Barth hat die Frage nach der Erfahrbarkeit Gottes als theologisch legitim anerkannt (Bolli, Schleiermacher-Auswahl, 311f). 7 Vgl. dazu programmatisch: Jobst, Einführung. 8 Eine Ausnahme stellte der theologische Arbeitskreis für Religionssoziologie und religiöse Volkskunde in der DDR dar (dazu: Brückner, Volkskunde und Kirche in der DDR, 155–176). 9 Vgl. dazu im Einzelnen: Zimmerling, Evangelische Mystik, 210–218. 10 WA 45, 599, 9–15.
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und geschehen, es ist aber im Gang und Schwange. Es ist nicht das Ende, es ist aber der Weg. Es glühet und glänzt noch nicht alles, es bessert sich aber alles“.11
Dieses Wort bringt die Dialektik und damit einhergehende Dynamik von Luthers Erfahrungsbegriff prägnant zum Ausdruck. Auch wenn der Christ seine eschatologische Vollendung noch vor sich hat, beginnt doch der neue Mensch bereits in diesem Leben in ihm Gestalt zu gewinnen. Parallel zur Rehabilitierung der Kategorie der Erfahrung setzte sich in der Praktischen Theologie nach der empirischen Wende die Einsicht durch, dass der christliche Glaube kein bloßes Bewusstseinsphänomen darstellt, sondern legitimerweise auch in kirchlich-liturgischen, familiären oder privaten rituellen Handlungen ausgedrückt wird. Bei der Wiederentdeckung von Ritual und Symbol spielte die Erkenntnis eine Rolle, dass der evangelische Glaube als Religion verstanden werden kann, dass Elemente der Natur Schöpfungsgaben Gottes sind und dass leiblichen Vollzügen der feiernden Gläubigen ein legitimer Platz in evangelischen Gottesdiensten zukommt. In der Konsequenz wurden für die Praktische Theologie Entdeckungen in Soziologie, Ethnologie und Kulturanthropologie zur Bedeutung ritueller Handlungen in religiösen und anderen Gemeinschaften wichtig, nicht zuletzt in Situationen von biologischen und sozialen Lebensübergängen (z. B. Geburt, Heirat, Pensionierung, Tod).12 An die Stelle des früheren theologischen Misstrauens ist inzwischen die Sorge getreten, wie weithin vergessene christliche Rituale in einer enttraditionalisierten Gesellschaft (und Kirche) so vermittelt werden können, dass sie liturgisch und seelsorgerlich gelingen.13 Kirchliche Bräuche und Rituale werden nicht mehr als Gegensätze zum Wort Gottes gesehen, sondern als notwendige Formen, in denen dieses seine je eigene Gestalt für den Menschen mit seinen verschiedenen Sinnen finden kann.
1.3
Gründe für die Wiederentdeckung von Ritual und Symbol
Die Wiederentdeckung von Ritual und Symbol war kein bloß kirchliches, sondern ein gesamtgesellschaftliches Phänomen.14 Zur Illustration eine autobiografische Erfahrung: Nicht lange vor dem Beginn der Passionszeit las ich in dem
11 WA 7, 336, 31–36 (Schreibweise modernisiert). 12 Gebhardt, Volksfrömmigkeit, in: Först/Schöttler (Hg.), Einführung in die Theologie der Pastoral, 105–128. 13 Kutzner/Pierel, Popularia, in: Fendler, Qualität im Gottesdienst, 320–328. 14 Vgl. dazu grundlegend Jetter, Symbol und Ritual.
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271
Buch „Feier des Lebens. Spiritualität im Alltag“ von Fulbert Steffensky15 folgende Sätze: „Umkehr, Buße, Durchbrechungen der Geläufigkeiten des Lebens hatten früher feste Orte und feste Zeiten. Es gab den Aschermittwoch mit seinen großartigen Gesten, der die Fastenzeit eröffnete. Menschen gingen zur Kirche. Sie hörten die Bußtexte der Propheten. Sie bekamen das Aschenkreuz auf die Stirn, und es wurde ihnen gesagt: „Gedenke, Mensch, dass du Staub bist und zum Staub zurückkehren wirst!“16
Als Protestant waren mir bis dahin solche kirchlich verordneten Rituale ein Gräuel. Ich hegte ihnen gegenüber den Verdacht, dass feste Formen eo ipso tote Formen sind und sie überdies einer rein ritualisierten und routinierten Spiritualität Vorschub leisteten. Nach dem Motto: Schon der Vollzug des Rituals führt zum Heil. Die notwendige Umkehr des Herzens aber wird übersehen. Dennoch ließen mich Steffenskys Überlegungen nicht mehr los. Der Skiurlaub in Österreich stand bevor. Am Aschermittwoch verzichtete ich zum Unverständnis der Miturlauber auf die Skipiste, um an einem römisch-katholischen Gottesdienst teilzunehmen – und mir ein Aschenkreuz auf die Stirn zeichnen zu lassen. Dabei ging mir zum ersten Mal eine Ahnung davon auf, dass geprägte sinnliche Zeichen hilfreich sein können, eine spirituelle Wahrheit mit der ganzen Existenz zu erfassen. Es begann ein Prozess, währenddessen ich die Bedeutung von Ritualen und Symbolen für die evangelische Spiritualität mehr und mehr zu verstehen begann. Für die theologische Wiederentdeckung von Ritual und Symbol war eine Reihe von Gründen verantwortlich. 1. Unbestreitbar besitzt der Glaube eine menschliche Seite. Er ist eben nicht bloß 1000 Klafter über dem Meer erbaut, wie Kierkegaard meinte. Weil dem so ist, ist es unerlässlich, sich der Vollzugsseite des Glaubens auch wissenschaftlichtheologisch zuzuwenden. 2. Einer rein systematisch-theologischen Betrachtungsweise des Glaubens fehlt das methodische Instrumentarium, um den menschlichen Aspekt des Glaubens angemessen erfassen zu können. 3. Für ein sachgemäßes Verständnis des Glaubens müssen göttliches und menschliches Handeln aufeinander bezogen werden. Der Bezug zwischen göttlichem und menschlichem Handeln im Glauben lässt sich theologisch von einem trinitarischen Gottesverständnis her begründen. Eine solche Begründung liegt auf der Hand, zumal christlicher Glaube immer Glaube an den dreieinigen Gott ist. Dadurch wird es möglich, den Glauben nicht bloß von seinem Christusbezug her zu betrachten, wie es die dialektische Theologie tat,
15 Steffensky, Feier des Lebens. 16 A. a. O., 119.
272
Peter Zimmerling
sondern ihn auch in seiner Beziehung zum Schöpfer und zum Heiligen Geist wahrzunehmen.17 Durch den Bezug zum Schöpfer ist es möglich, die gesamte Wirklichkeit des Menschen, also alle fünf Sinne – und nicht nur das Hören – im Glaubensvollzug theologisch zu berücksichtigen. Die trinitarische Ausrichtung des Glaubens macht den Weg frei, das menschliche Handeln theologisch in den Blick zu nehmen. 4. Der Glaube kommt ohne Rituale und Symbole nicht aus. Der Ritualbegriff erlaubt, diese rituelle Seite des Glaubens wissenschaftlich wahrzunehmen. Von Natur aus besitzt das Ritual ein Doppelgesicht. Es vermag einen Raum der Freiheit zu eröffnen, kann aber andererseits auch festlegen und einengen. Indem ich eine spirituelle Handlung als Ritual identifiziere, bin ich dem Ritual nicht länger ausgeliefert. So werde ich fähig, mich bewusst und freiwillig auf ein Ritual einzulassen. 5. Die Verwendung des Ritualbegriffs im Hinblick auf den Glaubensvollzug empfiehlt sich auch deshalb, weil er theologische Erkenntnisse im Hinblick auf die Humanwissenschaften kommunikabel macht. Diese haben die beschriebene Ambivalenz des Rituals näher erforscht. Freud hat noch im Zusammenhang mit seiner Religionskritik – er verstand diese als kollektive Zwangsneurose – Rituale „als Ausagieren zwangsneurotischer Fixierungen“ definiert.18 Sie müssen in der Therapie bewusst gemacht und damit überwunden werden. Einen positiveren Ritualbegriff haben spätere Psychologen und Soziologen entwickelt. Für Erik H. Erikson ist das Ritual Voraussetzung und damit Vorstufe von Sozialität. Nur ein ritualfähiges Kind wird später fähig sein, sozial zu agieren. George H. Mead geht davon aus, dass Rituale als Interaktionen unerlässlich zur Identitätsbildung sind. Es braucht den Schutz, d. h. die Verlässlichkeit von Ritualen, um vom Ich zum Selbst zu werden. Schließlich stellt E. Durkheim fest, dass Rituale auch gesamtgesellschaftliche Auswirkungen haben, d. h. der Stabilisierung bzw. der Transformierung einer Gesellschaft dienen. Auf den Glauben bezogen heißt das: Rituale dienen der Stabilisierung und Transformierung christlicher Gemeinschaften; sie sind für die Sozialisierung des Glaubens unverzichtbar. Gleichzeitig sind sie für den einzelnen Christen notwendig, um zu Glaubensgewissheit (Identitätsbildung) und Kommunikation des Glaubens (soziale Interaktion) zu kommen. 6. Ein letzter Grund für die wachsende Sehnsucht vieler Menschen nach symbolischer und ritueller Vergewisserung des Glaubens ist in folgender Tatsache zu suchen: Um in der postmodernen Risikogesellschaft emotional überleben zu können, braucht es Rituale und Symbole, die Verlässlichkeit ins Leben
17 Vgl. im Einzelnen Grethlein, Abriß der Liturgik, 29ff. 18 Meyer-Blanck, Inszenierung des Evangeliums, 45f.
Evangelische Spiritualität und Volksfrömmigkeit
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bringen. Diese Sehnsucht wird angesichts der prognostizierten Zunahme des globalen Risikopotenzials in Zukunft sogar noch stärker werden.19 Die Furcht vor der Fremdbestimmung des Glaubens durch Vorgaben von Institutionen und Traditionen hat jahrelang dazu geführt, dass der moderne Protestant eine übergroße Skepsis gegenüber Ritualen und Symbolen entwickelte. Dadurch ist jedoch der Glaube insgesamt brüchig geworden. Es herrschte und herrscht z. T. noch heute eine allgemeine spirituelle Stummheit und Sprachlosigkeit. Um noch einmal Fulbert Steffensky zu zitieren, der ein treffliches Bild für diese Situation verwendet: „Wir sind Leute, die sagen: Es ist herrlich, Brot im Schrank zu haben, die aber kaum von diesem Brot essen. Wir lesen nicht in der Bibel, wir beten wenig, wir gehen nicht zum Gottesdienst. Wir kennen die Beichte nicht mehr, die Gewissenserforschung. Wir kennen die eigenen Lieder nicht mehr, vergessen die eigenen Geschichten“.20
Rituale und Symbole haben den Vorteil, dem Glauben zur Gestaltwerdung zu verhelfen und ihm dadurch auch über dürre Zeiten hinwegzuhelfen. Sie waren in der Vergangenheit für die Mütter und Väter des Glaubens unerlässlich, ihren Glauben zu bewahren. Dazu kommt, dass wir heute in einer weithin durchrationalisierten und technisierten Gesellschaft leben, die Transzendenz und Geheimnis kaum noch zu fassen vermag. Rituale und Symbole können angesichts dieser Situation deutlich machen, dass die Wägbarkeit und Messbarkeit der Dinge nicht ihr ganzes Wesen erfassen. Sie zeigen, dass die sichtbare Welt noch einmal umgriffen wird von einer größeren Wirklichkeit – biblisch gesprochen: von der unsichtbaren Welt Gottes. In der „Stundentrommel vom Berg Athos“ von Erhart Kästner findet sich dazu folgende Illustration: „Weiß man den Grund, warum Kinder ein solches Verlangen nach dem Festgelegten, nach dem sich Wiederholenden haben? Immer wieder muß man das Märchen erzählen, dasselbe Märchen. So muß es heißen, so muß es sein. Kein Satz darf sich ändern, die Reihenfolge muß stimmen. Das ist die Lust am Geprägten […] Wiederkehr schafft kleine Lust. Und immer erhöhte […] so wird wiederholtes Glück immer höher und höher das ganze Leben entlang. Neben dem Drang, die Welt zu gewinnen, liegt ein eingeborener Drang, immer Selbes aus uralten Formen zu prägen. In Riten fühlt die Seele sich wohl. Das sind ihre festen Gehäuse. Hier lässt es sich wohnen […] Der Kopf will das Neue, das Herz will immer dasselbe“.21
19 Beck, Risikogesellschaft. 20 Steffensky, Feier des Lebens, 120. 21 Kästner, Stundentrommel, 87f.
274 1.4
Peter Zimmerling
Die Bedeutung von Volksfrömmigkeit und religiöser Volkskunde für die evangelische Spiritualität. Zukünftige Aufgaben
Meine These ist: Die Volksfrömmigkeit stellt eine legitime Ausdrucksform des evangelischen Glaubens dar. Sie ist theologisch eine Konsequenz der Inkarnation und anthropologisch eine Folge der Ganzheitlichkeit des Menschen. Bisher hat die evangelische Theologie, soweit ich sehe, noch kein überzeugendes Instrumentarium entwickelt, um z. B. das Phänomen von spirituellen Traditionen der Volksfrömmigkeit wahrzunehmen und angemessen damit umzugehen. Im Lauf ihrer Geschichte schwankte sie zwischen radikaler Ablehnung und Anpassung. Wie gehen wir theologisch mit der Beobachtung um, dass Kirchenräume im Bewusstsein vieler Menschen „heilige Räume“ sind, von denen sie Vergewisserung und Halt angesichts einer Risikogesellschaft erwarten?22 Wie gehen wir damit um, dass es in den letzten Jahren zu einer Renaissance des Pilgerns gekommen ist? Viele, auch säkulare, Menschen bezeugen, dass sie auf dem 1000 Jahre alten Jakobsweg spirituelle Erfahrungen gemacht haben, die ihnen für ihr weiteres Leben neue Perspektiven eröffnet haben.23 Spätestens seit dem 19. Jahrhundert zeichnet sich evangelische Spiritualität durch eine Forcierung von Subjektivismus und Innerlichkeit aus. Die Volksfrömmigkeit hält demgegenüber im Bewusstsein, dass auch der protestantische Glaube auf Dauer ohne soziale Verankerung, theologisch gesprochen ohne seine ekklesiologische Dimension, zum Absterben verurteilt ist.24 Wir wissen heute, dass die religiöse Wahlfreiheit eines Menschen keineswegs so groß ist wie früher angenommen. Der Habitus, der jedem Menschen aufgrund von Herkunft und Erziehung vermittelt wird, ist zumindest mitentscheidend für sein späteres religiöses Verhalten. Dieser Habitus ist vorbewusst und wird z. B. nicht zuletzt durch das in der Familie gepflegte religiöse Brauchtum bestimmt. Im Protestantismus ließ sich seit den 1960er Jahren eine regelrechte Phobie vor der Form beobachten.25 Die Angst vor der toten Form führte zur Ablehnung von festen Formen überhaupt.26 Dem Mangel an spirituellen Formen stehen exegetische Beobachtungen, die Selbstverständlichkeit spiritueller Formen bei den Reformatoren und neuere humanwissenschaftliche Einsichten entgegen. 22 Zimmerling, Heilige Räume, 23–32. 23 Kerkeling, Ich bin dann mal weg. 24 Darauf haben aufgrund der letzten Kirchenmitgliedschaftsuntersuchungen vor allem Detlef Pollack und neuerdings auch Gert Pickel immer wieder hingewiesen (Pollack/Pickel (Hg.), Religiöser und kirchlicher Wandel; Pollack, Der Zusammenhang zwischen kirchlicher und außerkirchlicher Religiosität in Ostdeutschland im Vergleich zu Westdeutschland, in: Pollack/Pickel, Religiöser und kirchlicher Wandel, 294–309; Pollack, Säkularisierung). 25 Grethlein, Lebensformen, 114. 26 Vgl. z. B. Steffensky, Was ist liturgische Authentizität, 105–116.
Evangelische Spiritualität und Volksfrömmigkeit
275
Angesichts der heutigen Pluralität spiritueller Angebote – die Kirchen haben längst ihr religiöses Monopol verloren –, aber auch des Lebens in einer Risikogesellschaft „[bedarf] die Bewahrung und Weitergabe von grundlegendem Orientierungswissen […] einer Absicherung durch Symbole und Riten“.27 Mit dem früheren Erlanger Praktischen Theologen Manfred Seitz gesprochen: „Einen Glauben, der nicht gestaltet ist und bloß als gedacht und in Gedanken existiert, verweht der Wind“.28 Lange Zeit wurden vor allem im Protestantismus die emotionale und die sinnliche Seite des Glaubens übersehen bzw. zurückgedrängt. In Zukunft wird es darum gehen, mit der Erkenntnis Ernst zu machen, dass der Glaube nicht allein Sache von Verstand und Willen, sondern genauso Angelegenheit von Emotionalität und Sinnlichkeit ist! „Gerade die geistig beanspruchten Menschen suchen vielfach mehr als eine weitere intellektuelle Anstrengung in der Religion. Immer mehr Menschen wollen den Glauben nicht nur denken, sondern auch spüren“.29 In der Informationsgesellschaft scheint sich das Interesse des Menschen primär auf das Erleben der eigenen Körperlichkeit zu konzentrieren. Die verstärkte Sehnsucht nach Selbstvergewisserung durch Selbsterfahrung wird auf dem Hintergrund einer permanenten Reizüberflutung verständlich. Ob (gerade auch junge) Menschen zur evangelischen Spiritualität Zugang finden, entscheidet sich daran, ob ihre Sinnlichkeit und Emotionalität darin vorkommen. Auch die Natur wurde im Rahmen evangelischer Spiritualität lange vernachlässigt. Dem steht heute die Sehnsucht vieler Menschen nach intensiven Naturerfahrungen gegenüber, die angesichts fortschreitender Überlagerung der Natur durch die technisierte Zivilisation in den Industrienationen und den damit verbundenen progressiven Erfahrungsverlusten nur zu verständlich ist. Wo eröffnet evangelische Frömmigkeit Menschen die Chance, Gottes Schöpferkraft in der Natur wahrzunehmen und lässt die geschaffene Welt durchsichtig werden für die Realität Gottes? Pilgern als Ausdruck der Volksfrömmigkeit, das in allen Konfessionen seit einigen Jahren eine Renaissance erlebt, stellt eine Möglichkeit dazu dar. Auf dem Weg zu einem angemessenen Umgang mit dem Phänomen der Volksfrömmigkeit ist es zunächst nötig, diese mithilfe der religiösen Volkskunde angemessen, d. h. möglichst vorurteilsfrei wahrzunehmen. Gleichzeitig ist es unerlässlich, theologische Kriterien zu entwickeln, um sie von Aberglauben und Magie zu unterscheiden. Eine zukünftige Aufgabe der Praktischen Theologie könnte darin bestehen, darauf zu achten, dass die Volksfrömmigkeit sich nicht verselbstständigt und den Glauben überfremdet. Auf diesem Hintergrund wird 27 Grethlein, Lebensformen, 115. 28 Seitz, Art. Frömmigkeit II, 676. 29 Meyer-Blanck, Inszenierung des Evangeliums, 133.
276
Peter Zimmerling
es möglich, die Volksfrömmigkeit mit ihrem Brauchtum als Darstellungshilfe für den Glauben zu erkennen. In Lourdes begegnete mir vonseiten des offiziellen römischen Katholizismus der Versuch, die Anerkennung der volkstümlichen Marienfrömmigkeit mit einer behutsamen Orientierung und Korrektur von einem christologischen Ansatz her zu verbinden. Nur eine vom Evangelium geprägte, d. h. von diesem inspirierte, orientierte und korrigierte Volksfrömmigkeit kann helfen, dieses zu bewahren und an die nächste Generation weiterzugeben. Die Volksfrömmigkeit stellt eine nicht zu unterschätzende Brücke dar, um Konfessionslosen die Beschäftigung mit dem christlichen Glauben zu ermöglichen. Es wäre ein lohnendes Forschungsprojekt, einmal der Frage nachzugehen, ob die protestantische Skepsis gegenüber der Volksfrömmigkeit und dem religiösen Brauchtum den neuzeitlichen Säkularisierungsprozess der europäischen Gesellschaften beschleunigt hat. In protestantischen Gebieten sind längst – abgesehen von den Kirchengebäuden – alle religiösen Markierungen aus dem Landschaftsbild verschwunden. In katholischen Gegenden halten dagegen bis heute die überall in der Landschaft unübersehbaren Wallfahrtskirchen und -kapellen, Wegkreuze und Kreuzwege die Erinnerung an Gottes Präsenz in der Welt sinnenfällig fest.
2.
Advents- und Weihnachtsfrömmigkeit im sächsischen Erzgebirge
Im Folgenden soll am Beispiel der Advents- und Weihnachtsfrömmigkeit im sächsischen Erzgebirge gezeigt werden, welche Bedeutung die Volksfrömmigkeit für evangelische Spiritualität besitzen kann und welche Herausforderungen sich daraus für die zukünftige Gestalt evangelischer Frömmigkeit ergeben.
2.1
Das sächsische Erzgebirge – Weihnachtsland
Erzgebirge und Erzgebirgsvorland sind, soweit ich sehe, die einzigen Gegenden Deutschlands, in denen sich evangelische Volksfrömmigkeit, Brauchtum und Volkskunst nachhaltig durchdrungen haben. Das zeigt sich besonders in der Advents-und Weihnachtszeit. Jeder Besucherin und jedem Besucher fällt auf, wie stark das Advents- und Weihnachtsbrauchtum mit der damit verbundenen Volksfrömmigkeit und Volkskunst diese Wochen bestimmen. Kunstvolle Lichterbögen, Schwibbögen genannt, stehen in fast allen Fenstern, sodass die Dörfer von weitem wie Sterne in der Dunkelheit funkeln. Die Zimmer sind mit den
Evangelische Spiritualität und Volksfrömmigkeit
277
verschiedensten Schnitzereien geschmückt, die z. T. von Generation zu Generation vererbt werden: Engel und Bergmann, Kurrendenchöre, Pyramiden, Spinnen (meist bunt bemalte gedrechselte Kronleuchter aus Holz). In manchen Häusern haben sich sogar bis heute sog. Weihnachtsberge erhalten: Es handelt sich dabei um eine auf ein bestimmtes Zimmer zugeschnittene, handwerklich kunstvoll hergestellte Folge von unterschiedlichen Szenen der Weihnachtsgeschichte.30 Fast jeder Ort besitzt seine eigene, unterschiedlich gestaltete, z. T. häusergroße Weihnachtspyramide.31 Zum Programm der zahlreichen Weihnachtsmärkte gehört das Blasen der Advents- und Weihnachtschoräle vom Kirch- oder Rathausturm durch den Posaunenchor und das Singen der Lieder durch unterschiedliche Chöre. Eine Besonderheit in der Erzgebirgsregion sind auch die Umzüge der traditionellen Bergwerks-Knappschaften, die in ihren farbigen Uniformen unter Instrumentenspiel durch die Straßen ziehen. Dabei scheint die für das Erzgebirge typische Bergmannsfrömmigkeit über die Reformation bis ins Mittelalter zurückzureichen und das kollektive Gedächtnis der Menschen bis heute tief zu prägen.32 Aufgrund ihrer Nähe zu reformatorischer Frömmigkeit hat sie sich dieser sehr schnell geöffnet. Beide verband ihre Intensität, im Erzgebirge begründet in der Gefährlichkeit der Arbeit unter Tage, aber auch inhaltliche Ähnlichkeiten, wie z. B. die starke Bedeutung der Lichtsymbolik. Die jahrhundertelang gewachsene enge Verbindung von Volksfrömmigkeit, Brauchtum und Volkskunst hat im Erzgebirge wesentlich dazu beigetragen, dass sich volkskirchliche Verhältnisse durch die ganze SED-Herrschaft hindurch halten konnten. Allein diese Tatsache sollte Grund genug sein, die Bedeutung der Volksfrömmigkeit für Theologie und Kirche neu zu bedenken. Die Advents- und Weihnachtsfrömmigkeit im sächsischen Erzgebirge belegt: Die Pflege der (noch) vorhandenen volksreligiösen Vorstellungen und Rituale stellt einen wichtigen Aspekt der Mitgliederbindung für die evangelische Kirche dar und bildet einen nicht zu unterschätzenden Anknüpfungspunkt, um gerade Konfessionslosen eine Brücke zum christlichen Glauben zu bauen.
30 Peschel/Neuland-Kitzerow, Weihnachtspyramiden, 29ff. 31 A. a. O., 81–88. 32 Vgl. dazu im Einzelnen Meinel/Wenzel (Hg.), Hinab, die Glocke ruft; Schmidt-Brücken/ Richter, Der Erzgebirgschronist Christian Lehmann; Kandler (Hg.), Freiberger Bergpredigten; Naumann, Georgius Agricola.
278 2.2
Peter Zimmerling
Evangelische Spiritualität – Weihnachtsspiritualität?
Volkskirchliche Spiritualität ist auch außerhalb der sächsischen Erzgebirgsregion in Deutschland heute weithin Weihnachtsspiritualität.33 Das belegen nicht zuletzt prozentual kontinuierlich steigende Gottesdienstteilnehmerzahlen am Heiligen Abend (zwischen 25 und 30 % der Kirchenmitglieder; im Osten sind es sogar über 50 %, wobei diese Zahl wahrscheinlich vom hohen Anteil Konfessionsloser mitbedingt ist). Viele Heilig-Abend-Kirchgänger bezeichnen sich als regelmäßige Kirchgänger. Als Festtagskirchgänger34 haben sie den traditionellen Wochenrhythmus des Kirchenjahrs mit dem Jahresrhythmus von Weihnachtsfest zu Weihnachtsfest vertauscht. Kein anderes Fest wird in unserer Gesellschaft so ausgiebig gefeiert. Spätestens nach der Jahresmitte tritt es jedes Jahr neu sukzessive ins gesellschaftliche Bewusstsein. Auswahl und Kauf der Geschenke, aber auch die Planung des Festes nehmen die Gedanken viele Wochen, ja Monate in Beschlag. Auch wenn in der DDR-Zeit der zweite Feiertag an Ostern wegfiel, wagte es das SED-Regime nicht, auch den zweiten Weihnachtsfeiertag abzuschaffen.
2.3
Ursachen und Hintergründe der heutigen Weihnachtsspiritualität
Lange herrschte die Vorstellung, dass das Weihnachtsfest und sein Brauchtum eine uralte Tradition darstellen. Erst im Lauf der letzten Jahrzehnte haben Volkskundler herausgearbeitet, dass das nur bedingt stimmt. Das Weihnachtsfest hat sich im Verlauf seiner langen Geschichte immer wieder verändert. In seiner heutigen Gestalt ist es sogar eine relativ moderne Erscheinung – besitzt allerdings bereits antike und vor allem reformatorische Wurzeln. Germanisierung des Christentums Mit der Germanisierung des Christentums nach der Völkerwanderung war die Naturalisierung des Weihnachtsfestes verbunden. Indem der Heilige Abend im Westen in unmittelbare Nähe zur längsten Nacht und zum kürzesten Tag des Jahres gelegt wurde, knüpfte das Kirchenjahr gleichermaßen an das Fest des „sol 33 Die Bezeichnung volkskirchlicher Spiritualität als „Weihnachts-Christentum“ oder als „Heiligabend-Religion“ stammt m. W. von Matthias Morgenroth, einem promovierten Theologen, der als Journalist arbeitet. Es gibt inzwischen eine Reihe von Artikeln und Büchern zum Thema. Ich verweise auf vier Titel: Morgenroth, Weihnachts-Christentum; ders., Heiligabend-Religion; Schleiermacher, Die Weihnachtsfeier; Nowak, Schleiermacher. Leben, Werk, Wirkung (enthält eine Auslegung von Schleiermachers Weihnachtsfeier). 34 Zum Phänomen vgl. Rau, Rehabilitation des Festtagskirchgängers, in: Seitz/Mohaupt (Hg.), Gottesdienst und öffentliche Meinung, 92.
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invictus“, der unbesiegten Sonne, einer römischen Gottheit, und an Vorstellungen aus der germanischen Mythologie an. Christus als das Licht der Welt erscheint mitten in der Vegetationspause. Danach werden die Tage wieder länger und die Nächte kürzer. Der Weihnachtsfestkreis mit dem Heiligen Abend als Auftakt wird im Abendland gefeiert. Die östliche Orthodoxie begeht den 6.1., das Epiphaniasfest, als Weihnachtsfest. Martin Luther – der erste neuzeitliche Weihnachtschrist? Ein Sprichwort sagt: Jedes Fass riecht nach dem ersten Guss. Das gilt auch für die evangelische Spiritualität. Man kann Martin Luther als den ersten neuzeitlichen Weihnachtschrist bezeichnen.35 Ein Grunddatum von dessen Spiritualität ist die Inkarnation, die Geburt des Gottessohnes als Kind in der Krippe von Bethlehem. Besonders eindrucksvoll bringt der Reformator die Konzentration seines Glaubens auf die Geburt in der Krippe im Lied „Vom Himmel hoch, da komm ich her“ (EG 24) zum Ausdruck. Es gewann nicht ohne Grund den Charakter eines Volkslieds. In ihm schlägt das Herz von Luthers Glauben. „Euch ist ein Kindlein heut geborn, von einer Jungfrau auserkorn, ein Kindelein so zart und fein, das soll eu’r Freud und Wonne sein“ (Strophe 2). „Merk auf, mein Herz, und sieh dorthin; was liegt doch in dem Krippelein? Wes ist das schöne Kindelein? Es ist das liebe Jesulein“ (Strophe 7). „Ach mein herzliebes Jesulein, mach dir ein rein sanft Bettelein, zu ruhn in meines Herzens Schrein, dass ich nimmer vergesse dein“ (Strophe 13). Offenbarungstheologische und soteriologische Gründe sind gleichermaßen dafür verantwortlich, dass das Weihnachtsgeschehen zu einem herausragenden Orientierungspunkt von Luthers Spiritualität wurde. Im Kind in der Krippe ist Gott dem Menschen unüberbietbar nahegekommen. Hier ist Gott anfassbar geworden. „Ach Herr, du Schöpfer aller Ding, wie bist du worden so gering, dass du da liegst auf dürrem Gras, davon ein Rind und Esel aß!“ (EG 24, 9). Das Jesuskind ist für Luther der klarste Spiegel der väterlichen Liebe Gottes: „Unter allen geboten [Gottes ist das] hohest, das man seinen lieben Son unsern [herrn Jhesum Christum sollen fuer] uns bilden, der sol unsers hertzen [teglicher und fuernemster Spiegel] sein, darin wir sehen, wie lieb uns [Gott hat und wie er so hoch als] ein frumer Gott fur uns hat gesorget, das er auch [seinen lieben Son fuer] uns gegeben hat“.36
35 Vgl. dazu Zimmerling, Spiritualität Martin Luthers, in: LuJ 73, 15–40 (bes. 26–29); Morgenroth, Weihnachts-Christentum,175–196. 36 WA Br 6, 87, 41–45.
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Die Bedeutung von Liedern und Musik Luthers Musikauffassung und Liedschaffen wurden auch im Hinblick auf die Bedeutung des Weihnachtsliedes und der Weihnachtsmusik für die lutherische Tradition beispielgebend. Sie prägten damit die sich ausbildende Weihnachtsspiritualität. Paul Gerhardts Advents- und Weihnachtslieder zeichnen sich aufgrund der Betonung des Ichs des Gläubigen durch große Innigkeit aus. Gerhardt besingt den Glauben in seinen Liedern nicht bloß als nüchterne Angelegenheit des Verstandes. Schon Philipp Melanchthon hat dazu in der Einleitung zu seinen Loci communes von 1521 in einer klassisch gewordenen Formulierung den Weg gebahnt: „Das ist Christum erkennen, seine Wohltaten erkennen, nicht, was dieselben [die Scholastiker] lehren, seine Naturen, die Art und Weise seiner Menschwerdung bedenken.“ Der Glaube an Gott muss die Emotionen einschließen, muss begeistern, muss ein Stück weit „sexy“ sein, wenn er das Herz des Menschen erreichen soll. Dass der Glaube an Gott die Liebe zu Gott einschließt, bringt Paul Gerhardt eindrucksvoll in seinem Weihnachtslied „Ich steh an deiner Krippen hier“ (EG 37) voller Zartheit in Strophe 7 zum Ausdruck: „Nehmt weg das Stroh, nehmt weg das Heu,/ ich will mir Blumen holen,/ dass meines Heilands Lager sei/ auf lieblichen Violen;/ mit Rosen, Nelken, Rosmarin/ aus schönen Gärten will ich ihn/ von oben her bestreuen“. Viele Menschen schenken sich als Zeichen ihrer Liebe Blumen. Paul Gerhardt greift das Bild auf und steigert es noch, um seine Liebe zu Jesus zum Ausdruck zu bringen: Er will Jesus ein Bett von Veilchen bereiten und überdies von oben Blumen regnen lassen. Violen, Rosen, Nelken und Rosmarin sollen mit ihrer Schönheit und ihrem Duft der Liebe sinnenfälligen Ausdruck verleihen. Neben Advents- und Weihnachtsliedern spielen geistliche Weihnachtsmusiken für das Weihnachtschristentum heute eine wichtige Rolle. Auch sie gehen auf Entwicklungen zurück, die weit in die Geschichte der evangelischen Spiritualität zurückreichen. Für das Lied „Ich steh an deiner Krippen hier“ hat Johann Sebastian Bach nicht nur (als einzigem Lied im EG) die Melodie geschaffen, sondern dessen erste Strophe auch im musikalischen Zentrum von Teil VI seines Weihnachtsoratoriums platziert.37 Bis zur Friedlichen Revolution 1989 wurde in fast allen Kirchgemeinden Leipzigs in der Adventszeit regelmäßig das Weihnachtsoratorium aufgeführt. Die Aufführungen waren allesamt gut besucht. Auch für viele Konfessionslose war der Besuch ein Muss. Wie lässt sich die Beliebtheit des Weihnachtsoratoriums bei Christen und Nichtchristen erklären? Mehrere Ursachen sind dafür verantwortlich. Dazu gehört die große Bandbreite der Empfindungen, die in ihm zum Ausdruck gebracht wird. Das menschliche Leben wird darin in seiner ganzen Fülle, mit seinen Höhen und Tiefen, thema37 Bunners, Paul Gerhardt, 268f.
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tisiert: Geburt und Tod, tiefste Trauer und höchste Freude, bitterer Hass und innigste Liebe, schreckliches Leiden und völliges Glück. Bach ist es in seinem Oratorium gelungen, die ganze Welt zum Klingen zu bringen. Im Kosmos von Bachs Musik fühlen sich alle Menschen angesprochen. Darüber hinaus lässt sie selbst säkulare Zeitgenossen unaufdringlich eine Ahnung davon gewinnen, dass es jenseits der Kerkermauern des eigenen Ichs noch eine andere Welt gibt. Die Genialität von Bachs Kompositionskunst besteht darin, dass die Musik mit den gesungenen Worten korrespondiert und so in ihrem Inhalt noch verstärkt wird. Dadurch werden Tiefenschichten im Menschen angesprochen, die durch das gesprochene Wort nur schwer erreicht werden. Die häufig wiederholte Botschaft der Arien vermitteln der stressgeplagten Seele eine unvergleichliche Ruhe und Gewissheit. Besonders berührt in Bachs Kirchenmusik die Verbindung von Leben und Glauben, von Alltag und Frömmigkeit. Diese Musik ist so tief und reich, dass man immer Neues entdecken kann. In jedem Jahr eröffnen sich andere Dimensionen. Je häufiger man sie hört, desto tiefer erfasst sie einen.
Hohes Fest der bürgerlichen Moderne seit dem 19. Jahrhundert Nicht zuletzt durch Friedrich Schleiermacher kam es Anfang des 19. Jahrhunderts zur Privatisierung der Weihnachtsfeier, wie wir sie heute kennen, nachdem in der Aufklärung die Weihnachtsmette zu einer Silvesterfeier entartet war. Schleiermachers Büchlein „Die Weihnachtsfeier. Ein Gespräch“, Weihnachten 1805 verfasst und Anfang 1806 erschienen, beginnt mit folgenden Sätzen: „Der freundliche Saal war festlich geschmückt, alle Fenster des Hauses hatten ihre Blumen an ihn abgetreten; aber die Vorhänge waren nicht heruntergelassen, damit der hereinleuchtende Schnee an die Jahreszeit erinnern möchte. Was von Kupferstichen und Gemälden sich auf das heilige Fest bezog, zierte die Wände, und ein paar schöne Blätter dieser Art waren das Geschenk der Hausfrau an ihren Gatten. Die zahlreich und hoch gestellten durchscheinenden Lampen verbreiteten ein feierliches Licht, welches doch zugleich schalkhaft mit der Neugierde spielte“.38
Das Weihnachtszimmer ist hier zur „Privatkathedrale“ geworden.39 Schleiermacher konnte damit an das Lebensgefühl der damaligen Zeit, an Romantik und Biedermeier anknüpfen. Gleichzeitig griff er die in evangelischer Spiritualität festverwurzelte reformatorische Hauskirche auf.40 Von Anfang an ruhte evangelische Frömmigkeit neben dem öffentlichen Gottesdienst in der Kirche als 38 Schleiermacher, Die Weihnachtsfeier, 5. Eine instruktive Auslegung findet sich bei: Nowak, Schleiermacher, 163–173. 39 Morgenroth, Weihnachts-Christentum, 31. 40 Rosenstock, Luthers Volkstum und die Volksbildung, in: ders./Wittig, Das Alter der Kirche, 675–728.
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zweiter Säule auf der Hauskirche, zu der sämtliche Mitglieder einer Großfamilie gehörten. Kennzeichnend für die reformatorische Hauskirche war die tägliche Hausandacht, von Hausvater und Hausmutter gehalten, für die Luther den Kleinen Katechismus verfasste und Paul Gerhardt später einen Großteil seiner Lieder dichtete, bevor sie durch den älteren Pietismus Eingang in den öffentlichen Gottesdienst fanden. Schleiermachers Privatisierung der Weihnachtsfeier war somit nicht ohne Anknüpfungspunkt in der religiösen Tradition. Entwicklung des Advents- und Weihnachtsbrauchtums Im Gefolge der Neuformierung der evangelischen Hauskirche durch Schleiermacher und ihrer Konzentration auf Adventszeit und Weihnachtsfest entfaltete sich im 19. und 20. Jahrhundert ein reiches Brauchtum. Auch wenn die Wurzeln des Weihnachtsbaums bereits im evangelischen Patriziertum Straßburgs und des Elsass an der Wende vom 16. zum 17. Jahrhundert liegen, setze er sich erst in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts und mit dem Ersten Weltkrieg europaweit als zentraler häuslicher Weihnachtsbrauch durch. Der heutige Adventskranz geht auf Johann Hinrich Wichern, den Organisator der Inneren Mission, zurück. Ein mit 24 Kerzen besteckter Holzreifen wurde erstmals 1839 im Rauhen Haus in Hamburg als eine Art Adventskalender benutzt. In seiner heutigen Gestalt mit vier Kerzen und Tannengrün wurde er durch die Jugendbewegung nach 1900 verbreitet.41 Wichern machte auch das Lied „Stille Nacht“ (EG 46) populär.42 Als er 1844 das katholische, im Protestantismus noch weithin unbekannte, Weihnachtslied in das Liederbuch des Rauhen Hauses aufnahm, änderte er in der zweiten Strophe die Zeile „Jesus, der Retter ist da“ in „Christ, der Retter ist da.“ Wichern betrachtete den Jesusnamen als heilsgeschichtlich nichtssagend. Bis heute wird die Strophe in der von Wichern veränderten Weise gesungen. Warum erfreuen sich die Weihnachtsmärkte bei alten und jungen Menschen wachsender Beliebtheit? Beim Schlendern über den traditionellen Weihnachtsmarkt vor dem Leipziger Alten Rathaus fiel mir auf: Durch die Gerüche, Töne und Bilder, die auf einen einströmen, durch den Geruch gebrannter Mandeln, durch anrührende Lieder, leuchtende Lichterketten und goldenes Engelshaar werden die Besucherinnen und Besucher unwillkürlich in das Land ihrer Kindheit versetzt. Sie erleben von Neuem dessen stille Wunder und bunten Träume. Kindheit, die Zeit, wo das Leben noch jung und unbeschwert war – in der Ad-
41 Böcher, Art. Licht und Feuer V, 116. 42 Vgl. im Folgenden Sattler, Johann Hinrich Wichern, in: Johann Hinrich Wichern – Erbe und Auftrag, 20.
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vents- und Weihnachtszeit wird alle Jahre wieder ein Stück davon Wirklichkeit. Deshalb sehnen sich nicht nur die Kinder nach dieser Jahreszeit. Von hier aus lässt sich die Faszination, die vom Kind in der Krippe auf kirchendistanzierte und säkulare Zeitgenossen ausgeht, ein Stück weit psychologisch erklären: Es soll nicht zuletzt die Sehnsüchte nach dem lang verlorenen Kinderland erfüllen. Bedeutungssteigerung durch Kommerzialisierung In der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts erfolgte eine zunehmende Kommerzialisierung des Weihnachtsfestes. Realistischerweise darf nicht übersehen werden, dass seine durch unsere Wohlstands- und Konsumgesellschaft ermöglichte Kommerzialisierung zur Bedeutungssteigerung des Weihnachtsfestes beigetragen hat. In ökonomischer Hinsicht zeigt sie sich daran, dass eine Reihe von Wirtschaftszweigen ohne das Weihnachtsgeschäft zum Niedergang verurteilt wäre. Empirische Untersuchungen belegen, dass sich das Wissen um den spirituellen Gehalt des Weihnachtsfests umgekehrt proportional zu seiner wirtschaftlichen Bedeutung verhält: Während immer weniger Menschen den spirituellen Grund des Weihnachtsfestes kennen, boomen die im Zusammenhang mit dem Weihnachtsfest stehenden Wirtschaftszweige. Nebenbei sei bemerkt, dass auch viele kirchliche und weltliche karitative Hilfsorganisationen nicht überleben könnten, wenn es die Advents- und Weihnachtszeit nicht gäbe. Sie führt den Organisationen nicht nur den Löwenanteil an Spendengeldern zu, sondern ermöglicht ihnen auch eine ausgeglichene Jahresbilanz.
2.4
Kennzeichen des heutigen Weihnachtschristentums
Orientierung am Fest: Ästhetisierung Die festliche Advents- und Weihnachtszeit strukturiert heute in weitem Maße den Lebensrhythmus der deutschen Gesellschaft. Das gilt unabhängig von der Glaubensüberzeugung des einzelnen Bürgers, auch unabhängig davon, ob und wieweit jemand den christlichen Ursprung des Festes kennt. In unserer Risikogesellschaft sind feststehende Lebensrhythmen notwendig, um emotional überleben zu können. Das jährlich wiederkehrende Weihnachtsfest bietet als Restbestand bzw. je nach Blickwinkel als Konzentrat des Kirchenjahres einen solchen Rhythmus. Für die weit überwiegende Mehrheit der evangelischen Kirchenmitglieder hat sich in den vergangenen Jahrzehnten der Wochenrhythmus im Kirchgangsverhalten zum Jahresrhythmus verschoben. Dem entspricht das
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bereits erwähnte veränderte Bewusstsein, dass Heilig-Abend-Kirchgänger sich bei Befragungen als „regelmäßige Kirchgänger“ einstufen. Nach Meinung des Soziologen Gerhard Schulze leben wir gegenwärtig in einer Erlebnisgesellschaft.43 Besondere Gottesdienste, in denen Erlebnismöglichkeiten eingebaut sind, erfreuen sich großer Beliebtheit. Dieses Kriterium wird von den Gottesdiensten an Weihnachten erfüllt. Vor einiger Zeit hatte ich in der Adventszeit ein Gespräch mit einer Friseurin im Friseursalon. Dabei erklärte sie – obwohl sie nach ihren eigenen Worten aus einer „anständigen atheistischen Familie“ stammte – dass sie mit ihrer kleinen Tochter an Weihnachten in die Kirche gehen wollte. Sie hätte nämlich gehört, dass da „etwas mit Tieren“ stattfände. Wie sich herausstellte, hatte sie ein Plakat gesehen, auf dem die Aufführung eines Krippenspiels im Familiengottesdienst am Heiligen Abend angekündigt wurde. Ein Beispiel aus meiner eigenen Praxis während des Vikariats bestätigt die Erlebnisorientierung vieler Heiligabend-Gottesdienste: Ich war verantwortlich für einen Familiengottesdienst, in dem auch ein Krippenspiel aufgeführt wurde und zudem jeder Gottesdienstbesucher eine brennende Kerze erhielt. Nicht Alltägliches zu erfahren, fasziniert viele Zeitgenossen. Dabei kamen zwei Dinge zusammen: Es ist weder alltäglich, im Gottesdienst ein Krippenspiel zu erleben, noch ist es alltäglich, im Gottesdienst eine brennende Kerze in der Hand zu halten. Gerade spirituelle Erlebnisse scheinen für viele Menschen einen hohen Erlebniswert zu besitzen. Es gibt eine Reihe von Beispielen, die erkennen lassen, dass die bloße Erlebnisorientierung den heutigen Zeitgenossen nicht mehr genügt. Erst wenn Erlebnisse eine Sakralisierung erfahren, sind sie mit der nötigen Weihe versehen, die ein geglücktes Leben verlangt. Religiöse Erlebnisse bieten anscheinend den ultimativen „Kick“, den viele Zeitgenossen ersehnen.
Sehnsucht nach Ganzheitlichkeit Die Weihnachts-Spiritualität ist stark von Emotionalität und Sinnlichkeit geprägt und stellt damit ein Gegengewicht zur traditionellen Orientierung der evangelischen Spiritualität am Intellekt dar. Heute erwarten Zeitgenossen vom christlichen Glauben weniger die Lösung weltanschaulicher Probleme, als vielmehr Hilfe im Diesseits, in ihrer konkreten Existenz, ihren Lebensproblemen und ihren Krankheiten.44 Die neue Suche nach Ganzheitlichkeit begann in den 1960er Jahren damit, dass man in den westlichen Industrienationen wieder legitim von Gefühlen reden durfte.45 Die in den Folgejahren sich ausbreitende Skepsis ge43 Schulze, Erlebnisgesellschaft. 44 Biser, in: „Das Christentum ist eine therapeutische Religion“, 453f, das Zit. 454. 45 Vgl. im Einzelnen: Spitzer u. a., Jesus People – nur eine Episode?
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genüber der Intellektualität und Technikgläubigkeit – aufgrund der mit Wissenschaft und Technik verbundenen Gefahren – hat in der Gegenwart zur Krise einer auf Intellektualität reduzierten Religiosität geführt. Im Mainstream des Protestantismus wurde die Frage nach Leiblichkeit und Sinnlichkeit lange Zeit sträflich vernachlässigt. Die Weihnachts-Spiritualität bietet eine Antwort auf derartige Defizite. Orientierung an Familie und Kind Weihnachten ist in Deutschland das klassische Fest der Familie. Dem entspricht, dass im Zentrum des Weihnachtsfestes die Geburt eines Kindes bzw. die Heilige Familie steht. Die zunehmende Brüchigkeit von Beziehungen in der Gesellschaft hat zur besonderen Bedeutung von Kindern geführt. Ulrich Beck schreibt: „Das Kind wird zur letzten verbliebenen, unaufkündbaren, unaustauschbaren Primärbeziehung. Partner kommen und gehen. Das Kind bleibt. […] Das Kind gewinnt mit dem Brüchigwerden der Beziehungen zwischen den Geschlechtern Monopolcharakter auf lebbare Zweisamkeit, auf ein Ausleben der Gefühle im kreatürlichen Hin und Her […]. In ihm wird eine anachronistische Sozialerfahrung kultiviert und zelebriert, die mit dem Individualisierungsprozeß gerade unwahrscheinlich und herbeigesehnt wird“.46
Fortschreitende Individualisierung und zunehmende Brüchigkeit von Beziehungen sind demnach paradoxerweise eine Erklärung für den guten Besuch von Gottesdiensten, in denen Kinder und deren Beziehung zu den Eltern eine hervorgehobene Bedeutung besitzen. Zu diesen Gottesdiensten gehört der Familiengottesdienst mit Krippenspiel am Heiligabend. Die soziologische Ursache für die Orientierung heutiger evangelischer Spiritualität an Kind und Familie korrespondiert mit einer theologischen. Offensichtlich fällt es einer wachsenden Anzahl von Menschen schwer, ihre Spiritualität mit dem Kreuz in Verbindung zu bringen. Schon Friedrich Schleiermacher integrierte den Karfreitag in das Weihnachtsfest. Er versuchte damit die reformatorische Weihnachtsbotschaft unter den Bedingungen des bürgerlichen Lebensgefühls seiner Zeit neu zu sagen.47
46 Beck, Risikogesellschaft, 193 (Hervorhebungen im Text). 47 Morgenroth, Weihnachts-Christentum, 107.93ff (mit Belegen).
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Herausforderungen an Theologie und Kirche
Die ungebrochene, in den letzten Jahren sogar kontinuierlich zunehmende Bedeutung des Weihnachtschristentums sollte alle an Theologie und Glaube Interessierten aufhorchen lassen. Dabei kann es in keiner Weise um eine Form von Herabsetzung des Weihnachtschristentums gehen. Vielmehr sollten Chancen und Probleme nüchtern erfasst werden. Die Beschränkung des christlichen Glaubens auf das Weihnachtschristentum oder gar die Heiligabend-Religion kann die Kirche nicht retten. Schon in der Vergangenheit war die Engführung des Glaubens auf bloß einen Artikel des Glaubensbekenntnisses höchst problematisch, wie z. B. das rationalistisch geprägte Christentum mit seiner Beschränkung auf den Ersten Artikel zeigt. Der christliche Glaube umfasst mehr als den Anfang des Zweiten Glaubensartikels: „… geboren von der Jungfrau Maria“. Bereits die Näherbestimmung dieser Geburt: „seinen eingeborenen Sohn […], empfangen durch den Heiligen Geist“ spielt in gegenwärtiger Weihnachtsspiritualität keine Rolle mehr. Die ausschließliche Orientierung des Weihnachtschristentums an Liebe und Mitmenschlichkeit führt zu seiner spirituellen Ausdörrung. Bereits im Verlauf des Heiligabends sind viele Feiernde dadurch überfordert. Ein dauerhaftes, von Liebe und Verständnis geprägtes Miteinander ist ohne Schuldeingeständnis und Vergebung nicht möglich. Hier rächt sich die Ausblendung des Kreuzes aus der Heiligabend-Spiritualität. Es ist nicht zu übersehen, dass das Weihnachtsbrauchtum immer stärker säkulare Inhalte an sich zieht. Die Kommerzialisierung und damit verbundene Banalisierung der Weihnachtsspiritualität schreitet voran. Dass es bereits Ende August Schokoladen-Weihnachtsmänner zu kaufen gibt, ist noch das kleinste Problem. Vielleicht kann angesichts dieser Situation die Besinnung auf Luthers Festhalten an der vielen fremd gewordenen altkirchlichen Christologie auf dem Weg zur Wiedergewinnung des spirituellen Gehalts des Weihnachtsfestes hilfreich sein. Jesus Christus ist nicht nur ein Mensch wie wir. Er ist, wie die Evangelien erkennen lassen, gleichzeitig der ganz andere – mit den Worten des Apostolischen Glaubensbekenntnisses: „Gottes eingeborener Sohn“. Poblematisch erscheint auch die mangelnde Verortung des Weihnachtschristentums in der über die leibliche Familie hinausreichenden „Gemeinschaft der Heiligen“. Leistet die Individualisierung bzw. Familiarisierung des Weihnachtsfestes der Vernachlässigung der Bedeutung der Kirche für den Glauben im Protestantismus nicht noch Vorschub? Aus der DDR-Geschichte wird deutlich, dass ein auf Subjektivität und Innerlichkeit reduzierter Glaube nicht krisenfest und letztlich zum Absterben verurteilt ist. Die Privatisierung der Weihnachtsgeschichte ist nicht dasselbe wie Luthers Hochschätzung des individuellen persönlichen Glaubens.
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Es darf aber bei dieser Kritik an der Weihnachtsspiritualität nicht bleiben. Vielmehr ist zu fragen, wie die zunehmende Beschränkung distanzierter Kirchlichkeit auf das Weihnachtsfest positiv aufgegriffen werden kann. Hier bietet sich eine Fülle von Möglichkeiten an. So sollte das damit verbundene heuristische Potenzial genutzt werden: Die Merkmale des Weihnachtschristentums zeigen, welche Dimensionen in der traditionellen evangelischen Spiritualität allgemein und im evangelischen „Normalgottesdienst“ im Speziellen unterbetont sind. Dazu gehören das Fehlen bzw. die Unterbestimmtheit von Festlichkeit, von Erlebnisebenen, von Emotionalität und Sinnlichkeit, in gewisser Weise auch die Vernachlässigung des Aspekts der Sozialität und des Himmels. In der Konzentration evangelischer Spiritualität auf das Weihnachtsfest zeigt sich weiter die Vernachlässigung von Elementen der Volksfrömmigkeit, zu der wesentlich Rituale und Symbole gehören. Diese verhelfen dem Glauben zur Gestaltwerdung. In der Vergangenheit fanden die Mütter und Väter des Glaubens es unerlässlich, Rituale und Symbole zu pflegen, um ihren Glauben zu bewahren und an die nächste Generation weiterzugeben. Das heutige Weihnachtschristentum zeigt, dass solche jährlich wiederkehrenden Rituale und Symbole gerade in einer Risikogesellschaft von elementarer Wichtigkeit sind. Unsere technisierte Gesellschaft lässt für die Ewigkeit, die unsichtbare Seite der Wirklichkeit, kaum Raum. Das Weihnachtsfest besitzt angesichts dieser Situation die Kraft, deutlich zu machen, dass die sichtbare Welt noch einmal umgriffen ist von einer weitaus größeren Wirklichkeit. Es lässt erkennen, dass ein Leben unter dem geöffneten Himmel Gottes möglich ist. Neben der heuristischen Funktion, die das Weihnachtschristentum im Hinblick auf die Weiterentwicklung evangelischer Spiritualität zu erfüllen vermag, bietet es eine Reihe von konkreten Anknüpfungspunkten zu deren Vertiefung. Ich möchte abschließend vier nennen: Adventsgebete in Wohnungen und Häusern mit Gesprächsmöglichkeiten über das Wesen von Advent und Weihnachten;48 geistliche Einführungen in Kirchenkonzerte (die entsprechende säkulare Praxis bei Opern und klassischen Konzerten findet z. T. große Resonanz); befristete Kirchenmusikprojekte zur Advents- und Weihnachtszeit, begleitet von katechetischen Angeboten; geistliche Besinnungen auf Weihnachtsmärkten.
48 Vgl. dazu das von der Arbeitsgemeinschaft Christlicher Kirchen in Baden-Württemberg seit Jahren initiierte „Ökumenische Hausgebet im Advent“.
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Ralph Kunz, Rebecca A. Giselbrecht
Evangelische Spiritualität und Bildung
1.
Einführung: Ist Spiritualität ein glücklicher Begriff ?
In seinem 2012 erschienenen Lehrbuch entfaltet Christian Grethlein die Praktische Theologie als Theorie der Kommunikation des Evangeliums. In einem kurzen Abschnitt geht er auf den Spiritualitätsbegriff ein.1 Grethlein hält es für fraglich, ob „Versuche einer ‚spirituellen Gestalt von Praktischer Theologie‘ oder einer ‚christlichen Spiritualität‘ begrifflich glücklich sind“.2 Begründet wird die Skepsis mit der Begriffsgeschichte und -verwendung von Spiritualität im Wissenschaftsdiskurs. Insbesondere in der religionssoziologischen Rezeption meint „Spiritualität“ eine spätmoderne Form religiöser [oder religionskritischer] Sinnsuche, die institutionen- und organisationskritisch, ganzheitlich und subjektiv ausgerichtet sei.3 Diese Deutung kollidiere mit einem theologischen Verständnis von Spiritualität, das eine regelmäßige und verbindliche Praxis betone. Christliche Spiritualität, wie sie beispielsweise Corinna Dahlgrün vertrete, mache eine Voraussetzung, die der spirituellen Suche der populären Religion gerade nicht diene.4 Grethleins Zurückhaltung ist durchaus nachvollziehbar. Wer „Spiritualität“ sagt, muss sagen, was gemeint ist. Das gilt aber auch für „Religiosität“, „Frömmigkeit“ oder den vieldeutigen Begriff des „Glaubens“. Die kritische Rückfrage nach dem glücklichen Begriff führt zugleich eine Spannung vor Augen, die zur Auseinandersetzung über eine sachgemäße Bezeichnung der christlichen Glaubenspraxis gehört.5 Es mag durchaus sein, dass die unterschiedlich akzentuierte theologische und religionswissenschaftliche Begriffsverwendung Verwirrung stiften kann. Umso wichtiger sind – um der Sache willen – klare Unterschei1 2 3 4
Grethlein, Praktische Theologie, 175–180. A.a.O, 179. Knoblauch, Populäre Religion, 419, zitiert aus: Grethlein, Praktische Theologie, 177. Verwiesen wird auf Dahlgrün, Christliche Spiritualität, 420–422. Ob der Einwand Dahlgrüns Programm gerecht wird? Vgl. dazu Kunz, Spiritualität in Reinform, 118–120. 5 Vgl. dazu die grundsätzlichen Überlegungen in Kunz, Spiritualität im Diskurs, 211–226.
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Ralph Kunz, Rebecca A. Giselbrecht
dungen. Wenn „Spiritualität“ den prinzipiell offenen und material beliebigen Wunsch nach Transzendenz signalisiert, kommt formal gesehen im Begriff das individuelle Streben nach einer eigenen Religiosität zum Ausdruck. Spiritualität steht also für eine nicht näher bestimmte „religiöse Musikalität“, um an das berühmte Diktum Webers und seine Wiederaufnahme zu erinnern.6 Aber mit Musikalität allein macht man keine Musik. Dazu muss man musizieren können. Der weitverbreitete Widerstand gegen die Institution Kirche und eine traditionelle Vermittlung der Praktiken des Glaubens wie Beten, Singen, Feiern oder Beichten gehört sozusagen zum Programm einer schwebenden Spiritualität. Die Begriffsrezeption in der deutschsprachigen Theologie signalisiert aber – so unsere These – eine Sehnsucht nach Ganzheit, die in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts, vermittelt durch die ökumenische Bewegung, auch in den europäischen Kirchen vermehrt zum Thema wurde.7 Seit den 1980er Jahren wurden zudem Impulse zur Gestaltung des Glaubens aus der katholischen ExerzitienFrömmigkeit aufgegriffen. Die Übung des Glaubens als eine Tätigkeit und das Geübt-Werden im Glauben als eine Haltung sind den Evangelischen nicht gänzlich fremd, wie dies Silke Harms in ihrem schönen Buch über Alltagsexerzitien nachgewiesen hat.8 Deshalb reden wir dezidiert von einer evangelischen oder christlichen Spiritualität, die an die Tradition der Praktiken anschließt.9 Glauben will in der sanctorum communio geübt, erfahren und gefeiert werden.10 Die distinkte Rede ist begleitet von der Absicht, eine Didaktik zu begründen, die den Verdacht einer autoritär verordneten oder mechanisch gepaukten Exerziererei bekämpft und stattdessen auf eine leibbezogene, beziehungsorientierte und musikalische Theologie des Übens und geistgewirktes Geübt-Werden setzt.11 Insofern nehmen wir die Anregung von Christian Grethlein auf. Wenn in diesem Beitrag von evangelischer Spiritualität die Rede ist, haben wir den Habitus im Blick, auf den die Kommunikation des Evangeliums zielt. Evangelisch ist ein qualitativer und kritischer Begriff! Wir fragen nach der Bildung, die das Narrativ 6 Gemeint ist Max Webers Zugeständnis, er sei „religiös unmusikalisch“ und dessen Interpretation von Habermas, Verleihung des Friedenspreises. Zu Max Weber vgl. Drehsen, Protestantische Religion, 197–235 und Nipperdey, Religion im Umbruch. 7 Grethlein, Praktische Theologie, 176 verweist auf eine Formulierung der Vollversammlung in Nairobi: „Wir sehnen uns nach einer neuen Spiritualität, die unser Planen, Denken und Handeln durchdringt“. 8 Harms, Glauben üben. 9 A. a. O., 224. 10 Diesbezüglich immer noch wegweisend – der Grundsatz von der gleichursprünglichen Einsamkeit und Gemeinsamkeit des gelebten Glaubens im Erfahrungsbericht von Bonhoeffer, Gemeinsames Leben. 11 Zutreffend und sehr kompakt auf den Punkt bringt es die Definition von Fraling, Überlegungen zum Begriff der Spiritualität, 6–30, hier 17: „Die christliche Spiritualität ist die geistgewirkte Weise ganzheitlich gläubiger Existenz, in der sich das Leben des Geistes Christi in uns in geschichtlich bedingter Konkretion ausprägt“.
Evangelische Spiritualität und Bildung
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vom Gott der Bibel mit den spirituellen Traditionen der Kirche vermittelt und wir schauen auf die kulturelle Einbettung, in der diese Bildung immer wieder neu Gestalt finden muss. Das geht nicht ohne Bezug auf den Kontext unserer Zeit. Um der Prägnanz der Darstellung willen, werden wir das Thema der Bildung mit Hilfe von drei Kinderbuch- bzw. Jugendromanprotagonisten exemplarisch abhandeln. Heidi, Harry Potter und Alice helfen uns, die Vergangenheit und Gegenwart der Bildung der evangelischen Spiritualität zu besprechen und – so hoffen wir – einen Weg zu skizzieren, der aus der Krise herausführt, in der wir uns befinden.
2.
Heidi kann brauchen, was sie gelernt hat – oder: Tradierung der evangelischen Spiritualität als intergenerationelle Aufgabe
2.1
Zur Einführung: Was ein Christenmensch lernen muss
Kurz vor Weihnachten 2015 ist der Film Heidi in deutschen und schweizerischen Kinos angelaufen und hat seither ein großes Publikum begeistert. Die Geschichte vom frohen Naturkind, das aus der Gemeinschaft mit dem Großvater herausgerissen wurde und heimwehkrank im kalten Frankfurt landete, ist neben Käse, Schokolade und Uhren der Exportschlager und Inbegriff helvetischer Kultur schlechthin geworden. Auffällig ist freilich, dass in praktisch allen filmischen Nacherzählungen des Romans die spirituellen Motive der Story mehr oder weniger gründlich herausgeschnitten worden sind.12 Heidi findet nämlich in der Person der Frankfurter Großmama eine liebenswürdige weise alte Frau, die nicht nur die Seelennot des Mädchens wahrnimmt, sondern ihm auch etwas beibringt: das Beten.13 Sie motiviert Heidi, sich Gott anzuvertrauen, und ermuntert sie, die Bibel zu lesen. Für Heidis Erfinderin, Johanna Spyri, ist dies ein Wendepunkt der Geschichte. Der erste Band heißt: „Heidis Lehr- und Wanderjahre“. Und der zweite Band, der von der Rückkehr erzählt, ist überschrieben mit: „Heidi kann brauchen, was es gelernt hat“. Ist Heidi ein spiritueller Entwicklungsroman? Die Romangestalt der pietistisch geprägten Autorin lässt sich jedenfalls so lesen. Eine schöne Seele findet zu Gott. Allerdings zeichnet Spyri keine heile Welt, sondern eine gebrochene Gestalt der christlichen Sozialisation. Bezeichnenderweise ist es eine fremde Großmutter, die etwas vom Beten versteht, und ebenso bezeichnend ist die religiöse Verwahrlosung, die rund um diese Lichtgestalt herrscht. Im Ausgang des 19. Jahrhunderts lebte zwar die Idee einer frommen 12 Vgl. dazu Kunz, Conversio Kontrovers; Siehe auch Basler, Heidi, 21–23. 13 Spyri, Heidi (I), 87–89. Später – im zweiten Band – wird Heidi zur Missionarin und lehrt Klara das Beten: Spyri, Heidi (II), 213f.
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Tradierung von Generation zu Generation noch – die Realität war aber schon damals eine andere! Heidis Großvater etwa verweigert den Kirchgang, weil er mit der heuchlerischen Dorfgemeinschaft nichts mehr zu tun haben will.14 Wenn wir im ersten Teil unserer tour d’horizon durch die evangelische Spiritualität diesen geschichtlichen Hintergrund einblenden, geht es uns weniger um eine Romantisierung vergangener Verhältnisse als vielmehr um das hintergründige Bewusstsein einer evangelischen Glaubenskultur. Ihre sozialen Fundamente waren die Familie und die Kirche. Beide Agenturen arbeiteten Hand in Hand, um Spiritualität weiter zu tradieren. Der Fokus dieser Tradierung war einerseits die Glaubenslehre in Form des Katechismus, die Bibellektüre und andererseits eine über Praktiken wie dem Beten vermittelte Herzensbildung. Ein wichtiges Element bildete die Hausandacht.15 Was die Großmama der kleinen Heidi beibringt, hat Generationen genährt und gestärkt. Sie ist das Vorbild, das die Lernende zur Nachahmung einlädt, und zugleich die Mentorin, die auf sanfte wie resolute Art den Samen einer eigenständigen Frömmigkeit sät. Zum Beten und Lesen kam das Singen, zum Kirchgang am Sonntag die private Frömmigkeitsübung. Die Kopfarbeit soll das Gemüt erbauen; Bibeltexte und Chorallieder werden auswendig gelernt, damit sie erinnert und abgerufen werden können. Letztlich stoßen wir hier auf das Modell einer imitatio christi – ein Modell, das auch bei den Evangelischen durch das Vorbild der Heiligen ergänzt werden konnte. Studiert man die Frömmigkeitsgeschichte der Protestanten,16 fällt aber auf, dass in erster Linie Männer in den Büchern erwähnt werden. Wo sind die Frauen? Wir wollen den Fingerzeig des Heidi-Romans ernstnehmen und haben guten Grund zur Vermutung, dass wir es hier mit einem blinden Fleck der Forschung zu tun haben.17 Ganzheitlich verstandene religiöse Bildung war von Anfang an in familialen und familiären Strukturen eingebettet, in denen Frauen viel oder auch mehr zu sagen hatten als Männer. Drei Frauen der Reformation und ihr Umgang mit evangelischer Spiritualität, Bildung und Didaktik dienen uns als Beispiele: Lady Jane Grey, Anna Hooper und Anna Bullinger. Wir sehen anhand ihrer Zeugnisse, wie stark die Einübung des christlichen Lebens im Alltag eine Angelegenheit der familiären Erziehung war.
14 Spyri, Heidi (II), 11f. 15 Vgl. dazu Ratzmann, Der Kleine Gottesdienst im Alltag; Zum Begriff der Andacht siehe auch: Kunz, „Sing, bet und geh auf Gottes Wegen“, 246–277, bes. 265–275. 16 Gorys, Lexikon der Heiligen. 17 Vgl. Wiesner, Women, Gender, and Church History, 600–620; Giselbrecht, Religious Intent and the Art of Courteous Pleasantry, 46–68, vor allem 46f; Zimmerling, Starke fromme Frauen.
Evangelische Spiritualität und Bildung
2.2
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Das historische Fundament der evangelischen Spiritualitätsbildung: Lady Jane Grey, Anne Hooper und Anna Bullinger
Es heißt: „An ihren Früchten werdet ihr sie erkennen. Erntet man etwa von Dornen Trauben oder von Disteln Feigen?“ (Mt 7,16). Das Logion bringt das evangelische Ethos der reformatorischen Spiritualität in kritischer Weise auf den Punkt. Diese kreist – insbesondere in der reformierten Tradition – um die Heiligung und knüpfte hierfür einerseits an der biblischen Tradition der Ermahnungen an, nahm aber vermittelt über den Humanismus auch Impulse der antiken Tugendlehre auf.18 Zentral ging es darum, den Irrungen und Wirrungen der Sünde durch die Auseinandersetzung mit dem Wort vorzubeugen. Glauben und Gemeinschaft waren die Prioritäten. Ob in Dingen der Ehe oder eben die Kindererziehung: die pastoraltheologische Literatur ist gespickt mit Verhaltensregeln; es sind Predigtsammlungen und Gebetsbücher publiziert worden, die evangelische Spiritualität mit den Grundsätzen der reformatorischen Lehre verknüpften.19 Klarheit im Bekenntnis und eine spirituelle Wegführung durch Jesus Christus waren Kern und Stern dieser Spiritualitätsbildung, die durch Vorbild, Anleitung und Verinnerlichung der biblischen Narrative gelehrt und weitergegeben wurde. Konkret ging es darum, die nächste Generation im neuen Glauben zu erziehen. Ob jemand ein gottesfürchtiges Leben leben sollte, stand nicht zur Disposition. Man setzte es voraus und glaubte, es an den Früchten sehen zu können. Wechseln wir die Szenerie und werfen einen Blick auf das Leben einer englischen Adligen, die aufgrund des Exports der schweizerischen Reformation das evangelische Schriftverständnis und die Hermeneutik des Lebens und Gebets übernommen hat. Unser Beispiel ist Lady Jane Grey (1536/37–1554). Sie hat ihren Platz in den Geschichtsbüchern, weil sie als junge Frau für neun Tage Königin von England war – eine Ehre, die sie allerdings das Leben kostete. Ihre Hinrichtung hatte politische Gründe.20 Weniger bekannt ist, dass Lady Jane sich in die Korrespondenz ihres Vaters mit Heinrich Bullinger einmischte und dem großen Reformator selber Briefe schrieb. Sie nahm diese Korrespondenz als Vierzehnjährige auf. Zweifellos genoss Jane Grey eine klassische Erziehung und war deshalb sehr sprachgewandt. Nichtsdestotrotz ist ihr Interesse am Glaubensleben höchst aufschlussreich. Lady Jane, ein altkluger Teenager, der bestens lateinisch beherrschte, fragte nämlich Bullinger an, ob er ihr spiritueller Mentor werden wolle. Sie argumentierte damit, dass schließlich Blesilla, Paula, und Eustocium in 18 Ausführlicher in: Kunz, Bedeutung der Spiritualität, 296–308. 19 Für die Schweizer Reformation hier zu nennen ist die herausragende Figur Heinrich Bullinger (1504–1575). Campi/Roth, Heinrich Bullinger Pastoraltheologische Schriften. 20 Ives, Lady Jane Grey.
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Jerome auch einen Mentor hatten, der sie unterwies.21 Obschon sie äußerst höflich schrieb, trug sie ihren Wunsch sehr selbstbewusst vor. Sie unterstrich, dass sie Unterstützung brauchte, um ihres „Verhaltens und Glaubens willen“, und bat Bullinger darum, ständig für sie zu beten.22 Sie schloss ihre Briefe mit Wünschen um Ermahnung, auf dass sie echten Glauben zeige, treu im Gebet und Glaubenszeugnis sei. Ihre Unterschrift ist bemerkenswert: „Deine höchst religiöse, gehorsame, Jane Grey“.23 Wenden wir uns nun einem anderen Beispiel aus weniger bevorzugten Verhältnissen zu. Anne Hooper war Glaubensflüchtling. Sie flüchtete von Antwerpen, wo sie aufwuchs, nach Straßburg, kam dann nach Zürich, wurde danach die Ehefrau von John Hooper, dem Bischof von Gloucester in England. Nachdem ihr Mann im Zusammenhang der Rekatholisierung Englands 1555 zum Märtyrer der Religionskriege wurde, flüchtete sie wieder – diesmal nach Frankfurt.24 Von da schrieb sie Bullinger, weil dieser Pate ihrer Tochter Rahel war. Der Anlass war Rahels vierter Geburtstag: „Erstens musst du wissen, dass sie gut Englisch kann, und in den letzten drei Monaten die Danksagungsform, die Zehn Gebote, das Vater Unser, das Apostolische Credo, zusammen mit dem ersten und zweiten Psalm Davids gelernt hat. Und jetzt, da sie lesen kann, wird sie im Katechismus unterwiesen“.25
Natürlich gäbe es noch mehr über Anne Hooper zu berichten, aber die Pointe ist gemacht: Evangelische Spiritualität ist – stärker als uns das wahrscheinlich bewusst ist – von Anfang an eine Praxis, die von eigenständigen und selbstbewussten Personen geprägt, getragen und überliefert wurde. Sie mögen aus heutiger Sicht durchaus ein wenig „fromm“ auf uns wirken – sie waren es! Um das Bild der frühreformatorischen Tradition abzurunden, schauen wir als letztes Beispiel kurz in das Leben der Familie Bullinger. Obwohl nur ein einziges schriftliches Zeugnis aus der Hand Anna Bullingers erhalten blieb, können wir aus anderen Hinweisen rückschließen, dass in der Familie Bullinger evangelische Spiritualität Früchte trug. Das Ehepaar hatte gemeinsam elf Kinder. Der Brief Annas an ihren Sohn, der im Ausland Theologie studierte, zeugt von echter Frömmigkeit und Besorgnis. „Mein freundlicher Gruß mein Lieber. Und weiß, dass es mich wohl freut, dass du so wohl versorgt bist. Ich bitte dich, kleide dich anständig, sei dienstreich und sauber, mit dir selbst gottesfürchtig und ehrbar, Gott und den Menschen gegenüber. Ich bitte dich, denke alle Zeit, warum du in einem fremden Land bist und achte auf die Zeit. Freue dich 21 22 23 24 25
Robinson, Original Letters. A. a. O., 5–6. A. a. O., 8. A. a. O., 108. A. a. O., 107.
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darüber, was Anstand entspricht, sei nicht träg, bete alle Zeit treu, hüte dich vor böser Gesellschaft, und bleibe weiter am liebsten gern zu Hause. So lass mich wissen, ob du genug gute Kleider hast, genügend Hemden, oder ob sie für dich gewaschen werden, man muss Seife brauchen, oder du könntest sie deiner Gastgeberin zum Waschen geben. Es war sehr heiß hier. Schreibe und grüße sie herzlich und lass deine Schuhe nicht kaputtgehen. Lass Sie putzen und sei häuslich. Nicht nur dein Gott behüte dich vor Leid“.26
Dieser Briefausschnitt vermittelt eine gute Vorstellung davon, wie sich die Frömmigkeit in der Realität der Familienbeziehungen und im Alltag zur Zeit der Reformation auswirkten. Die Erziehung zu Tugend und Gottesfurcht, gelebtem Glauben, die Mahnung zum ständigen Gebet und die Segenswünsche waren keine Floskeln. In die Korrespondenz flossen Bibelsprüche, Gebete und Gebetsanliegen sozusagen natürlich ein. Wenn wir die Reformation in diesem Lichte betrachten, sehen wir die Frömmigkeit einer Volk-Gottes-Bewegung. Es ist die spirituelle Disziplin des praktizierten Glaubens von Müttern und Vätern, die ihren Kindern als Vorbilder dienten, ihre Familie als kleine Kirche verstanden und daraus ihre Kraft schöpften. Und was waren die Früchte dieser evangelischen Bildung in der Frühzeit? Im Fall von Lady Jane Grey ist es ihr eindrückliches Glaubenszeugnis und ihr Verlangen nach einer spirituellen Begleitung, die kulturelle Grenzen überwand: der Wille, ihren Glauben und Charakter von den großen Vätern im Glauben formen zu lassen. Anne Hooper wirkte als Witwe und alleinerziehende Mutter in der englischen Exilgemeinde in Frankfurt, verhalf u. a. Valerandus Pollanus standhaft zu bleiben und unterstützte die Gemeinschaft im Exil.27 Wie segensreich der unermüdliche Briefeschreiber und Brückenbauer Heinrich Bullinger wirkte, ist unbestritten – vom Zeugnis Annas, dem „Stab seines Lebens“ und der Familie Bullinger als Ganzes ist wenig bekannt. Die fünf Töchter heirateten allesamt Pfarrer oder Theologen. Dorothea, die Jüngste, blieb nach dem Tod der Mutter zunächst bei Bullinger und heiratete später. Zwei ihrer Söhne wurden ebenfalls Theologen.28
26 ZB Zürich, Ms. F 59, 259. Auch auf English in Giselbrecht, Myths and Reality, 53–67. 27 Robinson, Original Letters, 110. 28 Giselbrecht, Myths and Reality, 66.
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Ralph Kunz, Rebecca A. Giselbrecht
3.
Spirituelle Bildung unter den Vorzeichen des Individualismus
3.1
Harry Potter Zauberlehrling
Wir sind eingestiegen mit der Erinnerung an eine Romanfigur, bei der eine Großmutter die entscheidende Rolle für die religiöse Entwicklung spielte, und haben die zentrale Funktion des Modelllernens hervorgehoben, wie es sich bereits in der Frühzeit der Reformation manifestierte. Machen wir einen Sprung in die Gegenwart. Rund hundert Jahre nach Veröffentlichung der Heidi-Geschichte erscheinen in den 1990er Jahren die Harry Potter-Romane der britischen Schriftstellerin Joanne K. Rowling. Sie erzählt die siebenteilige Geschichte von Harry James Potter, der an seinem elften Geburtstag in die Zaubererschule Hogwarts eintritt. Jeder der sieben Bände beschreibt ein Schul- und Lebensjahr von Harry. Auch er hat einen Mentor. Es ist Albus Dumbledore, der Rektor der Schule und zugleich eine Großvatergestalt. Im Unterschied zu Heidi ist Harry aber in eine Art Erlösungsgeschichte verstrickt. Seine Biografie ist der Schlüssel für ein Drama, von dessen Ausgang das Schicksal der Welt abhängt. Auf den Schultern des jungen Helden lastet also ein großes Gewicht. Aber am Ende schafft es Harry, obwohl oder besser, weil er ziemlich eigensinnig ist. In dieser Hinsicht hat Professor Snape, ein zweiter Mentor, mit dem sich Harry im Dauerclinch befindet, den Nagel auf den Kopf getroffen. Letztlich ist es seine konstante Weigerung, sich den Autoritäten zu unterwerfen, die Potter zum Sieg über das Böse verhilft. Es wäre sicher falsch, in der Harry Potter-Geschichte nur dieses heroische Moment der individuellen Identitätsentwicklung zu sehen. Die Romane offerieren eine ganze Reihe von Deutungsperspektiven und haben nicht zuletzt wegen ihres phänomenalen Erfolgs bei jungen und alten Lesenden auch die Aufmerksamkeit der Literaturwissenschaft, der Pädagogik und der Theologie gefunden.29 Was uns interessiert, ist die Typik und Funktion der Bildung. Die Lehre, die Harry in Hogwarts genießt, ist bezeichnenderweise eine Praktik, die man beherrschen muss, um im Leben wie im Kampf erfolgreich zu sein. Magie ist instrumentale Technik in Reinform. Sie kann zum Guten wie zum Bösen eingesetzt werden. Im Falle Harrys wird die Ausbildung begleitet von einer Lebensweisheit und Ethik, die durchaus evangelische Motive erkennen lassen. Die Kraft, die Harry das Leben rettet – und letztlich auch das Schicksal der Welt bestimmt – ist die Liebe seiner Eltern. Sie ist stärker als der Tod, und sie ist eingebettet in die individuelle Geschichte, in der sie ihre Wirkung in freundschaftlichen Beziehungen entfaltet.
29 Vgl. Gray, Transfiguring Transcendence in Harry Potter.
Evangelische Spiritualität und Bildung
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In beiden Bewegungen sehen wir Dynamiken der Moderne: in der Dominanz des Individualismus und in der Tendenz zur Desintegration von Bildungsinhalt und Lebensgestalt. Diese Dynamiken zu analysieren und in größere soziologische und historische Zusammenhänge einzuordnen, können wir nicht leisten. Wir wollen auch unseren assoziativen Zugang nicht überstrapazieren. Sowohl Heidi wie Harry fungieren als Metaphern, um die Thematik greifbar zu machen. War es im ersten Anlauf der Versuch, die hintergründige Idealgestalt der evangelischen Familienreligiosität hervorzuheben, geht es uns im zweiten Anlauf darum, spirituelle Bildung, Didaktik und Tradition unter den Vorzeichen des modernen Individualismus besser zu verstehen. Wir meinen, die neue Wertschätzung der Spiritualität unter den Evangelischen sei durchaus ein Trend der Zeit, könne aber auch als eine Gegenbewegung zur Moderne interpretiert werden, weil sich darin der Wunsch nach einer Reintegration der desintegrierten Teile zeige. Wir gehen zunächst auf die Konfirmandenarbeit im schweizerischen Kontext als Beispiel für die Mühen der religiösen Bildung im kirchlichen Rahmen ein und fragen nach der Chance des Bekennens als spirituelle Übung.
3.2
Bildung in der Kirche
Im fragmentierten Bildungssystem der Schweiz wird der Religionsunterricht an den öffentlichen Schulen mehrheitlich als Religionskunde und Ethik gelehrt.30 Hauptinhalt dieses Unterrichts sind Ethik, Menschenrechte und die großen Weltreligionen. Ein „teaching in“, das Praktiken des Glaubens lehrt, stößt hier ans Limit. An den Schulen wird ein „teaching about“ gefordert. Dafür gibt es Gründe. In der Tat ist der Inhalt des schulischen Religionsunterrichts vielfach nur eine Schnupperlehre in religiöser Fremderfahrung.31 Im Horizont einer evangelischen Spiritualität ist bemerkenswert, dass durch die Desintegration von Religionswissen und religiöser Praxis letztere als eine Art Zauberei verstanden werden kann, für die man Hogwarts – sprich einen kirchlichen Unterricht – besuchen muss. Diese Tatsachen setzen den kirchlichen Unterricht und ganz besonders die Konfirmandenarbeit unter einen gewissen Druck. Hier müsste eingeübt werden, was in der säkularen und wertneutralen Schule nicht gelehrt werden darf. Da aber auch die Kirche eine Organisation mit differenzierten Mitgliedschaftsbindungen ist, kann sie nicht als einheitliche Glaubensgemeinschaft auftreten. Auch innerhalb der Institution kommt die evangelische Glaubenslehre unter die Räder und wird zu einer von vielen Wegen spiritueller Bildung. 30 Für die Schweiz vgl. Kunz, Religion und Kultur. 31 Smith, Who’s Afraid of Post Modernism.
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Der Kontrast zum Bildungsethos der Volk-Gottes-Bewegung der Reformation ist frappant. Was James Smith als die Macht der Kultur disziplinierter Bildung bezeichnet,32 können ein paar Rituale und Überreste religiöser Praxis nicht mehr bereitstellen. Um einen christlichen Charakter zu bilden, braucht es mehr: die kontinuierliche Pflege eines Narrativs und die prägend formative Kraft des Gottesdienstes.33 Der Leitbegriff der Praktischen Theologie im gegenwärtigen Pluralismus ist deshalb Religion.34 Wie schon eingangs beschrieben, signalisiert die Weitung der Begriffe eine grundlegende Spannung. Ein religiöser Wissensaustausch, der als Kommunikation des Evangeliums erkennbar wird, erzählt die christliche Story. Eine religiöse Praxis, die als Glaubensleben identifiziert werden kann, hat ein liturgisches Format. Die Desintegration von ursprünglichen Bildungsinhalten und Lebensgestalten lässt sich am Konfirmandenunterricht in der Moderne exemplarisch aufzeigen.35 Hand aufs Herz, viele gescheite Menschen behaupten, der klassische Katechismus gehöre der Vergangenheit an, und stimmen mit Gottfried Keller überein: „Glaube! O wie unsäglich blöde klingt mich dies Wort an“,36 oder mit Hermann Hesse: „Die Lehre widersprach meinem Gefühl unmittelbar, sie schmeckte auch ein wenig nach Katechismus und Konfirmandenunterricht, an welche ich, wie jeder gesunde Mensch, mit Abscheu und Verachtung dachte“.37 Dennoch werden jährlich unzählige Jugendliche in der evangelischen Tradition konfirmiert – in die Glaubensgemeinschaft der Kirche hinein. Gelegentlich denken die jungen Menschen gleich wie der 1890 verstorbene Keller und finden Glauben blöd, oder übel wie Mundgeruch, wie sich Hesse ausdrückt. Andere genießen die ganze Sache und werden im Glauben gebildet. Die unterschiedlichen Erfahrungen sind auch als Reflexe auf eine Bildungskultur zu sehen, die das Tradieren des Glaubens von Generation zu Generation verlernt hat. Dabei kommen uns Situationen aus dem Konfirmandenunterricht in den Sinn – Erfahrungen mit Eltern, die nach einem Jahr Konfirmandenunterricht ihres Sprösslings den Pfarrer verdutzt fragen, warum ihr Kind nicht an Gott glaube, obwohl sie daheim das Wort Religion kaum in den Mund nehmen und die Kirche nie besuchen. Wir erinnern uns an Gespräche mit Konfirmanden, wo es ganz still wurde, wenn wir uns danach erkundigten, ob zu Hause gebetet wird. Für die Erosionserscheinungen einer säkularisierten und pluralistischen 32 A. a. O., 103–106. 33 Baschera/Kunz, Gottesdienst der Kirche im Widerspiel von formativem und expressivem Handeln, 18–53. 34 Dazu Grethlein, Leitbegriff für die Praktische Theologie, 468–490. 35 Vgl. dazu auch Kunz, Spiritualität, Feier und Bekenntnis, 111–123. 36 Keller/Villwock, Der Grüne Heinrich, 306,33–307,19. 37 Hesse, Hermann Hesse, 281–435, 344.
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Bildungskultur ist nicht allein die Kirchenferne der Familien verantwortlich. Auch das enge und gesetzliche Glaubenskorsett einer evangelikalen Pädagogik kann dazu beitragen – dann nämlich, wenn Menschen an eine Kirche gebunden und nicht zum Glauben befreit werden. Kann ein Unterricht unter diesen Umständen gelingen? Grenzt das doch an Zauberei? Wir erleben, dass Elternarbeit gelingen kann38 und wie Jugendliche die Konfirmation bewusst als Gelegenheit ergreifen, sich selber, Gott und die anderen zu erfahren. Sie erahnen die Tiefendimension dieses Rituals, in der sie die Taufe durch die Katechese wiederentdecken. Nach unseren Erfahrungen sind positiv eingestellte Jugendliche gleichwohl mehrheitlich in Familienbeziehungen eingebettet, in denen Eltern oder Großeltern die Kirche besuchen und christliche Traditionen praktiziert und bewahrt werden – und sei es, dass fromme Großeltern für ihre Enkel beten. Man könnte das Magische des Glaubens auch in Beziehungen und prägenden gemeinschaftlichen Vorbildern sehen! In diesem übertragenen Sinn ließe sich Harry Potter als eine Art mystagogische Story lesen: dank intensiver Begleitung und Schulung in die Traditionen von Hogwarts konnte er eintauchen, auf uralten Pfaden wandeln und Praktiken seiner Vorbilder nachahmen – obwohl er bei den Muggeln aufgewachsen ist. Was der Jugendroman so leicht und lustvoll vormacht, ist vielleicht gar nicht so weit hergeholt: die Mystagogie im (aufgeklärten) Bildungsraum. Mystische Erfahrungen wollen nicht erklären. Sie führen zum Geist Gottes und zur Frage, ob und wie evangelische Spiritualität gelernt werden kann. Im Prinzip machen wir hier immer einen Sprung über den Spalt zwischen kognitivem Wissen und der Erfahrung des Glaubens – oder einen Sprung in den Brunnen.39 Dabei entscheidet der Geist, was in der Tiefe geschieht.
4.
Alice – Vorstellungen der Spätmoderne im literarischen Spiegel
Bleiben wir beim kindlichen Geist der Kinderbücher und tauchen mit Alice hinter die Spiegel, um die hintergründige christliche Wirklichkeitsdimension der Bildung zu erkunden. Die ‚Alice‘-Romane gehören zum literarischen Genre des Nonsens. Die erste Auflage von Alice im Wunderland erschien 1865, gefolgt von Alice hinter den Spiegeln 1871. Alice ist das Werk eines Akademikers, genauer eines Mathematikers, der unter dem Pseudonym Lewis Carroll schrieb. Charles Lutwidge Dodgson (1832–1898) war Sohn eines Pfarrers. Carroll publizierte das 38 Vgl. dazu den instruktiven (wenn auch insgesamt doch recht ernüchternden) Beitrag von Domsgen, Konfirmandenelternarbeit, 347–358. 39 Halbfas, Sprung in den Brunnen.
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weniger erfolgreiche Symbolic Logic (1896), als er schon vom Geld von Alice im Wunderland (1865), Alice hinter den Spiegeln (1871) und anderen Kinderbüchern gut leben konnte. Wie Heidi ist Alice in vielerlei Hinsicht eine wunderbare Kultfigur für die einen und Symbol unsres Zeitalters für andre.40 Die zeitgenössische Rezeptionsgeschichte von Alice hinter den Spiegeln ist vergleichbar mit der Heidi-Geschichte und den Harry Potter-Romanen: Nach mehr als hundert Jahren sind Carrolls Kinderbücher auf der Großleinwand in x Versionen anzuschauen – freilich gekürzt, kontextualisiert und ihrer moralisch und religiös relevanten Aussagekraft beraubt. Johnny Depp und andere Superstars protegierten die Vermischung der ethischen und eigentlichen spirituellen Inhalte mit Wertvorstellungen der Gesellschaft der säkularisierten Postmoderne. Die kernige Botschaft des Originals ging verloren, als sie gesellschaftsrelevant verfilmt wurde. In der Nonsens-Metaphorik Lewis Carrolls ist ein Tiefensinn verborgen. Das Surrealistische wird zum Sinnbild der Pluralität und des fragmentierten Zustands des Lebens in der gesteigerten Moderne. Alice erfährt hinter den Spiegeln einen komprimierten Zeit-Raum. Raum und Zeit verschmelzen. Die kategorialen Voraussetzungen der Vernunft werden hintergangen, der Realitätssinn der Leser mit märchenhaften Szenen strapaziert: Alice trinkt etwas und wird groß, sie isst etwas, um klein zu werden. Dabei ist wichtig, dass Alice ihre Realität selber wählt. In der Welt hinter den Spiegeln gibt es keine gemeinsame Wirklichkeit oder maßgebende Bezugspunkte mehr – alles ist im Fluss. Alice kämpft gegen das Gefangensein in einer Welt, die einen entweder in einen autistischen oder realistischen Zustand zwängen will, der nur erreichbar ist über den Mittelweg einer illusionistischen Welt.41 Die Schilderung ihrer surrealistischen Erlebnisse kann deshalb als eine Art gewollter Widersinn interpretiert werden. Alice geht damit im Grunde einen Schritt weiter als der eigensinnige Harry, der sich seinen Weg gegen widrige Umstände suchen und sich behaupten muss. Carrols „Unsinn“ protestiert gegen den Zwang der Moderne, indem er 40 Carroll, Alice hinter den Spiegeln. Alice ist in der Drogenszene der USA und durch Verfilmungen kulturbestimmend. Auch die drei Blockbuster-Verfilmungen von Matrix greifen Themen aus Alice auf. Sie gilt als Kultfigur und Personifikation des Nonsens; ihre Reisen entsprechen dem Gefühl der Bedeutungslosigkeit einer Generation ohne kongruenten Metanarrativ und Realitätsverstand. Alice steht für unsere Träume, die wir während des Erwachsenwerdens träumten. 41 Hamman, Becoming a Pastor, 82–84. In seinem Kapitel “The Capacity to Imagine” argumentiert Hamman für drei Welten der Realität: die autistische selbstbezogene, sterile, traumlose Welt (was Luther als incurvatio in se bezeichnet), eine illusionistische Welt voll von Fantasien, Stories, Gleichnissen, und Mythen, und eine realistische Welt, in der Arbeit, Resourcen und externe Objekte den Menschen beschäftigen. Hamman meint mit Walter Brueggemann, dass die moderne Kirche die allzuwichtige dritte Welt der Ilusionen und Imagination verneint und darum nicht glauben kann.
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Alice eine Welt eröffnet, die einen illusionären Charakter hat.42 In der Fantasie – in der Welt hinter den Spiegeln – muss man sich nicht entscheiden zwischen der schmerzlichen Realität und dem Wonnegefühl der Ignoranz. Alice konstruiert ihre Realität, indem sie sich für ihre Geschichte entscheidet – auch wenn sie hin und wieder auftaucht, um ihre Entscheidung zu rationalisieren. Ein bezauberndes Beispiel dieses Ringens zwischen Nonsens und Verstand finden wir im Gespräch zwischen Alice und der roten Königin. Es geht darin um die Frage, wie man unmögliche Dinge glauben kann. Mit ein wenig Sinn für den Nonsens lässt sich darin gleichsam gespiegelt die Frage nach der unmöglichen Möglichkeit des Glaubens wiedererkennen, wenn die rote Königin zu Alice sagt: „Und jetzt will ich dir etwas Schönes zum Glauben geben. Ich bin einhundertundein Jahre, fünf Monate und zwei Tage alt.“ „Das kann ich nicht glauben!“ sagte Alice. „Nein?“ sagte die Königin mitleidig. „Versuch es noch einmal: tief Luft holen, Augen zu.“ Alice lachte. „Ich brauche es gar nicht zu versuchen“, sagte sie; „etwas Unmögliches kann man nicht glauben.“ „Du wirst darin eben noch nicht die rechte Übung haben“, sagte die Königin. „In deinem Alter habe ich täglich eine halbe Stunde darauf verwendet. Zuzeiten habe ich vor dem Frühstück bereits bis zu sechs unmögliche Dinge geglaubt“.43
Ein Christenmensch, der seinen Tag regelmäßig mit Bibellektüre und Gebet beginnt, wird in der roten Königin eine verwandte Seele finden. Wer sein Unservater in der Morgenfrühe spricht, hat mindestens sechs unmögliche Dinge vor dem Frühstück geglaubt oder seinen Möglichkeitssinn im Namen Jesu geweitet. Dass sein Reich komme und seine Wille geschehe, ist eine Möglichkeit des Glaubens, der durchaus Wirklichkeit zukommt.44 Gott Raum und Zeit zu geben, ist eine Entscheidung. Die Bildung evangelischer Spiritualität ist eingebunden in diese säkularpostsäkulare Kultur. Ein Projekt der Übung, die durch den Verlust einer gemeinsam geglaubten Realität eingeschränkt ist, aber auch einen Eigensinn im Widerstand und Eigenständigkeit im Widersinn entwickeln kann. Sie bleibt auf einen gemeinsamen Ort christlicher Imagination angewiesen! Die Didaktik und Bildungstradition der evangelischen Spiritualität haben vielleicht auch an Freiheit gewonnen, wenn sie in der Gegenwartskultur mit einer klaren Entscheidung verbunden sind – schon vor dem Frühstück mit der Dehnung des Möglichkeitssinnes zu beginnen.
42 Ebd. 43 Carroll, Alice hinter den Spiegeln, Kindle Location, 780. 44 Vgl. dazu Dalferth, Wirklichkeit des Möglichen.
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5.
Schriftlektüre als Schlüsselerlebnis
5.1
„Verstehst Du, was Du liest?“
Wenn das Verstehen der Wirklichkeit des Möglichen – im Sinne einer Orientierung im multioptionalen Feld – ein zentrales Moment der Spiritualität ist, bleiben die Evangelischen auf die Lektüre der Schrift verwiesen.45 „Verstehst Du, was Du liest?” ist ein Schlüsselsatz aus der Geschichte vom Kämmerer aus Äthiopien (Apg 8,26–41) und zugleich eine Pointe in Frageform, die den geistigen Hintergrund der evangelischen Schriftspiritualität sehr schön auf den Punkt bringt. Ein Schatzmeister aus Äthiopien, ein höherer Beamter, ist unterwegs nach Hause, aber der Mann in der Sänfte studiert nicht Protokolle – er liest die Schrift! Er ist ein spiritueller Wanderer, der studiert, grübelt, aber nicht versteht, weil ihm das Verständnis für das große Ganze fehlt. Er bringt die Teile nicht zusammen. Aber dann kreuzt Philippus seinen Weg. Der Geist Gottes hat zum Apostel gesprochen: er soll dem Afrikaner nachsteigen und ihm exegetischen Support anbieten. „Verstehst Du, was Du liest?“, fragt er ihn und bekommt zur Antwort, „wie könnte ich, wenn mich niemand anleitet” (Apg 8,31). Es folgt ein Glaubenskurs in Blitzversion samt Taufe. Philippus beginnt nämlich, von dieser Schriftstelle ausgehend, das Evangelium zu verkündigen. Zweierlei ist wichtig: Lektüre, Anleitung und Predigt bilden einen Zusammenhang. Aus Schrift wird Rede. So steht es geschrieben. Man könnte auch sagen, die Evangelien, die Apostelgeschichte und die Briefe sind schriftgewordene Predigten und Leseanleitungen, aufgeschrieben, damit die Leser die Schrift verstehen. Man kann es nachlesen und selber verstehen, wenn man nur richtig angeleitet – gebildet – wird. Erasmus von Rotterdam, der in Basel lehrte, war ein großer Förderer und Freund der Bildung. Die Reformation hat vom Humanismus den pädagogischen Impetus übernommen, aber erkannt, dass das Bildungspathos durch und durch biblisch imprägniert ist. Alle sollen lesen können und einen Zugang zur Bibel finden. Gutenberg machte es möglich. Am Anfang des 16. Jahrhunderts revolutionierte die Erfindung der Buchdruckkunst das Geistesleben in Europa. Bücher mussten nicht mehr länger in mühevoller Handarbeit geschrieben und kopiert werden. Dank der Druckmaschine war es fortan möglich, den Wissensspeicher massiv zu vergrößern und vor allem zu verbreiten.
45 Im folgenden Abschnitt nehmen wir – nicht immer mit explizitem Verweis – Gedanken auf von Mostert/ Bühler/Bauke, Glaube und Hermeneutik; Bayer, Martin Luthers Theologie, bes. 73ff und Ricœur/Hoffmann, Grenzen der Hermeneutik, 41–84.
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Wer seine Fibel liest, kann Fabeln erkennen. Und dies wiederum eröffnete die fantastische Gelegenheit einer höchst wirksamen Evangelisation. Das war die Hoffnung: dass das abergläubische und leicht zu verführende Volk durch das Lesen – kombiniert mit der rechten Anleitung der Predigt – das werden kann, was es eigentlich ist und sein soll: Gottes heiliges Volk. Freilich war da auch die Sorge, dass, wer die Bibel selber liest, auf die Idee kommen könnte, nachzulesen und zu hinterfragen, was die Hirten predigen. Die freie Lektüre macht die Gemeinde mündig und die Hirten verantwortlich. Anstelle einer Ämterhierarchie, die im Primat eines höchsten priesterlichen Stellvertreters gipfelte, trat neu das Wort, dem sich auch die Prediger zu unterstellen hatten. Das kann eine Eigendynamik entfalten. Was passiert, wenn sich die Auslegenden widersprechen? Wie verhindert man die Zersplitterung der einen katholischen Kirche in kleine Splitterkirchen, die jede die einzige katholische Kirche zu sein beanspruchte? Das einzige Modell, das im späten Mittelalter zur Auswahl stand, war eine obrigkeitliche Religion. Abweichler mussten zur Räson gerufen und das Volk beim Lesen angeleitet werden. Mit dem evangelischen Pfarramt entstand eine neue Berufsgattung, die für die Freiheit des Evangeliums einstand und zugleich in der Gestalt der Orthodoxie ein Wissenssystem, das eine rechtgläubige Sicherung des Glaubens erlaubte.46
5.2
Sola Scripctura? Sola Scriptura!
Auf die kollektive Regulierung folgte die individuelle Deregulierung des Glaubens. Seitdem auch obrigkeitlich erklärt wurde, dass jeder nach seiner Fasson selig werden dürfe, sind wir gezwungen, evangelische Spiritualität als Option zu verstehen. Das ist gut so. Denn etwas, das man glauben muss, ist wenig vertrauenswürdig. Es fragt sich aber, wie wir uns über das, was wir im Glauben verstanden haben, verständigen können, wenn wir keinen Konsens in den grundlegenden Glaubensfragen haben. Können wir den reformatorischen Prinzipien die Treue halten? Macht die exklusive Formel sola scriptura noch Sinn?47
46 Vgl. dazu Hermelink, Berufung zur Freiheit und berufliche Kompetenz, 220–238; Hermelink, Pastorales Wirken, 124–144, bes. 141f. 47 Kritisch fragt nach: Raatz, Schriftprinzip oder Wesensbestimmung des Christentums, 159– 172. Und kritisch die Frage an den Kritiker: Ob er, der sich wundert, wie „bemerkenswert hartnäckig die Komplexität bibelhermeneutischer Reflexionsarbeit“ von „ekklesialen Akteuren“ unterlaufen wird, damit rechnet, dass man beides kann: kritisch denken und die Einzigartigkeit der Schrift bewundern.
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Klaas Huizing hat darauf eine interessante Antwort.48 Er meint, die Art und Weise, wie die Kirche ihre Deutungsmacht verteidigte, schadete ihr mehr, als dass es ihr nützte. Insbesondere bei der Lehre von der Verbalinspiration handelt es sich nach Huizing um eine Irrlehre. Nicht weil sie Autorität der Schrift behauptet, sondern weil sie die Autorität der Schrift behauptet, irrt sie. Das ist ein feiner und kleiner Unterschied. Man könnte auch sagen: die Sicherheit ruiniert die Gewissheit, dass Gott spricht. Sie unterbricht die Wandlung vom Geschriebenen ins Stimmige. Wenn jedes Wort direktes Diktat vom Heiligen Geist sein soll, wird die Schrift zur Diktatur des Buchstabens. Dann wird das Wort, das im Satz, und der Satz, der im Text, und der Text, der im Buch, und das Buch, das in der Schrift steht, zur Steintafel. Gemäß Huizing besteht also der Irrtum darin, dass der Bibel mit dem Machtanspruch etwas genommen und nicht etwas gegeben wird. Sie ist nicht mehr das Subjekt, dem sich die Ausleger unterwerfen, sondern ganz und gar Objekt, das dem Ausleger unterworfen ist. Es fehlt denjenigen, die sie auslegen, die Demut. Sie hören nicht mehr auf die Stimme, die ruft, weil sie schon wissen, was drin steht. Die Bücher der biblischen Bibliothek haben aufgehört zu flüstern. Was ist die Alternative? Historische Kritik? Tiefenpsychologische Exegese? Bibliodrama? Tatsächlich hat die Objektivierung der Bibel subjektivistische Gegenbewegungen ausgelöst. Während der Pietismus eine andächtige Lesekultur forderte, propagierten der Rationalismus und die Aufklärung eine kritische Lektüre. Beide Strömungen fanden im 19. Jahrhundert bei Friedrich D.E. Schleiermacher eine geniale Kombination. Das 20. Jahrhundert wiederum begann mit dem Protest gegen die Tendenz einer modernistischen Verkürzung. Die Wort Gottes-Theologie argumentierte wieder reformatorisch, aber interpretierte die Interpretationsregeln der Orthodoxie in neuer Weise. Wir meinen, dass das Potenzial dieser Lesart der Schrift-Lektüre – mit unserer Freundin Alice zu sprechen – in gewisser Weise in eine Welt hinter die Spiegel führt. Um den Gewinn für die evangelische Spiritualität herauszuarbeiten, folgen wir Klaas Huizing, der sich seinerseits als Vertreter einer ästhetischen Wort Gottes-Theologie äußert. Er fragt nach der Wirkung, die das Lesen der Schrift auf den Menschen hat und stellt fest, dass sie darin einzigartig ist: Durch die Lektüre erkennt sich der erlesene Mensch wie in einem Spiegel. Dieser Spiegel ist das Portrait Gottes, das die Bibel entwirft. Durch den Leseakt bildet sich die Leserin dieses Gesicht ein; sie schaut es in sich und wird transformiert. Also spricht die Bibel nicht nur zu uns, sondern liest uns auch. Sie ist Subjekt und nicht nur ein Objekt. Sie zeugt von Gott, der das Risiko der Offenbarung eingegangen ist, damit wir neu erzeugt werden.
48 Im Folgenden referiert: Huizing, Homo Legens; Huizing, Der erlesene Mensch.
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Huizing folgert daraus, dass man insbesondere die Evangelien wie eine Schauspiellehre lesen muss: Sie führen vor, wie Jesus gelesen werden soll, wie ein Spielraum entsteht, in dem der Leser ermutigt wird, umzukehren, ihm nachzugehen und ihn nachzuspielen. Die Bibel macht Gott anschaulich. Sie malt Christus vor Augen. Diese Sicht auf die Schrift traut dem Ge-Sicht aus der Schrift, traut ihr das größte Wunder zu, das ein Mensch erfahren kann: die Wiedergeburt zum neuen Menschen. Luther sagt: Uterus dei est verbum divinum – das Wort Gottes ist eine Gebärmutter und Paulus sagt: „Ich habe euch gezeugt durch das Evangelium” (1Kor 4,15). An ihren Metaphern sollst du sie erkennen: lieben und gebären. Wir erweisen uns darum als schlechte Geburtshelfer, wenn wir die Bibel zu einem Bunker der Wahrheit erklären. Nimm und lies, dann wirst Du gelesen! Wir meinen, es lohne sich, dieser Spur zu folgen und gleichsam das Wunderland der Bibel mit einem neuen Vertrauen zu betreten. Aus diesem Vertrauen erschließt sich der Sinn des sola scriptura neu. Sola scriptura ist eine Liebeserklärung. Die Schrift ist weder Bollwerk der Wahrheit noch ein Mausoleum alter Geschichten, aus denen man den Sinn herausoperieren müsste. So wie Christus der Mediator ist, wird die Schrift zum Medium der Begegnung, in der sich ihre Autorität, Durchsichtigkeit, Vollständigkeit und Wirksamkeit für diejeinigen erweisen, die sich auf das Wort verlassen
5.3
Spiritualität als Dimension in der Homiletik
Natürlich lässt sich Spiritualität als Dimension des Glaubens nicht in ein Fach sperren. Wie immer man geistliches Leben definiert, und gleichgültig, welche theologische Couleur in ihrer Bestimmung abfärbt – darin sind sich wohl alle einig: Spiritualität zeigt sich in einer Haltung, die in der Praxis gelebt und von allen, die Evangelium kommunizieren, geübt und gespürt wird. Also ist geistliches Leben etwas, das (auch) für den Beruf und im Beruf gelernt wird und insofern eine Kompetenz.49 Im Entwurf eines Kompetenzstrukturmodells der deutschschweizerischen Bildungskirche wird Spiritualität als Rahmen- und Basiskompetenz mit „glaubwürdig leben“ umschrieben und als Grundlage der Handlungen der Pfarrpersonen vorausgesetzt.50 In den klassischen Disziplinen der Praktischen Theologie wurde die Verbindung zwischen der Spiritualität und der konkreten Tätigkeit zwar seit jeher betont, aber methodologisch nicht tiefer reflektiert. Wir nehmen die Nach49 Vgl. dazu Hermisson, Spirituelle Kompetenz. Von derselben Autorin auch: Das Paradox der Funktionalität, 149–162. 50 Ha¨ uselmann/Famos/Hartmann/Schaufelberger, Aus- und Weiterbildung der evangelischreformierten Pfarrerinnen und Pfarrer.
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kriegshomiletik als Beispiel: Dass der Pfarrer doch beten möge, bevor er sich an den Schreibtisch setze und einen Text aus der Bibel zünftig und kundig auslege, damit am kommenden Sonntag die Gemeinde auch wirklich weiß, was Sache sei, blieb sozusagen ein frommer Wunsch. Und wenn ein protestantischer praktischer Theologe aus der Reihe der korrekten Theologie tanzte und für die Reintegration des Betens in die Vorbereitung theologisch plädierte, warf man ihm einen Kategorienfehler vor. Tatsächlich wird hier ein Konflikt erkennbar, auf den einzugehen sich lohnt, weil er für das Verständnis der evangelischen Spiritualität erhellend ist. Eberhard Jüngel äußerte sich in einem Vortrag unter dem Titel „Was hat die Predigt mit dem Text zu tun?“ sehr kritisch auf einen Vorschlag von Rudolf Bohren, den man in diesem Sinne als „spirituell“ interpretieren kann.51 Bohren vertrat nämlich die These, es bestehe ein Zusammenhang zwischen der Exegese und der „Heiligung des Theologen“, weil Schriftauslegung als „Bitte um den Geist“52 geschehe. Jüngel wehrt sich nicht gegen das Gebet, das allem Tun vorausgeht, kritisiert aber die (An)Gleichung von Exegese und Gebet und brandmarkt diese als eine „verhängnisvolle Vermengung“. Wenn man hier eine Abhängigkeit behaupte, sei eine methodische Schriftauslegung gar nicht mehr möglich. Denn eine Auslegung, die das Gebet instrumental verstehe, orientiere sich an der „Subjektivität des Auslegers“.53 Für Jüngel ist das ein Sakrileg. Als methodische Prämisse taugt die Heiligung deshalb nicht. Der heftige Schlagabtausch wirft notabene Licht auf eine innerevangelische Auseinandersetzung. Sie handelt davon, wie die Wechselwirkung von Geist und Wort zu verstehen sei. Sie macht auf hermeneutische Konfliktlagen zwischen den Deutungsansprüchen der aufgerufenen Autoritäten – der Schrift, der Kirche, der Wissenschaft und der Auslegenden – aufmerksam. Konflikte, die in einer Theologie und Bildungstheorie der Spiritualität zu bedenken sind. Man kommt freilich nicht weiter, wenn man die Alternative, die Jüngel in seiner Entgegnung konstruiert, ohne Rückfragen übernimmt. Weder lassen sich Subjektivität und Objektivität derart fein säuberlich trennen, dass eine gleichsam absichtslose Auslegung des Textes gelingen könnte noch ist eine solche wünschbar. Denn die theologische Existenz ist als etwas zu verstehen, das mit geistlichen Praktiken, die schon Heidi lernen musste, leibhaftig ein Leben lang geübt wird. Dass dabei die Homiletik als ars bene dicendi, als Kunst, gut zu sprechen, im Dienste der Glaubenskommunikation schwergewichtig den Weg vom Text zur Predigt zu bedenken hat, ist unbestritten. Worauf eine spirituell sensible Pre51 Jüngel, Was hat die Predigt mit dem Text zu tun, 126–143, hier zitiert aus Beutel/Drehsen/ Müller, Homiletisches Lesebuch, 111–124. 52 Vgl. dazu Bohren, Die Krise der Predigt als Frage an die Exegese, 66–92, 88f, hier zitiert aus Beutel, Homiletisches Lesebuch, 111–124, 113f. 53 Beutel, Homiletisches Lesebuch, 114.
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digtlehre aufmerksam macht, ist ein Rollenwechsel. Aus der Theologin soll eine Geistliche werden. Die Rede im Gottesdienst ist kein erwachsenbildnerischer Vortrag. Es ist das Wort eines Menschen, bei dem man eine Geistbegabung erwarten darf und gleichzeitig ein Wort an eine Versammlung von Menschen, für die dasselbe gilt. Es ist das Verdienst von Manfred Josuttis, auf die pneumatische Dimension der religiösen Zirkulation aufmerksam gemacht zu haben. Seine Forderung nach einer energetischen Homiletik schliesst deshalb nahtlos an einer Theologie der Spiritualität an.54 Wie geht das praktisch? Und wie setzt man einen solchen Anspruch im akademischen Betrieb um? Rudolf Bohren hatte schon recht: die Auslegung der Heiligen Schrift von der Heiligung des Auslegers zu trennen, ist falsch. Aber Eberhard Jüngel hatte auch recht: Heiligung lässt sich methodisch nur indirekt in Anschlag bringen. Ein Schlüssel – wir haben es oben vertieft – ist eine theologisch reflektierte geistliche Lesepraxis. Ansätze zu einer Integration der lectio divina in die Auslegung und Ausformulierung der Predigt finden sich in der homiletischen Literatur unter dem Stichwort Meditation.55 Man mache sich aber nichts vor: von Studierenden zu erwarten oder zu verlangen, sie sollen im Rahmen eines Homiletik-Seminars über einen Text meditieren und sich betend auf die Exegese vorbereiten, verlangt nach einer sorgfältigen Einführung. Ohne eine fundierte Gebetshermeneutik, ein gutes Gespür für Nähe und Distanz und mit Blick auf die Umsetzung ein gewisses didaktisches Geschick – sprich: ohne ein aufbauendes studium spirituale ist das kaum zu bewerkstelligen.
6.
Frommer Wunsch zum Schluss
Wir sind eingestiegen mit einer kritischen Frage Christian Grethleins, inwiefern der Begriff „Spiritualität“ sich für die Sache – die Kommunikation des Evangeliums – eigne. Wir meinen, der Spiritualitätsdiskurs lenke die Aufmerksamkeit der Theologie auf den praktizierten und praktizierbaren Glauben in der Gemeinde der Heiligen. Wir wissen, dass die traditionellen Frömmigkeitsformen, die dem Aufbau der Gemeinde dienen, kontextuelle Voraussetzungen haben, die nicht mehr selbstverständlich sind. Manfred Seitz nannte „eine ungebrochene Tradition, die patriarchalische Familienordnung und […] eine allgemeine Taktmäßigkeit und Langsamkeit des Lebens“.56 Christian Grethlein kommen-
54 Manfred Josuttis, Gottesgegenwart, 85–101. 55 Als Reihe: Ruhbach/Grün/Wilckens, Meditative Zugänge zu Gottesdienst und Predigt. 56 Seitz, Frömmigkeit, 674–683, 679.
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tiert, „diese kontextuellen Voraussetzungen bestehen nur noch selten“.57 Recht hat er. Aber kontextueller Wandel bedeutet nicht das Ende, sondern eine neue Herausforderung für die evangelische Spiritualität. Wir glauben auch nicht, dass Unterbrechungen im Tradierungsprozess zwingend ihren vollständigen Abbruch bedeuten. Und dass patriarchalische Muster der Familienordnung passé sind, scheint uns für die Pflege familialer Strukturen eher eine Chance als ein Verlust zu sein! Schließlich kann die Wiederentdeckung des Taktgefühls und der Langsamkeit eine verheissungsvolle Sache sein. Darum denken wir, es wird langsam Zeit, in unseren Kirchen gemeinsam an einer Kultur zu arbeiten, die Lust macht, (wieder) fromm zu werden.
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Zweiter Teil: Der zweite Artikel. Von der Erlösung
Wolf Krötke
Spiritualität im Geiste Jesu Christi
Wer den Namen Jesus Christus mit dem Begriff „Spiritualität“ in Verbindung setzt, bekommt es mit zwei verschiedenen Orten zu tun, an denen sich „Spiritualität“ ereignet. Das ist das Leben von Menschen, die an Jesus Christus glauben, und das ist das Leben Jesu, von dem die Evangelien berichten. An beiden Orten stehen im Neuen Testament Wegweiser zu der „Spiritualität“, die „christlich“ und „evangelisch“ zu heißen verdient. An beiden Orten finden wir aber auch Warnzeichen vor einer Spiritualität, die weder christlich noch evangelisch genannt werden kann.
1.
Ekstatische Christuserfahrung und die Gegenwart des irdischen, gekreuzigten Jesus
Der Ort, der als erstes in den Blick tritt, wenn von „christlicher“ bzw. von „evangelischer Spiritualität“ die Rede ist, ist die christliche Existenz. In ihr beziehen sich Menschen auf Jesus Christus. Spiritualität ist – fixiert auf diesen Ort – die „äußere Gestalt […] gelebten Glaubens“1 an Jesus Christus bzw. die „Entfaltung des gelebten christlichen Glaubens“ in „Formen des Lebensgefühls“,2 das von Jesus Christus geprägt ist. Jesus Christus ist in solcher „Spiritualität“ ein Gegenüber von Menschen, in dem Gott sich ihnen zuwendet. Er ist der Mensch, der aufgrund seiner Auferstehung und durch das Wirken des Heiligen Geistes Menschen ein neues Leben zuspricht und zueignet, das nicht von der Sünde der Zerstörung der Gottesbeziehung bestimmt ist. Dieses Leben wird im Glauben „extra nos“ erfahren und findet im Lebensvollzug seinen Ausdruck. Wie Gott in ihm zu Menschen kommt, ist dabei das Entscheidende. Natürlich spielt dabei immer eine wichtige Rolle, wie sich der irdische Jesus laut des Zeugnisses der Evangelien selbst zu Gott in Beziehung gesetzt hat. Die 1 Zimmerling, Evangelische Spiritualität, 16. 2 Wiggermann, Art. Spiritualität, 708.
318
Wolf Krötke
Traditionslinie ist breit, in der sich „christliche Spiritualität“ unter dem Leitbegriff der „Nachfolge“ in den „Fußspuren“ Jesu Christi (vgl. 1Petr 2,21) gebildet hat. Darauf ist zurückzukommen. Aber eine derartige Orientierung des christlichen Lebens am Leben des irdischen Jesus vollzog und vollzieht sich doch immer unter der Voraussetzung, dass Jesus Christus – mit Augustin gesprochen – sacramentum des Heils ist.3 „Christlicher Spiritualität“ ist deshalb ein Impuls mitgegeben, der über die Orientierung am irdischen Jesus hinaus Menschen anstößt, sich in den göttlichen Möglichkeiten des Christus und seines Geistes in eigenen, von ihm veranlassten Geistesaufschwüngen zu bewegen. Das weist nicht nur der von Adolf von Harnack so genannte „urchristliche Enthusiasmus“ in den hellenistischen Gemeinden aus.4 Dieser Impuls steckt vielmehr schon in der Grunderfahrung des auferstandenen Christus, welche die Relationen sprengte, in denen sich menschliche Wahrnehmung im Irdischen sonst vollzieht. Die Berufung von Paulus zum Apostel der „Heiden“ wird von der Apostelgeschichte als ekstatische Vision bzw. Audition geschildert (vgl. Apg 9,3–9; 22,6–11), die in diesen Relationen gar nicht zu verifizieren ist. Dass vom erhöhten Christus Geistwirkungen ausgehen, ja dass das Wirken des Heiligen Geistes „Funktionen […] des erhöhten Christus“ zu übernehmen vermag, kann als Charakteristikum des neutestamentlichen Christuszeugnisses gelten.5 Die Charismen, welche der Geist Christi bzw. der Geist Gottes Menschen verleiht, sind im Spiegel dieses Zeugnisses vielfältig.6 Paulus rechnet im Grunde damit, dass jede Christin und jeder Christ irgendein Charisma hat. Es kann sich dabei um Befähigungen handeln, die dem Zusammenleben der Gemeinde und ihrem Wirken in der Welt dienlich sind, z. B. das Verkündigen, das Dienen, das Lehren, das Ermahnen, das Abgeben von Besitz, das Leiten, das Üben von Barmherzigkeit (vgl. Röm 12,7f). Diese Befähigungen aktivieren Möglichkeiten des Handelns und Verhaltens, die schon immer zum Menschsein gehören. Anders stellt es sich bei den außerordentlichen Befähigungen dar, die der Geist Christi Menschen zuteilwerden lassen kann. Einen vorderen Platz nehmen im Neuen Testament dabei das Zungenreden und die Prophetie ein. Sie charakterisieren nach der Darstellung des Lukas die Begabung von Menschen mit dem Heiligen Geist zu Pfingsten (vgl. Apg 2,4; 19,6). Sie gehörten zusammen mit der Befähigung, Wunder zu tun und zu heilen, offenkundig zum Profil einer Gemeinde der Anfangszeit der Christenheit (vgl. 1Kor 12–14). Paulus selbst war des Zungenredens fähig (1Kor 14,18). Er hatte ekstatische Erlebnisse, in denen er Worte hörte, „die kein Mensch sagen kann“ (2Kor 12,4). 3 4 5 6
Vgl. Ohst, Urheber und Ziel, bes. 161–172. Harnack, Dogmengeschichte Bd 1, 159, Anm. 3. Vgl. zur Darstellung dieser Vielfalt: Hahn, Theologie, 274–288. Vgl. a. a. O., 283.
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Er konnte sich auf Geheimnisse berufen, die sich einer speziellen Offenbarung verdankten (vgl. Röm 11,25–27; 1Kor 15,51f). Es lag ihm wie dem ganzen neutestamentlichen Zeugnis darum fern, solche ekstatischen Phänomene grundsätzlich infrage zu stellen. Aber er musste sich auch dem Problem stellen, das die alleinige Orientierung am Geist-Christus für die Gemeinde schuf. Das war nicht nur die Demonstration von Geistbegabungen, mit welchen sich einzelne „Propheten“ selbst profilierten und die Gemeinde zu spalten drohten. Das war vor allem die Entfernung von dem Christus, zu dem der Name Jesus gehört. Aus 1Kor 12,3 kann man die erstaunliche Tatsache entnehmen, dass es in Korinth Propheten und Visionäre gegeben hat, die unter Berufung auf den Geist Christi „Jesus verflucht“ haben. Darin findet das Problem, um das es bei der Berufung auf das Geistwirken in der frühen Christenheit ging, seine äußerste Zuspitzung. Der Geist-Christus wird in einer Weise erfahren, die Menschen mit ihrem Bewusstsein in göttliche Dimensionen hinausschwingen lässt, in welcher der irdische Jesus nicht mehr vorkommt. Paulus hat dem gewehrt, indem er selbst die Gabe, „die Geister zu unterscheiden“ (1Kor 12,10) praktiziert hat. Maßstab für dieses Unterscheiden war das gravierendste Ereignis des Lebens Jesu, nämlich sein Sterben und sein Tod am Kreuz. Das paulinische Kerygma war gerade angesichts des Ausuferns von Geisterfahrungen auf den gekreuzigten Jesus Christus konzentriert (vgl. 1Kor 1,23). In ihm hat Gott die Liebe zu seinen in die Sünde der Gottesferne verstrickten Geschöpfen unwiderruflich offenbart (vgl. Röm 8,38– 39). Was sich an menschlicher Geistbegabung nicht mit dieser Liebe reimt, ist darum „nichts nütze“ (1Kor 13,3). Wo ein Leben gescheut wird, dem „allezeit das Sterben Jesu“ eingezeichnet ist (2Kor 4,10) und das nicht der Auferbauung der Gemeinde dient (vgl. 1Kor 14,26), ist fraglich, ob Menschen tatsächlich vom Geist Christi ergriffen sind. Paulus hat in seinen Briefen freilich nur in Bruchstücken auf das Auftreten und die Verkündigung Jesu Bezug genommen. Daraus ist jedoch nicht zu folgern, dass er das Leben dieses Menschen und seine Botschaft aus seiner Verkündigung programmatisch heraushalten wollte. Wenn er bekennt, „Christus nach dem Fleisch“ nicht mehr zu kennen (2Kor 5,16), dann bedeutet das nur, dass er ihn jetzt nicht mehr mit weltlichen Maßstäben wahrnimmt. Er beurteilt sein Leben und seinen Tod vielmehr aus der Perspektive seiner Auferstehung7 – also aus der Perspektive heraus, die auch die Evangelien haben. Denn die Auferstehung Jesu Christi lädt Menschen nicht ein, dieses Leben zu vergessen. Sie lässt es in der Kraft des Geistes vielmehr bleibend gegenwärtig sein und werden.8 Das Johannesevangelium hat den Heiligen Geist dementsprechend so verstanden, dass er die Menschen „alles lehren“ wird, was Jesus den Jüngern gesagt hat (Joh 14,26, 7 Vgl. zur Auslegungsgeschichte von 2Kor 5,16: Wolff, Der zweite Brief, 123–127. 8 Vgl. hierzu Krötke, Wolf, Die christologische Bedeutung.
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vgl. auch Mt 28,20). Ähnlich wie für Paulus die Orientierung am gekreuzigten Jesus Christus Maßstab für die Beurteilung von Geistbegabungen war, hat der mit dem Johannesevangelium vertraute 1. Johannesbrief den „ins Fleisch gekommenen Jesus Christus“ zum Maßstab des „Prüfens der Geister“ gemacht (1Joh 4,1–3). Der geistgewirkten „Spiritualität“, in der sich Menschen auf Jesus Christus beziehen, werden in den neutestamentlichen Schilderungen von Geistbegabungen also deutliche Grenzen gesetzt. Diese Grenzziehung bleibt gültig auch über die neutestamentliche Zeit hinaus, in der sich die geschilderten ekstatischen Phänomene nicht zuletzt dem Klima der Naherwartung der Wiederkunft Jesu Christi verdankten. Denn das Interesse an „neuen“ Geisterfahrungen mit subjektiver Erlebnisqualität9 begleitet nicht nur den Weg der Alten Kirche und die ganze Kirchengeschichte. Es ist heute in zahlreichen „charismatischen“ Gruppierungen in der weltweiten Christenheit präsent. Es wird beim Plädoyer für den religiösen Pluralismus unserer Zeit sogar als Ausweis der eigentlichen Lebenskraft des christlichen Glaubens verstanden, während man für jene Grenzziehung im „Unterscheiden der Geister“ die sogenannte „Amtskirche“ verantwortlich macht.10 Doch die Begrenzung von ausufernden Geistererfahrungen, die von religiöser Imaginationskraft nur noch schwer zu unterscheiden waren, haben nicht nur dem Versickern des Glaubens an Jesus Christus in den religiösen Strömungen der Antike entgegengewirkt. Sie haben vor allem den Wurzelgrund des ursprünglichen Bekenntnisses zu Jesus Christus lebendig erhalten. Das aber ist das Zusammenstimmen der Erfahrung des Geistes mit dem Leben und Sterben des Menschen Jesus, das in der Kreuzestheologie des Apostels Paulus und in der Kanonisierung der vier Evangelien vom Lebensweg Jesu seinen stärksten Ausdruck fand.
9 Für dieses Interesse steht innerhalb des NT vor allem die Offb gut. Sie bezieht sich zwar auf die Überlieferung von Jesus und seinem Tod. Der Seher Johannes empfängt jedoch vom Geist Jesu Christi Visionen über neue Ereignisse, die „in Kürze“ eintreten werden (vgl. Offb 1,1f). Die Aufnahme dieses Buches in den Kanon war umstritten. Es hat eingeprägt, dass der christliche Glaube ohne Hoffnung auf das Eschaton Jesu Christi nicht sein kann. Aber es hat auch immer wieder zu sektiererischen Spekulationen Anlass gegeben. 10 Vgl. z. B. Langer, Was die Bibel verschweigt. Die „Neue Prophetie von Pepouza“, die Gnosis, das Thomas- und das Judasevangelium werden hier als das eigentliche Zukunftspotenzial des Christentums ausgegeben. – Friedrich Wilhelm Graf assistiert dieser fragwürdigen Behauptung mit dem Lob der „Bastelreligiosität“, in der sich „der moderne Mensch eine Glaubenswelt nach seinem Geschmack“ baut (Ders., Viele neue Christentümer, 60).
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2.
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Spiritualität als „gutes Werk“ und das Unterscheiden der Geister
Wie oben schon angedeutet wurde, ging es im neutestamentlichen Zeugnis von der Einheit des erhöhten Christus und des irdischen, gekreuzigten Jesus nicht darum, den ekstatischen Charakter des Glaubens an Jesus Christus selbst infrage zu stellen. Das hat besonders die reformatorische Theologie eingeprägt. Sie verstand den Glauben an Jesus Christus als Vertrauen zu Gott, der sich der Menschenwelt und jedem Menschen zuwendet. Glauben ist in diesem Sinne – mit Paul Tillich geredet – ein „Bewußtseinszustand“, in dem „die Grundbedingung der endlichen Rationalität“, die „Subjekt-Objekt-Struktur“, transzendiert wird.11 Es wird einem Geheimnis vertraut, das außerhalb von menschlichen Vernunftund Verstandesmöglichkeiten liegt, sich in der Wirklichkeit zu orientieren. Dieses Geheimnis ist der Mensch Jesus als der Christus, in dem sich Menschen außerhalb ihrer selbst als „neue Kreatur“ erfahren.12 Das entspricht dem reformatorischen Verständnis des Glaubens als eines extra se esse. Im Glauben, hat Martin Luther gesagt, lebt „ein Christenmensch nicht in sich selbst, […] sondern in Christo fähret er über sich in Gott“.13 In diesem „Über-sich-Hinausfahren“ liegt in der Tat der Wurzelgrund aller christlichen Spiritualität. Aber es ist, indem Menschen dabei mit Gott zugleich auf den Menschen Jesus in den klaren Konturen seines Lebens treffen, kein Hinausfahren ins Irgendwo der religiösen Imagination. Wiederum Paul Tillich hat mit Recht den Unterschied zwischen dem ekstatischen Grundakt des Glaubens und der „religiösen Überreizung“14 geltend gemacht, in der Menschen das Wirken des Geistes Jesu Christi der Regie ihrer eigenen subjektiven Geistesmöglichkeiten unterordnen. Wenn dergleichen Platz greift, gewinnt das die Oberhand, was Friedrich Schiller in seinem Gedicht „Das Ideal und das Leben“ gepriesen hat: Des „Erdenlebens schweres Traumbild sinkt und sinkt und sinkt“.15 Der biblisch orientierte Glaube an den Menschen, in dem Gott seine Menschenliebe unwiderruflich gemacht hat, widerspricht dem. Denn im extra se esse des Glaubens treffen Menschen auf den mit dem Menschen Jesus verbundenen Gott, der seine Schöpfung nicht dem Versinken ins Nirgendwo preisgibt. Sie treffen auf den Gott, der seine Schöpfung bejaht, wenn er Glauben an seine Menschenliebe weckt. Dieser Glaube zerstört die Grenzen, die allem geschöpflichen Leben gesetzt sind, nicht mit irrationalem Enthusiasmus.16 Er bejaht sie 11 12 13 14 15 16
Tillich, Systematische Theologie, 135. Vgl. hierzu die Interpretation von 2Kor 5,17 durch Jüngel, Außer sich. Luther, Von der Freiheit, 286. Tillich, Systematische Theologie, 136. Schiller, Gesammelte Werke Bd. 1, 205. Vgl. Tillich, Systematische Theologie, 136.
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vielmehr, indem er sie als Bedingungen versteht, unter denen das Ergriffensein vom Geist Jesu Christi in der Welt gelebt werden kann. „Christliche Spiritualität“ ist demnach die durch den Glauben ermöglichte Antwort von Menschen auf die Erfahrung, die sie „außer sich“ bei der Begegnung mit dem vom Neuen Testament bezeugten und im Geist lebendigen Jesus Christus gemacht haben. Indem Glaubende von der Christus-Erfahrung extra se auf ihr Leben in den Grenzen der Welt zurückkommen, steht dieses Leben darum unter dem Vorzeichen der Öffnung für immer wieder neue Glaubenserfahrung. Diese Öffnung hat – reformatorisch gesprochen – zweifellos den Charakter eines Werkes, eines „guten Werkes“ sogar. Ein „gutes Werk“ zeichnet sich aber dadurch aus, dass Menschen sich mit ihm weder selbst profilieren noch sich gar mit ihm etwas verdienen wollen. Ein gutes Werk ist ein selbstloses Werk. Es wird nicht für irgendeinen religiösen oder weltlichen Zweck inszeniert. Es sprudelt aus dem Glauben hervor wie aus einer Quelle oder sprießt wie ein Zweig am Baum, hat Luther gemeint. Es wird nicht aufgrund eines Gesetzes getan, das Menschen unter Leistungsdruck setzt.17 Sein Kennzeichen ist die Freiheit, in der es ins Werk gesetzt wird. In dieser Freiheit konnte Paulus aus seiner eigenen Glaubenserfahrung heraus überschwänglich versichern: „Alles ist mir erlaubt“. Aber er hat – wie Luther übersetzt hat – hinzugefügt: „nicht alles frommt“ (1Kor 6,12). Das heißt, nicht alles, was in unseren menschlichen Möglichkeiten liegt, auf die Christuserfahrung zu antworten, ist Jesus Christus auch angemessen. Denn die Freiheit, zu der Jesus Christus befreit, ist nicht die Freiheit zu allem Möglichen, sondern die Freiheit, in Liebe einander zu dienen (Gal 5,13). Wird das Verhalten von Glaubenden dagegen wieder von der Sarx bestimmt, dann geht die Freiheit, zu der Christus befreit, verloren. Dann beginnen Selbstsucht und Eigennutz das Leben zu dominieren. Das gilt auch für die Handlungen und Praktiken, mit denen sich Menschen in eigenen religiösen Unternehmungen auf Gott beziehen; also für den ganzen Bereich, der heute „Spiritualität“ genannt wird.18 Der reformatorischen Theologie ist von einer ihrer Grundeinsichten her, nämlich, dass „gute, fromme Werke […] nimmermehr einen guten frommen Mann“ machen,19 ein gewisse Abwehr dieses Begriffs in die Wiege gelegt. Zu deutlich stand und steht ihr im Spiegel der „Spiritualität“ des durchschnittlichen Klosterlebens des 16. Jahrhunderts und der von der Kirche beförderten Volks17 Luther war darum kein Freund des „tertius usus legis“, der das Leben und damit die „Spiritualität“ von Glaubenden gesetzlich normiert. Für ihn galt: „Darum bedarfst du nicht lange gute Werke fordern von dem, der glaubt. Denn der Glaube lehrt ihn alles und dann ist alles wohl getan“ (Predigt von 1523, WA 12, 559, 27–29). 18 Nach Wiggermann, stammt der Begriff, wie er heute verwendet wird, aus der „katholischen Ordenstheologie Frankreichs“, ders., Art. Spiritualität, 708. 19 Luther, Von der Freiheit, 280.
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frömmigkeit vor Augen, wie die von der Sarx geleiteten „Frommen“ die wahre Gottesbeziehung verfehlten. In der von der Sarx infiltrierten „Spiritualität“ sind solche „Frommen“ nur verblendete „Doppelgänger“ der Menschen,20 die aus der eigentlichen Ekstase des Glaubens heraus leben. Reformatorische Theologie ist von daher religionskritisch gegenüber einer „Spiritualität“, die beansprucht, durch irgendwelche Aufbrüche ins „Transzendente“ eine Beziehung zu Gott zu pflegen. Wenn dieser Begriff – nicht zuletzt veranlasst durch eine EKD-Studie21 – dennoch auch in der evangelischen Kirche und Theologie heimisch geworden ist, dann verdankt sich das der Tatsache, dass die Reformation eine Fülle von Verhaltensweisen freigesetzt hat, in der Menschen ihrem Glauben an Jesus Christus Ausdruck geben. Der bloß passive Mensch ist nicht der biblische Mensch. Im Glauben ist er zwar passiv. Aber diese Passivität, in der Menschen die Lebenskräfte Jesu Christi zuströmen, macht aktiv. Sie ist „kreative Passivität“.22 Das bedeutet: Menschen, die an Jesus Christus glauben, sind frei, alte Ausdrucksformen des Glaubens aufzunehmen und zu verwandeln, aber auch neue Ausdrucksformen zu entdecken, die ihrem Leben im 21. Jahrhundert geschuldet sind. Sie werden dabei heute allerdings auch in die sogenannte „Wiederkehr der Religion“ verwickelt, in welcher Menschen ihrem Unbehagen an einem in die technisierte Gesellschaft eingepassten Leben Ausdruck geben. Gegenüber der Verunsicherung, welche die Modernisierungsprozesse dieser Gesellschaft auslösen, kommt es zur „Renaissance einer neuartigen, subjektiven Glaubensanarchie“,23 die auch in die christlichen Gemeinden einwandert. Sie zeichnet sich dadurch aus, dass sie sich keinen Ausdrucksweisen des Glaubens in der christlichen und damit auch der protestantischen Tradition mehr verpflichtet weiß. Sie „bastelt“24 sich eine individualistische Religion aus Versatzstücken dieser Tradition, aus anderen Religionen, aus „Esoterik“, Magie, Spiritismus usw. zusammen. In ihr spielt nicht „Gott“, sondern der eigene Umgang mit dem „Transzendenten“ von mehr oder weniger großer Reichweite die wichtigste Rolle. Ulrich H. J. Körtner hat solche „Spiritualität“ eine „Religion ohne Gott“ genannt.25
20 Vgl. hierzu Jüngel, Zur Freiheit 133f. Jüngel analysiert hier Luthers Verständnis des „inneren“ und des „äußeren Menschen“. Der „innere Mensch“ versteht sich im Glauben von außerhalb seiner selbst. Der „äußere Mensch“ ist der von der Welt geleitete Mensch, der sich aber gleichwohl in eigener „spiritueller Aktivität“ als „innerer Mensch“ darzustellen versucht und insofern ein fehl geleiteter „Doppelgänger“ des inneren Menschen ist. 21 Vgl. Evangelische Spiritualität. Überlegungen und Anstöße. 22 Jüngel, Außer sich, 48. 23 Beck, Der eigene Gott, 114. 24 Zum Begriff der „Bastelreligiosität“ vgl. Beck, a. a. O., 113 u. ö. 25 Vgl. Körtner, Wiederkehr der Religion, bes. 51–70.
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„Spiritualität“ in diesem Sinne ist heute zu einem „Modewort“ geworden, das in den verschiedensten Bedeutungen schillert.26 Fulbert Steffensky hat angesichts der „Magie“ dieses Wortes und der „Aufblähung des Spiritualitätsmarktes“ sogar die Vermutung geäußert, dieses Wort könne eines von den „Irrlichtern“ sein, das „selber schon die Inhalte“ ersetzt, „die damit gemeint sein könnten“.27 Jedenfalls kann es mit vielen Inhalten gefüllt werden. Angesichts dessen ist das „Unterscheiden der Geister“, in welches das neutestamentliche Zeugnis von Christus und dem Wirken seines Geistes einübt, heute wie ehedem eine kirchliche und theologische Aufgabe von großer Dringlichkeit. Jene „Spiritualität“ im Bastelmodus kann zwar einerseits Impulse des Lebens und Sterbens Jesu Christi aufnehmen und zum Ausdruck bringen. Wenn sie aber – indem „Spiritualität“ als „Suchbegriff“ verstanden wird28 – die an Jesus Christus glaubenden Menschen in die Schar der Suchenden einreiht, die in unserer rationalisierten Gesellschaft nur sich selber suchen, dann wird es problematisch. Zwar sind Menschen, die an Jesus Christus glauben, suchende Menschen, welche die rechte Antwort auf ihre Begegnung mit ihm suchen. Aber sie suchen nicht im Nebel irgendeiner Transzendenz. Sie suchen als Gefundene. Sie suchen danach, ihrem Gefundensein als von Gott geliebte Menschen mit „Herzen, Mund und Händen“ den richtigen Ausdruck zu geben. Ihre Aufbrüche sind von dem geleitet, der schon längst vor ihnen aufgebrochen ist, um ihnen den Weg zur Gemeinschaft mit Gott und der Liebe zu ihren Mitmenschen zu bahnen. Er ist für sie darum nicht nur sacramentum, sondern auch exemplum des Lebens eines „wahren Menschen“, das ihrem eigenen Leben Kontur gibt.
3.
Spiritualität als christologische Kategorie?
Wenn der Mensch Jesus auch exemplum und damit „Vorbild“ für die Lebensführung von Christinnen und Christen ist, wird es unvermeidlich, auch von seiner „Spiritualität“ zu reden, in welcher er sich auf Gott, seinen „Vater“, bezogen hat. Jesu Verkündigen der Nähe des Reiches Gottes, seine Auslegungen des Gesetzes Gottes, seine Zuwendung zu den „Sündern“ und Armen, sein Beten, sein Fasten, seine Wundertaten, seine Berufung von Jüngern in die Nachfolge, seine Bereitschaft zu leiden und viele andere Einzelzüge seines Auftretens lassen sich durchaus in Analogie zu der „Spiritualität“ verstehen, in welcher Christinnen 26 Köpf, Art. Spiritualität I, 1590. Auf der Website der EKD werden nicht weniger als 22 Stichworte angegeben, die das Stichwort „Spiritualität“ konkretisieren, darunter „Träume“, „Tanz“, „Spiel“, „Glück“, „Erotik“, „Engel“, „Angst“ (vgl. https://ekd.de/glauben/spirituali taet/index.html.)! 27 Steffensky, Schwarzbrot-Spiritualität, 7. 28 A. a. O., 12.
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und Christen ihrem Glauben Ausdruck geben. Der auferstandene Christus bringt, indem er kraft seines Geistes – und assistiert vom Zeugnis der Evangelien – mit seinem irdischen Leben gegenwärtig wird, die menschlichen Ausdrucksformen des Glaubens an ihn mit. Doch es gibt Gründe, die zögern lassen, Jesu „Spiritualität“ in einer direkten Linie mit den Ausdrucksformen des Glaubens an ihn zu verstehen. Dieses Zögern ist zunächst darin begründet, dass wir Jesus nach Ostern nicht mehr davon abstrahieren können, dass Gott ihn „zum Sohn Gottes in Kraft eingesetzt hat“ (Röm 1,4). Sein irdisches Leben, wie es uns heute begegnet, ist dadurch vom Leben der Christenheit qualitativ unterschieden.29 Selbst wenn der „historische Jesus“ sich selbst keine christologischen Hoheitstitel zugelegt hat, ist er doch mit einem „Vollmachtsanspruch“ aufgetreten,30 welcher der Antwort der Christinnen und Christen auf das Zeugnis seines Lebens und Sterbens schwerlich geziemt. Den Anspruch, das Reich Gottes definitiv zu vergegenwärtigen, können keine Christin und kein Christ erheben. Das Selbstbewusstsein des johanneischen Jesus Christus, mit Gott dem Vater „eins zu sein“ (vgl. Joh 10,30), kann schwerlich der Grundtenor des Lebens derer sein, die darauf mit ihrer Lebensführung die rechte Antwort suchen. Zwischen der im Neuen Testament erkennbaren „Spiritualität Jesu“ und der Antwort von Christinnen und Christen darauf gibt es also eine Differenz, die den Wunsch, „wie Jesus zu leben“, als vermessen erscheinen lassen. Kein Mensch kann den Anspruch erheben, als Mensch ein Christus zu sein, in dessen Handeln und Verhalten für alle Zeit entschieden ist, wie Gott und Mensch sich zueinander verhalten. Die Spiritualität der Christenheit, die sich von der Spiritualität Jesu bewegen lässt, kann höchsten nur das Echo eines in viel menschliche Fehlsamkeit verwickelten Versuchs sein, dem hohen Niveau der Gottesgewissheit des im Neuen Testament bezeugten Menschen Jesus zu folgen. Hinzu kommt ein Weiteres. Zwar nicht mit diesem Begriff, aber doch in der Sache versucht die sogenannte „Christologie von unten“ das Bekenntnis zu Jesus als „Christus“ Menschen unserer Zeit als grundsätzlich in den Möglichkeiten jedes Menschen liegendes Vermögen, „Christus“ zu sein, einleuchtend zu machen. Wegweisend für dieses Verfahren ist in der evangelischen Theologie die Christologie Friedrich Schleiermachers. Er hat sie in eine Anthropologie eingezeichnet, für welche das transzendentale Gefühl „schlechthiniger Abhängigkeit“, das sich in der geschichtlichen Existenz von Menschen als „Gottesbewusstsein“ niederschlägt, wesentlich ist. Menschen werden sich ihrer selbst so bewusst, dass
29 Vgl. hierzu Krötke, Vorösterlicher Jesus – nachösterlicher Christus. 30 Vgl. zur Problematik der christologischen Relevanz dieses Anspruchs: Konradt, Vollmachtsanspruch.
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sie in der „Beziehung zu Gott“ stehen.31 Allerdings ist das Gottesbewusstsein bei allen Menschen immer nur mehr oder weniger stark entwickelt, da es vom sinnlichen Selbstbewusstsein gehemmt wird. An dieser Stelle wird die Christologie als Exempel gelingenden Menschseins ins Spiel gebracht. Denn die Evangelien verschaffen uns nach Schleiermacher den „Totaleindruck“, dass bei Jesus das Gottesbewusstsein im Unterschied zu uns vollkommen entwickelt war. Darum gilt: „Der Erlöser […] ist allen Menschen gleich vermöge der Selbigkeit der menschlichen Natur, von Allen aber unterschieden durch die stetige Kräftigkeit seines Gottesbewusstseins, welche ein eigentliches Sein Gottes in ihm war“.32 Bei Jesus waren demnach alle Faktoren seiner menschlichen Entwicklung so geordnet, dass die Sünde als Störung des Gottesbewusstseins nicht entstehen konnte. Das erkennt die christliche Religion als das Göttliche in Jesus. Dementsprechend ist Jesus für sie nicht nur ein Vorbild des Glaubens. Er ist „Urbild“.33 Nur von ihm geht diejenige Kräftigkeit des Gottesbewusstseins aus, die bei anderen Menschen das Bewusstsein der Erlösung weckt. Das „Gottesbewusstsein“, das bei Schleiermacher zu einer christologischen Kategorie wird, kann man sicherlich dem zuordnen, was heute der Begriff „Spiritualität“ ausdrücken soll. Denn die ontologisch gemeinten Aussagen der „Christologie von oben“ werden hier in Kategorien des religiösen Bewusstseins transformiert, das im Grundsatz allen Menschen eigen ist. Dem Bekenntnis zu Jesus als Christus soll damit die Anstößigkeit für das neuzeitliche Wirklichkeitsverständnis, das keine Transzendenz kennt, genommen werden. Als gewissermaßen vertretbares Geheimnis bleiben nur die ungeklärten Umstände auf dem Plan, unter denen sich das Gottesbewusstsein Jesu entwickelt haben soll. Diese bewusstseins-theologische Konstruktion der Entwicklung des „Seins Gottes“ in Jesus von seiner Kindheit an hat zwar mit Recht nicht viel Beifall gefunden. Doch strukturell-christologisch hat ihr Prinzip, das „Sein Gottes“ in Jesus als ein grundsätzlich, wenn auch nicht faktisch in den menschlichen Möglichkeiten liegendes Vermögen zu deuten, Schule gemacht. Die Namen von Albrecht Ritschl,34 Wilhelm Herrmann35 oder Adolf von Harnack36 stehen dafür 31 Vgl. Schleiermacher, Der christliche Glaube, Teilband 1, 32–40. 32 Schleiermacher, Der christliche Glaube, Teilband 2, 52. Schleiermacher stellte sich dieses „Sein Gottes in Jesus“ in abenteuerlicher religiöser Imagination der Kindheitsgeschichten Jesu so vor, dass sich das Gottesbewusstsein Jesu allmählich aus dem Zustand der reinsten kindlichen Unschuld (der „glücklichen kindlichen Natur“) zur reinen „geistigen Vollkräftigkeit“ oder zur „männlichen Vollkräftigkeit“ entwickelt habe (a. a. O., 5). 33 Vgl. a. a. O., 45–48. 34 Für Ritschl war die Zusammengehörigkeit des „Religiösen“ mit dem „Sittlichen“ das, was Menschen mit Jesus verbindet. Jesu „Beruf“ bestand in der „Einführung des Reiches Gottes“ als eines sittlichen Reiches (ders., Unterricht in der christlichen Religion, 49). Er stiftet die Gemeinde, damit sie dieses Reich durch „gerechtes Handeln […] hervor“ bringt (a. a. O., 34). Zu diesem Zweck vergewissert er sie der Liebe Gottes, die Menschen ihr Versagen bei der
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exemplarisch gut. Auf sie beruft sich auch der Kulturprotestantismus von heute.37 Doch während eine Spiritualität, die sich Jesu Vollmacht zu eigen machen möchte, Menschen überfordert, laufen alle die Versuche einer Ermäßigung des christlichen Bekenntnisses zu Jesus als Christus darauf hinaus, in Jesus den zu sehen, der wir eigentlich sein sollten und auf dessen Spiritualität wir deshalb als von uns zurecht gestelltes exemplum angewiesen bleiben. Die biblischen Zeugnisse vom irdischen Jesus brechen eine derartige Kanalisierung seiner Spiritualität auf. Sie fordern uns nicht auf, unseren „Totaleindruck“ von 1836, von 1900 oder von 2016 zum Maßstab eines christlichen Lebens zu machen. Wenngleich sie uns nicht hindern, „historisch-kritisch“ danach zu fragen, wie Jesus vermutlich seinen Zeitgenossen begegnet ist, bringen sie einen Überschuss von nicht kanalisierbarem Leben dieses Menschen zur Geltung. Ihm verdankt sich der Reichtum christlicher Spiritualität, die sich an den neutestamentlichen Zeugnissen von Jesus in der Geschichte der Christenheit bis heute entzündet hat. Auf Jesu Spiritualität Bezug zu nehmen, ist deshalb legitim, solange das große Tor des Zugangs zu ihr in den biblischen Zeugnissen von uns nicht bis auf ein Schlupfloch mit Eingangsbedingungen vernagelt wird.
4.
Christliche Spiritualität als Einkehr in Jesu Spiritualität
Der irdische Jesus ist exemplum der Spiritualität derer, die an ihn als Christus glauben, in dreierlei Hinsicht: Da ist erstens sein Lebensweg, den die Christenheit mit ihrer Vergegenwärtigung der Stationen dieses Weges widerspiegelt. Jesu öffentliches Auftreten und seine Passion prägen einem christlichen Leben Etappen dieses Lebensweges im Jahres- und Lebensverlauf ein. Errichtung des Reiches Gottes verzeiht. Er macht ihr die Geduld, diesem Reiche nachzustreben, zur Berufsaufgabe. 35 Herrmann, Wilhelm verstand das „innere Leben Jesu“, in welchem uns in unserer „sittlichen Not“, die „Macht des Guten“ ergreift, so, dass es mit dem „Zuge unseres Herzens zusammen“ trifft. „Während unser inneres Leben uns keinen Grund zu dem Vertrauen gibt, dass wirklich in allem, was geschieht, das Gute herrscht, so lässt uns Jesus an seiner Person die Lebensfülle und die sichere Kraft des guten Willens und damit die Macht des Guten über das Wirkliche anschauen“ (ders., Verkehr, 100). 36 „Nicht der Sohn, sondern allein der Vater gehört in das Evangelium, wie es Jesus verkündigt hat, hinein.“ Dieser Satz bringt Adolf von Harnacks Verständnis Jesu auf den Punkt (ders., Wesen des Christentums, 154). Jesus verkündete das Gottesreich als „eine stille, mächtige Gotteskraft in den Herzen“ (a. a. O., 89). Der „Wert“ dieses Menschen liegt darin, dass er „zu dem Wesen, das Himmel und Erde regiert, mein Vater sagen darf“ (a. a. O., 99). Er ist Gottes Sohn, wie wir alle Gottes Kinder sind, nur auf eine ausgezeichnete, vollkommene Weise (vgl. a. a. O., 140). 37 Vgl. hierzu: Barth, Hermeneutik, 275–305.
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Da sind zweitens die Verkündigung und die Gebote Jesu für ein Leben in seiner Nachfolge, die in der Bergpredigt (Mt 5–7) ihren konzentriertesten Ausdruck gefunden haben. Und da ist drittens das Verhältnis Jesu zu Gott, seinem „Vater“, in unablässigem Beten, in welches das „Vaterunser“ die Christenheit einweist. Alle drei Dimensionen der „Spiritualität Jesu“ hängen zusammen. Die Vergegenwärtigung seines Lebensweges kann nicht ohne das Hören auf seine Verkündigung und seine Gebote und nicht ohne das Einstimmen in sein Beten sein. Seine Verkündigung und Gebote würden zu abstrakten Prinzipien, wenn ausgeblendet würde, wie er selbst gelebt hat. Und sein Beten kann ohne sein Leben und seine Einweisung von Menschen in die Lebenspraxis von „Kindern Gottes“ (Mt 5,45) gar nicht verstanden werden. Aber doch haben diese Dimensionen von Jesu „Spiritualität“ besondere Vertiefungen der Christenheit in das Erdenleben Jesu zur Folge gehabt. Sie verdanken sich der Beeindruckung von seiner Menschlichkeit, in der er die Botschaft von der nahe herbeigekommenen Gottesherrschaft (vgl. Mk 1,15) vertreten hat. Sowohl die synoptischen Evangelien als auch das Johannesevangelium stimmen bei aller Unterschiedlichkeit ihrer Darstellung des Weges Jesu in einer Hinsicht überein: Dieser Mensch, in dem sich Gott der Menschenwelt zugewandt hat, war „als solcher kein hoher Mensch“, sondern weltlich gesehen „der ärmste Mann“.38 Seine Botschaft und sein Handeln und Verhalten ließen ihn, der für die Beheimatung jedes von Gott geliebten Menschen in dieser Welt eintrat, – im Unterschied zu den Füchsen und Vögeln (vgl. Mt 8,20 par) – gerade in dieser Welt heimatlos werden. Christliche „Spiritualität“, die sich von diesem Jesus bewegen lässt, schöpft Kraft aus dem Leben dieses Menschen, dessen „Spiritualität“ sich auf Gottes Liebe zu allen Menschen konzentrierte und die gerade darum in der Zuwendung zu den menschlichen Schattenexistenzen, zu den Armen und Verachteten ihren Ausdruck fand. Jesus ist deshalb mit Recht der Mensch „für andere“ genannt worden,39 weil er jedem Menschen als der Liebe würdig begegnet ist. Bei dieser Begegnung war die Gottesherrschaft in seinen Worten und seinen wunderbaren Krafttaten schon jetzt Gegenwart, freilich nicht in der Weise einer Schau ihrer „unmittelbaren Anwesenheit“40 (vgl. Lk 17,20f; 11,20). Sie blieb in Jesu Reden und Handeln Zukunft, die Jesus in großer Freiheit im Durchbruch geltender Prinzipien, Ordnungen und Überzeugungen vergegenwärtigte. Eine eigentümliche Fremdheit in dieser Welt kennzeichnet seine Existenz deshalb
38 Barth, Kirchliche Dogmatik IV/2, 186; vgl. zum Folgenden auch Karl Barths Darstellung des „königlichen Menschen“ in Niedrigkeit (KD IV/2, 173–293). 39 Bonhoeffer, Widerstand und Ergebung, 558. 40 Becker, Jesus von Nazaret, 172.
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ebenso wie das intensive Anteilnehmen an den Nöten und Problemen, die das Leben von Menschen in dieser Welt prägen. Beides hat in der Spiritualität der Christenheit ein mannigfaches Echo gefunden. Die Einsamkeit Jesu, in der er sich ganz auf Gott konzentrierte (vgl. z. B. Mk 1,35; 14,23 u. ö.), hat seit der frühen Christenheit bis heute – besonders in Zeiten der Bedrängnis und Verfolgung – einerseits eine Spiritualität des Rückzugs von der Welt begründet. Sein bedingungsloses Lieben bis in den Tod hat andererseits unzählige Menschen immer wieder dafür begeistert, diesem „Helden der Liebe“ ohne Macht und Herrschaftsgelüste41 mit eigenem Einsatz für die Leidenden, Hungernden, Diskriminierten und Verfolgten nachzueifern. Beides kann zusammenstimmen, indem die Konzentration auf Gott die Unermüdlichkeit der Liebe zu allen von Gott geliebten Menschen begründet. Beides sollte auch zusammenstimmen, wenn die Konzentration auf Gott in Einsamkeit nicht die Menschen aus dem Blick verlieren will, für die Gott unterschiedslos da ist. Wenn aber beides zusammenstimmt, wird christliche „Spiritualität“ ein wesentliches Merkmal der „Spiritualität“ Jesu teilen. Das ist die Bereitschaft zum Leiden. Die Evangelien stellen den Lebensweg Jesu unmissverständlich so dar, dass die weltliche Ohnmacht, in der er für die nahe Gottesherrschaft eintrat, für ihn das Leiden unter der Gewalt, die in der Welt herrscht, zur Folge hatte. Das Markusevangelium – die Urgestalt eines Evangeliums – versteht dieses Leiden geradezu als ein unvermeidbares „Muss“ (vgl. Mk 8,27–9,30). Aber auch für die anderen Evangelien gilt, dass sie im Grunde „Passionsgeschichten mit ausführlicher Einleitung“ sind.42 Primär am irdischen Jesus orientierter Spiritualität fehlt darum das Leichte, ja Fröhliche des Osterglaubens. Man kann sich das ganz gut an den Bildern verdeutlichen, welche die bildende Kunst von Jesus gezeichnet hat und zeichnet. Ein lachender, fröhlicher Jesus kommt da nicht vor. Die spezifische „Jesulein“-Verehrung zur Weihnachtszeit können wir hier ausklammern. Sie hat ihre Wurzel in der Ostererfahrung, dass Gott in der Niedrigkeit und Armut des Menschen Jesus ein neues Zeitalter des Friedens von Gott und Mensch eröffnet.43 Von Jesus selbst während seines Erdenweges aber gilt nicht nur in der bildenden und musizierenden Kunst, sondern auch in der Dogmatik der Tradition: A risu abstinuit: Er hat sich des Lachens enthalten.44 Um des wahren Menschseins Jesu 41 Vgl. Fromm, Haben und Sein, 136. 42 Kähler, Der sogenannte historische Jesus, 60. 43 Das ist das Motiv von Martin Luthers Rühmung des „herze Jesulein“ in seinem Lied „Lobt Gott, ihr Christen alle gleich“ (EG 27,5). Es hat aber auch allerhand religiösen Kitsch befördert, von dem selbst Paul Gerhardt nicht frei war, als er z. B. in dem in EG 37 gestrichenen Vers des Liedes „Ich steh’ an deiner Krippen hier“ dichtete: „Vergönne mir, o Jesulein,/ dass ich dein Mündlein küsse,/ das Mündlein, das den süßen Wein,/ auch Milch- und Honigflüsse/ weit übertrifft in seiner Kraft./ Es ist voll Labsal, Stärk und Saft,/ der Mark und Bein erquicket“. 44 Hollaz, Examen, sect. I c. 3. qu. 12 (im Anschluss an Chrysostomus).
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willen wird man diesem dogmatischen Satz nicht folgen können. Doch dass der an Jesu Spiritualität orientierte Glaubensausdruck von einem Ernst grundiert ist, der bereit ist, sich den Widerständen auszusetzen, die dem Evangelium entgegenstehen, kann wohl gelten. Seinen stärksten Ausdruck findet dieser Ernst sicherlich im Mitempfinden der Passion Jesu. Das Abschreiten des Kreuzweges Jesu in der Passionszeit, die Bilder der Qualen des Gekreuzigten, die hohe Kunst der Passionsmusiken, die Lieder und Meditationen, die „sein Leiden bedenken“ (EG 91), die Gebete, die mit Jesus in Gethsemane gebetet werden, die vielen Übersetzungen der Passionsgeschichte Jesu in unsere Zeit, aber vor allem die Tischgemeinschaft mit Jesus zu seinem Gedächtnis „in der Nacht, da er ausgeliefert wurde“ (1Kor 11,23), üben die Demut ein, in der Christinnen und Christen vom Lebensweg Jesu ihren eigenen Lebensweg bestimmen lassen. Ohne die Leiden Jesu, die letztlich die „Leiden Gottes“ an seiner ungetreuen Schöpfung sind, mitzuleiden,45 ist „christliche Spiritualität“ in der Gefahr, unernsthaft und bastelartig zu werden. Doch mit dieser Bereitschaft lässt sie sich mitnehmen von der Botschaft Jesu und seinem von ihr geprägten Leben, die allem Zementieren einer lieblosen Welt voraus ist und sie mit gewaltloser Liebe innerlich als zukunftslos so aushöhlt, wie Jesus es auf seinem Wege getan hat. Die Botschaft Jesu in Worten und Taten weiterzutragen war darum die Bestimmung derer, die er in seine Nachfolge berufen hat. Sie sollten keine stummen und tatenlosen Nutznießer seiner Botschaft und seiner wunderbaren Krafthandlungen sein. Er hat sie zum Verkündigen des Evangeliums gesandt (vgl. Mk 6,7–13 par). Das ist für alle „christliche Spiritualität“ bedeutsam. Denn wiewohl das Vertiefen in die Zeugnisse von Jesu Leben Zeiten der Ruhe und des Schweigens braucht, wird es doch nicht im Schweigen festgehalten, sondern zu eigenem Reden angetrieben. „Christliche Spiritualität“ ist darum keine stumme, wortlose und faule Geisteshaltung. Sie ist redende Spiritualität, weil Menschen durch Jesus befähigt werden, sich an Gottes Absicht zu beteiligen, seine Liebe als den einzigen Grund, der das Leben von Menschen trägt, auszubreiten. Ein „Privatchristentum“, das nur am eigenen Wohlergehen interessiert ist, findet sich darum in den Evangelien nirgends, obwohl Jesus die persönliche Beziehung des Menschen zu Gott in großer Intensität bis in den Garten Gethsemane vorgelebt hat (vgl. Mk 14,32–52). Von Gott und nicht von den Menschen gesehen zu werden, ist in dieser Beziehung auch für die wesentlich, die mit ihm auf dem Wege waren und sind (vgl. Mt 6,1–9.16–18). Doch gerade in dieser Beziehung ist das Reden, nämlich zuerst das Reden zu Gott, fundamental. 45 „Teilhaben am Leiden Gottes in Christus“ gehörte für Dietrich Bonhoeffer zum Wesen des Glaubens an Jesus Christus – gerade in einer „religionslosen“, Gott entfremdeten Umwelt (ders., Widerstand und Ergebung, 537).
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Nur als Betende hat Jesus seine Jünger gesandt und ihnen mit dem Vaterunser (Mt 6,9–13) Worte des Betens mit auf den Weg gegeben, von denen wir annehmen dürfen, dass sie ein Spiegel seines eigenen Betens sind.46 Für dieses Gebet ist charakteristisch, dass es Jede und Jeden, die es sprechen, durch die Anrede Gottes als „unser Vater“ in eine Gemeinschaft der Betenden stellt. Mit den Bitten um die Heiligung des Namens Gottes, um das Kommen seines Reiches und die Durchsetzung seines Willens „im Himmel und auf Erden“ machen sie sich das universale Anliegen der Botschaft Jesu zu eigen. Mit der Bitte um das „tägliche Brot“, die alles umfasst, was Menschen zum Leben brauchen,47 schließen sie sich an das Eintreten Jesu bei Gott und in seinem Handeln für ein bejahbares Leben jedes Menschen in Gottes Schöpfung an. Die Bitten um Vergebung der Schuld und Erlösung vom Bösen, die an erster Stelle die betreffen, die so beten, die aber auch das ganze Elend vor Augen haben, das Menschen verursachen, bringen vor Gott die wahre Situation von Menschen, mit der Jesus sich nicht abfinden wollte. Das Vaterunser ist im Grunde eine Einweisung in die „Spiritualität“ von Christinnen und Christen, die mit Jesu „Spiritualität“ in Einklang steht. Wer es betet, kann darum – wie der betende Jesus selbst – nicht Zuschauerin und Zuschauer des Kommens der Gottesherrschaft sein. Wer so betet, ist an ihrem Kommen beteiligt – mit Worten, die vom Geist des Evangeliums beflügelt, und mit den Taten, die von ihm motiviert sind. Mit den Taten, die Jesus in der Bergpredigt geboten hat, ist der Christenheit allerdings auch ein Problem in die Wiege gelegt. Ist z. B. die Feindesliebe (Mt 5,43–48) und jeglicher Gewaltverzicht (Mt 5,38–42) überhaupt eine realistische Option, wenn die Mächte des Bösen auf den Plan treten und Menschen gar nicht daran denken, auf Gewalt zu verzichten? Kann man das Gebot befolgen, sich nicht um das Morgen zu sorgen (Mt 6,34)? Ist dieses Gebot angesichts der Sorgen, die wir uns heute um die Zukunft unserer Erde machen müssen, nicht geradezu verantwortungslos? Diese Fragen sind nicht zu beantworten, indem man in der Situation verharrt, in der Jesus zu seinen Lebzeiten den Anbruch der Gottesherrschaft erwartete, mit dem alles Böse sein Ende finden wird. Zwar bleibt bedeutsam, dass Jesus dem römischen Kaiser zubilligte, mit seinen weltlichen Mitteln, also auch mit Gewalt, für den Bestand dieser Welt zu sorgen (vgl. Mt 22,21). Das Ausüben solcher Gewalt durch den Staat, zu der nach reformatorischer Einsicht auch das Recht gehörte, „rechte Kriege zu führen“,48 hat Jesu Gebote für ein Leben in der Dynamik des Kommens der Gottes46 Vgl. hierzu und zur Bedeutung des Betens im christlichen Leben ausführlich: Krötke, Beten heute. 47 Nach Martin Luther wird in dieser Bitte die ganze Welt unter den Gesichtspunkt gestellt, dass wir sie „von seiner Hand empfahen und darinne sein väterliche Güte gegen uns spüren. Denn wo er die Hand abzeucht, so kann es doch nicht endlich gedeihen noch erhalten werden, wie man wohl täglich siehet und fühlet“ (Großer Katechismus, Bekenntnisschriften, 682, 18–23). 48 CA 16, Bekenntnisschriften, 70, 18.
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herrschaft ins Klosterleben, ins „schwärmerische“ Abseits oder in das spezielle Engagement von „Friedenskirchen“ abwandern lassen. Eine derartige Abwanderung wird sicherlich nicht dadurch gestoppt, dass der „Gehorsam“, ja der „einfältige Gehorsam“ und gar „blinde Gehorsam“ der christlichen Spiritualität zur Auflage gemacht wird.49 Das Wort „Gehorsam“ kommt im Munde Jesu in den Evangelien überhaupt nicht vor! Seine Bestätigung des Gesetzes Gottes (Mt 5,17–19) war kein Exerzitium einer Gesetzlichkeit, die Unterwerfung unter die bloße Autorität seines Gebietens verlangt. Indem er die Feindesliebe, den Gewaltverzicht und die Freiheit von der Sorge lebte, ist er aller Gesetzlichkeit vielmehr zuvor gekommen. Er hat mit seinem Leben aus der Liebe Gottes Menschen motiviert, gerne zu tun, was in der Form des Gebotes zum Ausdruck kommt. Diese Motivation bleibt für die Christenheit auch in der Zeit bestehen, die Gott mit der Auferstehung dieses einen Menschen seiner Schöpfung noch einmal geschenkt hat. Es ist eine Zeit, in welcher die Macht des Bösen im Trachten und Handeln von Menschen nach wie vor durch staatliche Machtausübung und durch Gesetze des Zusammenlebens in Zaum gehalten werden muss. An der Wurzel wird dem Hass, der das Böse antreibt, damit jedoch nicht das Wasser abgegraben. Darum bleibt die beständige Einkehr in die Erfüllung der Gebote Gottes im Leben und Sterben Jesu Christi, die motiviert, für eine „bessere Gerechtigkeit“ (Mt 5,20) einzutreten, als sie das Gesetz von Gewalt und Gegengewalt festschreibt, notwendig. Der weltliche Ehrgeiz, „die triumphierende Anhängerschaft einer sogenannten ‚Weltreligion‘ zu werden“,50 wird Christinnen und Christen dabei nicht leiten. Sie teilen, indem ihr Leben im Leben Jesu verankert ist, die eigentümliche Fremdheit Jesu in dieser Welt. Ihr Leben kann aber gerade darum zum wirksamen Zeichen des Lebens werden, für das Jesus eingetreten ist. Von ihnen werden deshalb auch „Zumutungen“ an den Staat und die Gesellschaft ausgehen,51 die darauf zielen, die Gegengewalt gegen die Exzesse des Bösen und die gesetzliche Regulierung des gesellschaftlichen Zusammenlebens im Geiste Jesu zu begrenzen. Jesu Spiritualität ist nicht nur in dieser, sondern auch in jeder anderen Hinsicht, die das Verhältnis von Menschen zu Gott und ihren Mitmenschen betrifft, ein Quellbrunn christlichen Lebens, zu welchem der Geist des gegenwärtigen, auferstandenen Christus wieder und wieder führt. Ohne die Gewissheit, dass Gott der „Spiritualität“ Jesu mit eschatologischer Gültigkeit recht gegeben hat, steht – wie die Geschichte der Christenheit zeigt – die Einkehr in die Spiritualität Jesu immer wieder in der Gefahr, als bloß menschliche Anstrengung zu erlahmen. Mit dieser Gewissheit, die im Bekenntnis zu Jesus Christus ihren Ausdruck findet, aber wird sie ermutigt, jeden Tag neu mit Jesus aufzubrechen. 49 Vgl. Bonhoeffer, Nachfolge, 71; sowie ders., Kirche und Völkerwelt, 298. 50 Barth, Das christliche Leben, 157. 51 Vgl. Jüngel, Affinität, 373.
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Jens Herzer
Evangelische Spiritualität und das Neue Testament
1.
Annäherungen
Die Frage nach einer spezifisch evangelischen Spiritualität ist für das Neue Testament zunächst anachronistisch. Allerdings ist es in der Unterscheidung von anderen konfessionellen Ausprägungen von Spiritualität durchaus sinnvoll, das, was „evangelisch“ bedeutet, für die Fragerichtung auf das Neue Testament hin leitend sein zu lassen. Die evangelische Perspektive erhebt ja selbst den Anspruch, aus der Schrift als norma normans des christlichen Glaubens abgeleitet zu sein. Die sola-Formulierungen der Reformation geben gewissermaßen den Rahmen vor, in welchem sich geistliches Leben im evangelischen Sinne bewegt: Aus dem Formalprinzip des sola scriptura folgen die Sachprinzipien solus Christus, sola gratia und sola fide. Für gelebte Spiritualität, d. h. für ein Leben unter der verändernden Kraft des Geistes, sind damit Kriterien vorgegeben, die die Glaubenden in ihrer Selbstbezogenheit entlasten und auf ein Handeln Gottes außerhalb ihrer selbst beziehen. Allerdings besteht auch die Gefahr, damit unter Umständen der Entfaltung des Geistes Grenzen zu setzen, die durch eine fortschreitende dogmatische und damit menschliche Bestimmung jener Kriterien markiert sind. Diese Gefahr ist bereits im Neuen Testament reflektiert, wenn es in einer der ältesten neutestamentlichen Schriften heißt: „Löscht den Geist nicht aus. Prophetische Rede verachtet nicht. Prüft aber alles und das Gute behaltet“ (1Thess 5,19–21). Paulus benennt damit implizit eine Skepsis der Gemeinde in Thessaloniki gegenüber geistgewirkten Erfahrungen. Doch wird derselbe Paulus später die Gemeinde in Korinth zumindest implizit zu einer ebensolchen Dämpfung des Geistes auffordern, wenn er die unkontrollierten Geistesäußerungen der „Pneumatiker“ kritisiert bzw. deren geistliches „Feuer“ einhegen will, weil damit Unordnung und Eitelkeiten die durch die Taufe gestiftete geistliche Einheit der Gemeinde (vgl. 1Kor 12,13) bedrohen. Die häufig zitierte Definition von Spiritualität bei Irenäus von Lyon in seiner Schrift „Gegen die Häresien“ (V 9,2) bringt die Vielschichtigkeit des Begriffes in
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seiner das christliche Leben umgreifenden Bedeutung mit erstaunlicher Klarheit zum Ausdruck: „Die aber immer Gott fürchten und an die Ankunft seines Sohnes glauben und durch den Glauben in ihre Herzen den Geist Gottes einsenken, die werden mit Recht Menschen genannt, rein und geistig und für Gott lebend, weil sie den Geist des Vaters haben, der den Menschen reinigt und zum göttlichen Leben erhebt.“
Der aus heutiger Sicht offenbar unumgängliche und ebenso konstitutive wie problematische Erfahrungsbezug1 von Spiritualität tritt hier hinter dem Bewusstsein einer bestimmten, von Gottes Geist geprägten Lebenshaltung zurück. Diese Haltung schließt spezifische, auf das Wirken des Geistes zurückzuführende Erfahrungen nicht aus, entlastet sie aber von ihrer konstitutiven Bedeutung für ein Leben im Glauben. Für die Frage, was das Neue Testament zum Thema „evangelische Spiritualität“ beizutragen hat, ist mit dem reformatorischen Schriftprinzip ein wesentlicher Ausgangspunkt benannt. Auch wenn eine Definition von Spiritualität notorisch schwierig2 und vielleicht sogar der Sache entsprechend im Hinblick auf die Dynamik des Geistwirkens unmöglich ist, so wird man immerhin Folgendes sagen können: Insofern sich christliche Spiritualität an Gottes Handeln an und durch Christus sowie dessen Folgen im Blick auf das Gottesverhältnis der Menschen orientiert, ist sie an die Schrift als Zeugnis von diesem Gotteshandeln gebunden. Als ein solches Zeugnis ist das Neue Testament zugleich Spiegel der Bemühungen, das Schicksal Jesu Christi im Lichte des Glaubens an Gottes Verheißung zu verstehen und daraus die der Heilsverheißung angemessenen Lebensvollzüge zu erschließen. Die biblischen Autoren beschreiben den Geist Gottes als die innere Kraft seines Handelns, und ein von dieser Kraft geprägtes Leben findet seine Orientierung stets in der Schrift. Christliche und in besonderer Weise evangelische Spiritualität ist von daher eine an der Schrift orientierte und einzuübende geistliche Lebenspraxis. Insofern der Geist als Ermöglichungsgrund des Verstehens bzw. als die entscheidende Kraft jener Erschließung von Verheißung und Hoffnung des Lebens gilt, ist das Glaubensleben spirituell grundgelegt und auf Spiritualität hin angelegt. Deshalb können auch diejenigen, die dieser Wirkung des göttlichen Geistes (πνεῦμα) entsprechend leben, als „Heilige“ (ἅγιοι) oder auch direkt als „Geistliche“ (πνευματικοί) angesprochen werden.
1 Vgl. dazu z. B. Dahlgrün, Christliche Spiritualität, bes. 132–145. 2 Vgl. Zimmerling, Evangelische Spiritualität, 15f, der vor allem den engen Zusammenhang von Frömmigkeitsübung, Lebensgestaltung und Glauben betont und damit nicht nur auf die darin eingeschlossene „Vielfalt und Vielzahl von Spiritualitäten“ aufmerksam macht, sondern zugleich auch die Dimension des Geistes in ihrer ekklesiologischen Bedeutung hervorhebt.
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Eine umfassende Darstellung aller biblischen bzw. neutestamentlichen Aspekte im Hinblick auf den Begriff Spiritualität ist kaum möglich, was nicht zuletzt an seiner sachlichen Unschärfe liegt. Im Folgenden kann es daher auch nicht um eine bloße Beschreibung der Vielfalt von Phänomenen gehen, die im weitesten Sinne als Ausdruck von Spiritualität gelten könnten. In den Fokus treten zunächst die Begründungszusammenhänge und die Ausprägungen des geistlichen Lebens, und zwar unter theologisch-christologischer, pneumatologisch-anthropologischer sowie ekklesiologisch-ethischer Perspektive. Dem Bestand der Überlieferung und ihrer Wirkungsgeschichte entsprechend spielt die Paulustradition eine zentrale Rolle. In Relation dazu werden exemplarisch Perspektiven zum Thema Spiritualität aus weiteren Traditionsbereichen des neutestamentlichen Schrifttums in den Blick genommen. Darüber steht natürlich die Einsicht, dass das spirituelle Leben der frühen christlichen Gemeinden nicht in dem aufgeht, was die erhaltenen und normativ gewordenen Überlieferungen erkennen lassen.
2.
Das Leben im Geist nach dem Verständnis des Paulus
2.1
„Wenn jemand in Christus ist, geschieht neue Schöpfung“ (2Kor 5,17): theologisch-christologische Aspekte
Insofern Spiritualität eine spezifische Weise menschlicher Existenz bzw. eine bestimmte Art der Lebenshaltung und -führung unter den Bedingungen der Welt umschreibt, ist zunächst von den Begründungszusammenhängen dieser Existenzweise zu sprechen. Neutestamentlich gehört dazu wesentlich die Vorstellung eines Lebens „in Christus“, wie es der in der Überschrift zitierte Vers aus dem 2Kor des Paulus in einer besonderen Weise zum Ausdruck bringt: „Wenn jemand in Christus [ist], [geschieht] neue Schöpfung. Das Alte ist vergangen, siehe: Neues ist geworden.“ Diese Aussage ist so prägnant wie sie erklärungsbedürftig ist. Abgesehen von der schwierigen Grammatik des Satzes3 erschließt sich nicht ohne Weiteres, was Paulus mit jenem „In-Christus-Sein“ als einer Neuschöpfung meint. Oft hat man aus dieser Formel so etwas wie eine Christusmystik bzw. eine mystisch zu verstehende Teilhabe an oder Vereinigung mit Christus ableiten wollen, wie es vor allem für die Paulusinterpretationen des ausgehenden 19. und 3 Es handelt sich um einen Nominalsatz (ohne Prädikat, daher die Ergänzungen in Klammern in der Übersetzung), dessen Zusammenhang sich eher in einem deklaratorischen als einem erklärenden Sinn erschließt.
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beginnenden 20. Jahrhunderts charakteristisch war.4 Danach wird Christus auf eine geistlich zu bestimmende Weise gleichsam als ein Raum oder besser: als eine Sphäre verstanden, in welche die Menschen durch den Glauben bzw. die Taufe eintreten, in der sie nun leben und damit an Christus teilhaben.5 Dabei spielt die Vorstellung von einer besonderen, gleichsam somatisch-leiblichen Innigkeit der Verbindung mit Christus eine große Rolle, bis hin zu einer erfahrungsbetonten unio mystica, die durch den in den Glaubenden einwohnenden Geist geradezu physisch konstituiert wird.6 Von 1Kor 12 her könnte man diese Vorstellung dadurch begründen, dass dort – unter Voraussetzung einer bestimmten Übersetzungsmöglichkeit – zum einen von der Taufe „durch einen Geist in einen Leib hinein“ (ἐν ἑνὶ πνεύματι ἡμεῖς πάντες ει᾿ς ἓν σῶμα ἐβαπτίσθημεν, 12,13) die Rede ist und dieser Leib dann in 12,27 als Leib Christi in Gestalt der Gemeinde näher definiert wird.7 Gegenüber einem mystischen Verständnis der neuen Existenz „in Christus“ ist aber vor allem auf den schöpfungstheologischen Horizont des Heilshandelns Gottes an Christus hinzuweisen. Der Zusammenhang wird von Paulus in 2Kor 5,17–21 dargestellt: Die Neuschöpfung der Glaubenden „in Christus“ wird expliziert als eine Zueignung bzw. ein Zusprechen der Heilswirkung des Todes Jesu. „In-Christus-Sein“ bedeutet bei Paulus daher zunächst, dass die Glaubenden durch Christus eine neue Grundlage ihres Lebens finden (vgl. 1Kor 3,11). Gott schafft durch sein auferweckendes Handeln am Gekreuzigten die Voraussetzung dafür, dass die Menschen im Vertrauen auf dieses Handeln Gottes an Christus selbst verwandelt werden und in der Hoffnung auf die eigene Auferweckung auf neue Weise leben.8 Dies ist aber nicht in einem mystisch-geheimnisvollen Sinne zu verstehen, sondern als ein Bewusstwerden des neuen Status der Gerechtigkeit: „Gott hat den, der Sünde nicht kannte, um unseretwillen zur Sünde gemacht, damit wir durch ihn9 zur Gerechtigkeit Gottes würden“ (2Kor 5,21; vgl. auch Röm 4 5 6 7 8
Vgl. Wolter, Paulus, 226–259, bes. 227–235. Vgl. auch Schnelle, Taufe als Teilhabe, passim; ders., Paulus, 545–548. Vgl. Luz, Paul as Mystic, passim; Vollenweider, Paulinische Spiritualität, 423. Schnelle, Taufe als Teilhabe, 335. Anders etwa Schnelle, Paulus, 548f, der von einem primär „lokal-seinshafte(n) Grundverständnis“ (549) der In-Christus-Formulierung ausgeht: „Durch die Taufe gelangt der Glaubende in den Raum des pneumatischen Christus“ (548f). Kritisch Horn, Angeld des Geistes, 138f. 9 ἐν αὐτῷ – wörtl. auch hier als Möglichkeit der Übersetzung: „in ihm“ im lokalen Sinn. Dass die Formulierung „in Christus“ (und dergleichen) im Sinne von „durch Christus“ zu verstehen ist, liegt nicht nur daran, dass die griechische Partikel ἐν neben der lokalen auch instrumentale Bedeutung haben kann, sondern vor allem daran, dass Paulus selbst in 2Kor 5,18–19 das Versöhnungshandeln Gottes synonym mit den Wendungen „durch Christus“ (διὰ Χριστοῦ, V. 18) und „in Christus“ (ἐν Χριστῷ) beschreibt. Allerdings ist auch in dieser Perspektive nicht von einer einheitlichen Semantik der „In-Formulierungen“ auszugehen, was der Vielfalt der Kontexte nicht gerecht würde, in denen Paulus solche Wendungen gebraucht.
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4,24–25). Der Ritus der Taufe ist schließlich der Ort, an dem dieses Geschehen des Zuspruchs der Gottesgerechtigkeit (Rechtfertigung) für die Glaubenden konkreten lebensgeschichtlichen Bezug erhält. In der Taufe wird der Zuspruch der Wirkung des Todes Jesu durch Gott gleichsam spirituell angeeignet, indem jenes Bewusstwerden der Rechtfertigung als Wirkung des Geistes bzw. als Gabe des Geistes verstanden wird (Röm 6,1–11). Unter dieser gemeinsamen Voraussetzung wird die Gemeinde durch die Wirkung des Geistes gleichsam „zu einem Leib getauft“: Die Glaubenden werden also nicht auf mystische Weise „in einen Leib hinein getauft“, sondern sie konstituieren sich als Gemeinde durch die allen gemeinsame Taufe (1Kor 12,13). Die Taufe bildet die Verbindung der Glaubenden mit dem Tod Jesu ab; sie veranschaulicht die von Gott zugeeignete Wirkung der Rettung aus der tödlichen Beherrschung des Lebens durch die Sünde. Darin wird der Tod Jesu zu einem stellvertretenden Tod, weil seine Wirkung, nämlich die Befreiung von der Macht der das Leben beherrschenden Sünde, nun den Glaubenden zuerkannt wird, als seien sie selbst gestorben. In der Taufe wird der Tod Jesu auf eine geistliche Weise zu dem je eigenen Tod der Getauften. Sie können sich nunmehr als solche verstehen, auf die die Sünde keinen vernichtenden Zugriff mehr haben kann, weil sie gleichsam mit Christus gestorben sind und daher ebenfalls mit dem auferweckten Christus auf eine neue, veränderte bzw. verwandelte Weise „in der Neuheit des Lebens“ leben (Röm 6,4). In Gal 2,20 kann es Paulus auf folgende Weise ausdrücken: „So lebe nun nicht mehr ich, sondern Christus lebt in mir“ und zugleich betonen, dass dieses von Christus bestimmte neue Leben ein „Leben im Glauben an den Sohn Gottes“ ist, „der mich geliebt und sich selbst für mich dahingegeben hat“. Rechtfertigung und die Existenz „in Christus“ verhalten sich daher nicht wie der „Nebenkrater, der sich im Hauptkrater der Erlösungslehre der Mystik des Seins in Christo bildet“,10 sondern so, dass beide einander bedingen. Entscheidend für die neue Lebensweise ist, dass sie auf ein schöpferisches Handeln Gottes zurückgeführt wird, der mit diesem Handeln die Rechtfertigung des Menschen ermöglicht. „Gott, der die Toten lebendig macht und das Nichtseiende ins Sein ruft“ (Röm 4,17) macht auch die „in Christus“ Lebenden zu einer neuen Schöpfung (2Kor 5,17). In der Verbindung mit Christus als dem „Bild Gottes“ gewinnen sie jene Würde (δόξα/„Herrlichkeit“) der Gottebenbildlichkeit der ursprünglichen Schöpfung (vgl. Gen 1,27; Ps 8,6) wieder, die durch die Sünde verloren wurde (Röm 3,23). Die Taufe ist somit ein anschaulicher, ritueller Ausdruck dafür, wie das Erlösungsgeschehen in Bezug auf den Tod Jesu („durch Christus“) als ein geistliches Mitsterben (Röm 6,8; vgl. Gal 2,19) verstanden werden kann, das zu einer Veränderung des Status der Glaubenden vor Gott („in Christus“) und zu einem erneuerten Leben in der Verbindung „mit Christus“ 10 Schweitzer, Mystik, 220; vgl. dazu kritisch Wolter, Paulus, 232–234.
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(Röm 6,4) als „gleichsam aus den Toten lebendig Gewordene“ (6,13) führt. Das Attribut „geistlich“ benennt in diesem Zusammenhang die Gewissheit, dass sich in dieser Verbindung mit Christus der Status des Menschen zwar nicht materialgegenständlich (die Glaubenden und Getauften sind ja nicht tatsächlich gestorben), aber dennoch real verändert hat. Der todbringende Machtanspruch der Sünde ist nun ein für alle Mal gebrochen: „Die Entlohnung der Sünde ist der Tod, Gottes Gnadengabe aber ist ewiges Leben in Christus Jesus, unserem Herrn“ (Röm 6,23).
2.2
„Wer aber dem Herrn anhängt, der ist ein Geist mit ihm“ (1Kor 6,17): pneumatologisch–anthropologische Aspekte
Das neugewordene Leben „in Christus“ ist ein Leben „im Geist“, der als die innere Kraft der Erneuerung verstanden wird (2Kor 4,16–5,5). Damit ist bereits angezeigt, dass die paulinische Vorstellung von der Wirksamkeit des Heiligen Geistes als einer das Leben verändernden Kraft dezidiert anthropologische Aspekte einschließt, insofern es um eine Veränderung und Neubestimmung des Menschseins vor Gott geht. Daraus ergibt sich schließlich auch die spezifisch spirituelle Grundausrichtung des neuen Lebens, das in allen seinen Dimensionen auf jenes grundlegende Heilsgeschehen bezogen bleibt. Nach Gal 3,14 wird der Geist durch den auf Christus gerichteten Glauben empfangen und im Herzen der Menschen wirksam (2Kor 1,21f; vgl. Gal 4,6; Röm 5,5). Paulus versteht den Geist als ein von Gott geschenktes „Angeld“, ein Pfand, mit dem bereits jetzt beginnt, was eschatologisch vollendet werden wird, nämlich die Verwandlung des sterblichen Leibes in Gottes Leben hinein (2Kor 5,4f). So wie der johanneische Christus Gott als Geist identifiziert und das Leben der Glaubenden in seiner spirituellen Dimension als ein Leben „in Geist und Wahrheit“ bezeichnen kann (Joh 4,24), so kann auch Paulus den von Gott auferweckten und zum Kyrios eingesetzten Christus mit dem Geist identifizieren: „Der Herr ist der Geist, wo aber der Geist des Herrn [wirkt], [da ist] Freiheit. Wir aber schauen alle mit aufgedecktem Angesicht die Herrlichkeit des Herrn wie in einem Spiegel und werden verwandelt in sein Bild von Herrlichkeit zu Herrlichkeit, gleichsam von dem Herrn her, der der Geist ist“ (2Kor 3,17f).
Das bedeutet nicht, dass Christus und der Geist ein und derselbe sind. Im Christusbezug des Glaubens verändert vielmehr der Geist Gottes wirksam das Leben, indem er bewusst macht, was den Glaubenden von Gott geschenkt ist: „Wir aber haben nicht empfangen den Geist der Welt, sondern den Geist aus Gott, dass wir wissen können, was uns von Gott geschenkt ist“ (1Kor 2,12; vgl. 2Tim 1,7) – nämlich das Wissen um die Befreiung von der Macht der Sünde zu einem
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vom Geist Gottes bestimmten und verwandelten neuen Leben. „Geist“ wird dabei als eine nichtgegenständliche Größe verstanden und ist als solche eine Chiffre für das Ergriffensein von einer das Leben verändernden Kraft.11 Diese Kraft (δύναμις, vgl. Röm 1,16) oder auch: diese Energie (ἐνέργεια, Phil 3,21; vgl. 1Kor 12,11; sowie 12,6.10: ἐνεργήματα als Wirkungen des Geistes) zur Veränderung entspringt dem Zuspruch des Evangeliums, der frohen Botschaft von Gottes Handeln „in Christus“ zum Heil der Menschen, die sie im Glauben annehmen (Röm 10,5–17). Daraus erwächst die spirituelle Dimension des christlichen Lebens: „Ihr aber seid nicht fleischlich, sondern geistlich, wenn denn Gottes Geist in euch wohnt. Wer aber Christi Geist nicht hat, der ist nicht sein. Wenn aber Christus in euch ist, so ist der Leib zwar tot um der Sünde willen, der Geist aber ist Leben um der Gerechtigkeit willen. Wenn nun der Geist dessen, der Jesus von den Toten auferweckt hat, in euch wohnt, so wird er, der Christus von den Toten auferweckt hat, auch eure sterblichen Leiber lebendig machen durch seinen Geist, der in euch wohnt“ (Röm 8,9–11).
Die Einwohnung des Geistes ist es, durch die das neue Leben „in Christus“ seine spirituelle Tiefe erlangt. Nicht nur bei Paulus werden dafür verschiedene Metaphern verwendet. Die Glaubenden sind mit dem Geist „getränkt“ (1Kor 12,13), er ist „in die Herzen gegeben“ (2Kor 1,22, vgl. 5,5), der Geist ist „ausgegossen“ (Apg 2,33; 10,45; Tit 3,6), er „wohnt“ in den Glaubenden (Röm 8,9.11; 1Kor 3,16; 2Tim 1,14) und entsprechend gleicht deren Leib einem Tempel Gottes, erfüllt vom Heiligen Geist (1Kor 3,16; 6,19; 2Kor 6,16; vgl. Eph 2,21). In einer kongenialen Verbindung finden sich diese Vorstellungen in Röm 5,5: „[…] denn die Liebe Gottes ist ausgegossen in unsere Herzen durch den Heiligen Geist, der uns gegeben ist.“ Man könnte sogar zugespitzt sagen: Die Wirkung des Geistes besteht darin, dass Christus als Ausdruck der Liebe Gottes zur verinnerlichten Lebenskraft wird: „Nun lebe nicht mehr ich, es lebt vielmehr Christus in mir“ (Gal 2,20). Daraus ergibt sich für Paulus notwendig der Appell: „Wenn wir im Geist leben, dann lasst uns dem Geist entsprechend handeln“ (Gal 5,25). Die Notwendigkeit einer solchen Ermahnung deutet auf eine Komplikation hin, die die spirituelle Existenz der Glaubenden beeinträchtigt und die mit dem Gegensatz zwischen einer geistlichen (κατὰ πνεῦμα) und „fleischlichen“ (κατὰ σάρκα) Existenz zu tun hat. Diese modalen Bestimmungen beschreiben jeweils die Perspektive, welche das irdische Dasein bestimmt. Die Glaubenden leben zwar „im Fleisch“, d. h. unter den gottfernen und gottfeindlichen Bedingungen der irdischen Existenz, aber sie sind nicht letztgültig bestimmt von diesen Verhältnissen (2Kor 10,3), sondern durch den Geist.12 11 Das schließt keinesfalls aus, dass der Geist in seinem Wirken auch personalisiert bzw. personifiziert und ihm gleichsam ein eigenes Handeln zugeschrieben werden kann, wenn von ihm die Rede ist (vgl. etwa Röm 8,14–16.26; 1Kor 2,10–14). 12 Vgl. Schnelle, Paulus, 376–378.
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„Denn was das Gesetz nicht vermochte, weil es sich aufgrund der irdischen Verhaftung (διὰ τῆς σαρκός) als schwach erwiesen hat – [um eben dies zu vollbringen,] sandte Gott seinen eigenen Sohn in der Gleichgestalt des [von] der Sünde [beherrschten] Fleisches und verurteilte wegen [eben dieser] Sünde die Sünde im Fleisch, damit die Rechtsforderung des Gesetzes erfüllt würde unter uns, die wir nicht vom Fleisch bestimmt (κατὰ σάρκα) leben, sondern vom Geist (κατὰ πνεῦμα). Denn die vom Fleisch bestimmt sind, sind in ihrem Denken auf die fleischlichen Dinge ausgerichtet, die aber vom Geist bestimmt sind, auf die geistlichen Dinge“ (Röm 8,3–5; vgl. auch Gal 5,13–18).
Diese strikte Unterscheidung zwischen „Fleisch“ und „Geist“13 als zwei sich ausschließende Dimensionen der Bestimmtheit und der Ausrichtung des Menschseins hat bei Paulus die Konsequenz, die Glaubenden als durch den Geist Gottes Geheiligte anzusprechen. Dabei ist der enge Zusammenhang zwischen der Vorstellung von der Heiligkeit der Glaubenden und ihrer Rechtfertigung vorausgesetzt: Im Handeln Gottes an Christus, wie es der Apostel im „Wort vom Kreuz“ verkündet (1Kor 1,18; 2,1–5), findet Gottes Weisheit zur Rettung der Welt auf Seiten der Glaubenden ihren Ausdruck in der Zueignung von Gerechtigkeit, Heiligkeit und Erlösung (1Kor 1,30). Dieses Geschehen von Rechtfertigung und Heiligung ist erneut eng mit der Taufe verbunden: „Ihr seid abgewaschen, ja geheiligt, ja gerecht geworden durch den Namen unseres Herrn Jesus Christus und durch den Geist unseres Gottes“ (1Kor 6,11, vgl. bes. auch Röm 6,22 von der Taufe herkommend; ferner Eph 5,26f). Die Anrede der Glaubenden als „Heilige“ bzw. „Geheiligte“ wird daher zu einer häufigen und in der Sache angemessenen Bezeichnung.14 Die Glaubenden sind als im Geist Lebende ihrem Status der Heiligkeit entsprechend zur Heiligung aufgerufen bzw. berufen (1Thess 4,1–8). Paulus geht also von einem spirituellen Wachstumsprozess aus, der erst eschatologisch abgeschlossen sein wird. Das Leben wird zu einem „Dienst der Heiligkeit“ (Röm 6,19), in welchem die Glaubenden „Frucht bringen zur Heiligkeit – mit dem Ziel des ewigen Lebens“ (6,22; vgl. 2Kor 7,1: Vollendung der Heiligkeit in Gottesfurcht).15 Der Heiligkeit entsprechend ergeht die Mahnung zu besonderer 13 Vgl. Frey, Antithese. 14 1Kor 1,2; 6,1f; 14,33; 2Kor 1,1; vgl. 2Tim 2,21; vgl. ferner auch in besonderer, fast schon stereotyper Weise Eph 1,1.15.18; 3,8.18; 4,12; 5,3; 6,18; vgl. Horn, Angeld des Geistes, 298–301. 15 Das Thema der Heiligkeit spielt für das Verständnis von Spiritualität eine besondere Rolle, kann hier aber nicht weiter ausgeführt werden, vgl. Stettler, Heiligung bei Paulus, passim; s. auch den Artikel Evangelische Spiritualität und Heiligung in diesem Band. Der Begriff verweist nicht zuletzt auf priesterliche Aspekte von Spiritualität, wie sie etwa für die hohepriesterliche Christologie des Hebräerbriefs (vgl. Hebr 4,14–16) oder insbesondere für die Vorstellung von der priesterlichen Existenz der Glaubenden im 1Petr charakteristisch sind. 1Petr 1,2 spricht die Glaubenden ebenfalls als Erwählte „in der Heiligkeit des Geistes“ an und bezieht dies in 1,15f ausdrücklich auf Lev 19,2 (u. ö.): „Ihr sollt heilig sein, denn ich bin heilig“. Die Gemeinde repräsentiert eine heilige Priesterschaft, die geistliche Opfer darbringt und gleichsam ein geistliches Haus mit lebendigen Steinen darstellt (1Petr 2,5), eine „königliche Priesterschaft, heiliges Volk, Volk des Eigentums“ (2,9).
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Reinheit im Lebenswandel, insbesondere, was sexuelle Verfehlungen angeht (vgl. 1Thess 4,3–5; 1Kor 5,1–13; 6,12–20; 2Kor 7,1). Die existenzielle Komplikation, von der oben die Rede war, liegt in der bleibenden Spannung begründet, dass die Gerechtfertigten, vom Machtanspruch der Sünde Befreiten, vom Geist Gottes her Lebenden und somit „Heiligen“ nach wie vor in der Welt existieren, in der die Sünde und ihre Folgen eine reale Macht bleiben.16 Paulus thematisiert diese Spannung ausdrücklich, indem er in Röm 7 zunächst noch einmal festhält, dass die auf Christus Getauften realiter dem Gesetz – und das heißt für Paulus: der Sünde, die durch den Buchstaben des Gesetzes in ihrer zum Tode verurteilenden Macht sichtbar wird (Röm 3,20; 7,7– 13) – gestorben sind und nun „in der Neuheit des Geistes“ leben (7,6). Paulus kann in diesem Zusammenhang sogar das Gesetz „geistlich“ nennen (7,14). Daher kontrastiert er die geistliche Gewissheit, mit der er die Sünde überwunden weiß, mit einer nicht minder realen Erfahrung. Die geistliche Gewissheit und die Absicht des Guten wird durch das faktische Tun auch des geistlichen Menschen dadurch unterlaufen, dass die Macht der Sünde weiterhin mittels der „fleischlichen“ Existenz auf den Glaubenden zugreift: „Denn ich tue nicht das Gute, das ich will, sondern das Böse, das ich nicht will, tue ich“ (Röm 7,19). Zwar weiß Paulus, dass der Leib bereits durch den Geist in einer Verwandlung hin zu einer eschatologischen Existenz begriffen ist. Aber dies ist letztlich nur als eine Glaubenswirklichkeit greifbar, nicht als eine gegenständlich erfahrbare Realität: „Denn in der Weise des Glaubens leben wir, nicht in der Weise des Schauens“ (2Kor 5,7). Die leibliche Existenz des Menschen ist nach wie vor eine, die auf Rettung angewiesen ist: „Ich bemitleidenswerter Mensch, wer wird mich erretten aus diesem Todesleib?“ (Röm 7,24). Daher bleibt dem angefochtenen Menschen nur die Hoffnung auf den rettenden Gott (7,15). Für Paulus ist dies das Resümee einer langen Erfahrung von Anfechtung, Leidensumständen und Infragestellungen, die seine apostolische Existenz zutiefst prägten (s. u.). Auch wenn dies in der Auslegungsgeschichte bis in die Gegenwart höchst umstritten ist, so wird man davon ausgehen können, dass Paulus in Röm 7 – geprägt von eigenen Erfahrungen – über den Menschen in seiner christlichen Existenz und spirituellen Not zwischen täglichem Angefochtensein und dem Bewusstsein von Rechtfertigung und Heiligung spricht.17 Diese Sicht hat Luther in seiner Römerbriefvorlesung mit Bezug auf Röm 7 in der Formel simul iustus
16 Vgl. Herzer, Gesetz und Su¨ nde im Römerbrief, passim. 17 Vgl. z. B. Dunn, Romans 1–8, 377; dagegen z. B. Wolter, Brief an die Römer, 423–467, bes. 465– 467, wonach Paulus hier in einer Art Rückblick noch einmal „eine vor- und außerchristliche Existenzweise beschreibt, wie sie […] für eine Vielzahl von Menschen charakteristisch ist“ (465). Eine knappe Übersicht über die einzelnen Deutungsvarianten findet sich bei Wolter, a. a. O. 426f.
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est et peccat zusammengefasst.18 Für das Verständnis von Spiritualität ist diese spannungsvolle Komplikation wichtig, weil sie unter Umständen durch eine allzu enthusiastische Betonung der Geistesexistenz in den Hintergrund treten kann und damit ein Maßstab christlicher Existenz etabliert würde, der den Bezug zum Heilshandeln Gottes in Kreuz und Auferweckung Jesu verliert.
2.3
„Welche von Gottes Geist getrieben werden, die sind Kinder Gottes“ (Röm 8,14): ekklesiologisch–ethische Aspekte
Aus den anthropologischen Aspekten der Geistbegabung ergibt sich ein enger Zusammenhang von Geistwirkung und Leiblichkeit in Bezug auf die spirituelle Existenz der Glaubenden. Die Konsequenz dieses Zusammenhanges für die konkrete Entfaltung des geistlichen Lebens in der Christus- und Christengemeinschaft beschreibt Paulus pointiert in Röm 12,1f als eine Erneuerung des Richtungssinnes der Vernunft: „Ich ermahne euch nun, Geschwister, durch das Erbarmen Gottes, dass ihr eure Leiber als ein Opfer darbringt – lebendig, heilig und Gott wohlgefällig, als euren angemessenen Gottesdienst, und passt euch nicht dieser Welt an, sondern wandelt euch durch die Erneuerung eurer Gesinnung, damit ihr prüfen [könnt], was Gottes Wille sei: das Gute, Wohlgefällige und Vollkommene.“
Ohne dass hier ausdrücklich vom Geist die Rede sein müsste, wird für Paulus das Leben der durch den Geist Bestimmten als Ganzes zu einem „Gottesdienst“, zu einer Gabe von Verehrung und Anbetung, die gleichsam an Gott zurückgegeben wird. Das Attribut λογικός („angemessen/entsprechend/vernünftig“) gewinnt durch den bei Paulus vorauszusetzenden Begründungszusammenhang einen Bedeutungsgehalt, der seine Übersetzung als „geistlich“ bzw. „spirituell“ nahelegt.19 Vor dem Hintergrund des vom Geist – metaphorisch gesprochen – geradezu infusorisch bestimmten Lebens spricht Paulus die Glaubenden (als Getaufte) als „Pneumatiker“ (πνευματικοί [lat. spiritales], Gal 6,1; 1Kor 2,15; 3,1) an,20 eine Bezeichnung, mit der im 1Kor „die vom Geist Bestimmten“ von den „Psychikern“ (ψυχικοί) unterschieden werden.21 Diese sind in ihrer irdischen, an die Welt angepassten und ihr entsprechenden Verfassung (vgl. Röm 12,1f) nicht fähig, die 18 Vgl. Luther, Vorlesung über den Römerbrief, 347. Luther kann hier bereits auf eine von Augustinus herkommende Tradition anknüpfen, vgl. dazu Lichtenberger, Das Ich Adams, 21–28. 19 Vgl. in diesem Sinne Dunn, Romans 9–16, 707.711f. 20 Vgl. Horn, Angeld des Geistes, 187f; Barclay, Πνευματικός, passim. 21 Vgl. Horn, Angeld des Geistes, 188–201.
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geistliche Tiefe der Existenz vor Gott zu erkennen. Jene hingegen sind in der Lage, auf geistliche Weise gottgefällig zu leben und die geistlichen Zusammenhänge dieses Lebens recht zu beurteilen (1Kor 2,13–15).22 Als „Pneumatiker“ müssen sie sich auffordern lassen, nach den geistlichen Gaben (πνευματικά) zu streben (1Kor 14,1). Deren erste ist die Liebe (vgl. 1Kor 13,13; Röm 5,5), die damit zugleich zum Maßstab des geistlichen Lebens wird.23 Paulus bindet das Zusammenwirken der Geistesgaben (χαρίσματα) zurück an die durch die Taufe konstituierte Einheit der Gemeinde („getauft zu einem Leib“, 1Kor 12,13). Mit der Metapher des Leibes, der nur im Zusammenspiel seiner Glieder funktioniert und lebensfähig ist (12,12), macht er den gegenseitigen Respekt und den geistlichen Nutzen für die ganze Gemeinde zu einer wesentlichen Kategorie der pneumatisch-geistlichen Existenz. Erst unter dieser Voraussetzung kommen die geistlichen Begabungen der Einzelnen als Ausdruck ihres spirituellen Lebens in den Blick. Der Begriff „Charisma“ bezeichnet dabei nicht einfach eine „Gabe des Geistes“ in einem gegenständlichen Sinn, die man „haben“ kann oder auch nicht. Gemeint ist gleichsam die Fähigkeit, das Wehen des Geistes zu spüren und ihm eine Gestalt zu geben. Diese Fähigkeit bringt der Geist selbst hervor, und sie findet an der gegenseitigen Liebe ihre entscheidende Orientierung. Paulus entlarvt damit das selbstbezogene Rühmen besonderer Gaben als Fehlverhalten, das dem Wirken des Geistes zuwider läuft. Die geistlichen Gaben und damit auch ihre Empfänger sind gleichwertig, weil es Gaben ein und desselben Geistes sind (12,4). 22 Die Unterscheidung zwischen ψυχικός („seelisch“/„natürlich“) und πνευματικός („geistlich“) hat für Paulus auch eschatologische Bedeutung in der Differenzierung zwischen „seelischem/ natürlichem Leib“ und „geistlichem Leib“ (1Kor 15,42–49): Während letzterer die leibliche Dimension der Auferstehungswirklichkeit (ὁ ἐπουράνιος/„der himmlische [Leib]“) repräsentiert als eine durch das Wirken des Geistes vollständig verwandelte Leiblichkeit des Menschen, in der „Fleisch und Blut“ keine Bedeutung mehr haben (1Kor 15,50), repräsentiert ersterer die Leiblichkeit in ihrer irdischen Verhaftung (ὁ χοϊκός/„der aus Staub bestehende [Leib]“). Zur religionsgeschichtlichen Einordnung des Gegensatzpaares ψυχικός – πνευματικός vgl. Horn, Angeld des Geistes, 192–198, der im Zusammenhang mit Jud 19 und Jak 3,15 den jüdisch-hellenistischen Hintergrund hervorhebt. 23 Die imperativische Anrede der Pneumatiker in Korinth sowie die Tatsache, dass Paulus den Begriff als personale Bezeichnung fast ausschließlich im 1Kor verwendet, könnte darauf hindeuten, dass er damit eine von der Gemeinde gern beanspruchte Selbstcharakterisierung aufgreift. Zwar spricht Paulus auch in Gal 6,1 die Gemeinde als „geistlich“ (οἱ πνευματικοί) an, woran deutlich wird, dass diese Kategorie für ihn die geistliche Existenz der Gemeinde angemessen zum Ausdruck bringt. Aber in Korinth scheint die Vereinnahmung dieses geistlichen Selbstbewusstseins problematische Züge angenommen zu haben. Deshalb steht in den entsprechenden Ausführungen des Paulus zwar die grundsätzliche Geltung und Richtigkeit dieser Bezeichnung außer Frage, allerdings ist angesichts der zahlreichen Probleme in Korinth auch eine gewisse Skepsis vor einem falschen, überzogenen Verständnis im Sinne eines pneumatischen Vollendungsbewusstseins (1Kor 4,8; vgl. Phil 3,12; dazu Wolff, Der erste Brief des Paulus an die Korinther, 60–62 zu 1Kor 2,13–16) zu spüren.
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Die durch die Gaben begründeten Aufgaben konstituieren somit auch keine Herrschaftsstrukturen, weil nur einer Herr ist (12,5) und hinter allem das Wirken Gottes steht (12,6; vgl. auch Eph 4,1–6). Paulus lässt keinen Zweifel daran, dass er auch besondere Gaben schätzt und in ihnen den Nutzen für die Gemeinde im Sinne ihres geistlichen Wachstums (οι᾿κοδομή, „Erbauung“ gleichsam als ein geistliches Haus) sieht. Er fordert sogar dazu auf, nach „größeren Geistesgaben“ zu streben (12,31). Vor dem Hintergrund der Gefahr eines überzogenen Enthusiasmus in Korinth,24 der nicht primär an der Liebe, sondern am „Sich-Rühmen“ besonderer Gaben und Erkenntnis orientiert ist, muss Paulus auf eine Ordnung in den gottesdienstlichen Versammlungen drängen und alle selbstbezogenen Äußerungen in ihre Schranken weisen (14,19.28). Im Fokus steht dabei offenbar vor allem die Glossolalie, deren Gebrauch die Gottesdienste in Korinth negativ zu bestimmen drohte.25 Während Paulus noch die Gemeinde in Thessaloniki ermahnt, den Geist nicht zum Verlöschen zu bringen und insbesondere die prophetische Gabe nicht zu verachten (1Thess 5,19),26 so muss er in Korinth zumindest dämpfend wirken und auf Ordnungsprinzipien bestehen, deren Kriterium der Nutzen für bzw. die Erbauung der Gemeinde ist (1Kor 14,12.17.26–40). Die Zurückhaltung in Bezug auf bestimmte Äußerungen des Geistes in Korinth bedeutet jedoch keine Geringschätzung, wie im Gesamtzusammenhang von 1Kor 14 deutlich wird. Dennoch behält die Prophetie ihre Schlüsselfunktion, weil sie – im Unterschied zur Glossolalie – in besonderer Weise in der Lage ist, am Glauben interessierte, aber noch ungläubige bzw. unkundige Gäste der Gemeinde zur Anbetung Gottes zu führen (1Kor 14,24f). Den enthusiastischen Selbstruhm in Korinth, der auf besondere spirituelle Erfahrungen Wert legt (vgl. bes. 1Kor 12,7–31; 2Kor 12,1f), entlarvt Paulus daher als ein „Rühmen nach dem Fleisch“ (2Kor 11,18). Demgegenüber betont der Apostel, dass wahre geistliche Erfahrungen wie Erscheinungen und Offenbarungen27 kein Anlass zum Rühmen (und damit zur Herabsetzung anderer) sein können, weil sie von Niedrigkeit, Verzicht, Entbehrungen, Anfechtungen und Todesgefahren relativiert werden.28 Darin liegt für Paulus der eigentliche Ruhm, insofern sich die Schwachheit des Kreuzes Christi in der Existenz der an ihn Glaubenden widerspiegelt (2Kor 12,1–12). Das geistliche Leben wird dadurch maßgeblich bestimmt, und zwar in einer auf die Leiblichkeit der Existenz bezogenen Weise, wenn Paulus in 2Kor 4,7–5.10 die Leidensgemeinschaft mit Christus als das Charakteristikum seiner apostolischen Existenz beschreibt. 24 25 26 27
Vgl. Horn, Angeld des Geistes, 219–301. Vgl. a. a. O. 201–219, sowie bes. 291–297; Wolff, Art. Zungenrede, 754–763. Vgl. Gielen, Grundlegung, passim. Vgl. auch den Hinweis auf die „Zeichen eines Apostels, die unter euch getan wurden in aller Geduld, mit Zeichen, Wundern und Machterweisen“ (2Kor 12,12; vgl. 12,1–4). 28 Vgl. Wolff, Niedrigkeit und Verzicht, passim.
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Auch mit dem liturgisch geprägten Christushymnus in Phil 2,6–11 benennt Paulus die Gesinnung Christi als Vorbild für die Glaubenden, eine Gesinnung, die auch hier von der Erniedrigung „bis zum Tod am Kreuz“ geprägt ist. Das Leiden und der Verfall des „äußeren Menschen“ geht einher mit einer täglichen Erneuerung des „inneren Menschen“ (2Kor 4,16), der durch die Einwohnung des Geistes als dem Angeld der eschatologischen Vollendung getröstet und ermutigt wird (5,5–8). Zwar ist dies hier auf die Reflexion über die Begründung apostolischer Autorität bezogen, jedoch versteht es Paulus durchaus als Modell des christlichen Lebens aus der Kraft des Geistes. Wenn Paulus in den korinthischen Konflikten die Liebe als die größte Gabe des Geistes immer wieder in den Mittelpunkt rückt (vgl. besonders 1Kor 13), so wird sie gleichsam zum Epizentrum des geistlichen Lebens in seiner ekklesiologisch-ethischen Perspektive – ein Motiv, dass Paulus sehr konsequent bereits im Gal formuliert hat. Gegenüber dem Bestehen auf der Erfüllung bestimmter gesetzlicher Regelungen macht er deutlich, dass die Konsequenz des Christusglaubens ein Leben in der Freiheit vom Gesetz ist (Gal 5,1). Als ein solches ist es aber durch den Christusbezug zugleich ein Leben, das in einer geistlichen Weise genau dieses Gesetz erfüllt. Paulus greift dabei auf jene Vorstellung vom „höchsten Gebot“ der Nächstenliebe zurück, die auch ein fester Bestandteil der Jesusüberlieferung war: „Denn das ganze Gesetz ist in einem Wort erfüllt, nämlich: Liebe deinen Nächsten wie dich selbst!“ (Gal 5,14; vgl. Mt 22,36–40; sowie Mt 7,12).29 Die Berufung zur Freiheit in Christus setzt in der Liebe die Kraft frei, einander zu dienen, sich einander verpflichtet zu wissen (Gal 5,13). „Denn in Christus Jesus bedeutet weder die Beschneidung noch die Unbeschnittenheit etwas, sondern der Glaube, der durch Liebe tätig wird“ (5,6). Daher steht die Liebe auch an der ersten Stelle jener Früchte, die der Geist hervorbringt und die als spiritueller Ausweis des Glaubens gelten (Gal 5,22–26). Wie Paulus ein solches Leben versteht, beschreibt er zusammenfassend und gleichsam rückblickend in Röm 12,3–15,13, ohne noch einmal explizit viel über den Geist und seine Wirkung zu sagen. Im Zentrum steht auch hier die gegenseitige Liebe, verbunden mit der Mahnung: „Seid glühend im Geist“ (Röm 12,11), was seinen Ausdruck darin findet, „fröhlich in Hoffnung, geduldig in Betrübnis und beharrlich im Gebet“ zu bleiben (12,12; vgl. 1Thess 5,16–18; Kol 4,2; Eph
29 In Gal 6,2 kann es Paulus zugespitzt als das „Gesetz Christi“ bezeichnen und steht damit insgesamt mit dem Zusammenhang von Gesetz, Freiheit und Liebesgebot in einer erstaunlichen Nähe zum Jakobusbrief, der das Gebot der Nächstenliebe als „vollkommenes Gesetz der Freiheit“ (1,25), das Maßstab des Gerichtes sein wird (2,12), oder auch als „königliches Gesetz“ (2,8) bezeichnet, in welchem – erneut in jesuanischer Tradition – alle anderen Gebote des Gesetzes aufgehen.
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6,18). Das beharrliche Gebet30 spielt bei Paulus eine große Rolle als Ausdruck der Geistbestimmtheit der Glaubenden: im Dank als Ausdruck der „fröhlichen Hoffnung“, in Bitte und Fürbitte als Ausdruck der Zuversicht und der gegenseitigen Stärkung.31 Dem Beten im Geist, d. h. speziell der Glossolalie, stellt Paulus aber ausdrücklich andere, eher nüchterne Ausdrucksformen gegenüber: „Wie soll es denn nun sein? Ich will beten mit dem Geist und will auch beten bei Verstand; ich will Lobpreis singen mit dem Geist und will auch Lobpreis singen bei Verstand“ (1Kor 14,15). Gebet ist aber auch wichtiges Element der geistlichen, ja geradezu therapeutischen Gestaltung des persönlichen Lebens, wenn Paulus Eheleuten rät, Spannungen in der Beziehung durch Gebet zur Sprache zu bringen und darin Lösungen zu suchen oder sich zum Gebet voneinander zurückzuziehen (1Kor 7,5). Die Nüchternheit des Gebetes – wohl auch hier im Unterschied zum geistlichen Überschwang und überzogenen Erwartungen – und seine gemeinschaftsfestigende Funktion in der Ehe betont ebenfalls der 1Petr (3,7). Das Singen von „geistlichen Liedern“ (ψάλλειν) gehört auch sonst in der frühchristlichen Tradition zum Repertoire geistlichen Lebens.32 Nach Kol 3,16 bringt die Gemeinde in der Anbetung und im Lobpreis Gottes ihre Dankbarkeit Gott gegenüber zum Ausdruck: „Lasst das Wort Christi reichlich unter euch wohnen: Lehrt und ermahnt einander in aller Weisheit; mit Psalmen, Lobgesängen und geistlichen Liedern singt Gott dankbar in euren Herzen“ (vgl. Eph 5,19f). Der Jakobusbrief unterscheidet zwischen denen, die im Leid beten und es so vor Gott bringen und jenen, die aus Freude singen (Jak 5,13). Paulus rät der Gemeinde: „Sorgt euch um nichts, sondern in allen Dingen lasst eure Bitten in Gebet und Flehen mit Danksagung vor Gott kundwerden!“ (Phil 4,6). An dieser Stelle ist auch Jak 5,14f zu erwähnen, das Gebet mit den Kranken und für sie – nicht aufgrund einer allzu enthusiastischen Erwartungshaltung im Blick auf die Heilung als Geistwirkung, sondern als Beistand und Hilfe.33 Auch Paulus war sich der Notwendigkeit einer eher nüchternen Haltung gegenüber überzogenen Erwartungen in dieser Hinsicht bewusst (2Kor 12,7–9). Und schließlich beschreibt Lukas, der Begleiter des Paulus und gleichsam der Historiograf des Apostels, das Gebet als eine der drei spirituellen Säulen seiner Auffassung eines Lebens, das von der Gabe des Geistes am Pfingstfest herkommt: „Sie aber blieben beständig
30 Vgl. weiterhin 1Thess 1,2; 5,17; Röm 1,10; Phil 1,4; 4,6; Kol 4,2; 2Tim 1,3; ferner Eph 6,18; 1Tim 2,8; 5,5; sowie 1Petr 4,7; Jak 5,15–17. 31 Vgl. Röm 15,30–32; 2Kor 9,14; Phil 1,9; Kol 1,3.9; 4,3; 1Thess 5,25; 2Thess 1,11; 3,1; vgl. ferner Eph 1,16; 1Tim 2,1; sowie Hebr 13,18; Jak 5,16; Jud 20. 32 Vgl. dazu z. B. Seidel, Gemeindegesang, passim; Wick, Die urchristlichen Gottesdienste, bes. 227; Ostmeyer, Kommunikation, bes. 44f.126. 33 Vgl. in diesem Sinne auch Mk 16,18 als eine spätere, solche Motive aufnehmende Ergänzung zum Markusevangelium.
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in der Lehre der Apostel und in der Gemeinschaft, dem Brechen des Brotes und im Gebet“ (Apg 2,42). In einer persönlichen Ermutigung an seinen Mitarbeiter Timotheus greift Paulus das Motiv des „Glühens im Geist“ noch einmal auf, wenn er sein „geliebtes Kind“ (2Tim 1,2) erinnert, den Geist als die Gabe Gottes „aufs Neue zu entfachen“ mit der Begründung: „Gott hat uns nicht einen Geist der Verzagtheit gegeben, sondern der Kraft, der Liebe und der Besonnenheit“ (1,7). Auch hier steht die Liebe als Wirkung des Geistes im Zentrum, und das entspricht der Bedeutung, die Paulus der Liebe im Röm gleichsam als der geistlichen Norm der Ethik zuschreibt: „Seid niemandem etwas schuldig, außer das Einander-Lieben. Denn wer den andern liebt, hat das Gesetz erfüllt. Denn das ‚du sollst nicht ehebrechen‘, ‚du sollst nicht töten‘, ‚du sollst nicht stehlen‘, ‚du sollst nicht begehren‘, und welches andere Gebot auch immer – in diesem Wort wird es zusammengefasst: ‚Du sollst deinen Nächsten lieben wie dich selbst.‘ Die Liebe tut dem Nächsten nichts Böses. Somit ist die Liebe die Fülle des Gesetzes“ (Röm 13,8–10).
Dass allerdings all das Beschriebene letztlich auf die Orientierung am Geist und auf seine Kraftwirkung zurückgeht, hebt Paulus am Schluss des Röm noch einmal unmissverständlich hervor – übrigens eine der letzten brieflichen Äußerungen des Apostels in dieser Hinsicht (Röm 15,13): „Der Gott der Hoffnung aber erfülle euch mit aller Freude und Frieden im Glauben, damit ihr überreich werdet an Hoffnung durch die Kraft des Heiligen Geistes.“ Schließlich sind noch einige Aspekte spirituellen Lebens zu nennen, die sich im Wesentlichen an deuteropaulinischen Traditionen festmachen lassen. Im Eph ist am Schluss des Briefes vom „Anziehen“ einer „Ganzkörperrüstung Gottes“ die Rede, welche den Glaubenden für den geistlichen Kampf mit kosmischen „Mächten und Gewalten“ rüsten soll, mittels derer der Teufel selbst gegen die Glaubenden kämpft (Eph 6,11f). Das Bild eines geistlichen „Anziehens“ ist aus Gal 3,27 als ein „Anziehen“ Christi durch die Taufe bekannt. Im Eph geht es eher um die Auswirkungen dieses Geschehens im Blick auf das geistliche Leben in der Welt. Wahrheit und Gerechtigkeit, Friede, Glaube, Heil und schließlich der Geist selbst werden gleichsam zur „Schwerbewaffnung“34 (πανοπλία), mit der man sich gegen das Böse bzw. den Bösen wappnen und zur Wehr setzen kann. Bemerkenswerterweise wird der Geist hier mit dem Wort Gottes identifiziert, d. h. die Beständigkeit im Umgang mit dem Wort des Evangeliums ist eine entscheidende Voraussetzung für das Bestehen im Glauben. Das „Anziehen“ dieser „Rüstung“ steht im Eph parallel zum „Ablegen des alten“ und „Anziehen des neuen Men-
34 Vgl. Sellin, Der Brief an die Epheser, 472.
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schen“, den Gott in der Erneuerung der Gesinnung durch Gerechtigkeit und Heiligkeit geschaffen hat (Eph 4,20–24). Vor dem Hintergrund der Bewahrung der rechten Lehre ruft der 1Tim zur „Einübung in die Frömmigkeit“ (1Tim 4,7) und der gleichzeitigen Abgrenzung gegenüber „leiblichen Übungen“, die zu nichts nütze sind. Damit sind asketische Praktiken gemeint wie z. B. sexuelle Enthaltsamkeit oder auch bestimmte Speiseverbote (4,3). Frömmigkeit (εὐσέβεια) wird damit zu einer Leitkategorie des geistlichen Lebens, welches im 1Tim in besonderer Weise vom gemeinsamen Bekenntnis der Gemeinde getragen wird (vgl. 2,5; 3,16; 6,15f)35 und auf ein „ruhiges und stilles Leben“ (2,2) ausgerichtet ist. Das Bekenntnis repräsentiert zugleich jene Wahrheit, von der es in 2,4 heißt, dass alle Menschen sie nach Gottes Willen erkennen sollen. Dies geht einher mit einer Institutionalisierung des Charismas, das nicht mehr – wie noch in 2Tim 1,5f – die Gabe des Geistes bezeichnet, sondern identifiziert wird mit der Beauftragung durch das Presbyterium zu einer gemeindeleitenden Aufgabe (1Tim 4,14).
3.
Formen spiritueller Existenz in den Traditionen der Jesusüberlieferung
Es hat sich gezeigt, dass die spirituellen Grundlagen des christlichen Lebens bei Paulus maßgeblich von der Botschaft des Evangeliums ausgehen, dessen Inhalt die Deutung des Lebensschicksals Jesu als Heil für die Welt auf der Grundlage von Gottes Auferweckungshandeln ist. Die Evangelien als Erzählungen vom „erinnerten Jesus“36 setzen diesen Jesus als „verkündigten Christus“ des apostolischen Evangeliums bereits voraus. Von daher ist es sinnvoll, einige exemplarische Blicke in die erzählende Jesusüberlieferung zu werfen und zu fragen, inwiefern sich darin die Perspektive der apostolischen Verkündigung auf die geistliche Existenz der Glaubenden widerspiegelt.
3.1
„… nicht fern vom Reich Gottes“ – Perspektiven des Markusevangeliums
Als zentralen spirituellen Aspekt des Markusevangeliums wird man den Glauben benennen müssen, und zwar insofern er die geistliche Grundhaltung des Vertrauens in die Vollmacht Jesu umschreibt. Nach Mk ist der Ruf zum „Glauben an das Evangelium“ von der Nähe des Gottesreiches das Zentrum der Botschaft Jesu 35 Vgl. Herzer, Tradition und Bekenntnis, passim. 36 Vgl. Dunn, Jesus Remembered, bes. 881–893; mit anderer Akzentsetzung: Schröter, Anfänge der Jesusüberlieferung, passim.
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(1,14f). Im Glauben gewinnt das Gottesreich eine spirituelle Präsenz, die sich deutlich von einer politischen Messiaserwartung unterscheidet. Sie verbindet sich mit der Gabe des Geistes Gottes in der Taufe Jesu sowie der Verheißung, dass er selbst mit heiligem Geist taufen wird (1,8). Es ist das Vertrauen in Jesus, das den Menschen um Jesus „hilft“, gesund zu werden (Mk 2,5; 5,34; 10,52). Es ist das Wort Jesu, das den Menschen verändert und zu neuem Vertrauen führt. Hervorzuheben sind vor allem die Nachfolgesprüche, die dem Glaubenden eine Nachfolge Christi in Analogie zu seinem eigenen Leiden und Sterben zumuten: „Wer mir nachfolgen will, der verleugne sich selbst und trage sein Kreuz und folge mir. Denn wer sein Leben retten will, wird es verlieren, wer aber sein Leben verliert um meinetwillen und um des Evangeliums willen, wird es retten“ (8,34f). Nachfolge Jesu ist nach Markus Kreuzesnachfolge, ein Aspekt, der zwar auch von Lukas und Matthäus übernommen wird, aber im Mk eine besondere Zentralstellung einnimmt. Die Nähe zur paulinischen Verkündigung des Kreuzes und zu dessen Verständnis der apostolischen Niedrigkeit in der Parallele zum Schicksal Jesu ist auffällig.37 Interessant ist schließlich auch das Gespräch Jesu mit dem reichen jungen Mann (Mk 10,17–27): Auf die eminent spirituelle Frage, womit er das ewige Leben erlangen könne, antwortet Jesus zunächst mit einem Verweis auf das Halten der Gebote Gottes, das sich aber als nicht ausreichend erweist: „Eines fehlt dir: Geh hin, verkaufe was du hast und gib es den Armen, und du wirst einen Schatz im Himmel haben, und [dann] folge mir“ (10,21). Ein Leben, das auf das Reich Gottes ausgerichtet ist, muss zu dem durchdringen, was die Gottes- und Nächstenliebe zu tun aufgibt: „nicht, sich dienen zu lassen, sondern zu dienen und sein Leben zu geben“ (Mk 10,45), so, wie der Menschensohn sein Leben – unüberbietbar und doch auch in einer zur imitatio Christi anleitenden Weise – als Lösegeld für die Vielen dahingibt. Wer dies für sein Leben vor Gott erkennt, ist „nicht fern vom Reich Gottes“ (12,34). Der Aspekt der „Nachahmung“ Christi wird auch bei Paulus und im 1Petr in je eigener Weise aufgegriffen. Während Paulus sich gleichsam als Mittler in diesem geistlichen Verhalten sieht und die Gemeinde auffordert, ihn nachzuahmen, wie er ein Nachahmer Christi ist (μιμήτης Χριστοῦ, 1Kor 11,1; vgl. 4,16; 1Thess 1,6; ferner Eph 5,1: „Werdet Nachahmer Gottes!“), so beschreibt 1Petr 2,21 Christus als denjenigen, der mit seinem Leiden gleichsam die Fußspuren vorgeprägt hat, in die die Glaubenden in der Nachfolge treten sollen.38
37 Vgl. Wolff, Niedrigkeit und Verzicht, passim. 38 Vgl. Wolff, Christ und Welt im 1. Petrusbrief, passim.
352
Jens Herzer
3.2
„Selig sind die Armen im Geist“ – Perspektiven des Matthäusevangeliums
In einer besonderen Weise thematisiert der Evangelist Matthäus das geistliche Leben der Glaubenden in der sog. Bergpredigt Jesu. Die spirituelle Dimension dieser Rede wird bereits im ersten Satz der Seligpreisungen deutlich: „Selig sind die Armen im Geist, denn ihnen gehört das Reich der Himmel“ (5,3). Unscharf bleibt, wie die Bezeichnung „die Armen im Geist“ zu verstehen ist. Die enge Parallele zu Jes 57,15; 61,1 und 66,2 sowie die sprachliche Nähe zur Formulierung in 5,6: „rein im Herzen“ legen nahe, dass „Geist“ sich hier weder auf den Heiligen Geist bezieht noch auf eine Demutshaltung als Ausdruck besonderer Frömmigkeit. Es geht vielmehr um das „Gebrochensein“ im Hinblick auf den eigenen Geist derer, die als „Arme“ angesprochen werden. Es geht um Menschen, die nach menschlichem Maßstab spirituell nicht dazu konditioniert sind, Anteil am Reich Gottes zu haben (vgl. auch Mt 11,5).39 Dies korrespondiert mit den anderen Seligpreisungen: der Leidenden, der sich nach Gerechtigkeit Sehnenden, der Barmherzigen, Friedfertigen und um jener Gerechtigkeit willen Verfolgten – ihnen gilt der Zuspruch Jesu und die Zuwendung Gottes an erster Stelle. Mit dieser Geisteshaltung entsprechen sie dem, was Gott erwartet, nämlich nicht die Geltung vor den Menschen, sei es in einer Vollkommenheit der Erfüllung des Gesetzes (5,17–48), sei es im Blick auf die Werke der Frömmigkeit wie Almosengeben (6,1–4), Beten (6,5–15) oder Fasten (6,16–18). Einer gottgefälligen spirituellen Haltung entsprechen nicht diejenigen, die auf deren äußere Sichtbarkeit Wert legen, sondern jene, die nicht auf die äußere Wahrnehmung und Anerkennung von Menschen (vgl. 23,5–7) aus sind: „und dein Vater, der in das Verborgene schaut, wird es dir vergelten“ (6,6). Es geht Matthäus dabei um eine „bessere Gerechtigkeit“ (5,20) – im Unterschied zu den Schriftgelehrten und Pharisäern. Diese klagt der matthäische Jesus an, zwar äußerlich vollkommen zu sein, in dieser Vollkommenheit aber „getünchten Gräbern“ (23,27) zu gleichen, die im Inneren geistlich verrottet sind. Sie laden den Menschen Lasten auf, mit denen sie ihnen das Himmelreich verschließen, anstatt ihnen den Zugang dazu zu ermöglichen (23,4.13). Die „bessere Gerechtigkeit“ besteht darin, das Gebot der Liebe als den spirituellen Kern der Frömmigkeit und Gerechtigkeit (vgl. 23,23: „Recht, Barmherzigkeit und Glauben“) zu erkennen, in welchem „das ganze Gesetz und die Propheten“ repräsentiert ist (22,40; vgl. 7,12). Daran hat sich ein geistliches Leben zu orientieren, und nur dadurch ist dem hohen Anspruch gerecht zu werden: „So also werdet ihr vollkommen sein, wie euer himmlischer Vater vollkommen ist“ (5,48).40 39 Vgl. Luz, Das Evangelium nach Matthäus, 205–207; Konradt, Matthäus, 68 akzentuiert stärker den ethischen Aspekt der Demut im Sinne einer Geisteshaltung. 40 Vgl. Deines, Gerechtigkeit der Tora, 424f; Konradt, Matthäus, 99.
Evangelische Spiritualität und das Neue Testament
3.3
353
„Ihr sollt barmherzig sein, wie euer Vater im Himmel barmherzig ist“ – Perspektiven des Lukasevangeliums
Für das Lukasevangelium ist in spiritueller Hinsicht auffällig, dass gerade die Vorgeschichte Jesu durch die Lobgebete der Maria (1,46–55), des Zacharias (Lk 1,67–79) und des Simeon (2,29–32) sehr stark vom Duktus alttestamentlicher Psalmenfrömmigkeit geprägt ist.41 Entsprechend beginnt auch die Jesusgeschichte in expliziter Anknüpfung an die späte alttestamentliche Prophetie. Was bei Matthäus in den Seligpreisungen implizit präsent ist, gestaltet Lukas zu einer programmatischen Rede Jesu, der getrieben und erfüllt vom Geist ein „Gnadenjahr des Herrn“ (4,19) verkündet. Im Zentrum des Wirkens Jesu und damit auch im Fokus der Frömmigkeit, wie sie Lukas vermitteln will, steht in besonderer Weise die Fürsorge für die Armen und die Zuwendung zu den aus der Gemeinschaft Ausgestoßenen. Bereits die Seligpreisungen sind in dieser Hinsicht bei Lukas weit weniger spirituell als material ausgerichtet, indem z. B. nicht die „im Geiste Armen“, sondern die materiell Armen, nicht die nach Gerechtigkeit Hungernden, sondern die real Hunger Leidenden in ihrer Unterscheidung zu den Reichen und Satten selig gepriesen werden (6,20–23). Charakteristisch dafür ist in Lk 6,36 auch die Änderung jenes Wortes Jesu, das bei Mt die Vollkommenheit der Glaubenden forderte: „Werdet barmherzig, wie auch euer Vater barmherzig ist.“ Das Thema der Barmherzigkeit im Sinne einer Praxis der Barmherzigkeit wird damit zu einem Grundmotiv des Lk (vgl. auch das Sondergutgleichnis vom barmherzigen Samaritaner in Lk 10). Erstaunlicherweise ist bei Lukas auch das Vaterunser weniger eine spirituelle Übung in Verbindung mit anderen Ausprägungen von Frömmigkeit wie in Mt 6, sondern vielmehr eine Belehrung, ein Gebetstext, der zu lernen und zu sprechen ist (11,1–4). Die separate Seligpreisung derer, die das Wort Gottes hören und bewahren (11,28) weist in eine ähnliche Richtung. Die Bedeutung des Wortes Gottes im Sinne der Überlieferung von Gesetz, Propheten (und Schriften) spielt für Lukas eine entscheidende Rolle in der Kennzeichnung dessen, was eine spirituelle Existenz genannt werden kann (vgl. 16,16.31; 24,25–27.44–49). Die Verheißung des Geistes als „Kraft aus der Höhe“ (24,49) geht einher mit dem Verstehen der Schrift in ihrem Bezug zum Christusgeschehen.
41 Vgl. Lohfink, Psalmen im Neuen Testament, passim.
354 3.4
Jens Herzer
„… geboren aus Wasser und Geist“ – Perspektiven des Johannesevangeliums
Verschiedene Aspekte aus dem Joh sind bereits angeklungen. Als Besonderheit im Hinblick auf das Thema Spiritualität ist für das Joh hervorzuheben, dass es wohl das Evangelium mit dem am meisten existenzialen Zugang zum Verhältnis Jesu zu seinen Jüngern bzw. zu der Gemeinde des Evangelisten selbst darstellt. Der Beschreibung der spirituellen Grundlagen der Jüngerexistenz widmet das Evangelium in den sog. Abschiedsreden Jesu (Joh 13,31–16,33) fast vier Kapitel. „Existenzial“ meint hier im eigentlichen Sinn die Bedingung der Möglichkeit einer christlichen Existenz, die sich einer wechselseitigen Seinsbestimmung im Verhältnis Jesu und der Seinen ausdrückt: „Bleibt in mir und ich in euch“ (Joh 15,4; vgl. auch 14,20; 15,7). Dieses Verhältnis entspricht dem, das Jesus selbst zu seinem Vater hat: „Der Vater ist in mir und ich in ihm“ (10,38; vgl. 14,10f), und besonders 14,20: „An jenem Tage werdet ihr erkennen, dass ich in meinem Vater bin und ihr in mir und ich in euch.“ In der engen Verbindung mit Christus sind die Glaubenden mit Gott verbunden, und zwar gleichsam in einer neuen Geburt „von oben her“ (3,3) bzw. „aus Gott“ (1,13). Dies wird als eine Geburt „aus dem Geist“ (3,5–8) beschrieben und mit der Taufe als Geburt „aus Wasser und Geist“ (3,5) rituell verbunden. Die Glaubenden leben in der engen Verbindung mit Christus, denn „ohne mich könnt ihr nichts tun“ (15,5), eine Verbindung, die letztlich auch durch den Geist aufrechterhalten und gestaltet wird. Als „Paraklet“, als Tröster, Ermahner und Lehrer vertritt der Geist den erhöhten Christus und wird die Glaubenden „in alle Wahrheit führen“ (16,13).42 Seinen Ausdruck findet der spirituelle Status der aus Gott Geborenen in dem Bewusstsein, zwar nicht von der Welt zu sein, aber in der Welt zu leben, befreit von der Angst, mit dieser Welt und an dieser Welt zugrunde zu gehen: „Dieses habe ich mit euch geredet, damit ihr in mir Frieden hättet. In der Welt habt ihr Angst; aber seid zuversichtlich, ich habe die Welt besiegt“ (16,33).
42 Der Geist bekommt hier ein sehr viel stärker personales Profil, vgl. dazu etwa Frey, Vom Windbrausen zum Geist Christi, bes. 146–151. Aufschlussreich ist dabei die Parallele in 1Joh 2,1, insofern hier noch Christus selbst als dieser „Paraklet“ bezeichnet wird, der die Glaubenden vor dem Vater fürsprechend vertritt.
Evangelische Spiritualität und das Neue Testament
4.
355
Resümee: Evangelische Spiritualität in der Perspektive des Neuen Testaments zwischen Glaube und Erfahrung
Das Evangelische an der Spiritualität, wie sie im Neuen Testament entwickelt und begründet wird, liegt darin, dass sie als grundlegende Ausrichtung und Bestimmung des christlichen Lebens von der Verkündigung des Evangeliums als einer Verkündigung des Gotteshandelns an Jesus Christus ausgeht. Sie gründet daher dezidiert nicht in der Erfahrung der Menschen und ihrer spirituell-anthropologischen Konstitution, bleibt aber eng auf diese bezogen. Wohl führt das Evangelium zum eigenen Handeln, verwandelt und angeleitet durch den Geist, und damit auch zu reichhaltigen Erfahrungen und spirituellen Vollzügen, welche die Gottesbeziehung äußerlich und innerlich erlebbar machen. Aber Spiritualität geht in diesen Erfahrungen und Gestaltungen nicht auf, sondern bleibt zurückgekoppelt an das Wort des Evangeliums, das seinerseits reflektierte Erfahrung mit der Einsicht in das Handeln Gottes darstellt. Das klassische Problem zwischen historischer Erschließung, intellektueller Deutung und bewusster Aneignung des Glaubens einerseits und seinen erfahrungsbezogenen, spirituellen Ausdrucksformen andererseits kann man sicher im Hinblick auf bestimmte kirchliche Entwicklungen oder Ausprägungen des Glaubens zu Recht beklagen.43 Im Neuen Testament sind beide Aspekte klar aufeinander bezogen. Spiritualität im Neuen Testament lässt sich zuerst und vor allem als Ausdruck einer vom Geist Gottes bestimmten Lebenshaltung beschreiben. Mit dieser Haltung bewältigen die Glaubenden das tägliche Leben im Vertrauen und in der Hoffnung auf Gott, und zwar im Bewusstsein, nicht (mehr) von dieser Welt zu sein, aber gerade deshalb in ihr „zur Freiheit befreit“ (Gal 5,1) zu leben und dem Evangelium bzw. dem Maßstab der Liebe entsprechend zu handeln. Besondere geistliche Erfahrungen sind diesem Weltwirken des Glaubens zugeordnet und dienen der persönlichen und gemeinschaftlichen Zurüstung zu diesem Dienst an und in der Welt.
43 Vgl. die Problemanzeige bei Zimmerling, Evangelische Spiritualität, 16–26, der zugespitzt, aber nicht ohne Grund vom „Zerbrechen der Einheit von Theologie und Spiritualität“ (16) spricht und eine Wiedergewinnung dieser Einheit fordert (18f).
356
Jens Herzer
Literatur Quellen Luther, Martin, Vorlesung über den Römerbrief 1515/1516, WA 56.
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Evangelische Spiritualität und das Neue Testament
357
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Bernd Janowski
Ein Spiegel der Seele Der Psalter und die christliche Spiritualität
1.
Ein Tempel aus Worten
Seit den Anfängen des Christentums ist der Psalter immer wieder durch Metaphern und Vergleiche charakterisiert worden, die seine besondere spirituelle Qualität hervorheben. So begegnet bei Athanasius (295–373 n. Chr.) in seinem berühmten Brief an Marcellinus die Auffassung, dass der Psalter ein „Spiegel“ unserer Seelenregungen sei. „In der Tat“, so schreibt der Verfasser, „zusätzlich zu dem, was er (sc. der Psalter) mit den übrigen Büchern der Heiligen Schrift teilt und gemeinsam hat, besitzt er auch noch diese erstaunliche Eigenschaft, daß er die Regungen der Seele, ihre jeweilige Veränderung und ihre Hinwendung zu Gott in sich eingeschrieben und eingeprägt enthält, so daß, wer immer sie aus ihm wie aus einem Spiegel entnehmen und erkennen will, sich selbst so gestaltet, wie es in ihm beschrieben steht“.1
Ähnliche Vorstellungen finden sich bei Augustin in Buch IX und X seiner Konfessionen oder bei Luther in seiner Zweiten Vorrede zum Psalter von 1528. In ihr hat er den Psalter als „kleine Biblia“ bezeichnet, „darin alles aufs schönste und kürzeste, wie in der ganzen Bibel stehet, gefasset, und zu einem feinen Enchiridion oder Handbuch gemacht und bereitet ist“.2 Der Grund für diese Hochschätzung der Psalmen liegt nach Luther darin, dass er ein Spiegel der menschlichen Existenz und zugleich ein Zeugnis der „Gemeinschaft der Heiligen“ ist. Daher kommt es, dass
1 Athanasius, Brief an Marcellinus, Abschn. 10, zitiert nach Sieben, Texte, 155. An einer anderen Stelle nennt Athanasius den Psalter einen „Fruchtgarten“, aus dem der Mensch „Nutzen ziehen (sollte), wo immer er meint, etwas gebrauchen zu können“ (a. a. O., 175), vgl. Reemts, Schriftauslegung, 29f. 2 Luther, Vorrede, 65, s. dazu Janowski, „Kleine Biblia“, 126f.
Der Psalter und die christliche Spiritualität
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„ein jeglicher, in welcherlei Sache er ist, Psalmen und Wort drinnen findet, die sich auf seine Sache reimen und ihm so eben sind, als wären sie allein um seinetwillen also gesetzt, daß er sie auch selbst nicht besser setzen noch finden kann noch wünschen mag“.3
„Summa“, so fasst Luther seine Vorrede zusammen, „[…] willst du die heilige christliche Kirche gemalet sehen in lebendiger Farbe und Gestalt, in einem kleinem Bilde gefasset, so nimmt den Psalter vor dich, so hast du einen feinen, hellen, reinen Spiegel, der dir zeigen wird, was die Christenheit sei. Ja, du wirst auch dich selbst drinnen und das rechte Gnothi seauton finden, dazu Gott selbst und alle Kreaturen.4
Von vergleichbarer Bedeutung wie die Spiegelmetapher ist auch die Hausmetapher, d. h. die Vorstellung, dass der Psalter ein „großes Haus“ (magna domus) mit Ps 1 und 2 als Eingangsportal und den Psalmen 3–150 als den „inneren Räumen“ sei. Auch sie begegnet schon früh, nämlich bei Hieronymus (ca. 347–419/420), der in der Einleitung zu seinem Psalmenkommentar Ps 1 die „Haupttür“ (grandis porta) nennt, die in das „große Haus“ (magna domus) des Psalters hineinführt: „Der Psalter ist gewissermaßen ein großes Haus, das zwar einen Schlüssel für die Außentür hat, aber eigene Schlüssel für die verschiedenen inneren Räume. Mag auch der Schlüssel der Haupttür, der Heilige Geist, größer sein, so hat doch auch jeder Raum sein eigenes Schlüsselchen. Wenn also jemand die Schlüssel des Hauses durcheinander wirft, so kann er, wenn er einen Raum öffnen will, es nicht tun, außer er findet den Schlüssel. So sind die einzelnen Psalmen gewissermaßen einzelne Räume, die ihre eigenen Schlüssel haben. Die Haupttür dieses Hauses ist der erste Psalm“.5
Das „große Haus“ des Psalters ist aber ein Haus oder Tempel nicht aus Steinen, sondern aus Worten (templum spirituale), mit Ps 1–2 als weitem „Eingangsportal“ (Hieronymus: grandis porta) und mit Ps 146–150 als klangvollem „Schlussstein“. Wer diesen „sprachlichen Tempel“6 betritt, legt mit den 150 Einzelpsalmen und den in ihnen aufgereihten Stationen der Geschichte Israels meditierend den langen und beschwerlichen Weg von der Klage zum Lob zurück und begegnet auf ihm dem Königs- und Rettergott vom Zion, der sein Heil für den Einzelnen, für Israel und die Völker, ja für die ganze Schöpfung wirkt. Ich will diese Metaphorik von „Haus“ und „Weg“ aufgreifen, um nach der spirituellen Qualität des Psalters zu fragen. 3 Luther, a. a. O., 68. 4 Ders., a. a. O., 69. Auch J. Calvin nennt in seiner „Vorrede zum Psalmenkommentar“ von 1557 den Psalter einen „Spiegel“ (speculum): „Mit gutem Grund nenne ich das [Psalm]Buch eine Aufgliederung aller Teile der Seele. Denn jede Regung, die jemand in sich empfindet, begegnet als Abbild in diesem Spiegel“, zit. nach Busch, Calvin-Studienausgabe 6, 21. 5 Vgl. Reemts, aaO 23.34. 6 Zu diesem Ausdruck s. bereits Kratz, Tora Davids, 34; Zenger, Psalter, 47f und ders., Psalmenforschung, 434f.
360
2.
Bernd Janowski
Zur theologischen Architektur des Psalters
Um die theologische Architektur des Psalters zu beschreiben, gehe ich von dem bekannten Sachverhalt aus, dass Ps 1 und 2 das „Tor“ bilden, durch das der Beter oder Leser eintritt, um das „große Haus“ des Psalters zu durchschreiten (1). Nach diesem Eingangsportal werden die „inneren Räume“ sichtbar, die sich – um im Bild zu bleiben – hinter den „Türen“ der einzelnen Psalmen, Psalmengruppen und Teilkompositionen auftun und dem Betrachter den Blick auf weitreichende Zusammenhänge – wie Lob und Klage, Leben und Tod, Scheol und Tempel, Kosmos und Chaos, David und Zion, Mythos und Geschichte oder Schöpfung und Erlösung – freigeben (2). Am Ende steht gleichsam als „Schlussstein“ das Finale Ps 146–50, in dem „aller Atem“ (Ps 150,6) die Größe und Macht des Königsgottes vom Zion preist und so den Psalter pointiert und „klangvoll“ abschließt (3).
2.1.
Ps 1–2 als Tor zum Psalter
a) Stichwort- und Motivverkettung Wer den Psalter aufschlägt und bei Ps 17 zu lesen anfängt, stößt auf einen Text, der anders ist als die übrigen Psalmen. Denn er ist weder ein Gebet noch ein Hymnus, sondern eine Seligpreisung: „Glücklich der Mann“ (V.1). Setzt man die Lektüre mit Ps 28 fort, dann stößt man auch dort auf einen Text, der keine Überschrift, aber eine Unterschrift, nämlich eine Seligpreisung an alle enthält, die sich bei JHWH bergen (V.12):9 1
2 3
4
GLÜCKLICH DER MANN, → 2,12b der nicht gegangen ist nach dem Rat von Frevlern, und den Weg von Sündern nicht betreten hat, und am Sitz(platz) von Spöttern nicht gesessen hat, sondern der an der Weisung JHWHs sein Gefallen hat und seine Weisung rezitiert bei Tag und bei Nacht. Er wird sein wie ein Baum, gepflanzt an Wasserkanälen, der seine Frucht bringt zu seiner Zeit und dessen Laub nicht verwelkt. Und alles, was er tut, wird gelingen. Nicht so die Frevler, sondern wie die Spreu (sind sie),
7 S. dazu Hartenstein/Janowski, Psalmen. Lfg. 1, 7ff (Janowski). 8 S. dazu dies., a. a. O., 55ff (Hartenstein). 9 Im Folgenden werden die Feindbegriffe durch Unterstreichung, das Tun/Ergehen des Gerechten/Frevlers durch Kursivierung und die Weg-/Bergmotivik durch Fettdruck hervorgehoben.
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Der Psalter und die christliche Spiritualität
5 6
die ein Wind verweht. Darum stehen nicht auf Frevler im Gericht und Sünder in einer Versammlung von Gerechten. Denn JHWH kennt den Weg von Gerechten, aber der Weg von Frevlern vergeht. (Ps 1)
1
Wozu sind Völker unruhig geworden, und Nationen sinnen (ha¯ga¯h) auf Nichtiges, 2 stellen sich auf die Könige der Erde, und haben Fürsten sich zusammengetan gegen JHWH und gegen seinen Gesalbten?: 3 „Wir wollen zerreißen ihre Fesseln und von uns werfen ihre Stricke!“ 4 Der im Himmel thront, lacht, der Herr spottet über sie. 5 Dann wird er zu ihnen reden in seinem Zorn, und in seiner Glut wird er sie erschrecken: 6 „Ich habe meinen König eingesetzt auf Zion, meinem heiligen Berg.“ 7 „Ich will erzählen von der Setzung JHWHs: Er hat zu mir gesprochen: ‚Mein Sohn bist du! Ich habe dich heute geboren! 8 Erbitte von mir, dann will ich (dir) Völker als dein Erbland geben und als deinen Grundbesitz die Enden der Erde. 9 Du kannst sie zerschmettern mit eisernem Stab, wie Töpferware kannst du sie zerschlagen!‘“ 10 Und jetzt, ihr Könige, kommt zur Einsicht, lasst euch belehren, ihr Richter der Erde! 11 Dient JHWH mit Furcht und preist (ihn) mit Beben! 12 Küsst den Sohn, damit er nicht zürnt, und ihr (nicht) auf dem Weg zugrunde geht, denn schnell entflammt sein Zorn! GLÜCKLICH ALLE, DIE SICH IN IHM BERGEN! (Ps 2)
→ 1,1
Ps 1 und 2 sind aber nicht nur durch die Seligpreisung (Ps 1,1 / 2,12), sondern auch durch mehrere Stichworte miteinander verbunden. Dazu einige Hinweise. Während Ps 1 mit der für den Psalter charakteristischen Wegmetapher schließt („Weg von Gerechten“ vs. „Weg von Frevlern“ V.6), werden in Ps 2 die Könige und Richter der Erde vor ihrem Weg in den Untergang gewarnt (V.12). Und während die Tora nach Ps 1,2 vom Gerechten bei Tag und bei Nacht „rezitiert“ wird (ha¯ga¯h),10 machen die Nationen nach Ps 2,1 „vergebliche Pläne“, weil sie „auf Nichtiges sinnen“ (ha¯ga¯h rîq). Das Motiv der „Feinde“ verbindet Ps 1 und 2 mit Ps 10 Zu ha¯ga¯h „murmeln, sinnen, nachdenken“ s. unten.
362
Bernd Janowski
311 (V.2f.7.8), der seinerseits die Teilkomposition Ps 3–14 mit ihrer Motivik des richtenden und rettenden Israelgottes (Ps 3,9 / 14,7) eröffnet. Und schließlich weist der Topos „heiliger Berg“ (= Zion) in Ps 3,5 auf dieselbe Wendung in Ps 2,6 zurück: 1 Ein Psalm Davids, als er vor Absalom, seinem Sohn, floh. 2 JHWH, wie zahlreich sind meine Bedränger, wie viele sind es, die aufstehen gegen mich! 3 Viele sagen über mich: „Es gibt keine Rettung für ihn durch Gott!“ – Sela. 4 Aber du, JHWH, bist ein Schild um mich, meine Ehre und der, der mein Haupt erhebt. 5 Meine Stimme – ich rief (immer wieder) zu JHWH, da antwortet er mir von seinem heiligen Berg her. – Sela 6 Ich, ich legte mich nieder und schlief (ein). Ich erwachte, denn JHWH stützte mich. 7 Nicht fürchte ich mich vor Zehntausenden an (Kriegs-)Volk, die ringsum Stellung bezogen haben gegen mich. 8 Erhebe dich, JHWH, rette mich, mein Gott, denn geschlagen hast du alle meine Feinde auf die Backe, die Zähne der Frevler hast du zerbrochen! 9 Bei JHWH ist die Rettung! Auf deinem Volk (sei) dein Segen. – Sela
Auf diese Weise werden die Leitbegriffe und Grundmotive dieser Texte „übereinandergelegt oder ineinandergeschoben“,12 sodass man von einer Bedeutungsebene auf die andere wechseln kann. Die neuere Psalmenforschung hat dieses Phänomen als Stichwort- und Motivverkettung (concatenatio) bezeichnet.13 Der durch sie hervorgerufene Effekt ist ein doppelter: Zum einen wird die Konkretion der Einzelaussage gesteigert, d. h. das, was Ps 1 anhand des Kontrastes zwischen „Gerechtem“ und „Frevler“ beschreibt, konkretisiert Ps 3 mit Hilfe der Antithese von „(bedrängtem) Beter“ und „(aggressivem) Feind“. Zum anderen geschieht eine Aufsprengung der Einzelaussage, d. h. was in dem einen Fall der Gesalbte tut (Ps 2,9) – er „zerschmettert“ die Feindvölker mit eisernem Stab und „zerschlägt“ sie wie Töpferware –, das tut in dem anderen Fall Gott selbst (Ps 3,8): er „schlägt“ die Feinde auf die Backe und „zerbricht“ die Zähne der Frevler. Die Stichwortverkettung befördert, ohne die eine durch die andere Aussage zu „löschen“, eine Überlagerung der Bilder und Motive und legt damit größere Sinnzusammenhänge frei. „Alles“, so schreibt N. Lohfink, „ist offen auf Durchblicke und weitergreifende Einsichten hin. Aus der 11 S. dazu Hartenstein/Janowski, Psalmen. Lfg. 2, 135ff (Janowski). 12 Lohfink, Psalmengebet, 12. 13 S. dazu Lohfink, a. a. O., 7ff; Zenger, Psalmenforschung, 419ff u. a.
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Fläche wird Raum. Das Verstehen kann sich in ihm hin und her bewegen“.14 Für die Spiritualität der Psalmen ist dieses Phänomen, wie die folgenden Beispiele zeigen, von grundlegender Bedeutung. b) Zwei Beispiele Der beschriebene Sachverhalt lässt sich anhand der Frage nach dem Tun der Frevler verdeutlichen, zu dem – abgesehen von den entsprechenden Bezeichnungen („Frevler“, „Sünder“, „Spötter“) – in Ps 1 nichts Konkretes gesagt wird. Ein weiterführender Hinweis lässt sich aber auf der Ebene des Buchkontextes des ersten Davidpsalters (Ps 3–41) finden. Zu beachten ist nämlich außer dem intertextuellen Bezug zwischen Ps 1 und Ps 37,30f 15 der Sachverhalt, dass der ’asˇrêFormel in Ps 1–2 und im ersten Davidpsalter strukturelle Bedeutung zukommt, wie bereits F. Delitzsch16 gesehen hat, schematisch: Proömium Ps 1–2
1. Davidpsalter Ps 3–41 (= Buch I) Ps 1,1 Ps 2,12
Ps 40,5 Ps 41,2
Glücklich der Mann, der nicht gegangen ist im Rat von Frevlern, und nicht den Weg von Sündern betreten hat, und am Sitz(platz) von Spöttern nicht gesessen hat. (Ps 1,1) Glücklich alle, die sich in ihm (sc. JHWH) bergen. (Ps 2,12) Glücklich der Mann, der auf JHWH sein Vertrauen gesetzt hat und sich nicht gewandt hat zu den Stolzen und treulosen Lügnern. (Ps 40,5) Glücklich, wer auf den Geringen achtet: am Tag des Unheils wird JHWH ihn retten. (Ps 41,2)
14 Lohfink, a. a. O., 12, vgl. ders., Psalter, 199. 15 „Der Mund des Gerechten wird Weisheit rezitieren, und seine Zunge wird Recht/Gerechtigkeit sprechen. / Die Weisung seines Gottes ist in seinem Herzen, nicht werden wanken seine Schritte“ (Ps 37,30f, mit Hervorhebung der Ps 1 entsprechenden Lexeme und Wendungen), s. dazu Weber, Psalm 1, 100f. 16 Delitzsch, Psalmen, 66: „Mit zwei ’asˇrê 1,1.2,12 beginnt und mit zwei ∞açrê 40,5.41,2 schließt das erste Psalmbuch“, s. dazu auch Hartenstein / Janowski, Psalmen. Lfg.1, 23 (Janowski).
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b1) Psalm 1 und Psalm 40 Wie die obige Synopse zeigt, ist die Beziehung von Ps 1,1 zu Ps 40,5 besonders deutlich. In beiden Psalmen kommt, unbeschadet mehrerer Unterschiede, durch die Abgrenzung des Gerechten von den Frevlern „das Gruppenbewusstsein einer Minderheit“17 zum Ausdruck. Darüber hinaus ist das singuläre Motiv der von JHWH gegrabenen Ohren zu beachten. Denn dieses Motiv erklärt, wie es kommt, dass sich die Tora, von der auch Ps 1,2 spricht, „inmitten der Eingeweide“ des Beters befindet – nämlich durch die Ohren, denen neben der Funktion des Hörens auch die Funktion des Erkennens und Verstehens zukommt: 7 An Schlachtopfer und Speisopfer hast du (sc. JHWH) kein Gefallen – Ohren hast du mir gegraben, Brandopfer und Sündopfer hast du nicht verlangt. 8 Einst sprach ich: „Siehe, ich bin gekommen, in der Buchrolle ist über mich geschrieben!“ 9 Dein Wohlgefallen zu tun,18 mein Gott, habe ich Gefallen (ha¯pas), ˙ ˙ meiner Eingeweide (meʿîm). und deine Tora (ist) inmitten
Die Wendung „graben“ und „Ohren“ (V.7), die sich im Alten Testament nur hier findet, dürfte schöpfungstheologisch zu verstehen sein: durch das „Graben“ (ka¯ra¯h) der Ohren übereignet der Schöpfer dem Menschen die Fähigkeit, auf seine Tora zu hören und nach ihr zu handeln. Es ist deshalb nicht vordergründige Opferkritik, die sich in diesem Text niederschlägt, sondern die auf dem Boden der Dankopferfrömmigkeit gewachsene Einbeziehung des ganzen Menschen in das Wesen des Opfers. Die hörende und tätige Hinwendung des Menschen zu Gott (V.7aα.9a), dessen Tora sein Inneres erfüllt (V.9b), ist als solche das Opfer, mit dem der Beter für seine Rettung danken will. Von einer vergleichbaren Hinwendung des Menschen zu Gott spricht auch Ps 1, wenn der Gerechte glücklich gepriesen wird, der nicht gegangen ist nach dem Rat von Frevlern, und den Weg von Sündern nicht betreten hat, und am Sitz(platz) von Spöttern nicht gesessen hat, sondern der an der Weisung (tôra¯h) JHWHs sein Gefallen (hepæs) hat ˙ ˙ und seine Weisung rezitiert (ha¯ga¯h) bei Tag und bei Nacht“ (V.1f).
Das Verb ha¯ga¯h „murmeln, sinnen, nachdenken“ bedeutet, dass der Gerechte die Tora halblaut liest, das Gelesene hört und sich auf diese Weise regelrecht „einverleibt“. Im Unterschied zum stillen, nur im Kopf stattfindenden, ist das 17 Barbiero, Psalmenbuch, 53. 18 Oder: „Das, was dir wohl gefällt, zu tun, mein Gott, habe ich Gefallen“.
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halblaute Lesen ein identifizierendes Lesen, das den ganzen Menschen, also „Leib und Seele“, mit dem Text der Weisung JHWHs durchtränkt und sättigt: „Es ist das besinnliche Lesen gemeint, das sich das Wort mit leiser Unterstützung der Stimme einprägt, das laute Nachdenken, das nichts überhören möchte; in ein einziges Wort lässt sich sein innerer Sinn wohl nur fassen mit Hilfe des mittelalterlichen meditari. Wir sind zu schnell aus auf neue Gedanken, statt dass wir uns das Wort selber halblaut lesend so vorsagen, dass wir es in unser Herz beharrlich hineinbewegen […] auf solches meditierende, halblaute Lesen, das nur dem eigenen Herzen das Wort zu Gehör bringen möchte, werden wir hier verwiesen. Es scheint das regelmäßige Kennzeichen eines hungrigen, fruchtbaren Umgangs mit der Heiligen Schrift zu sein“.19
Ebenso wie der Gerechte von Ps 1,2 findet auch der Beter von Ps 40,9 „sein Gefallen (hps) im Tun dessen, was Gott selbst gefällt (rsn). Dadurch wird der ˙ ˙ ˙ ,persönliche‘ Aspekt der Tora unterstrichen. Die Beobachtung des Gesetzes wird als eine Sache des Herzens empfunden, als Ausdruck der liebenden Beziehung zweier Personen“.20
Jetzt wird klar, was das Ziel der „Einverleibung“ der Tora (Ps 1,2) und ihrer „Verinnerlichung“ (Ps 40,9) ist: nämlich, die problematischen Situationen zu bewältigen, denen der Beter auf seinem Lebensweg begegnet und die er, wie der erste Davidpsalter (Ps 3–41) so überaus eindrücklich zeigt, nur im Vertrauen auf JHWHs Tora bestehen kann. b2) Psalm 1 und Psalm 41 Auch zwischen Ps 41 und Ps 1 gibt es, unbeschadet zahlreicher Unterschiede, auffällige Entsprechungen. Aufschlussreich dafür ist nach Ps 41,5–11, was dem „Geringen“ vonseiten seiner Feinde, Nachbarn und treulosen Freunde widerfährt: 5 6 7 8
Ich selbst sprach: JHWH, sei mir gnädig! Heile mein Leben/mich (naepaesˇ), denn ich habe an dir gesündigt! Meine Feinde reden Böses über mich: Feinde „Wann stirbt er und vergeht sein Name?” Und wenn einer kommt, (mich) zu sehen, redet sein Herz Falsches, er sammelt sich Unheil zusammen, er geht hinaus, er redet. Gemeinsam zischeln über mich alle, die mich hassen,
19 Wolff, Wegweisung, 143f. Zu ha¯ga¯h s. Hartenstein / Janowski, a. a. O., 10.26f (Janowski). Aufschlussreich für diese Art des Lesens ist auch die Geschichte von Philippus und dem äthiopischen Hofbeamten in Apg 8,26–40, wo es heißt, dass Philippus hört, wie der Hofbeamte im Buch Jesaja liest (V.30, er liest Jes 53,7f*), s. dazu Janowski, Verstehst du auch, 351ff. 20 Barbiero, Psalmenbuch, 53.
366 gegen mich ersinnen sie Böses für mich: „Eine Sache des Verderbens ist über ihn ausgegossen, und wer einmal liegt, steht nicht mehr auf!“ 10 Sogar der Mann meines Friedens, dem ich vertraute, der mein Brot aß, hat groß getan (= geprahlt) gegen mich. 11 Aber du, JHWH, sei mir gnädig und richte mich auf, damit ich ihnen vergelten kann!
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treuloser Freund
Diese Anfeindungen hat der kranke Beter erfahren, durch JHWHs gnädige Zuwendung aber überstanden. „Glücklich“ (’asˇrê), so Ps 41,2, wer sich nicht solchen Anfeindungen hingibt, sondern „wer auf den Geringen achtet“: 2 Glücklich, wer auf den Geringen achtet: Am Tag des Unheils wird JHWH ihn retten. 3 JHWH wird ihn behüten und ihn am Leben erhalten, und er wird glücklich gepriesen im Land – ja, du wirst ihn nicht preisgeben der Gier seiner Feinde. 4 JHWH wird ihn stützen auf dem Siechbett – sein ganzes Lager hast du gewendet in seiner Krankheit.
Im Blick auf unsere Frage nach der Spiritualität der Psalmen ergibt sich daraus eine wichtige Feststellung. Wenn man nämlich Ps 1,1–3 und Ps 41,2–4, also die jeweils erste Strophe beider Eckpsalmen, miteinander vergleicht, so wird als „Weg zum Glück in Ps 1 die liebevolle Annahme der Tora JHWHs vorgestellt (1,2), in Ps 41 die Achtung auf den Schwachen (mas´kîl ’æl dal 41,2). Durch diese Parallelstellung wird die Tora auf ihren neuralgischen Punkt hin konzentriert. Die Sorge für die Schwachen ist nämlich ein, wenn nicht das zentrale Anliegen des alttestamentlichen Gesetzes; sie entspricht der grundlegenden Gotteserfahrung Israels“.21
Diese Sorge für die Schwachen wird dann akut, wenn, wie die Klage Ps 41,5–11 konkret schildert, die Feinde, Nachbarn und treulosen Freunde die Oberhand gewinnen und dem „Geringen“ mit ihrer Todesdeklaration den Garaus machen wollen (Ps 41,9!). Ihnen entsprechen in Ps 1 die Frevler, Sünder und Spötter, von deren Lebensmaximen sich der Seliggepriesene distanziert hat. Zwar sagt Ps 1 nicht, was die Frevler konkret tun – er sagt vielmehr, was sie nicht tun (vgl. Ps 1,4!) –, aufgrund seiner Spitzenstellung am Beginn des 1. Davidpsalters gibt er aber einen programmatischen Hinweis, der in den Feindschilderungen des ersten Davidpsalters (Ps 3–41) detailliert ausgestaltet und am Ende in Ps 41 konkretisiert wird. So bekommt man den „Eindruck, daß zwischen Anfang und Ende des ersten Psalmenbuches ein theologisches Itinerar dargestellt wird“,22 zu dem Ps 1 die Tür aufstößt. Alles Weitere ist in diesem Licht zu lesen. Anders gesagt: Innerhalb des Rahmens von Ps 1–2 und Ps 40–41 spielt das erste Psalmenbuch 21 A. a. O., 61. 22 A. a. O., 62.
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„verschiedene typische und theologisch ,problematische‘ Lebenslagen durch und führt […] den Leser ein in die conditio humana in mundo coram deo in stereotypen Wechselfällen (,Grundsituationen‘) des Lebens“.23
2.2.
Ps 3–145 als theologisches Itinerar
Dass der Psalter ein theologisches Itinerar, also eine Art „Stationenverzeichnis“ für problematische Lebenslagen und die Möglichkeit ihrer Bewältigung ist, ist nicht auf den ersten Davidpsalter beschränkt. Es lässt sich auch an den übrigen Psalmenbüchern zeigen. Wir greifen wieder zwei Beispiele heraus, die zwar jeweils einen anderen Focus – Anthropologie (Klage/Lob) und Kosmologie (Scheol/ Tempel) – haben, die sich in ihrer Semantik und Motivik aber immer wieder berühren. a) Lob und Klage – anthropologische Aspekte Beginnen wir mit den beiden Gebetsformen Lob und Klage und ihrem anthropologischen Profil. G. von Rad hat die Klage- und Danklieder des Einzelnen als die „Antwort Israels“24 bezeichnet, mit der das Gottesvolk auf die Worte und Taten JHWHs reagiert und darin zu sich selbst coram Deo findet: „Sie (sc. die Antwort Israels) zeigt uns, wie diese Taten auf Israel gewirkt haben, sie zeigt uns, wie Israel nun seinerseits diese Existenz in der Unmittelbarkeit und Nähe zu Jahwe bejaht und verstanden hat, welche Anstalten es getroffen hat, sich vor sich selbst und vor Jahwe in dieser Nähe Jahwes zu rechtfertigen oder zu schämen. Sie zeigt uns aber auch, wie Israel in diesem Verkehr mit Jahwe sich selber offenbar wurde und in welchem Bild es sich sah, wenn es redend vor Jahwe trat. Wenn irgendwo, dann ist zu hoffen, daß hier die Grundzüge einer theologischen Anthropologie deutlich werden […]“.25
Dass der Psalter – wie die Buchbezeichnung „(Buch der) Lobpreisungen“ ja auch nahelegt – trotz seiner zahlreichen Klagepsalmen ein ins Überdimensionale gesteigerter Lobpreis Gottes ist, hat seinen Grund darin, dass das Loben Gottes eine Grundform von Theologie und nach alttestamentlichem Verständnis „die dem Menschen eigentümlichste Form des Existierens“26 ist. Denn im Lobpreis Gottes relativiert sich die Selbstverabsolutierung des Menschen und bringt zum Ausdruck, was der Kern der Gott/Mensch-Beziehung ist: die rettende Zuwendung 23 24 25 26
Leuenberger, Konzeptionen, 102, vgl. Hossfeld/Zenger, Psalm 1–50, 12ff. S. dazu von Rad, Theologie 1, 366ff. A. a. O., 367. A. a. O., 381, vgl. auch die Fortsetzung des Zitats: „Loben und nicht mehr Loben stehen einander gegenüber wie Leben und Tod“, s. dazu auch Wolff, Anthropologie, 316ff.
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Gottes, dessen Barmherzigkeit die ganze Schöpfung, Israel und die Völker umgreift (vgl. Ps 146–150). Selbst die individuellen Klagepsalmen, die die brennenden Warum- und Wie lange?-Fragen nach Gottes Gegenwart wach halten, zehren als „Konfliktgespräche mit Gott“ von dem Glauben, dass menschliches Leben nur als Leben coram Deo gelingen kann. Sie sind zwar in der Situation der Gottesferne gesprochen, widerstehen aber der Versuchung, Gott abzuschreiben. Mit ihrer kompositorischen Anlage machen sie vielmehr deutlich, dass die Klage auf das Gotteslob zuläuft und an den „appelliert […], der das Leid wenden kann“.27 In der Klage geht es darum „nicht um die Selbstdarstellung des Leids und die Selbstbemitleidung, sondern um die Wende des Leids“28. Nehmen wir Ps 13,29 das Musterbeispiel eines Klagelieds des Einzelnen: 1 I.
Für den Chormeister. Ein Psalm Davids.
Klage (mit Invocatio) 2a b 3a b
Wie lange, JHWH, vergisst du mich auf Dauer? Wie lange verbirgst du dein Gesicht vor mir? Wie lange soll ich Sorgen tragen in meiner naepaeç, Kummer in meinem Herzen Tag für Tag? Wie lange erhebt sich mein Feind über mich?
II. Bitte (mit Invocatio) 4a b 5a b
Blick doch her, erhöre mich, JHWH, mein Gott! Lass meine Augen leuchten, damit ich nicht zum Tod entschlafe, damit mein Feind nicht behauptet: „Ich habe ihn überwältigt!“, meine Gegner nicht jubeln, dass ich wanke!
III. Vertrauensbekenntnis und Lobversprechen 6aαβ Doch ich – auf deine Güte habe ich vertraut, mein Herz juble über deine Rettung: aγb „Singen will ich JHWH, dass er an mir gehandelt hat!“
Die Wende des Leids ist hier als eine aufsteigende Linie des Vertrauens gestaltet, die beim Aussprechen des JHWH-Namens von V.2 ansetzt, sich in der Invocatio „JHWH, mein (!) Gott“ von V.4 verdichtet und schließlich in die Vertrauensäußerung „deine (!) Güte“ // „deine (!) Rettung“ von V.6 mündet:
27 Westermann, Klage, 255. Man kann das Klagelied des Einzelnen deshalb mit Markschies, Vertrauensäußerungen, 386ff als ein „zielgerichtetes Vertrauensparadigma“ bezeichnen und in ihm eines der stärksten Zeugnisse vom Rettungshandeln Gottes im Alten Testament sehen. 28 Westermann, ebd. (Hervorhebung von mir). 29 S. dazu Janowski, Konfliktgespräche, 56ff.
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2 Bis wann, JHWH, vergisst du mich auf Dauer? Bis wann verbirgst du dein Gesicht vor mir? 4 Blick doch her, erhöre mich, JHWH, mein Gott! Lass meine Augen leuchten, damit ich nicht zum Tod entschlafe, 6 Doch ich – auf deine Güte habe ich vertraut, mein Herz juble über deine Rettung …
Dieser aufsteigenden Linie des Vertrauens entspricht gegenläufig eine abfallende Linie der Klage: Zunehmendes Vertrauen
Abnehmende Klage
JHWH 2 Klage 2f JHWH, mein Gott 4 Bitte 4f deine Güte // Rettung 6 Vertrauen/Lobgelübde 6
Für die Frage nach der Spiritualität des Psalters hat dieser Sachverhalt fundamentale Bedeutung. Denn was Ps 13 und andere Klagelieder aufgrund ihrer individuellen Textstruktur und gleichsam en miniature als Prozess von der Klage zum Lob (V. 2f: „Wie lange?“ → V. 6aγ.b: „Ich will singen …“) entfalten, das bestimmt im Großen auch das Gesamtgefälle des Psalters: er beginnt mit Klagen über Verfolgung (Ps 3; 18; 35,1–6 u. ö.), Rechtsnot (Ps 5; 7 u. ö.), Feindschaft (Ps 55–59 u. ö.), Krankheit (Ps 6; 38; 41 u. ö.), Todesnot (Ps 22; 88 u. ö.), Schuld (Ps 32; 51 u. ö.), Vergänglichkeit (Ps 39; 90 u. ö.) und endet – beginnend mit der Zäsur Ps 89/Ps 90 – mit dem Gotteslob, „sei es im Zusammenhang der Rede von der Schöpfung, sei es in Bezug auf die Königsherrschaft Gottes und die Geschichte Gottes mit Israel“,30 schematisch: Buch I 3–41 Buch II 42–72 Buch III 73–89
Klage
—–-—–-—–-—–-—–-—–-—–-—Buch IV 90–106 Lob Buch V 107–150
Zwischen jenem Anfang, für den vor allem der erste und zweite Davidpsalter (Ps 3–41 u. 51–72) stehen,31 und diesem Ende, das im Schlusshallel Ps 146–150 zu 30 Hossfeld, Klage, 18. 31 Allerdings gibt es „im Meer der Klage des 1. Davidpsalters […] Inseln des Lobes“ (ebd.). So ragt z. B. innerhalb der Teilsammlung Ps 3–14 als „Lobzentrum der Hymnus vom königlichen Menschen Ps 8 heraus – umgeben von Klagen des bedrängten Beters“ (ebd.). Deshalb bildet Ps 8 als Mitte bzw. Höhepunkt der aus Klage- und Bittgebeten bestehenden Teilkomposition Ps 3–14 nicht einen abstrakten und kontextlosen Entwurf des biblischen Menschenbildes
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seinem „klangvollen“ Ziel kommt, wird das gesamte Spektrum der conditio humana aufgespannt, aber schließlich in das universale Gotteslob überführt. Trotz seiner zahlreichen Klagen und Bitten ist der Psalter deshalb von einer „Architektur des Gotteslobes“32 geprägt, was mit dessen besonderer Sprachform zusammenhängt: „Wer bittet, geht von sich und seiner Welt aus. Wer lobt, geht von Gott aus. Das Gotteslob bleibt offen, denn es spricht von dem her, was kommt. Auch das lobende Sprechen hat in seiner Pragmatik eine bittende Funktion, denn das Lob will die Veränderung der Welt, die dem Lob widerspricht. Aber es läßt Gott alles offen. Lob Gottes kommt von der Zukunft her, die die Zukunft Gottes ist“.33
Bevor wir diese Spur weiterverfolgen, wollen wir kurz innehalten und genauer auf die sachlichen Implikationen des Gotteslobs achten. Dies führt uns zu den kosmologischen bzw. tempeltheologischen Aspekten des Psalters. b) Scheol und Tempel – kosmologische Aspekte Der Wechsel von der anthropologischen zur kosmologischen bzw. tempeltheologischen Ebene könnte zunächst wie eine metabasis eis allo genos aussehen. Denn was, so ist zu fragen, hat das Geschick des Beters mit der Gegenwart Gottes im Tempel zu tun? Gehen wir zur Beantwortung dieser Frage von dem für die individuellen Danklieder charakteristischen Übergang vom Tod zum Leben aus. Dieser Übergang wird als räumlicher Vorgang vorgestellt, der das Jenseits (Tod) mit dem Diesseits (Leben) verbindet – und zwar durch einen rettenden Akt JHWHs, der, wie Ps 18,4–7 und Ps 30,2–4 deutlich machen, den „Toten“34 aus der Unterwelt „heraufführt“ oder aus ihr „herauszieht“: Ps 18,4–7 4 „Hochgepriesener“ will ich rufen, JHWH, und vor meinen Feinden werde ich gerettet. (vgl. die Grundfrage Ps 8,5), sondern er enthält eine konkrete Hoffnungsbotschaft, die gerade den in den Klage- und Bittgebeten Ps 3–7 (einzelne Beter als Leidende) und Ps 9–14 („Arme“ als soziale Gruppe) gemeinten Leidenden gilt, s. dazu Hartenstein/Janowski, Psalmen/Psalter, 1771 und Hartenstein, „Schaffe mir Recht“, 229ff. Ähnliches gilt für die Teilsammlung Ps 15– 24 mit Ps 19 als Zentrum, s. dazu auch Leuenberger, Konzeptionen, 97f. Mit diesem Konstruktionsprinzip ist ein theologischer Kontrapunkt gesetzt, der den buchinternen Weg von der Klage zum Lob von Anfang an vorbereitet. Dieser Weg wird zum Buchende hin immer breiter und einladender. 32 Spieckermann, Kosmos, 79. 33 Ballhorn, Telos des Psalters, 372, vgl. ders., Doxologie, 11ff; Hossfeld, Klage, 19 und Spieckermann, a. a. O., 61f. 34 Zur spezifischen Todesauffassung der Individualpsalmen s. außer der klassischen Darstellung von Barth, Errettung noch Liess, Weg des Lebens, passim; Eberhardt, JHWH, 222ff; Janowski, Gott Israels, 279ff und Leuenberger, Ausformungen, 87ff.
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5 Es umgaben mich Schlingen des Todes, Ströme des Verderbens erschrecken mich. 6 Stricke der Unterwelt umfingen mich, es näherten sich mir Fangnetze des Todes. 7 In meiner Not rufe ich JHWH, und zu meinem Gott schreie ich um Hilfe. Er hört aus seinem Tempel meine Stimme, Und mein Flehen wird vor ihn kommen, in seine Ohren.
Ps 30,2–4 2 Ich will dich erheben, JHWH, denn du hast mich emporgezogen und hast nicht jubeln lassen meine Feinde über mich. 3 JHWH, mein Gott, ich flehte zu dir, und du hast mich geheilt. 4 JHWH, du hast heraufgeholt aus der Unterwelt mein Leben (naepaeç), du hast mich zum Leben gebracht aus ‹denen, die› in die Zisterne ‹hinabsteigen›.
JHWH hat den Beter wie einen ledernen Schöpfeimer (delî, vgl. Num 24,7; Jes 40,15 und Abb. 1) aus der Tiefe der Zisterne „emporgezogen“ (dlh pi. V.2)35 und sein Leben aus der Unterwelt „heraufgeholt“ (ʿlh hif. V.4a, vgl. Jon 2,7b u. ö.). Damit hat er ihn wieder „zum Leben gebracht“ (hjh pi.) aus denen, die in die ˙ Zisterne „hinabsteigen“ ( jrd V.4b).
Abb. 1: Lederner Schöpfeimer mit Mündungsholzkreuz
Ähnliche Bilder eines vertikal – von unten (Scheol) nach oben (Tempel) – verlaufenden Rettungsvorgangs wie in Ps 18,4ff; 30,2ff und anderen Texten36 finden sich auch in dem individuellen Danklied Ps 116,37 das in seinem zweiten Teil (V.12–19) darüber hinaus noch ein an der Horizontalen orientiertes Raum35 Zum Vorgang s. Ex 2,16.19 und Seybold, Poetik, 206. 36 S. dazu die Zusammenstellung der Texte und Termini bei Barth, Errettung, 98ff; Adam, Held, 49.55ff u. a. 37 Zu diesem Text s. Janowski, Dankbarkeit, 274ff und Hossfeld/Zenger, Psalmen 101–150, 291ff (Hossfeld).
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konzept enthält. Aus dem umfangreichen Text seien die Rettungserzählung und der Dankopferbericht zitiert: Rettungserzählung 3 Umgeben haben mich Schlingen des Todes, und Bedrängnisse der Unterwelt haben mich angetroffen, Bedrängnis und Kummer traf ich (immer wieder) an, 4 und ich rief den Namen JHWHs (unentwegt) an: „Ach JHWH, lass mein Leben (naepaeç) entkommen!“ 5 Gnädig ist JHWH und gerecht, und unser Gott ist ein Erbarmer, 6 ein Hüter der Einfältigen ist JHWH; ich war niedrig, und mich rettete er. 7 Kehre zurück, mein Leben (naepaeç), zu deiner Ruhe, denn JHWH hat an dir gehandelt; 8 ja, du hast (herausgezogen =) befreit mein Leben (naepaeç) vom Tod, meine Augen von Tränen, meinen Fuß vom Sturz. 9 Ich werde umhergehen vor JHWH in den Ländern der Lebenden. Dankopferbericht 13 Den Becher der Rettungstaten will ich erheben, und den Namen JHWHs will ich anrufen. 14 Meine Gelübde will ich JHWH erfüllen, ja, vor seinem ganzen Volk. Kostbar in den Augen JHWHs ist der Tod seiner Frommen. 16 Ach JHWH, ich bin dein Knecht, ich bin dein Knecht, der Sohn deiner Magd, du hast geöffnet meine Fesseln! 17 Dir will ich ein tôda¯h-Opfer schlachten, und den Namen JHWHs will ich anrufen. 18 Meine Gelübde will ich JHWH erfüllen, ja, vor seinem ganzen Volk, 19 in den Vorhöfen des Hauses JHWHs, in deiner Mitte, Jerusalem!
Im Blick auf das Raumkonzept dieses Textes kann man von einer „sacred topography of contrast localities“38 sprechen, weil der Psalm eine Gesamtbewegung von der Scheol (V.3) über die Länder der Lebenden (V.9) bis zu den Vorhöfen des Hauses JHWHs (V.19) nachzeichnet und damit den Beter – gemäß der biblischen Diesseits-/Jenseits-Topografie (s. Abb. 2) – schrittweise den dramatischen Weg vom Unheil zum Heil, von der Scheol zum Tempel zurücklegen lässt. Die Grenze zwischen Diesseits und Jenseits wird dabei so gezogen, dass der Tod ins Leben hineinragt und das Leben des Beters die Unterwelt berührt (vgl. Ps 88,4b) – ob38 Hauge, Sheol, 281ff.
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wohl die Unterwelt nach den kosmologischen Vorstellungen Israels in der äußersten, unerreichbaren Tiefe liegt (vgl. Hi 38,16–18).
Abb. 2: Die Grenze zwischen Leben und Tod nach den Psalmen
Die Rettungserzählung von Ps 30,3–9 konstruiert dabei eine Bewegungslinie, die tief unten im (Gefängnis-)Bereich der Scheol (V.3f) ansetzt und in die Nähe des barmherzigen Gottes (V.5) führt, der die Distanz zum „niedrigen“ Beter (V.6 bα) durch sein rettendes Eingreifen von oben (= Tempel) her überwindet (V.6bβ, vgl. V.8) und der diesem ermöglicht, vor ihm in den Ländern der Lebenden (V.9) zu wandeln.39 Die Rettungserzählung V.3–6 versprachlicht diese Bewegung als vertikalen Vorgang mit der doppelten Sinnrichtung von unten (Scheol) nach oben (V.3f) und von oben (Tempel) nach unten (V.5f): Tempel (oben)
JHWH 4 5 JHWH ↑ ↓
Scheol
(unten) Beter
3 6 Beter
Nach der erfolgten Rettung (V.7f) verläuft der Weg des Beters in horizontaler Richtung vom Ort der „Ruhe“ (V. 7) / von den „Ländern der Lebenden“ (V.9) zu den „Vorhöfen des Hauses JHWHs“ (V.19), wobei drei konzentrische Kreise: Länder der Lebenden → Jerusalem → Vorhöfe des Tempels die schrittweise Rückkehr des Geretteten in die Gemeinschaft mit JHWH räumlich abbilden. Am Ende des Psalms steht der errettete Beter, der den langen Weg von der Scheol zum Tempel zurückgelegt hat, wieder vor seinem Gott und preist ihn dankbar „vor seinem ganzen Volk“ (V.18b, vgl. V.14a).
39 Zum tempeltheologischen Ausdruck „Land/Länder der Lebenden“ (Jes 38,11; 53,8; Jer 11,19; Ez 26,20; 32,23.24.25.27.32; Ps 52,7; 116,9; 142,6; Hi 28,13) s. besonders Hartenstein, Angesicht JHWHs, 92ff.
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Ziehen wir ein Zwischenfazit: Wie die Danklieder Ps 18,4ff; 30,2ff; 116,3ff.13ff u. a. zeigen, blickt der Beter auf seine vielschichtigen Erfahrungen mit der Scheol einerseits und mit dem Zionsgott andererseits zurück und vergegenwärtigt sich auf diese Weise den dramatischen Weg vom Tod zum Leben. Konstitutiv dafür ist die Verschränkung mehrerer Raum- und Zeitebenen, der zufolge der Beter an zwei Orten und in zwei Zeiten zugleich lebt: in der Vergangenheit seiner jetzt überstandenen, aber im Vollzug des Gebets erinnerten Todesnot und in der auf die heilvolle Zukunft ausgerichteten Gegenwart. Zustande kommt eine solche Verschränkung zweier konträrer Zeit- (Vergangenheit/Gegenwart) und Raumerfahrungen (Scheol/Tempel) nicht irgendwann und irgendwo, sondern in einer bestimmten Situation. Es ist die Situation der Dankopfer-Feier, in der jene dramatische Tod/Leben-Erfahrung artikuliert und in der Öffentlichkeit der Gemeinde betend nachvollzogen wird. Beten, das machen die Danklieder deutlich, ist ein transitorischer Akt, der dem Bedrängten den Weg ins Leben weist – nicht nur gedanklich, sondern auch faktisch, nämlich im Aussprechen der verlorenen (Klage) und wieder gewonnenen (Lob) Gottesnähe. Die alttestamentliche Theologie der Dankbarkeit hat in diesen Texten zu einem gültigen Ausdruck gefunden, weil sie Zeugnis davon ablegen, was der unverfügbare Grund des Lebens ist: die rettende Zuwendung Gottes, der vom Tod zum Leben führt.
2.3.
Ps 146–150 als Schlussstein des Psalters
Machen wir auf unserem Durchgang durch den Psalter noch einen letzten Schritt, indem wir uns dem „Schlussstein“ Ps 146–150 zuwenden. „Aller Atem lobe JH!“ heißt es in Ps 150 (V.6), der zusammen mit den Halleluja-Psalmen 146–149 den hinteren, doxologischen Rahmen des Psalters bildet. Dieser Text, der nach V.1b–2 den im irdischen (qodæsˇ) wie im himmlischen Heiligtum (ra¯qîac) erklingenden Lobpreis Gottes zusammenbindet und Gottes Machttaten und Größe in Schöpfung und Geschichte feiert, folgt nach V.3–5 einer „räumlichen Bewegung von ,innen‘ nach ,außen‘, die wohl der symbolischen Topografie des zweiten Jerusalemer Tempels entspricht, also konzentrisch um den Mittelpunkt des Allerheiligsten angeordnete Bereiche abnehmender Heiligkeit voraussetzt“:40
40 Hartenstein, Wach auf, 119 (Hervorhebung im Original), s. zur Interpretation von Ps 150 noch Zenger, Aller Atem, 565ff und Hossfeld/Zenger, Psalmen 101–150, 871ff (Zenger).
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Der Psalter und die christliche Spiritualität
1 Lobt JH (hallelû Ja¯h)!
Rahmen
Lobt Gott in seinem Heiligtum, lobt ihn in der Feste seiner Macht! 2 Lobt ihn wegen seiner Heldentaten, lobt ihn gemäß seiner gewaltigen Größe!
Ird. und himml. Heiligtum als Ort des Gotteslobs Machttaten und Größe Gottes in Schöpfung und Geschichte
3 Lobt ihn mit Schofarstößen, lobt ihn mit Harfe und Leier! 4 Lobt ihn mit Handpauke und Tanz, lobt ihn mit Saiten und Flöte! 5 Lobt ihn mit klingenden Zimbeln, lobt ihn mit Zimbeln von Jubellärm!
Tempelinneres Vorhöfe Festszenario mit ↓ Musikinstrumenten jenseits des Tempelareals
6 Aller Atem lobe JH! Lobt JH (hallelû Ja¯h)!
universales Gotteslob Rahmen
Wie in einer großen Sinfonie – zwölf Mal erschallt hier das Hallelujah! – klingt am Ende des Psalters dessen von der Klage zum Lob reichende Gesamtbewegung mit einem universalen Gotteslob aus und bildet damit das klangvolle „Echo“ zu dem „bei Tag und bei Nacht“ – d. h. allezeit: in der Zeit des Heils (Tag, Licht) wie in der Zeit des Unheils (Nacht, Finsternis) – die Tora JHWHs rezitierenden Gerechten von Ps 1,2.41 Im universalen Lobpreis JHWHs vollendet sich so das Glück des Menschen, das der Psalter in seinem Eingangspsalm als „Weg des Gerechten“ (vs. „Weg der Frevler“) präsentiert und zu dem Ps 146,1b–2 als Auftakt des Schlusshallel Ps 146–150 auffordert: Lobe, meine næpæsˇ, JHWH! Ich will JHWH loben durch mein Leben, ich will aufspielen meinem Gott, mein Leben lang.
Der die Tora JHWHs still vor sich hin rezitierende Gerechte von Ps 1,2 und der zusammen mit „allem Atem“ Gott preisende Mensch von Ps 150,6 – beide Menschentypen sind Urbilder der unverfälschten Spiritualität.42 Wer in dieser Weise das „große Haus“ des Psalters und seine kleineren und größeren Psalmen,Räume‘ durchschreitet, nimmt all das verstehend in sich auf, was ihm unterwegs begegnet und was den Psalter zu einem Buch des Lebens macht: „Hier kommen all die Themen des Psalters ins Spiel, die nun – nach Ps 1 – Tora werden: daß es viele ungerechte Menschen gibt, die die Gerechten bedrängen, daß im Leben neben der Freude auch viel Klage herrscht, daß das Leben als bedrängtes erlebt wird, daß Strukturen des Bösen und der Sünde das eigene Leben prägen; aber auch, daß Gott
41 Zum Text s. oben. 42 Zum Psalter als dem „Buch der unverfälschten Spiritualität“ s. im Folgenden.
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verzeiht, daß er rettet, daß es eine Gemeinschaft der Gerechten gibt, daß Gott in der Geschichte schon gehandelt hat – und daß letztlich das Lob obsiegen wird (Ps 150)“.43
All dies kommt im Psalter zur Sprache. Es kommt aber so zur Sprache, dass die grundlegende Perspektive, die Ps 1 mit dem Wort „Tora“ auf den Begriff bringt, nicht verlorengeht, sondern transformiert wird. Damit verschiebt oder besser: weitet sich die Perspektive von der Tora- und David-/Königs-Thematik der Psalmenbücher I–III zur neuen Thematik der Psalmenbücher IV–V. Dieser neue Skopus ist die universale Königsherrschaft JHWHs, der als Retter der Armen das eschatologische Gericht durchführt (Ps 149,5–9) und damit den neuen Himmel und die neue Erde bringt (Ps 150).
3.
Das „Buch der unverfälschten Spiritualität“
Ziehen wir ein Fazit. Durch die Geschichte des Christentums zieht sich wie ein roter Faden die Überzeugung, dass der Psalter ein „Spiegel“ ist, in dem der Mensch sich selbst erkennt, „dazu Gott selbst und alle Kreaturen“.44 Das Organ, das diese Erkenntnis herbeiführt, ist das menschliche Herz, das Luther in einer berühmten Passage seiner „Zweiten Vorrede zum Psalter“ von 1528 mit einem „Schiff auf einem wilden Meer“ verglichen hat. Dieser Vergleich, der nichts weniger als eine „Daseinsmetapher“45 ist, macht noch einmal deutlich, warum der Psalter, das Gebetbuch Israels, zum Gebet- und Lebensbuch der Kirche wurde und bis heute geblieben ist: „Denn ein menschlich Herz ist wie ein Schiff auf einem wilden Meer, welches die Sturmwinde von den vier Orten der Welt treiben. Hier stößt her Furcht und Sorge vor zukünftigem Unfall; dort fähret Grämen her und Traurigkeit von gegenwärtigem Übel. Hier weht Hoffnung und Vermessenheit von zukünftigem Glück; dort bläset her Sicherheit und Freude in gegenwärtigen Gütern. Solche Sturmwinde aber lehren mit Ernst reden und das Herz öffnen und den Grund herausschütten. Denn wer in Furcht und Not steckt, redet ganz anders von Unfall, als der in Freuden schwebt. Und wer in Freuden schwebt, redet und singet ganz anders von Freuden, als der in Furcht steckt. Es gehet nicht von Herzen (spricht man), wenn ein Trauriger lachen oder ein Fröhlicher weinen soll; das ist, seines Herzens Grund stehet nicht offen und ist nicht heraus“.46
Im Psalter kommt das menschliche Leben zu sich selbst, weil er ein „Spiegel der Seele“ und eine „Schatzkammer der Heiligen Schrift“ ist. Und er ist dieser Spiegel und diese Schatzkammer, weil ihm buchstäblich „die rettende, schützende, 43 44 45 46
Ballhorn, Glücklich, 16. Luther, Vorrede, 69. Zur Spiegelmetapher s. oben. Zum Begriff „Daseinsmetapher“ s. Blumenberg, Schiffbruch. Luther, a. a. O., 67, s. dazu Stolt, Rhetorik, 51ff.
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tröstende und vergebende Gegenwart Gottes“47 innewohnt. Keine andere Sprache führt tiefer hinein in die Finsternis des Todes und keine andere ist wie diese ein Weg zum Leben. Wer den Psalter liest, wird darum Dimensionen der Wirklichkeit kennenlernen, die nur dieses Buch der Bibel eröffnet: die Dimension der Weite, die alles mit einbezieht, was Atem hat (vgl. Ps 145,21; 150), die Dimension der Höhe, die von Gott und seiner Schöpfung in unvergleichlichen Bildern spricht (vgl. Ps 36; 104), und die Dimension der Tiefe, deren Abgründigkeit jedes erdenkliche Maß übersteigt (vgl. Ps 23,4aα; 88).48 Was am Ende, nach Auslotung aller Weiten, Höhen und Tiefen der menschlichen Existenz wie der Glaubensgeschichte Israels bleibt, ist die Dimension der Nähe des lebendigen Gottes, der den Weg zum Leben weist (vgl. Ps 16) und der den bedrängten Menschen, wie es Ps 2349 unübertroffen ausdrückt, zeit seines Lebens an seiner Gegenwart „im Haus JHWHs“ (V. 6) teilhaben lässt: 1 Ein Psalm Davids. JHWH ist mein Hirte, ich habe keinen Mangel, 2 auf grünen Weiden lässt er mich lagern, an Wasser der Ruhe führt er mich, 3 meine Lebenskraft erneuert er. Er führt mich auf Bahnen der Gerechtigkeit um seines Namens willen. 4 Auch wenn ich im Tal der Finsternis gehe, fürchte ich nichts Böses, denn Du bist bei mir, Dein Stock und Dein Stab – sie trösten mich. 5 Du bereitest vor mir einen Tisch gegenüber meinen Bedrängern. Du hast mit Öl gesalbt mein Haupt, mein Becher ist Überfließen. 6 Ja, Gutes und Huld verfolgen mich alle Tage meines Lebens, und ich werde (immer wieder) zurückkehren in das Haus JHWHs für die Länge der Tage.
Wenn wir als Christen die Psalmen lesen und beten, dann begeben wir uns darum in die „große Schule des Betens“,50 die uns immer wieder aufs Neue lehrt, wer Gott ist und was er tut. Und die uns sagt, wer wir sind und wohin wir gehen. Der 47 Zenger, Psalmenforschung, 435. 48 Mit den genannten Dimensionen ist die „architektonische Grundidee“ des Psalters anvisiert, s. dazu auch Seybold, Poetik, 371ff. 49 Zu Ps 23 s. Janowski, Der gute Hirte, 147ff. 50 Bonhoeffer, Leben, 40.
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Psalter ist das „Buch der unverfälschten Spiritualität“ (E. Lévinas),51 das ein geringes Maß an Zeitgebundenheit mit einem Höchstmaß an Situations- und Existenzgebundenheit verbindet. Seine Sprache ist wahrhaftig, weil sie die dunklen Seiten Gottes und die Abgründe der menschlichen Existenz nicht beschönigt, sondern ungeschminkt und zuweilen schroff zum Ausdruck bringt (Realitätsgehalt); der Psalter ist poetisch, weil er in Bildern denkt und damit das Feste und Abgeschlossene aufbricht, um befreiende Gottes- und Selbsterfahrungen zu ermöglichen (Bildsprache); und er ist meditativ, weil er durch die Vieldimensionalität des Sinns, die durch die Überlagerung der Bilder und Motive zustande kommt, Sprach- und Lebensräume eröffnet, in denen sich das Verstehen hin und her bewegen kann (Stereometrie). Die Spiritualität des Psalters wirkt über die Zeiten und hilft in Worte zu fassen, was und wenn es dem Menschen die Sprache verschlägt. Theologie und Kirche sollten dieses Potenzial, das „viel beunruhigender, viel ungetrösteter, viel weniger harmonisch“52 ist als die übliche Alltags- und Sonntagssprache, ausschöpfen und nicht brachliegen lassen.
Literatur Quellen Bonhoeffer, Dietrich, Gemeinsames Leben, in: ders., Gemeinsames Leben. Das Gebetbuch der Bibel, DBW 5, München 1987, 13–102. Luther, Martin, Zweite Vorrede auf den Psalter (1528), in: Bornkamm, Heinrich (Hg.), Luthers Vorreden zur Bibel, Frankfurt a.M. 64–69.
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51 Lévinas, Saiten und Holz, 178. 52 Metz, Gotteskrise, 79.
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Der Psalter und die christliche Spiritualität
Abbildungsnachweise 1 Keel, Bildsymbolik, 62 Abb. 80. 2 B. Janowski.
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Spiritualität im Blick der rechtfertigenden Gnade
1.
Einleitung: Spiritualität – ein Suchbegriff
Spiritualität ist ein Suchbegriff, er umschreibt die Suche nach dem Weg zu gelingendem Leben, reifer Persönlichkeit, erfolgreicher Lebensgestaltung. Alles muss gelingen: Karriere und Berufsweg, das ganze Leben und vor allem die Entfaltung des Selbst, die Selbstverwirklichung. Spiritualität soll der Garant dafür sein. Der alte, viele meinen: veraltete, Begriff Frömmigkeit klingt demgegenüber viel bescheidener, richtet er sich doch nur auf das Verhältnis des Einzelnen zu seinem Gott, d. h. also die individuelle Lebensführung und das, was herkömmlich als Heil bezeichnet wird, die heile Gottesbeziehung. Frömmigkeit ist ein relationaler Begriff, säkulare Spiritualität sucht die Fülle im eigenen Selbst. Nach Charles Taylor hat der Wechsel des gesamten Deuterahmens, in dem Welt und Leben verstanden werden, dieses neue Verständnis von Religion und Spiritualität verursacht.1 „Fülle“ könne man heute auch in der Immanenz erleben, in einem Naturerlebnis oder in Momenten der Selbstfindung oder Selbsterfahrung. Das Selbst, das in sich gegen die Außenwelt „abgepuffert“ sei, könne selbst zur Fülle werden. Anders als im Gebet, bei dem die Erfahrung der Fülle aus der Beziehung zu einem Gegenüber folgt, kann die Fülle des Selbst gerade in der Eingrenzung auf sich selbst erlebt werden, ganz analog dem von Luther beschriebenen – freilich von ihm als Sünde negativ beurteilten – Phänomen der incurvatio in se ipsum. Kennzeichen säkularer Religiosität ist allein die Authentizität. Die Quellen zeitgenössischer Spiritualität entspringen nicht allein in der christlichen Tradition, vielmehr umfasst Spiritualität eine Suche in vielen Traditionen christlicher und außerchristlicher Religionen, säkularer Bewegungen und Lebensvorstellungen. Um das Leben zum Gelingen zu bringen, müssen alle erreichbaren Traditionen zurate gezogen werden. Faszination üben heute ins-
1 Taylor, Ein säkulares Zeitalter, 34.
Spiritualität im Blick der rechtfertigenden Gnade
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besondere auch östliche Denkweisen aus. Die Frage ist umfassend: Wie muss ein Mensch sein und leben, damit sein Leben gelingt? Die Antwort auf diese Frage sucht sich ein jeder selbst aus einem großen Repertoire von weltanschaulichen Anregungen und Traditionen. Viele Praktiken und Übungen werden angeboten und erprobt. Man komponiert aus besonders ausgewählten Bruchstücken auf dem Markt der vielfältigen religiösen Möglichkeiten eine Bastelreligion, die für das „eigene Leben“ passt. Nach Charles Taylor ist die Beliebigkeit der Wahl von Religion Kennzeichen zeitgenössischer Säkularität.2 Religion und Glaube seien zu einer Option neben anderen geworden, auch die Spiritualität gehört dazu. Man kann sie wählen und ausüben oder auch nicht. Man sucht sich selbst die religiösen Angebote und spirituellen Übungen aus. Spiritualität wird zum mehr oder weniger beliebigen Lebensexperiment. Da die Menschen im nordeuropäischen und nordamerikanischen Raum aufgebrochen sind aus überkommenen Traditionen – oft musste man gar nicht mehr aufbrechen, die Traditionen sind vorher weggebrochen, selbstverständliche Vorgegebenheiten sind verschwunden – richten sich die Fragen dort gar nicht mehr allein auf einen bestimmten Glauben und eine bestimmte Spiritualität. Die Suche ist weitschweifender und diffuser geworden: Spiritualität ist alles und nichts. Was schon für die Spiritualität von Glaubenden gelten soll, gilt erst recht für nichtchristliche Spiritualitäten. „Es gibt so viele Spiritualitäten, das heißt, Lebensführungen aus dem Glauben, wie es gläubige Christen gibt“ stellt Josef Sudbrack fest.3 Ganz allgemein, auch unabhängig vom christlichen Glauben, wird Spiritualität zur Beschäftigung mit Sinn- und Wertfragen des Daseins, die nicht mehr eingrenzbar und präzise bestimmbar ist. Leitend bleibt nur das Zauberwort Authentizität. Spiritualität, Selbstsuche und Selbstverwirklichung sind unbegrenzt, aber sie haben ein Ziel, sie sollen ein echtes, authentisches Selbst hervorbringen. Weil Spiritualität heute ein so diffuser Suchbegriff ist, ist er möglicherweise ein guter Vermittlungsbegriff, um die Orientierungs- und Befreiungskraft des christlichen Glaubens zur Sprache zu bringen. Ist doch die Frage nach dem Selbst, nach den inneren, verborgenen Regungen des Herzens auch eine die biblischen Beter zutiefst bewegende Frage, wenn sie etwa bitten: „Erforsche mich, Gott, und erkenne mein Herz; prüfe mich und erkenne, wie ich’s meine“ (Ps 139,23). Der Beter gibt die Frage nach sich selbst ab. Seine spirituelle Suche führt nicht ins Grenzenlose, Unbestimmte, sondern zu einem Gegenüber. Auch Dietrich Bonhoeffers Bekenntnis in dem Gedicht „Wer bin ich?“4 verfolgt die Frage nach dem wahren, authentischen Selbst und verweist sie schließlich an ein Gegenüber: „Wer 2 Taylor, Ein säkulares Zeitalter, 15. 3 Sudbrack, Gottes Geist ist konkret, 81. 4 Bonhoeffer, Widerstand und Ergebung, 513f.
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Gunda Schneider-Flume
ich auch bin, Du kennst mich, Dein bin ich, o Gott!“. Bonhoeffer lässt die Frage nicht im Unbestimmten, sondern gibt ihr einen Ort und redet ein Du an, das antworten kann. Darin liegt die Differenz zu der meist unbestimmten spirituellen Suche heute. In dieser gibt es oft kein Gegenüber. Die Frage: Wer bin ich? schwingt ins Unbestimmte oder zurück in das Selbst, das sich sucht. Wenn die Suche erfolglos bleibt, gerät das Selbst unter Druck: Was mache ich aus mir selbst, heißt dann die Frage, auf die eine Antwort gesucht wird auf dem Wege zur Spiritualität. Der Wechsel von der Frage: Wer bin ich? zu der Frage: Was mache ich aus mir? bestimmt die zeitgenössischen spirituellen Angebote. Ein Gegenüber muss man in diesen zielgerichteten Frageprozess erst einspielen. Ganz allgemein definiert Corinna Dahlgrün: „Unter Spiritualität wird stets etwas verstanden, das mit einem über- oder transrationalen Betrachten und Gestalten des Lebens zu tun hat, der Begriff steht für eine Haltung, für ein Tun, für einen Lebensstil, die aus einer bestimmten, die Welt übersteigenden Sicht der Welt resultieren, aus einer Orientierung an dem ‚Einen‘ oder an einem ‚Letzten‘, wobei nicht von vornherein ausgemacht ist, um was es sich dabei handelt“.5
Danach ist Unbestimmtheit ein Kennzeichen der Spiritualität. Dahlgrün gibt auch eine kürzere Definition christlicher Spiritualität: „Spiritualität ist die von Gott auf dieser Welt hervorgerufene liebende Beziehung des Menschen zu Gott und Welt, in der der Mensch immer von neuem sein Leben gestaltet […]“.6 Auch diese Bestimmung ist noch sehr unkonkret. Im Folgenden soll der Versuch unternommen werden, das Phänomen Spiritualität zu präzisieren und zu orientieren durch die Tradition des biblischen Glaubens an die Gerechtigkeit Gottes, die Menschen allein aus Gnade zurechtbringt. Nicht aus einem allgemeinen Spiritualitätsverständnis, sondern aus der konkreten Geschichte Gottes erschließt sich christliche Spiritualität. Möglicherweise kann gerade an dem ganz und gar im Unbestimmten verschwebenden Begriff Spiritualität die konkrete Gestalt des christlichen Glaubens plausibel entfaltet und so auch christliche Spiritualität gestaltet werden. Hilfreich ist es dabei, zu bedenken, dass die Ausweitung der Spiritualität auf die Beziehungen des Selbst im ganzen Leben und nicht nur zu Sonderzeiten in einem Extra-Bezirk für den christlichen Glauben bedeutsam ist. Der Apostel Paulus fordert: „Seid allezeit fröhlich, betet ohne Unterlass, seid dankbar in allen Dingen“ (1Thess 5,16). Das ist keine Ermahnung zu gebetsmühlenartigem Verhalten, vielmehr erinnert es daran, dass christliche Spiritualität sich im Alltag ereignet.
5 Dahlgrün, Christliche Spiritualität, 119f. 6 A. a. O., 153.
Spiritualität im Blick der rechtfertigenden Gnade
2.
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Zuvor der Mensch
Vor der Selbstverwirklichung steht das Mensch-Sein. Die spirituelle Selbstsuche ist sekundär. Vor der Frage, wer man sei und was man aus sich mache, wie man sich verwirkliche, steht schon die Antwort: Ein jeder Mensch ist vor allem Machen und Leisten schon Mensch, erwählt und gewollt, getragen von einer Geschichte, in der er sich geschenkt ist, zurechtgebracht vor aller eigenen Anstrengung. Jedes Kind ist schon Mensch, ebenso wie jeder Säugling; der Pädagoge Janusz Korczak hat das stets betont.7 Wir machen ein Kind nicht erst zu einem Menschen, es ist zuvor schon Mensch. Ein Kind wächst und es entwickelt sich, aber es ist schon Mensch; jede Greisin ist Mensch, auch wenn sie kaum mehr zu Leistung fähig ist, ein Mensch, sich geschenkt, ebenso wie jeder leistungsstarke Mann. Schon zuvor Mensch, das ist die primäre menschliche Passivität. Aber man lässt sich nicht gerne etwas schenken, lieber ist man Akteur, man macht selbst. Die Dimension der Gegebenheit des Lebens, das Geschenk-Sein, droht verloren zu gehen.8 Das Bestreben, Leben zu optimieren durch Klonen oder genetische Zurichtung von Designer-Kindern lässt die Einsicht für Leben als Gabe verloren gehen. Anstelle des Geschenkes steht die Produktivität, das Machen. In der Aktivität verwirklicht sich vermeintlich das menschliche Selbst, nicht im passiven Empfangen. Übergangen wird dabei, dass erst die Fähigkeit, Leben anzunehmen, der Spiritualität und der Selbstverwirklichung ein menschliches Maß verleiht.
3.
In Geschichten verstrickt
Geschenktes Leben ist Leben mit anderen. Der Mensch ist kein Solitär, kein einsamer Einzelner. Die Geschichte, die einen Menschen trägt, trägt alle Menschen, das bestimmt auch die Gestaltung des Lebens. Insofern ist Spiritualität gemeinschaftlich ausgerichtet, die vermeintlich vorbildliche Gestaltung des Lebens Einzelner lediglich als Selbstdarstellung und Selbstverwirklichung ist eine defizitäre Bestimmung der Spiritualität. Menschen sind von Anfang an dazu bestimmt, in Sozialität, füreinander verantwortlich vor einem Gegenüber zu leben. Die klassische biblische Frage nach dem Menschen fragt nach einer Geschichte: „Was ist der Mensch, dass du seiner gedenkst?“ (Ps 8,5). Die Frage nach dem Menschen richtet sich auf ein Beziehungsgeschehen. Offensichtlich soll das Geschehen des Gedenkens Gottes Auskunft geben über den Menschen. Die 7 Korczak, Frühe Texte über Kinder und Erziehung, SW 9, 50. 8 Sandel, Plädoyer gegen die Perfektion, 48.
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Geschichte steht gegen das Bild. „Du hast ihn wenig niedriger gemacht als Gott, mit Ehre und Herrlichkeit hast du ihn gekrönt“ (Ps 8,6). Das ist die Beschreibung des Anfangs einer großartigen und zugleich verhängnisvollen Geschichte, in der das Gedenken Gottes Menschen immer wieder neu in Bewegung gebracht hat. Die Externität eines schöpferischen Wirkens hat von Anfang an die Geschichte Mensch bestimmt und immer wieder unterbrochen, was Menschen als Bild fixiert haben. Das Verständnis der Geschichte Mensch in den biblischen Büchern entspricht der philosophisch-anthropologischen Erkenntnis, die der Philosoph Wilhelm Schapp im 20. Jahrhundert formuliert hat, dass Menschen „in Geschichten verstrickt“ seien.9 Die Geschichte und den darin verstrickten Menschen kann man gar nicht trennen. Der Mensch hat nicht nur eine Geschichte, er ist Geschichte. Wenn man wissen will, wer ein Mensch ist, dann muss man seine Geschichte erzählen. Die Geschichte im Sinne des erzählten und erzählbaren Geschehenszusammenhanges ist vor dem Subjekt und vor der Identität und der Persönlichkeit, die ein Mensch mit Engagement und eigenen Lebensentscheidungen ergreift und verwirklicht. Menschen sind verstrickt in Geschichten, mit Menschen verbunden, nicht ein für alle Mal festgestellt, sondern in Bewegung. Sie sind auch verstrickt in Gottes Geschichte, oder anders gesagt: Menschen sind verstrickt in Geschichten, in die Gottes Geschichte hineinspielt. Der Mensch hat nicht nur, er ist eine Geschichte, die verwickelt ist in Gottes Geschichte. Genau gesagt muss im Blick auf den Menschen von einer zwiefachen Geschichte gesprochen werden: von der Geschichte, in der ein jeder Mensch von Gott gewirkt zur Person gemacht wird, in dieser Geschichte ist er rein passiv, er wird zur menschlichen Person gemacht; und von der Geschichte, die er selbst aktiv als Persönlichkeit gestaltet.10 In dieser zwiefachen Geschichte suchen Menschen ihren spirituellen Weg. Wie aber spielt Gottes Geschichte in die menschlichen Lebensgeschichten hinein?
9 Schapp, In Geschichten Verstrickt. 10 Von der zwiefachen Geschichte sprechen Ingolf U. Dalferth und Eberhard Jüngel in dem Aufsatz „Person und Gottebenbildlichkeit als Grundkategorien christlicher Anthropologie, in: Christlicher Glaube in moderner Gesellschaft, Bd. 24, 1981, 58–99, 69.
Spiritualität im Blick der rechtfertigenden Gnade
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Gottes Geschichte: Barmherzigkeit – die Gabe von Raum und Zeit
Im Zentrum der in der biblischen Tradition überlieferten Geschichte Gottes steht die Bewegung der Barmherzigkeit Gottes. Das ist keine milde Gefühligkeit, eine alte Geschichte erzählt evident ganz anders von Barmherzigkeit als Lebensgrundlage: Vor dem weisen König Salomo stritten zwei Frauen um ein Kind. Jede der beiden Frauen beansprucht dasselbe Kind als ihr eigenes. Der König befiehlt, ein Schwert zu holen, um das lebendige Kind in zwei Teile zertrennen zu lassen. Da erbarmt sich die wahre Mutter des Kindes und verzichtet auf seinen Besitz, während die andere Frau nichts gegen die Zerteilung des Kindes einwendet. Von der wahren Mutter heißt es in Martin Luthers Übersetzung: „ihr mütterliches Herz entbrannte in Liebe für ihren Sohn“ (1Kön 3,26). Das mütterliche Herz, hebräisch rachamim, ist das Erbarmen. Barmherzigkeit ist die freiwillige Selbstzurücknahme, um Leben Raum und Zeit zu geben. Barmherzigkeit ist die Option für das Leben. Raum und Zeit als grundlegendes Lebensmittel, einem jeden geschenkt, das ist Barmherzigkeit. Gewiss ist auch das vielerorts und zu vielen Zeiten und an vielen Orten kontrafaktisch, aber gleichwohl kann nicht bestritten werden, dass das Vertrauen auf Barmherzigkeit Menschen trägt. Dieses Vertrauen kann Spiritualität orientieren. Da ist die Geschichte vom Samariter, der dem von den Räubern fast tot Geschlagenen Barmherzigkeit erweist, indem er ihn versorgt mit dem, was er zum Leben braucht (Lk 10), mit dem in der Not Notwendigen. Da ist die Geschichte von dem Sohn, der alles Hab und Gut und fast sein Leben verspielt hat und vom Vater angenommen wird, weil er ihn „jammert“, wie es heißt. Der Verlorene erfährt Erbarmen, der Vater schenkt ihm Raum und Zeit und bereitet ein Fest für den Wiedergefundenen (Lk 15). Es gibt in der biblischen Tradition die sogenannte Gnadenformel: Barmherzig und gnädig ist der Herr, geduldig und von großer Güte (Ps 103,8). Sie führt wie eine Spur durch die Jahrhunderte und Traditionen der biblischen Bücher des Alten Testaments und markiert in Umrissen die Gotteswirklichkeit, die sich unter Menschen ereignet. Hermann Spieckermann hat die Formel als Zentrum des Alten Testaments herausgestellt.11 Sie ist grundlegend auch für die neutestamentlichen Schriften. Ohne Geschichten von Barmherzigkeit können und müssen Menschen nicht leben, sie sind der Barmherzigkeit bedürftig. Die Bibel erzählt Geschichten von lebensschöpferischer Barmherzigkeit: Menschen erfahren Rettung, das Rufen
11 Spieckermann, „Barmherzig und gnädig ist der Herr…“.
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aus der Not und der Schrei aus der Bedrängnis werden in Jubel verwandelt, ein neues Lied wird leidenden Menschen in den Mund gelegt, und sie werden selbst wie neu geboren. Die Erfahrung von Rettung verweist auf die Macht der Barmherzigkeit, auf Gott. Gewiss sind das Geschichten, nur Geschichten, wie auch gesagt wird, kontrafaktisch zur alltäglichen Wirklichkeit, aber sie ereignen sich im Alltag und sind tragfähig, wahr. Wie spielen sie sich in Lebensgeschichten ein? Nicht anders als durch erzählende Worte, die Menschen verändern und Welten erneuern. Es sind Worte, die sich Menschen als Lebensweisung erschließen und Lebensvertrauen provozieren. Dieses Lebensvertrauen ist Glauben.
5.
Gerechtigkeit bringt Menschen zurecht
In der Geschichte Gottes ist Erbarmen der Lebensgrund, Gerechtigkeit die tägliche Lebenswirklichkeit. Gerechtigkeit ist der zentrale Aspekt schöpferischen Wirkens. Ohne dass einem jemand gerecht wird, kann man nicht leben. Gerechtigkeit umschreibt die heilen Lebensbeziehungen. Gottes Gerechtigkeit wirkt anders als menschliches juridisches Denken, Gottes Gerechtigkeit befreit, menschliche Gerechtigkeit berechnet und teilt einem jeden das Seine zu, so wie er es verdient hat. Gottes Gerechtigkeit folgt nicht dem Gesetz von Tun und Ergehen, sondern der Macht von Gnade und Barmherzigkeit. Martin Luther hat das schon bei der Auslegung des Schöpfungsglaubens im Kleinen Katechismus festgehalten. Der Geschenkcharakter des Lebens und seine Bewahrung überbieten das Gesetz von Tun und Ergehen, von Leistung und Lohn, denn Schöpfung und Bewahrung geschehen „aus lauter väterlicher, göttlicher Güte und Barmherzigkeit, ohn’ all mein Verdienst und Würdigkeit“.12 Menschen leben nicht in sich selbst und aus sich selbst, sondern in und aus den Beziehungsverhältnissen, die sie umfangen, und diese sind gratis. Dass diese Verhältnisse in der Gerechtigkeit Gottes gründen und deshalb heilsam sind, ist das Bekenntnis des Glaubens. Gerechtigkeit ist die schöpferische Kraft heiler Lebensverhältnisse, mit der Gott sich den Menschen zusagt. Gerechtigkeit und Leben entsprechen einander, deshalb ist dem Gerechten Leben verheißen (Ez 18,9). Aber die Gerechtigkeit wird im menschlichen Leben immer wieder zerstört, immer neu müssen die zerstörten Beziehungen geheilt werden, Gerechtigkeit wiederhergestellt werden. Ein alter geheimnisvoller Text im Buch des Propheten Jesaja berichtet davon. Er spricht von einem Gottesknecht, aber weit über den Hinweis auf einen Menschen hinaus deutet er auf die Geschichte Gottes und das 12 Luther, Auslegung des ersten Glaubensartikels.
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Wirken göttlicher Gerechtigkeit hin und lässt das Wesen des Menschen erkennen. Später ist dieser Text zum Deutehorizont und zum Verstehenshintergrund für Existenz, Kreuz und Auferstehung Jesu Christi geworden. So wurde er auch leitend für das Verständnis christlicher Spiritualität. Von einem Menschen ist die Rede, der „keine Gestalt und Hoheit [hatte]. Wir sahen ihn, aber da war keine Gestalt, die uns gefallen hätte. Er war der Allerverachtetste und Unwerteste, voller Schmerzen und Krankheit. Er war so verachtet, dass man das Angesicht vor ihm verbarg; darum haben wir ihn für nichts geachtet. Fürwahr, er trug unsre Krankheit und lud auf sich unsre Schmerzen. Wir aber hielten ihn für den, der geplagt und von Gott geschlagen und gemartert wäre. Aber er ist um unsrer Missetat willen verwundet und um unsrer Sünde willen zerschlagen. Die Strafe liegt auf ihm, auf dass wir Frieden hätten, und durch seine Wunden sind wir geheilt. Wir gingen alle in die Irre wie Schafe, ein jeder sah auf seinen Weg. Aber der Herr warf unser aller Sünde auf ihn […]. Und durch seine Erkenntnis wird er, mein Knecht, der Gerechte, den Vielen Gerechtigkeit schaffen; denn er trägt ihre Sünden“ (Jes 53,2–6.11).
Eine befremdliche, anstößige Geschichte. Sie lässt sich nicht mehr vollständig aufklären und verstehen. Das Verständnis der biblischen Begriffe ist verloren gegangen und muss neu gewonnen werden: Gerechtigkeit und Sünde, der Gerechte, der Sünden trägt, unsere Sünden, das sind die Worte im Zentrum dieser unglaublichen Geschichte. Wir kennen Elend, wir kennen Vergehen, aber dass jemand eintritt für die, die sich vergangen haben, das ist zu viel. Hingabe, Opfer und Stellvertretung gelten heute vielen Menschen als mit der zeitgenössischen Persönlichkeitsvorstellung nicht mehr vereinbar. All das wird vom leidenden Gottesknecht angedeutet, und mit diesen Vorstellungen haben die ersten Christen Leben, Tod und Auferstehung Jesu Christi als Heilsereignis zu verstehen versucht. Welche Bedeutung hat das für alle Menschen? Kann man sich das gefallen lassen, ist das eine Möglichkeit für reife Menschen? Was für ein Mensch wird vom Propheten dargestellt! Abscheu und Widerwillen ruft ein solcher Mensch hervor, ohne Gestalt und Hoheit, verachtet, unwert, der Allerverachtetste und Unwerteste. So jemanden will man nicht ansehen, man wendet sich ab. So wie damals und heute der Anblick des Gekreuzigten von vielen verabscheut wurde und verabscheut wird. Ein Mensch ohne Ansehen ist Menschen nicht zumutbar. Aber auf alle Verachteten strahlt Gerechtigkeit, heile Lebensbeziehungen leuchten für neues Leben. Er, der Gerechte, ist an den Ort der Sünde gegangen, dahin, wo durch Lebensfeindschaft, Lieblosigkeit und Gottlosigkeit alle Lebensbeziehungen zerstört sind. So werden Menschen zurechtgebracht. Das ist Rechtfertigung. Luther spricht von einem „fröhlichen Wechsel“: Jemand hat seine Chancen, sein Leben verwirkt, alle Beziehungen zerstört, aber er erfährt Zuspruch, jemand
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geht neben ihm, mit ihm, trägt seine Last und seine Schuld, der Schuldige wird frei. Der Zuspruch dieses fröhlichen Wechsels begründet christliche Spiritualität und bestärkt Glaubende immer wieder. Die Bewegung der Geschichte Gottes führt in die Tiefe: Hingabe, Opfer, Stellvertretung, Tod, Grab, aber dann: Licht, Fülle, Gerechtigkeit für die Vielen. Schon im Zusammenhang mit dem schöpferischen Handeln Gottes wurde deutlich, dass Gottes Gerechtigkeit nicht eine Eigenschaft Gottes, sondern sein Wirken ist, das nicht auf die juridischen Vorstellungen von Menschen beschränkt werden darf. In der biblischen Tradition beschreibt Gerechtigkeit einen das ganze Leben umfassenden Heilsraum. Wo Gerechtigkeit herrscht, ist alles durch heile Beziehungen zurechtgebracht, Menschen, Tiere, die Natur, das gesamte kreatürliche Leben ist in heilen Verhältnissen. Luther hat das einmal mit dem Paradies verglichen. Er hatte zuvor unter dem Zwang einer ausschließlich nach Verdienst und Leistung rechnenden Gerechtigkeit gelitten und Angst ausgestanden wegen des Forderungscharakters, der das Leben und die Beziehung zu Gott beherrschte. Sein Gewissen quälte ihn, weil er, wie er meinte, die geforderte vollkommene, reine Liebe zu Gott nicht aufbringen konnte. Er konnte die Leistung nicht erbringen, durch die er sich vermeintlich vor Gott hätte rechtfertigen können. Heute ist uns diese Vorstellung fremd geworden. Gegenwärtig geblieben aber ist die Forderung, dass wir uns für unser Tun und sogar für unser Dasein rechtfertigen müssen: Warum tust du das? Warum bist du so, wie du bist? Warum gibt es dich überhaupt? Was ist deine Existenzberechtigung? Das sind harte Forderungen. Der Philosoph Odo Marquard hat so gefragt.13 Das ganze Leben kann unter den Zwang geraten, sich rechtfertigen zu müssen, für das, was man tut, und das, was man ist. Bei der intensiven Beschäftigung mit der Bibelauslegung ging Luther ein neues Verständnis von Gerechtigkeit auf. In einem autobiografischen Rückblick hat Luther beschrieben, wie sich ihm der Satz: „Der Gerechte wird aus Glauben leben“ (Hab 2,4; Röm 1,17) neu erschloss: „Ich fing an zu begreifen, daß dies der Sinn sei: durch das Evangelium wird die Gerechtigkeit Gottes offenbart, nämlich die passive, durch welche uns der barmherzige Gott durch den Glauben rechtfertigt, wie geschrieben steht: ‚Der Gerechte lebt aus dem Glauben.‘ Da fühlte ich mich wie ganz und gar neu geboren, und durch offene Tore trat ich in das Paradies selbst ein“ (WA 54, 186).14
Eine neue Lebenserfahrung spielte sich Luther zu: Gerechtigkeit vor Gott schafft sich ein Mensch nicht selbst, sie ist, wie Luther sagt „passiv“, wie der Glaube, der zum Menschen kommt. Menschen können sich vor Gott nicht selbst rechtferti13 Marquard, Der angeklagte und der entlastete Mensch. 14 Luther, Vorrede zum 1. Bande der Gesamtausgabe der lateinischen Schriften (1545), 186; deutsche Übersetzung nach LD 2, 19f.
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gen und sie müssen es nicht, sie werden gerechtfertigt. Für seine Existenz muss sich niemand rechtfertigen, sie ist geschenkt. Weil jemand eintritt für einen jeden Menschen, erschließt sich eine neue Dimension des Lebens: Leben dürfen ohne Zwang und Muss. Daraus entspringt das ursprüngliche Lebensvertrauen, das man Glauben nennen kann. Diese Erfahrung wurde von Martin Luther in die kurze Formel gefasst, „daß der Mensch durch Glauben gerechtfertigt werde“ (These 32 der Disputatio de homine [1536], WA 39 I, 176). Im vierten Artikel des Augsburger Bekenntnisses wurde das noch einmal dogmatisch formuliert: „dass wir Vergebung der Sünde bekommen und vor Gott gerecht werden aus Gnade um Christi willen durch den Glauben“ (Confessio Augustana, Artikel IV). Als dogmatischer Satz unabhängig von der Geschichte Gottes und der Lebenserfahrung ist die Rechtfertigung unverständlich geworden, zumal eine lange kirchentrennende Geschichte auf dem Verständnis der Rechtfertigung lastet. Um das Verständnis der Rechtfertigung muss gerungen werden, denn die Rechtfertigung aus Gnade um Christi willen durch den Glauben ist Grundlegung und Inhalt christlicher Spiritualität. Im Kontext der Geschichte Gottes erschließt die Rechtfertigung aus Gnade um Christi willen durch den Glauben schöpferische Lebensperspektiven: Gottes zurechtbringende Gerechtigkeit ist der wohlwollende Blick des Anfangs, aufgrund dessen Menschen sich aufrichten und leben können. Menschen leben nicht in sich selbst und aus sich selbst, sondern in und aus den Beziehungsverhältnissen, die sie umfangen. Dass diese Verhältnisse in der Gerechtigkeit Gottes gründen und deshalb heilsam sind, ist das Bekenntnis des Glaubens. Gottes wohlwollender Blick, seine Gnade reicht auch dahin, wo Menschen allein mit sich nicht mehr zurechtkommen. Mit Gottes zurechtbringender Gerechtigkeit im Rücken können Menschen einander gerecht werden. Das geschieht überall, wo sie aufmerksam und fürsorglich aneinander festhalten, wo Beziehungen halten in guten wie in schlechten Tagen, wo man nicht zerstreut oder beschämt wegzuschauen beginnt, weil es sich nach menschlichem Ermessen vermeintlich nicht mehr lohnt. Wo Menschen liebevoll aneinander festhalten, da ist Gottes zurechtbringende Gerechtigkeit im Spiel, und mitunter fällt auf diese Beziehung ein paradiesischer Glanz. Als der alte Arzt und Pädagoge Janusz Korczak (1878–1942) im August 1942 mit den Kindern des jüdischen Waisenhauses in Warschau auf dem Bahnhof war zum Abtransport – die Kinder waren schon in die Waggons gepfercht –, da wurde er von dem deutschen Platzkommandanten, der Korczaks Kinderbücher kannte, herausgerufen, und es wurde ihm angeboten: „Sie können hierbleiben“. Korczak ging zurück zu den Kindern in den dunklen Waggon. So wurde er ihnen gerecht. In diesem Festhalten an den Kindern wirkt die zurechtbringende Gerechtigkeit, die liebevoll an Menschen festhält und die eines Tages alle Dunkelheit überwinden wird.
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Leben im Heilsraum der Rechtfertigung: Sola gratia
Martin Luther beantwortet die Frage danach, wie Menschen unter dem Zuspruch der Rechtfertigung leben, für seine Zeit mit der Auslegung des Magnificat. Am Begriff Gnade werden Wesen und Wirken Gottes als Geschichte, in der Menschen leben können, entfaltet.15 Luthers Auslegung kann auch im 21. Jahrhundert Anleitung zu christlicher Spiritualität sein. Christliche Spiritualität verdankt sich nicht den Bemühungen der Gläubigen, sondern der Wirkung der Geschichte Gottes, auf die Gläubige antworten. Diese Geschichte, dieses Wort gilt jedem Menschen. Deshalb ist die Wortmeditation für die christliche Spiritualität von besonderer Bedeutung. Man kann das erkennen an der Auslegung des Magnificat. Luther folgt Vers für Vers dem biblischen Text, Lk 1,46–55, nachdem er zu Beginn seine hermeneutischen und theologischen Grundannahmen formuliert hat, dass nämlich Gott allein durch den Geist, d. h. also durch Gott selbst erkannt und verstanden werde und dass Gott sich durch eine Geschichte erschließe, die durch die Bewegung in die Tiefe gekennzeichnet ist. Gotteserkenntnis ist ein Geschehen aus Gott selbst, Kennzeichen dafür sind aber nicht Extravaganz und selige Höhen, so wie etwa Friedrich Hölderlin sie in Hyperions Schicksalslied beschrieben hat: „Ihr wandelt droben im Licht, […] selige Genien“,16 sondern die Bewegung in die Tiefe. Durch seine Geschichte redet Gott Menschen an, auch und gerade, wenn sie sich in aussichtsloser Tiefe befinden. Das provoziert Erfahrungen, die Gottesund Menschenwirklichkeit neu erfahren lassen. Maria wurde vom heiligen Geist gelehrt, „dass Gott ein solcher Herr sei, der nichts anderes zu schaffen habe, denn nur erhöhen, was niedrig ist, erniedrigen, was da hoch ist […]“. Im Blick auf Gottes Werke heißt es, „dass er aus dem, was nichts, gering, verachtet, elend, tot ist, etwas Köstliches, Ehrliches, Seliges und Lebendiges macht“ (119). Die Bestimmung des schöpferischen Wirkens Gottes leitet Luther ab von der Vorstellung des traditionellen philosophischen Gottesbegriffes. Gott ist das Höchste – summum esse. Aber diese Erinnerung an die Tradition des philosophischen Deuterahmens wird sogleich biblisch korrigiert: Gott, der der Allerhöchste ist, sieht herunter auf die Niedrigen. „Denn weil er der Allerhöchste und nichts über ihm ist, kann er nicht über sich sehen, kann auch nicht neben sich sehen. Weil ihm niemand gleich ist, muß er notwendig in
15 Luther, Das Magnificat verdeutscht und ausgelegt 1521, WA 7, 544–604. Zitiert wird hier nach der Textfassung von Leppin, Eberhard, in: Martin Luther, Ausgewählte Schriften, hg. von Karin Bornkamm und Gerhard Ebeling, Bd. 2, Frankfurt am Main 1982, S. 114–196. Die Seitenangaben im Text beziehen sich auf diese Ausgabe. 16 Hölderlin, An die Parzen, 197.
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sich selbst und unter sich sehen. Und je tiefer jemand unter ihm ist, je besser er ihn sieht“ (120).
Der Bewegung der Geschichte Gottes und der Richtung des Sehens Gottes in die Tiefe wird gegenübergestellt die Bewegung des menschlichen Schauens. Menschen blicken in die Höhe. Wo Ehre, Reichtum und Erfolg den Blick ausschließlich nach oben locken, da herrschen Leistungs- und Erfolgsdruck, die Tyrannei des gelingenden Lebens, und alles Niedrige hat schweren Stand. Luther bezieht seine Erkenntnis auf die Mitte der Geschichte Gottes in Jesus Christus. „Und vor allem an ihm (sc. Jesus Christus) hat er erzeigt sein Sehen, Werk, Hilfe, Art, Rat und Willen, wohin das alles gerichtet sei“ (121). Christus als Mitte der Geschichte Gottes und als Mitte der Schrift leitet die Auslegung, orientiert die Glaubenserfahrung und lässt die Bewegung der Gnade erkennen. Der Bewegung Gottes in die Tiefe des Kreuzesgeschehens entspricht die Erhöhung aus dem Tod ins Leben. Auf die Frage, wo von Gottes Gnade zu reden und wo sie zu erfahren sei, kann hier schon geantwortet werden: Gottes Gnade ist in der Tiefe, da, wo alles gegen Gottes Gegenwart spricht, da, wo sich nach der letzten Chance die neue Möglichkeit, die Möglichkeit Gottes erschließt. Maria wird ergriffen von der Bewegung der Gnade Gottes. Sie erfährt den Blick Gottes, erhebt Gott im Lob und wird selbst erhoben. Den Vers „Meine Seele erhebt Gott, den Herrn“ legt Luther aus: „Es schwebt mein Leben und all mein Sinn in Gottes Liebe, Lob und hoher Freude, so daß ich, meiner selbst nicht mächtig, mehr erhoben werde, als daß ich mich selbst erhebe zu Gottes Lob“ (123). Die Passivität der Glaubenserfahrung prägt die christliche Spiritualität. Die Passivität des Glaubens wendet sich dann zu höchster Aktivität, die sich im Loben oder im Klagen äußert und Lebenssteigerung wirkt. Die das Leben steigernde Wirkung von Freude und Lob ist eine Gabe Gottes, über menschliche Fähigkeit hinaus, auch da, wo Gott selbst nicht genannt wird. Spiritualität wirkt Lebensintensivierung als Antwort auf Gottes Wirken. Die Verschränkung von primärer Passivität und folgender Aktivität ist Kennzeichen christlicher Spiritualität. Dem Glauben entspricht die Gnade. Was aber ist Gnade? Luther beantwortet diese Frage, ganz im Bild bleibend, mit dem Wort Ansehen. Maria ist zu Ehren gekommen, „weil Gott sie so übergnädig hat angesehen“ (139). In der Lebenswirklichkeit wird Gnade erfahren, in der Alltagswirklichkeit: Ein Mensch erfährt, dass er angesehen wird. Er wird nicht durch Übersehen zu nichts gemacht, sondern durch Ansehen hoch geschätzt. Von Gott reden mit Hilfe des Begriffes Gnade heißt nicht: Gott plausibel machen. Gott ist nicht plausibel und Gnade auch nicht. Aber erzählen kann man vom Schutzraum eines Blickes, in dem ein Mensch sich überraschend aufrichten kann. Gottes Gnade schafft diesen Raum. Da, wo ein Mensch wie ein Nichts ist, schafft ein gnädiger Blick Raum für einen aufrechten Menschen. So wirkt Gnade rettend wie ein Wunder.
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Mit der Metapher des Ansehens umschreibt Luther das Heilsgeschehen der Rechtfertigung. Maria bezeichnet das Ansehen als das erste Werk: „Das ist auch das größte, in dem die anderen alle hängen und aus dem alle fließen. Denn wenn es dahin kommt, daß Gott sein Angesicht zu jemandem wendet, ihn anzusehen, da ist eitel Gnade und Seligkeit. Da müssen alle Gaben und Werke folgen“ (147f).
Vom Denkrahmen des philosophischen Gottesbegriffes – Gott ist das Höchste – war Luther ausgegangen. Durch die Bewegung in die Tiefe, zum Leiden und Sterben Jesu Christi hin, war der Denkrahmen der metaphysischen Tradition konkret gefüllt worden. Die Metapher des Blickes, des zugewandten Angesichts erzählt die Gegenwart Gottes als neue Heilswirklichkeit. Im Text des Magnificat folgt auf die Auslegung des ersten Werkes, des Ansehens bzw. der Rechtfertigung, die Auslegung der übrigen „Werke“. „Hier singt sie auf einen Haufen alle Werke, die ihr Gott getan hat, und hält eine gute Ordnung […]. In den Gütern gibt er das Seine, im Ansehen und der Gnade gibt er sich selbst. In den Gütern empfängt man seine Hand, aber im gnädigen Ansehen empfängt man sein Herz, seinen Geist, seinen Mut und Willen“ (152).
Mit der Metapher des Blickes, des zugewandten Angesichts wird die Partizipation an Gott selbst erzählt. Der Name Gottes steht dafür, ja er wirbt dafür, dass ein jeder Mensch angesehen wird, dass einem jeden Menschen ein zugewandtes Angesicht gilt. Das gnädige Ansehen, die Zuwendung des Blickes ist Heil schlechthin, das Leben zurechtbringt. Luther lässt dieses erste Werk Gottes vor allen anderen Werken, d. h. vor allen anderen Gaben im Leben gelten. Es ist die Gottesgabe im Leben. Damit ist die deutliche Unterscheidung von Gnade als dem Heil Gottes, der Beziehung zu Gott selbst und dem menschlichen Wohlergehen durch die Gaben im Leben benannt. Die geschenkte Teilhabe an Gott ist Lebenssteigerung über alle Güter hinaus und unabhängig von ihnen. Die Differenz zwischen der Erfahrung von Gnade und der Option eines säkularen Lebensverständnisses ebenso wie allgemeiner Spiritualität ist deutlich erkennbar, wenn man auf Charles Taylors Begriff der Fülle schaut. Erfahrung von Gnade erwächst bei Luther aus dem Ansehen, ein Mensch wird angeblickt, ihm wird eine Geschichte zugespielt, an der er teilhat. Die Teilhabe an der Geschichte versetzt in eine neue Wirklichkeit, mit Erich Fromm zu sprechen, in neues Sein; nicht das Haben, die Fülle in sich selbst, ist entscheidend. Stehen diese beiden „Optionen“ wahlweise vor einem Menschen? Kann man sich entscheiden entweder für die Geschichte der Gnade oder für die Einkehr bei sich selbst? Die freie Wahl steht einem Menschen beliebig zu Gebote, er kann sich Gott oder der Gnade zuwenden oder auch verschließen, behauptet der Humanist. Luther umschreibt des Erasmus von Rotterdam Freiheitsverständnis als „die
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Kraft des Willens, die von sich aus Wort und Werk Gottes wollen und nicht wollen kann“.17 Heil ist danach menschliche Option eines an sich selbst neutralen Urteilsvermögens. Analog versteht Charles Taylor Optionalität als Kennzeichen säkularer Religiosität. Nach Luthers theologischem Urteil ist die freie Wahl nicht gegeben. Das ist Thema der Auseinandersetzung mit Erasmus in „De servo arbitrio“. Die Gnade Gottes ist keine Option für den Menschen, sondern Geschenk, gratis. Im Zentrum des Streites zwischen Luther und Erasmus steht das Verständnis der Neutralität, das menschliche Vermögen, das Leben und insbesondere die Gottesbeziehung als beliebig zu wählen. Das verblüffend Moderne an der Auseinandersetzung ist Erasmus’ Verständnis von Neutralität. Diese entspricht dem Autonomiebedürfnis des zeitgenössischen Sinn- und Religionssuchers. Danach wähle ich mir eine Religion als Lebensweg, und wenn ich keine passende finde, bastle ich sie mir selbst. Demgegenüber ist Luthers theologische Anthropologie fast unverständlich geworden. Wenn es heißt: „Weiter ist das eine bloße dialektische Erfindung, es gebe im Menschen ein neutrales und schlichtes Wollen, und diejenigen, die das als Wahrheit behaupten, können es nicht beweisen […]. Es verhält sich aber vielmehr so, wie Christus sagt: ‚Wer nicht mit mir ist, ist gegen mich.‘ Er sagt nicht: ‚Wer nicht mit mir ist, ist auch nicht gegen mich‘, sondern neutral“.18
Gott ist keine Wahlgeschichte für einen unentschiedenen Menschen. Mag Spiritualität eine Option sein, Gnade oder die Geschichte Gottes sind es nicht. Mag man sich entsprechend den eigenen Autonomievorstellungen seine Religion basteln, der Glaube an den christlichen Gott und das Vertrauen auf die Gnade sind keine menschliche Schöpfung. Gottes Geschichte kann Menschen ergreifen und sich als Lebenswirklichkeit erschließen, und sie tut das, indem sie Menschen davon befreit, dass sie die Fülle allein in sich selbst suchen. Ist es aber heute noch vermittelbar, dass die Wahl nicht beim Menschen selbst, sondern außerhalb seiner liegt? Ist es verstehbar, dass der Mensch Gott gegenüber passiv ist, obwohl er doch so gerne die eigene Aktivität gerade in der spirituellen Praxis herausstellt?
17 Luther, De servo arbitrio, 351. 18 A. a. O., 365.
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Sola gratia in einer säkularen Welt
„Die stürmische Auseinandersetzung zwischen Glauben und Unglauben sowie zwischen verschiedenen Spielarten beider Positionen kann […] als eine Debatte gesehen werden, bei der es um die Frage geht: Worin besteht die wirkliche Fülle?“.19 Das Verständnis der Fülle unterscheidet die säkulare Welt von der Welt des Glaubens. Wenn die Fülle nach säkularem Verständnis im eigenen Selbst erfahren wird, ist ihr Erreichen an die Herstellung von Harmonie und Ausgleich im Inneren und das heißt zugleich an Leistung gebunden. Charles Taylor weist zu Recht darauf hin, dass das säkulare Verständnis von Fülle dem Persönlichkeitsideal der deutschen Romantik folgt. Die Herstellung der eigenen Ganzheit, die Verwirklichung von Authentizität und das Erreichen von Reife sind starke Herausforderungen für die Persönlichkeit im 19. ebenso wie im 20. und 21. Jahrhundert. Fülle muss geschaffen werden. Selbstverwirklichung wird zur letzten Frage stilisiert, Fragen der Lebensführung werden vergottet.20 Zeitgenössische Spiritualität steht unter Leistungsdruck. Leben wird zum Leben-Müssen. Ausgeblendet wird dabei in der Regel der Ausgang des Menschen aus primärer Passivität. Dass die Tatsache des Geboren-Werdens ebenso wie das Umfangensein von Geschichten, das „In-Geschichten-Verstrickt-Sein“, sich passivisch ereignen, wird rasch übergangen zugunsten der starken Persönlichkeit, die selbst ihre Entwicklung leistet und sich in ihrer Ganzheit herstellt. Ausgehend vom Persönlichkeitsideal des 19. Jahrhunderts, nach dem ein jeder, dem Ideal der deutschen Romantik folgend, die Ganzheit von Körper und Geist, Rationalität und Gefühl zu harmonischer Reife und Einheit bringen muss, hat im 20. Jahrhundert insbesondere die Identitätspsychologie dieses Ideal vertreten und weiter ausgeführt. Ebenso wie große Theologen an der Wende vom 19. zum 20. Jahrhundert, Ernst Troeltsch etwa und Adolf von Harnack, nimmt auch der Psychologe Erik H. Erikson für sein Ideal der Verwirklichung von Reife und Ganzheit den Glauben zu Hilfe.21 Der christliche Glaube erhält so die säkulare Funktion, Menschen bei der Entwicklung ihres Selbst, ihrer Reife und Authentizität zu unterstützen, sodass sie die Fülle im eigenen Selbst entdecken können. Diese Vorstellung ist populär geworden und hat allgemeine Geltung erlangt. Das verändert die Wertmaßstäbe, nach denen Leben beurteilt wird. Unter dem Leitgedanken des idealistischen Persönlichkeitsideals und der Autonomievorstellung der Aufklärung wird das Leben eines Menschen schon am Beginn des Lebens danach bewertet, ob er sich voraussichtlich zu einer autonomen geistigen 19 Taylor, Ein säkulares Zeitalter, 1000. 20 Beck/Beck-Gernsheim, Individualisierung in modernen Gesellschaften, 19. 21 Vgl. dazu Schneider-Flume, Leben ist kostbar.
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Persönlichkeit entwickeln kann. Ist das nicht der Fall, zeichnen sich mögliche Einschränkungen oder gar schwerwiegende Beschädigungen ab, wird ein Mensch rasch ausgesondert und nicht angenommen. Man distanziert sich von der Gegebenheit eines solchen Lebens und tut so, als könne man Leben wählen oder abwählen. Die primäre Passivität und die Gegebenheit des Lebens werden überspielt. Geltung hat nur, was sich selbst verwirklichen kann. Das gilt für alles Leben in der Leistungsgesellschaft. Deshalb gilt auch das populäre Urteil: Keinen Wert hat das, was umsonst ist; was nichts kostet, ist nichts wert. Die Dimension der „giftedness“, der Gegebenheit des Lebens geht verloren. Was kann auf diesem Hintergrund Gnade noch gelten? So wie menschliches Leben am Beginn nur als wertvoll erachtet wird, wenn eine Entwicklung der Persönlichkeit zu Reife und Ganzheit als möglich erscheint, ist auch am Lebensende Maßstab der Beurteilung oft die Fähigkeit zu autonomer Lebensführung. Reife, Ganzheit und Sinnproduktion sind die Leistungen, die bis zum Lebensende erbracht werden müssen, wenn das nicht mehr möglich ist, ist Leben zu verwerfen. Da, wo Menschen sich selbst leisten müssen, gibt es nichts umsonst. Im Deutehorizont der selbst geleisteten Fülle des Menschen im eigenen Selbst ist Gnade nicht denkbar. Der autonome, selbstschöpferische Mensch will für sich keine Gnade. Gnade ist unerwünscht, wo Leistung alles ist. Gegenüber der Leistung gilt die Gnade als billige Lösung, ohne Würde und Anerkennung. Gegenüber dem Ideal der Ganzheit und Reife von Identität und Persönlichkeit, hat der Theologe Henning Luther kritisch den Begriff des Fragments in die Debatte der theologischen Anthropologie gebracht.22 Menschen seien immer auch Ruinen ihrer Vergangenheit, jedes Stadium der Ich-Entwicklung stelle auch einen Bruch, einen Verlust dar. Menschen seien immer auch Ruinen der Zukunft, und die Ich-Entwicklung sei in jedem Stadium durch andere in Frage gestellt. Henning Luther kommt zu dem Schluss: „Ein Identitätskonzept, das die Entfaltung und Herausbildung einer vollständigen und dauerhaften Ich–Identität anstrebt und für erreichbar hält und das dementsprechend eine starke Ich–Identität für das Merkmal einer gesunden, reifen Persönlichkeit hält und fragmentarische Ich–Identitäten für pathologische Abweichungen, stellt seinerseits eine folgenschwere Verkürzung dar“.23
Diese Beurteilung der Identität und der Persönlichkeit muss auch auf die Vorstellung von allen Menschen übertragen werden, die die Fülle vollkommen in sich selbst verlagern. Henning Luther kommt zu dem Urteil:
22 Luther, H., Identität und Fragment. 23 A. a. O., 170.
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„Das eigentümlich Christliche scheint mir nun darin zu liegen, davor zu bewahren, die prinzipielle Fragmentarität von Ich–Identität zu leugnen oder zu verdrängen. Glauben hieße dann, als Fragment zu leben und leben zu können“.24
Der Gedanke der Fragmentarität der menschlichen Persönlichkeit hat in der Theologie vielfach Zustimmung gefunden. Mir scheint es aber wichtig, bei dem Urteil der Fragmentarität allein nicht stehen zu bleiben. Die negative Feststellung ist ebenfalls eine Verkürzung der theologischen Anthropologie. Henning Luther stellt im Blick auf die Rechtfertigung sola gratia fest: „Erst wenn wir uns als Fragmente verstehen, erkennen wir unser Angewiesensein auf Vollendung, auf Ergänzung an. Erst und nur wenn wir aus diesem Verwiesensein unserer fragmentarischen Existenz leben, sind wir gerechtfertigt, nicht aber wenn wir bereits versuchen, ganz zu sein“.25
Wenn wir nach einer theologisch angemessenen und heute verständlichen Rede von Gnade und Rechtfertigung suchen, sollten wir die Erkenntnisrichtung gegenüber der ansonsten treffenden Aussage von Henning Luther umkehren: Nicht die Erkenntnis der Fragmentarität oder auch etwa des Sünderseins lässt die Rechtfertigung sola gratia erkennen. Defiziterfahrungen produzieren in der Regel umso höheren Leistungsdruck. Die überraschende Erfahrung einer unverdienten Zuwendung mag eher die Erkenntnis provozieren, dass Menschen die Fülle gar nicht in sich selbst finden müssen, weil sie nicht in innerer Harmonie und Reife geleistet werden muss, sondern sich in der Vielfalt von Lebensbeziehungen immer wieder völlig verblüffend ereignet. Man mag das Gnade nennen, die die christliche Spiritualität wirkt.
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Spiritualität braucht Orientierung und Präzisierung, sie verlangt die Unterscheidung der Geister. Die rechtfertigende Gnade kann diese Orientierung geben. Rechtfertigende Gnade ist der Blick, in dessen Schutzraum sich ein Mensch im Alltag frei aufrichten kann. Der Glaube spielt Menschen diesen Blick zu. Rechtfertigende Gnade ereignet sich da, wo Menschen sich als mehr erfahren, als sie sind und verwirklichen können: erwählt und gewollt. Rechtfertigende Gnade ereignet sich da, wo Leben nicht nur verbraucht, sondern dankbar als Geschenk genossen wird. Mit der Gnade erschließt sich die Dimension des Leben-Dürfens und die Freude am Leben.
24 A. a. O., 172. 25 A. a. O., 173.
Spiritualität im Blick der rechtfertigenden Gnade
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Rechtfertigende Gnade ereignet sich da, wo Menschen, die all ihr Ansehen verloren haben und zu nichts geworden sind, neu zurechtgebracht werden. Rechtfertigende Gnade ereignet sich da, wo jemand für einen Menschen eintritt, der selbst verschuldet oder durch die Schuld anderer in eine Situation geraten ist, aus der er sich nicht selbst befreien kann. Durch Stellvertretung ereignet sich rettende Gnade, der Osterglaube bezeugt es. Rechtfertigende Gnade ereignet sich da, wo sich nach der letzten Möglichkeit noch eine Möglichkeit auftut, die Möglichkeit Gottes. Rechtfertigende Gnade ereignet sich da, wo Zeit sich als die Weise erschließt, in der Gott konkret ist in der Welt, nicht im Modus der leeren Zeitlinie, die abläuft wie die Sanduhr, sondern im Modus der „Zeit für“, die die leere Linie der Zeit gnädig unterbricht und anfüllt mit Erbarmen und Hoffnung. Spiritualität des christlichen Glaubens wird nicht gewählt oder erworben, sie ist geschenkt. Menschen, die sich auf die Geschichte Gottes verlassen, kommt sie gratis zu.
Literatur Quellen Bonhoeffer, Dietrich, Widerstand und Ergebung. Briefe und Aufzeichnungen aus der Haft, hg. von Gremmels, Christian u. a., DBW, Bd. 8, Gütersloh 1998. Luther, Martin, Auslegung des ersten Glaubensartikels. Der Kleine Katechismus, BSLK, 510f; modernisiertes Deutsch nach UG, 542f. –, Das Magnificat verdeutscht und ausgelegt 1521, WA 7, 544–604. Zitiert wird hier nach der Textfassung von Eberhard Leppin, in: Luther, Martin, Ausgewählte Schriften, hg. von Bornkamm, Karin und Ebeling, Gerhard, Bd. 2, Frankfurt am Main 1982, 114–196. –, De Servo Arbitrio, 1525, WA 18, 600–787; Übersetzung: Martin Luther, LateinischDeutsche Studienausgabe, Bd. 1, hg. von Härle, Wilfrid, Leipzig 2006, 219–661, übersetzt von Athina Lexutt. –, Vorrede zum 1. Bande der Gesamtausgabe der lateinischen Schriften (1545), WA 54, 176– 187; deutsche Übersetzung nach LD 2, 19f.
Forschungsliteratur Beck, Ulrich/Beck-Gernsheim, Elisabeth, Individualisierung in modernen Gesellschaften – Perspektiven und Kontroversen einer subjektorientierten Soziologie, in: dies. (Hg.), Riskante Freiheiten. Individualisierung in modernen Gesellschaften, Frankfurt am Main 1994 (Edition Suhrkamp; 1816), 10–39.
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Gunda Schneider-Flume
Dahlgrün, Corinna, Christliche Spiritualität. Formen und Traditionen der Suche nach Gott. Mit einem Nachwort von Ludwig Mödl, Berlin/New York 2009. Hölderlin, Friedrich, An die Parzen, in: Sämtliche Gedichte, Bd. 4, Frankfurt 2005. Korczak, Janusz, Frühe Texte über Kinder und Erziehung, Sämtliche Werke, ediert von Friedhelm Beiner und Erich Dauzenroth, Bd. 9, Gütersloh, 2004. Luther, Henning, Identität und Fragment. Praktisch-theologische Überlegungen zur Unabschließbarkeit von Bildungsprozessen, in: ders., Religion und Alltag. Bausteine zu einer Praktischen Theologie des Subjekts, Stuttgart 1992, 160–183. Marquard, Odo, Der angeklagte und der entlastete Mensch in der Philosophie des 18. Jahrhunderts, in: ders., Abschied vom Prinzipiellen, Stuttgart 1981, 39–66. Sandel, Michael, J., Plädoyer gegen die Perfektion. Ethik im Zeitalter der genetischen Technik, Berlin 2008. (Original: The Case against Perfection, Havard University Press 2007). Schapp, Wilhelm, In Geschichten Verstrickt. Zum Sein von Mensch und Ding, Frankfurt am Main, 31985. Schneider-Flume, Gunda, Leben ist kostbar. Wider die Tyrannei des gelingenden Lebens, Transparent; 66, Göttingen 32008. Spieckermann, Hermann, „Barmherzig und gnädig ist der Herr…“, in: ders., Gottes Liebe zu Israel. Studien zur Theologie des Alten Testaments, Tübingen 2001 (FAT; 33), 3–19. Sudbrack, Josef, Gottes Geist ist konkret. Spiritualität im christlichen Kontext, Würzburg 1999. Taylor, Charles, Ein säkulares Zeitalter. Aus dem Englischen von Joachim Schulte, Frankfurt am Main 2009 (Orig. A Secular Age, Havard 2007).
Helmut Burkhardt
Spiritualität und Umkehr Umkehr als Grunddatum und Wesensmerkmal christlicher Spiritualität
1.
Spiritualität als anthropologisches Phänomen
Es kennzeichnet den Menschen wesentlich, dass er über sich selbst und seine Alltagserfahrung hinaus nach einem letzten Sinn und Ziel des Lebens fragt und dies letztlich in Gott sucht. Diese Erkenntnis ist auch angesichts eines in unserer Gesellschaft heute weit verbreiteten säkularistischen Lebensgefühls unverändert gültig. Sofern Spiritualität als praktizierte Religion angesehen werden kann, ist auch sie ein universales anthropologisches Phänomen.1 Sie ist kulturell differenzierte Entfaltung und Pflege natürlicher Religiosität.
2.
Spiritualität in Israel: Spiritualität aufgrund von geschichtlicher Offenbarung
2.1 Im Unterschied zu allgemeiner Spiritualität setzt Spiritualität in Israel zwar die allgemein-menschliche Anlage zur Religion voraus, hat ihre Eigenart aber nicht in ihr, sondern gründet sich nach ihrem Selbstverständnis geschichtlich in bestimmten Offenbarungsereignissen wie der Abraham widerfahrenen Anrede Gottes (Gen 12,1–3), der Berufung des Mose zur Herausführung Israels aus Ägypten, sowie der mit der Gabe der Zehn Gebote als Grundbestand der Thora verbundenen Bundesschließung Gottes mit Israel als seinem erwählten Volk (Ex 3–20). Die Thora ist seither bleibende Quelle und Maßstab der Spiritualität in Israel, wie sie sich eindrücklich vor allem in den Psalmen artikuliert hat.
1 Austad, Main Issues, 8.
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Helmut Burkhardt
2.2 Nun zeigte sich aber sehr bald (z. B. in der Geschichte vom Goldenen Kalb, Ex 32), dass Israel immer wieder dazu neigte, dem Anspruch Gottes auf sein Leben auszuweichen und aus dem Bund auszubrechen. Gegenüber dieser Untreue des Volkes bezeugt die Bibel Gottes Treue, indem er es immer wieder zu sich und in den Bund zurückruft (hebr. )שׁוּב.2 Allerdings wird schon bei frühen Schriftpropheten eine tiefe Krise des prophetischen Rufs zur Umkehr erkennbar. So kommt z. B. bei Amos der Umkehrruf gar nicht, wie man es erwarten sollte und wie es herkömmlich auch üblich war, in der Form der Mahnrede vor, sondern im Scheltwort.3 D. h.: der Prophet stellt nur noch die Verweigerung der Umkehr fest. Der Schaden sitzt tief im Herzen, dem Personzentrum des Menschen: „Verschlagen ist ihr Herz mehr als alles, und unheilbar ist es“ (Jer 30,12). Die Situation scheint definitiv hoffnungslos zu sein. Aber nun finden sich doch, in Form der Verheißung, auch andere, hoffnungsvolle Töne – allerdings nicht hoffend auf menschliche Möglichkeiten, sondern auf die unwandelbare Treue und Liebe Gottes, die eines Tages doch die Abtrünnigkeit Israels heilen wird (Hos 11,8–10; 14,5). In Jer 31 erscheint das Thema Umkehr zunächst in Form einer Bitte an Gott: „Bekehre du mich, damit ich umkehre“ (V. 18). Das Umkehren des Menschen ist hier umschlossen gedacht vom Tun Gottes, das die Umkehr im Menschen wirkt.4 Von solcher Umkehr sprechen dann näher V. 31–34. Hier wird der Umkehrgedanke mit einem ganz neuen Motiv verbunden: es ist nicht mehr von Rückkehr in den alten Bund die Rede, sondern von einem das Verhältnis des Menschen zu Gott ganz neu begründenden „neuen Bund“. Dem neuen Bund entspricht eine tiefgreifende innere Erneuerung des Menschen. Dabei ist das ganze Verheißungswort eingeleitet mit dem zum Aufmerken rufenden Signal „Siehe, es kommt die Zeit“. Damit wird das angekündigte Geschehen als ein über die vorläufige geschichtliche Erfüllung in der Rückkehr Israels aus dem Exil hinausweisendes, endzeitliches gekennzeichnet, d. h. als ein endgültiges und unüberholbares Geschehen.5
2 Vgl. Wolff, Kerygma, 315f. 3 Wolff, Umkehr. 4 In dem Zusammenhang kann die Bibel auch von der Umkehr Gottes sprechen, z. B. in Sach 1,3. Während sie hier allerdings abhängig ist von der vorausgehenden Umkehr des Menschen, setzt Hos 11 die Unfähigkeit des Menschen zur Umkehr voraus. Die trotzdem verheißene Hinkehr Gottes zu Israel ist also eine voraussetzungslose Abkehr Gottes von seinem Israel angekündigten Gericht; vgl. Michel, Art. μεταμέλομαι 631,12–22; vgl. jetzt Janowski, Die Empathie des Schöpfergottes, in: JBTh 30/2016. In der neutestamentlichen Erfüllung der Verheißung realisiert sich diese Umkehr Gottes im Kommen Jesu und seiner Übernahme der menschlichen Schuld im Tod am Kreuz, welcher zugleich Gericht über die menschliche Sünde und Erweis der Gnade Gottes ist. 5 Rudolph, Jeremia, 202; vgl. auch Hes 31,33; 36,26f; Jes 55,3.
Spiritualität und Umkehr
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3.
Begründung christlicher Spiritualität in der Umkehr zu Gott
3.1
Die Erfüllung der alttestamentlichen Verheißung einer radikalen, endgültigen, von Gott gewirkten Umkehr im Kommen Jesu und seiner Umkehrpredigt
Das Neue Testament bezeugt nun, dass die alttestamentliche Verheißung vom Neuen Bund und der von Gott gewirkten Umkehr sich mit dem Kommen Jesu erfüllt. Als Jesus seine öffentliche Wirksamkeit beginnt, stellt er (nach Mt und Mk) das Wort von der Umkehr gleichsam programmatisch an den Anfang seines Wirkens: „Kehrt um (μετανοεῖτε), denn die Königsherrschaft der Himmel ist nahe“ (Mt 4,17). Dieser Umkehrruf aber ergeht, anders als bei Johannes dem Täufer, unter der Voraussetzung, dass mit der bereits jetzt beginnenden Herrschaft Gottes die Zeit der von Gott verheißenen wahren Umkehr gekommen ist. „Die Zeit ist erfüllt (πεπλήρωται ὁ καιρός)“ heißt es in der bei Mk überlieferten Fassung des Umkehrrufs Jesu (Mk 1,15a). Diese Umkehr vollzieht sich nicht aufgrund eigener sittlicher Anstrengung, sondern im Vertrauen auf das die Erfüllung der Verheißung zusprechende Wort Jesu („Kehrt um und glaubt an das Evangelium“, V. 15b). Damit ist jetzt die an sich vom Menschen aus bisher unmögliche Umkehr (Mt 19,26) als Antwort auf sein vollmächtiges Wort doch möglich. Sie ist aber nicht ein Schritt menschlichen Bemühens unter vielen anderen, sondern ein einmaliger, definitiv gültiger Wendepunkt im Leben des Menschen, der dem Ruf Jesu folgt. Der Zusammenhang der Sendung Jesu mit dem Wort aus Jer 31 vom Neuen Bund zeigt sich schließlich auch, als er beim letzten Abendmahl, nach dem Zeugnis des Evangelisten Lukas (Lk 22,20) und des Apostels Paulus (1Kor 11,25), in Anknüpfung an Jer 31,31–34 zu seinen Jüngern sagt: „Dieser Kelch ist der neue Bund in meinem Blut, das für euch vergossen wird zur Vergebung der Sünden“.6 Von dieser Erfüllungssituation her ist das ganze Wirken Jesu und seine Botschaft zu verstehen.7 Dabei liegt in der Botschaft Jesu der eigentliche Akzent auf der Einladung zur Umkehr als „Evangelium“ (Mk 1,15). Das wird schon in der Aussage Jesu deutlich, in der er, als Entsprechung zum programmatischen Umkehrruf bei den beiden anderen Synoptikern (Mt 4,17/Mk 1,15), nach Lk seine ganze Sendung auf den einen Nenner bringen konnte: „Ich bin nicht gekommen, Gerechte, sondern Sünder zur Umkehr zu rufen“ (Lk 5,32; vgl. 4,43). In der primären Zuwendung gerade zu den „Sündern“ kommt in besonderer Weise die 6 Vgl. Rudolph, Jeremia, 203. Das Adjektiv „neu“ fehlt in der Parallelüberlieferung Mt 26,28 und Mk 14,24, aber „wahrscheinlich besitzt die paulinisch-lukanische Fassung Priorität“, Hahn, Abendmahlsüberlieferung, 371. 7 Vgl. Schniewind, Markus, 16.
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Voraussetzungslosigkeit des Angebots Jesu zum Ausdruck, während die Frömmigkeit der „Gerechten“ für sie eher ein Hindernis ist, dem Ruf Jesu zu folgen, der grundsätzlich doch auch ihnen gilt. Vor allem in den nur bei Lukas überlieferten Umkehrgleichnissen (Lk 15) wird deutlich, dass Umkehr Freude ist – Freude für den, der zurückfindet zu Gott, Freude bei Gott über dem Finden des Verlorenen.8 Solche Umkehr aber ist selbst schon Widerfahrnis des Heils (Lk 19,9).9 Weil der Ruf zur Umkehr eine in die Freude an Gottes Heil führende Nachricht ist, ist auch die vor allem in der Lutherbibel übliche Übersetzung des μετανοεῖτε im Umkehrruf Jesu mit „Tut Buße“ zumindest missverständlich. Denn das Wort „Buße“ wird im Deutschen mit dem als negativ empfundenen Gedanken an Strafe („Bußgeld“) assoziiert. Zwar findet sich auch in einem bei Matthäus und Lukas überlieferten Jesuswort die Rede vom „Buße tun in Sack und Asche“ (Mt 11,21/Lk 10,13). Die eigentliche Bedeutung von μετανοείν aber erschließt sich uns im Rückgang auf seine alttestamentliche Wurzel, das hebr. Wort שׁוּב. Die griechische Bibel der LXX gibt dieses hebräische Wort in der Regel dem Wortsinn nach (Rückkehr an einen Ausgangspunkt)10 durchaus angemessen mit ἐπιστρέφειν wieder (sich hinwenden zu etwas bzw. jemandem), während μετανοείν in der LXX für das hebr. ( נַׅחםsich etwas leid sein lassen, bereuen) steht. Erst im hellenistischen Judentum (Sir 48,15) wird für שׁוּבdas Wort μετανοείν eingesetzt.11 Zum Verständnis dieses Wortes im Neuen Testament wird man allerdings nicht nur von seiner Etymologie bzw. der in der antiken griechischen Literatur üblichen Bedeutung (seinen Sinn ändern, etwas bedauern oder bereuen)12 ausgehen dürfen. Vielmehr ist für die Deutung grundlegend auf das von der alttestamentlichen Geschichte her geprägte hebräische ( שׁוּבRückkehr in den Bund Gottes) zurückzugreifen. Andererseits dürfte der ursprüngliche griechische Wortsinn von μετανοείν nach wie vor auch bei seinem neutestamentlichen Gebrauch noch mitschwingen. Das zeigt deutlich z. B. der Sprachgebrauch in 2Kor 7,9f („betrübt zur Buße“). Ähnlich liegt diese Deutung auch nahe, wenn die Worte ἐπιστρέφειν und μετανοείν, sich gegenseitig interpretierend, nebeneinander stehen (Apg 3,19 und 26,20). Der Gebrauch von μετανοείν für שׁוּבkönnte dann deutlich machen, dass es hier um mehr geht als eine nur äußerliche Wendung (wie im alltäglichen, nichtreligiösen Gebrauch von ἐπιστρέφειν), sondern um eine tiefgehende innere Veränderung im Menschen, die ein Ja zu Gottes ge8 Vgl. Kim-Rauchholz, Umkehr, 115–165; Schniewind, Buße, 13f.27f. Das Motiv der Freude betont im Blick auf die Umkehr schon Bengel, Gnomon, 285: „poenitentia est donum laetum, non triste negotium“. 9 Michel, Umkehr, 409. 10 Soggin, Art. בוש, 886. 11 Michel, Umkehr, 407. 12 Behm, Art. μετανοέω, 973.
Spiritualität und Umkehr
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rechtem Urteil über die Sünde und eine entschlossene Abwendung von der eigenen Gebundenheit an die Bosheit, sowie, in ἐπιστρέφειν, eine vorbehaltlose Hinwendung zu Gott und seinem Willen einschließt.13 Dem entspricht auch, dass שׁוּבund ἐπιστρέφειν im Alten Testament oft durch den Zusatz „von (ganzem) Herzen“ charakterisiert werden.14 Eben um eine solche, den ganzen Menschen in seiner Beziehung zu Gott vom Herzen, dem Personkern des Menschen, her erfassende Erneuerung geht es ja in Jer 31 und entsprechend auch in der Verkündigung Jesu.
3.2
Umkehr in der urchristlichen Missionsterminologie.
Die Botschaft Jesu vom Neuwerden des Menschen in der Umkehr wird, entsprechend seinem Auftrag, von der Urchristenheit weitergetragen. Dabei kommt diese Neuwerdung vor allem in drei Begriffen zum Tragen: neben μετανοείν noch in ἐπιστρέφειν und πιστεῦσαι. 3.2.1 Zum Gebrauch von μετανοείν: In den synoptischen Evangelien wird für Umkehr fast ausschließlich μετανοείν gebraucht,15 ἐπιστρέφειν fehlt.16 Anders ist der Befund in den übrigen Schriften des Neuen Testaments, in denen der urchristliche Sprachgebrauch sich unmittelbar niederschlägt. Relativ häufig (12x) kommt μετανοείν noch in der Apostelgeschichte vor: So gleich an gewichtiger Stelle im Anschluss an die Pfingstpredigt des Petrus (μετανοήσατε, Apg 2,38).17 3.2.2 Zum Gebrauch von ἐπιστρέφειν: Eine klassische Summe seiner missionarischen Verkündigung gibt Paulus im Spiegel ihrer Wirkung: man erzählt sich überall im Land
13 Stählin, Apostelgeschichte, 65. 14 Vgl. z. B. Dtn 30,10; 1Kön 8,47f; 2Kön 23,25; Jer 24,7. 15 7x bei Mt (davon 2x das Substantiv μετάνοια; 4x bei Mk (davon 2x μετάνοια), 14x bei Lk (davon 5x μετάνοια; 2x im Sinne von Reue). 16 Nur Mt 13,15/Mk 4,12, und zwar, wie Apg 28,27, in einem Jesaja-Zitat; Lk 1,16f in einem auf den Täufer bezogenen Maleachi-Zitat; 22,32 paränetisch in einem Wort an Petrus mit Bezug auf seine Umkehr nach der Verleugnung Jesu. 17 Vgl. ebenso 3,19; 5,31; 17,30 im Infinitiv (weil nicht wie 2,38 und 3,19 als direkte Anrede), ebenso 26,20; 5,31;11,18; 20,21; 26,20 das Substantiv μετάνοια (13,24 und 19,4 mit Bezug auf die Taufe des Johannes); vgl. auch Röm 2,4; Hebr 6,6 und 2Petr 3,9; in paränetischem Kontext in Apg 8,22 (Simon Magus); vgl. 2Kor 7,9f; 12,21; Hebr 12,17.
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„[…] wie ihr euch bekehrt habt (ἐπιστρέψατε ) zu Gott von den Götzen, zu dienen dem lebendigen und wahren Gott und zu warten auf seinen Sohn vom Himmel, welchen er auferweckt hat von den Toten, Jesus, der uns rettet von dem künftigen Zorn“ (1Thess 1,9f).
In 2Kor 3,16 spricht Paulus von der Bekehrung Israels zum Herrn (ἐὰν ἐπιστρέψῃ). Beide Male ist von Umkehr als grundlegendem Beginn christlicher Existenz die Rede. Gleiches gilt von 1Petr 2,25, wobei das „vorher“ ausdrücklich einem „nachher“ gegenübergestellt wird: „Denn ihr waret wie die irrenden Schafe; aber ihr seid nun bekehrt (ἐπεστράφητε νῦν) zu dem Hirten und Bischof eurer Seelen“ (vgl. Mt 9,36). Am häufigsten (8x) kommt ἐπιστρέφειν in der Apostelgeschichte vor. Dabei ist, abgesehen von zwei Stellen mit Bezug auf die Verkündigung des Täufers (3,24; 19,4) und einer im paränetischen Sinn (8,22), immer von der erstmaligen, grundlegenden Wende zum christlichen Glauben die Rede.18 Überall geht es dabei ausdrücklich positiv um eine Hinwendung zu Gott19 bzw. zum „Herrn“, d. h. Christus.20 An einer Stelle verwendet Lukas auch das den negativen Aspekt ansprechende Wort ἀποστρέφειν: „[…] dass ein jeder sich bekehre weg von seiner Bosheit“ (3,26).21
3.2.3 Zum Gebrauch von πιστεῦσαι: Sehr häufig wird die Wende zum Christsein bei Paulus22 sowie vor allem in der Apostelgeschichte23 bezeichnet als „gläubig werden“. Besonders präzise beschreibt Paulus dies Gläubigwerden als zeitlich einzuordnendes, lebensgeschichtliches Ereignis: das endzeitliche Heil, die Rettung im letzten Gericht, ist jetzt, da Paulus an die Christen in Rom schreibt, ihnen zeitlich näher, als es damals war, als „wir gläubig wurden“ (ἐπιστεύσαμεν, Röm 13,11). Der Gläubige blickt also auf das Gläubigwerden zurück als das Ereignis, mit dem sein gegenwärtiger Status des Christseins begann. Dabei wird der Ereignischarakter des Gläubigwerdens hier wie auch sonst durch den Gebrauch der grie18 5x im Aorist (Apg 3,19; 9,35; 11,21; 26,18), 2x, aber ebenfalls eindeutig im Sinn eines Missionsterminus, im Infinitiv Präsens (14,15; 26,20); 1x im Substantiv ἐπιστροφή (15,3). 19 Apg 14,15; 15,19; 26,18.20. 20 Apg 9,35; 11,21, in diesem Kontext ist dann auch der absolute Gebrauch von ἐπιστρέφειν (3,19) bzw. ἐπιστροφή zu verstehen. 21 Der Plural πονηρίαι dürfte dabei nicht nur „moralisch“ im Sinne einzelner zwischenmenschlicher Vergehen zu verstehen sein, sondern in einem tieferen Sinn als Ausdruck der Bosheit des menschlichen Herzens (Mt 15,19), die in der inneren Abkehr von Gott gründet; vgl. Stählin, Apostelgeschichte, 69. 22 Vgl. Röm 13,11; 1Kor 3,5; 15,2.11; Gal 2,16; Eph 1,13: 2Thess 1,10. 23 Vg. Apg 2,44; 4,4.32; 8,12.13; 9,42; 11,17.21; 13,12.48; 14,1.23a; 15,7; 16,31; 17,12.31.34; 18,8 (2x); dazu auch in Hebr 4,3.
Spiritualität und Umkehr
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chischen Zeitform des ingressiven Aorists unterstrichen. Das gilt erst recht dort, wo im Perfekt vom Gläubiggewordensein die Rede ist.24 Dieses Gläubigsein kann deshalb auch adjektivisch ausgedrückt werden.25 Auch wenn im Partizip Präsens von „Glaubenden“ (πιστεύοντες) die Rede ist,26 ist dieses Partizip durativ im Sinne von Gläubigsein zu verstehen. Die Formulierungen „Gläubige“ bzw. „Glaubende“ werden so zum nicht nur soteriologischen, sondern zugleich ekklesiologischen Begriff (Glaubende als Glieder der christlichen Gemeinde).27 An Gläubigwerden ist auch gedacht, wenn es Apg 6,7 heißt, dass viele Priester „dem Glauben gehorsam“ wurden. Ähnlich bedeutet sicher, wenn es Apg 28,24a heißt, dass einige von den jüdischen Zuhörern des Paulus in Rom sich „überzeugen“ ließen (ἐπείϑοντο), dass sie gläubig wurden.28 Das „gläubig geworden sein“ ist dabei, trotz des oft absoluten Gebrauchs, nicht etwa ein rein anthropologisch zu interpretierendes Gläubigsein im Sinne allgemeiner Spiritualität. Vielmehr handelt es sich bei diesem absoluten Gebrauch um einen missiologischen terminus technicus, der ganz selbstverständlich inhaltlich gefüllt gedacht ist als Glaube an Christus bzw. den in Christus offenbar gewordenen Gott. Das zeigt sich auch daran, dass es zum Gläubigwerden in der Regel nur als Antwort auf das Wort des Evangeliums hin kommt, durch das Christus verkündet wird. Der Begriff „gläubig werden“ bzw. „zum Glauben kommen“ ist also wie „sich bekehren“ (μετανοείν und ἐπιστρέφειν) fester Bestandteil urchristlicher Missionsterminologie. Er bezeichnet das je einmalige, für das beginnende christliche Leben grundlegende Ereignis des Christwerdens. Als Glaube an Christus ist dies Ereignis Beginn einer persönlichen Beziehung des einzelnen Glaubenden zu ihm.
3.3
Neue Geburt und neue Schöpfung
3.3.1 Wiedergeburt Es ist auffallend, dass diese bei den Synoptikern, aber auch sonst im Neuen Testament so reich bezeugte Umkehrterminologie im Joh völlig fehlt. Als Terminus für die Wende zum christlichen Leben finden wir in ihm stattdessen ein anderes Motiv, das der neuen Geburt, das so ausdrücklich wiederum bei allen drei Synoptikern nirgends auftaucht.29 24 25 26 27 28 29
Apg 14,23; 15,5; 16,34; 18,27; 19,18; 21,20.25. Apg 16,1.15. Apg 5,14; 22,19; vgl. 2,44 πιστεύσαντες = Gläubiggewordene. Haacker, Art. Glaube II, 297,21f. Vgl. als Gegensatz V. 24b „etliche aber glaubten nicht“ (ἠπίστουν). Eine Brücke könnte vielleicht Jesu Wort Mk 10,15/Lk 18,17 sein, dass nur, wer das Reich
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In Joh 3 wird erzählt, dass ein Pharisäer und Mitglied des Synhedriums namens Nikodemus in der Nacht zu Jesus kommt. Er eröffnet das Gespräch, indem er Jesus als durch Zeichen von Gott her beglaubigten Lehrer anredet, wobei er sich mit „wir wissen“ mit anderen zusammenschließt, die auf die Zeichen hin „an seinen Namen glaubten“, während Jesus diesen „Glauben“ aber nicht anerkannt hatte (2,23f). Denn „er wusste, was im Menschen war“ (V.24b). Entsprechend reagiert er auch jetzt: Niemand hat in sich die Möglichkeit, Anteil am Reich Gottes zu bekommen – dazu bedarf es vielmehr einer Geburt „von oben“ (ἄνωϑεν). Als Nikodemus diese Aussage missversteht im Sinne einer erneuten natürlichen Geburt, verdeutlich Jesus noch einmal das Wort von der Geburt „von oben“ durch „aus Wasser und Geist“ (V.5). Beim Wasser könnte an die Johannestaufe gedacht sein und an diese als Hinweis auf das Gericht über den alten Menschen und sein Sterben im Vorgang der Wiedergeburt.30 Das Hauptgewicht der Aussage liegt aber dem Kontext nach auf „Geist“, wie der nachfolgende Gegensatz von Fleisch und Geist (V.6) und die Rede vom Geborenwerden aus dem Geist (V.8) erkennen lassen.31 Diese neue Geburt ist für den Eingang in das Reich Gottes unumgänglich nötig. Der Gedanke ist in diesen wenigen Sätzen allein dreimal ausgesprochen (V. 3.5.7).32 Mit der neuen Geburt ist von Gott her der Anfang einer schlechthin neuen Existenz gegeben. Zu diesem Anfang kommt es nach V. 16 innerhalb der menschlichen Erfahrung im Glauben an Jesus, Gottes „eingeborenen Sohn“, den Gott aus Liebe zur (Menschen-)Welt hingab als das „Lamm, das der Welt Sünde trägt“ (1,29.36).33 In diesem einmaligen, bleibend gültigen und durch die Verkündigung immer neu wirksamen Geschehen gründet das individuell menschliches Leben neu machende Geschehen der neuen Geburt in allen an Jesus Glaubenden. Diese individuelle Veränderung im Menschen aber ist, als zu Kindern Gottes machende (1,12f), eine jeweils für das weitere Leben bleibend wirksame Veränderung. „Seht, welche Liebe uns der Vater erzeigt hat, dass wir Gottes Kinder heißen sollen – und es auch sind“ (1Joh 3,1). Darin ist sie zugleich auch eine Gemeinschaft unter Menschen stiftende: Sie macht Gottes Kinder untereinander zu geistlichen Geschwistern (1Joh 5,11f).
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Gottes annimmt wie ein Kind, auch hineinkommt. Wobei beim Stichwort „Kind“ vor allem an seine Hilfsbedürftigkeit, sein „Gering- und Kleinsein“ zu denken ist, das „schlechthin auf Empfangen angewiesen“ ist; darin kommt dies Wort „den Worten von der Wiedergeburt sehr nahe“, Schniewind, Markus, 101. Vgl. das bei den Synoptikern so häufige, bei Johannnes nur hier vorkommende Motiv des Reiches Gottes (V.3 und 5). Schniewind, Erneuerung, 25. Vgl. die analoge Aussage des Paulus Röm 8,4, nach der das Wirken des Geistes Kennzeichen christlicher Existenz ist: „Denn welche der Geist Gottes treibt, die sind Gottes Kinder“ (Röm 8,14). Back, Wiedergeburt, 60. A. a. O., 62f.
Spiritualität und Umkehr
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Das Zeugnis des Johannes von der neuen Geburt als Anfang christlichen Lebens findet sich in unterschiedlicher Weise auch in anderen neutestamentlichen Schriften. Petrus lobt Gott, dass er uns (Christen) aus seiner Barmherzigkeit und gegründet in der Auferstehung Jesu Christi von den Toten „wiedergeboren hat (ἀναγεννήσας) zu einer lebendigen Hoffnung“ (1Petr 1,3). Deshalb sollen die durch Gottes Wort Wiedergeborenen (ἀναγεγεννημένοι) sich in „ungefärbter Bruderliebe […] untereinander beständig von Herzen liebhaben“ (1,22f) und als die „neugeborenen Kinder begierig sein nach der wortgemäßen (λογικόν) Milch“ der Unterweisung im Glauben (2,2). Nach dem Tit hat Gott uns gerettet (ἔσωσε) „nach seiner Barmherzigkeit durch das Bad der Wiedergeburt (παλιγγενεσία)34 und Erneuerung (ἀνακαίνωσις) durch den Heiligen Geist (3,5). Dieses Ereignis markiert hier einen scharfen Einschnitt im Leben der Christen: „Denn auch wir waren vormals (πότε) unweise, ungehorsam, verirrt […]“ (V. 3). Dabei wird dieses frühere Leben charakterisiert durch einen sog. Lasterkatalog, in dem aber kaum zufällig die ersten drei Glieder (unweise, ungehorsam, verirrt) das Verhältnis zu Gott beschreiben, das gegenwärtige ähnlich als „besonnen, gerecht und gottesfürchtig leben“ (2,12).35 Die Wende von der früheren Situation zur gegenwärtigen wurde grundlegend herbeigeführt durch das geschichtliche Ereignis des Kommens Jesu, der sozusagen leibgewordenen „Güte und Menschenfreundlichkeit Gottes, unsers Heilandes“ (3,4, vgl. 2,11), individuell aber realisiert in der Wiedergeburt (3,5). Zum einen ist hier also die Wiedergeburt verstanden als ein je einmaliges, lebensgeschichtliches, d. h. das Leben eines Menschen auf eine völlig neue Grundlage stellend und so verändernd und in ein Vorher und Nachher teilend. Zum andern, und das ist kennzeichnend gerade für diesen Begriff: der diese Wende herbeiführt, ist Gott selbst „durch Jesus Christus, unsern Heiland“ (V.6), also ausdrücklich nicht die fromme Bemühung des Menschen („nicht um der Werke der Gerechtigkeit willen, die wir getan hätten“, V. 5a). Vielmehr vollzieht sich in der Wiedergeburt eine Rechtfertigung durch Gottes Gnade (δικαιωϑέντες τῇ ἐκείνου χάριτι). Damit wird die Wiedergeburt mit dem Zentralbegriff der paulinischen Soteriologie verbunden.36 Das Wort Wiedergeburt umschreibt bildhaft, was sich real in der Rechtfertigung des Sünders ereignet. 34 Dieses Wort findet sich im NT außer an dieser Stelle nur noch einmal, in Mt 19,28, und zwar im Sinn einer endzeitlichen Erneuerung der ganzen Schöpfung, so Keener, Commentary, 480. Schniewind, Matthäus, 207 hält zwar an der streng eschatologischen Deutung fest, erwägt aber, ob dabei das Wort παλιγγενεσία doch „die neue Lebensgestalt der neuen Menschen bezeichnet, die an Gottes Herrschaft teilhaben“. 35 Vgl. Marshall, Pastoral Epistles, 309f. 36 Zu möglichem Einfluss der Mysterienreligionen, vgl. Back, Wiedergeburt. 49–57.64–69. Selbst wenn ein begriffsgeschichtlicher Zusammenhang bestehen sollte, unterschiede sich die
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Das Motiv der Wiedergeburt findet sich andeutend in frühen Briefen des Paulus, so im Gal in der Gegenüberstellung von Esau und Jakob, in der der erstere in typologischer Exegese als „nach dem Fleisch“, letzterer als „nach dem Geist“ (weil entsprechend der Verheißung an Abraham) geboren bezeichnet wird (Gal 4,29).37 Auch der Jak spricht, ähnlich wie 1Petr 1,23, davon, dass Gott die Christen „geboren“ habe (ἀπεκύησε) durch das „Wort der Wahrheit“ (Jak 1,18), und zwar als „Anfang seiner Kreaturen“ – wobei an die durch das Wort Wiedergeborenen als Anfang der künftigen neuen Schöpfung schon jetzt gedacht ist.38
3.3.2 Neue Schöpfung Das mit dem Motiv der Wiedergeburt sachlich verwandte Motiv der neuen Schöpfung finden wir, neben einer kurzen Erwähnung in Gal 6,15, ausführlich berücksichtigt im 2Kor: Schon in 5,15 ist das Thema der Lebenswende zum Christsein hin angesprochen und in seinen ethischen Folgen angedeutet: Christus ist für alle gestorben, „damit, die da leben, hinfort nicht mehr (μηκέτι) sich selbst leben, sondern dem, der für sie gestorben ist“. Aus der Lebenshingabe des Christus für alle folgert Paulus: „Darum, ist jemand in Christus, so ist er eine neue Kreatur (καινὴ κτίσις), das Alte ist vergangen, siehe, Neues ist geworden“ (V.17). Zu diesem „in Christus“-Sein und damit zur neuen Kreatur kam es, indem Gott uns (die Christen bzw. die Menschen, die eben darin Christen wurden) durch Christus (aufgrund seines Todes) mit sich versöhnte (V. 18). Der Apostel weiß sich zu dem missionarischen Dienst berufen, alle noch nicht mit Gott versöhnten Menschen einzuladen und zu bitten: „Lasst euch versöhnen mit Gott“. Von dem historischen Faktum des Todes Christi für uns her, in dem Christus für uns „zur Sünde gemacht wurde“ (V. 21), kommt es, durch Vermittlung des „Wortes von der Versöhnung“ (V.19b), zur individuellen Versöhnung Einzelner mit Gott und damit zur inneren Erneuerung des Menschen zu einer „neuen Schöpfung“. Obgleich in V. 17 das „ist“ der dt. Übersetzung im griechischen Text fehlt, ist es doch zweifellos (als Hebraismus) mitgedacht. Die „neue Schöpfung“ ist ein neues Sein, d. h. ein bleibend von der Versöhnung mit Gott bestimmtes Verhältnis zu Gott. neutestamentliche Verwendung des Motivs der Wiedergeburt von der in den Mysterien durch seine nicht (wie dort) mythische, sondern geschichtliche Verankerung. 37 Vielleicht kann man hier auch Stellen mit heranziehen, an denen Paulus Christen, die durch sein Zeugnis zum Glauben kamen, seine „Kinder“ nennt, die er (durch das Evangelium) „gezeugt“ habe (1Kor 4,14f; Gal 4,19; Phlm 10). 38 Das „Wort der Wahrheit“ kann sich kaum auf das Wort beziehen, das die erste Schöpfung hervorbrachte (Gen 1,1), sondern meint das der geschichtlichen Offenbarung, also das Evangelium; vgl. Dibelius, Jakobus, 136f.
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3.3.3 Neuer Mensch Dem Motiv der neuen Schöpfung nahe kommt auch das Wort vom neuen Menschen in den Briefen an die Kolosser und an die Epheser. Paulus erinnert Heidenchristen in Ephesus daran, dass sie vormals (πότε, V. 11) ohne Gott in der Welt (V. 12) und fern vom Volk Gottes waren, jetzt aber (νυνὶ δὲ) in Christus, durch das Blut Christi, nahegekommen sind (V. 13)39 und, mit Gott und der Judenchristenheit versöhnt (V. 16), zu einem „neuen Menschen“ zusammengefügt wurden. (V. 15). Zwar bezieht sich hier das Wort vom „neuen Menschen“ genau genommen nicht auf den einzelnen Christen, sondern die durch Christus hergestellte Gemeinschaft, die Kirche (1,22). Sofern aber Versöhnung immer ein personaler Vorgang ist, ist bei der Versöhnung zur Einheit von Juden- und Heidenchristen die Versöhnung der Einzelnen eingeschlossen (vgl. Röm 5,10). Entsprechend hat sich auch die Wende vom „einstmals“ zum „jetzt“ in einer inneren Erneuerung Einzelner vollzogen.40
3.4
Das Verhältnis der die Wende beschreibenden Motive zueinander.
Keiner der erörterten Begriffe der Wendeterminologie ist nur für sich allein zu verstehen. Sie interpretieren und ergänzen sich gegenseitig. Glaube ist in der Bibel Grundelement jeder Beziehung zu Gott. Auch Umkehr und Wiedergeburt sind wesentlich Akt des Glaubens. Nur in der Aorist- bzw. Perfektform wird „glauben“ zum „gläubig werden“ und damit zum Begriff der Wende-Terminologie. Zentraler, die Wendung vom alten zum neuen Leben, vom (noch) NichtchristSein zum Christ-Sein bezeichnender Begriff aber ist doch der, vom alttestamentlichen Motiv der Rückkehr zu Gott und in seinen Bund herkommende theozentrische Begriff der Umkehr. Das Wort Wiedergeburt zeichnet sich durch seine Bildhaftigkeit aus, in der es einerseits in besonderer Weise (wie beim Wort von der Neuschöpfung) auf die Neuheit des in der Wende entstehenden Lebens hinweist, und sie andererseits auf das erneuernde Wirken des Geistes Gottes und damit den Gnadencharakter der Wende zurückführt. Es schließt das Geschehen, in Verbindung mit den Motiven Versöhnung und Rechtfertigung, theologisch gleichsam von innen auf.
39 Nach Wolter, Bekehrung, 442,1f ist brq (nahen) Terminus technicus der jüdischen Bekehrungsterminologie (für den Übertritt von Heiden zum Judentum). 40 Vgl. auch die Rede vom alten und neuen Menschen, in der Paränese nun doch auch ausdrücklich auf den Einzelnen bezogen, in Eph 4,22; Kol 3,9f.
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4.
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Umkehr im Leben nach der Wende
Die Betonung der Neuheit des neuen Lebens nach der Wende zum Christsein könnte leicht den Eindruck erwecken, dass mit ihr alles neu geworden sei und der Mensch gleichsam schon am Ziel seines Lebens angelangt sei, über das hinaus von Umkehr und Änderung schlechthin nicht mehr zu sprechen sei. Davon kann aber keine Rede sein. Ganz im Gegenteil: mit der Wende hat das neue Leben erst angefangen. Paulus beschreibt dies wieder sehr präzise: „Nicht, dass ich es (d. h. Anteil zu bekommen an der Kraft der Auferstehung und gleichgestaltet zu werden dem Leiden Christi, Phil 3,11; vgl. 2,5) schon ergriffen hätte oder schon vollkommen wäre. Ich jage ihm aber nach, nachdem ich von Christus ergriffen bin“ (3,12). Von Christus ergriffen sein – das ist der Anfang. Aber eben nur der Anfang, auf den ein Fortgang folgen muss. Dies aber nun nicht nach Belieben, sondern in der mit der Bekehrung begonnenen Spur. Sinn der Wende als Erneuerung ist ja nicht nur negativ die Rettung aus dem Gericht, sondern gleichzeitig die Befähigung zu einem neuen Leben, und zwar keineswegs nur im Sinne einer neuen Motivation, sondern auch neuen, der Herrschaft Gottes entsprechenden Inhalten. So ist die ganze ethische Unterweisung Jesu, wie sie vor allem in der Bergpredigt gesammelt vorliegt, als Jüngerunterweisung zu verstehen, die als solche die Umkehr voraussetzt. Gleiches gilt größtenteils auch von den Paränesen der neutestamentlichen Briefe. Paränetische Abschnitte, die das Christsein nicht voraussetzen, finden sich nur selten.41 So kann es auch nicht überraschen, dass, was sich in der ersten, grundlegenden Umkehr vollzieht, nach wie vor auch im Leben des Christen immer wieder Anwendung findet. Ein Beispiel solch paränetischen Gebrauchs der Wendebegriffe sind die Worte Jesu über den Umgang mit der Sünde des Bruders: „Wenn dein Bruder sündigt, so halte es ihm vor, und wenn es (was er getan hat) ihn reut (ἐὰν μετανοήσῃ), vergib ihm“ (Lk 17,2). „Und wenn er siebenmal des Tages an dir sündigte und siebenmal wiederkäme (ἐπιστρέψῃ) zu dir und spräche: Es reut mich (μετανοῶ), so vergib ihm“ (Lk 17,3). Der Ton liegt auf der Versöhnlichkeit dessen, dem Unrecht getan wurde. Aber Versöhnlichkeit bewährt sich auch im Ernstnehmen der Umkehr des andern. Ein weiteres Beispiel ist das Wort Jesu an Petrus: „Ich habe für dich gebeten, dass dein Glaube nicht aufhöre“ (Lk 22,32a). Jesus sieht das Versagen des Petrus in der dreimaligen Verleugnung Jesu voraus, und darauf bezogen sagt er zu ihm: „Wenn du einst umkehrst, stärke die Brüder“ (Lk 22,32b). 41 So z. B. Röm 13,1–7 im Unterschied zur das Christsein voraussetzenden Gemeindeunterweisung Röm 12, vgl. Burkhardt, Christlich leben, 302–305; ders., Bessere Gerechtigkeit, 17– 24 und 28–117.
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Paulus spricht im Blick auf seine Seelsorge an der korinthischen Gemeinde von der gegebenenfalls nötigen Betrübnis zur Reue (μετάνοια, 2Kor 7,9f). Ein weiteres wichtiges Beispiel sind die prophetischen Mahnreden zur Umkehr in den sieben Sendschreiben der Apk (2–3). Dabei ist auffallend, dass auch Gemeinden, die zunächst sehr gelobt werden, doch zur Umkehr gerufen werden müssen („Ich weiß deine Werke und deine Arbeit und deine Geduld und dass du die Bösen nicht ertragen kannst […]. Aber ich habe wider dich, dass du die erste Liebe verlassen hast. Gedenke, wovon du gefallen bist und kehre um“ [Off 2,2.4f]). D. h.: angesichts der auch im Leben des Christen ständig wiederkehrenden Sünde ist die Bereitschaft zur Umkehr ein Wesensmerkmal christlicher Existenz. Das kommt nicht zuletzt darin zum Ausdruck, dass Jesus im Vaterunser seine Jünger lehrt, wie um das täglich nötige Brot, so auch um die täglich neu nötige Vergebung zu bitten (Mt 6,11f/Lk 11,3f). Ebenso ist das ganze christliche Leben in Konsequenz der Wiedergeburt geprägt von ständiger Erneuerung des Sinnes (ἀνακαίνωσις τοῦ νοός, Röm 12,2).
5.
Systematisch-theologische Deutung der biblisch bezeugten Verheißung und Wirklichkeit der Umkehr42
5.1 Biblische Anthropologie geht von der Erkenntnis aus, dass der Mensch Person ist. Als solcher ist er auf eine personale Beziehung zu Gott hin geschaffen. Das bezeugt nicht nur der – wenn auch rein statistisch relativ seltene – Begriff der Gottebenbildlichkeit des Menschen,43 sondern vor allem die Tatsache, dass Gott in der Bibel durchgehend bezeugt wird als der den Menschen in Verheißung und Gebot Anredende und der Mensch als zur Antwort in Vertrauen und Gehorsam Berufener.44 5.2 Im Widerspruch zu dieser Bestimmung des Menschen zeigt sich jedoch im Alten Testament von Anfang an (Gen 3; 4; 6; 11) seine Sündhaftigkeit, in der er versucht, sich dieser Bestimmung zu entziehen. Sie wird in ihrer Radikalität besonders eindringlich erkennbar in der Botschaft der Propheten, die sie nicht nur im konkreten unrechten Tun bis hin zum Abfall von Gott zu fremden Göttern aufdeckt, sondern vor allem in der Verweigerung der angebotenen Umkehr. Weder Mahnungen der Propheten noch die Gerichte, die Gott über das Volk 42 Aus Raumgründen kann hier leider auf die Entwicklung des Verständnisses von Umkehr und Neugeburt in der Geschichte der Kirche nicht eingegangen werden; vgl. dazu Burkhardt, Christwerden, 57–101.134–139; zur aktuellen kirchlichen Diskussion, 9–16; vgl. auch Burkhardt, Wiedergeburt bei Spener. 43 Zu seiner systematisch-theologischen Bedeutung vgl. Burkhardt, Einführung, 64–76. 44 Wolff, Anthropologie, 234.
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kommen lässt, vermögen eine Änderung zu bewirken. Dieses Gebundensein der Menschen in Israel an die Sünde ist paradigmatisch für die Gebundenheit des Menschen schlechthin an die Sünde, wie sie dann auch im Neuen Testament als universale Tatsache bezeugt wird (vgl. Mt 7,11; 15,18f; vgl. Röm 1–2; 3,9). Dabei ist „Sünde“ in ihrer letzten Zuspitzung verstanden als Feindschaft gegen Gott (Röm 5,10), bis hin auch hier zum Wort von der dem Menschen aus sich heraus unmöglichen radikalen Umkehr zu Gott (Mt 19,18). Das aber heißt: in der Notwendigkeit und doch zugleich Unmöglichkeit der Umkehr handelt es sich wesentlich um ein ethisches Problem – „ethisch“ dabei nicht nur verstanden als zwischenmenschliche Beziehungen betreffend, sondern primär die Beziehung zu Gott. 5.3 Angesichts der menschlichen Unmöglichkeit zu wahrer Umkehr zu Gott kündigte alttestamentliche Prophetie an, dass Gott selbst in der letzten Zeit eine solche Umkehr schaffen werde. Als Jesus mit der Botschaft auftrat: „Kehrt um“, setzte er, anders als alle Propheten vor ihm, mit dem Nachsatz „denn die Himmelsherrschaft ist nahe“ voraus, dass jetzt, mit seinem Kommen und seinem Weg bis hin zu Kreuz und Auferstehung, die von den Propheten im Namen Gottes angekündigte Zeit der Umkehr gekommen ist. Diese Erfüllung eschatologischer Verheißung ist als solche genauso bleibend gültig wie die sie begründende Hingabe Jesu als „Lamm Gottes“ für die Sünde der Welt und der in seinem Blut geschlossene „Neue Bund“ zur Vergebung der Sünden. Was Bekehrung bedeutet, ist also nur im diesem heilsgeschichtlichen Kontext angemessen zu verstehen.45 5.4 Als Erfüllung der Verheißung ist diese Umkehr eine grundlegende Wende im Leben eines Menschen und damit ein jeweils einmaliges Ereignis. Als solches ist sie im Neuen Testament einhellig bezeugt. Heute gilt dagegen in der Theologie fast allgemein, dass, sofern man überhaupt von einem Christwerden spricht, dieses ein lebenslanger Prozess ist, während die Annahme eines Anfangs christlichen Lebens in einer je einmaligen Umkehr oder Bekehrung bzw. Wiedergeburt als höchst problematische pietistische Sonderlehre angesehen wird. Ein solches Verständnis der Umkehr verleite zu diskriminierendem Verhalten der „Bekehrten“ gegenüber „Nichtbekehrten“.46 Weniger umstritten ist nur die Verwendung des offenbar neutraler wirkenden entsprechenden Fremdworts Konversion als Bezeichnung für den Wechsel von einer Religion zu einer anderen, 45 Für Kant, der den Begriff der Wiedergeburt in seiner Moralphilosophie als Beschreibung der Wende von eudämonistischer Ethik zur Pflichtethik positiv aufnimmt, ist bezeichnend, dass er diesen heilsgeschichtlichen Zusammenhang ausdrücklich ausblendet; vgl. Burkhardt, Christwerden 74.76; Schoberth, Zur Welt kommen, 153. 46 Wagner, Bekehrung, 471,15–17; vgl. Bernhardt, Wiedergeburt, 1284–1289; Schoberth, Zur Welt kommen, 156.
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oder auch für den innerchristlichen Wechsel von einer Konfession zu einer anderen. Bekehrung bzw. Konversion wird hier zu einem rein soziologischen Begriff.47 Man sollte aber den christlichen Begriff der Bekehrung nicht auf seine mögliche soziologische Funktion reduzieren und den Gedanken der Bekehrung als einmalige Umkehr nur bei diesem Sprachgebrauch als berechtigt anerkennen. Jesus jedenfalls richtete seinen Ruf zur Umkehr primär an seine Mitisraeliten (Mt 15,24–27/Mk 7,27) und hatte dabei keinen Religionswechsel im Sinn. Ebenso war es bei den Aposteln, wenn sie in ihrer Predigt Juden zur Umkehr riefen. Dabei ist biblische Wendeterminologie nicht nur inhaltlich in ihrem unabdingbaren Bezug auf Christus, sondern auch formal spezifisch christlich. Denn sicher gibt es auch in anderen Religionen besondere, tief in das Leben eingreifende religiöse Erfahrungen. Aber sie werden, wie etwa in der Erleuchtung, die Buddha widerfuhr, nur besonders begabten Persönlichkeiten, „Heiligen“ oder „religiösen Genies“ zuteil, während zur Umkehr im biblischen Sinn jedermann aufgefordert ist (Apg 17,30). Sie ist für das Christsein schlechthin konstitutiv. Dies Verständnis von Umkehr ist alles andere als diskriminierend. Es ist geprägt von Solidarität mit dem (noch) nicht glaubenden Mitmenschen, der man selber war, und von Dankbarkeit für die in der eigenen Umkehr geschenkte und jedermann angebotene neue Beziehung zu Gott. Auch bedeutet die Einmaligkeit der Bekehrung keineswegs, dass sie unbedingt als genau datierbares Ereignis zu denken ist. Wie die Wende sich konkret vollzieht, ist abhängig von individuellen psychologischen Gegebenheiten und Lebensumständen wie christlicher oder säkularer Sozialisation. Die verschiedenen Begriffe der Wendeterminologie stehen nicht in Konkurrenz zueinander, sind aber auch nicht in einem Schema aufeinanderfolgender Erfahrungen zu systematisieren. Vielmehr beschreiben sie nur als sich ergänzende unterschiedliche Aspekte das eine Ereignis der Begründung christlichen Lebens. Die Wende kann plötzlich erfolgen, kann sich aber auch über einen längeren Zeitraum hinziehen. Festzuhalten ist nur: Es sollte in jedem Menschenleben zu einer im biblischen Sinn als Bekehrung zu beschreibenden Wende kommen: weg vom Unglauben oder auch unschlüssigem Schwanken zwischen Glaube und Unglaube hin zu entschlossenem – wenn auch durchaus immer wieder angefochtenem – Glauben an Jesus Christus. Es ist nicht nötig, dass jemand weiß, wann diese Wende sich in seinem Leben vollzog. Aber es kommt durchaus darauf an, dass jemandem irgendwann klar wird und er von ganzem Herzen bekennen kann: ich gehöre nicht mehr mir, sondern Jesus Christus als meinem Herrn (Röm 10,9–13). „Die Wendung kann ganz im Verborgenen geschehen, sie kann sich in plötzlicher
47 So spricht etwa Frend, Bekehrung, 443,34 von dem äthiopischen Eunuchen und dem Centurio Cornelius als „ersten nichtjüdischen Konvertiten“.
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Umkehr zutragen. Und doch ist zu sagen: Die Wendung, jemand sei ‚immer in seinem Kinderglauben geblieben‘, wird kaum richtig sein“.48 5.5 Wodurch es zur Umkehr kommt, wird im Neuen Testament auf vielfältige Weise und in unterschiedlichen Begriffen beschrieben. Gemeinsam aber bringen sie, in unterschiedlicher Akzentsetzung, zum Ausdruck, dass Gott es ist, der das Neue schafft, dies aber so tut, dass er dabei den ganzen Menschen in dies erneuernde Tun hineinnimmt. So berichten die Evangelien, dass die Bereitschaft und der Entschluss zur Umkehr geweckt wird durch das vollmächtige Wort Jesu (Joh 6,68: „Du hast Worte ewigen Lebens“). Diese Vollmacht Jesu beruht darin, dass er nichts will, als was der Vater ihn tun heißt (Joh 4,14) und so in seinem ganzen Leben und Wirken, bis hin zum Tod am Kreuz seiner Sendung von Gott her entspricht, „das Verlorene zu retten“ (Lk 5,32), d. h. zu Gott zurückzuführen. Die Annahme des Wortes in der Umkehr wird als „Glaube“ beschrieben. „Also hat Gott die Welt geliebt, dass er seinen eingeborenen Sohn gab, damit alle, die an ihn glauben, nicht verloren werden, sondern das ewige Leben haben“ (Joh 3,16). „Glauben“ ist Tun des Menschen: Vorbehaltloses Vertrauen in das ihm gesagte Wort. Dieses Wort aber ist „Geist und Leben“ (Joh 6,63). Von daher kann gesagt werden, dass der dem Wort von Christus vertrauende und aus dem Verlorengehen rettende Glaube ein von Gottes Geist gewirktes Geschehen ist, eine „Geburt von oben“ (Joh 3) oder „Wiedergeburt“ (Tit 3; 1Petr 1). Die so entstehende neue Beziehung beschreibt das Neue Testament als ein das frühere Knechtsschaftsverhältnis ablösendes Kindschaftsverhältnis (Röm 8,14–16), als Gotteskindschaft.49 Die Neuheit dieses Lebens wird auch dadurch zum Ausdruck gebracht, dass sie als „neue Schöpfung“ bezeichnet wird. Darin ist der Gedanke enthalten, dass in ihr nicht an etwas in menschlicher Frömmigkeit Vorhandenes angeknüpft wird, sondern gleichsam als creatio ex nihilo (d. h. auf dem Hintergrund der Sündigkeit des Menschen bzw. seines Totseins für Gott) aus dem, was nicht ist (Röm 4,17), Neues geschaffen wird. Schließlich: sofern in der Bekehrung erstmalig im Leben eines Menschen sich Rechtfertigung aus Glauben und zugleich auch Heiligung ereignet, kann Christsein auch als gerechtfertigt sein (Röm 5,1) und heilig sein (1Kor 6,11) charakterisiert werden. Gott wirkt so die Umkehr. Aber indem er die Umkehr wirkt, ist sie doch ein – von Gott geschenktes – Tun des Menschen. Gott wirkt das Wollen und Voll-
48 Schniewind, Bekehrung, 19. 49 Burkhardt, Gotteskindschaft, 808f.
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bringen – aber eben unser Wollen und Vollbringen (Phil 2,13).50 Deshalb ist der (in der Form des Imperativs verkündete) Ruf zur Umkehr in Verkündigung und Seelsorge theologisch durchaus legitim. Er ist nicht Aufforderung zu menschlicher Anstrengung, sondern Einladung zur Rückkehr zum Vater (Lk 15) und damit Freudenbotschaft. Auch das neue Leben, das in der Umkehr begonnen hat, ist nicht mühsam hervorgebrachte fromme Leistung, sondern, als Frucht der Umkehr, Ausdruck des in der Umkehr geweckten inneren Verlangens, die Nähe Gottes zu suchen und nach seinem Willen zu fragen. So ist auch das Bleiben im Glauben nicht zuerst unsere Sache. Zwar werden wir zum Bleiben im Glauben aufgefordert. Trotzdem hat es seinen Grund letztlich nicht in menschlicher Treue. Vielmehr ist die bleibende Kontinuität christlichen Lebens begründet in der Treue Gottes, der „das gute Werk, das er in euch angefangen hat, auch ans Ziel bringen wird bis an den Tag Christi Jesu“ (Phil 1,6), in welcher Treue er auch den nach der grundlegenden Umkehr immer wieder Versagenden und darin Untreuen (2Tim 2,13) in seine Gemeinschaft zurückruft (vgl. unten 5.7). 5.6 Die grundlegende Umkehr bedeutet nicht eine substanzielle Verwandlung des Menschen in sich.51 Sie ist vielmehr eine Erneuerung seiner Beziehung zu Gott. Die bisherige Beziehung war vonseiten des Menschen gekennzeichnet durch seine aus seinem Autonomiestreben erwachsende Feindschaft gegen Gott. Die neue Beziehung ist, als Antwort des Menschen auf die seine Feindschaft überwindende Liebe Gottes in Christus, eine von der dadurch in ihm erweckten Liebe zu Gott geprägte versöhnte Beziehung. In der Konsequenz bedeutet dies konkret, dass der Mensch in der Umkehr eine entschlossene Abkehr von allem vollzieht, was in seinem Leben bisher die Wahrheit Gottes missachtete und seinem Willen widersprach. Dieser Prozess ist ein Prozess des Sterbens des „alten“ Menschen und seines Lebensprogramms, in dem er selbst im Mittelpunkt stand und sich darin zum „Gott“ machte. Zugleich ist sie eine ebenso entschlossene Hinkehr zu Gott und seinem Willen. Dieser hat jetzt in allen Fragen des Lebens die unbedingte Priorität. „Niemand kann zwei Herren dienen […]. Trachtet zuerst nach dem Reich Gottes und seiner Gerechtigkeit“ (Mt 6, 24.33; vgl. 5,20).
50 Vgl. dazu auch Schlatters Kritik an einer Neigung protestantischer Theologie zur Lehre von einer „passiven Bekehrung“, Schlatter, Dienst des Christen, 22–26. 51 Zur Auseinandersetzung um diese Frage in der Gemeinschaftsbewegung zu Anfang des 20. Jahrhunderts vgl. Burkhardt, Christwerden, 96–98.
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5.7 In der theologischen Diskussion erregt immer wieder Anstoß der sog. Individualismus, der mit den Begriffen Wiedergeburt und Bekehrung verbunden sei.52 Tatsächlich ist in der alttestamentlichen Prophetie vorwiegend das Volk Israel als ganzes oder in seinen Teilstaaten Adressat des Rufes zur Umkehr. Noch Jesus spricht von der Umkehr ganzer Städte.53 Aber keineswegs erst im Pietismus wird der Fokus der Umkehrpredigt auf das Individuum gelegt. So zeigt sich etwa bei Jer eine „individualisierende Tendenz“. Bei ihm wird „erstmalig in Sachen der Umkehr der einzelne angeredet“, „pauschale Bekehrungen“ können nicht „die aufrichtige Umkehr zu Jahwe sein“, auf die es in seiner Botschaft doch ankommt.54 Das zeigt gerade auch Jer 31: einerseits mit der Warnung, dass „ein jeder“ um seiner Schuld willen sterben werde (V. 30), andererseits mit der Ankündigung des neuen Bundes, in dem Gottes Wille in das Herz (!) des Einzelnen gegeben werden soll (V. 31.33). Diese Tendenz wird im Neuen Testament zur Selbstverständlichkeit. Die Botschaft Jesu wie der Apostel wendet sich immer an Einzelne. Er ist nicht gekommen, die Welt als Kollektiv zu retten, sondern Einzelne in ihr, die an ihn glauben (Joh 3,16). Andererseits ist der Einzelne nie nur isoliert als Einzelner gesehen. So führt die Gotteskindschaft, die die angeblich nur vereinzelnde Wiedergeburt mit sich bringt, in die Gemeinschaft der Gotteskinder, der Kirche (1Joh 5,1–2). Und auch sie bleiben nicht einfach nur unter sich, sondern Paulus fordert sie auf, Gutes zu tun zunächst durchaus den „Glaubensgenossen“, aber ebenso auch „jedermann“ (Gal 6,9f). Dieses „Gute“ kann, ja soll nicht nur missionarisches Zeugnis, sondern auch soziale Verantwortung für gesellschaftliche Entwicklung zum Guten hin einschließen. Solche Entwicklung aber ist nicht „Bekehrung“ der Gesellschaft und ihrer Strukturen, so weitreichende Veränderung zum Guten hin sie auch haben mag. Vielmehr ist sie gesellschaftlich sich auswirkende Frucht der Bekehrung und individuellen Erneuerung einzelner von Gott her.55 Gottes Ziel ist universal – Gottes Weg aber ist partikular.56 5.8 Die Bekehrung ist der Anfang, aber eben doch nur der Anfang christlichen Lebens, der in ihm seine Fortsetzung haben muss. 52 Wagner, Bekehrung, 478,20f; Hofheinz, Wiedergeburt, 58 spricht von „Heilsindividualisierung“ als der Gefahr, dass „die Welt samt der noch ausstehenden Neuschöpfung von Himmel und Erde aus dem Blick zu geraten droht“. 53 Mt 11,20f/Lk 10,13; vgl. Jesu Klage über Jerusalem Mt 23,37/Lk 13,34f. 54 Wolff, Umkehr, 146. 55 Vgl. Bockmühl, Konkrete Umkehr, 312: „Biblisch unterrichteter Glaube […] besteht auf der Zentralität der sittlichen Änderung der Menschen“, aus der dann Änderung der Strukturen folgen kann. 56 „Denn Gott kommt nicht durch die Masse zum einzelnen; er vermag es, durch die einzelnen zum Ganzen zu kommen“, Kähler, Heilsgewissheit, 29.
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„Jede plötzliche Bekehrung [… ist] das Lernen einer Haltung, die nun aber geübt sein will, täglich und stündlich, das Begreifen einer Wendung, die nun im ‚Wandeln‘ geübt sein will; der erste Schritt, dem jeweilig neue Schritte folgen auf dieser Bahn bis ans Ziel“.57
Alle Begriffe der Wendeterminologie finden hier ihre Anwendung, insbesondere der der Umkehr. Solche Umkehr geschieht täglich neu in steter Bereitschaft, eigenes Unrecht einzugestehen, Vergebung zu erbitten und anzunehmen, Versöhnung zu gewähren und so der Liebe Gottes in unserem Leben neu Raum zu geben (Röm 5,5). Die Bekehrung ist Grunddatum („-datum“ im Sinne von Gegebenheit), die Bereitschaft zu ständig neuer Umkehr aber eine Grundstruktur christlichen Lebens und damit auch christlicher Spiritualität.
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Dritter Teil: Der dritte Artikel. Von der Heiligung
Gregor Etzelmüller
Die Bedeutung des Heiligen Geistes für die evangelische Spiritualität
Geist und Spiritualität gehören schon begrifflich zusammen. Das Adjektiv „spiritalis (spiritualis)“ ist in der Vulgata Übersetzung für das griechische pneumatikós und bedeutet „den Geist betreffend, geistig, geistlich“,1 Spirituelle Menschen sind nach Irenäus von Lyon solche, die „den Geist des Vaters haben, der den Menschen reinigt und zum Leben Gottes emporhebt“.2 Kennzeichen evangelischer Spiritualität ist es, dass sie den Heiligen Geist konsequent mit dem Wort Gottes zusammendenkt. Reformatorische Frömmigkeit bleibt dabei, „daß Gott niemand seinen Geist oder Gnade gibt ohn durch oder mit dem vorgehend äußerlichen Wort, damit wir uns bewahren fur den Enthusiasten, das ist Geistern, so sich rühmen, ohn und vor dem Wort den Geist zu haben, und darnach Schrift oder mündlich Wort richten“.3
Der Geist wirkt durch die ausgelegte Schrift – und erweist sich darin als Geist Jesu Christi, der konsequent auf das eine Wort Gottes, Jesus Christus, verweist. Evangelische Spiritualität ist folglich eine geistliche Lebensform, in der Menschen in die durch Gottes Geist erschlossene Fülle des Lebens Jesu hineinwachsen. Im Folgenden soll deshalb zunächst der Zusammenhang von Geist und Wort in seiner Bedeutung für die evangelische Spiritualität dargestellt werden. In einem zweiten Schritt soll darauf aufbauend evangelische Spiritualität als Hineinwachsen in die geistlich erschlossene Fülle des Lebens Jesu rekonstruiert werden.
1 Vgl. Dahlgrün, Spiritualität, 115. 2 Irenäus, Adversus Haereses V,9,2 (Übersetzung nach Fontes Christiani 8/5, 77). 3 Bekenntnisschriften der evangelisch-lutherischen Kirche (BSLK), 453,17–454,3; Vgl. dazu die ausgewogene Darstellung bei Welker, Wort; Ringleben, Gott, 485–536.
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1.
Gregor Etzelmüller
Die wechselseitige Erschließung von Geist und Wort als Basis evangelischer Spiritualität4
Das Wort des johanneischen Jesus: „Der Geist ist es, der lebendig macht, das Fleisch vermag nichts. Die Worte, die ich zu euch geredet habe, sind Geist und sind Leben“ (Joh 6,63) führt ins Zentrum evangelischer Spiritualität. Deutlich klingt im zweiten Satz die von allen Reformatoren vollzogene Konzentration des geistlichen Lebens auf das Wort an. Dabei wird deutlich: Das Wort ereignet sich in mündlicher Verkündigung, es ist gepredigtes, nicht geschriebenes Wort. Weil evangelische Spiritualität das gepredigte Wort sucht, deshalb hält sie sich zur Gemeinde. Bedenkt man den Kontext der Stelle, die Brotrede Jesu in Joh 6, wird auch der Inhalt des Wortes deutlich: die Hingabe Jesu zugunsten der Welt. Evangelische Spiritualität lebt davon, dass Christus sich den Seinen als Brot des Lebens schenkt.
1.1.
Exegetische Beobachtungen
Exegetisch stellt sich im Blick auf Joh 6,63 die Frage, warum es von dem Fleisch, von dem zuvor in Joh 6 als dem für die Welt dahingegebenen Fleisch Jesu gesprochen war (vgl. Joh 1,14), nun heißen kann, dass dieses nichts nütze. Hält man an der Kohärenz des Textes fest, wird man sagen müssen: Fleisch und Leben Jesu bleiben nutzlos, sofern der Heilige Geist nicht Menschen in die Wahrheit führt und so dazu bewegt, sich das Fleisch und Blut Christi geistlich einzuverleiben: „Wenn ihr nicht das Fleisch des Menschensohnes verzehrt und mein Blut trinkt, habt ihr kein Leben in euch.“ (6,53). Das Fleisch Jesu, sein Leben, wirkt Leben nur dort, wo es durch den Geist Gottes erschlossen und aufgenommen wird. Wie aber kommen Menschen dazu, sich auf das Leben Jesu einzulassen und es sich einzuverleiben? Joh 6,63 gibt darauf eine zweifache Antwort: zum einen durch den Geist, zum anderen durch das Wort. Dass der Geist zunächst als Subjekt, dann als Prädikatsnomen fungiert, verweist auf die wechselseitige Verwiesenheit von Wort und Geist, wie sie auch die erzählte Situation in Joh 6 verdeutlicht: Jesu Worte finden nicht bei allen Glauben. Das menschliche Wort der Verkündigung vermag nicht alle zu überzeugen. Nach seiner Rede ziehen sich viele der Jünger Jesu zurück (6,66). Um Glauben zu finden, muss der Geist Gottes der Schwachheit der mündlichen Verkündigung aufhelfen. Deshalb verweist Christus die Jünger nach seiner Rede auf seine Himmelfahrt (6,62), denn diese ist nach dem Johannesevangelium Voraussetzung des Kommens des Parakleten, des 4 Das Folgende greift Einsichten auf aus Etzelmüller, Worte.
Die Bedeutung des Heiligen Geistes für die evangelische Spiritualität
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Heiligen Geistes (vgl. 7,39; 14,16; 16,7).5 Doch der verheißene Paraklet führt die Jünger gerade so in alle Wahrheit (16,13), dass er sie an alles erinnert, was Christus gesagt hat (14,26). Er redet „nicht aus sich selbst“, sondern verherrlicht allein Christus (16,13f). Das Wort ist, um Glauben zu finden, auf die Kraft des Geistes angewiesen – der Geist aber ist ganz auf das Wort, auf Jesus Christus, konzentriert. Wem im Heiligen Geist die Worte Jesu erschlossen werden, sodass er in ihnen Christus als Brot des Lebens ergreift, der gewinnt Anteil am Leben Jesu und deshalb am ewigen Leben. Denn ewig ist dasjenige Leben, das sich nicht dem natürlichen Kreislauf von Fressen und Gefressen-Werden einfügt, sondern diesen Kreislauf in der Hingabe des Lebens durchbricht (vgl. 12,25). Deshalb wächst aus der Hingabe des Lebens Jesu neues Leben (12,24) – und deshalb gibt der johanneische Christus den Seinen nur ein einziges Gebot, nämlich „dass ihr einander liebt. Wie ich euch geliebt habe, so sollt ihr auch einander lieben“ (13,34).
1.2.
Umstellung von Kult auf Kommunikation
Die sich in Joh 6,63 ausdrückende Hochschätzung des Wortes gewinnt durch die Reformation welt-, kirchen- und mentalitätsgeschichtliche Resonanz. Gegenüber den weitverbreiteten Stillmessen ihrer Zeit stellen die Reformatoren „von Kult auf Kommunikation“ um.6 Nicht durch kultisches Handeln, sondern durch die Verkündigung des Wortes Gottes soll die Gegenwart mit der Geschichte Jesu Christi verbunden werden. Im Licht von Joh 6 wird man im Blick auf diese Konzentration des gottesdienstlichen Lebens auf das Wort dreierlei betonen müssen. Erstens: Es geht den Reformatoren um das mündliche Wort der Verkündigung. Ohne ihre Auslegung bleibt die Schrift als geschriebenes Wort toter Buchstabe. Denn nur in der Predigt erfährt der Glaube die alten Worte als ihm gegenwärtig zugesprochen. Deshalb gilt für die Reformatoren: Wenn die biblischen Lesungen nicht ausgelegt werden, dann bleibt „Gottis wort geschwygen“.7 Es ist die gegenwärtige Verkündigung, die den garstigen Graben der Geschichte überbrückt, indem sie die Hörer in das Wort Gottes verstrickt – oder anders ausgedrückt: indem sie die Vergangenheit Jesu und die Gegenwart der Hörerinnen und Hörer so zusammenspricht, dass die Hörer in die Gegenwart Christi versetzt werden.8 5 6 7 8
Vgl. Thyen, Johannesevangelium, 377f. Luhmann, Funktion, 111; vgl. Dinkel, Gottesdienst, 98; Kunz, Gottesdienst, 94f. WA 12,35. Vgl. Rolf, Herzen, 296–300. 326–363.
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Zweitens: Die Verkündigung zielt auf die Christusbegegnung. In, mit und unter den Worten der Predigerin, die jene Worte, die Christus einst zu seinen Jüngern sprach, auslegt, soll der Hörer die Worte Christi selbst hören. Deshalb bittet die evangelische Predigt darum und vertraut darauf, dass Christus selbst sich zu ihr bekennt: „Du hast recht geleret, Denn ich hab durch dich geredt, und das wort ist mein“.9 Drittens: Indem das Johannesevangelium am Ende der Brotrede festhält: „Das sagte Jesus in der Synagoge, als er in Kafarnaum lehrte“ (6,59), wird deutlich, wo die Verkündigung ihren Sitz im Leben hat: in der gottesdienstlichen Versammlung. Indem die Reformation den Glauben an die Predigt bindet, bindet sie ihn zugleich in den öffentlichen Leib der Gemeinde ein. In diesem Sinne ist die Rede von der Verinnerlichung der Frömmigkeit durch die Reformation nicht zutreffend. Die Gemeinde stützt und stärkt den Glauben. Der Glaube wird im Gottesdienst nicht nur unmittelbar durch die Verkündigung gestärkt, sondern auch mittelbar durch die auf das Wort hörende Gemeinde.10 Indem Menschen zum Gottesdienst kommen, bekunden sie einander wechselseitig, dass sie Gottes Wort suchen, weil sie von ihm her leben, und stärken damit wechselseitig ihren Glauben. „Viele von uns können allein nicht mehr beten, aber mit anderen zusammen haben sie noch Sprache. […] Ich kann meinen halben Glauben mit der Sprache und den Liedern meiner toten und lebenden Geschwister maskieren. Auch das ist eine Weise, den Glauben zu lernen: ihn den Geschwistern vom Munde abzulesen. Man lernt auch von außen nach innen“.11
Reformatorische Spiritualität ist keineswegs die verinnerlichte Frömmigkeit eines isolierten Individuums. Zwar gibt es im Protestantismus auch Formen intimer Frömmigkeit, vor allem das private Studium der Schrift, aber evangelische Frömmigkeit sucht vor allem die Christusbegegnung in der Verkündigung und d. h. in der Gemeinde.12
9 10 11 12
WA 51,517. Vgl. Schleiermacher, Werth, 194f; Dinkel, Gottesdienst, 103f, 191f; Harms, Glauben, 204–206. Steffensky, Charme, 21. Zu Recht betont Dahlgrün schon auf Seite 1 ihres Studienbuchs zur Christlichen Spiritualität: „Christliche Spiritualität ist seit jeher nicht ohne Gemeinschaft zu denken, vielmehr ist sie aus ihr erwachsen. Bei der heute oft anzutreffenden Verwendung des Begriffs wird dieses Moment meist übersehen; damit wird der Begriff jedoch unzulässig verkürzt verwendet“; vgl. auch Zimmerling, Spiritualität, 36–39.
Die Bedeutung des Heiligen Geistes für die evangelische Spiritualität
1.3.
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Grenzen und Aufbrüche evangelischer Spiritualität
Im Licht von Joh 6,63 lassen sich auch Grenzen und nötige Neuaufbrüche evangelischer Spiritualität erkennen. Die Konzentration der christlichen Spiritualität auf das Wort droht die sinnliche Wahrnehmung des Menschen auf den Hörsinn zu reduzieren. Im Vergleich mit anderen Konfessionen fällt auf, wie wenig es im evangelischen – im reformierten noch stärker als im lutherischen – Gottesdienst zu sehen, zu spüren und zu schmecken gibt. Der Protestantismus hat im 20. Jahrhundert dieser Reduktion des liturgischen Lebens entgegenzuwirken versucht und dabei auch von anderen Konfessionen gelernt: Das Abendmahl wird wieder häufiger gefeiert, der Friedensgruß nicht nur verkündet, sondern auch ausgetauscht, auch Salbungsgottesdienste gehören heute zum liturgischen Repertoire evangelischer Kirchen. Im sechsten Gottesdienstkriterium des Evangelischen Gottesdienstbuches heißt es: „Die Hochschätzung der Predigt ist ein besonderes Merkmal der evangelischen Kirchen; sie darf jedoch nicht dazu führen, dass der Gottesdienst einseitig intellektuell bestimmt wird“, denn liturgisches „Handeln und Verhalten bezieht den ganzen Menschen ein“.13
Im Anschluss an Joh 6 hat der Protestantismus zudem eine Hierarchisierung der biblischen Schriften vorgenommen und sich in Theologie und Frömmigkeit vor allem am Johannesevangelium und den Briefen des Paulus orientiert. Luther zog das Johannesevangelium als „das eynige zartte recht hewbt Euangelion“ den Synoptikern vor, weil es „gar wenig werck von Christo, aber gar viel seyner predigt“ beschreibt. Ausdrücklich bezog er sich dabei auf Joh 6,63: „Denn die werck hulffen myr nichts, aber seyne wort die geben das leben, wie er selbs sagt“.14 Als Folge dieser Ausblendung des Lebens Jesu hat man in evangelischer Theologie und Frömmigkeit oftmals das Kreuz vom Leben Jesu gelöst – und so dazu beigetragen, dass heute die Kreuzestheologie vielen Menschen kaum mehr etwas sagt. Um das Kreuz zu begreifen, muss man es als Konsequenz des Lebens Jesu verstehen. Weil Jesus sich den gesellschaftlich Ausgegrenzten (den Zöllnern und Prostituierten gleichermaßen) zuwendet, erfährt er die Feindschaft der Machthaber, deren Macht auf Ausgrenzung beruht. Indem der Sohn Gottes Gemeinschaft mit den Menschen sucht und diese dort aufsucht, wo sie ihr Leben unter der Macht der Sünde führen, nimmt er das Risiko auf sich, von diesen Menschen verstoßen und gekreuzigt zu werden.15 Jesus Christus aber bleibt seiner Sendung zu den Menschen bis zum Äußersten, bis zum Tod am Kreuz, treu. Um dem menschgewordenen, gekreuzigten und auferstandenen Christus
13 Evangelisches Gottesdienstbuch, 16. 14 WA DB 6,10. 15 Vgl. Thomas, Kreuz.
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zu begegnen und ihn zu verstehen, brauchen wir neben den neutestamentlichen Briefen auch die Evangelien – und neben Johannes auch die Synoptiker (und selbstverständlich auch das Alte Testament). Mit ihrer Konzentration auf Johannes und Paulus, aber auch das Wort vom Kreuz, steht evangelische Frömmigkeit in der Gefahr, der Fülle des Lebens Christi nicht gewahr zu werden. Man wird diese Einsicht auch in der Auslegung von Joh 6 geltend machen müssen: Wir sollten, anders als in protestantischer Auslegung üblich, „das Fleisch des Menschensohnes und sein Blut“ (6,53) im Sinne von Joh 1,14 auf das ganze Leben Jesu beziehen. In der geistlichen Einverleibung des Leibes Christi geht es darum, dass Menschen Anteil bekommen an der Fülle des Lebens Jesu (seinem Fleisch) in seiner Lebendigkeit (seinem Blut; vgl. Lev 17,11). Im Licht von Joh 6 wäre evangelische Frömmigkeit dann als ein Hineinwachsen in die lebendige Fülle des Lebens Jesu zu verstehen, das dadurch möglich wird, dass sich dieses Leben in Wort und Geist Menschen erschließt und diese für sich gewinnt. 1.4.
Wollt ihr auch gehen?
In Joh 6,66 klingt eine Erfahrung an, die die reformatorischen Kirchen in Europa auch gegenwärtig machen: „Von da an wandten sich viele seiner Jünger von ihm ab, gingen weg und wandelten fortan nicht mehr mit ihm“. Der Vers sollte nicht dazu verleiten, sich mit solchen Abwanderungsprozessen einfach abzufinden, sie sollten gründlich reflektiert werden. Das Johannesevangelium macht aber dem gegenwärtigen Protestantismus Mut, in aller notwendigen Veränderung nicht das aufzugeben, was evangelische Spiritualität ausmacht. Als Jesus seine Jünger fragt: „Wollt ihr auch gehen?“, antwortete Petrus stellvertretend: „Herr, zu wem sollten wir gehen? Du hast Worte des ewigen Lebens“ (Joh 6,67f). Menschen bleiben evangelisch um des Wortes Gottes willen.
2.
Evangelische Spiritualität als Hineinwachsen in die geistlich erschlossene Fülle des Lebens Jesu
Evangelische Frömmigkeit lässt sich als ein Hineinwachsen in die durch Wort und Geist erschlossene lebendige Fülle des Lebens Jesu verstehen. Dass Geist und Wort reformatorisch zusammengehören, dass der Geist Gottes der Geist Jesu ist, bindet evangelische Spiritualität an das Leben Jesu zurück. Evangelische Spiritualität ist eine Frömmigkeit, die sich durch das eine Wort Gottes, durch Jesus Christus, prägen lassen will. Um zu verstehen, was damit gemeint ist, hilft ein Blick auf die christologische Lehre vom dreifachen Amt Jesu Christi.
Die Bedeutung des Heiligen Geistes für die evangelische Spiritualität
2.1
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Die Lehre vom dreifachen Amt Jesu Christi
Die Lehre vom dreifachen Amt Jesu Christi ist eine spezifisch reformierte Lehrbildung. In systematischer Gestalt begegnet sie erstmals bei Johannes Calvin. Obwohl es sich um eine spezifisch reformierte Lehrbildung handelt, hat sie sich auch in den anderen Konfessionen durchgesetzt. Sie ist zunächst in der lutherischen Dogmatik, im 20. Jahrhundert auch in der katholischen und orthodoxen Theologie rezipiert worden.16 Es ist die Stärke der Lehre vom dreifachen Amt Jesu Christi, dass sie einen Bogen schlägt von Gottes Handeln in Israel über sein Handeln in Jesus Christus bis hin zu seinem gegenwärtigen Handeln im Heiligen Geist. Zum einen bindet die Lehre vom dreifachen Amt Jesus Christus an die Geschichte Israels zurück. Man könnte sagen: Diese Lehre nimmt das Judesein Jesu Christi konsequent ernst. Das Wort ward Fleisch, heißt: Das Wort ward jüdisches Fleisch. Gott selbst tritt ein in die Geschichte Israels. Als Christus tritt der Sohn Gottes in die Geschichte der israelitischen Institutionen ein, er vollendet ihre Funktionen: Er wird Prophet, Priester und König. Zum anderen schlägt die Lehre vom dreifachen Amt einen Bogen bis in die Gegenwart. Indem eine jede und ein jeder Glaubende an der Salbung Christi Anteil erhält, indem eine jede Prophetin, Priesterin und Königin wird, tritt auch sie in die Geschichte Israels und damit in die Geschichte Jesu Christi ein. So zeigt die Lehre vom dreifachen Amt, welchen Gewinn wir Heidenkinder dadurch haben, dass wir durch Jesus Christus in die Geschichte Israels eingeschrieben werden. Wir werden gewürdigt, an Gottes Auseinandersetzung mit der Sünde, die in Israel angehoben hat, teilzunehmen, selbst gegen „Sünde und Teufel“ zu streiten.17 Bereits bei Calvin findet sich die Einsicht, dass Christus das dreifache Amt nicht allein für sich erhalten hat, sondern um die Seinen zu Propheten, Priestern und Königen zu machen. „Christus empfing diese Salbung nicht für sich allein, damit er recht das Amt des Lehrers ausüben könnte, sondern für seinen ganzen Leib (die Gemeinde), damit in der immerwährenden Verkündigung des Evangeliums die Kraft des Geistes sich entsprechend auswirke“.18
Michael Welker hat die Lehre vom dreifachen Amt Jesu Christi deshalb konsequent zu einer Lehre von der dreifachen Gestalt des Reiches Christi ausgebaut.19
16 Vgl. Schlink, Dogmatik, 414. 17 So der Heidelberger Katechismus in seiner Darstellung der Lehre vom dreifachen Amt Jesu Christi und der Seinen in Antwort auf Frage 32. 18 Inst. II, 15, 2. 19 Vgl. Welker, Offenbarung, 195–227.257–292.
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Durch den Heiligen Geist wirkt Christus beständig am Aufbau und Erhalt seines königlichen, prophetischen und priesterlichen Reiches. Die Lehre vom dreifachen Reich Jesu Christi weist eine enge Strukturanalogie zu der paulinischen Rede von den drei bleibenden Geistesgaben: Glaube, Liebe und Hoffnung auf. Der Zusammenhang von Geistbegabung einerseits und der Trias Glaube, Liebe und Hoffnung andererseits begegnet bereits im vermutlich ältesten Paulusbrief, dem 1Thess (vgl. 1Thess 1,2–5). Paulus kennt zwar auch andere Charismen, wie Zungenrede, Prophetie und Heilungen, doch während diese vergänglich sind, werden Glaube, Liebe und Hoffnung auch die eschatologische Existenz des Menschen prägen (vgl. 1Kor 13,13). Für Paulus bringt die Trias Glaube, Liebe, Hoffnung deshalb „das Wesen christlicher Existenz prägnant auf den Begriff“20 (vgl. Röm 5,1–5; 1Thess 5,8). Glaube, Liebe und Hoffnung sind für Paulus die „Grund- und Haupterscheinungsformen des Wandelns im Geiste“.21 Insofern lässt sich mit Sigrid Brandt sagen: das Wirken des Heiligen Geistes zielt auf den Aufbau und Erhalt eines „Kommunikations- und Lebenszusammenhanges, der durch […] ‚Glaube‘, ‚Hoffnung‘ und ‚Liebe‘ etabliert und fortgesetzt wird“.22 Indem Christus durch seinen Geist beständig am Aufbau und Erhalt seines königlichen, prophetischen und priesterlichen Reiches wirkt, schafft der Geist Christi unter den Menschen einen Lebens- und Kommunikationszusammenhang, der durch Glaube, Liebe und Hoffnung geprägt ist. Im Folgenden sollen die drei Gestalten des einen Amtes Jesu Christi biblisch-theologisch so entfaltet werden, dass deutlich wird, wie Christus durch seinen Geist Glaube, Liebe und Hoffnung schenkt und stärkt. Durch die wechselseitige Auslegung der Lehre vom dreifachen Amt Jesu Christi und der paulinischen Rede von den bleibenden Geistesgaben erschließt sich dabei die dreifache Gestalt evangelischer Spiritualität.
2.2.
Das königliche Amt Jesu Christi und die geistgewirkte Liebe
In der altorientalischen Königsideologie wurden dem König der Schutz und die Fürsorge für die Armen und Schwachen zugeschrieben. Er sollte Richter und Retter für die Armen und Schwachen sein. Auch in Israel griff man diese Vorstellung auf. Die Aufgabe des israelitischen Königs bestimmt etwa Ps 72,4 wie folgt: „Er soll den Elenden im Volk Recht schaffen und den Armen helfen und die Bedränger zermalmen“. Der König ist Anwalt derer, die ansonsten keine Stimme 20 Söding, Trias, 11. 21 Wischmeyer, Weg, 158. 22 Brandt, Sünde, 28; vgl. 2–28.
Die Bedeutung des Heiligen Geistes für die evangelische Spiritualität
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haben. Dabei soll nach Ps 72 die Gerechtigkeit des Königs Israels die der anderen Könige in den Schatten stellen. Eben deshalb heißt es: „Alle Könige sollen vor ihm niederfallen und alle Völker ihm dienen. Denn er wird den Armen erretten, der um Hilfe schreit, und den Elenden, der keinen Helfer hat. Er wird gnädig sein den Geringen und Armen und den Armen wird er helfen. Er wird sie aus Bedrückung und Frevel erlösen, und ihr Blut ist wert geachtet vor ihm“ (Ps 72,11–14). Der König Israels steht ein für den Wert eines jeden menschlichen Lebens. Die Lehre vom dreifachen Amt Jesu Christi zeichnet Jesus in diese Erwartung ein. Wir begegnen Jesus als dem königlichen Menschen dort, wo er sich den Armen zuwendet, den Kranken, den Besessenen. Jesus übt sein königliches Amt dort aus, wo er die Armen selig preist – und so ihren Wert und ihre Würde herausstellt.23 Indem er sich den Armen und Kranken zuwendet, indem er die leibliche Gemeinschaft mit ihnen sucht, wirkt er den wirtschaftlichen, rechtlichen und religiösen Ausgrenzungsprozessen entgegen. Es ist in diesem Zusammenhang beachtenswert, dass die Weltgerichtsrede in Mt 25 das Wort: „Was ihr getan habt einem von diesen meinen geringsten Brüdern, das habt ihr mir getan“ als Wort Jesu des Königs versteht. In Mt 25,34 wird der Menschensohn explizit als König bezeichnet – und als König ist Jesus Parteigänger der Armen, der Hungernden, der Fremden, der Beschämten, der Kranken und der Verschuldeten. Insofern erkennen wir das königliche Amt Jesu Christi nicht nur im irdischen Jesus. Der christliche Glaube erwartet diesen königlichen Menschen auch als Kommenden. In der Gegenwart aber regiert der ewige König Jesus Christus durch seinen Heiligen Geist. Der Heilige Geist treibt das königliche Amt Christi, indem er Gemeinden aufbaut, die sich kontinuierlich den Armen und Schwachen zuwenden, die diejenigen, die uns die Schwächsten zu sein scheinen, mit der größten Ehre umkleiden (vgl. 1Kor 12,23). Der Heilige Geist treibt das königliche Amt Jesu Christi, indem er eine Kultur der Wertschätzung eines jeden menschlichen Lebens aufbaut und erhält. Der Heidelberger Katechismus formuliert: Der Heilige Geist treibt das königliche Amt Jesu Christi, indem er Menschen beruft, „mit freiem Gewissen in diesem Leben wider die Sünde und den Teufel“ zu streiten.24 Der Heilige Geist ist da präsent, wo Menschen die Teufelskreisläufe der Ausgrenzung durchbrechen. Die Soziologie beschreibt solche Teufelskreisläufe der Ausgrenzung als Exklusionskarrieren. Der Ausschluss aus dem Wirtschaftssystem, wirtschaftliche Armut, zieht den Ausschluss aus der Kultur nach sich: Wer kein Geld hat, findet keinen Zugang zu Kultur und Bildung, verliert das Interesse an Politik oder wird 23 Bereits Karl Barth hat in seiner Kirchlichen Dogmatik den königlichen Menschen als „Parteigänger der Armen“ zu sehen gelehrt (KD IV/2, 200); vgl. dazu Etzelmüller, Kirche, 175–178. 24 FA 32.
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in manchen Gesellschaften von den politischen Entscheidungen ausgeschlossen. Wer wirtschaftlich nicht potent ist, findet in vielen Regionen dieser Welt keinen Zugang zum Gesundheitssystem – wer seine Gesundheit verliert, verliert wiederum seinen Zugang zum Wirtschaftsystem, zur Arbeitswelt. Solche Exklusionskarrieren sind Teufelskreisläufe, die Menschen krank machen, in Resignation, Gewalt und Tod treiben. Solche Exklusionskarrieren begegnen nicht nur in der sog. Mehrheitswelt, auch in unserer Gesellschaft sind Menschen in solchen Teufelskreisen gefangen.25 Der Geist Jesu Christi wirkt diesen Teufelskreisläufen auf vielfältige, aber beschreibbare Weise entgegen: durch individuelle freie Selbstzurücknahme zugunsten anderer, durch das diakonische Engagement der großen Kirchen, aber auch durch das beständige Wirken zugunsten des Aufbaus und Erhalts eines Rechts- und Sozialstaates. Im Blick auf das königliche Reich Jesu Christi, in dem Christus durch seinen Geist regiert, formuliert Michael Welker: „Eine dankbare Aufmerksamkeit für die großen Potentiale freier, schöpferischer Selbstzurücknahme in Familie, Freundschaft, Bildung, medizinischer Versorgung, zivilgesellschaftlicher und gesellschaftlicher Organisation sollte für die starken direkten und indirekten Prägekräfte des munus regium Christi sensibilisieren“.26
Damit ist eine erste Gestalt evangelischer Spiritualität erschlossen: Evangelische Frömmigkeit ist diakonische Spiritualität. Sie sucht Christus „im bedürftigen Nächsten“ und will dem „obdachlosen Christus ein Zuhause geben“.27 Obwohl einzelne Menschen und bestimmte Gemeinschaften sich besonders dieser Form der Frömmigkeit verbunden fühlen, ist biblisch daran festzuhalten, dass die Diakonie Aufgabe eines jeden Christen und einer jeden Christin ist. Die christlichen Gemeinden entsprechen so der durch den Heiligen Geist erschlossenen liebevollen Hingabe Jesu an die Notleidenden und Exkludierten. Indem die Diakonie als Aufgabe eines jeden Christen und einer jeden Christin verstanden wird, schließt das Christentum an die Royalisierung des Menschen im Alten Testament28 an, nach der ein jeder dafür verantwortlich ist, dass dem Nächsten Recht und Barmherzigkeit widerfährt: Nicht nur der König, das ganze Volk soll Rechtshelfer der Armen sein. Zugleich lassen vor allem die Pastoralbriefe erkennen, dass schon in neutestamentlicher Zeit besondere Ämter geschaffen werden, um die Versorgung der Bedürftigen effektiv und erwartungssicher zu gestalten (vgl. 1Tim 3,8ff: Diakone; 25 Vgl. zum hier vorausgesetzten Begriff von Exklusion Luhmann, Inklusion, und Karle, Differenzierung. Der Begriff erlaubt die von Moltmann beschriebenen „Teufelskreise des Todes“ (Gott, 306–308) präziser zu erfassen. 26 Welker, Offenbarung, 224. 27 Dahlgrün, Spiritualität, 16; vgl. 16–25. 28 Vgl. mit weiterer Literatur Schellenberg, Mensch,130.
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5,3ff: Witwen; Apg 9,41). Am Ausgang des neutestamentlichen Zeitalters „wird die christliche Diakonie also von zwei Säulen getragen, von einer Haltung diakonischer Spiritualität, die sich in spontanem und unmittelbarem Liebeshandeln äußert, und von einer ethisch reflektierten und organisierten, einer spezialisierten Gestalt des Engagements“.29 Diese spezialisierte Form der Diakonie hat sich später in Klöstern, Spitälern, diakonischen Anstalten und der Inneren Mission, auch in der „Diakonie des Pfarrhauses“30 und der „Lebensform der Diakonissen“31 ihren Ausdruck gefunden – und so auch spezifische Orte und Formen diakonischer Spiritualität geschaffen. Doch nicht nur an diesen besonderen Orten diakonischer Spiritualität erkennen wir die Kraft der durch den Geist Christi gewirkten schöpferischen Selbstzurücknahme. Nimmt man die vielfältigen Formen „freier, schöpferischer Selbstzurücknahme in Familie, Freundschaft, Bildung, medizinischer Versorgung, zivilgesellschaftlicher und gesellschaftlicher Organisation“ wahr (Michael Welker), dann wird deutlich, warum die Reformatoren Familie, Beruf und Gesellschaft als zentrale „Verwirklichungsfelder“ protestantischer Spiritualität ausweisen konnten.32 Dabei dürfen diese Verwirklichungsfelder nicht bloß unter dem Anspruch wahrgenommen werden, den christlichen Glauben angemessen zu verwirklichen, sondern als evangelische Orte, an denen der Mensch in der freiwilligen Selbstzurücknahme anderer Gottes Liebe erfährt. Wer dankbar wahrnimmt, auf wie vielfältige Weise Menschen dazu beitragen, dass sich das eigene Leben schöpferisch entfalten kann, für den werden diese Verwirklichungsfelder des Glaubens zu Erfahrungsfeldern von Gottes fürsorglicher Vorsehung. Indem der Heilige Geist am königlichen Reich Christi arbeitet, lässt er die Glaubenden auf vielfältige Weise Liebe erfahren. Die so real Liebe Erfahrenden werden dadurch zugleich gestärkt, anderen in Liebe zu begegnen. Im Blick auf die Gaben des Geistes, Glaube, Liebe und Hoffnung, urteilt der Apostel Paulus: „Wenn ich prophetisch reden könnte und alle Geheimnisse wüsste und alle Erkenntnis hätte; wenn ich alle Glaubenskraft besäße und Berge damit versetzen könnte, hätte aber die Liebe nicht, wäre ich nichts“ (1Kor 13,2). Evangelische Frömmigkeit ist ohne diakonische Spiritualität, ohne Liebe, nicht denkbar.
29 30 31 32
Dahlgrün, Spiritualität, 314. A. a. O., 321 Fußnote 247. A. a. O., 316; vgl. 316–326. Zimmerling, Spiritualität, 68; vgl. 40.
434 2.3.
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Das prophetische Amt Jesu Christi und die geistgewirkte Hoffnung
Die Propheten des Alten Testaments haben das gewaltige Unrecht der israelitischen Gesellschaft aufgedeckt – und die Differenz zwischen Gottes Willen für sein Volk und der Gestaltung der gesellschaftlichen Wirklichkeit beklagt. Die Lehre vom dreifachen Amt Jesu Christi zeichnet Jesus in die Geschichte der israelitischen Prophetie ein. Wie die Propheten das Unrecht aufdecken, das die Gegenwart Gottes in Israel verschattet und verstellt, so offenbart der gekreuzigte Christus die Verlorenheit der Welt unter der Macht der Sünde. Das Kreuz Christi sensibilisiert dafür, dass die wechselseitigen Korrekturen von Recht, Religion, Bildung und öffentlicher Meinung, auf die wir normalerweise unser Vertrauen setzen, ausfallen können. „Die ‚guten Mächte‘ Religion, Recht, Politik, öffentliche Moral und Meinung, sie alle wirken gegen die Gegenwart Gottes in Jesus Christus zusammen. […] Die wechselseitigen Kontrollen von Religion, Politik, Recht und Moral fallen im Kreuzesgeschehen aus“.33
Das Kreuz Christi wird so zur „Offenbarung der Verlorenheit der Welt unter der Macht der Sünde, als Offenbarung einer Situation, in der Freunde und Feinde, Inländer und Ausländer, Herrschende und Beherrschte sich gegen die rettende Botschaft vom kommenden Gottesreich immunisieren“.34
Das Kreuz Christi offenbart diese Not der Welt in der Todesstunde Jesu, aber sie offenbart sie „als eine beständige Bedrohung für alle Zeit“.35 Gerade das ist das prophetische Amt des Gekreuzigten: Er offenbart die Gottlosigkeit der Welt – gerade dort, wo sich alle einig sind. Durch den Heiligen Geist beteiligt Christus die Seinen an seiner prophetischen Existenz. Diese prophetische Existenz besteht dabei keineswegs darin, dass ich mich als Einzelner gegen die Sünde der Welt stemme. In der Erinnerung an das Kreuz Christi gilt es wahrzunehmen, dass auch die engsten Freunde Jesu ihn verließen, dass Petrus ihn verriet – und Judas ihn verleugnete. Die Erinnerung an das Kreuz Christi erschüttert jede Selbstgewissheit. Der Geist Jesu Christi beruft deshalb nicht bloß einzelne Propheten, sondern schafft eine prophetische Gemeinschaft, die auf Einspruch und wechselseitige Kritik zielt. Schon Calvin hat im Rahmen seiner Ausführungen zum prophetischen Amt Christi auf die Joelverheißung hingewiesen.
33 Welker, Gott, 44. 34 Ders., Zukunft, 46. 35 Ders., Gott, 44.
Die Bedeutung des Heiligen Geistes für die evangelische Spiritualität
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„Ich will meinen Geist ausgießen über alles Fleisch, und eure Söhne und Töchter sollen weissagen, eure Alten sollen Träume haben, und eure Jünglinge sollen Gesichte sehen. Auch will ich zur selben Zeit über Knechte und Mägde meinen Geist ausgießen“ (Jo 3,1f; vgl. Apg 2).
Wo Menschen Anteil an der Salbung Christi gewinnen, entsteht eine prophetische Gemeinschaft, in die alle etwas einbringen können – nicht nur Männer, sondern auch Frauen, nicht nur Alte, sondern auch Junge – heute müsste man sagen: nicht nur Junge, sondern auch Alte –, nicht nur Freie, sondern auch Sklaven. Das war zumindest zur Zeit der Bibel revolutionär. Denn die Verheißung ergeht inmitten einer Sklavenhaltergesellschaft, inmitten einer patriarchalen Gesellschaft, inmitten einer hierarchisch organisierten Gesellschaft. In der Gemeinschaft des Heiligen Geistes werden lebensabträgliche Differenzen überwunden, damit lebensförderliche Differenzen zum Austrag kommen können.36 Die Lehre vom dreifachen Amt Jesu Christi greift dieses revolutionäre Element der biblischen Verheißung auf. Das prophetische Reich Christi gewinnt in einer Gemeinschaft von Menschen Gestalt, die voneinander lernen wollen, was dem Leben dient – um dann dem Lebensabträglichen entschieden entgegentreten zu können. Diese prophetische Gemeinschaft zeichnet sich dadurch aus, dass sie nicht nur die unterschiedlichen Stimmen einer Gemeinde zu Wort kommen lässt, sondern die Vielfalt der Perspektiven, die die weltweite Christenheit prägen. In einer prophetischen Gemeinschaft findet auch die Stimme der Flüchtlinge Gehör, aber auch die Klage des orthodoxen Griechen, der unter der Armut in seinem Land leidet, und die Hoffnungslosigkeit der jungen Katholiken in Spanien. Eine prophetische Kirche ist eine konsequent ökumenische Kirche. Damit ist eine zweite Gestalt evangelischer Spiritualität erschlossen: Evangelische Frömmigkeit ist prophetische Spiritualität. In den sog. Politischen Nachtgebeten, die nach dem Auftakt auf dem Essener Katholikentag von 1968 über Jahre hinweg einmal im Monat zunächst in Köln, dann auch an anderen Orten gefeiert wurden und eine Zeit lang zu den Gottesdienstformen des Deutschen Evangelischen Kirchentages gehörten, hat diese prophetische Spiritualität eine eindrucksvolle Gestalt gefunden,37 die auch noch die Leipziger Montagsgebete in der Nikolaikirche geprägt hat.38 In den politischen Gebetsgottesdiensten fand eine prophetische Gemeinschaft ihre Sprache, indem dem paulinischen Gottesdienstideal folgend (vgl. 1Kor 14,26) jeder in diese Versammlungen etwas einbringen konnte. Damit prophetische Gemeinschaften vor Selbstgerechtigkeit bewahrt bleiben, ist beständige Selbstkritik notwendig. Anstatt die Gefahren immer nur bei den 36 Vgl. ders., Offenbarung, 206. 37 Vgl. Sölle, Nachtgebet; Dahlgrün, Spiritualität, 329–331. 38 Vgl. Schmidt, Rufe.
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anderen zu sehen, lebt protestantische Spiritualität von der Einsicht: „Nicht wir haben die Lösung, wir sind eher ein Teil des Problems. Wir bedürfen der Vergebung und Erneuerung“.39 Fulbert Steffensky schrieb im Blick auf die Politischen Nachtgebete: „Das Gebet korrigiert den Allmachtswahn, in dessen Gefahr viele linke Gruppen leben, denen angesichts des als wahr Erkannten der Atem und die Geduld ausgeht, so daß sie zu Kurzschlüssen verleitet werden oder verzweifeln“.40
Es ist dabei gerade die Sprache der biblischen Überlieferungen, die verhindert, dass eine kritisch-selbstkritische Frömmigkeit in Resignation verfällt.41 Eine biblisch-prophetische Frömmigkeit deckt nicht nur auf, was der Fall ist, sondern rechnet in dieser Wirklichkeit mit der Gerechtigkeit Gottes, die sich gegen das Unrecht aufmacht und immer schon aufgemacht hat. Wie eine biblisch-prophetische Spiritualität Hoffnung zu stiften vermag, zeigen etwa die lateinamerikanischen Psalmen von Ernesto Cardenal.42 Der Heilige Geist stiftet Hoffnung – er vertröstet nicht, sondern stiftet Trost, der die Trostlosigkeit wahrnehmen und ertragen kann. Kleine prophetische Gemeinschaften können Veränderungen erreichen – und stehen dafür ein, dass nicht alles so bleiben muss, wie es ist. Wo das prophetische Reich Christi wächst, stiftet der Heilige Geist eine realistische Hoffnung.
2.4.
Das priesterliche Amt Jesu Christi und der geistgewirkte Glaube
Christus ist nicht nur König und Prophet, sondern auch Priester. Michael Welker hat in seiner Christologie vorgeschlagen, das priesterliche Wirken Christi vor allem im Wirken des Auferstandenen zu erkennen. Denn der Auferstandene, so eine Einsicht des Systematikers Francis Fiorenza aus Harvard, stiftet „mit dem Friedensgruß, dem Brotbrechen, dem Erschließen der Schrift, mit dem Taufbefehl und der missionarischen Sendung der Jünger [die] Grundgestalten des gottesdienstlichen Lebens der […] Kirche“.43 Darüber hinaus ist es sinnvoll davon zu sprechen, dass Jesus Christus in seiner Auferstehung „zu unserem einzigen Hohenpriester“ (so die Formulierung des Heidelberger Katechismus in Antwort auf Frage 31) eingesetzt werde. Wie der Hohepriester am Versöhnungstag den Ort der Gegenwart Gottes betritt und so zum Zeugen von Gottes Vergebungsbereitschaft wird, so ist der Auferstandene 39 40 41 42 43
Vgl. Cornehl, Welt, 187. Steffensky, Erinnerung, 229. A. a. O., 228f. Cardenal, Buch; vgl. Dahlgrüns einfühlsame Würdigung dieser Spiritualität, a. a. O., 341–347. Welker, Offenbarung, 258.
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Bürge der Treue Gottes. Der Auferstandene verdeutlicht, dass Gott auf die Kreuzigung Jesu nicht mit der Abwendung von der Welt regiert. Der Vater Jesu, der das Sterben, die Hinrichtung seines Sohnes erleidet, überlässt die Welt nicht sich selbst und ihren Prozessen der Selbstdestruktion. Die biblischen Texte lassen erkennen, dass der Vater Jesu Christi auf andere Weise auf die Kreuzigung Jesu reagiert. Er setzt den Weg der gewinnenden Liebe zu denen, die der Sünde erlegen sind, fort. In der Auferstehung setzt sich die Hingabe Jesu an die Rechtlosen und Sünder fort. Der Auferstandene erscheint Maria Magdalena, die als Frau nach antikem Gewohnheitsrecht nicht zeugnisfähig ist. Er erscheint Petrus, der ihn in der Nacht des Verrats verleugnet hat. Er erscheint Paulus, der die Gemeinde Christi verfolgt. Aus dem Munde von Rechtlosen, Verrätern und Verleugnern schafft sich der Auferstandene das Zeugnis seiner Auferstehung. Als Auferstandener bezeugt Christus die Treue Gottes zu seiner Schöpfung – eine Treue, die in der Kreuzigung auf das schärfste herausgefordert war. Weil der Auferstandene bezeugt, dass Gott selbst auf die konzentrierteste Aktion der Sünde mit Vergebung reagiert, deshalb können Menschen gewiss sein, dass sie nichts von der Liebe Gottes scheiden kann. Dafür steht der Auferstandene in seinem priesterlichen Amt. Der Heilige Geist treibt dieses priesterliche Amt Christi, indem er in uns dieses Vertrauen und diese Gewissheit stiftet. Unser Vertrauen und unsere Gewissheit werden aber gestützt von der religiösen Kommunikation der Gemeinde. Eben deshalb lässt sich sagen: Der Heilige Geist treibt das priesterliche Amt Christi, indem er ein Netzwerk von liturgischen Formen aufbaut, in denen die Treue Gottes, seine Vergebungsbereitschaft, verkündigt und erfahren wird: in Predigt und Mission ebenso wie in Taufe und Abendmahl, den Verstand ebenso ansprechend wie die menschlichen Sinne. Der Heilige Geist schließt dabei an das Wirken des Auferstandenen an. Denn der Auferstandene selbst hat eine Fülle liturgischer Formen gestiftet, in denen die Jünger und Jüngerinnen damals, aber auch Glaubende bis auf den heutigen Tag Gottes Treue, seine Vergebungsbereitschaft, erfahren konnten und können. Damit ist eine dritte Dimension evangelische Spiritualität erschlossen: Evangelische Frömmigkeit ist liturgische Spiritualität. Sie kommt vom Gottesdienst her und lebt auf den Gottesdienst hin. Wie das Gebet der Gemeinde vom Gebet Jesu Christi lebt, so lebt das Gebet des Einzelnen vom Gebet der Gemeinde. Das wird nicht zuletzt daran deutlich, dass Jesus die Seinen das Vaterunser, also ein gemeinschaftliches Gebet, gelehrt hat. Wie aber Jesus selbst sich zum Beten in die Einsamkeit zurückgezogen und in der Bergpredigt das „stille Kämmerlein“ (Mt 6, 6) zum angemessenen Ort des Gebets erklärt hat, so lebt auch evangelische Spiritualität zwischen Gottesdienst und Gottesdienst in unterschiedlichen Formen privater Frömmigkeit: Für Luther war „ein tägliches Bemühen um Heiligung durch Gebet, durch Morgen- und
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Abendsegen, durch Beschäftigung mit dem Katechismus und Singen von Chorälen in der häuslichen Andacht, durch Lektüre und Bedenken der Schrift selbstverständlich“.44 Die Herrnhuter Losungen,45 aber auch Abreißkalender wie „Sonne und Schild“ und die ökumenische Initiative „Mit der Bibel durch das Jahr“ sind bis in die Gegenwart Ausdruck einer solchen alltäglichen reformatorischen Spiritualität. Dass darüber hinaus auch evangelischerseits noch mehr denkbar und möglich ist, zeigen die Dissertationen von Silke Harms und Sabine Bayreuther.46 Einer besonderen Reflexion wäre dabei die Beichte wert: Bedenkt man, dass der Auferstandene als Zeuge der Treue Gottes zu denen kommt, die ihn verlassen und verleugnet haben, gehört ins Zentrum einer von Ostern herkommenden Spiritualität die Feier der Vergebung der Sünden. Bedenkt man zudem, dass der Auferstandene nicht nur die Feier des Abendmahls (erneut) eingesetzt hat, sondern Petrus im persönlichen Gespräch die Sünden vergibt (Joh 21), ließe sich über die Beichte als Form evangelischer Spiritualität noch einmal neu nachdenken.47 Der Heilige Geist stärkt unseren Glauben, indem er ein Kraftfeld unterschiedlichster Formen aufbaut und erhält, an denen sich Glaube entzünden und durch die Glaube gestärkt werden kann. Der Heilige Geist ist die Kraft des objektiven Glaubens, von dem auch der subjektive Glaube lebt. Wer darum weiß, wird dann freilich auch nach der Gestaltung des je individuellen Glaubenslebens fragen.
2.5.
Zur notwendigen Verschränkung von Diakonie, Liturgie und Prophetie in der Polyphonie des Geistes
Die paulinischen Ausführungen zu den bleibenden Geistesgaben Glaube, Hoffnung und Liebe stehen im Kontext der Ausführungen des Apostels zu den Geistesgaben allgemein (1Kor 12–14). Einerseits würdigt Paulus die Polyphonie der Geistesgaben: Der Heilige Geist wirkt in einem und einer jeden (1Kor 12,7), so dass jeder und jede etwas zum Gottesdienst beitragen kann: „Wenn ihr zusammenkommt, so hat ein jeder einen Psalm, er hat eine Lehre, er hat eine Offenbarung, er hat eine Zungenrede, er hat eine Auslegung. Lasst es alles geschehen zur Erbauung!“ (1Kor 14,26). Die Gottesdienstpraxis der reformatorischen Großkirchen bleibt hinter diesem Ideal oftmals zurück, wodurch individuelle 44 45 46 47
Dahlgrün, Spiritualität, 401. Vgl. a. a. O., 470 f; Zimmerling, Spiritualität, 211–214. Vgl. Harms, Glauben üben, und Bayreuther, Meditation. Vgl. Dahlgrün, Spiritualität, 493–512; Zimmerling, Beichte.
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Charismen verkümmern. Andererseits hierarchisiert Paulus die Geistesgaben: Er stellt den vergänglichen Geistesgaben die bleibenden (Glaube, Hoffnung, Liebe) gegenüber, wobei die Liebe unter diesen die größte sei (1Kor 13,13). Die Hierarchisierung soll aber keineswegs zu einer Reduktion der Geistesgaben führen, sondern zu deren lebensförderlichen Gestaltung. Man kann sich dies an der für protestantische Frömmigkeit besonders fremden Form der Zungenrede verdeutlichen. Explizit betont Paulus, dass er wünscht, alle Gemeindeglieder könnten „in Zungen reden“ (1Kor 14,5). Aber die Zungenrede wird kritisch daraufhin reflektiert, ob sie der Liebe und dem Glauben dient. Paulus sieht zum einen die Gefahr, dass derjenige, der in Zungen redet, nur auf sich selbst fokussiert bleibt: „Wer in Zungen redet, baut sich selbst auf“ (1Kor 14,4). Zum anderen könnte die Zungenrede dazu führen, dass Außenstehende im Unglauben verharren (vgl. 1Kor 12,23). Deshalb plädiert Paulus konsequent für die Auslegung der Zungenrede (1Kor 14,5). Sie ist kein Selbstzweck, sondern soll in Liebe, in freiwilliger Selbstzurücknahme auch der eigenen Erbauung, der Stärkung des Glaubens und – bedenkt man die Nähe der ausgelegten Zungenrede zur prophetischen Rede – der Hoffnung anderer dienen. Insofern sie diese Funktion erfüllt, gehört sie zu jenen Geistesgaben, nach denen zu streben Paulus rät (vgl. 1Kor 14,1). Der Zusammenhang von Polyphonie und Hierarchisierung der Geistesgaben scheint mir auch in der Gegenwart ein hilfreiches Orientierungsmuster zu bieten: Einerseits gilt es, die mögliche Vielfalt spiritueller Formen ernst- und wahrzunehmen. Weder Zungenrede und Heilungen noch Wallfahrten und Meditation stehen unter einem prinzipiellen Verdacht. In der Tat gibt es hier für die protestantische Spiritualität ein weites Feld an ökumenischen Lernmöglichkeiten. Andererseits ist die Vielfalt möglicher Formen daraufhin zu prüfen, ob sie dem Geist Jesu Christi entsprechen, d. h. dem Aufbau und Erhalt des königlichen, prophetischen und priesterlichen Reiches Jesu Christi und damit der Förderung von Liebe, Hoffnung und Glauben dienen. Wie christologisch von einem dreifachen Amt Jesu Christi und nicht einfach von drei Ämtern zu reden ist, so ist pneumatologisch an der Zusammengehörigkeit der drei Gestalten des einen Reiches Christi festzuhalten. Glaube, Hoffnung und Liebe bleiben in Ewigkeit – und selbst die Liebe als die höchste unter diesen Gaben ist eschatologisch nur mit und nicht ohne Glaube und Hoffnung zu denken. Ekklesiologisch sind deshalb zwar sowohl Kirchen mit und ohne Zungenrede zu denken, aber keine Kirche, in der nicht Glaube, Hoffnung und Liebe zusammenkommen. Das Reich Christi wächst dort, wo der Heilige Geist die polyphone Einheit von Liturgie, Diakonie und Prophetie wirkt. Im Blick auf die spirituellen Suchbewegungen des Protestantismus der Gegenwart würde deshalb mit Paulus gelten: „Den Geist bringt nicht zum Erlöschen! […] Prüft aber alles und das Gute behaltet“ (1Thess 5,19.21). Das Gute
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wäre aber das, was Glaube, Hoffnung und Liebe dient, wobei die Glaubenden und Hoffenden – durch den Geist Christi dazu befreit – bereit sind, sich selbst in ihrem Glauben und ihrer Hoffnung zugunsten anderer zurückzunehmen. Evangelische Spiritualität besteht im Hineinwachsen in die geistlich erschlossene Fülle des Lebens Jesu, der sich, damit sein königliches, prophetisches und priesterliches Reich wächst, konsequent den Menschen hingegeben und ausgeliefert hat.
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Gregor Etzelmüller
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Wolfgang Ratzmann
Evangelische Spiritualität und Gottesdienst
1.
Zwei getrennte Welten
In grundlegenden kirchlichen Texten wird der evangelische Gottesdienst oft als spirituell außerordentlich bedeutsam gekennzeichnet. Mit dem Begriff „spirituell“ soll dabei die Bedeutung gemeint sein, die Gottesdienste für das Entstehen von Glauben bzw. für die Vergewisserung im Glauben haben. So heißt es beispielsweise in der „Ordnung des kirchlichen Lebens der Evangelischen Kirche der Union“ von 1999: „Die Gemeinde versammelt sich im Namen Gottes des Vaters und des Sohnes und des Heiligen Geistes zum Gottesdienst und lädt dazu ein. Sie hört auf Gottes Wort, feiert die Sakramente und antwortet mit Gebet, Lobgesang und Dankopfer. Sie empfängt Gottes Segen und lässt sich in die Welt senden. Durch die Versammlung unter Gottes Wort soll das ganze Leben der Christen zum Gottesdienst werden (Röm 12,1f). Deshalb ist der Gottesdienst die Mitte des Lebens der Kirche“.1
Und in den „Leitlinien des kirchlichen Lebens der VELKD“ von 2003 wird ganz ähnlich ausgeführt, dass die Gemeinde ihr Wesen darin habe und daraus lebe, „dass sie sich regelmäßig versammelt, um Gottes Wort zu hören und zu verkündigen, ihn zu bekennen und die Sakramente zu feiern […]“. Hier, so heißt es in dieser lutherischen Lebensordnung, „begegnen wir Gottes heilschaffender Gegenwart und vergewissern uns seiner erhaltenden Kraft“.2 Es fällt allerdings auf, dass sich diese normativen systematisch-theologischen Aussagen in Kapiteln finden, in denen „biblische Grundlagen“ und „theologische Orientierungen“ referiert werden, während davon abgehoben an anderen Stellen „empirische Aspekte“ aufgeführt werden. Hier wird dann beschrieben, wie zwar der Sonntagsgottesdienst für „etliche Gemeindeglieder“ wichtig für ihr Leben sei, dass er aber für „viele andere“ de facto keine Bedeutung besitze. In der Tat: Die Statistiken offenbaren, dass es nur noch 3,5 % aller Evangelischen sind, die 1 Evangelische Kirche der Union, Ordnung, 22f. 2 Leitlinien, 28.
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durchschnittlich sonntags einen Gottesdienst besuchen.3 Für die Masse der Gemeindeglieder ist er zum „Randphänomen“ geworden. „Sie können – zumindest was den Gottesdienst am Sonntagmorgen betrifft – gut ohne Gottesdienst leben“.4 Die reale spirituelle Praxis der Masse der Kirchenmitglieder und die kirchlich-gottesdienstlichen Normen sind zwei getrennte Welten. Wie geht die theologische Wissenschaft mit dieser Trennung um? Nimmt sie sie zur Kenntnis? Versucht sie Brücken zu entwickeln? Beginnen wir mit einem Blick in die Liturgiewissenschaft. Das jüngste Lehrbuch zum Gottesdienst, verfasst vom Bonner Praktischen Theologen Michael Meyer-Blanck 2011,5 beeindruckt durch seine integrativen Leistungen. Und zwar werden erstmalig die praktisch-theologischen Disziplinen der Liturgik und der Homiletik, die sich in der Praktischen Theologie getrennt entwickelt hatten, wieder in einem Werk zusammengeführt. Außerdem stellt der Autor nach entsprechenden einleitenden Kapiteln sechs Reflexionsperspektiven dar, mit deren Hilfe er den Gottesdienst durchdenkt: die systematisch-theologische, die historische, die empirische, die ökumenisch vergleichende, die ästhetische und schließlich die handlungsorientierte Perspektive. Die Fülle speziellen Wissens, das in diesem Werk dargestellt und miteinander integrativ verflochten wird – beispielsweise ästhetische Fragen zum Verhältnis von Gottesdienst und Kunst und von Liturgie und Theatertheorie, ist eindrucksvoll. Aber das Thema einer spezifisch evangelischen gottesdienstlichen Spiritualität lässt sich in diesem Werk schwer entdecken. In ihm finden sich zwar einzelne Andeutungen vom hohen spirituellen Wert des Gottesdienstes an unterschiedlichen Stellen, beispielweise im systematischen Paragraphen, wenn ausgeführt wird, der Gottesdienst sei als „Begegnung mit dem sich vergegenwärtigenden Herrn“ zu verstehen,6 oder im letzten handlungsorientierten Teil, wenn dort als Sinn der Predigt festgehalten wird, dass sie „die Nähe des liebenden Gottes als mich persönlich angehende Rede“ erschließt.7 Es kommt in solchen Zielformulierungen schon zum Ausdruck, dass der Gottesdienst, auch der „normale“ Sonntagsgottesdienst nach der Agende, für den sich der Autor bewusst stark macht,8 ein spirituell bedeutsames Geschehen ist. Und dennoch gehen solche systematischen Spitzenformulierungen oft in der Fülle der vielen theoretischen, empirischen oder historischen Überlegungen unter. Man spürt es, dass die Integration der verschiedenen wissenschaftlichen Perspektiven für den Autor stärker im Vordergrund steht als das Ziel eines Brückenschlags zwischen Gottesdienst und evangelischer Spiritualität. 3 4 5 6 7 8
Kirchenamt der EKD, Äußerungen, 20. Kerner, Spiritualität, 219. Meyer-Blanck, Gottesdienstlehre. A. a. O., 116. A. a. O., 426. A. a. O., 390–393.
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Wie steht es dann mit der evangelischen Spezialliteratur zur Spiritualität? Auch hier wähle ich ein relativ neues Lehrbuch, nämlich Corinna Dahlgrüns umfangreiche Monografie „Christliche Spiritualität“. In diesem Werk sucht man allerdings den evangelischen Gottesdienst ganz umsonst. Es reflektiert viele Grundfragen der Spiritualität, aber behandelt anstelle des Gottesdienstes nur solche historischen oder gegenwärtigen Phänomene, die die Autorin als spirituell bemerkenswert einschätzt – vom Kirchenjahr über Andacht, Beichte und Meditation bis hin zum Pilgern und der Heiligenverehrung.9 Selbst der evangelische Choral taucht hier nur kurz im Zusammenhang mit Familienandachten auf.10 Bei so viel Distanz zwischen den beiden Welten empfindet man es freilich dann als tröstlich, wenn es daneben wenigstens einzelne evangelisch-theologische Aufsätze gibt, die sich dennoch dem Versuch widmen, die beiden scheinbar getrennten Welten – evangelische Spiritualität und Gottesdienst – zusammenzudenken.11 Offensichtlich werden also evangelische Spiritualität und Gottesdienst auch in der theologischen Wissenschaft als getrennte Welten betrachtet, ohne nach Brücken zu suchen. So muss man sich nicht wundern, wenn auch in der kirchlichen und gesellschaftlichen Praxis evangelisches Christsein und Gottesdienstteilnahme immer mehr auseinanderdriften. Dieser Zustand ist nicht ungefährlich. Die gegenwärtig oft beklagte „Verdunstung“ des christlichen Glaubens,12 wie sie nicht zuletzt in vielen traditionell protestantisch geprägten Gegenden zu beobachten ist, kann man auch als eine Konsequenz dessen verstehen, dass die dem evangelischen Gottesdienst zukommende spirituelle Prägekraft massiv abgenommen hat bzw. dass die evangelischen Gemeindeglieder die Gottesdienste immer weniger als Ort empfinden, an dem sie mit ihrer Spiritualität zu Hause sind. Aber wenn es so ist: Was ist dann zu tun? Es sind zwei Wege, die gleichzeitig zu gehen sind.
2.
Zwei Wege
Kirche und Theologie stehen vor einer anspruchsvollen Aufgabe, zwei Wege gleichzeitig zu bedenken und zu beschreiten: Der erste Weg besteht darin, den spirituellen Reichtum des Gottesdienstes grundlegend und immer wieder neu zu entdecken. Wer Gottesdienste gestaltet und leitet, benötigt nicht nur handwerklich-liturgische und -homiletische Sachkenntnis und seelsorgerliches Ein9 10 11 12
Dahlgrün, Spiritualität. A. a. O., 472. Vgl. Kerner, Spiritualität. Der Begriff taucht in der religionssoziologischen Literatur an verschiedenen Stellen auf, u. a. bei Barz, Religion, 255.
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fühlungsvermögen für die Lage der Christinnen und Christen heute, sondern auch eine theologische Gewissheit vom unersetzbaren Wert des Gottesdienstes für den christlichen Glauben. Nicht nur die Kirche als abstrakte Institution, nicht nur die liturgiewissenschaftlichen oder systematisch-theologischen Lehrbücher, sondern die Personen in den Kirchenleitungen, die Pfarrerinnen und Pfarrer und die für das Gemeindeleben verantwortlichen Gemeindeglieder – sie alle sollten davon überzeugt sein, dass evangelisches Christsein heute und morgen nur Bestand hat, wenn es spirituell im gottesdienstlichen Leben verwurzelt ist. Erst aus einer solchen Grundüberzeugung heraus werden sie die Kraft entwickeln, immer wieder neu mit innerer Freude Gottesdienste zu gestalten und zu leiten. Im Rahmen dieses Artikels möchte ich vor allem diesen ersten Weg beschreiben, weil die Ebene, die in diesem Band des Handbuches Evangelische Spiritualität im Blick ist, primär systematisch geprägt ist. Aber genauso wichtig ist dann auch der zweite Weg, zu dem ich hier nur einige Andeutungen machen und Ausblicke geben kann – in der Erwartung, dass er im eher praktisch-gestalterisch und empirisch geprägten 3. Band detailliert ausgeführt wird.
3.
Der erste Weg: Den spirituellen Reichtum des Gottesdienstes entdecken
Warum ist der Gottesdienst – und dabei denke ich vor allem an den Sonn- und Festtagsgottesdienst und auch ein wenig an Kasualgottesdienste – spirituell so bedeutsam? Was dürfen denn evangelische Christen von ihrem Gottesdienst geistlich, also für ihren Glauben bedeutsam, erwarten? In Form von elf Aussagen will ich die spirituelle Relevanz des Gottesdienstes zusammenfassen, und zwar so, dass ich jeweils relativ bekannte Überzeugungen evangelischer, vor allem lutherischer, Gottesdiensttheologie benenne und sie knapp in den Kontext heutigen Erlebens und Denkens stelle.
Aussage 1: Gott dient hier den Menschen ohne Vorleistungen. „Nach konfessionsübergreifender Überzeugung wird der Gottesdienst als Ausdruck eines doppelten, sich vielfältig berührenden Dienens aufgefasst: Gott dient den Menschen, die den Gottesdienst feiern, und die den Gottesdienst feiernden Menschen dienen Gott“,13 so heißt es in einer Orientierungshilfe der EKD zum Gottesdienst. Martin Luther hat klassisch von dieser Doppelheit des Dienstes in 13 Kirchenamt der EKD, Gottesdienst, 13.
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seiner Einweihungspredigt der Torgauer Schlosskapelle gesprochen und gemeint, in diesem Raum solle „nichts anderes darin geschehe[n], als daß unser lieber Herr selbst mit uns rede durch sein heiliges Wort und wir umgekehrt mit ihm reden durch unser Gebet und Lobgesang“.14
Dabei hat der vorbehaltlose Dienst Gottes an uns Menschen Priorität.15 Der Gottesdienst ist der Ort, an dem Gott in Wort und Sakrament zu den Menschen kommt und ihnen die Zusage seines Erbarmens macht: allein aus Gnade, nicht als Folge frommer oder moralisch beeindruckender Leistungen der Gläubigen, die als Vorleistungen erbracht werden müssten. Es widerspricht dieser grundlegenden Bestimmung, wenn der Gottesdienst selbst zum frommen „Werk“ gemacht wird, in dem der Priester eine Opferhandlung zu vollziehen hätte oder Menschen sich durch den Vollzug dieser Handlung Verdienste um das Heil zu verschaffen suchen. So sehr hier Auseinandersetzungen eine Rolle spielen, die im Spätmittelalter und in der Reformation ihren besonderen Ort hatten, so sehr ist diese erste Aussage nach wie vor von großem Gewicht. Es wird immer wieder empirisch konstatiert, dass Menschen auch heute auf der Suche sind nach dem Heiligen, nach Transzendenz, nach Gott. Solche Suchbewegungen führen in der Regel ganz am Gottesdienst vorbei. Gott wird vielleicht in anderen Religionen oder in ganz anderen Ereignissen gesucht als in traditionsorientierten christlichen Gottesdiensten. Das hat seine historischen oder empirischen Gründe, hebt aber die Bedeutung des Gottesdienstes als Ort, an dem Gott sich finden lassen und an dem er uns dienen will, nicht auf.
Aussage 2: Gott bleibt nicht stumm, sondern redet. Viele Menschen, soweit sie sich nicht ganz von jeglichem Gottesglauben verabschiedet haben, empfinden heute Gott als bloße schweigende Macht oder Kraft, die doch gelegentlich „mal ein Zeichen geben“16 müsste, um ihre Existenz oder ihren Willen zu dokumentieren. Dagegen ist der Gottesdienst ein Ort, an dem 14 Zit. nach Meyer-Blanck, Liturgie und Liturgik, 29. 15 Luther: „Wenn der Mensch es mit Gott zu tun bekommen und von ihm etwas empfangen soll, so muss es so zugehen, daß nicht der Mensch anfange und den ersten Stein lege. Sondern Gott allein muß ohne alles Ersuchen und Begehren des Menschen zuerst kommen und dem Menschen eine Zusage machen. Dieses Wort ist das erste, der Grund, der Fels, auf dem sich hernach alle Werke, Worte, Gedanken des Menschen bauen. Dieses Wort muß der Mensch dankbar aufnehmen, er muß der göttlichen Zusage vertrauen und glauben […]“, aus: Sermon, 82f (moderne Übertragung). Der Originalwortlaut Luthers findet sich in: WA 6, 356. 16 Barz, Religion, 117
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damit gerechnet wird, dass Gott nicht stumm bleibt, sondern redet – wenngleich verschlüsselt in menschlichen Worten und in sakramentalen Zeichen. Vor allem die biblischen Lesungen und die Predigt sind die besonderen Orte, an denen das Wort Gottes vernehmbar wird und Gott mit seinem Wort des Erbarmens und der neuen Orientierung zu Gehör kommt, wenngleich auch andere Elemente im liturgischen Vollzug in ihrer Weise an der Verkündigung des Gotteswortes teilhaben können, wie z. B. einzelne Lieder oder Gebete. Die Verkündigung geschieht im Gottesdienst in der Erwartung, dass Gott selbst in diesen Worten das Wort nimmt und dass Menschen in der Lage sind, kraft des Heiligen Geistes aus den vielen Worten dieses eine Wort herauszuhören und in ihre Lebenssituation hinein zu übersetzen. Diese Überzeugung ist der Grund dafür, dass der evangelische Gottesdienst dem biblischen Wort, also dem ursprünglichen Niederschlag des Wortes Gottes, breiten Raum einräumt, und für dessen angemessene Auslegung sorgt. Die spirituelle Bedeutung der biblischen Überlieferung für den Glauben ist gegenwärtig bedroht durch den biblischen Fundamentalismus einerseits und eine große Bibeldistanz andererseits. Dennoch hat Peter Cornehl recht, wenn er das Profil des evangelischen Gottesdienstes so zusammenfasst: „Der christliche Gottesdienst gewinnt durch die Aneignung der biblischen Tradition seine besondere Eigenart, seine Substanz und sein Profil. Im Rückbezug auf diese Vorgabe besteht sein Reichtum. Hier ist das unausschöpfliche Potential der Erneuerung, das in der neuzeitlichen Wirklichkeit und angesichts der aktuellen Herausforderungen der Gegenwart zur Geltung zu bringen ist“.17
Dabei geht es letztlich nicht um die biblische Tradition um ihrer selbst willen, sondern um die spirituelle Erwartung, dass in, mit und unter dem Hören auf die biblischen Texte Gott selbst zu uns spricht und mit Hilfe des Evangeliums Christus selbst zu uns kommt: „Denn das Evangelium predigen ist nichts anderes, als Christus zu uns kommen lassen oder uns zu ihm bringen“.18
Aussage 3: Gott begegnet dem Menschen hier zeichenhaft-leiblich. In der evangelischen Frömmigkeit spielen der persönliche Glaube und die innere geistliche Gewissheit eine große Rolle. Sie hatten in ihrer Weise Anteil an jenem kulturellen „Paradigmenwechsel“ zum Ausgang des Mittelalters und des Beginns der Neuzeit, der in der Tendenz auch als ein bedeutender spiritueller Transfor17 Cornehl, Gottesdienst, 74f. 18 Wortlaut Luthers in moderner Übertragung, in: Unterricht, 202; Originalwortlaut: „Denn Evangeli predigen ist nichts anders, denn Christus tzu uns kommen odder uns tzu yhm bringenn“, WA 10, I/1, 13f.
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mationsmotor gewirkt hat. Der Kultursoziologe Norbert Elias hat an verschiedenen Beispielen gezeigt, dass sich im Spätmittelalter das Lebenszentrum des Menschen aus dem Verhaltens- in den Einstellungsbereich verlagert hatte.19 In diesem Sinne konnte sich auch spirituell ein Denken leichter durchsetzen, das das Heil des Menschen nicht mehr an heiligen Orten, Gegenständen oder äußeren Vollzügen festmacht, sondern im Wort und damit im Denken, in der Sprache und in der Personalität des Menschen. Allerdings hat diese Verlagerung des Spirituellen in das Innere während der Reformation, zusätzlich noch verstärkt durch Pietismus und Aufklärung, im Laufe der Zeit dazu geführt, Gott zunehmend nur noch als Idee, als mehr oder weniger diskutablen Gedanken zu betrachten, kaum mehr als Ereignis, das man mit den Sinnen wahrnehmen oder dem man leiblich begegnen könnte. Der evangelische Gottesdienst bietet aber – in weitgehender Übereinstimmung mit den meisten anderen christlichen Konfessionen – die Gelegenheit, Gott bzw. Christus auch zeichenhaft-leiblich zu begegnen. Das geschieht vor allem in der Feier der beiden Sakramente Taufe und Abendmahl. Vermittelt durch die Zeichen von Wasser, Wein und Brot und verbunden mit dem biblischen Wort kommt Gott den Seinen auch sinnlich-leiblich nah. „Denn wir armen Menschen, weil wir in den fünf Sinnen leben, müssen ja zum wenigsten ein äußerliches Zeichen neben den Worten haben, an das wir uns halten und um das wir uns versammeln können […]“.20
Mit dem Wortlaut der Leuenberger Konkordie kann man es heute als übergreifende evangelische Gottesdienstauffassung verstehen, dass Jesus Christus durch den Heiligen Geist unter den Zeichen von Wasser, Wein und Brot in der versammelten gottesdienstlichen Gemeinde gegenwärtig wird.21 Auch evangelische Christen dürfen im Gottesdienst eine besondere Vergewisserung ihres Glaubens erwarten, weil Christus ihnen hier als „sichtbares Wort“ begegnet. Und so wie Kommunikation unter Menschen verbal und nonverbal zugleich erfolgt – beispielsweise körpersprachlich mit Gesten, so erfolgt auch die Kommunikation des Evangeliums mit Worten und Zeichen. Die sakramentale Vergewisserung im Glauben ist heute auch deswegen wichtig, weil wir in der modernen „Erlebnisgesellschaft“22 schon längst wieder einem erneuten kulturellen Paradigmenwechsel von der Innerlichkeit zum äußerlich wahrnehmbaren Event ausgesetzt sind. 19 Elias, Prozeß. 20 Luther, Sermon, 87 (moderne Übertragung); Originalwortlaut: „Dan wir arme menschen, weyl wir in den funff synnen leben, müssen yhe zum wenigsten ein eußerlich zeychen haben neben den worten, daran wir uns halten und zusammen kummen mugen“ (WA 6, 359). 21 Zit. u. a. bei Meyer-Blanck, Gottesdienstlehre, 499. 22 Vgl. Schulze, Erlebnisgesellschaft.
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Aussage 4: Im Gottesdienst handelt die Kirche. Der Mensch der Gegenwart sucht in seiner Weise nach Authentizität, auch im religiösen Bereich. Dabei wählt er in der Regel einzelne Personen aus, die ihm subjektiv glaubwürdig erscheinen und die ihm eine verkündigte Wahrheit als verlässlich erscheinen lassen. Auch die Kirche und der Gottesdienst der Gegenwart kommen schwer aus ohne solche subjektiv glaubwürdig erscheinenden Repräsentanten des Glaubens. Diese neuzeitliche Tendenz wird von der evangelischen, vor allem von der lutherischen Auffassung vom Gottesdienst zugleich korrigiert und ergänzt. Sie geht davon aus, dass der Gottesdienst seine Authentizität und Autorität noch wesentlicher aus der Tatsache gewinnt, dass er seinen Ursprüngen verpflichtet bleibt und mit dem christlichen Gottesdienst zu allen Zeiten und in aller Welt substanziell verbunden ist. Insofern ist er nicht beliebig reformierbar, sondern er braucht seine biblische Grundierung ebenso wie seine ökumenische Offenheit. Und er wird auch dadurch zu einer für den Glauben verlässlichen Sache, weil in ihm Personen handeln, die für das „Amt der Wortverkündigung und Sakramentsverwaltung“23 speziell ausgebildet worden sind und denen dieses Amt in einem öffentlichen Akt, nämlich ihrer Ordination, ausdrücklich übertragen worden ist. Luther entwickelte seine Gottesdienstanschauung ja in einer doppelten Frontstellung: Einerseits bekämpfte er Missverständnisse und Missbräuche auf römischer Seite, andererseits musste er sich gegen die subjektivistischen Positionen der Radikalreformation zur Wehr setzen.24 Dabei war ihm seelsorgerlich wichtig, dass es – ohne damit die grundlegende Berufung eines jeden Christen durch seine Taufe ins „Allgemeine Priestertum“ in Zweifel zu ziehen – dennoch das besondere „Predigtamt“ und in der Ordination eine kirchenamtliche Berufung und Einführung in dieses Amt gab, damit die Gemeinde vor einer geistlich-subjektivistischen Willkür einzelner Menschen geschützt wird. Der Antisubjektivismus der lutherischen Tradition verfolgt letztlich seelsorgerliche Intentionen. Dabei argumentiert er einerseits gegen den heutigen Trend, persönliche Gewissheit ausschließlich von persönlichen Begegnungen zu erhoffen. Andererseits entspricht er aber auch einem scheinbar gegensätzlichen Bedürfnis, in bestimmten Fragen von den großen Institutionen und deren Repräsentanten zu hören, wie sie sich positionieren und ob man von ihnen etwas Klärendes und Hilfreiches erwarten kann. Der Gottesdienst ist die Gelegenheit, durch die sich „die Kirche“ vor Ort verbindlich darstellt, personell repräsentiert durch ordinierte „Amtsträger“: Pfarrer und Pfarrerinnen. 23 Vgl. Confessio Augustana V. Vom Predigtamt, in: Bekenntnisschriften, 58. 24 Luthers Kampf gegen zwei Fronten stellt überzeugend Manfred Josuttis heraus, in: ders., Liturgik, 29–39.
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Aussage 5: Menschen finden hier Entlastung und Ermutigung. Luthers Grundfrage nach dem gnädigen Gott prägte auch das Gottesdienstverständnis. Der evangelische Gottesdienst wurde im Luthertum zu einem großen Buß- und Vergebungsritual. Alle gottesdienstlichen Elemente – vom Kyrie bis zum Segen – können in ihrer Weise das Buß- und Vergebungsanliegen transportieren und vermitteln. Nicht nur im Rahmen der Allgemeinen Beichte, sondern auch in der Predigt und im Abendmahl kann den Gläubigen die Entlastung von ihrer Sünde und die Ermutigung zum Neuanfang zugesprochen werden. Die Zentrierung des evangelischen Gottesdienstes auf die Schuld- und Vergebungsthematik hat ihn vielen Menschen in den letzten Jahrzehnten und in der Gegenwart eher fern gerückt, die die Schuldthematik aus verschiedenen Gründen befremdlich finden.25 Es ist aber nicht ausgeschlossen, dass gegenwärtig wiederum andere von einem Gottesdienst enttäuscht sind, der die Schuld- und Vergebungsthematik völlig ausblendet. Es fällt auf, dass in der modernen Gesellschaft Fragen der Schuld zwar einerseits verdrängt werden, dass sie aber andererseits im Verborgenen rumoren oder auf öffentlichen Foren als Unterhaltungsfaktor eine neue bedeutsame Rolle spielen. Insofern dürfte der evangelische Gottesdienst als Ort angemessener wahrhaftiger Rede von Schuld und Sünde vor Gott und als Geschehen des Zuspruchs der Vergebung, der Ermutigung und neuen Orientierung dennoch ein höchst lebensdienliches Angebot für den Einzelnen und sogar für eine Gesellschaft sein, in der an die Stelle einer Kultur des Respektes vor dem anderen weithin eine Unkultur der gegenseitigen Beschuldigung getreten ist. Der evangelische Gottesdienst könnte spirituell und seelsorgerlich ein Ort sein, an dem Schuld bekannt und Vergebung zugesprochen wird, und ein Geschehen, das Menschen als für sie hilfreich entdecken – als Zeichen ihrer Würde und Verantwortung, als „Einkehr in eine Selbstbegrenzung, die ihm [dem Menschen, W.R.] letztlich zugute kommt“.26
Aussage 6: Der Gottesdienst ist der Ort gemeinsamen Gebets. Der evangelische Gottesdienst lebt vom gemeinsamen und öffentlichen Gebet. Nach Luthers Torgauer Formel ist das Gebet unverzichtbarer Teil des Dialogs zwischen Gott und dem Menschen. Der Mensch begegnet Gott betend und er „dient“ ihm „in Gebet und Lobgesang“. Luther konnte das gemeinsame Gebet ebenso als „gutes Werk“ bezeichnen wie das Austeilen der Almosen an die Armen, wie es in der Alten Kirche in Verbindung mit dem Gottesdienst praktiziert 25 Vgl. Zimmerling, Studienbuch Beichte, 246–264. 26 A. a. O., 261.
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wurde.27 Die Gemeinde geht betend im Gottesdienst einen Weg: Sie bittet, klagt oder dankt Gott in den Psalmen – gemeinsam mit Israel. Sie konzentriert sich betend auf die Anliegen des nun begonnenen Gottesdienstes. In den Fürbitten übernimmt sie Verantwortung und legt Gott die Not der Menschen dieser Erde ans Herz. Sie nimmt die Worte Jesu auf und spricht mit ihm das Vaterunser. In vielen Liedern und in den Abendmahlsgebeten dankt sie Gott für seine Wohltaten und stimmt in den uralten Lobpreis Gottes, in das Sanctus, ein. Betend realisiert die Gemeinde den Dialog mit Gott. Aber die Gebete dienen zugleich den Menschen, die an ihnen teilnehmen. Viele wissen nicht so recht, ob und wie und was sie beten sollen. Insofern hat das gottesdienstliche Gebet auch eine hervorragende persönlich-spirituelle Bedeutung. Das gilt freilich nicht nur positiv für gelungene Gebete und für überzeugende Beter, die man hier erlebt, sondern leider auch negativ für Gebete, die inhaltlich oder formal wenig überzeugen. Ob gottesdienstliches Beten gelingt, hängt nicht nur von sprachlichästhetischen Faktoren ab, sondern auch von der Frage, inwieweit sich die liturgischen Vorbeter und die Gemeinde betend und handelnd in die jeweiligen Weltund Lebenssituationen einlassen und ob sie in ihnen sachkundig sind.
Aussage 7: Hier wird Gott singend gelobt. Der Dienst für Gott besteht nach evangelischer Überzeugung nicht zuletzt darin, dass die Gemeinde hier Gott in ihren Liedern lobt und preist. Luthers Liturgiereformen, sein Wunsch nach der aktiven Beteiligung der Gemeinde am Gottesdienst durch Lieder, löste die Bewegung aus, die man später als „Liederfrühling“ der Wittenberger Reformation bezeichnet hat.28 Die von der Gemeinde gesungenen Lieder erfüllen viele Funktionen: In ihnen findet die Gemeinde die Möglichkeit, „fröhlich und mit Lust“ ihren Glauben auszudrücken.29 Musik kann auch als Trösterin wirken, „weil sie die Seelen fröhlich macht, weil sie den Teufel verjagt, weil sie unschuldige Freude weckt“.30 Gemeindelieder und die wenig später entstehende evangelische Chormusik boten sich zugleich als Medium zur Verkündigung des Evangeliums an. Im Umgang mit der Musik unterschied sich anfänglich die lutherische Position stark von der reformierten Haltung dem Gemeindelied und der Kirchenmusik gegenüber. Calvin setzte sich aber dafür ein, dass im Bereich der Schweizer Reformation wenigstens der Psalmengesang zugelassen wurde, um der „Gottesgabe“ Musik auch im Gottesdienst Raum zu 27 Luther, Sermon, 95. 28 Vgl. Albrecht, Hymnologie, 18. 29 Luther, Vorrede zum Babstschen Gesangbuch (1545), zit. bei Möller, Kirchenlied und Gesangbuch, 82. 30 Luther, Über die Musik (1530), zit. bei Rößler, Liedermacher, 41.
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geben – allerdings in einer Form, die allein Gott die Ehre geben sollte und die nicht der menschlichen Eitelkeit dient. Später hat sich auch die reformierte Kirche deutlich für die ganze Breite von Musik im Gottesdienst geöffnet.31 Das aktive eigene Singen scheint in der Gegenwart zu einer Kulturtechnik zu werden, die immer weniger Menschen pflegen. So kann mitunter das Singen im Gottesdienst Menschen eher davon abhalten, einen Gottesdienst zu besuchen als an ihm teilzunehmen. Auch die milieuspezifische Aufspaltung musikalischer Stilrichtungen in der gegenwärtigen Gesellschaft kann ausgrenzend wirken. Zugleich erfreut sich die evangelische Kirche mit ihrer Kirchenmusik eines großen Zuspruchs. Der evangelische Gottesdienst leistet auch durch seine Musik einen kostbaren Beitrag dazu, elementar Menschliches zu bewahren. Schon von sozialpsychologischer Seite aus wird der Wert des Singens als „effektive psychische Bewältigungsstrategie“ und „elementares Bildungsgut“ hoch geschätzt.32 Ebenso gibt es von theologischer Seite aus keinen Zweifel an der Bedeutung der Musik für die Religiosität des Einzelnen, für religiöse Gemeinschaftserfahrungen und für die innere Offenheit Gott und dem Glauben gegenüber.33
Aussage 8: Hier manifestiert sich eine spirituelle Gemeinschaft. Gottesdienste sind gemeinschaftlich vollzogene Handlungen. Die Erfahrung der Nähe des auferstandenen Christus hat schon die Urgemeinde mit der Gemeinschaft derer verknüpft, die sich in seinem Namen versammeln (Mt 18,20). Im Gottesdienst manifestiert sich die Gemeinschaft derer, die in ihrer Taufe zum „allgemeinen Priesteramt“ ordiniert worden sind. Auf dem gemeinsamen Gebet der vielen liegt eine besondere Verheißung.34 Die Gemeinschaft im Gottesdienst beruht nicht primär auf der Sympathie derer, die miteinander feiern. Sie kann hinzukommen, und das ist sehr wünschenswert. Aber nicht die Sympathie ist das gemeinschaftsstiftende Element, sondern die gemeinsame Bezogenheit auf Christus. Diese schließt die gegenwärtig feiernde Gemeinde zugleich mit den an Christus Glaubenden vor uns (in der Geschichte), neben uns (in der weltweiten Ökumene) und nach uns (in der Zukunft) zusammen. Das gemeinsame Sanctus verbindet die irdische Gemeinde spirituell, im Geist Gottes, symbolisch gesprochen sogar mit der „himmlischen Gemeinde“. Evangelischer Gottesdienst, auch wenn er eine gemeinschaftliche Feier darstellt, muss nicht uniform gestaltet sein. Er kann je nach den jeweils vorhandenen 31 32 33 34
Vgl. Möller , Kirchenlied und Gesangbuch, 93–111. Vgl. Bubmann/Landgraf, Musik, 28. A. a. O., 41–43. Luther, Sermon, 100.104f.
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Traditionen, soweit sie liturgisch akzeptabel erscheinen, oder nach den je gegebenen Situationen gefeiert werden. Weil der evangelische Gottesdienst auf konkrete Menschen und zu einer bestimmten Zeit existierende Gemeinden bezogen ist, gibt es nicht den einen richtigen Gottesdienst, sondern aus seelsorgerlichen Gründen verschiedene Formen evangelischen Gottesdienstes. Die Einheit des Gottesdienstes liegt darin, dass in ihm stets das Evangelium zur Darstellung und Mitteilung gebracht wird,35 und dass er auch formal Grundelemente des christlichen Gottesdienstes einbezieht, wie sie sich von Anfang der Kirche an herausgebildet haben. In der gegenwärtigen Gesellschaft sind Tendenzen der Individualisierung stärker ausgeprägt als solche von Integration und Gemeinschaft. Zugleich ist unverkennbar, dass in einer von Vereinzelung geprägten Gesellschaft auch bestimmte gemeinschaftliche Vollzüge wieder neu attraktiv werden können. Auch der evangelische Gottesdienst könnte in seiner rituellen Struktur36 ein solcher Vollzug sein, der Formen der Gemeinschaft bereitstellt und der zugleich auch dem individuellen Bedürfnis nach Distanz gerecht wird.
Aussage 9: Durch die Gottesdienste entstehen spirituelle Räume. Gottesdienste können überall stattfinden, sowohl in der freien Natur wie in festen Häusern, sowohl in Kirchen und Kathedralen, die speziell für Gottesdienste gebaut worden sind, wie auch in Zimmern oder Sälen, die auf Zeit dazu genutzt werden. Denn Gott „wohnt nicht in Tempeln, die mit Händen gemacht sind“ (Apg 7,48). Dennoch entstehen überall dort, wo Gottesdienste gefeiert werden, Räume, die in ihrer Weise spirituell geprägt sind. Sie erleichtern nicht nur funktional das gemeinsame Singen und Beten, das öffentliche Reden und Hören, sondern sie wollen in ihrer baulich-künstlerischen Weise das, was im Gottesdienst geschieht, aufgreifen und eigenständig zum Ausdruck bringen. Schon bei Gottesdiensten im Freien sucht sich eine Gemeinde einen Ort, an dem sie das Schöpfungswirken Gottes besonders eindrucksvoll empfindet – beispielsweise auf einem hohen Berg oder an einem schönen Flussufer. In entsprechender Weise versuchen dann Kirchenbauten, mit ihren Türmen oder mit ihrem Gewölbe auf den Himmel Gottes zu verweisen oder mit ihren Fenstern Hinweise auf jene andere Welt zu geben, die im Gottesdienst spirituell „betreten“ werden kann. Die Liturgie prägt zudem in ihrer Weise die Architektur und die Kunstwerke, die für die gottesdienstlichen Räume geschaffen werden. Und die gottesdienstliche Nutzung dieser Räume hinterlässt „Spuren“, die in ihrer Weise 35 So die Gottesdienst-Definition von Meyer-Blanck, Gottesdienstlehre, 37. 36 Vgl. dazu Meyer-Blanck, Gottesdienstlehre, 40–51.
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zur Teilnahme an dieser spirituellen Gemeinschaft einladen können.37 Heilig oder spirituell sind Kirchenräume nicht in einem ontischen oder magischen, vielmehr in einem abgeleiteten indirekten Sinn: Weil sich in ihnen die „Gemeinschaft der Heiligen“ versammelt und weil hier immer wieder um das Kommen des spiritus sanctus gebetet wurde und gebetet wird. Die so entstandenen Kirchenbauten stellen in der Gegenwart „spirituelle Potentiale“38 allerersten Ranges dar, von denen viele Menschen als Touristen immer wieder stark angezogen werden. Insofern geht die Bedeutung dieser Räume weit über die Zahl derer hinaus, die sie zum Gottesdienstvollzug nutzt. Soziologisch bietet sich vor allem Michel Foucauds Theorie der „Heterotopie“ an, um die Anziehungskraft von Kirchen in einer weithin entkirchlichten Gegenwart zu verstehen: Die für den Gottesdienst gebauten Räume erweisen sich als Orte, die durch ihr Anderssein auf eine Wirklichkeit anderer Art verweisen als die gewohnte und alltägliche Lebenswelt.39 Und es fällt auf, dass es gerade architektonisch deutlich anders geprägte Bauten sind, die mit ihren Zeichen von religiöser Transzendenz, von ehrwürdiger Tradition oder angedeuteter Utopie von den Zeitgenossen besonders gern aufgesucht werden, während Kirchen neuerer Art, die architektonisch die Nähe zum säkularen Bauen gesucht hatten, wenig beachtet werden. Auf jeden Fall bietet es sich an, die in Kirchenräumen architektonisch und künstlerisch verschlüsselten spirituellen Zeichen besonders den Menschen zu erschließen, die zu einem Gemeindegottesdienst meist nicht kommen, aber die als Touristen bewusst oder unbewusst oft auch spirituell auf der Suche sind nach dem „Anderen“, nach neuen Antworten oder einem erneuerten Lebenssinn.40
Aussage 10: Gottesdienste vergegenwärtigen das Evangelium in der Zeit. Gottesdienste finden in bestimmten Zeitrhythmen statt: am Sonntag und damit im Rhythmus der Woche, im Jahresrhythmus, eingeordnet in das Kirchenjahr, oder an biografischen Schwellenzeiten, einbezogen in die persönliche Biografie der Gläubigen. Auf diese Weise helfen sie dazu, dem Evangelium auf eine zutiefst menschliche Weise begegnen zu können.41 Das Kirchenjahr mit seinen festlichen und festlosen Zeiten wird vor allem durch die in ihm stattfindenden Gottesdienste manifestiert. Aber es steht gegenwärtig in der Gefahr, unter den kom37 Das Konzept von den Spuren im Kirchenraum vertritt gegenwärtig vor allem Klaus Raschzok (in: Raschzok, Kirchenbau, 391–412) unter Verweis auf Hans Asmussen. 38 A. a. O., 391. 39 Foucault, Andere Räume, 34–46. 40 Die „Kirchenpädagogik“ hat sich dieser Aufgabe angenommen, vgl. dazu Rupp, Handbuch. 41 Bieritz, Kirchenjahr, 27.
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merziellen Interessen einer Gesellschaft sein eigentliches Profil zu verlieren. Der Gottesdienstbesuch im Rhythmus des Kirchenjahres hilft, der umfassenden biblischen Heilsgeschichte in konkreten fasslichen Inhalten zu begegnen, und er kann dazu beitragen, den ursprünglichen Sinn der christlichen Feste und Überlieferungen kennenzulernen, zu bewahren und Missdeutungen abzuwehren. Der persönliche Lebenslauf des einzelnen Gläubigen kann, vornehmlich in Übergangszeiten von einer Lebensphase in eine andere und in mitunter als kritisch erlebten Lebenssituationen, gottesdienstlich begangen werden. Es kann sich um die Einschulung eines Kindes handeln oder um die Schwelle zum Jugendalter, um den offiziellen Beginn eines gemeinsamen Lebensweges als Paar, um schwere Krankheiten und deren Heilung, um den Eintritt in den Ruhestand oder um herausgehobene Geburtstage, aber auch um Stunden des Abschieds von einem lieben Menschen – in all diesen Lebensrhythmen wird das Evangelium einer einzelnen Person persönlich zugesprochen und ihr Gottes Geleit zugesagt.42 Diese sogenannten Kasualien gehören zu dem, was viele evangelische Christen, darunter auch solche, die kaum einen Sonntagsgottesdienst besuchen, spirituell von ihrer Kirche und von ihrem Gottesdienst erwarten. Bedingt durch das „Ineinander von geringer werdender Traditionsverhaftung und gleichzeitigem Anspruch auf eigenständiges Handeln“,43 wie es gegenwärtig oft zu erleben ist, ist die Vorbereitung und Durchführung solcher Gottesdienste oft eine anspruchsvolle Aufgabe.
Aussage 11: Der Gottesdienst unterbricht den Alltag und strahlt auf ihn aus. Gottesdienste finden vor allem sonntags statt. Der Sonntag verdankt sich ja selbst dem christlichen Gottesdienst, der an diesem Tag im Gedenken der Auferstehung Jesu Christi gefeiert und der dann vom 4. Jahrhundert an unter staatlichen Schutz als arbeitsfreier Tag gestellt wurde.44 Die Alltagszeit der Arbeit und der hier gegebenen Zwänge und Verpflichtungen sollte an diesem Tag durch die andere Zeit des Gebets, der Sammlung, des Hörens auf das Wort Gottes unterbrochen werden. Inzwischen ist der Sonntag längst in das arbeitsfreie „Wochenende“ eingegliedert worden, das noch mehr arbeitsfreie Zeit für familiäre Kommunikation, körperliche Erholung, Bildung oder kulturelle Interessen bereitstellt. Der 42 Die „Weitung des Konzepts der Kasualien“ um zusätzliche Anlässe wie Schulbeginn oder runder Geburtstag vertritt zu Recht Grethlein, Kasualien, 322. 43 A. a. O., 396. 44 Bieritz, Kirchenjahr, 51–59.
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Sonntagsgottesdienst unterbricht deshalb nicht nur die Arbeitswoche, sondern auch die am Wochenende bestehenden Verpflichtungen. Er stellt eine spezifische Form der Einkehr unter dem Evangelium dar. Die Kategorie der „Unterbrechung“ (Friedrich Schleiermacher)45 dient nicht nur dazu, eine zeitliche Aussage über den Gottesdienst zu machen, sondern es geht zugleich um inhaltlichsymbolische Zusammenhänge: Hier im Gottesdienst geht es nicht vordergründig um bestimmte Zwecke, die erfüllt werden müssen. Hier steht einmal nicht der homo faber mit seiner Leistung im Mittelpunkt des Geschehens, sondern der Mensch in einer Form von „aktivischer Passivität, so dass die passive Gerechtigkeit vor Gott bestimmend wird. Der Mensch überschreitet in der Liturgie die Schwelle vom Tun zum Sein“.46 Schon im Neuen Testament werden der rituell gefeierte und der im Alltag gelebte Gottesdienst aufeinander bezogen (Röm 12,1). Luther konnte als Ausdruck seiner evangelischen Hochschätzung des Berufs den Begriff Gottesdienst in geradezu provokanter Weise auch auf die praktische Arbeit im Alltag anwenden. Der gefeierte Gottesdienst, auch wenn man ihn mit Schleiermacher nicht in enger Weise funktionalisieren darf, will dennoch die Gläubigen dazu ermutigen, sich nun wieder gestärkt dem Alltag in Familie, Beruf und Gesellschaft zuzuwenden und dort in christlicher Verantwortung zu wirken. Deshalb steht am Ende des Gottesdienstes der Segen des dreieinigen Gottes. Er soll die Gläubigen ermutigen, den Weg über die Schwelle des besonderen Raumes und der besonderen Zeit hinweg nach draußen, hinein in die sich stellenden Herausforderungen zu gehen. Dazu wird ihnen auf konzentrierte Weise Gottes Geleit zugesprochen. Soweit die elf knappen Aussagen, die den spirituellen Wert des Gottesdienstes in ihrer Weise festhalten sollten. Es stellt sich freilich sofort die Frage, inwiefern der hohe spirituelle Wert unserer Gottesdienste bei den meisten evangelischen Gemeindegliedern so wenig im Blick ist und wieso es zu einer so starken evangelischen Gottesdienstdistanz kommen konnte. Dabei dürften langfristige gesellschaftliche und religiöse Entwicklungen eine wichtige Rolle spielen, die noch immer nachwirken. Aber es kann sein, dass auch die liturgisch Verantwortlichen selbst den Gottesdienst oft vor allem als berufliche Last empfinden und dass sie seinen spirituellen Wert eher infrage stellen. Zudem kennen sich viele Gemeindeglieder in Sachen Liturgie und Theologie des Gottesdienstes wenig aus. Und es kommt hinzu, dass viele Gottesdienste Gestaltungsmängel aufweisen und das, was als bedeutsam herausgestellt und durch die gottesdienstliche „Inszenie45 Ausschnitte aus Schleiermachers Praktischer Theologie bei Meyer-Blanck, Liturgie und Liturgik, 161–170, bes.162. 46 Meyer-Blanck, Gottesdienstlehre, 394.
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rung“47 unterstrichen werden müsste, kaum zur Wirkung kommen kann. Als ein Beispiel sei die Nachlässigkeit genannt, mit der in vielen evangelischen Gottesdiensten die biblischen Lesungen behandelt werden. Der hier angesprochene erste Weg zieht eine Menge gestalterischer Aufgaben nach sich und macht es notwendig, in den Gemeinden regelmäßig über Fragen der Theologie und der Gestalt des Gottesdienstes zu arbeiten. Nun soll aber in knapper Weise der notwendige zweite Weg angesprochen werden.
4.
Ausblicke auf den zweiten Weg: Die persönliche Spiritualität wertschätzen und gottesdienstlich integrieren
4.1
Zur Bedeutung der individuellen Spiritualität im evangelischen Kontext
Die evangelische Spiritualität hat in Luthers Lebensweg ihre erste starke biografisch-symbolische Darstellung gefunden, insofern hier ein einzelner Mensch von seiner persönlichen Glaubenseinsicht her gegen wesentliche Grundsätze und anerkannte Riten der damaligen Weltkirche aufgestanden ist. Dass Christen ihre persönlichen geistlichen Erfahrungen sammeln und dass sie eigene spirituelle Überzeugungen ausprägen, gehört insofern zu den selbstverständlichen Voraussetzungen des evangelischen Kirchenverständnisses. Die Reformatoren haben deshalb die geistliche Bedeutung des Einzelnen, und zwar nicht nur des einzelnen ordinierten Theologen, sondern der getauften Gemeindeglieder überhaupt in der Formel vom „Allgemeinen Priestertum der Gläubigen“ zum Ausdruck gebracht. Kirchenrechtlich liegt hierin auch der Grund dafür, dass Kirchenvorstände nicht nur für technisch-organisatorische Fragen der Gemeindearbeit zuständig sind, sondern ebenso für viele geistliche Fragen, auch – im Zusammenwirken mit den Ordinierten und im Rahmen der landeskirchlichen Gesetze – für den Gottesdienst. Der zweite Weg, mit dem die Kluft zwischen Gottesdienst und individueller Spiritualität dezimiert werden soll, geht deshalb davon aus, dass nicht nur die überlieferte Liturgie ein unersetzbarer spiritueller Schatz ist, sondern dass ebenso die individuelle Spiritualität einen Reichtum an Erfahrungen darstellt, der deshalb nicht verdrängt, sondern theologisch wertgeschätzt und gottesdienstlich integriert werden soll. Das heißt nicht, dass persönliche spirituelle Überzeugungen und Erfahrungen nicht kritisiert werden dürften!
47 Zum Inszenierungsbegriff vgl. Meyer-Blanck, Inszenierung.
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4.2
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Eine elementare Spannung
Der katholische Liturgiewissenschaftler Albert Gerhards hat von anderen theologischen Voraussetzungen her in einem Aufsatz die Überzeugung geäußert, dass überzeugende Gottesdienste die persönlichen Erfahrungen der Menschen mit dem vorgegebenen Ritual verbinden sollten. Es genüge nicht, nur exakt die Rubriken des vorgeschriebenen Rituals zu befolgen oder – im Gegenteil – ohne Rücksicht auf den überlieferten Ritus nur die eigenen Themen und Anliegen kreativ zu gestalten. Vielmehr gehe es um eine fundamentale „Spannung“ zwischen dem vorgegebenen Ritual und der persönlichen Erfahrung der Teilnehmenden, in der der „symbolische Raum“ entstehen könnte, „der die Mitfeier der Liturgie zu einer Kraftquelle christlicher Spiritualität werden“ lasse.48 Was das heißen könnte, deutet Gerhards unter den Stichworten der Zeiterfahrung, der Raumerfahrung und der sakramentalen Erfahrung aus dem Bereich der katholischen Liturgiepraxis an. Das evangelische Projekt der Erneuerten Agende, wie es dann im „Evangelischen Gottesdienstbuch“ Gestalt angenommen hat, zielt in seiner Weise exakt darauf ab, die fundamentale Spannung zwischen dem überlieferten gottesdienstlichen Ritus und den Erfordernissen vor Ort, tendenziell auch: den spirituellen Bedürfnissen in Kirchenkreisen, Gemeinden und Gemeindegruppen, zum Grundprinzip liturgischen Arbeitens zu machen. Ihr wird Ausdruck gegeben in dem Miteinander einer festen Grundstruktur des Gottesdienstes und den bestimmten variablen Gestaltungsformen, zu denen das Gottesdienstbuch selbst vielfältige Anregungen gibt. Die genannte Spannung zwischen verbindlicher ritueller Grundstruktur und Gestaltung muss zugleich mit dem ersten Kriterium des Gottesdienstbuches zusammen gelesen werden, nach dem „der Gottesdienst unter der Verantwortung und Beteiligung der ganzen Gemeinde gefeiert“ werden soll.49 Die Variabilität in der evangelischen Liturgie dient also nicht primär dazu, Räume für die persönlichen ästhetischen oder theologischen Vorlieben des jeweiligen Liturgen, der jeweiligen Liturgin zu eröffnen, sondern vor allem dazu, einen Brückenschlag zwischen Liturgie und Gemeinde zu ermöglichen, einen Raum, in dem einerseits der überlieferte Ritus grundlegend respektiert wird und in dem andererseits die gegenwärtigen spirituellen oder situativen Prägungen und Anliegen zugleich eingebracht werden. Es geht dabei in der Tat um eine Spannung, die mitunter auch als Konkurrenz erlebt wird: Einerseits lebt der Gottesdienst als Ritual von Wiederholungen, von regelmäßiger Glaubenspraxis, und er benötigt dazu feste Texte und Strukturen. Andererseits bietet die evangelische Liturgie auch Raum für das der Zeit und bestimmten Gruppen Ent48 Gerhards, Symbol, 271. 49 Evangelisches Gottesdienstbuch, 15.
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sprechende, man denke beispielsweise an Predigt und Fürbittengebet, an kurze Worte der Begrüßung oder Einführung oder an moderne Lieder. Die Spannung zwischen dem Persönlichen und Heutigen auf der einen Seite und dem festen Ritual mit seiner in ihm gespeicherten Überlieferung ist aber grundlegend notwendig und bedeutsam. Denn gerade so verfügt der Gottesdienst über Substanz und über einzelne Elemente, die über das Tagesaktuelle und nur Persönliche hinausweisen und es „in einen größeren Zusammenhang in dem Geschehen zwischen Gott und Mensch“ stellen.50 Denn – mit den Worten von Hanns Kerner: „Ein nach bestem Wissen zeitgemäß [man könnte ergänzen: persönlich-spirituell oder milieubezogen niedrigschwellig, W.R.] gestalteter Gottesdienst, kann mindestens genauso ausgrenzend wirken wie ein traditionell liturgischer, wenn er über das Zeitgebundene nicht hinausweist“.51
4.3
Evangelisches Profil und Offenheit
„Der evangelische Gottesdienst wird katholischer und umgekehrt der katholische evangelischer“, so urteilt Meyer-Blanck in einem kürzlich erschienenen Aufsatz über die derzeitig wahrnehmbaren liturgischen Tendenzen in beiden Kirchen.52 Dass der katholische Gottesdienst evangelischer geworden ist, freut uns Evangelische natürlich. Sachlich ist dabei an die Gottesdienst-Konstitution des II. Vatikanischen Konzils zu denken, die Luthers Formel vom Gottesdienst als Gespräch Gottes mit uns Menschen und der Menschen mit Gott liturgietheologisch integriert und weitere reformatorische Forderungen wie die der Verständlichkeit der Verkündigung und der Beteiligung der Gemeinde aufgenommen hat.53 Katholische Gottesdienste bemühen sich seither deutlich darum, dem Wort Gottes praktisch und symbolisch mehr Raum zu geben und den Vollzug insgesamt verständlicher zu gestalten. Dagegen haben wir nichts einzuwenden. Aber darf der evangelische Gottesdienst katholischer werden? Und was ist damit gemeint? Gemeint ist die spürbare Tendenz, im evangelischen Gottesdienst dem symbolischen Geschehen, dem Geheimnis der Gottesbegegnung und dem Nonverbalen stärker Raum zu geben. Im Evangelischen Gottesdienstbuch wird theologisch die ökumenische Offenheit damit gerechtfertigt, dass evangelischer Gottesdienst immer auf die ganze Kirche Jesu Christi bezogen sei und dass er deswegen „für den Reichtum der Spiritualität in den anderen Kirchen offen“54 sei. Nach meinem Eindruck können wir noch immer von den oft überzeugend ge50 51 52 53 54
Kerner, Spiritualität, 235. A. a. O., 235. Meyer-Blanck, Mysterium und Verstehen, 34. Sacrosanctum Concilium, in: Rennings, Dokumente, Bd. 1. Evangelisches Gottesdienstbuch, 15.
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stalteten Gottesdiensten in der katholischen Kirche lernen. So fällt mir beispielsweise auf, dass wir zwar in unseren Gottesdiensten auch ab und zu festliche große Einzüge gestalten. Aber da wir das in der Regel ohne die Mitnahme von Symbolen tun, also ohne Kreuz, Lektionar oder Kerzen, wirken sie oft so, als solle eine Gemeinde den liturgischen Akteuren nun stehend Aufmerksamkeit zuwenden und Beifall zollen. In den ZDF-Gottesdiensten kann man die Peinlichkeit evangelischer Einzüge oft eindrücklich wahrnehmen. Andere Beispiele wären leicht anzufügen. Insgesamt tun wir gut daran, wenn wir in unseren Gottesdiensten den nonverbalen und sinnlichen Vollzügen, nicht zuletzt den uns durch unsere Kirchenräume und die Sakramente gegebenen gestalterischen Möglichkeiten, künftig noch mehr und noch überzeugender Raum geben, als es nach der evangelischen Tradition der letzten 200 Jahre üblich war. Wenn diese Tendenz mit „katholischer werden“ gemeint ist, dann ist das kein Problem. Die allgemeine Aufmerksamkeit für ästhetische Fragen ist gegenwärtig in Theorie und Praxis des evangelischen Gottesdienstes glücklicherweise gewachsen. Wenn sie sich nicht verselbstständigt, dann könnte daraus eine höhere Kompetenz für einen überzeugende „Inszenierung des Evangeliums“ (M. Meyer-Blanck) in den evangelischen Gottesdiensten erwachsen. Aber wir sollten bei aller notwendigen konfessionellen und ästhetischen Offenheit zugleich das evangelische Profil und die Konturen der damit gesetzten evangelischen Spiritualität nicht preisgeben, sondern pflegen und fortentwickeln. Michael Meyer-Blanck findet dieses Profil kurz gesagt darin, „dass der evangelische Gottesdienst seine spezifische Spannung von Wort und Symbol, von Ritus und Rede behält“.55 Auch liturgisch setzt Offenheit eigenes Profil voraus, sonst wird sie zur Indifferenz. Ich breche hier ab, da es nur um Ausblicke auf den zweiten Weg gehen konnte, nicht um dessen umfangreiche Beschreibung. Ich möchte diesen Beitrag schließen, indem ich nicht einem Theologen, sondern einem prominenten Religionssoziologen das Wort gebe. Im Rahmen der IV. Kirchenmitgliedschaftsuntersuchung der EKD hat Detlef Pollak geäußert: „Wenn ein hoher Anteil an Kirchenmitgliedern etwa meint, dass der Gottesdienstbesuch unwichtig für ihren Glauben sei und dass man auch ohne Kirche gläubig sein könne, so wird sie [sc. die Kirche, W.R.] dem energisch widersprechen müssen – und zwar nicht nur aus theologischen Gründen oder Gründen der institutionellen Selbstbewahrung, sondern auch, weil sich hier die Menschen über die Konstitutionsbedingungen ihres Glaubens täuschen“.56
55 Meyer-Blanck, Mysterium und Verstehen, 34. 56 Pollack, Detlef, in: Huber u. a., Kirche, 132.
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Es ist allerdings nicht mit dem Widerspruch getan, sondern es kommt vielmehr darauf an, ihn praktisch wirksam zu gestalten, wie ich das im Konzept mit den beiden Wegen angedeutet habe.
Literatur Quellen Die Bekenntnisschriften der evangelisch-lutherischen Kirche, hg. im Gedenkjahr der Augsburgischen Konfession 1930, Göttingen bzw. Berlin 51960. Evangelische Kirche der Union (Hg.), Ordnung des kirchlichen Lebens der Evangelischen Kirche der Union, Berlin 1999. Kirchenamt der EKD (Hg.), Der Gottesdienst. Eine Orientierungshilfe zu Verständnis und Praxis des Gottesdienstes in der evangelischen Kirche. Im Auftrag des Rates der EKD, Gütersloh 2009. Kirchenamt der EKD (Hg.), Äußerungen des kirchlichen Lebens im Jahr 2013, Hannover 2015. Kirchenleitung der Vereinigten Evangelisch-Lutherischen Kirche Deutschlands und Kirchenkanzlei der Evangelischen Kirche der Union (Hg.), Evangelisches Gottesdienstbuch, Taschenausgabe, Berlin 2000. Leitlinien kirchlichen Lebens der Vereinigten Evangelisch-Lutherischen Kirche Deutschlands (VELKD). Handreichung für eine kirchliche Lebensordnung, Gütersloh 2003. Luther, Martin, Ein Sermon von dem neuen Testament, das ist von der heiligen Messe (1520), in: Bornkamm, Karin/Ebeling, Gerhard (Hg.): Martin Luther, Ausgewählte Schriften Bd. 2, Frankfurt a.M. 1983, 78–113; außerdem in: D. Martin Luthers Werke. Kritische Gesamtausgabe, Bd. 6, Weimar 1888, 353–378 (=WA 6). –, Ein kleiner Unterricht, was man in den Evangelien suchen und erwarten soll, in: a. a. O., 197–205; außerdem in: D. Martin Luthers Werke. Kritische Gesamtausgabe, Bd. 10, I/1, Weimar 1910, 8–18 (=WA 10, I/1).
Forschungsliteratur Albrecht, Christoph, Einführung in die Hymnologie, Göttingen 1995. Barz, Heiner, Postmoderne Religion. Die junge Generation in den Alten Bundesländern. Jugend und Religion 2, Opladen 1992. Bieritz, Karl-Heinrich, Das Kirchenjahr. Feste, Gedenk- und Feiertage in Geschichte und Gegenwart, (Ost-)Berlin 1986. Bubmann, Peter/Landgraf, Michael (Hg.), Musik in Schule und Gemeinde, Stuttgart 2006. Cornehl, Peter, Der Evangelische Gottesdienst – Biblische Kontur und neuzeitliche Wirklichkeit, Bd. 1, Stuttgart 2006. Dahlgrün, Corinna, Christliche Spiritualität. Formen und Traditionen der Suche nach Gott, Berlin/New York 2009.
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David Plüss
Evangelische Spiritualität und Sakrament
1.
Spannungsverhältnisse
Der Zusammenhang von evangelischer Spiritualität und Sakrament impliziert Spannungs- und Kontrastverhältnisse. Zunächst geht es um das Kontrastverhältnis, das Begriff und Sache der Spiritualität prägt. Mit Spiritualität wird gemeinhin die individuelle und verinnerlichte Religion bezeichnet, die sich unterscheidet von der kollektiven, äußerlichen und institutionalisierten.1 Dieser Gegensatz ist nicht nur für die „neospirituelle[] Kritik kirchlicher Religiosität“2 der Gegenwart maßgeblich, sondern lässt sich durch die Christentumsgeschichte hindurch zurückverfolgen. Es handelt sich um eine Grundspannung, die die christliche Religionskultur bestimmt – seit ihren Anfängen in der Religionskritik Jesu3 über die ekstatischen Gottesdienste in der Gemeinde zu Korinth (1Kor 14) und die mittelalterliche Mystik, die Reformation und den Pietismus bis zu den charismatischen Aufbrüchen und Bewegungen der Gegenwart – um nur wenige Schlaglichter zu werfen. Die Rede von einer „evangelischen Spiritualität“ bringt zudem die Intention zum Ausdruck, die Äußerungsformen oder zumindest die Theologie der Spiritualität konfessionell zu konturieren. Diese Intention steht in Spannung dazu, dass die Erscheinungsformen sowie die „sapientialen“ Ausdrucks- und Reflexionsformen von Spiritualität4 Konfessionsgrenzen immer wieder unterlaufen. Die Komplexität des Unternehmens wird zusätzlich durch den Umstand gesteigert, dass mit Spiritualität und mit Sakrament Bezeichnetes nicht auf derselben Ebene liegen und sich somit nur bedingt vergleichen lassen. Mit Spiri1 Zimmerling, Evangelische Spiritualität, 36–39. 2 Peng-Keller, Theologie der Spiritualität, 12. 3 Die Religionskritik Jesu ist mit Gerd Theißen als Revitalisierung der jüdischen Religion zu verstehen, als eine durch Jesus aufgezeigte und vorgelebte Transformation des Mythos vom kommenden Gottesreich (vgl. Theißen, Religion der ersten Christen, 47ff). – Für diesen und weitere dienliche Hinweise bin ich Andreas Köhler-Andereggen zu Dank verpflichtet. 4 Vgl. dazu Peng-Keller, Theologie der Spiritualität, 20.
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tualität wird gemeinhin die praxis pietatis bezeichnet, der individuelle oder gemeinschaftliche religiöse Vollzug. Mit Sakrament kommt hingegen zunächst ein abstraktes theologisches Konzept in den Blick, das immer wieder die rabies theologorum, den Streit unter Theologen, zu entzünden vermochte und zu Kirchenspaltungen führte. Um Spiritualität und Sakrament vergleichen zu können, wird es darum unabdingbar sein, sie auf eine gemeinsame Ebene zu bringen. Eine solche kann dadurch erreicht werden, dass wir beide als je spezifische Formen religiöser Erfahrung behandeln und dabei die erfahrungstheoretische Trias von Erlebnis, Ausdruck (oder Vollzug) und Deutung in Anschlag bringen.5 Während bei der Spiritualität die individuelle religiöse Praxis und deren Erleben im Zentrum stehen und die theologische oder religiöse Interpretation nachgeordnet ist, steht beim Sakrament der Zusammenhang von institutionalisiertem Ritus und kirchlicher Lehre bzw. theologischer Deutung im Fokus. Das sakramentale Erleben kommt hingegen kaum in den Blick. Für den Vergleich wird es von Belang sein, ob und wie es gelingt, Spiritualität und Sakramentalität erfahrungstheoretisch in den Blick zu bekommen; ob und wie es gelingt, die jeweils abgeschatteten Aspekte ins Licht zu rücken. Eine letzte Schwierigkeit ist einleitend zu nennen: Gegenstand, Vollzug und Bedeutung des mit Sakrament Bezeichneten waren schon immer strittig.6 Sakrament ist bekanntlich kein biblischer Begriff. Das neutestamentliche μυστήριον ist keineswegs gleichbedeutend mit dem mittelalterlichen Sakramentsbegriff der Westkirche, sondern bezeichnet das Geheimnis der göttlichen Inkarnation in Christus (Mk 4,10–12; vgl. Mt 13,10; Lk 8,9f). Mit Augustinus lässt sich eine weite und eine enge Verwendung des Begriffs unterscheiden: In einem weiten Verständnis handelt es sich um solche Zeichen (signa), die auf die geistige, transzendente Wirklichkeit Gottes hinweisen und das Geheimnis der Inkarnation (sacramentum incarnationis) verkörpern. Davon ist bei Augustinus eine engere Verwendungsweise zu unterscheiden, die sich auf Taufe und Abendmahl bezieht.7 Die Ostkirche hielt „stets an der weiten Auffassung des μυστήριον fest und übernahm erst seit dem Konzil von Lyon 1274 die abendländische Siebenzahl der S[akramente] – allerdings nur halbherzig und ohne den Kreis der Mysterien […] jemals definitorisch klar und verbindlich festzulegen“.8
Vor diesem Hintergrund, aber auch aufgrund der Spannweite unserer Fragestellung, scheint es mir angezeigt, den Begriff des Sakraments in einem weiten Sinn zu verwenden, der über Taufe und Abendmahl hinausgeht und weitere 5 6 7 8
Vgl. dazu Jung, Religiöse Erfahrung, 135–149; Plüss, Religiöse Erfahrung, 242–257. Vgl. dazu Köpf, Sakramente, 752–755. Vgl. a. a. O., 752f; Wenz, Sakramente, 665f. Köpf, Sakramente, 752.
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„sakramentale“ Handlungen mit einbezieht. Entsprechend ist in diesem Beitrag nicht nur von den Sakramenten, sondern äquivok auch von der Sakramentalität liturgisch-ritueller Handlungen oder von sakramentalen Vollzügen die Rede. Allerdings sollen Taufe und Abendmahl nicht aus dem Blick geraten. Im Folgenden ist zunächst das Verhältnis von evangelischer Spiritualität und Sakramenten in grundsätzlicher Weise zu beleuchten. Sodann werden exemplarische Texte vorgestellt und analysiert, die das Verhältnis aus biblischer, lutherischer und reformierter Perspektive behandeln. Dabei soll die These erhärtet werden, wonach das Verhältnis von Spiritualität und Sakrament, von Aszetik und Liturgik, von religiöser Erfahrung und Ritual als produktive Grundspannung von Religion und Glauben zu beschreiben ist, die es theologisch einzuholen und zu reflektieren gilt. Denn die grundsätzliche Infragestellung von rituell und institutionell verfestigter Religionspraxis stellt eine christentums- und religionsgeschichtliche Konstante dar und ist für die Vitalisierung und Verflüssigung machtförmig und gewohnheitsrechtlich verkrusteter Religionspraxis unabdingbar. Andererseits stellen institutionelle Stabilisierung und sakramental-rituelle Verdichtung religiöser Praxis keine Verfallsformen christlicher Religion dar, sondern sind anthropologische und soziale Grundkonstanten jedweder Religion.
2.
Eigentümliche Beziehungslosigkeit
Es ist der Grundgegensatz von individueller und kollektiver Religion, von fides qua und fides quae,9 von persönlichem Glaubenszeugnis und liturgischem Bekenntnis, von affektiv erlebter und aus Pflicht und Gewohnheit vollzogener Religion, von religiöser Erfahrung und von Ritual, welcher der Spiritualität für viele Menschen – gerade auch für kirchendistanzierte Menschen der Spätmoderne – Anziehungskraft verleiht. Und auch wenn aus religionstheoretisch-analytischer wie aus theologisch-normativer Sicht der Zusammenhang der beiden Pole als konstitutiv zu bezeichnen ist, sind sie in historisch-deskriptiver Perspektive doch in sehr unterschiedlichen Mischungsverhältnissen und bemerkenswerten Einseitigkeiten anzutreffen. Nun sind diese eher allgemeinen Bemerkungen zur Spiritualität für unsere Fragestellung darum von besonderer Brisanz, weil die Sakramente auf die Seite der kirchlich verfassten, kollektiven und rituellen Religion und also in Opposition zur Spiritualität geraten oder zumindest deren Gegenpol darstellen. Dass eine solche Polarisierung nicht nur der Konstruktion einer typologischen Kon9 Mit der fides qua wird der Glaube als Lebenshaltung und Selbstvollzug, mit der fides quae der Glaube als in Satzwahrheiten bzw. theologischen Aussagen und Systemen verfestigter Gegenstand bezeichnet.
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trastfigur geschuldet, sondern auch historisch und inhaltlich begründet ist, wird etwa daran ersichtlich, dass in der ersten reformierten theologia ascetica von Gisbert Voetius (1589–1676), dem Werk mit dem Titel TA AΣKETIKA sive exercitia pietatis aus dem Jahre 1664,10 zwar die Meditation und das Gebet verhandelt werden, die Bekehrung und die lectio divina, die Tränen und das Lachen, die Kontemplation und die geistliche Erfahrung, der Sonntag und das Fasten, das Wachen und das Schweigen, der geistliche Kampf, die Trostlosigkeit und die ars moriendi – aber weder Taufe noch Abendmahl. Diese gehören demnach nicht zu den exercitia evangelischer Frömmigkeit. Alle die genannten Formen spiritueller Praxis sind denn auch individuelle und außerliturgische. Der Eindruck einer eigentümlichen Beziehungslosigkeit zwischen Spiritualität und Sakramenten bestätigt und differenziert sich, wenn wir uns die verschiedenen theologischen Verortungen der Spiritualität als einer theologischen Disziplin vergegenwärtigen, wie sie in der Neuzeit und Moderne vorgenommen wurden. Beim genannten Voetius fungierte die Aszetik als Fach innerhalb der Praktischen Theologie – neben der Homiletik, der Poimenik und der Kybernetik.11 Voetius vermochte damit im evangelischen Bereich nicht unmittelbar Schule zu machen. Die Aszetik wurde in der Folgezeit vom orthodoxen Lutheraner Johann Andreas Quenstedt (1617–1688) in die Pastoraltheologie überführt und dort als Ethica pastoralis entfaltet.12 Die von Quenstedt lancierte Verbindung von Spiritualität und Pfarramt fand auch in den reformierten Stammlanden Zustimmung und führte etwa dazu, dass sich „der Verein der reformierten Pfarrer im Kanton Zürich seit seiner Gründung im Jahre 1768 bis 1913 den Namen ‚Asketische Gesellschaft‘“13 gab. Diese Verschiebung einer vormals allgemeinen Theorie der Praxis pietatis in die Pastoraltheologie ist für unsere Fragestellung nicht unerheblich. Denn die Aszetik bestimmt zwar weiterhin die Frömmigkeit des Einzelnen, aber nun eben nur noch die des exemplarisch Frommen: des Pfarrers. Der Abstand zum Sakrament verringert sich durch diese Verschiebung insofern, als die Verwaltung der Sakramente neben der Wortverkündigung zu den zentralen Aufgaben des Pfarramtes gerechnet werden. Der exemplarisch Fromme ist zugleich derjenige, dem die Geheimnisse (sacramenta) des Glaubens zur rechtmäßigen Verwaltung anvertraut sind. Allerdings konnte sich die Aszetik als akademisch-theologische Disziplin auf evangelischer Seite in keiner Weise etablieren. Dies vermochte auch der reformierte Praktologe Rudolf Bohren (1920–2010) nicht zu ändern, der 1964 in einer Einführung ins Studium der evangelischen Theologie forderte, die Aszetik als 10 11 12 13
Beck, GisbertusVoetius, 114. A. a. O., 114. Vgl. Quenstedt, Ethica pastoralis. Peng-Keller, Theologie der Spiritualität, 17.
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„Lehre vom christlichen Leben“ im theologischen Fächerkanon zu verankern,14 und der damit die pastorale Verbindung von Spiritualität und Sakrament wieder aufschnürte. Seine Forderung stieß indes bisher auf taube Ohren.15 Abgesehen von der akademisch-theologischen Ortlosigkeit der Aszetik zeigt sich eine merkwürdige Beziehungslosigkeit auch etwa im konkreten Erleben der Sakramentsfeiern. Der Liturgiewissenschaftler Hans-Bernhard Meyer setzt das Auseinanderklaffen von Liturgie und persönlichem Gebet bereits im späten Mittelalter an. Er benennt vier Epochen dieses Bezugs: „1. Die Zeit der Frühen Kirche und der Väter, wo Liturgie und Spiritualität in Theologie und Lebenspraxis eine selbstverständliche Einheit bildeten; 2. Das frühe und hohe Mittelalter, wo diese Einheit vor allem in der sapientialen Theologie und im Leben der Mönche noch fortbestand; 3. Das späte Mittelalter und die Neuzeit, wo sie brüchig wurde und schliesslich zerfiel; 4. Die Neueste Zeit, wo man versucht, die ursprüngliche Einheit wiederzugewinnen“.16
Geschuldet ist diese Diskrepanz zwischen liturgischer Objektivität und spiritueller Subjektivität auf katholischer Seite bis zum Sacrosanctum Concilium vor 50 Jahren der Geschlossenheit und prinzipiellen Unverständlichkeit der leise am Altar gelesenen lateinischen Priestermesse: ein Umstand, der seit dem 19. Jahrhundert verschiedentlich beklagt wurde und die liturgischen Reformen des 2. Vatikanischen Konzils antrieb. Anders verhält es sich im evangelischen Gottesdienst. Im Blick auf das Abendmahl fällt die Bilanz indes durchzogen aus, denn im Gegensatz zur theologischen Theorie, wie sie etwa der Lutheraner Wilhelm Löhe (1808–1872) vorlegte, stellt das Abendmahl für viele Gemeindeglieder keineswegs einen Hö-
14 Vgl. Bohren, Studium der evangelischen Theologie, 25f. 15 Die Spiritualität wurde bisher zwar nicht in den Fächerkanon integriert, aber die Forderung, dies in die Wege zu leiten, ist immer wieder und in den letzten Jahren verstärkt zu hören. Vgl. dazu Hermisson, „Megatrend Spiritualität“, 11–23. Derzeit wird die Frage von Spiritualität und Ausbildung wieder stärker thematisiert, wie es auch schon konkrete Umsetzungen in der Ausbildung gibt. Allerdings bleibt es ein (umstrittenes) Desiderat, so Hermisson, a. a. O., 12. Sie fasst zusammen: „Spiritualität ist in der Ausbildung zum Pfarrberuf ein periodisch wiederkehrendes Thema (a. a. O., 20). Durch die Jahrhunderte tauchen immer wieder Ansätze auf, eine spirituelle Dimension zu stärken. Ihre Motivationen und Zielsetzungen divergieren jedoch erheblich. Die Reformimpulse sind oft ihrer Zeit verhaftet […]. Die Ansätze für Spiritualität sind nicht der Hauptstrom theologischer Ausbildung, aber bilden eine Art Unterstrom, der immer wieder an die Oberfläche kommt“. Allerdings ist das neue Interesse nach Spiritualität und Pfarrberuf nicht allein diesem Unterstrom zuzuordnen, sondern neu kommt es aus der Mitte der kirchlichen Diskussion heraus. Vgl. dazu das 2012 von der Vollversammlung der GEKE verabschiedete Dokument über die „Ausbildung für das ordinationsgebundene Amt in der Gemeinschaft Evangelischer Kirchen in Europa“ (Abschnitt 2.4, Gelebter Glaube). Hier werden den Fakultäten liturgische Angebote empfohlen. 16 Meyer, Gottesdienst und Spiritualität, 276.
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hepunkt der Liturgie dar.17 Wenn Gottesdienstteilnehmende nach ihrem Erleben gefragt werden, nennen sie das Abendmahl erst auf Nachfrage hin.18 Für Viele ist es nicht nur belanglos, sondern unangenehm. Es könnte geradesogut fehlen oder sollte es sogar. Für andere, die einen Zugang gefunden haben, ist das Abendmahl indes tatsächlich ein spiritueller Brennpunkt, ein Ort intensiven Erlebens der Verbundenheit mit Gott und andern Menschen. Am Sakrament des Abendmahls scheiden sich in spiritueller Hinsicht offenbar die Geister. Nach diesen grundsätzlichen Erörterungen zum Verhältnis von Spiritualität und Sakrament sollen nun einzelne Texte aus der Bibel und der Reformationszeit ausgewählt und auf ihre Verhältnisbeschreibung hin befragt werden. Da diese Analyse nicht in historisch-rekonstruktiver, sondern in theologisch-normativer Absicht erfolgt, wurden Texte ausgewählt, denen für die evangelische Theologie normative Orientierungskraft zugetraut wird. Ausgangs- und Ankerpunkt bilden biblische Texte. Diese haben für eine evangelische Orientierung des Verhältnisses grundlegenden Charakter. Allerdings können sie nur dann zurate gezogen werden, wenn wir einen weiten Begriff des Sakraments in Anschlag bringen und sowohl den Opferdienst Israels als auch dessen Substitution durch das Lobopfer im Synagogengottesdienst als Formen sakramentaler Frömmigkeit interpretieren.
3.
Altar, Opfer, Segen: der Opfergottesdienst in Israel
Bekanntlich gehört das Opfer „zu den elementaren und zugleich archaischen Phänomenen der menschlichen Kultur“.19 Der Mensch war schon immer ein homo ritualis, der den Göttern Güter darbrachte – Erntefrüchte oder Tiere, Schmuck oder Waffen –, um mit ihnen in Kontakt zu treten, um heil zu werden und Schutz zu erlangen.20 Dies war auch in Israel nicht anders. Für den Gottesdienst Israels war das Opfer zentral. Dies wird am sogenannten Altargesetz in Ex 20,22–24 exemplarisch deutlich: 22 JHWH sprach zu Mose: So sollst du zu den Israeliten sprechen: Ihr habt gesehen, dass ich vom Himmel mit euch geredet habe. 23 Ihr sollt nichts neben mir machen: silberne und goldene Götter sollt ihr euch nicht machen. 24 Einen Altar aus Erde sollst du mir machen
17 18 19 20
Löhe, Kirche in der Anbetung, 13. Vgl. Pohl-Patalong, Gottesdienst erleben, 154; Kerner, Der Gottesdienst, 19. Janowski, Gottesdienst in Israel, 1. So auch Riesebrodt, Cultus und Heilsversprechen, 254.
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und du sollst auf ihm schlachten deine Brandopfer und deine Heilsopfer, dein Kleinvieh und deine Rinder. An jenem Ort, an dem ich meines Namens gedenken lassen werde, werde ich zu dir kommen und dich segnen.
Dieses für Israels Frömmigkeit zentrale Kultgesetz ist in mehrfacher Hinsicht bemerkenswert:21 Zunächst stellt sich Gott als der vor, der „vom Himmel“ her mit seinem Volk redet und nicht mit von Hand gefertigten Göttern verwechselt werden will. Er ist Israel ein transzendentes Gegenüber, das sich in keiner Weise manipulieren lässt. Zugleich weist er Israel an, ihm einen Altar aus Erde zu bauen und auf ihm Opfer darzubringen. Und er knüpft an diese Anweisung die Verheißung, an diesen Ort zu kommen und Israel zu segnen, und zwar „jedes Mal, wenn es ihn darum bittet, indem es ein Opfer darbringt“.22 Gott bindet sich folglich an den Opferdienst seines Volkes und zeigt sich im Vollzug des Opfers, will im Opfer zu seinem Volk kommen. Nach Janowski ist „das Feuer, das vom Opfernden angezündet wird und die bereitgelegten Opferstücke verzehrt, […] die sichtbare Seite Gottes“.23 Gott macht sich im Vollzug des Opfers sichtbar und erfahrbar. Der Opferdienst wird zu einem Abbild der Gottesoffenbarung am Sinai nach Ex 19,9, in der Gott seinem Volk im Feuer erscheint und es als sein Volk adoptiert. Jedes Opfer ist darüber hinaus ein „Zeichen der Gastfreundschaft gegenüber Gott“.24 Die Opfergaben werden nach Lev 1 und 2 Gott nicht roh dargebracht, sondern „enthäutet, gebraten und gekocht“ oder, wenn es Feldfrüchte sind, „gemahlen, gebacken und gekeltert“.25 Das Opfer dient demnach nicht dazu, einen ehedem zornigen Gott zu besänftigen, sondern Gott freundlich einzuladen. Gott, dessen Name sein Volk beim Opfergottesdienst erinnert (Ex 20,24b), wird eingeladen, zu kommen und die Feiernden zu segnen. Nach Alfred Marx muss „jede Opfertheorie, die nicht im Segen das zentrale Anliegen des Opfers sieht, […] als unbiblisch eingeschätzt werden“.26 Wir haben hier eine Sakramententheologie in nuce vorliegen, die für die Verhältnisbestimmung von Spiritualität und Sakrament von Belang ist: 1. Gott wird nicht mit den Elementen des kultischen Vollzugs identifiziert, sondern bleibt ihnen gegenüber transzendent und frei. Gott ist kultisch weder greifbar noch manipulierbar. Damit kommt ein zentrales Anliegen einer Theologie der Spiritualität zum Zuge. 21 Das Kultgesetzt folgt unmittelbar auf die Zehn Gebote, den einzigen Text der Tora, in dem Gott sich direkt ans Volk wendet. 22 Marx, Opferlogik im alten Israel, 133. 23 Janowski, Gottesdienst in Israel, 5. 24 Ebd. 25 A. a. O., 6. 26 Marx, Opferlogik im alten Israel, 138.
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2. Gott bindet sich von sich aus an bestimmte Orte und Vollzüge. Er verheißt sein Kommen und seinen Segen, wann immer er in der von ihm bestimmten Weise dazu freundlich eingeladen wird.27 3. Von individuellem Gebet und Unterredungen mit Gott ist in den Vätergeschichten, aber auch in den Psalmen und Prophetenbüchern vielfach die Rede. Diese stehen in keiner Konkurrenz zu kultisch-sakramentalen Formen der Gottesbegegnung, die kollektiv und rituell vollzogen werden und in denen das Kommen Gottes und sein Segen gemeinschaftlich erfahren werden. 4. Die zentrale Stellung der Opfergottesdienste für den Gottesbezug Israels wird auch durch die Opferkritik der Propheten (Am 5,21–24.27) nicht infrage gestellt, wie etwa Mi 6,8 deutlich macht. Kritisiert wird nicht die sakramentale Feier als solche, sondern die Sündhaftigkeit der Feiernden und deren fehlende Einsicht werden gemaßregelt. 5. Der Gottesdienst Israels ist nicht als düster-blutiger Ritus zu verstehen, sondern als Feier und Fest, in dem die Gefühle aufwallen, sich die Gemeinschaft der Feiernden ihres Grundes und ihrer Sendung vergewissert und in der sinnliche Fülle erlebt wird.28 Das Opferfest bildet einen spirituellen „Kontrapunkt zur Alltagswelt“,29 der dieser zuträglich ist.
4.
„Ein Fresser und Weinsäufer“: die jesuanische Spiritualität
Wer das, was später als Sakrament bezeichnet und verhandelt wird, im Neuen Testament zu erheben sucht, muss indirekt verfahren und bei den damit verbundenen Vollzügen ansetzen. Der neutestamentliche Begriff des μυστήριον führt auf Holzwege.30 Die Evangelien zeichnen kein asketisches Bild von Jesus und seiner Bewegung. Als „Fresser und Weinsäufer“ wird er tituliert, als „Freund von Zöllnern und Sündern“ (Mt 11,19). Dabei wird die Askese von Jesus im Mk keineswegs abgewertet. Sie stellt nach Mk 2,19f eine angemessene Form der Frömmigkeit für jene Zeit dar, in der der Bräutigam entrissen sein wird: 27 Dass der Segen den hauptsächlichen Fokus nicht nur des alttestamtlichen Opferdienstes, sondern auch der römisch-katholischen Sakramente darstelle, betont der Liturgiewissenschaftler Klemens Richter (Richter, Sakramente, 769). 28 So auch Janowski, Gottesdienst in Israel, 21. 29 Vgl. dazu Theißen, Vom Zauber der Rituale, 60. 30 Der Begriff des μυστήριον findet sich bei den Synoptikern an einer einzigen Stelle im Zusammenhang der Reich-Gottes-Verkündigung Jesu (Mk 4,10–12; vgl. Mt 13,10; Lk 8,9f). Bei Paulus und bei den Deuteropaulinen qualifiziert er Christus als präexistentes und eschatologisches Geheimnis Gottes (z. B. 1Kor 2,7–10; Röm 16,25f; Kol 1,26f; Eph 1,8–10). Er taugt darum nicht für eine exegetische Erörterung dessen, was später mit Sakrament bezeichnet wurde.
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19 Da sagte Jesus zu ihnen: Können denn die Hochzeitsgäste fasten, solange der Bräutigam bei ihnen ist? Solange sie den Bräutigam bei sich haben, können sie nicht fasten. 20 Doch es werden Tage kommen, da ihnen der Bräutigam entrissen wird, und dann werden sie fasten, an jenem Tag.
Nach diesem Jesus-Logion gilt es, die Zeiten zu unterscheiden: Es gibt Zeiten des Fastens und der Buße – ausgedrückt im Fasten des Täufers und seiner Jünger – und Zeiten des eucharistischen Lobpreises und des Festes, Zeiten der Sehnsucht und Zeiten der Erfüllung, Zeiten der Vorbereitung und Zeiten des Handelns. Auch Jesus hat nach Mt 4,2 gefastet, als er sich vor seinem öffentlichen Wirken vierzig Tage alleine in die Wüste zurückzog. Er wusste die Zeiten zu unterscheiden. Was folgt daraus für das Verhältnis von Spiritualität und Sakrament? Zunächst ist zu betonen, dass mit dieser Gegenüberstellung weder die Spiritualität auf individuelles Fasten noch das Sakrament auf kollektives Feiern reduziert werden sollen. Indes zeichnet sich die Spiritualität durch einen individuell-asketischen Grundzug aus und das Sakrament durch die kollektiv-feierliche Begehung. Die Unterscheidung von Fasten und Festen strukturiert auch jene Vollzüge, die später als Sakramente gelten: Bei der Taufe wie beim Abendmahl sind Fasten und Feiern, sind individuelle Präparation und kollektiver Vollzug seit der Alten Kirche integrale Bestandteile des Ritus, konstitutive Wegschritte des rituellen Erlebens. Das Verhältnis von Spiritualität und Sakrament stellt sich in den Evangelien nochmals anders dar, wenn wir mit der Spiritualität nicht die Askese, sondern das individuelle Gebet in den Blick nehmen. Von Jesus wird immer wieder erzählt, dass er sich in die Einsamkeit zurückzog, um zu beten. Er stieg auf einen Berg, ging in die Wüste oder in einen Garten, wo er von niemandem gesehen und gehört wurde. Jesus hat das individuelle Gebet nicht nur selber praktiziert, sondern auch seine Jünger angehalten zu beten. In der Bergpredigt warnt Jesus geradezu vor einem Beten, das nicht individuell geschieht (Mt 6,5 f): 5 Und wenn ihr betet, sollt ihr es nicht machen wie die Heuchler: Die stehen gerne in den Synagogen und an den Straßenecken und beten, um sich den Leuten zu zeigen. Amen. Ich sage euch: Sie haben ihren Lohn schon bezogen. 6 Wenn du aber betest, geh in deine Kammer, schließ die Tür und bete zu deinem Vater, der im Verborgenen ist. Und dein Vater, der ins Verborgene sieht, wird es dir vergelten.
Das Beten ist demnach eine Herzensangelegenheit, die gerade nicht öffentlich „vor den Leuten“, sondern im stillen Kämmerlein erfolgen soll. Es seien auch nicht viele Worte nötig. Die Betenden sollen nicht „plappern wie die Heiden“ (Mt 6,7a), weil Gott ja wisse, was sie brauchen, bevor sie überhaupt beteten.
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Hier wird die Schaufrömmigkeit ins Unrecht gesetzt. Aber auch ein magisches Missverständnis des Bittgebets wird abgewehrt. Für eine evangelische Spiritualität und Gebetsfrömmigkeit ist dieses Jesus-Logion von zentraler Bedeutung. Es begründet die Spiritualisierung und Verinnerlichung evangelischer Frömmigkeit, die insbesondere auf reformierter Seite und in pietistischen Kreisen Gestalt gewonnen hat. Eine Gestalt und ein Habitus, die sich nicht auf die individuelle Andacht beschränken, sondern auch den Gottesdienst und das Verhältnis zu den Sakramenten, zu Symbolen und Ritualen prägen, und zwar bis in die Gegenwart. Oft wird mit dieser Stelle auf protestantischer Seite eine Abwertung der Liturgie und des rituell-sakramentalen Vollzugs verbunden. Nun lässt sich eine solche Abwertung hier aber nicht belegen. Mit dem kritisierten öffentlichen Beten ist nicht das liturgische Beten gemeint. Bekanntlich hat Jesus selbst in ritueller Hinsicht als Jude gelebt und sowohl im Tempel als auch in Synagogen mit anderen gebetet, gefeiert und zu ihnen gepredigt. Das kollektive liturgische Gebet war für ihn selbstverständlich. Er hat die Tische der Händler und Wechsler im Tempel umgestürzt, gerade weil der Tempel ein „Haus des Gebets heißen soll für alle Völker“ (Mk 11,17). Das individuelle Beten im stillen Kämmerlein und das liturgische Beten, der Rückzug in die Wüste und der sakramentale Tempelgottesdienst schließen sich demnach für Jesus nicht aus, sondern sind integrale Bestandteile seiner Frömmigkeit. Was folgt aus diesem exegetischen Befund für das Verhältnis von Spiritualität und Sakramentalität? Aus synoptischer Sicht sind folgende Punkte zu berücksichtigen: 1. Es gibt für den synoptischen Jesus Zeiten des Feierns und Zeiten des Fastens, Zeiten des Überflusses und Zeiten des Mangels, Zeiten der erfahrbaren Gottespräsenz und Zeiten des Zweifels, der Nacht und der Sehnsucht. Es gilt, die Zeichen der Zeit zu erkennen und die Zeiten zu unterscheiden. 2. Das Gebet im stillen Kämmerlein wird nicht gegen das Gebet im Tempel oder in der Synagoge ausgespielt, das Gebet in der Einsamkeit nicht gegen das eucharistische Gotteslob in der Gemeinschaft der Feiernden. 3. Der Vorbehalt der Reformatoren gegenüber einem asketischen Leben lässt sich mit den Synoptikern nicht begründen. Fasten wird bei diesen nicht der Werkgerechtigkeit bezichtigt. 4. Aber auch die Reserve gegenüber sakramental-rituellen Feierformen sollte sich nicht auf den neutestamentlichen Jesus berufen, sondern stellt eine einseitige Lesart dar.31 31 Weitere Bezüge wären zu nennen. So etwa der von Gerd Theißen hervorgehobene Zusammenhang von symbolischen Alltagshandlungen Jesu, die sich später sakramental verdichteten, indem „im Erleben der Teilnehmer immer wieder die Ewigkeit in die ‚Zeit‘ einbricht“. Die
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Der vernünftige Gottesdienst: Selbstopfer bei Paulus
Paulus nimmt an prominenter Stelle eine Umdeutung und Spiritualisierung herkömmlicher kultischer Begrifflichkeit vor, die sich ehedem auf den Opferdienst des Priesters bezog, wenn er im Römerbrief schreibt (Röm 12,1f): 1 Ich bitte euch nun, liebe Brüder und Schwestern, bei der Barmherzigkeit Gottes: Bringt euren Leib dar als lebendiges, heiliges, Gott wohlgefälliges Opfer – dies sei euer vernünftiger Gottesdienst! 2 Fügt euch nicht ins Schema dieser Welt, sondern verwandelt euch durch die Erneuerung eures Sinnes, dass ihr zu prüfen vermögt, was der Wille Gottes ist: das Gute und Wohlgefällige und Vollkommene.
Hier ist nicht vom Gottesdienst als einem liturgischen Vollzug die Rede, sondern von dem, was den Gottesdienst als solchen ausmacht und bestimmen soll: die Selbsthingabe durch eine Metanoia, durch Verwandlung und Erneuerung nach einem Schema, das dem Lebenswillen Gottes entspricht. Der alttestamentliche Opfergottesdienst der Feiergemeinde wird damit individualisiert und die priesterliche Darbringung der Opfergaben spiritualisiert. Das SakramentalKultische wird zur Metapher einer moralischen Selbsterneuerung und Umkehr. Indes bewahrt Paulus in dieser spiritualisierenden Umdeutung des Kultopfers ein zentrales Element des späteren Sakraments: die Körperlichkeit. Die von Paulus propagierte Selbsthingabe und Erneuerung ist keine rein inwendig-spirituelle, sondern eine, die auch körperlich erfolgen soll. Paulus interpretiert den Wesenskern des Gottesdienstes als eine sakramental-spirituelle Selbsthingabe.32 Ernst Käsemann hat von dieser metaphorischen Umdeutung des Kultopfers her die Wendung vom „Gottesdienst im Alltag der Welt“ geprägt.33 Eine Wendung, die den evangelischen Vorbehalt gegenüber einem vom Alltag abgelösten Kult und die moralisch-lebenspraktischen Implikationen des christlichen Glaubens auf den Punkt bringt. Dass Paulus damit den Gottesdienst als kollektiv-rituellen Vollzug nicht infrage stellt, wird an anderer Stelle deutlich. Paulus geht es nicht um eine Ablösung oder Profanierung des Tempelgottesdienstes, sondern um eine Ausweitung
symbolischen Handlungen werden nach Theißen neu gedeutet, indem sie auf den Tod Jesu bezogen werden. Zudem überschreiten sie Tabuschwellen, indem etwa ein Menschenopfer zum Leben für viele wird. Das Ritual des Abendmahls erinnert an das Leben auf Kosten anderen Lebens und durchbricht diese Logik zugleich. Vgl. Theißen, Religion der ersten Christen,181–194. 32 Dieser Umdeutung entspricht auch die Bezeichnung seines eigenen apostolischen Engagements als Gottesdienst (leiturgia) bzw. als Gottesverehrung (latreia); vgl. dazu Eckstein, Gottesdienst im Neuen Testament, 22. 33 Käsemann, Gottesdienst im Alltag der Welt, 198–204.
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des „Gottesdienstes“ auf den Alltag und die Existenz der Gläubigen im Sinne einer Bewährung. Die Christengemeinden der ersten Jahrzehnte haben sowohl an Tempel- bzw. Synagogengottesdiensten teilgenommen als auch eigene Gottesdienste gefeiert. In ihren Zusammenkünften (συνερχομένων) wurde das „Mahl des Herrn“ gefeiert, gelehrt und in Zungen geredet, es wurden Psalmen gesungen, Offenbarungen mitgeteilt und diese gedeutet (1Kor 14,23–26). Das „Mahl des Herrn“ war ein zentrales Element der Feier, auch wenn es nicht bei jeder Zusammenkunft vollzogen wurde. In 1Kor 11 verdeutlicht Paulus, was die spirituelle Substanz des Abendmahles ausmacht: 20 So aber, wie ihr nun zusammenkommt, ist das Essen gar kein Mahl des Herrn. 21 Denn jeder nimmt beim Essen sein eigenes Mahl vorweg, und der eine hungert, der andere ist schon betrunken. 22 Habt ihr denn keine Häuser, in denen ihr essen und trinken könnt? Oder verachtet ihr die Gemeinde Gottes und wollt die beschämen, die nichts haben?
Eines der zentralen Elemente des neutestamentlichen Gottesdienstes, das Abendmahl, war zunächst ein Sättigungsmahl mit kultischer Rahmung. Es wurde mit einem Dankgebet über dem Brot und dem Brechen des Brotes eröffnet und mit dem „Segensbecher“ beschlossen.34 Es ist nach Paulus der gemeinsamen Feier unangemessen, wenn Brot und Wein nicht mit allen geteilt werden, sondern sich die einen den Bauch vollschlagen und die anderen hungern, wenn die einen über den Durst trinken und andere auf dem Trockenen sitzen. Mit diesem Verhalten wird die „Gemeinde Gottes“ darum „verachtet“ und „beschämt“, weil diese Gemeinde nach Paulus als Gemeinschaft mit Christus und durch Christus, als spiritueller Christusleib zu verstehen ist (1Kor 10,16.17). Einem solchen Verständnis ist ein unsolidarisches Verhalten gänzlich unangemessen. Es ging bei den Mahlfeiern der frühen Christen demnach nicht um „Substanz“ oder „Materie“ der Abendmahlselemente, sondern um ein Verhalten, das dem im Mahl anwesenden Christus entspricht. Sinnlich-körperliche Vollzüge im Rahmen des Gottesdienstes werden von Paulus demnach keineswegs abgelehnt. Das gemeinsame Essen mit liturgischem Rahmen war ein zentrales Element des frühchristlichen Gottesdienstes und symbolisierte gerade dadurch, dass es Gemeinschaft gewährte und gemeinschaftlich vollzogen wurde, die spirituelle Anwesenheit Christi. Aufgrund des Ausgeführten lassen sich bei Paulus folgende theologische Akzente in Bezug auf das Verhältnis von Spiritualität und Sakrament festhalten: 1. Einerseits spiritualisiert Paulus in Röm 12 das sakramentale Opfer, indem er es als Selbsthingabe und lebenspraktische Umkehr des Einzelnen interpre34 Vgl. dazu Eckstein, Gottesdienst im Neuen Testament, 36f; Hofius, Herrenmahl, 203–240.
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tiert. Der „Gottesdienst“ soll vernünftig sein und sich im Alltag bewähren. Paulus legt damit eine theologische Interpretation der Spiritualität des Einzelnen vor. 2. Andererseits wird mit dieser Spiritualisierung der liturgische Vollzug als solcher nicht infrage gestellt, sondern orientiert, individualisiert und auf die Bewährung im Alltag bezogen. 3. Darüber hinaus stellt Paulus zentrale gottesdienstliche Vollzüge wie das „Herrenmahl“ oder die Taufe nicht in Frage. Deren „Sakramentalität“ besteht für ihn indes darin, dass das gemeinsame Essen durchscheinend wird für die Gegenwart des auferstandenen Christus. Diese Transparenz erhält es dadurch, dass die Verbundenheit der Feiernden durch solidarisches Verhalten zur Darstellung gebracht wird.35 4. Indes wird in dem nach dem Modell des Synagogengottesdienstes konzipierten frühchristlichen Gottesdienst an keiner Stelle so etwas wie eine priesterlich-sakramentale Heilsvermittlung greifbar.36
6.
„Ordnung ist ein äußerlich Ding“: Sakrament und Erfahrung bei Luther
Wir springen vom ersten Jahrhundert des sich formierenden Christentums direkt ins 16. Jahrhundert der Reformation. Nicht dass inzwischen nichts Nennenswertes zum Verhältnis von Spiritualität und Sakrament gesagt und gedacht worden wäre, das Gegenteil ist der Fall. Augustinus hat sich, wie erwähnt, intensiv mit Sakramentalität und den Sakramenten befasst. Seine für das Abendland wegweisenden theologischen Grundsätze verbleiben indes in der Spannung zwischen einem zeichenhaft-spirituellen und einem ontologisch-realen Verständnis der Sakramente stehen und bildeten Ausgangspunkt und Argumentarium für durchaus konträre Positionen des Mittelalters und der Neuzeit. Im 12. Jahrhundert wurden die Sakramente definiert, auf sieben reduziert und eine differenzierte, aristotelisch geprägte, Sakramententheologie entwickelt, gegen 35 Vgl. Eckstein, Gottesdienst im Neuen Testament, 37. – Das Spannungsfeld von Spiritualität und Sakramentalität wäre am Beispiel der Taufe bei Paulus nochmals eigens zu thematisieren. 36 Vgl. a.a.O., 25. Mit Gerd Theißen ließe sich ein weiterer Aspekt zum neutestamentlichen Verhältnis von Spiritualität und Sakramentalität ergänzen: Die Versammlungen in Privathäusern führten zu einem metaphorischen Verständnis des Tempels. Die christliche Gemeinschaft wird von Paulus mit einem lebendigen Tempel verglichen, die Theißen als „semiotische Kathedrale“ bezeichnet: „In dieser ‚semiotischen Kathedrale‘ sollte nicht harter Stein ewiges Sein symbolisieren, sondern lebendige Menschen eine tiefe Wandlung erfahren. In ihr wurde die ‚Transsubstantiation von Welt und Mensch‘ gefeiert“ (Theißen, Religion der ersten Christen, 391).
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die sich die Reformatoren des 16. Jahrhunderts wandten.37 Aber auch die individuelle Spiritualität wurde insbesondere in Klöstern kultiviert und fand über Schriften wie die Imitatio Christi von Thomas a Kempis weite Verbreitung.38 Die Reformatoren verwarfen einhellig sowohl die Lehre der Selbstwirksamkeit des Sakraments (ex opere operato)39 als auch die der Abhängigkeit der Geltung von der Weihe des Liturgen und stellten den Glauben als gnadenhafte Gabe Gottes und als innige Verbundenheit des Einzelnen mit Christus ins Zentrum, auch und gerade für den Vollzug und die theologische Deutung der Sakramente. Martin Luther hat selber keine systematische Lehre der Sakramente entwickelt, denn das eigentliche Sakrament ist für ihn einzig Christus.40 Gleichwohl stehen für ihn Taufe und Abendmahl als äußere Zeichen, als „Merkmale der Verheißung und der Sündenvergebung durch Christus“41 im Zentrum.42 Später zählte Luther aber auch die Buße und die Absolution zu den Sakramenten.43 Im Folgenden soll nun aber nicht Luthers Theologie des Sakraments für sich, sondern das Verhältnis von Spiritualität und Sakrament in Auseinandersetzung mit liturgischen Anweisungen und Positionen und in erfahrungstheoretischer Hinsicht erörtert werden. In der Vorrede zur Deutschen Messe betont Luther gleich zu Beginn und mit Emphase die Freiheit in liturgischen Angelegenheiten, folglich auch im Umgang mit Taufe und Abendmahl. Der Unterschied zur bis in den Wortlaut und die Gesten festgezurrten Priestermesse, in deren Mitte das Sakrament der Eucharistie thront, könnte größer nicht sein. Liturgische Ordnungen scheinen Luther zwar dienlich, aber man solle „ja kein notwendig Gesetz draus machen, noch jemands Gewissen darein verstricken oder damit fangen, sondern sie, der christlichen Freiheit entsprechend, nach ihrem Gefallen brauchen, wie, wo und wie lange es die Sache mit sich bringt und fordert“.44
Denn, und damit nimmt er ein zentrales Argument der Theologie der Spiritualität auf,
37 Vgl. dazu Köpf, Sakramente, 753f. 38 Vgl. Köpf, Thomas von Kempen, 480–483. 39 Dass mit diesem Verständnis der Reformatoren die eigentliche Intention der scholastischen Lehre von der Gewissheit sakramentalen Handelns verfehlt wird, hat Gunther Wenz herausgestellt (Wenz, Sakramente, 670). 40 Vgl. WA 6,86. 41 Köpf, Sakramente, 755. 42 Etwa in der Schrift „De captivitate Babylonicae ecclesiae praeludium“ von 1520 (WA 6,484– 573). 43 Z. B. WA 54, 427,26–28. 44 Luther, Deutsche Messe und Ordnung des Gottesdienstes 1526, Text nach: Meyer-Blanck, Liturgie und Liturgik, 39f.
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„die Ordnungen sollen zur Förderung des Glaubens und der Liebe dienen und nicht zum Nachteil des Glaubens. Wenn sie das nicht mehr tun, so sind sie schon tot und abgetan und gelten nichts mehr […]. Ordnung ist ein äußerlich Ding, sei sie so gut wie sie will, so kann sie in Missbrauch geraten“.45
In Auseinandersetzung mit der Priestermesse wird Luther noch deutlicher: „Denn deshalb sind die katholischen Gottesdienste so verdammenswert, dass sie Gesetze, Werk und Verdienst daraus gemacht und damit den Glauben unterdrückt haben. Sie haben sie nicht auf die Jugend und die Einfältigen gerichtet, dieselben damit in der Schrift und Gottes Wort zu üben, sondern sie kleben selbst dran und halten sie als ihnen selbst nützlich und nötig zur Seligkeit. Das ist der Teufel“.46
Es ist für Luther allein der Glaube, der den Menschen befreit und befriedet. Sakramentale Handlungen vermögen dies nicht von sich heraus. Sie stehen im Gegenteil in der Gefahr, die Freiheit des Glaubens zu torpedieren, indem sie das Heil vom ordnungsgemäßen Vollzug heiliger Handlungen abhängig machen. Den Sakramenten gegenüber ist nach Luther die Freiheit des Glaubens hochzuhalten, aus der eine Freiheit der Gestaltung folgt. Sakramente sind für Luther nicht gleichbedeutend mit sakrosankten Riten. Die Freiheit der Gestaltung hat mit der Freiheit des Glaubens zu korrespondieren. Die je konkrete Gestaltung der Sakramente muss den Feiernden „gefallen“. Sie soll in stimmiger Weise erfolgen und folglich veränderbar sein. Liturgie, auch die Liturgie der Sakramente, hat eine Funktion: Sie soll den Glauben stärken und die Feiernden befreien. Erfüllt sie diese Funktion nicht, bedarf sie der Anpassung, denn sie ist nicht mehr als „ein äußerlich Ding“. Ein weiterer Aspekt kommt hinzu: Der Gottesdienst soll nach Luther offen und zugänglich sein für die „Einfältigen“ und das „junge Volk“, welches „täglich in der Schrift und Gottes Wort geübt und erzogen werden soll […]. Um solcher willen muss man lesen, singen, predigen, schreiben und nachdenken, und […] mit allen Glocken dazu läuten lassen und mit allen Orgeln pfeifen“.47
Die verdienstlichen Sakramente der Altgläubigen „unterdrücken“ den Glauben der Jugend und verbarrikadieren den Gottesdienst. Dieser kann den für Luther grundlegenden Bildungsauftrag nicht erfüllen. Die Sakramente, die den Glauben eigentlich stärken und zur Darstellung bringen sollten, verhindern ihn. Dass indessen die recht verstandenen und in Freiheit vollzogenen Sakramente der Spiritualität der Gläubigen durchaus zuträglich sind, wird deutlich, wenn Luther die Feiern derer, „die mit Ernst Christen sein wollen“, skizziert: Diese sollen sich versammeln „zum Gebet, [die Schrift] zu lesen, zu taufen, das Sa45 A. a. O., 51. 46 A. a. O., 41. 47 Zit. n. ebd.
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krament [des Abendmahls, Anm. DP] zu empfangen und andere christliche Werke zu üben“.48 Luther beurteilt diese freie Gruppenform, wie sie von Täufern und Schwärmern und später von pietistischen Gruppen in Herrnhut und anderswo praktiziert wurde, als „die rechte Art der evangelischen Ordnung“.49 Allein, die Zeit schien ihm noch nicht reif. Was folgt aus diesem Befund für das Verhältnis von Spiritualität und Sakrament? Da ich mich auf die Vorrede zur Deutschen Messe beschränkt habe, kommt die Spiritualität des Einzelnen nicht in den Blick. Gleichwohl lassen sich folgende Punkte festhalten: 1. Wenn wir Luthers Verständnis des Glaubens als Voraussetzung und Grundierung individueller Spiritualität interpretieren, sind die recht verstandenen und evangelisch vollzogenen Sakramente auf diesen Glauben bezogen, stellen ihn dar und stärken ihn. Oder um mit Michael Meyer-Blanck zu sprechen: „Die Ratifizierung der sakramentalen Gabe erfolgt nicht im Himmel oder auf dem Altar, sondern im glaubenden Herzen“.50 2. Die sakramentale Praxis ist somit auf die Christusresonanz in den Herzen der Beteiligten bezogen und daran zu messen, ob und in welcher Weise sie diese zu erzeugen, zu verstärken und zu vergewissern vermag, ubi et quando visum est Deo (CA V). Eine sakramentale Praxis, die sich der Möglichkeit einer solchen Resonanz verschließt oder sich nicht für sie interessiert – zu denken ist etwa an die vielen Privat- und Seelenmessen der Altgläubigen –, ist abzulehnen. 3. Wort und Sakrament konstituieren laut dem Augsburger Bekenntnis nicht nur die Kirche, sondern sind darüber hinaus eng aufeinander bezogen. Für die Plausibilität und spirituelle Relevanz der Gottesdienste sind, nach Luther, Worte – gesungene, gebetete und gepredigte – unabdingbar. Dasselbe gilt für Taufe und Abendmahl. Ihre sakramentale Prägekraft hängt davon ab, ob und in welcher Weise sie vom Wort durchdrungen und belebt werden, ob und in welcher Weise sie selber zur viva vox evangelii werden und die Deutungsleistung der Einzelnen anzuregen vermögen.51
48 49 50 51
Zit. n. a. a. O., 42. Zit. n. ebd. A. a. O., 53. Darauf, dass die narrative Vermittlung von Ritual und religiösem Sinn bereits im Urchristentum im Zuge der Transformation prophetischer Handlungen in frühchristliche Sakramente konstitutiv war, weist wiederum Gerd Theißen hin: Theißen, Religion der ersten Christen, 185.
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„Der menschlichen Blödigkeit“ wegen: Geist und Zeremonien bei Zwingli
Huldrych Zwingli hat die Spiritualität des Einzelnen auch und gerade im Zusammenhang des Gottesdienstes hochgehalten. Der Gottesdienst bewährt sich dann, wenn er die „Andacht“, die „Erhebung des Herzens zu Gott“52 anzuregen und zu kultivieren vermag.53 In Zürich wurden Altäre und Bilder, Heiligenstatuen und Orgeln aus den Kirchen entfernt, damit sie die Andacht nicht ablenkten. Der Glaube ist für Zwingli zunächst und vor allem ein spiritueller Vollzug, der sich auf der inneren Bühne des Herzens vollzieht und von Äußerlichem und Materiellem kategorial zu unterscheiden ist. Die johanneische GeistChristologie ist dabei für Zwinglis Theologie und Gottesdienstverständnis zentral.54 Dies verdeutlicht etwa die Abendmahlsliturgie „Aktion oder Brauch des Abendmahls“ von 1525, wonach der Lektor seine Lesung aus dem Johannesevangelium folgendermaßen beschließen soll: Nach dem letzten Vers – „Der Geist ist es, der lebendig macht, das Fleisch vermag nichts. Die Worte, die ich zu euch geredet habe, sind Geist und sind Leben“ aus Joh 6,63 – „küsse der Leser das Buch und spreche: Gott sei gelobt und gedankt, er wolle nach seinem heiligen Wort uns alle Sünde vergeben“.55 Mit der traditionellen Geste des Buchküssens nach dem Evangelium wird der johanneischen Unterscheidung von Fleisch und Geist Nachdruck verliehen. In der Forschung wird Zwingli denn auch immer wieder des Spiritualismus bezichtigt, und zwar von reformierten (z. B. von Karl Barth) wie von lutherischen Theologen.56 So schreibt Christoph Gestrich zutreffend: „Zwingli neigte immer dazu, die Außenwelt oder das Sinnenfällige von seinem Inneren her zu beurteilen und sich nicht selbst von dem von außen an ihn Herankommenden in Frage stellen zu lassen“.57
Für das Verhältnis von Spiritualität und Sakrament ist dieser Spiritualismus von zentraler Bedeutung. Das Sakramentale an sich wie die konkreten Vollzüge fasst Zwingli gleichsam mit spitzen Fingern an, wenn er in der Vorrede zur genannten Abendmahlsliturgie schreibt: „Deshalb hat es uns bedünkt, unserem Volk beim Brauch dieses Nachtmahls (welches zwar auch eine Zeremonie, doch von Christus eingesetzt, ist) so wenig wir immer 52 Brunnschweiler/Lutz, Huldrych Zwingli, 367 („mentis in deum elevatio“). 53 Zum für Zwingli zentralen Konzept der Andacht vgl. Kunz, Gottesdienst evangelisch reformiert, 95–100. 54 Vgl. dazu Etzelmüller, Was geschieht beim Gottesdienst?, 56–59. 55 Zit. n. Meyer-Blanck, Liturgie und Liturgik, 155f. 56 Vgl. dazu Kunz, Gottesdienst evangelisch reformiert, 92–95. 57 Gestrich, Zwingli als Theologe, 86.
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möchten, Zeremonien und Kirchengepränge vorschreiben, damit nicht dem alten Irrtum mit der Zeit wieder stattgegeben würde. Doch damit die Sache nicht ganz dürr und roh behandelt und der menschlichen Blödigkeit auch etwas zugegeben werde, haben wir (wie sie hier bestimmt sind) solche Zeremonien, die der Sache dienen, verordnet, die wir zum christlichen Gedächtnis des Todes Christi, zur Mehrung des Glaubens und der brüderlichen Treue, zur Besserung des Lebens und Verhütung der Laster des menschlichen Herzens etlichermaßen zu reizen für förderlich und geschickt gehalten haben“.58
Sakramente werden von Zwingli nicht als solche bezeichnet, sondern – in betont profaner Begrifflichkeit – als Handlungen, Aktionen oder Brauchtum, die sich dadurch vor anderen Handlungen auszeichnen, dass sie von Christus eingesetzt sind, aber an sich keinerlei sakrale Ladung aufweisen. Es sollen denn auch so wenig „Zeremonien“ als möglich vorgeschrieben werden. Den von Christus eingesetzten „Zeremonien“ – und nur um diese soll es gehen – werden bestimmte Funktionen zugewiesen: Sie sollen an den Tod Christi erinnern, den Glauben und die Gemeinschaft stärken sowie das Verhalten im Alltag orientieren. Um diese Funktionen zu erfüllen, scheint Zwingli ein tiefgreifender Umbau der herkömmlichen Messe angezeigt: Das Abendmahl wird von der Gemeinde im Kirchenschiff um einen Holztisch gefeiert, angeleitet durch Diener und Leser – der Pfarrer hält sich im Hintergrund –, gesungen und gebetet von der Gemeinde im Wechsel zwischen Männern und Frauen. Im Zentrum stehen keine konsekratorischen Gebete und Handlungen, sondern Lesungen, die die Gemeinde erinnern und erleuchten, Lobgesänge und Bittgebete der Gemeinde und die Austeilung der Gaben in schlichten irdenen Gefäßen. Zwingli legt mit seinem Formular, das in Zürich mit geringen Änderungen bis zur Schwelle des 19. Jahrhunderts in Geltung war, eine eindrückliche Reinszenierung des Abschiedsmahles Jesu vor. Dieses wird gleichsam bibliodramatisch vergegenwärtigt. Die Resonanz im Herzen soll dadurch gestärkt werden, dass auf jegliche Auffälligkeiten und sakralen Anmutungen im Äußeren verzichtet wird. Ausgehend von diesem Beispiel lässt sich das Verhältnis von Spiritualität und Sakrament bei Zwingli folgendermaßen charakterisieren: 1. Im Zentrum steht für Zwingli die Andacht (devotio), welche sich nicht im Außen und mit anderen, sondern im Herzen und im stillen Kämmerlein vollzieht. Dieser „reformierten Spiritualität“ hat der Gottesdienst zu dienen, in all seinen Formen. 2. Zwinglis theologischer und frömmigkeitspraktischer Spiritualismus führte ihn dazu, die herkömmliche Theologie und Praxis der Sakramente zu reformulieren und zu reformieren – bis in die Terminologie hinein – und gänzlich
58 Meyer-Blanck, Liturgie und Liturgik, 153.
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neue Formen zu suchen: Schlichte und reduzierte Handlungen, mit denen jegliche sakralen Anmutungsqualitäten vermieden werden sollen. 3. Zugleich hat Zwingli stärker in die Liturgie eingegriffen als etwa Luther und das Abendmahl radikal umgestaltet. Gerade weil er Missverständnisse und Missbrauch vermeiden wollte, war die konkrete Gestaltung der „Zeremonien“ von zentraler Bedeutung. 4. Legitimiert sind die „Zeremonien“ nicht nur durch die Einsetzung durch Christus, sondern auch, weil und sofern sie die Andacht zu fördern, die Gemeinschaft zu stärken und die Menschen im Alltag zu orientieren vermögen, weil und sofern sie auf die Spiritualität des Einzelnen ausgerichtet sind. 5. Bei Zwingli findet somit keine Reduktion des Gottesdienstes auf eine lehrhafte Predigt und keine Homiletisierung und Rationalisierung des Sakramentalen statt, wie sie durch spätere Entwicklungen insbesondere des 19. Jahrhunderts befördert wurde. Die äußere Bühne der Liturgie und der Sakramente und die innere Bühne der Andacht sollen vielmehr so weit als möglich korrespondieren.
8.
Zusammenfassung und Ausblick
Die Verhältnisbestimmung von Spiritualität und Sakrament erweist sich als komplexes Unternehmen, da die beiden Begriffe unterschiedlich deutlich konturiert sind und sich auf unterschiedlichen Ebenen bewegen. Durch eine erfahrungstheoretische Konzeption von Spiritualität und Sakramentalität kann eine gemeinsame Ebene gefunden werden. Einer Verhältnisbestimmung zuträglich ist darüber hinaus ein weiter Begriff von Sakrament im Sinne eines Transparentwerdens dinghafter, ritueller oder körperlicher Zeichenträger für die göttliche Gegenwart. Die Analyse des Verhältnisses von Spiritualität und Sakrament offenbart zum einen vielfache Spannungsverhältnisse, zum anderen grundlegende Zusammenhänge, die sich als produktiv für die Vitalisierung von Religion im Allgemeinen und des christlichen Glaubens im Besonderen erweisen. In der alttestamentlichen Opfertheologie findet sich eine Dialektik von göttlicher Transzendenz und segensvoller Gegenwart Gottes im Vollzug des Opfers, von Unsichtbarkeit und sinnlicher Erfahrbarkeit. Der synoptische Jesus weist auf die Wichtigkeit hin, die Zeiten zu unterscheiden, ohne Fasten und Feiern gegeneinander auszuspielen und ohne das liturgische vom individuellen Beten zu trennen. Von Paulus lässt sich lernen, dass sich Spiritualität und Körperlichkeit ebenso wenig ausschließen wie Gottesdienst und Alltag, Abendmahl und Solidarität mit den Bedürftigen. Bei den Reformatoren des 16. Jahrhunderts wird die
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Spiritualität zum Kriterium recht verstandener Sakramentalität.59 Die Gültigkeit der Sakramente wird nicht rituell, sondern durch deren Resonanz in den Herzen der Gläubigen ratifiziert. Sakramente sind Medien und Hilfsmittel für den Glauben des Einzelnen, Erinnerungszeichen und Siegel desselben. Sie sind daher mit Sorgfalt, aber in aller Freiheit zu gestalten.
Literatur Quellen Brunnschweiler, Thomas/Lutz, Samuel (Hg.), Huldrych Zwingli. Schriften, Bd. 3, Zürich 1995. D. Martin Luthers Werke, Kritische Gesamtausgabe, 6. Band: Schriften, Predigten, Disputationen 1519/20, Weimar 1883. D. Martin Luthers Werke, Kritische Gesamtausgabe, 54. Band: Schriften 1543–46, Weimar 1928. Löhe, Wilhelm, Die Kirche in der Anbetung, Neuendettelsau 1953. Quenstedt, Johann Andreas, Ethica Pastoralis et Instructio Cathedralis, sive Monita, Omnibus ac singulis, Munus Concionatorium ambientibus et obeuntibus: Cum quoad Vitam, tum quoad Concionem formandam scitu et observatu necessaria, Wittebergae : Mevius 1678.
Forschungsliteratur Beck, Andreas J., Gisbertus Voetius (1589–1676). Sein Theologieverständnis und seine Gotteslehre, Göttingen 2007. Bohren, Rudolf (Hg.), Einführung in das Studium der evangelischen Theologie, München 1964. Eckstein, Hans-Joachim, Gottesdienst im Neuen Testament, in: Eckstein, Hans-Joachim/ Heckel, Ulrich/Weyel, Birgit (Hg.), Kompendium Gottesdienst, Tübingen 2011, 22–41. Etzelmüller, Gregor, Was geschieht beim Gottesdienst? Eine Bibel und die Vielfalt der Konfessionen, Leipzig 2014. 59 Selbstredend wäre es möglich und ergiebig, das Verhältnis von Spiritualität und Sakramentalität an weiteren Stationen der Christentumsgeschichte von der Neuzeit bis in die Gegenwart zu reflektieren und zu differenzieren. Dabei wären insbesondere die Theorien und Theologien des Gottesdienstes vom Pietismus über die Aufklärung, Schleiermacher und die liturgischen Bewegungen des 19. und 20. Jahrhunderts bis in die Gegenwart ins Auge zu fassen, aber auch die ökumenischen Verständigungsbemühungen zu Taufe und Abendmahl sowie dogmatische Positionen wie diejenige Michael Welkers (vgl. Welker, Abendmahl). Lohnend wäre zudem die Auseinandersetzung mit sozial-philosophischen Konzepten wie demjenigen von Hartmut Rosa (Rosa, Resonanz, 435–453). Dies muss allerdings an anderer Stelle erfolgen.
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Gestrich, Christoph, Zwingli als Theologe, Zürich/Stuttgart 1969. Hermisson, Sabine, „Megatrend Spiritualität“ in der theologischen Ausbildung? Ein einleitender Überblick, in: Hermisson, Sabine/Rothgangel, Martin (Hg.), Theologische Ausbildung und Spiritualität, Göttingen 2016, 11–23. Hofius, Otfried, Herrenmahl und Herrenmahlsparadosis. Erwägungen zu 1Kor 11,23b–25, Paulusstudien I, Tübingen 1994. Janowski, Bernd, Der Gottesdienst in Israel. Grundfragen, Textbeispiele, Themenfelder, in: Eckstein, Hans-Joachim/Heckel, Ulrich/Weyel, Birgit (Hg.), Kompendium Gottesdienst, Tübingen 2011, 1–21. Jung, Matthias, Religiöse Erfahrung. Genese und Kritik eines religionsphilosophischen Grundbegriffs, in: Jung, Matthias/Moxter, Michael/Schmidt, Thomas M. (Hg.), Religionsphilosophie. Historische Positionen und systematische Reflexionen, Würzburg 2000. Käsemann, Ernst, Gottesdienst im Alltag der Welt. Zu Röm. 12, in: Käsemann, Ernst (Hg.), Exegetische Versuche und Besinnungen, Bd. 2, Göttingen 1964, 198–204. Kerner, Hanns, Der Gottesdienst. Wahrnehmungen aus einer neuen empirischen Untersuchung unter evangelischen Getauften in Bayern, Nürnberg 2007. Köpf, Ulrich, Art. Sakramente, I. Kirchengeschichtlich, RGG4 7, 2004, 752–755. –, Art. Thomas von Kempen, TRE 33, 2001–2002, 480–483. Kunz, Ralph, Gottesdienst evangelisch reformiert. Liturgik und Liturgie in der Kirche Zwinglis, Zürich 2001. Marx, Alfred, Opferlogik im alten Israel, in: Janowski, Bernd/Welker, Michael (Hg.), Opfer. Theologische und kulturelle Kontexte, Frankfurt a. M. 2000, 129–149. Meyer, Hans-Bernhard, Gottesdienst und Spiritualität, in: Klöckener,Martin/Häussling, Angelus A./Messner, Reinhard (Hg.), Handbuch der Liturgiewissenschaft, Teil 2. Theologie des Gottesdienstes, Bd. 2. Gottesdienst im Leben der Christen, Regensburg 2008, 159–279. Meyer-Blanck, Michael, Liturgie und Liturgik. Der Evangelische Gottesdienst aus Quellentexten erklärt, Gütersloh 2001. Peng-Keller, Simon, Einführung in die Theologie der Spiritualität, Darmstadt 2010. Plüss, David, Religiöse Erfahrung zwischen Genesis und Performanz, ZThK 105 (2), 2008, 242–257. Pohl-Patalong, Uta, Gottesdienst erleben. Empirische Einsichten zum evangelischen Gottesdienst, Stuttgart 2011. Richter, Klemens, Art. Sakramente, III. Praktisch-theologisch und liturgisch, RGG4 7, 2004, 769–770. Riesebrodt, Martin, Cultus und Heilsversprechen. Eine Theorie der Religionen, München 2007. Rosa, Hartmut, Resonanz. Eine Soziologie der Weltbeziehung, Frankfurt a.M. 2016. Theißen, Gerd, Die Religion der ersten Christen. Eine Theorie des Urchristentums, Gütersloh 42008. –, Vom Zauber der Rituale. Ist eine protestantische Ritualkultur möglich?, in: Lienhard, Fritz (Hg.), Feste in Bibel und kirchlicher Praxis, Berlin 2010, 43–60. Welker, Michael, Was geht vor beim Abendmahl?, Gütersloh 2004. Wenz, Gunther, Art. Sakramente, I. Kirchengeschichtlich, TRE 29, 1998, 663–684. Zimmerling, Peter, Evangelische Spiritualität, Göttingen 22010.
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Die Spiritualität des ordinierten Amtes
Die Rede von „Spiritualität“ hat eine breite Bedeutungsvielfalt entwickelt.1 Deshalb ist die Referenz des eigenen Sprachgebrauchs zu klären (1), bevor die Spiritualität des christlichen Lebens im Grundzug beschrieben werden kann (2) und daraufhin dann die Spiritualität des ordinierten Amtes (3). Abschließend betrachten wir die Bedingungen für deren Pflege (4).
1.
Spiritualität als anthropologische Konstante
1. Das Leben und Zusammenleben von Menschen ist ihm selbst unmittelbar gegenwärtig, ihm selbst zu-verstehen gegeben und existiert somit unter der Zumutung, sich auch tatsächlich selbst zu verstehen. Sich selbst versteht, wer sein eigenes Leben als Person unter Personen in der Welt verantwortlich zu führen versteht. Das verantwortliche Leben ist das besonnene Leben, das anderen über sich Auskunft geben kann. Das gilt auch für das christliche Leben. Eine der Weisen seiner Selbstbesinnung ist die Theologie. Deren Gegenstand ist das christliche Leben als eine besonders bestimmte und somit exemplarische Gestalt menschlichen Lebens. Daher erfasst die Theologie einerseits die allgemeinen Züge des Menschseins und andererseits die besonderen Züge des christlichen Lebens. Beide Aufgaben bilden eine Einheit. Hier geht es zunächst um die erste. 2. Das Wesen menschlichen Lebens präsentiert sich der Theologie als Zusammenleben von Personen, das als solches verantwortlich, rechenschaftsfähig wie -pflichtig ist.2 Grund: die Faktizität des Erschlossenseins dieses Zusammenlebens für jedes seiner Glieder als die Vor- und Aufgabe, dies vorgegebene Zu1 Vgl. Fraling/Becker/Sudbrack/Treml/Waldenfels/Weismayer, Spiritualität; Grethlein/GräbSchmidt/Köpf, Spiritualität. – Die RGG3 erwähnt „Spiritualität“ noch überhaupt nicht. Das LThK2 verzeichnet zwar das Stichwort (IX 975), aber nur mit Verweis auf „Frömmigkeit“. 2 Vgl. Herms, Person; ders., Mensch.
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sammenleben durch ein Kontinuum von Selbstbestimmungsakten eigenverantwortlich zu führen. Die Faktizität dieses Für-sich-selbst-Erschlossenseins ist für das menschliche Zusammenleben unhintergehbar. Sie manifestiert sich in der unmittelbaren Selbstgewissheit, in der jede menschliche Person ihr Zusammenleben mit ihresgleichen führt. Diese unmittelbare Selbstgewissheit ist die Basisbefindlichkeit von Menschen als Personen. Ihre formalen und inhaltlichen Züge sind folgende: 2.1 Der formale Grundzug besagter Selbstgewissheit ist ihre Unmittelbarkeit. Sie manifestiert sich für jede Person nicht als Reflexionsresultat, sondern als unhintergehbare Befindlichkeit, d. h.: als diejenige Bestimmtheit ihres leibhaften Daseins, in der sie sich jeweils schon vorfindet, sich selbst fühlt. 2.2 Der Inhalt der Selbstgewissheit ist das leibhafte Personsein als Sein eines Selbstes; Inhalt des unmittelbaren Selbstgefühls ist das Selbstsein der leibhaften Person als die unabweisbare Aufgabe der Selbstbestimmung durch Selbstverwirklichung, d. h.: durch eigenes verantwortliches Verwirklichen (verwirklichendes Wählen) von real vorgegebenen Möglichkeiten des eigenen Personseins. 2.3 Alle Akte des verwirklichenden Wählens aus den möglichen zukünftigen Bestimmtheiten unseres In-der-Welt-Seins vollziehen sich im Lichte dieser unmittelbaren Selbstgewissheit. Daher haben sie sämtlich den Charakter des Sichselbst-Verstehens. 2.4. Diese primäre Gewissheit ist in sich selbst der dauernde Grund für die Entwicklung von sekundären Gewissheiten. Denn die primäre Gewissheit ist Gewissheit des ein-Selbst-Seins, das zur aktiven Selbstbestimmung und Selbstverwirklichung bestimmt ist. Kein menschliches Selbst kann anders, als sich im Vollzug seiner Selbstbestimmung und Selbstverwirklichung zu bewegen. Und weil diese Selbstverwirklichung auf dem Boden und im Licht primärer Selbstgewissheit sich vollzieht, fallen auch ihre Effekte in dieses Licht. Als Inhalt des Selbsterlebens der Selbstbestimmung der Person summieren diese Effekte sich zu einem stetig wachsenden Bestand sekundärer Gewissheiten. Diese sind von der primären dadurch unterschieden, – dass wir uns in dieser ganz ohne eigenes Zutun als dem Grund der Möglichkeit und der Unvermeidbarkeit unserer eigenaktiven Selbstbestimmung und Selbstverwirklichung vorfinden, so dass diese Gewissheit Grund der Möglichkeit jeden Zweifels ist und kein Gegenstand irgendeines begründeten Zweifels sein kann, – während wir hingegen zu sekundärer Gewissheit nur im Durchgang durch das Aktkontinuum unseres eigenen uns selbst Bestimmens und Verwirklichens finden, dessen Angemessenheit gegenüber dem, was ihm zu-verstehen vorgegeben ist, nicht garantiert ist, also auch immer Gegenstand von begründetem Zweifel sein kann – freilich nur eines Zweifels, der selbst auf dem Boden von primärer Gewissheit steht, und dem, sobald er dieses seines eigenen
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Charakters als eines ebenfalls bloß sekundären inne ist, auch seine eigene Überwindbarkeit gewiss ist.3 2.5. Was kann Inhalt sekundärer Gewissheit sein? Offenkundig alles, was in primärer Selbstgewissheit zu-verstehen vorgegeben ist: das je individuelle Selbstsein. Dies Ganze umfasst mehrere gleichursprüngliche Bereiche möglicher Gewissheitsinhalte: – nämlich Gewissheiten der Person über ihr eigenes Sein-in–ihrem-Leibe als sein Sein-für-sich, also Gewissheiten über ihr leibhaftes Selbstverhältnis; – Gewissheiten der Person über ihr eigenes Sein-in–ihrem-Leibe als ihrem Seinfür-andere-und-anderes, also Gewissheiten über ihr leibhaftes Umweltverhältnis; – Gewissheiten der Person über ihr eigenes Sein-in–ihrem-Leibe als ihrem Sein unter ihresgleichen, also Gewissheiten der Person über ihr Weltverhältnis; – Gewissheit über die Bestimmtheit, d. h. Ursprung und Ziel dieser Welt. Das schließt die Gewissheit einer Sphäre des Ursprungs aller möglichen Welten ein, aus dem diese unsere Welt durch die Macht über den Ursprung von Welt auswählend verwirklicht wurde. Die Bildungsgeschichte von Menschen verläuft als Kontinuum des Sich-selbstErlebens der Person in ihrer Selbstbestimmung durch Selbstverwirklichung. Weil Effekt des Erlebens, manifestiert sich auch sekundäre Gewissheit zunächst vorreflexiv, im Gefühl. Nur Erlebtes, Gefühltes, kann reflektiert werden. 2.6 Weil von den Einzelnen im Durchlaufen ihres Sich-selbst-Erlebens erreicht, nimmt der Bestand ihrer sekundären Gewissheiten unterschiedliche Gestalt an. Er variiert material und formal. Die materialen Differenzen manifestieren sich in den inhaltlichen Bestimmtheiten, die den sekundären Gewissheiten der Menschen – ihrer Selbst-, Umwelt-, Welt- und ihrer Weltursprungs- und -zielgewissheit – im Verlauf ihrer Bildungsgeschichte jeweils zu eigen geworden sind. Die formale Differenz betrifft das Verhältnis zwischen den Bereichen sekundärer Gewissheit, das im Ganzen der Selbstgewissheit jeweils erreicht ist. Zwar betrifft jeder Bestand bildungsgeschichtlich erreichter sekundärer Gewissheit die Einheit des ganzen Gefüges der genannten Beziehungsdimensionen. Aber es macht einen gravierenden Unterschied, ob die Bildungsgeschichte des Einzelnen überhaupt in jedem der genannten Bereiche sekundäre Gewissheiten erreicht oder nur in einigen und in anderen nicht, und, ob auch die Artdifferenz zwischen Selbst-, Umwelt-, Welt- und Ursprungsverhältnis im Laufe des Selbsterlebens explizit und klar hervorgetreten ist oder nicht. 3 Vgl. zum Ganzen Herms, Gewißheit.
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Für alle diese materialen und formalen Differenzen von bildungsgeschichtlich erreichten Beständen sekundärer Gewissheit gilt: Weil sie Effekte des Sich-selbstErlebens sind, manifestieren sie sich zunächst auf der Ebene des Gefühls und erst danach auch in Gedanken (Vorstellungen, Bildern, Begriffen, Urteilen). 2.7. Der Gesamtbestand der von einer Person jeweils erreichten sekundären Gewissheiten motiviert und orientiert den Vollzug ihrer Selbstbestimmung durch Selbstverwirklichung: Jede Gestalt sekundärer Selbstgewissheit bleibt wie die primäre die Gewissheit, ein leibhaftes Selbst zu sein, das sich bezogen findet auf den Horizont seiner zukünftig möglichen Bestimmtheiten, von denen ihm einige aufgrund seiner Bildungsgeschichte präsent sind als unattraktiv, also schlecht, andere als attraktiv, also gut. Wobei nicht nur gewiss ist, was überhaupt Zufriedenheit verheißt, also gut ist, sondern auch, was ganze und volle Zufriedenheit verheißt und somit die Letztattraktivität des höchsten Gutes besitzt. Diese Gütergewissheit schwankt material und formal. An der Weltursprungs- und -zielgewissheit, die eine Person erreicht hat, entscheidet sich, ob ihr das sie anziehende höchste Gut erreichbar scheint innerhalb des Lebens in der Welt, oder nicht in dieser Welt. In jedem Fall fundiert die bildungsgeschichtlich erreichte Daseinsgewissheit des Menschen seine vorreflexive Gütergewissheit, die den Prozess seiner Selbstbestimmung durch Selbstverwirklichung ausrichtet auf das anziehende Gute überhaupt, das sämtlich in der Richtung des zuhöchst anziehenden höchsten Gutes liegt. Sie motiviert seine Selbstbestimmung durch Selbstverwirklichung und orientiert sie. Darüber hinaus ist für die Orientierung der Praxis von Menschen auch Gewissheit über die Wege zum angezielten Guten erforderlich – Gewissheit über die überhaupt realen Wege und über die vorzugswürdigen unter ihnen (wegewahlleitende Gewissheit). Die bildungsgeschichtlich erreichte Daseinsgewissheit des Menschen begründet seine zielwahlleitende Gütergewissheit und seine wegewahlleitende Weltgewissheit, also das Ganze seiner praktischen Gewissheit (praxisleitende Gewissheit). Dies schließt ein: Diese Gewissheit ist nicht durch Reflexion konstituiert, sondern durch das alltägliche Sich-selbst-Erleben in Interaktion und daher manifest und wirksam als vorreflexive Gewissheit. Weil bildungsgeschichtlich konstituiert, ist sie und alle ihre Bestandteile variabel. Das beeinträchtigt nicht deren Charakter als praktische Gewissheiten, die als solche von menschlicher Praxis vorausgesetzt und in ihrem Verlauf teils bestätigt, teils korrigiert werden. 3. Die Verwendungsgeschichte des Ausdrucks „Geist“ zeigt, dass er eine Mannigfaltigkeit variabler Vorstellungsinhalte umfasst bei gleichzeitiger erstaunlich konstanter Referenz. Stets ist der Referent von „Geist“ das Menschsein unter dem Gesichtspunkt desjenigen Wesensmerkmals, durch das es von anderem in der Welt Realen unterschieden ist. Das ist die dem Menschsein als leib-
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haftem Personsein eignende Macht, sein Leben in der Welt durch selbstgewisses, also auch verantwortliches, planvolles Wirken selbst zu gestalten. Auf das asymmetrische Konstitutionsverhältnis zwischen geschaffener innerweltlicher Machthabe des geschaffenen menschlichen Personseins und der weltschaffenden Machthabe des Absoluten referiert die Rede von Geist in der Bibel (Gen 2,7). Somit hebt die Rede von der „Spiritualität“ des Menschseins in jedem Fall auf das ab, was das auszeichnende Wesen des Menschseins ausmacht. Dabei kann sie jedoch entweder das Ganze dieser Struktur meinen oder nur eines ihrer wesentlichen Momente. Offenzulegen ist also, auf welches Wesensmoment des menschlichen Personlebens die Rede von „Spiritualität“ im vorliegenden Text referiert. Dafür greife ich auf die oben gegebene Strukturbeschreibung zurück: Referent der Rede von „Spiritualität“ ist der Aspekt der praxisleitenden Gewissheit. Und zwar das Ganze dieser Gewissheit als primäre und sekundäre in ihrer jeweils bildungsgeschichtlich bestimmten Einheit von Selbst-, Umwelt-, Welt- sowie Weltursprungs- und -zielgewissheit. Und zwar dieses Ganze nicht einfach pur und simpel, sondern genau in einer seiner wesentlichen Funktionen. Nämlich sofern es die bildungsgeschichtlich erreichte Gewissheit einer Person über diejenige zukünftige Bestimmtheit ihres Seins ist, von der sie jeweils jetzt als ihrem höchsten Gut angezogen, also auch motiviert und bei ihren Zielwahlen geleitet ist. Die Rede von der „Spiritualität“ des Lebens eines Menschen meint seine bildungsgeschichtlich erreichte zielwahlleitende Gewissheit über das höchste Gut, die das Selbstverwirklichungskontinuum dieses Personlebens jeweils effektiv motiviert und orientiert. Da es kein menschliches Personleben ohne eine solche zielwahlleitende Gewissheit über das zuhöchst Gute gibt, bezeichnet „Spiritualität“ eine anthropologische Konstante. Fragt man nach der „Spiritualität“ einer Gestalt menschlichen Lebens, so fragt man danach, „in welchem Geist“ dieses Leben geführt wird, und dieser „Geist“ ist das, was dieser Gestalt die Richtung ihres Strebens gibt, also die jeweils bildungsgeschichtlich erreichte, alle Zielwahlen leitende Gewissheit über das für sie zuhöchst Gute. In jedem Fall fasst diese Rede von „Spritualität“ die menschliche Innerlichkeit in den Blick und diese jeweils als das Ganze der die menschliche Lebensführung orientierenden praktischen Daseins- und Gütergewissheit, die bildungsgeschichtlich faktisch erreicht wurde. Weil die Daseins- und Gütergewissheit, die die „Spiritualität“ eines Lebens ausmacht, auf diese Weise, also durch das Sich-selbst-Erleben der Person, konstituiert ist, weist diese Bestimmtheit menschlicher Innerlichkeit drei Merkmale auf: a) „Spiritualität“ meint den beschriebenen Gewissheitsbestand als einen solchen, der nicht durch Reflexion und Theoriearbeit hervorgebracht, sondern, weil eben durch das Sich-selbst-Erleben konstituiert, als widerfahrnisartig heraufgeführte „Befindlichkeit“ manifest ist.
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b) „Spiritualität“ meint diesen zunächst vorreflexiv gegebenen, gefühlsmäßig manifesten und wirksamen Gewissheitsbestand als einen solchen, der gleichwohl inhaltlich bestimmte Wahrheitsgewissheit ist und als solcher die Selbstbesinnung herausfordert, ihr zugänglich ist und somit auch kommuniziert werden kann und kommuniziert zu werden verlangt. c) Weil Resultat einer individuellen Bildungsgeschichte, macht dieser Gewissheitsbestand ipso facto die individuelle Prägung der Innerlichkeit einer Person aus. Diese Individualität der vorreflexiv motivierenden und orientierenden Gewissheit schließt aber nicht aus, dass sie an in Gemeinschaft kommunizierter gemeinsamer Gewissheit teilhat. Im Gegenteil: Bildungsgeschichten verlaufen nur in Gemeinschaft, schließen also auch immer die Kommunikation von in den diversen Gemeinschaften geteilten Gewissheiten ein. Die am Ort der Einzelnen reale Spiritualität kann also nur die individuelle Aneignungsgestalt der Spiritualität einer Gemeinschaft sein, nur die Aneignungsgestalt und Variation des „Geistes“ einer Familie, einer Nation, einer Glaubensgemeinschaft. Der exemplarische Fall dafür ist die „christliche Spiritualität“.
2.
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Christliche Spiritualität ist eine besondere Bildungsgestalt menschlicher Spiritualität überhaupt. D. h.: 1. Alle allgemeinen Wesenszüge von Spiritualität werden von ihr geteilt: – Auch sie ist die Bildungsgestalt der Innerlichkeit von menschlichem Personleben: ein inhaltlich bestimmter Bestand an sekundärer Selbst-, Umwelt-, Welt- sowie Weltursprungs und -zielgewissheit, der jeweils eine lebenszielwahlleitende Gewissheit des für sie zuhöchst Guten begründet und einschließt. – Auch sie ist das Resultat einer bestimmten Bildungsgeschichte. Nämlich einer Bildungsgeschichte, die innerhalb der christlichen Glaubensgemeinschaft als Teilnahme an der in dieser Gemeinschaft seit Ostern kommunizierten spezifisch christlichen Daseins- und Gütergewissheit verlaufen ist. – Kein Mensch wird als Christ geboren. Er wird es erst im Laufe seiner Bildungsgeschichte durch die Begegnung mit dem Glaubenszeugnis der christlichen Gemeinschaft, und zwar indem er von dem Grund und Gegenstand dieses Zeugnisses selbst ergriffen wird, sodass der bezeugte Grund und Gegenstand des Glaubens auch zum Grund und Gegenstand seiner eigenen Daseinsgewissheit, seines eigenen Glaubens, wird. – Auch christliche Spiritualität hat als das jeweilige Resultat einer solchen Bildungsgeschichte unübertragbar individuell-persönliche Gestalt.
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– Auch sie besitzt aber diesen individuell-persönlichen Charakter nur als die individuelle Aneignungsgestalt von Gemeinsamem. Denn auch die zu ihr führende Bildungsgeschichte verlief als das Sich-selbst-in-Gemeinschaft-Erleben von Menschen, und zwar genau als das Sich-selbst-in–Verbindung-mitder-christlichen-Glaubensgemeinschaft-Erleben, und unter Teilnahme an der Kommunikation der für diese Gemeinschaft konstitutiven gemeinsamen inhaltlich bestimmten Daseins- und Gütergewissheit. Die Rede von der „Spiritualität des christlichen Lebens“ meint diese in der christlichen Glaubensgemeinschaft seit Ostern kommunizierte, für diese Gemeinschaft konstitutive Welt-, Weltursprungs- und -zielgewissheit mit der darin eingeschlossenen spezifischen lebenszielwahlleitenden Gewissheit des höchsten Gutes in ihrer unverwechselbaren inhaltlichen Bestimmtheit samt dem für sie universalen formalen Zug, stets nur in individuellen Aneignungsgestalten real und als Leitprinzip der Lebensführung wirksam zu sein. 2. Was die spezifische inhaltliche Bestimmtheit dieses Gewissheitsbestandes betrifft, so gilt auch von ihm in formaler Hinsicht dasselbe wie für jede inhaltliche Bestimmtheit aller derartigen Gewissheitsbestände: Ihr Gegenstand ist ihr Grund. Und ihr Grund ist diejenige Bildungsgeschichte, welche den jeweils orientierenden Gewissheitsbestand heraufgeführt hat. Das ist im Falle der christlichen Gewissheit das Evidentwerden der Wahrheit der Christusbotschaft. Die kanonische Beschreibung dieses Geschehens hat Paulus in 2Kor 4,6 gegeben: Der „Geist der Wahrheit“, d.i. der Geist dessen, der das Licht aus der Finsternis rief, d. h. des Schöpfers selbst, schafft im „Herzen“, d. h. im unmittelbaren Selbstgefühl der Adressaten der Christusbotschaft, diejenige Helligkeit, kraft derer ihnen gewiss wird, dass diese ihre Lebensgegenwart als geschaffene so beschaffen ist, wie die Christusbotschaft sie bezeugt: nämlich als durch den Tod hindurch zum Eingang in die Herrlichkeit Gottes, das ewige Leben des Schöpfers, bestimmt. Damit ist die Ansicht überwunden, dass der Kreuzestod Jesu die Unwahrheit seines Vollmachtsanspruchs erweist (Gal 3,13), und stattdessen die Wahrheit des am Kreuz nicht gescheiterten, sondern vollendeten Zeugnisses Jesu (Lk 24,25–27) gewiss. D. h. nichts anderes als: die Lebensgegenwart der Adressaten der Christusbotschaft wird vom Ostergeschehen ergriffen, also von demjenigen Erschließungsgeschehen, durch welches die Christusbotschaft selbst begründet wurde: Menschen, zu denen Jesus von Nazareth vor seinem Tode leibhafte Gemeinschaft aufgenommen hatte, wird nach seinem Tode-am-Kreuz sein Auferwecktsein zu erleben (Lk 24,28–32) und zu sehen gegeben (Lk 24,34). Eben damit ist die Wahrheit seines am Kreuz vollendeten Lebenszeugnisses gewiss und ebenso die Wahrheit seines Vollmachtsanspruchs, dessen eigenes menschliches Wollen und Wirken restlos eins ist mit demjenigen des Schöpfers, sodass durch das Ganze seines leibhaften Wirkens
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dieses alles bestimmende Wirken Gottes, sein Herrschen als Schöpfer über alles Geschaffene, auch über die Gegenwart und über die Zukunft, innerhalb des Geschaffenen manifest geworden ist (Joh 12,45). Für das erleuchtete Herz ist am Menschenleben Jesu die Wirklichkeit der Gottesherrschaft offenbar: Nämlich das Umgriffensein von allem Geschaffenen von dem ewigen Gemeinschaftswillen des Allmächtigen, der Welt und Leben der Menschen als das Medium der von ihm gewollten vollendeten, und also auch versöhnten, Gemeinschaft mit seinem geschaffenen Ebenbild schafft und sie auf dieses Ziel hin erhält, das er verwirklicht, indem er das Geschaffene in seine Ewigkeit mitnimmt (Apg 17,28), dabei das Vergängliche ins Unvergängliche verwandelnd (Apg 17,31). Das Evidentwerden der Wahrheit dieser Sicht wirkt durch sich selbst bildend auf die praxisleitende Daseinsgewissheit der von ihm Betroffenen. Es begründet durch sich selbst eine spezifische Weltgewissheit samt darin eingeschlossener lebenszielwahlleitender Gewissheit über das höchste Gut, die ihrerseits eine Konkretisierung der Selbst- und Umweltgewissheit der Betroffenen mit sich bringt und in der dadurch spezifisch orientierten leibhaften Vollzugsgestalt des christlichen Lebens manifest wird: – Die neue Weltgewissheit ist die Gewissheit, dass die uns Menschen gewährte Gegenwart unserer Welt nichts anderes ist als Ausdruck und Verwirklichung des uns Menschen geltenden Gemeinschaftswillens des Vaters, nichts anderes als das unerschütterliche Unszugewandtsein, der unirritierbaren Treue, mit der der Schöpfer uns Menschen jetzt schon umarmt und hineinträgt in das für uns bereite Ziel, ganzzuwerden und als ganzgewordene teilzuhaben an seiner Seligkeit in seinem ewigen Leben. Sie ist die paulinische Gewissheit, dass wir und unsere Welt schon jetzt „leben, weben und real“ (Apg 17,28b) sind ausschließlich im welt- und lebenschaffenden ewigen Leben Gottes, das unirritierbar auf das Ganzwerden von Welt und Leben und auf die Ewigkeitsgestalt der ganzgewordenen Welt und des ganzgewordenen geschaffenen Personlebens in seinem ewigen Leben zielt. Sie ist die paulinische Gewissheit, dass das „Schema dieser Welt vergeht“ (1Kor 7,31), und zwar nicht ins Nichts, sondern ins Verwandeltwerden in ihre Unvergänglichkeitsgestalt (1Kor 15,53–57). Sie ist die Gewissheit Luthers, dass die Gegenwart des Im-Werden-Seins dieser unserer Welt und unseres Lebens in dieser Welt selbst nichts anderes ist als der jetzt schon im Vollzug befindliche und durch die Osteroffenbarung Jesu als des Christus allen Empfängern dieser Offenbarung explizit verheißene „reale transitus ex hoc mundo ad patrem“,4 sodass auch der Tod nichts anderes ist als die wahre Geburt des Menschen: Geburt ins ewige Leben.5
4 WA 6, 534,18–535,16. 5 WA 2, 685,20–686,8.
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– Und die die Wahl der Lebensziele leitende Gewissheit des höchsten Gutes, die in dieser christlichen Weltgewissheit eingeschlossen ist, ist die Gewissheit, dass dieses höchste Gut nicht schon vor dem Ganzgewordensein von Welt und Leben innerhalb ihres noch Im-Werden-Seins zu erreichen ist. Vielmehr ist das höchste Gut erst und ausschließlich die Unvergänglichkeitsgestalt des ganzgewordenen Lebens in der ganzgewordenen Welt, also einschließlich des Endes ihres Im-Werden-Seins im Tode. – Diese Gewissheit beraubt nicht etwa das Leben in dieser vergehenden Welt seiner Wichtigkeit und Würde, sondern lässt gerade das Gewicht und die Würde, die ihm in Wahrheit eignet, den eigenen Ewigkeitswert schon dieses Lebens, hervortreten. Dieser besteht darin, der Weg zu sein, über den allein die Vollendung zu erreichen ist. Dieser Weg ist als solcher zwar keineswegs das Ziel, wird aber sehr wohl als ganzer im Ziel festgehalten (Apk 14,13). Das Orientiertsein durch dieses wahre Ziel erübrigt und entwertet nicht die Wahl von Zielen innerhalb dieser im-Werden-seienden Welt, sondern motiviert gerade zum Wählen solcher innerweltlichen Ziele und bewahrt es vor Missgriffen: Nämlich erstens vor der formalen Fehleinschätzung aller dieser innerweltlichen Ziele als solcher, die Ganzerfüllung gewähren könnten. Und zweitens vor dem inhaltlichen Irrtum, als könnten diese angestrebten innerweltlichen Güter in Wahrheit in etwas anderem bestehen als in Beiträgen zu solchen Ordnungen des Zusammenlebens von Menschen, welche bildungskräftig sind – und zwar bildungskräftig in dem Sinn, dass sie es den in diesen Ordnungen lebenden Menschen erleichtern, durch das ihnen Erschlossenwerden der Wahrheit von kommunizierter konkreter Lebenssinngewissheit ergriffen zu werden, so dass sie aufgrund dessen – orientiert von der ihnen zuteil gewordenen konkreten Gewissheit über das in Wahrheit höchste Gut – vor Frustration bewahrt werden und befreit zur wahren Liebe zum Leben, das in der Liebe zu dem ihm von seinem Schöpfer gesetzten Ziel, der Erreichung seiner Ewigkeitsgestalt, gründet, und hinführt zum wahren Genuss dieses Lebens als Reifwerden für die Ewigkeit in demjenigen Dienst an den Nächsten, welcher den Schöpfer lobt. Das in diesem Geist geführte christliche Leben trägt in allen seinen Vollzügen, Kontexten und Gestalten bei zu einer bildungskräftigen Ordnung des Zusammenlebens: in allen privaten, aber auch in allen öffentlichen und beruflichen Vollzügen. Unverzichtbares Element dieses Dienstes am bonum commune ist auch die dankbare Treue zu derjenigen Gemeinschaft, in deren Kommunikation der konkreten christlichen Gottes- und Weltgewissheit ihre Glieder zur Teilhabe an dieser Gewissheit, dieser Spiritualität, gelangt sind: zur Gemeinschaft der Glaubenden, zur Kirche. Und eben deshalb gehört für Christen zum Spektrum der
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Orte, an denen in christlichem Geist der professionelle Dienst am Gemeinwohl zu leisten ist, auch der Dienst im ordinierten Dienst der Kirche.
3.
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Die Spiritualität des ordinierten Amtes ist eine berufsspezifische Variation derjenigen Spiritualität, welche jede professionelle Tätigkeit von Christen in der Ausübung eines Berufs innerlich orientiert. Jede derartige Berufstätigkeit ist die Ausübung berufsspezifischer Kompetenz. 1. Kompetenz und Spiritualität. – Die allgemeine Rede von „Kompetenz“ referiert auf zweierlei: darauf, dass Menschen fähig sind, mit den Aufgaben in ihren verschiedenen sozialen Positionen angemessen umzugehen, und darauf, dass gerade sie und nicht andere dafür zuständig sind. Positionsspezifische Fähigkeit ermöglicht sachlogisch die positionsspezifische Zuständigkeit und diese verlangt sachlogisch die positionsspezifische Fähigkeit. Die Rede von „Kompetenz“ als positionsspezifischer Fähigkeit meint jeweils das Potenzial eines positionsspezifischen Handelns, das auch durch Handeln (nämlich in der Ausbildung) erworben wird (1.1). Hingegen meint die Rede von „Spiritualität“ nicht ein solches Handeln, sondern diejenigen Bestände der gebildeten Daseins- und Gütergewissheit der Interaktanten, die sie jeweils zu und in solchem professionsspezifisch-kompetenten Handeln persönlich-innerlich orientieren und die daher solchem positionsspezifisch kompetenten Handeln immer schon zugrunde liegen, also dadurch erworben werden, dass und wie die Interaktanten sich selbst in ihrem Handeln erleben (1.2). 1.1. Positionsspezifisches Handeln ist kompetent, indem es der kunstmäßige Umgang mit den spezifischen Aufgaben einer Position im Zusammenleben ist. Dieser kunstmäßige Umgang schließt folgende Aktivitäten ein: a) Diagnose der durch die jeweilige positionsspezifische Lage gegebenen Handlungsherausforderung, b) Erkenntnis und Bestimmung der durch diese besondere Herausforderung gestellten Aufgabe, c) Planung einer Lösung dieser Aufgabe durch Wahl eines einschlägigen Zielzustandes, durch dessen Erreichtsein die Aufgabe gelöst ist, und die Wahl eines sicheren und kostengünstigen Weges zu diesem Ziel, d) das Beschreiten des gewählten Weges, kontrolliert und mit praktischem Geschick. Dem Vollzug dieses kunstmäßigen Verfahrens geht Kompetenz als deren Möglichkeitsbedingung voran. Konstitutiv für dieses – „Kompetenz“ genannte – vorgängige und überdauernde Handlungspotenzial sind also positionsspezifische Einsichten und Fertigkeit. Nämlich Einsichten in die allgemeine Struktur der jeweiligen sozialen Position, sodann im Horizont solcher Einsicht die Er-
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kenntnis der jeweils realen besonderen Herausforderung und der durch sie gestellten Aufgabe, weiter Erkenntnis der jeweils real möglichen Lösungen der Aufgabe durch einschlägige Wahl von realen Zielen und Wegen. Darüber hinaus schließt Kompetenz dann auch die Fertigkeit ein, den gewählten Weg zum gewählten Ziel zu beschreiten. Erworben wird Kompetenz als Fähigkeit zu solchem Handeln ebenfalls durch Handeln, nämlich durch ein solches, welches durch die betrachtende Analyse positionsspezifisch-kompetenten Handelns die angedeuteten Arten von Einsichten und durch Üben die angedeutete Fertigkeit gewinnt; also durch „Ausbildung“. 1.2. Nun stützt sich alles menschliche Handeln auf praktische Gewissheiten, die alle Interaktanten gewinnen durch das alltägliche Sich-selbst-in-Gemeinschaft-Erleben. Dieses ist in sich selbst Kommunikation der Selbst-, Umwelt-, Welt- und Ursprungsgewissheit der Interaktanten und damit auch ihrer jeweiligen Lebenssinn- und Gütergewissheit. Es stattet somit alle Beteiligten mit demjenigen Bestand an sekundärer praktischer Gewissheit aus, auf welche sich ihr verantwortliches Handeln stützt: mit den erforderlichen wegewahlleitenden Gewissheiten, aber v. a. auch – in Gestalt ihrer jeweils erreichten praktischen Gewissheit vom höchsten Gut des Lebens – mit der erforderlichen lebenszielwahlleitenden Gewissheit, also mit ihrer Spiritualität. Das gilt nicht nur für das kompetente professionelle Handeln, sondern ebenso schon für das Handeln in den Zusammenhängen der Ausbildung, in denen die für das positionsspezifisch-professionelle Handeln erforderliche Kompetenz erworben wird. Kompetenz ersetzt also niemals die Spiritualität von Handelnden, ihre durch lebensweltliches Sich-selbst-Erleben gewonnene zielwahlleitende Daseins- und Gütergewissheit, sondern – die Kraft dieser Gewissheit, Personen innerlich zu orientieren, macht schon die „Spiritualität“ aus, die bereits der Berufswahl zugrundeliegt, sie – inspiriert dann als persönlich-innerlich orientierendes Motiv alle Aktivitäten in der Ausbildung zum gewählten Beruf; und auch – das berufliche Handeln selbst bleibt im Innern der berufstätigen Person orientiert durch die aus ihrem Selbsterleben stammende Daseins- und Gütergewissheit. Quelle dieser inspirierenden Leitgewissheit der Berufstätigkeit ist dann über das Sich-Selbst-Erlebthaben der Interaktanten in den vorangegangenen Lebensphasen hinaus auch ihr aktuelles Sich-selbst-Erleben in der ausgeübten Berufspraxis selbst, durch das die aus dem älteren Sich-selbstErlebthaben mitgebrachte Daseins- und Gütergewissheit entweder angefochten und zermürbt oder vertieft und gefestigt wird. Ohne die innerlich motivierende und orientierende „Spiritualität“ der Daseinsund Gütergewissheit, die Personen in den Phasen ihres Heranwachsens durch ihr
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Sich-Selbst-Erleben im alltäglichen Miteinander zuteilwurde, wird also kein Beruf gewählt; ohne dass die „Spiritualität“ dieser Daseins- und Gütergewissheit durch das Sich-selbst-Erleben in den Ausbildunsgaktivitäten zumindest bestätigt wird, wird keine Berufsausbildung abgeschlossen; und ohne dass eben diese die Berufswahl tragende Daseins- und Gütergewissheit in ihrer aus der Ausbildung resultierenden professionsspezifischen Zuspitzung durch das Sich-selbst-Erleben in der Ausübung des Berufs bestätigt wird, wird kein Beruf erfolgreich und befriedigend ausgeübt. Berufsausbildung gelingt nur, wenn die schon zuvor durch das sozialisierende Sich-selbst-Erleben in der Lebenswelt gewonnene Spiritualität der Auszubildenden durch ihr Sich-selbst-Erleben in ihren Ausbildungsaktivitäten eine wirksame Zuspitzung erfährt; und Berufstätigkeit gelingt nur, wenn diese Zuspitzung der allgemeinen Daseins- und Gütergewissheit der berufstätigen Person durch ihr Sich-selbst-Erleben in Ausübung ihrer beruflichen Kompetenz gefestigt wird. Dies alles gilt auch für die Ausbildung und -übung des Pfarrberufs. Auch der Erwerb und die Ausübung „theologischer Kompetenz“ ist nur möglich auf dem Boden und im Licht „christlicher Spiritualität“. 2. Berufsspezifische Zuspitzungen christlicher Spiritualität als Basis für das Gewinnen und das Ausüben jeder berufsspezifischen Kompetenz. – Jede Berufstätigkeit von Christen wird innerlich motiviert und orientiert durch eine professionsbezogene Zuspitzung der christlichen Spiritualität. Für diese ist wesentlich eine praktische Gewissheit über das höchste Gut (a), die als solche auch die Weltgewissheit (b) und Selbstgewissheit des Christen (c) bestimmt: a) Das dem Christen gewisse höchste Gut ist das realisierte Ziel des ewigen Willens Gottes: die vollendete Gemeinschaft des geschaffenen Personseins mit dem Schaffenden in dessen ewigem Leben. Die kann als vollendete nur so erreicht werden, dass das geschaffene Personsein mit dem Wollen des schaffenden Personseins und dessen Ziel versöhnt wird. Dies geschieht, indem das geschaffene Personsein vom Schaffenden einem Bildungsprozess unterworfen wird, der dem geschaffenen Personsein das Ziel des Wollens und Wirkens des Schöpfers als das zuhöchst Gute gewiss macht. b) Das Medium dieses Bildungsprozesses ist die Welt des Menschen, ihr Geschaffen- und Erhaltenwerden durch den Gemeinschaftswillen des Schöpfers. Dieser zielt darauf, dass den Menschen sein Wirken und Werk offenbar wird als die schon geschehende Selbstverwirklichung des göttlichen Gemeinschafts- und Versöhnungswillens, also auch als die schon geschehende Realisierung des ewigen Ziels des Schöpfers: des Übergangs des Im-Werden-Seins der vollendeten Gemeinschaft des geschaffenen mit dem schaffenden Personsein in das Ganzgewordensein dieser vollendeten Gemeinschaft. Das ImWerden-Sein von Welt ist schon die Realisierung des Ziels dieses Im-Werden-
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Seins: der vollendeten Gemeinschaft der Menschen mit Gott, die mit dem Ganzgewordensein der Welt als Medium dieser Gemeinschaft erreicht sein wird. c) Die Selbstgewissheit des geschaffenen Personseins, die in dieser christlichen Gottes- und Weltgewissheit eingeschlossen ist, weist eine zweifache Bestimmtheit auf. Negativ bestimmt ist sie als die doppelte Gewissheit: Erstens, dass das höchste Gut nicht innerhalb des Weltgeschehens, sondern nur durch das Weltgeschehen in dem sie umgreifenden ewigen Leben Gottes selbst real werden kann, und zweitens, dass es auch allein Gottes eigenes Handeln ist, durch das dieses zuhöchst Gute real wird. Gleichzeitig ist die Selbstgewissheit des Christen positiv bestimmt als die Gewissheit, dass die dem geschaffenen Personsein zugemutete Einstimmung in dieses schon im Vollzug begriffene Heilswirken des Schöpfers in nichts anderem bestehen kann als in einem Dienst an dem Instrument, das Gott sich für die Verwirklichung seines Gemeinschaftswillens geschaffen hat: im Dienst an der Welt der Menschen. Der Erfüllung dieses Dienstes an der Welt dienen alle Ziele, die ein Christ in der Welt als Ziele seines eigenen Wirkens anstrebt. Sie alle sind Beiträge zur Gestaltung der Welt als Welt eines bildungskräftigen Zusammenlebens, also eines Zusammenlebens, in dem es den Menschen erleichtert wird, zu konkreter Daseins- und Gütergewissheit, eben zur Daseins- und Gütergewissheit des Glaubens, zu gelangen.
3. Die Spiritualität des ordinierten Amtes als individuelle, professions- und persönlichkeitsspezifische Zuspitzung christlicher Spiritualität. Jede Berufsausübung von Christen lebt in der beschriebenen gemein-christlichen Spiritualität. Jede lebt von der schon in präreflexiver christlicher Gewissheit wurzelnden Bereitschaft, durch professionelle Bearbeitung und Lösung einer berufsspezifischen Aufgabe einen aktuell notwendigen Beitrag zur bildungskräftigen Ordnung des Gemeinwesens zu leisten und zwar näherhin denjenigen, von welchem den Einzelnen jeweils gewiss ist, dass er es am besten erlaubt, ihre persönlichen Gaben vollumfänglich einzusetzen. Auch die Spiritualität, die den Willen begründet, in die Ausbildung für den Pfarrberuf einzutreten und ihn auszuüben, ist jeweils eine solche individuelle (3.1.), professionsspezifische (3.2.) und persönlichkeitsspezifische (3.3.) Ausprägung oder Zuspitzung gemeinchristlicher Daseins- und Gütergewissheit. 3.1. Die Spiritualität des ordinierten Amtes als individuelle Zuspitzung christlicher Spiritualität. – Jede Gestalt von Spiritualität, in der Menschen ihr Leben führen, kommt zustande durch das Sich-selbst-Erleben der Einzelnen in Gemeinschaft. Folglich ist diese Spiritualität jeweils die am Ort von Einzelnen zustande gekommene Aneignungsgestalt der jeweils kommunizierten Daseins-
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und Gütergewissheit der Gemeinschaft und somit geprägt durch Gemeinschaftliches. So auch die Spiritualität, von der die Ausübung des ordinierten Amtes der Kirche lebt: In jeder ihrer Gestalten ist Einzelnen gemeinschaftliche Gewissheit zu eigen geworden. Dies Gemeinsame ist – die aus der Christusoffenbarung stammende allgemeine Gottes-, Welt- und Lebensgewissheit des christlichen Glaubens mit seiner Gewissheit über das Verhältnis zwischen dem eschatischen höchsten Gut und allen inner-weltlichen Gütern, darin eingeschlossen aber auch – die Gewissheit über den geschichtlichen Ursprung und die Mission der durch das Christusgeschehen geschaffenen Gemeinschaft der Christen, der Kirche, in der Welt samt – der wiederum darin eingeschlossenen Gewissheit über das Verhältnis zwischen der Berufsaufgabe des ordinierten Amtes und allen anderen von Christen zu übernehmenden Berufsaufgaben. Dass die jeweils am Ort der Inhaber des ordinierten Amtes lebendige Spiritualität jeweils eine individuelle Aneignungsgestalt dieser gemeinsamen Gewissheit ist, manifestiert sich darin, dass sie jeweils eine für diesen Beruf spezifische Aneigungsgestalt gemeinchristlicher Daseins- und Gütergewissheit ist. Gleichzeitig ist die reale Aneignungsgestalt dieser gemeinchristlichen Gewissheit jeweils das Resultat der Bildungsgeschichte einzelner Personen, schließt also ein: auch Gewissheiten der einzelnen Person über ihr Verhältnis als Person zu diesen gemeinschaftlichen Gewissheiten. Die Spiritualität des ordinierten Amtes kann als professionsspezifische Zuspitzung gemeinchristlicher Spiritualität nur als persönlichkeitsspezifische real sein. 3.2. Die Spiritualität des ordinierten Amtes als professionsspezifische Zuspitzung christlicher Spiritualität. – Eine professionsspezifische Ausprägung christlicher Spiritualität ist die Spiritualität des ordinierten Amtes insofern, als sie jeweils eine explizite Gestalt der in der gemeinchristlichen Gewissheit wesentlich enthaltenen Gewissheit über den geschichtlichen Ursprung und die Sendung der Gemeinschaft des christlichen Glaubens, der Kirche, ist und darin eingeschlossen über das Pfarramt als unverzichtbare Profession (3.2.1.), damit zugleich auch über den spezifischen Charakter der in diesem Amt professionell zu lösenden Aufgabe (3.2.2.), über die besondere Bedeutung der Erfüllung dieser Aufgabe für Kirche und Gemeinwesen (3.2.3.) und über die Bedingungen für die Erfüllung dieser Aufgaben (3.2.4.). 3.2.1. Für den Aufbau von Gewissheit über die geschichtliche Unverzichtbarkeit von Kirche und pfarramtlichen Dienst gilt Folgendes:
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a) Das österliche Offenbarwerden des Gekreuzigten als des Christus vertieft die Daseins- und Gütergewissheit der davon ergriffenen Menschen zu einer unverwechselbaren Gewissheit über die Bestimmung des Im-Werden-Seins der Welt des Menschen als ganzer und revolutioniert damit auch ihre Gewissheit vom höchsten Gut: Das gegenwärtige Im-Werden-Sein der Welt des Menschen ist in sich selbst die Verwirklichung des weltschaffenden Wirkens ihres Schöpfers, außerhalb dessen überhaupt nichts real ist. Somit ist aber dieses innerhalb Gottes reale Im-Werden-Sein der Welt in sich selbst auch die Realität der Zugewandtheit des Schöpferwillens zu den Menschen, also in sich selbst Ausdruck seines weltschaffenden Willens zur ewigen Gemeinschaft seines geschaffenen Ebenbildes mit ihm in seinem ewigen Leben. In der Natur dieses Zieles liegt es, dass es nur erreicht werden kann, weil das Im-WerdenSein der geschaffenen Welt des Menschen in Gott uranfänglich dazu bestimmt ist, überzugehen in ihr Ganzgewordensein in Gott und weil dieses uranfänglich zum Übergehen ins Ganzgewordensein bestimmte Im-WerdenSein insgesamt die Bildungsgeschichte des geschaffenen Personseins zu derjenigen wahren Selbst-, Welt- und Gottesgewissheit ist, in der es erst fähig ist, die Gemeinschaft, die der Schöpfer schon durch die Schöpfung zu ihm aufgenommen hat, nun auch seinerseits vollkommen zu erwidern. Diese konkrete Selbst-, Welt- und Gottesgewissheit eignet den Menschen nicht von Anfang an. Vielmehr sind sie zunächst dafür anfällig, ihr eigenes geschaffenes Personsein als Gottgleichsein zu erleben unter Überspringung ihrer Gottungleichheit (Röm 1,20f). Somit vollzieht sich die Verwirklichung des Gemeinschaftszieles Gottes durch ihn selbst als das Kontinuum derjenigen Enttäuschungsgeschichte, durch die allem menschlichen Personsein zweierlei zur Gewissheit gebracht wird: a) hinsichtlich des eigenen Seins – dass es sich im Gefühl seines Gottgleichseins in einem radikalen Selbstmissverständnis bewegt, in welchem es daher auch Schuld auf sich geladen hat; zugleich aber b) hinsichtlich des Wirkens Gottes, dass dieser auch angesichts des Sich-selbst-Missverstehens und der Schuld von Menschen seinen Gemeinschaftswillen (Lk 15,11–32) durchhält. b) Die Einheit dieser Doppelgewissheit ist erst durch das vom Schöpfergeist gewirkte Offenbarwerden des Gekreuzigten als des Christus, als der innerweltlichen Manifestation der Majestät des Schöpfers, nämlich seiner Wahrheit (Joh 1,14), innerhalb der Menschheit real geworden. Und geschichtlich wirksam bleibt diese Doppelgewissheit nur vermöge ihres Kommuniziertwerdens in der Christenheit. Erst mit dem durch die Christusoffenbarung bewirkten Eintritt des „Volkes der Christenheit“ in das menschliche Zusammenleben gewinnt die Ordnung des Gemeinwesens als ganze diejenige Bildungskraft, die es allen (Lk 2,10) ermöglicht, zur unüberbietbar konkreten Gewissheit über Ursprung und Ziel ihres Lebens und über ihr höchstes Gut zu
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gelangen: zu der Gewissheit, dass die geschaffene Lebensgegenwart der Menschen schon das Allen-Menschen-Zugewandtsein des weltschaffenden Gemeinschaftswillens des Schöpfers ist und dass diese Lebensgegenwart somit auch schon der reale Beginn ihres ewigen Lebens ist. c) Die österliche Christusoffenbarung eröffnet diese Gewissheit über das Ganze des Weltgeschehens als diese Bildungsgeschichte des Menschseins, damit auch Gewissheit über die unverzichtbare Stellung der Kirche in dieser Geschichte und darin eingeschlossen auch die Gewissheit von der Unverzichtbarkeit der Erfüllung der Aufgaben des ordinierten Amtes in der Kirche und in der Bildungsgeschichte der Menschheit. Die Zuspitzung auf diese Gewissheit über die Unverzichtbarkeit des Dienstes im ordinierten Amt ist die für dessen Spiritualität wesentliche professionsspezifische Zuspitzung gemeinchristlicher Gewissheit. 3.2.2. Somit gehört zur professionsspezifischen Zuspitzung der gemeinchristlichen Gewissheit in der Spiritualität des ordinierten Amtes auch die Gewissheit über den spezifischen Charakter seiner Aufgabe: Diese Aufgabe ist wie das Amt selbst im Ursprung der Glaubensgemeinschaft begründet. Dieser Ursprung ist die österliche Christusoffenbarung: Sie ermöglicht die Erfüllung der am Gründonnerstag gebotenen Mahlfeier und schafft somit die Glaubensgemeinschaft als die Gemeinschaft der Feier und Verkündigung der Christusoffenbarung, durch die dieses Offenbarungsgeschehen selbst gegenwärtig und wirksam werden will. Dadurch ist das ordinierte Amt für den Glauben als wesentliches Element der Ordnung der Gemeinschaft gesetzt: Es ist nämlich a) die Erfüllung des Gründonnerstagsgebotes nur in einer Ordnung möglich, für die wesentlich ist, dass sie regelt, wer im Auftrag und Namen der Gemeinde die Gaben austeilt, also die Position Jesu am Gründonnerstagabend einnimmt. b) Diese Ordnung der Feier hat auch deren Übereinstimmung mit ihrem Ursprung zu sichern. Diese Übereinstimmung ist nicht garantiert. Die Gemeinde hat durch ihre Ordnung dafür zu sorgen, dass in ihr die Aufgabe des Wachens über der Ursprungsgemäßheit der Feier, also die Aufgabe der Episkopé, wahrgenommen wird. An dieser Zumutung einer solchen Ordnung der Christusfeier hat die Reformation festgehalten, dabei aber besonders hervorgehoben, dass der Verkündigungscharakter der Feier vollumfänglich gewahrt bleibt. D. h.: a) Die ordnungsgemäße Berufung zur Leitung des Gottesdienstes beschränkt sich nicht auf die Berufung zur Austeilung der Gaben, sondern schließt wesentlich die Auslegung des in den verba testamenti zusammengefassten Evangeliums ein. Wobei klar ist: Dies in den verba testamenti zusammengefasste Evangelium ist nichts weniger als der Inhalt der aus der Christusoffenbarung stammenden gemeinchristlichen Daseins- und Gütergewissheit des Glaubens in ihrer welt- und heilsgeschichtlichen Weite.
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b) Die Ausübung der Episkopé schließt ein die reflexive Tätigkeit des Wachens darüber, dass die konkrete Ursprungsgemäßheit der Mahlfeier gewahrt bleibt. Das ist nur dann der Fall, wenn die Feier als Verkündigung der Christusoffenbarung auch das inhaltliche Ganze derjenigen jesuanischen Sicht des Weltgeschehens (als sich im allbefassenden schöpferischen Leben Gottes vollziehende Verwirklichung der weltschaffenden Wahrheit und Gnade des dreieinigen Gottes) zu explizitem Ausdruck bringt, deren Wahrheit Jesus durch sein Leben und Sterben bezeugte und deren österliches Evidentgewordensein die gemeinchristliche Gewissheit begründet, die durch die Mahlfeier bekannt und verkündet wird. Zur professionsspezifischen Zuspitzung der gemeinchristlichen Gewissheit gehört also die Gewissheit hinzu, dass es die Aufgabe des ordinierten Amtes ist, darüber zu wachen, dass die Verkündigung der Gemeinschaft – die sich elementar in ihrer Mahlfeier vollzieht – die gemeinchristliche Daseins- und Gütergewissheit unverkürzt in ihrer ganzen universal- und heilsgeschichtlichen Weite umfasst. 3.2.3. Die Erfüllung dieser Aufgabe hat Bedeutung für die Glaubensgemeinschaft und das Gemeinwesen. – Von fundamentaler Bedeutung für die Glaubensgemeinschaft und das Gemeinwesen ist es, dass die Verkündigungstätigkeit der Glaubensgemeinschaft die aus der Christusoffenbarung stammende Daseinsund Gütergewissheit nicht um aktuell unbequeme, schwierige Themen verkürzt wird, sondern diese Gewissheit in der ganzen Weite ihres anthropologischen, kosmologischen und ontotheologischen Gehalts umfasst. Denn nur dann besteht die Möglichkeit, dass die für diesen Gehalt bezeugte Wahrheit sich auch ihren Adressaten unverkürzt vergegenwärtigt und sie zu Teilhabern der konkreten christlichen Daseins- und Gütergewissheit macht, indem sie ihre vorherige Daseins- und Gütergewissheit revolutioniert: Für diese vorchristliche Daseinsgewissheit ist heute weithin typisch, dass sie a) wahre Erkenntnis ausschließlich über das innerweltliche Geschehen anerkennt, also b) nur von einer negativen Gewissheit über das Ursprungsverhältnis beherrscht wird, dass daher c) das höchste Gut des Menschen nur innerhalb der Welt zu finden ist, dass freilich d) dennoch religiöse Bedürfnisse für die (irgendwie genetisch konstituierte) menschliche Psyche wesentlich sind und Pflege verlangen. Demgegenüber wird durch die jesuanische Daseins- und Gütergewissheit die Ungewissheit über Ursprung und Ziel des realen Im-Werden-Seins von Welt und Menschheit durch die Gewissheit über seinen Ursprung und sein Ziel im Welt schaffenden und heilszielstrebig erhaltenden Gemeinschaftswillen des Schöpfers ersetzt. Nur wenn die Verkündigung der Kirche diese Sicht als wahr bezeugt, kann diese Wahrheit auch Besitz von ihren Adressaten ergreifen und damit die
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unfrei machende Fixierung auf die Letztrelevanz und -attraktivität von Innerweltlichem überwinden und sich als befreiende Wahrheit manifestieren, die die „Freiheit eines Christenmenschen“ schafft. Diese Freiheit ist etwas anderes als Emanzipation von der Kirche. Sie ist Freiheit von den Letzgültigkeitsansprüchen des Innerweltlichen und Freiheit zum realistischen Umgang mit dem vergehenden Leben in der vergehenden Welt – eine Freiheit, die in der Kirche entsteht und lebt. Die Bedeutung der Bezeugung der christlichen Daseins- und Gütergewissheit ist jedoch zugleich auch begrenzt: Die unverkürzte Bezeugung der christlichen Daseins- und Gütergewissheit in der Verkündigung macht es nur möglich, dass diese bezeugte Gewissheit die Adressaten des Zeugnisses auch ergreift. Dass dies tatsächlich geschieht, ist der Verkündigungspraxis der Kirche und damit auch der Arbeit im episkopépflichtigen ordinierten Amt aus der Hand genommen. Es geschieht durch die Selbstvergegenwärtigung der bezeugten Wahrheit für die Adressaten ihres Bezeugtwerdens kraft des Geistes eben dieser Wahrheit, wann und wo es Gott gefällt. Auch die Gewissheit über diese Grenze aller kirchlichen Verkündigung, und damit auch der Aufgabe des ordinierten Amtes, ist unverzichtbarer Teil der Spiritualität des Amtes. Ohne diese Gewissheit kann die Erfahrung der Befremdlichkeit der Wahrheit der Sicht Jesu von Welt und Leben als der sich schon in Gott vollziehenden Verwirklichung seines Reiches nicht ausgehalten werden. 3.2.4. Unverzichtbares Element der Spiritualität des ordinierten Amtes ist auch die Gewissheit über die Bedingung für ihre Erfüllung. Seit 1Kor 11,17ff ist klar, dass der direkte Kanon der thematischen Vollständigkeit der christlichen Verkündigung der institutionelle Kanon der Gründonnerstag gebotenen und durch Ostern möglich gewordenen Mahlfeier ist. Für deren durch Ostern ermöglichte Gestalt ist die Besinnung auf den heilsgeschichtlichen Charakter des Christusgeschehens (seinem durch die Schrift bezeugten Bedeutungshorizont, gemäß seinem Bezeugtsein durch die Apostel und daher auch in Erinnerung an das Gesamtgeschick des Christus) wesentlich, eine Besinnung, für die der Kanon der im Eingangsteil des Gottesdienstes zu lesenden Leseschriften grundlegend ist. Dieser Kanon ist eben als Kanon, als Maßstab, nicht nur für seine Entstehungssituation, sondern dauernd und situationsübergreifend zu handhaben. Als Kanon fungiert er nur, indem er in seiner textlichen Unveränderlichkeit in wechselnden geschichtlichen Lagen als Kanon zur Geltung gebracht wird. Das ist nur möglich aufgrund von zwei Einsichten: a) der Einsicht, dass in allen und an allen innergeschichtlichen Lagen diejenigen universalen Bedingungen des Menschseins manifest sind, welche die faktische Einheit der Welt des Menschen und der menschlichen Geschichte begründen; und b) der Einsicht, dass eben diese
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universalen Bedingungen des dauernden Im-Werden-Seins von Welt und Mensch das eine Wirkliche sind, das sowohl vom Zeugnis der Schrift intendiert wird, als auch von dessen Auslegung durch das Lebenszeugnis Jesu, wie schließlich auch in der Ostergewissheit der Christen, die der Grund aller christlichen Verkündigung ist. Möglich ist also die Orientierung an dem fixen Zeichenbestand des Kanons, weil jede geschichtlich gewordene verbleibende Lage denjenigen universalen Bedingungen unterliegt, auf die der Kanon hinweist; und erforderlich ist sie, weil jede dieser geschichtlichen Lagen in der Gefahr steht, dass von den in ihr lebenden Menschen diese universalen Bedingungen verkannt werden. Bedingung für die Erfüllung der Aufgabe des ordinierten Amtes ist also die Fähigkeit der Amtsinhaber, die Einheit von drei verschiedenen, aber zusammenhängenden hermeneutischen Operationen zu vollziehen: a) Unter Beachtung der Differenz zwischen erstens den signa und dicta des Kanons, zweitens ihrer intentio und drittens dem intendierten Realen ist aus den signa des Kanons seine intentio zu erkennen und geleitet von dieser auch die von ihnen intendierte Sache selbst zu sichten. b) Ebenso sind die verschiedenen Gestalten von bildungsgeschichtlich gewachsener Daseins- und Gütergewissheit, die im gegenwärtigen Zusammenleben kommuniziert werden, auf ihren Realitätsbezug hin zu erschließen. c) Dann kann und muss in diese gegenwärtige Gewissheitskommunikation hinein der Gegenstandsbezug des Kanons in einer solchen Gestalt dargestellt werden, dass er seine konkretisierende Wirkung auf die im gegenwärtigen Zusammenleben kommunizierte und es innerlich orientierende Daseins- und Gütergewissheit ausüben kann. Die Spiritualität des ordinierten Amtes schließt die Gewissheit ein, dass diese Fähigkeit zu situationsgerechter Handhabung des Kanons die unverzichtbare Bedingung für die Erfüllung der Aufgabe des episkopépflichtigen Amtes ist. 3.3. Die Spiritualität des ordinierten Amtes als persönlichkeitsspezifische Zuspitzung christlicher Spiritualität. – Die beschriebene professionsspezifische Zuspitzung gemeinchristlicher Daseins- und Gütergewissheit ist nur real in einer jeweils auch persönlichkeitsspezifischen Zuspitzung. Ein wesentlicher Zug der Spiritualität, in der das ordinierte Amt ausgeübt wird, ist die Gewissheit der es innehabenden Person über das reale Verhältnis zwischen den ihr gewissen Aufgaben des ordinierten Amtes und ihrem eigenen individuellen Personsein – seinem individuellen Potenzial (3.3.2.) sowie seinen nicht zu unterdrückenden Neigungen (3.3.1.). 3.3.1. Zu gemeinchristlicher Gewissheit gelangen Menschen mit ganz verschiedenen persönlichen Neigungen. Entsprechend dieser Verschiedenheit erbringen Christen in ganz verschiedenen beruflichen Professionen ihren Beitrag zur bildungskräftigen Ordnung des Gemeinwesens. Die Aufgaben des ordinierten Amtes können nur von Menschen erfüllt werden, deren jeweilige Gewissheit
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über die Aufgaben des ordinierten Amtes und über die Bedingungen für deren Erfüllung nicht in Widerspruch stehen zu ihrer jeweiligen Gewissheit über ihre nicht zu unterdrückenden persönlichen Neigungen. Bestenfalls ist ihnen gewiss, dass die ihnen gewissen Aufgaben des Amtes mit ihren persönlichen Neigungen übereinstimmen. Dieses Verhältnis ist in allen Fällen ein bildungsgeschichtlich gewachsenes und bleibt auch als solches im Fluss. Immer neu wird sich die Vielzahl der Aspekte bemerkbar machen, in denen sich die Aufgabe des ordinierten Amtes jeweils stellt. Die Spiritualität des ordinierten Amtes schließt stets das Gefühl dafür ein, welche Ausprägungen der Amtsaufgabe die persönlichen Neigungen befriedigen und welche weniger. Im Amt verbleiben kann eine Person nur, wenn sich für sie auch das Gefühl (die Gewissheit) einstellt, dass solche Schwankungen ertragen werden können. 3.3.2. Zur persönlichkeitsspezifischen Zuspitzung gemeinchristlicher Gewissheit, die der Ausübung des Amtes zugrunde liegt, gehört aber auch stets ein Gefühl über das Verhältnis, in dem die dem Amtsinhaber jeweils gewissen Aufgaben des Amtes und die Bedingungen ihrer Erfüllung zu dem ihm gewissen Potenzial seiner Person stehen. Auf Dauer kann die Aufgaben des Amtes nur erfüllen, wem gewiss ist, dass die Erfüllung der ihm gewissen Aufgaben des Amtes weder große Teile seines ihm gewissen persönlichen Potenzials brach liegen lässt noch zu unerträglichen Überforderungen führt. Auch das Gefühl für dieses Verhältnis ist bildungsgeschichtlich gewachsen und bleibt also im Fluss. Für Bewegung sorgen v. a. die hochgradig komplexen Bedingungen für die Erfüllung der Aufgaben des Amtes, die Widerstände, die bei seiner Erfüllung auszuhalten sind – insbesondere angesichts der heutigen Dominanz einer der christlichen kontradiktorisch entgegengesetzten Güter-gewissheit und der sich kontinuierlich wiederholenden Zumutung, auf das Erleben des gewünschten Erfolgs der unverkürzten Verkündigung verzichten zu müssen. Zu welchen konkreten Zumutungen die Tätigkeit im Amt führt, ist nie vorhersehbar. Stets kommt es im Verlauf der Amtsführung zu neuen Spannungen zwischen Herausforderungen im Dreieck der hermeneutischen Aufgaben (oben Ziffer 3.2.4.), die zwar aus der Natur der Sache heraus „normal“ sind, aber dennoch nicht routinemäßig bewältigt werden können. Zur Spiritualität des Amtes gehört auch die Gewissheit der Gründe, die das Aushalten dieser Spannung zwischen Zumutung und eigenem Vermögen möglich machen, und das Ertragen des Faktums, dass die Früchte des eigenen Einsatzes weithin verborgen bleiben. Insgesamt zeigt sich somit: Die bildungsgeschichtlich gewachsene Spiritualität des ordinierten Amtes unterliegt als Zuspitzung gemeinchristlicher Daseins- und Gütergewissheit einer bleibenden bildungsgeschichtlichen Dynamik, die die dauernde Pflege dieser Spiritualität dringlich macht.
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Die Pflege der Spiritualität des ordinierten Amtes
Bei der Spiritualität des Amtes handelt es sich um nichts anderes als um die die Inhaber des Amtes innerlich orientierende professions- und persönlichkeitsspezifische Zuspitzung gemeinchristlicher Daseins- und Gütergewissheit. Und als Pflege der Spiritualität des Amtes kommt also nichts anderes in Betracht als die Pflege eben dieser Gewissheit. Nun ist alle praktische Gewissheit passiv konstituiert durch das Sich-selbst-inGemeinschaft-Erleben von Menschen. Kann sie dann in ihrer Pflege ein Gegenstand eigener Aktivität sein? Sie kann es – freilich nur als Gegenstand einer besonderen Art von Eigenaktivität: nämlich der entschlossenen Hinwendung der Aufmerksamkeit auf das, was schon de facto unbezweifelbar gewiss ist und der auf alles eigene „Machen“ verzichtenden Ruhe des betrachtenden Verweilens bei ihm. Praktisch unbezweifelbar gewiss ist jeder Person im Amt, was jedem Menschen praktisch unbezweifelbar gewiss ist: die Prozessualität der Gegenwart des eigenen leibhaften Personlebens in ihrer Zweischichtigkeit, nämlich einerseits als das in dieser Gegenwart des eigenen leibhaften Personlebens reale Kontinuum der eigenen Selbstverwirklichungsaktivität (Schicht A[ktivität]) und zugleich andererseits als das die eigene personale Lebensgegenwart beinhaltende pausenlos dauernde Geschehen des uns Gewährtwerdens dieser unserer Lebensgegenwart, das nicht durch unsere Selbstverwirklichungsaktivität hervorgebracht, sondern uns als deren Möglichkeitsgrund gewährt ist (Schicht G[gewährt worden]). In dem steten Geschehen dieser Schicht gründet die primäre praktische Selbstgewissheit, in deren Horizont auch das Erleben von Eigenaktivität fällt und somit dessen Effekten den Status von sekundären praktischen Gewissheiten verleiht. Jedem Christen, also auch jedem Inhaber des ordinierten Amtes, ist aufgrund der Bildungsgeschichte seines praktischen Gewissseins gewiss geworden, dass die in Jesu Lebenszeugnis und im Gewissheitszeugnis der ersten Christen gegebene Beschreibung der Schicht G als das reale Kommen der Gottesherrschaft, also als die Verwirklichung des die Welt und das Leben seines geschaffenen Ebenbildes schaffenden und heilszielstrebig erhaltenden Gemeinschaftswillens des Schöpfers wahr ist: Das Erhaltenwerden der Gegenwart unseres leibhaften Lebens vollzieht sich als das kontinuierliche Gewährtwerden der Gabe von Gegenwart, die uns nur erreicht als uns schon wieder entzogene, nämlich vergangene, die in der Hand ihres Gebers verbleibt, aus der sie uns kontinuierlich in neuer Gestalt erneut gegeben wird, und zwar als wiederum uns schon entzogene, freilich uns entzogen hin auf ihr weiteres Uns-erneut-Gegebenwerden. Das Uns-Gegebenwerden der Gegenwart unseres innerweltlichen Lebens, ihr Verwirklichtwerden nicht durch uns, sondern an uns und für uns vollzieht sich als ihr und unser Vergehen, das in sich selbst die Verheißung ihres und unseres erneuten Entstehens ist und sich somit manifestiert als unser uns widerfahrendes Bestehen in
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diesem pausenlosen Prozess des Vergehens-auf-Neuentstehen-hin. Das „Schema“ dieser seiner Welt ist dieses Vergehen, das allerdings als „Schema“ dieses Vergehens selbst bestimmt ist zum Übergang in sein unvergängliches Sein hinein (1Kor 15,53–57) und erst damit auch hinein in sein Ganzrealsein. Die Eigenaktivität, die diesem eigenen Wesen der fundamentalen Schicht des dauernden uns Gewährtwerdens von uns entzogener Persongegenwart angemessen ist, ist allein die Selbstpreisgabe an dieses Geschehen, also Selbsthingabe in dem Vertrauen des gerade ihr, der Selbsthingabe, durch die Treue des Schöpfers (1Kor 1,9) verheißenen Selbstempfangs (Mk 8,35par), oder: das „Haben als hätte man nicht“ (1Kor 7,29). Dieses ist in sich selbst keineswegs ein Nichthaben, sondern ein Haben der absolut zuverlässigen Art, nämlich ein Haben-aus-der-Hand-Gottes selbst. Denn: Das praktisch unbezweifelbar zuverlässige, zielstrebige Uns-Gewährtwerden-der-Gegenwart-unserer-Welt-und-unseres-Lebens ist in sich selbst das auf uns gerichtete Wesen, nämlich Wollen und Wirken, des Schöpfers selbst (Mt 5,45). In ihm ist er uns gegenwärtig (EG 165), was freilich seinen Grund darin hat, dass wir in seiner Gegenwart ihm gegenwärtig sind (Apg 17,28b). Dies ist jedem Christen praktisch gewiss. Pflege dieser Gewissheit ist die auf alles eigene Machen verzichtende Zuwendung zu dem unbezweifelbar Gewissen, also die eigene Zuwendung zu dem dauernden Gewährtwerden der Gegenwart unserer Welt und unseres leibhaften Lebens in ihr. Die elementare und umfassende Form dieser Zuwendung ist das Gebet. Für dieses gilt folgendes: 1. Bevor das Gebet den Schöpfer, der dem Beter zugewandt ist, mit Dank und Bitte adressiert, ist es zunächst der Akt, in welchem der Beter selber sich ganz Gott zuwendet, sich derart versammelt vor Gott, um in der Zugewandtheit zu ihm zu verweilen (a). Wobei dies in der Gewissheit geschieht, dass die geschaffene Welt des Menschen und in ihr das Leben des Beters umgriffen ist von Gottes Allgegenwart (b). Nur weil das Gebet zunächst dies ist – sich sammeln vor Gott und sich ihm zuwenden –, kann es dann auch zur Anrede Gottes werden (c). Wie für das Leben jedes Christen gilt dies auch für das Leben der Ordinierten. ad a: Das Versammeln des eigenen Lebens vor Gott hat nicht den Charakter einer Anstrengung. Es drückt nur die Gewissheit aus, dass das eigene Leben de facto eine Ganzheit ist, die als solche immer schon ganz von Gott umgriffen ist. Zur anstrengungslosen Zuwendung dieser gefühlten Lebensganzheit gehört auch die Zuwendung von allem, was jeweils von sich aus die eigene Aufmerksamkeit des Beters auf sich zieht. Das sind auch im Beruf des ordinierten Amtes über Vorgänge des persönlichen Lebens hinaus Vorgänge des beruflichen Lebens. Im Falle einer ordnungsgemäß ins episkopépflichtige Amt berufenen Person versammelt sich dann im Gebet vor Gott das Ganze der ihr gewissen Aufgaben ihres Berufs und ihres ihr gewissen persönlichen Verhältnisses zu diesen ihr gewissen Aufgaben samt allen für dieses Verhältnis wesentlichen Spannungen. Und dies in
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Anstrengungslosigkeit. Diese Anstrengungslosigkeit, mit der der Beter auf implizite Art das Ganze seines beruflichen Lebens vor Gott versammelt, belässt einerseits dem jeweils Aufdringlichen seine faktische Aufdringlichkeit, mindert aber andererseits nicht die Chancen jedes anderen Aspekts und Vorgangs des Berufs, ebenfalls explizit hervorzutreten. ad b: Diese anstrengungslos offene, implizit umfassende Versammlung des Ganzen des eigenen Berufslebens vor Gott verlangt vom Grundgestus des Gebets die entschlossene Zuwendung zum immer schon Gegenwärtigsein dieses Ganzen in Gott. Damit macht das Gebet ernst. Es überlässt sich dem Überschuss dessen, was am Leben des Beters für Gott explizit gegenwärtig ist, gegenüber dem, was dem Beter jeweils selbst von diesem Ganzen explizit gegenwärtig ist. Der Beter verlässt sich auf diesen Überschuss hin. Er erwartet und erhofft, dass ihm der Geist Gottes aus diesem Überschuss heraus eine Erweiterung und Vertiefung der eigenen Gewissheit über seine Berufstätigkeit und in dieser gewährt, etwa: – erweiterte und vertiefte Klarheit über die wesentlichen Momente der aus der Christusoffenbarung stammenden christlichen Daseins- und Gütergewissheit und über ihren sachlichen Zusammenhang, also Klärungen, die der Erfüllung seiner Aufgabe zugutekommen – der Aufgabe, für das unverkürzte Bezeugtwerden dieser Daseins- und Gütergewissheit in der Verkündigung zu sorgen; das schließt in der Regel auch – erweiterte und vertiefte Klarheit über die eigene Bildungsgeschichte ein, also über die Umstände, Wege und Umwege, auf denen sich für die Amtsperson ihre christliche Daseins- und Gütergewissheit herausgebildet hat, eine Klarheit, die die Voraussetzung dafür ist, mit entsprechenden Wegen und Umwegen auch in der Bildungsgeschichte anderer Menschen zu rechnen und sie zu berücksichtigen. Ebenso ist vom anstrengungslos offenen Versammeln der eigenen Amtstätigkeit im Gebet vor Gott und vom Verweilen vor ihm zu erwarten und zu erhoffen – erweiterte und vertiefte Klarheit über die aktuellen, situations- und fallspezifischen Herausforderungen durch die drei stets zugleich zu bearbeitenden hermeneutischen Aufgaben. Also auch – erweiterte und vertiefte Klarheit über den sachlichen Unterschied der christlichen Daseins- und Gütergewissheit gegenüber den verschiedenen in der jeweiligen Umwelt lebendigen, erfolgreich kommunizierten und einflussreichen nichtchristlichen Daseins- und Gütergewissheiten, handle es sich dabei um die einer „wissenschaftlichen Weltanschauung“ oder anderer Religionen. Das betrachtende Verweilen bei diesen Unterschieden lässt dann auch – vertiefte Klarheit darüber erwarten, wie die unüberbietbare Lebensdienlichkeit der christlichen Daseins- und Gütergewissheit zur Geltung gebracht werden kann, die darin besteht, dass sie einerseits die uneingeschränkte Wahrnehmung aller Chancen und Herausforderungen des Lebens in der Welt
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ermöglicht und verlangt, andererseits aber auch vor überanstrengenden Erwartungen und Enttäuschungen dadurch schützt, dass ihr das in Wahrheit ganzerfüllende höchste Gut als ein solches gewiss ist, welches das Ganzgewordensein des eigenen Lebens und der Welt einschließt und erst durch beides hindurch zu erreichen ist. Zu erwarten ist aber auch – Gewissheit darüber, dass und wo die eigene Gewissheit – sei es die gemeinchristliche, sei es auf deren Boden die berufsspezifische – noch von Unklarheiten belastet ist, an deren Beseitigung zu arbeiten ist, und durch Ungewissheit begrenzt, auf deren Überwindung zu hoffen ist. Ferner können – sichtbar werden Grenzen der eigenen professionellen Kompetenz, sowohl solcher, auf deren Überwindung hingearbeitet werden kann, als auch solcher, die definitiv als persönliche Grenzen anzuerkennen sind. Und schließlich kann durch Versammlung der eigenen Berufstätigkeit im Gebet vor Gott und ihre geduldige Betrachtung vor ihm u. U. auch – sichtbar und eingestanden werden gegebenenfalls auch das erfahrene Missverhältnis zwischen der eigenen Kraft und der Schwere der Herausforderungen und Widerstände, denen sich das Leben der Gemeinde als ganzer oder auch die Amtstätigkeit in der Gemeinde ausgesetzt findet. Dem Beter kann gewiss werden, das Amt verlassen zu müssen. ad c: Weil und nachdem die geduldige Kontemplation des vor Gott im Gebet anstrengungslos versammelten Ganzen der eigenen Berufstätigkeit dem Beter solche erweiterte Klarheit verschafft hat, weiß er auch, wofür er zu danken und zu bitten hat. Die Gewissheit, in der das Gebet geschieht, ist die christliche Gewissheit, dass der Schöpfer uns durch die uns unbezweifelbar gewisse Gewährung der Gegenwart unseres leibhaften Lebens in der gemeinsamen Welt selbst zugewandt ist. Indem der Beter sich aufgrund dieser Gewissheit sich selbst diesem ihm Zugewandtsein Gottes zuwendet, vertieft sich für ihn auch die formale und materiale Eigenart dieser Gewissheit – mit praktischen Konsequenzen: 2. Als die formale Eigenart der Gewissheit tritt hervor, dass sie gemeinsame Gewissheit ist. Praktische Konsequenz: Zum Pflegen dieser Gewissheit gehört wesentlich hinzu ihre Kommunikation. Die grundlegende und umfassende Form dieser Kommunikation ist die allgemeine in der Gemeinde. Auf deren Boden ist aber auch die Kommunikation der berufs- und persönlichkeitsspezifischen Zuspitzung der gemeinchristlichen Gewissheit in der Gemeinschaft der Amtsträger erforderlich. Diese besitzt zwei Gestalten, die sich gegenseitig ergänzen. Die eine ist die Kommunikation mit den Professionsgenossen vor Ort in Zusammenkünften in hinreichender Dichte. Die zweite ist die Kommunikation mit denjenigen klassischen Autoren, die in erhellender und orientierungskräftiger Weise das christliche Leben und das es inspirie-
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rende Gewissheitsfundament reflektiert und beschrieben haben, durch Lektüre ihrer Schriften. 3. Materialiter ist die das Gebet ermöglichende gemeinchristliche Gewissheit auch in ihrer professions- und persönlichkeitsspezifischen Zuspitzung die aus der Christusoffenbarung stammende Gewissheit vom Uns-Zugewandtsein des Schöpfers in der zuverlässig-dauernden, heils-zielstrebig begrenzten Gewährung der Gegenwart des Lebens der Menschen als leibhafter Personen in ihrer gemeinsamen Welt. Diese inhaltlich so bestimmte Gewissheit kann also auch nur gepflegt werden, wenn das in ihr unbezweifelbar Gewisse – die Treue des Schöpfers zu allen Geschöpfen und ihr Offenbarsein in Christus für den Glauben – auch als solches gefeiert wird. Die Feier des Ersten geschieht in der Feier des Zyklus der Tageszeiten, in dem sich das Schema dieser Welt, das Vergehen ins Entstehen, darstellt. Das Zweite wird im Kirchenjahr gefeiert, das mit der Feier des Christusgeschehens als Offenbarwerden des Schöpfungssinnes beginnt und mit dem feierlichen Ausblick auf das Erreichtsein des Heilszieles der Schöpfung endet. Diese Feier ist unabdingbar – sowohl für die Pflege der Gewissheit des christlichen Glaubens überhaupt als auch für die Pflege ihrer Zuspitzung in der Spiritualität des ordinierten Amtes.
Literatur Ahme, Michael/Beintker, Michael, Theologische Ausbildung in der EKD (1993–2004), 2005, darin: Grundsätze für die Ausbildung und Fortbildung der Pfarrer und Pfarrerinnen der Gliedkirchen der EKD, Leipzig 2005, 11–68. Fraling, Bernhard u. a., Artt. Spiritualität, in: LThK3, Bd. 9, Freiburg i. Br. 1993 ff, 852–860. Goertz, Harald, Allgemeines Priestertum und ordiniertes Amt bei Luther, Marburg 1997. Grethlein, Christian/Gräb-Schmidt, Elisabeth/Köpf, Ulrich, Artt. Spiritualität, in: RGG4, Bd. 7, Tübingen 2007, 1589–1597. Herms, Eilert, Art. Gewißheit, fundamentaltheologisch, dogmatisch, ethisch, in: RGG4, Bd. 3, 909–914. –, Art. Person, dogmatisch, ethisch, in: RGG4, Bd. 6, 1123–1129. –, Der Mensch – geschaffene, leibhafte, zu versöhnter und vollendeter Gemeinschaft mit ihrem Schöpfer bestimmte Person, in: ders., Zusammenleben im Widerstreit der Weltanschauungen, Tübingen 2007, 25–46. –, Die Frage nach der Güte der Arbeit im Pfarramt, in: ders., Kirche – Geschöpf und Werkzeug des Evangeliums, Tübingen 2010, 230–270. –, Luthers Auslegung des Dritten Artikels, Tübingen 1987. –, Systematische Theologie, 3 Bde., Tübingen 2017 (bes. §§ 3, 4, 10–17). Taylor, Charles, Der Mensch, das sprachbegabte Tier, Berlin 2017.
Holger Eschmann
Evangelische Spiritualität und Heiligung
Die Kombination der Begriffe evangelische Spiritualität1 und Heiligung in der Überschrift verleitet dazu, vor allem an bestimmte Bewegungen und Phänomene in der Geschichte der evangelischen Christenheit zu denken, bei denen der Begriff der Heiligung im geistlichen Leben eine besondere Rolle spielt, wie etwa in den Methodistenkirchen, den Kirchen und Gemeinschaften, die aus der Heiligungsbewegung des 19. Jahrhunderts hervorgingen, oder in der im 20. Jahrhundert entstandenen charismatischen Bewegung. Eine Fokussierung auf bestimmte Bewegungen und Kirchen greift allerdings zu kurz, denn beide Begriffe spielen auf unterschiedliche Weise in allen Ausprägungen evangelischen Christseins eine bedeutsame Rolle. Da Spiritualität und Heiligung in sehr unterschiedlichen Kontexten und Interpretationen begegnen, muss zunächst eine Klärung darüber herbeigeführt werden, was aus einer evangelischen Perspektive darunter zu verstehen ist. Teilweise weichen die Bedeutungen der beiden Begriffe erheblich voneinander ab,2 während sie an anderer Stelle geradezu synonym gebraucht werden können.3 Deshalb wird in einem weiteren Schritt herauszuarbeiten sein, auf welche Weise Spiritualität und Heiligung zusammenhängen, aber auch voneinander zu differenzieren sind. Am Schluss des Beitrags erfolgt ein ökumenischer Zugang zu Spiritualität und Heiligung, mit dessen Hilfe die Überlegungen zusammengefasst werden. 1 Das Adjektiv evangelisch wird im Folgenden klein geschrieben, um eine Fixierung auf eine bestimmte Konfession oder Denomination zu vermeiden. Es hat im Kontext dieses Beitrags immer auch die ursprüngliche reformatorische Bedeutung von dem Evangelium entsprechend, ohne freilich die damaligen antikatholischen Konnotationen zu intendieren, vgl. Jörgensen, Konfessionelle Selbst- und Fremdbezeichnungen, 62–64. 2 Esoterische oder atheistische Spiritualität haben beispielsweise wenig mit dem dogmatischen Begriff der Heiligung zu tun. 3 So z. B. Ruhbach, Spiritualität als vorkonfessionelle Grunddimension christlicher Existenz, 363: „Spiritualität meint die Gewißheit, die immer wieder zur Gestalthaftigkeit und zum Lebensvollzug des Glaubens drängt. Die Heilige Schrift spricht von ‚Heiligung‘, die ebenso gemeindebezogen wie personbezogen verstanden wird“.
Evangelische Spiritualität und Heiligung
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Evangelische Spiritualität
Dass es nicht selbstverständlich ist, den Begriff Spiritualität evangelisch zu verstehen, zeigt bereits das Umfeld, in dem er entstanden ist.4 Lässt sich das Wortfeld um das Adjektiv spiritualis bis zu den paulinischen Briefen zurückverfolgen, begegnet das Nomen spiritualitas, das mit Spiritualität übersetzt werden kann, erstmals im 5. Jahrhundert in einem Brief, der vermutlich im Umfeld des umstrittenen Theologen Pelagius geschrieben wurde – jenem britischen Mönch, der wegen seines Verständnisses von Sünde, Gnade und den christlichen Werken insbesondere auf das Betreiben von Augustinus hin als Häretiker verurteilt und exkommuniziert wurde. Dieser Brief wandte sich an einen neugetauften Christen, der ermahnt wird, „eifrig in der Heiligen Schrift zu lesen und nach ihren Geboten zu leben, um so in der ‚Spiritualität‘ fortzuschreiten“.5 Mit Spiritualität wird in diesem Kontext ein Leben bezeichnet, das sich an der Bibel orientiert, die Lebensvollzüge entsprechend gestaltet und in dem man geistlich wachsen kann. Bereits hier wird eine Akzentverschiebung gegenüber dem neutestamentlichen Ursprung des Wortfelds deutlich. Gebrauchte Paulus das Wort geistlich im Sinne eines geisterfüllten, von Gott geleiteten Lebens,6 wird in dem Brief aus der pelagianischen Schule Spiritualität stärker anthropologisch, in Richtung einer menschlicher Übung und Vervollkommnung verstanden. Nach diesem ersten Beleg lag der Gebrauch des Begriffs Spiritualität einige Zeit im Dunkeln. Ab dem 12. Jahrhundert ist er wieder stärker nachweisbar und wurde in der Scholastik als philosophischer Gegenbegriff zur Dimension des Leiblichen stark auf den Bereich der Innerlichkeit reduziert. Zudem spielte er auch im kirchlichen Rechtswesen bei der Unterscheidung von weltlichen und geistlichen Gütern eine Rolle.7 Da sich der Begriff Spiritualität vor allem im katholischen Kontext ausbildete, fand er bei den Reformatoren kaum Verwendung. Die Sache selbst ist freilich vorhanden. Hier soll exemplarisch auf Martin Luther verwiesen werden, dessen Frömmigkeit ihr theologisches Zentrum in der Rechtfertigungslehre fand. Die berühmte Trias oratio, meditatio und tentatio, Gebet, Meditation und Anfechtung, die Luther in der Vorrede zum ersten Band der Wittenberger Ausgabe seiner deutschen Schriften von 1539 entfaltete, weist auf das Gebet und das Studium der Bibel als vorzügliche Mittel zur Gestaltung des geistlichen Lebens und des theologischen Studiums.8 Gegen die Tendenzen der Verinnerlichung von 4 Zu Geschichte, Begriff und Theologie der christlichen Spiritualität: Barth, Hans-Martin, Spiritualität; Dahlgrün, Christliche Spiritualität; Peng-Keller, Einführung in die Theologie der Spiritualität; Zimmerling, Evangelische Spiritualität. 5 Dahlgrün, Christliche Spiritualität, 116f. 6 Röm 8,9; 1Kor 2,15; Gal 6,1 u. a. 7 Vgl. Peng-Keller, Zur Herkunft des Spiritualitätsbegriffs, 38f. 8 Luther, WA 50, 657–661.
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Spiritualität, wie sie in der Tradition bis zur Reformation zu finden war, zog sich durch Luthers Frömmigkeit eine Tendenz der Weltöffnung, die als „Leidenschaft für das Alltägliche“9 bezeichnet werden kann. Beim neuzeitlichen Verständnis des Begriffs Spiritualität hat man in der Literatur immer wieder zwischen einer romanisch-französischen Traditionslinie und den angelsächsischen Weiterentwicklungen des Spiritualitätsbegriffs unterschieden.10 Während sich die romanische Linie im Horizont der katholischen Mystik im 17. Jahrhundert ausbildete und sich explizit auf das biblisch-christliche Erbe berief, entwickelte sich insbesondere in den USA ein Begriff von Spiritualität in Richtung eines eher unbestimmten und unbestimmbaren, multireligiös geprägten Lebensgefühls heraus, das auf einer unmittelbaren und individuell sehr unterschiedlichen Erfahrung von Transzendenz und Sinnhaftigkeit beruht. Spiritualität kann deshalb in der Neuzeit von diesen beiden Traditionslinien her sehr verschieden bestimmt werden. Der Begriff kann zum einen für eine tief im christlichen Glauben verwurzelte Frömmigkeit stehen, wie sie sich beispielsweise in der französischen Kommunität von Taizé zeigt. Spiritualität wurde andererseits vor allem im angelsächsischen Bereich zu einer Art Sammelbegriff, der – losgelöst von seinen christlichen Wurzeln – als Ausdruck für religiöses Empfinden und existenzielles Bewegtsein verschiedensten Ursprungs stehen kann.11 Diese Anwendungsbreite des Begriffs Spiritualität ist aus evangelischer Sicht nicht zu schnell abzuwerten, drückt sich darin doch das Bedürfnis des Menschen nach Transzendenzerfahrungen und die Abwehr rein materialistischer, nur von Kausalitäten bestimmter und damit auch krankmachender, Lebenskonzepte aus. Angesichts der Verwendungsvielfalt des Ausdrucks muss freilich umso deutlicher versucht werden, ein christliches und auch ein evangelisches Verständnis von Spiritualität herauszuarbeiten, denn es „war, ist und bleibt ein unverzichtbares Lebenszeichen christlicher Spiritualität, die Spiritualitäten zu unterscheiden“.12 Die christlichen Kirchen griffen die zunehmende Popularität des Spiritualitätsbegriffs im 20. Jahrhundert auf. Im Rahmen der ökumenischen Bewegung gaben die Weltmissionskonferenz in Bangkok (1972) und die Fünfte Vollver9 Möller, Das Kloster im Alltag, 73. 10 Als erster Bochinger, New Age und moderne Religion; zur Kritik dieser Zwei-Quellen-Theorie siehe Peng-Keller, Zur Herkunft des Spiritualitätsbegriffs, 36–47. 11 Ruhbach, Geistlich leben, 17: „Heute ist Spiritualität zu einem Containerbegriff mit vielen Sinngebungen geworden. Man spricht z. B. von Biospiritualität und feministischer Spiritualität, von der Spiritualität der Grünen und der Gewerkschaften. Besonders in der esoterischen Szene hat sich dieses Wort durchgesetzt“. 12 Thiede, Alle reden von Spiritualität, 360. Ähnlich auch Barth, H.-M., Einander Priester sein, 58, der gerade das Moment der Unterscheidung als das Proprium evangelischer Spiritualität ansieht und Dahlgrün, Christliche Spiritualität, 384–390, die Kriterien einer solchen Unterscheidung benennt.
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sammlung des Ökumenischen Rats der Kirchen in Nairobi (1975) den „entscheidenden Anstoß zu einer intensiveren Beschäftigung mit Fragen der Spiritualität“.13 Das Wort Spiritualität wurde dabei zu einer Art Hoffnungsträger, da es wegen seiner Bedeutungsvielfalt „Glauben, Frömmigkeitsübungen und Lebensstil“ auf eine ganzheitliche Weise zusammenzubinden und „Mystisches und Emanzipatorisches“, also kontemplative und aktive Elemente aufzunehmen vermochte.14 Ganz im Sinne Jesu, der sich sowohl zum Gebet in die Einsamkeit zurückzog (Mk 1,35 par) als auch in beispielhafter Weise „der Mensch für andere“ war (Dietrich Bonhoeffer), brachte die Communauté von Taizé dies auf die griffige Formel „Kampf und Kontemplation“, die in ökumenischen Kreisen eine breite Aufnahme gefunden hat.15 Angesichts dieser Entwicklungen hat sich ein evangelisches Verständnis von Spiritualität im Rückgriff auf das biblische und reformatorische Gedankengut inhaltlich stärker an der spezifisch christlich-theologisch bestimmten Traditionslinie in der Neuzeit zu orientieren, ohne die Weiterentwicklungen des allgemein gebrauchten Spiritualitätsbegriffs in Richtung einer größeren inhaltlichen Unbestimmtheit im englischsprachigen Raum abwerten zu müssen. Der inhaltsoffenere Gebrauch von Spiritualität spielt heute zum Beispiel im Umfeld von Spiritual Care, also bei der Beschäftigung mit Spiritualität im (palliativ-)medizinischen Kontext, eine bedeutsame und produktive Rolle.16 Zum Abschluss der kleinen Begriffsgeschichte der Spiritualität soll in aller Kürze das Verständnis einer evangelischen Spiritualität skizziert werden: a) Evangelische Spiritualität ist an das Wirken des Heiligen Geistes gebunden (Röm 8,9: „Ihr aber seid nicht fleischlich, sondern geistlich, wenn denn Gottes Geist in euch wohnt“). b) Ihre inhaltliche Füllung erfährt sie durch die Offenbarung der guten Geschichte Gottes mit seiner Welt in Jesus Christus. Sie sieht den Menschen eingebunden in die Heilsgeschichte des dreieinigen Gottes in Schöpfung, Versöhnung und Vollendung. c) Da sich Gott nach reformatorischem Verständnis (vor allem) im biblischen Zeugnis offenbart, lebt evangelische Spiritualität aus dem Studium der Heiligen Schrift und aus dem Gebet um das rechte Verstehen derselben.
13 14 15 16
Barth, H.-M., Spiritualität, 98. Seitz, Spiritualität im Theologiestudium, 269. Vgl. Krüger/Müller-Römheld, Bericht aus Nairobi 1975, 250; Stökl, Taizé, 232f. So wurde beispielsweise der Begriff Spiritualität in diesem inhaltsoffenen Sinne von der Weltgesundheitsorganisation (WHO) in die Beschreibung der Palliativmedizin aufgenommen, die neben der Behandlung von Schmerzen, psychischen und sozialen Problemen auch die spirituellen Nöte des Menschen einzubeziehen hat. Vgl. dazu Borasio, Über das Sterben, 56; Roser, Spiritual Care.
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d) Evangelische Spiritualität ist einerseits geschenkte Erfahrung der Gottesbegegnung. Sie ist nicht machbar oder verfügbar, worauf besonders der Protestantismus immer wieder hingewiesen hat. Auf der anderen Seite bedarf Spiritualität aber auch der Übung und der Beständigkeit. Ihre Gesetzmäßigkeiten können erlernt und wollen kontinuierlich gepflegt werden.17 e) Evangelische Spiritualität verwirklicht sich sowohl auf individuelle Weise in der Beziehung der einzelnen Person zu Gott als auch in der christlichen Gemeinschaft und im Verhältnis der Christinnen und Christen zur Welt. Und sie geschieht lebenslang. Diese verschiedenen Dimensionen dürfen nicht gegeneinander ausgespielt werden.18 f) Spiritualität ergreift den Menschen in seiner ganzen Existenz, „mit Herzen, Mund und Händen“, sonntags wie alltags, in seinen persönlichen und sozialen Bezügen. Dadurch wird Spiritualität neben den christlichen (Glaubens-)Inhalten und den verschiedenen Frömmigkeitsübungen zu einer Lebenshaltung, die vom Doppelgebot der Liebe geprägt ist (Mt 22,37–40). g) Evangelische Spiritualität weiß um das neutestamentliche Schon-jetzt des Anbruchs des Gottesreiches, aber auch um das Noch-nicht seiner Vollendung hier auf Erden. Das trägt zu ihrem realistisch-nüchternen Grundzug bei, der die Erfahrung der Anfechtung beziehungsweise das Leiden an der Verborgenheit Gottes in die Spiritualität zu integrieren vermag.19
2.
Heiligung
„Wo das Wort der Wahrheit gehört und geglaubt wird, geschieht Heiligung (Joh 17,17ff)“.20 Mit Heiligung wird in der christlichen Theologie das Wirken Gottes des Heiligen Geistes bezeichnet, durch das er Menschen in die Gemeinschaft mit sich und untereinander ruft und sie nach dem Bilde Jesu Christi erneuert. Trotz der Bedeutungsschwere des Begriffs ist er in der evangelischen Theologie erstaunlich wenig präsent: „Es gehört zu den charakteristischen Merkwürdigkeiten der protestantischen Theologie in der Gegenwart, dass das Stichwort ‚Heiligung‘ allenfalls ein Schattendasein führt. Von 17 Dies ist ein Moment, auf das der Praktische Theologe Manfred Josuttis in seinen neueren Veröffentlichungen besonders hinweist; vgl. aber auch schon Ruhbach, Spiritualität als vorkonfessionelle Grunddimension christlicher Existenz, 363f: „[D]em Moment der Übung kommt in jeder Spiritualität fundamentale Bedeutung zu“. 18 Zum Verhältnis von persönlicher und gemeinschaftlicher Spiritualität siehe Bonhoeffer, Gemeinsames Leben, bes. 31–76. 19 Vgl. Krech, Bericht über die Klausurtagung der Bischofskonferenz zum Thema „Lutherische Spiritualität“, 108f. 20 Marquardt, Art. Heiligung, 1574.
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Rechtfertigung ist allenthalben die Rede. Auf die Rechtfertigungslehre beruft man sich akademischerseits, um interkonfessionelle Annäherungen, vor allem im Gespräch mit dem römischen Katholizismus, zu kritisieren. Relikte der Rechtfertigungslehre tauchen in den Predigten auf, wo einem immer wieder versichert wird, dass Menschen Gott gegenüber nichts tun können und auch nichts tun müssen. Aber dass man bei den Reformatoren unter Ketzereiverdacht geraten wäre, wenn man im Zusammenhang des Rechtfertigungsgeschehens nicht auch von Heiligung geredet hätte, ist im volkskirchlichen Protestantismus weitgehend vergessen“.21
Im Folgenden soll gezeigt werden, wie es zu dieser Entwicklung kam und wie der Begriff Heiligung evangelisch gefüllt werden kann. Dazu ist zunächst der biblische Befund zu erheben. Im Rahmen dieses Artikels kann dies nur holzschnittartig und verallgemeinernd erfolgen. Im Alten Testament ist Heiligung eng an die Nähe der Heiligkeit Gottes gebunden. Sie ist die „Aussonderung (vgl. lat. sacer) von Raum, Zeit, Sachen und Personen im Sinne einer Sakralisierung […] und die Überführung der genannten Objekte in die unmittelbare Sphäre Gottes“.22 Es ist Gott, der heiligt (Lev 20,8 u. a.), und um die Begegnung mit dem Heiligen zu ermöglichen, bedarf es der Präparation und Reinigung.23 Diese beziehen sich – wie das Heiligkeitsgesetz (Lev 17–26) und die prophetische Tradition zeigen – nicht nur auf den kultischen Bereich, sondern auch auf die Ethik. „Gottes Heiligkeit erfordert seitens seines Volkes ein heiliges Leben in dem durch seine Gebote definierten Schalom-Zustand. […] Im Begriff der ‚Heiligung‘ verbinden sich also die Zugehörigkeit zu Gott und die Entsprechung zu seinem Willen“.24
Gottes Bundestreue zu Israel wird als Ausdruck von Gottes Heiligkeit verstanden (Ps 99 u. a.). Sie fordert ein Handeln aufseiten des Menschen heraus, das durch das zentrale Gebot des Heiligkeitsgesetzes, nämlich die Forderung der Feindesund Nächstenliebe (Lev 19,18), näher bestimmt ist. In dieser Wechselbeziehung zwischen Gottes Heiligkeit und des Menschen Heiligung ist es wesentlich, dass das menschliche Handeln im Vollzug der Heiligung „mit dem Hinweis auf Gottes rettendes und befreiendes Handeln begründet [wird], durch das er sein Volk in seine Gemeinschaft aufgenommen hat, bevor es selbst irgendetwas dazutun konnte. ‚Ich bin der Herr, der euch heiligt, der euch aus Ägyptenland geführt hat, um euer Gott zu sein‘ (Lev 22,32f)“.25
21 Josuttis, Heiligung des Lebens, 13. 22 Podella, Art. Heiligung, 1571. 23 Vgl. Stettler, Heiligung bei Paulus, 57: „Das ontologische Moment der Reinheit und das relationale Moment der Absonderung für und Zugehörigkeit zu Gott sind also offensichtlich zwei Aspekte, die im alttestamentlichen Heiligkeitsbegriff enthalten sind“. 24 Stettler, ebd. 25 Klaiber/Marquardt, Gelebte Gnade, 327.
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Diese alttestamentlichen Linien des Verständnisses der Heiligung werden im Neuen Testament weitergeführt. Auch hier ist die Heiligung des Menschen eng und unauflöslich an die Heiligkeit Gottes gebunden. An dieser Heiligkeit bekommt der glaubende Mensch Anteil durch die Sendung Jesu Christi, der als der Heilige Gottes bezeichnet wird (Joh 6,69; Joh 17,19 u. a.). Sein Leben und Sterben, seine Heilungen und Mahlgemeinschaften eröffnen den Zugang zur Gemeinschaft mit Gott.26 Die praktisch-ethische Dimension der Heiligung, also das neue Leben, das aus der Gottesgemeinschaft erwächst, wird wie im Alten Testament durch die Liebe bestimmt (Mk 12,28–31par). In der paulinischen Theologie werden die Glaubenden durch die Taufe und die Gabe des Heiligen Geistes geheiligt (1Kor 6,11). Die Bedeutung der Taufe wird dabei von dem Tod und der Auferstehung Jesu Christi in der Weise bestimmt, dass die Getauften unauflöslich mit dem Schicksal des Gekreuzigten und Auferstandenen verbunden werden (Röm 6,3–5). Der Heilige Geist erneuert den Menschen. Er stellt ihn in die Nachfolge Jesu Christi und in die als endzeitliches Gottesvolk verstandene Gemeinschaft der Heiligen27 und befähigt und ermutigt ihn zu einem Handeln, das der Heiligung entspricht. Indikativ und Imperativ lassen sich bei dem Geschehen der Heiligung nach Paulus nicht auseinanderreißen: „Bei Paulus verhalten sich Werk Gottes und Werk des Menschen in der Heiligung nicht so zueinander, dass sie in Konkurrenz treten könnten. Vielmehr empfängt der an das Evangelium Glaubende mit der Vergebung die Erneuerung durch den Geist, der zum Gehorsam befähigt und treibt. Es ist also Gottes Werk, dass er durch den Heiligen Geist den Menschen zum Werk ermächtigt“.28
In der Alten Kirche und im Mittelalter lässt sich die in den biblischen Zeugnissen nachweisbare Doppelbedeutung von Heiligung als Teilhabe an Gottes Heiligkeit und als praktisch-ethische Dimension im Leben des Menschen wiedererkennen, wird aber in den unterschiedlichen Lehrtraditionen einseitig weiterentwickelt. Für die erste Auffassung stehen vor allem ostkirchliche Theologen wie die drei 26 Jesu „Leben und Wirken sowie sein Tod heiligen die Seinen vollständig. Durch ihn ist die Heiligkeit Gottes in die Welt gekommen; die Seinen sind dadurch in die Sphäre der Heiligkeit Gottes hineingenommen. […] Indem Jesus die heilt, welche durch Krankheit vom Kult ausgeschlossen sind, und Mahlgemeinschaft auch mit denen pflegt, bei denen solche Reinheit nicht zu erwarten ist, eröffnet er ihnen einen Weg in die Gemeinschaft der Heiligen“ (Stettler, Heiligung bei Paulus, 190). 27 Vgl. Klaiber/Marquardt, Gelebte Gnade, 329. 28 Stettler, Heiligung bei Paulus, 628f. Ähnlich auch Schnelle, Art. Heiligung, 1573: „Der empfangenen H[eiligung] in der Taufe entspricht die H[eiligung] des Lebens durch die Kraft des Hl. Geistes. Die Heiligkeit Gottes ermöglicht und fordert die H[eiligung] des Lebens der Getauften (1Thess 4,3), die zur H[eiligung] berufen sind (1Thess 4,7). […] Die Glaubenden und Getauften sind in das vom Hl. Geist bestimmte und auf H[eiligung] zielende neue Sein eingegangen, um es im Alltag der Welt zu leben“.
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Kappadokier und die alexandrinische Tradition mit ihrer Lehre von Theosis und Gottesschau. Die stärker auf das Handeln des Menschen bezogene Bedeutungslinie wird von westlichen Theologen wie Augustinus, Thomas von Aquin und anderen vertreten.29 Zunehmend gewinnen dabei im Mittelalter die Sakramente der Taufe und Eucharistie Bedeutung für die Heiligung. Die reformatorische Theologie, insbesondere in ihrer lutherischen Ausprägung, stand durch die Betonung des Rechtfertigungsgeschehens immer wieder in der Gefahr, den Begriff der Heiligung zu vernachlässigen beziehungsweise dem der Rechtfertigung unterzuordnen. Dies mag vor allem daran gelegen haben, dass bei dem Begriff der Heiligung von der westkirchlichen Tradition her kein einheitlicher, dogmatisch vorgeformter Sprachgebrauch vorlag und dass die Dimension der Heiligung „von der Reformation in erster Linie unter dem Gesichtspunkt der ‚guten Werke‘ gesichtet worden ist“.30 Heiligung wurde und wird dann meist verstanden als eine Folge der Rechtfertigung, wobei ein deutlicher Akzent auf dem Handeln des Menschen gelegt wird.31 Welche Folgen sich aus einer einseitigen Zuordnung von Rechtfertigung und Heiligung ergeben können, hat Karl Barth in trefflicher Weise auf den Punkt gebracht: „Hier aber wäre zu sagen, daß das Außerachtlassen der gegenseitigen Bezogenheit der beiden Begriffe [sc. Rechtfertigung und Heiligung, HE] sofort zu von Grund aus falschen Sätzen über beide und zu den entsprechenden praktischen Verirrungen führen muß: zur Vorstellung von einem einsam handelnden Gott und seiner ,billigen Gnade‘ (D. Bonhoeffer) und also zu einem faulen Quietismus, wo die Beziehung der Rechtfertigung auf die Heiligung vernachlässigt wird – oder zur Vorstellung von einem in sich begnadigten, seinerseits einsam handelnden Menschen und also zu einem illusionistischen Aktivismus, wo die Beziehung der Heiligung auf die Rechtfertigung vergessen wird“.32
Die Überbetonung des einen Begriffs gegenüber dem anderen oder gar das Ausspielen der Begriffe gegeneinander haben in der Geschichte der Kirche zu 29 Vgl. Riches, Art. Heiligung, 731. 30 Weber, Grundlagen der Dogmatik, 356.361. 31 So formuliert zum Beispiel Corinna Dahlgrün – die sich für den Begriff der Heiligung starkmacht – in ihrem Buch zur Spiritualität etwas missverständlich: „Heiligung ist damit die sachgemäße und notwendige Fortsetzung der Rechtfertigung auf Seiten des Menschen“ (Dahlgrün, Christliche Spiritualität, 400). Allerdings hält sie später fest: „Heiligung ist Geschenk. Und nur eine Heiligung, die auf Sicherheit verzichtet, auf den Versuch, durch das eigene Tun den Boden unter den Füßen fester zu machen, eine Heiligung, die zugleich Übung ist, jeden Tag neu in der Haltung der Lilien auf dem Feld zu leben und von Gott alles zu erwarten (Mt 6,25–34), steht nicht in der Gefahr, ‚Werkerei‘ zu sein“ (407). 32 Karl Barth, KD IV/2, 571. Allerdings hat Barth mit seiner berühmt gewordenen Formulierung „‚Ich will euer Gott sein‘: das ist des Menschen Rechtfertigung. ‚Ihr sollt mein Volk sein‘: das ist seine Heiligung“ selbst zu dem von ihm benannten „Verwirrungen“ beigetragen (585).
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manchem fruchtlosen Streit geführt, so verständlich die Auseinandersetzungen aus einer zeitgeschichtlichen Perspektive auch gewesen sein mögen. Demgegenüber legt es sich aus biblischer Perspektive nahe, Rechtfertigung und Heiligung als zwei unterschiedliche Aspekte des göttlichen Handelns am Menschen und im Menschen zu verstehen: „Heiligung ist also nicht erst Konsequenz oder Folge der Rechtfertigung. Rechtfertigung und Heiligung beschreiben beide das grundlegende erlösende Werk Gottes an den Menschen, durch das er die Sünder um Christi willen in seine Gemeinschaft aufnimmt. Was die Rechtfertigungsterminologie in der Sprache des Rechts und der sozialen Beziehung ausdrückt, sagt der Begriff der Heiligung in der Sprache des Kultes. Auf beiden Ebenen aber wird den Menschen die Annahme durch Gott und die Aufnahme in seine Gemeinschaft zugesprochen. […] Heiligung ist ‚gelebte Rechtfertigung‘, ist ‚Erweis der Wirklichkeit der Rechtfertigung‘ (Ernst Käsemann)“.33
Inhaltlich ist der Begriff der Heiligung, wie beim biblischen Befund zu sehen war, durch die göttliche Liebe bestimmt.34 Sie durchdringt die Glaubenden und schenkt ihnen eine neue Beziehung zu Gott, zu sich selbst und zu ihrer Mitwelt. Sie führt in Verantwortung und schenkt Freude am Tun des Guten. Dadurch hat Heiligung immer auch eine soziale Dimension. Aus dem Wesen des dreieinigen Gottes als Liebe ergibt sich, dass der Heilige Geist „Menschen, indem er sie mit Gott verbindet, zugleich untereinander verbindet“.35 In diesem Sinne, also gegen ein Christsein gewendet, das ohne Gemeinschaft auszukommen meint, ist auch das häufig verwendete Zitat von John Wesley zu verstehen: „The gospel of Christ knows no religion, but social; no holiness but social holiness“.36 In einer solchen Gemeinschaft der Heiligen verwirklicht sich Heiligung, indem die „Glaubenden […] aneinander und an den Nichtglaubenden das Amt Christi [übernehmen]. Was in Christus ein für allemal geschehen ist, kommt als gegenseitiges Geben und Nehmen innerhalb der Gemeinde und als Angebot und Anspruch an Menschen außerhalb der Gemeinde zum Zuge: nämlich Versöhnung, Entlastung und Befähigung zu einem förderlichen Handeln aneinander“.37
In der Perspektive von Liebe und Gemeinschaft wird das den Begriff der Heiligung häufig belastende Gegeneinander von Gottes Wirken und menschlichem 33 Klaiber/Marquardt, Gelebte Gnade, 329f. 34 Die Liebe „entspricht der vom Pneuma bestimmten Daseinsverfassung des Menschen. Sie ist dementsprechend die Gestalt, in der das gute Gebot Gottes bei uns zu seinem Recht gelangt“, Weber, Grundlagen der Dogmatik, 367. 35 Härle, Dogmatik, 375. 36 Wesley, Preface to Hymns and Sacred Poems, 321. Das Zitat betont die Gemeinschaftsdimension des christlichen Glaubens, sollte allerdings nicht dazu verwendet werden, das Bewährungsfeld der Heiligung ausschließlich auf die christliche Gemeinschaft begrenzt zu verstehen. 37 Barth, H.-M., Einander Priester sein, 194.
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Handeln, von quietistischer Innerlichkeit und äußerlicher Werkerei überwunden: „Das Neue Testament spricht von der Heiligung konkret. Sie ist Gottes Werk am Menschen; aber sie ist damit ipso facto des befreiten Menschen eigenes Widerfahrnis und Tun. Das spricht sich am deutlichsten darin aus, daß Jesus den Menschen in seine Nachfolge ruft. Die Nachfolge kann unmöglich in die Innerlichkeit verlegt werden“.38
Ein Auseinanderfallen der Heiligung in Gottesschau auf der einen Seite und praktisch-ethisches Verhalten auf der anderen ist keine biblische oder christliche Alternative. Denn wenn das christlich bestimmte Sein des Menschen „wesentlich ein In-Gemeinschaft-Sein mit Gott“ ist, dann ist auch wahr, dass es „in einem Gemeinschaftsverhältnis notwendigerweise Wachstum und Veränderung [gibt], vom Menschen als Geschichte erfahren, in der sich die Wirklichkeit des Verhältnisses bezeugt“.39
3.
Zur Verhältnisbestimmung von evangelischer Spiritualität und Heiligung
Wie bei den Begriffsbestimmungen ausreichend deutlich geworden sein dürfte, haben evangelische Spiritualität und Heiligung eine große gemeinsame Schnittmenge. Beide werden für gewöhnlich schwerpunktmäßig im Bereich des dritten Glaubensartikels, also bei der Lehre vom Heiligen Geist, verortet. Beiden eignet ein Moment des Ganzheitlichen, insofern sie auf den ganzen Menschen in all seinen Bezügen – zu Gott, zu sich selbst und zur Mitwelt – zielen. Beide sind durch die Polarität von passivem Empfangen und aktivem Gestalten gekennzeichnet. Und bei beiden ist die göttliche Liebe sowohl Urheberin und Triebfeder als auch Ziel aller Ausgestaltung. Evangelische Spiritualität und Heiligung gehören also inhaltlich eng zusammen – aber wie lässt sich ihr Verhältnis zueinander genauer bestimmen? In der deutschsprachigen Literatur lässt sich verhältnismäßig viel finden zum Verhältnis von Rechtfertigung und Heiligung, aber wenig zur Verhältnisbestimmung von Spiritualität und Heiligung. Häufig wird Spiritualität als der umfassende, übergeordnete Begriff verstanden, und der Begriff Heiligung wird auf besondere Ausprägungen der Frömmigkeit in der Geschichte des evangelischen Christentums eingegrenzt (s. o.). Eine Ausnahme bildet an dieser Stelle – neben Stimmen aus der Tradition des Methodismus und der Heiligungsbewegungen – der Praktische Theologe Manfred Josuttis, der seit
38 Weber, Grundlagen der Dogmatik, 384. 39 Riches, Art. Heiligung, 733.
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den 1990er Jahren Heiligung als ein umfassendes göttliches Geschehen definiert und Spiritualität aus dieser Perspektive heraus darstellt: „Heiligung geschieht unter Einfluss. […] Durch den Einfluss göttlicher Lebenskraft werden Menschen ergriffen, verändert und zur Lebensgestaltung befähigt. Ein ‚Emergenzgeschehen‘ setzt ein, ‚das in einer nicht vorgesehenen Weise einen neuen Anfang, neue Verhältnisse, eine neue Wirklichkeit konstituiert‘. In der Heiligung wirkt die Wirklichkeit des Heiligen“.40
Im Raum dieser neuen Wirklichkeit werden dann von Josuttis verschiedene spirituelle Handlungsformen wie Fasten, Beten, Segnen, Heilen aus einer religionsphänomenologischen Perspektive beschrieben.41 Sind beide Blickrichtungen möglich? Wenn evangelische Spiritualität und Heiligung in dem oben beschriebenen Sinne verstanden werden, muss man diese Frage bejahen. Von daher lässt sich das Verhältnis zwischen evangelisch verstandener Spiritualität und Heiligung folgendermaßen ineinander verschränkt beschreiben: Die Heiligung des Menschen durch Gott verlangt im Leben der Christinnen und Christen nach spirituellen Ausdrucksformen und bringt sie auch hervor. Und evangelische Spiritualität bietet Räume für die konkrete, auch methodisch einübbare Ausgestaltung der Heiligung.42 Dass beide Begriffe nicht deckungsgleich sind, lässt sich daran erkennen, dass bei der Heiligung stärker die göttliche Dimension und bei der Spiritualität stärker die anthropologische Dimension in den Vordergrund rückt. Dadurch können sie sich gegenseitig ergänzen und korrigieren. Die Lehre von der Heiligung kann die Spiritualität daran erinnern, dass sie auch in (post-)modernen Zeiten bei aller berechtigten Rede von der individuell gestalteten „Komponenten-Religiosität“43 von ihrem Wesen und Grund her nichts menschlich Selbstkonstruiertes ist, sondern auf das Wirken des Heiligen Geistes am Menschen und im Menschen angewiesen bleibt. Und Spiritualität erinnert im Gegenzug die Heiligung daran, dass sie nicht nur etwas Zufälliges und Unberechenbares ist, das den Menschen senkrecht von oben überfällt und ihn zu einem nur passiv Wartenden auf das sich je und je ereignende Wunder der Gotteserfahrung macht, sondern dass die Heiligung sehr wohl der menschlichen Gestaltung und einer Regelmäßigkeit der Einübung bedarf. Ist im Blick auf eine evangelische Spiritualität angesichts von menschlichen Machbarkeitsfantasien die theologische Reflexion und die heilsame Unterscheidung der Geister gefragt, kann die Heiligung von Einsichten der Neurobiologie und 40 Josuttis, Heiligung des Lebens, 13; das Zitat im Zitat stammt aus Welker, Gottes Geist,70. 41 Ausführlich bei Josuttis, Religion als Handwerk. 42 Ähnlich Dahlgrün, Christliche Spiritualität, 398f: Heiligung ist „ein im rechten Geist vollzogenes methodisches Gestalten von Spiritualität im eigenen Leben zur Prägung dieses Lebens, als eine tägliche Rechenschaft vor und Heimkehr zu Gott“. 43 Dubach/Fuchs, Ein neues Modell von Religion, 49–58.
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Verhaltenstherapie lernen, dass Veränderungsprozesse Zeit und regelmäßiger Übung bedürfen. Um in dieser Verschränkung der Begriffe gesetzlichen Missverständnissen und falschen Alternativen zu wehren, müssen evangelische Spiritualität und Heiligung an das Wirken des Heiligen Geistes gebunden bleiben.44 Darauf hat der Praktische Theologe Rudolf Bohren in der Diskussion um den Zusammenhang von göttlichem Wirken und menschlichem Tun hingewiesen, indem er an den von dem reformierten Theologen Arnold van Ruler geprägten Begriff der theonomen Reziprozität erinnert.45 Was Bohren für die Predigtlehre formuliert, kann auch auf das Verhältnis von Spiritualität und Heiligung übertragen werden: „Unter dem Gesichtspunkt der Pneumatologie ist alles Machbare auch wunderbar. Wunder und Technik sind − pneumatologisch gesprochen − keine Gegensätze, sie signalisieren lediglich verschiedene Aspekte der theonomen Reziprozität. Beim Werk des Geistes in uns, mit uns, durch uns spreche ich vom Wunder. Wo wir aber vom Geist ans Werk gesetzt werden und uns also selbst ans Werk setzen, kommen Methoden ins Spiel, wird Technik angewandt, Kunst geübt, Wissenschaft gebraucht. In der Partnerschaft des Geistes werden Methode, Kunst, Technik, Wissenschaft nicht ausgeschlossen, auch wenn sie in die Krisis des Geistes hineingeraten“.46
4.
Ökumenische Perspektiven und Ausblick
Der lutherische Kirchenhistoriker und Spiritualitätsforscher Gerhard Ruhbach hat Spiritualität als eine „vorkonfessionelle Grunddimension christlicher Existenz“47 beschrieben. Christliche Spiritualität verbindet Christinnen und Christen über die Konfessionsgrenzen hinweg. Praktische Beispiele dafür sind der Weltgebetstag als weltweite Basisbewegung christlicher Frauen, ökumenische Frie44 In diesem Sinne formuliert Christoph Klaiber im Blick auf die Frage nach den guten Werken in der Theologie John Wesleys: „Wenn der Heilige Geist tatsächlich im Innersten des Menschen wirkt, dem Menschen näher kommt als er sich selbst, dann ist es weder möglich noch nötig zu unterscheiden, ob eine Gewissensregung, ein Glaubensbekenntnis, eine Tat der Nächstenliebe nun durch Gottes Geist oder durch den Willen des Menschen hervorgebracht wurden“ (Von Gottes Geist verändert, 92). Zu einer zeitgenössischen Sicht von Spiritualität und Heiligung in evangelisch-methodistischer Tradition vgl. neben Klaiber auch Eschmann, Weite und Verbindlichkeit; Runyon, Die neue Schöpfung; Schuler, Heiligung als fortwährender Gestaltungsprozess. Das Wesley House in Cambridge/England gibt seit 2015 eine Zeitschrift mit dem Titel Holiness als open access online journal heraus, das sich gezielt Fragen der christlichen Lebensführung in zeitgenössischer Perspektive widmet. 45 „Die ‚theonome Reziprozität‘ meint als gottgesetzte Wechselseitigkeit und Gegenseitigkeit eine Art Austausch, eine eigentümliche Partnerschaft“ zwischen Gott und Mensch (Bohren, Predigtlehre, 76). 46 Bohren, Predigtlehre, 77. 47 Ruhbach, Spiritualität als vorkonfessionelle Grunddimension christlicher Existenz, 363.
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densgebete und Bibelabende, gemeinsame Bibellesehilfen und Liederbücher.48 Reflektierte und gefeierte Spiritualität war und ist eine wichtige verbindende Dimension in der ökumenischen Bewegung des 20. und 21. Jahrhunderts. Und es scheint nicht zufällig zu sein, dass das Gebet Jesu in Johannes 17, also ein prominenter Text neutestamentlicher Spiritualität, sowohl die Einheit der Nachfolger und Nachfolgerinnen Jesu mit Gott und untereinander zum Inhalt hat als auch deren Heiligung (Joh 17,17.21).49 Daher tut man gut daran, gerade bei unserem Thema, das lange Zeit durch konfessionelle Kontroversen bestimmt war, die ökumenische Weite immer mit zu bedenken.50 Konkret heißt das, dass konfessionelle Ausprägungen von gelebter Spiritualität nicht gegen andere Frömmigkeitstraditionen und Glaubensstile auszuspielen sind. Vielmehr ist in einen wechselseitigen Lernprozess einzutreten, in dem die Vielfalt der unterschiedlichen konfessionellen Impulse zur Bereicherung des eigenen Weges mit Gott dient. Das bedeutet nicht, alles unbesehen zu übernehmen, was an spirituellen Traditionen zu finden ist. Auch hier gilt die paulinische Weisung: Prüfet alles und das Gute behaltet (1Thess 5,21) – allerdings immer wieder gerade auch gegenüber der eigenen Tradition. Am Schluss des Beitrags soll deshalb eine ökumenische Beschreibung von Spiritualität stehen, die exemplarisch zeigt, wie Spiritualität und Heiligung im oben beschriebenen Sinne verbunden werden können. Im Jahr 1991 fand die Siebente Vollversammlung des Ökumenischen Rates der Kirchen in Canberra/Australien statt. Über der Versammlung stand als Thema die Bitte „Komm, Heiliger Geist – erneuere die ganze Schöpfung!“ In der Sektion IV der Vollversammlung wurden unter dem Vorsitz des methodistischen Theologen Kwesi Dickson (Ghana) die Themen Spiritualität und Heiligung behandelt. Der Sektionsbericht, der in die Vollversammlung eingebracht wurde, trägt die Überschrift „Heiliger Geist – verwandle und heilige uns!“ Er beginnt mit acht Thesen zu der Frage „Was ist Spiritualität?“, deren wesentlichen Inhalte im Folgenden wiedergegeben werden: „‚Stellt Euch nicht dieser Welt gleich, sondern ändert euch durch Erneuerung eures Sinnes, damit ihr prüfen könnt, was Gottes Wille ist‘ (Röm 12,2). Gott ruft die Menschen zur Verwandlung und Heiligung auf. Seine Gnade ist uns geschenkt, damit sie unser
48 Aus der Fülle der Veröffentlichungen seien hier nur wenige genannt: Dörr, Lernort Weltgebetstag; Klein, Das grenzüberschreitende Gebet; Bode/Cornelius-Bundschuh/Jepsen (Hg.), Mit der Bibel durch das Jahr 2016; Arbeitsgemeinschaft Christlicher Kirchen (Hg.), Denn Du bist bei mir. 49 Diesem Zusammenhang von Spiritualität, Einheit und Heiligung in Joh 17 geht Kowalski, Das Hohepriesterliche Gebet Jesu, bes. 54–56, nach. 50 Da dem Thema Evangelische Spiritualität im ökumenischen Horizont ein eigener Beitrag in diesem Handbuch gewidmet ist, beschränke ich mich an dieser Stelle auf das, was im Rahmen der Beziehung von evangelischer Spiritualität zur Heiligung zu sagen ist.
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Leben und unsere Strukturen durchdringe und wir uns in den Dienst der Menschheit und der ganzen Schöpfung stellen und in allen Dingen Gott, den Vater, den Sohn und den Heiligen Geist verherrlichen. Es ist gesagt worden, dass Spiritualität bedeutet, sowohl das Leben gestalten als auch Raum schaffen, damit der Heilige Geist wirken kann. Spiritualität hat daher eine praktische Dimension. Sie hat zu tun mit Prioritäten, dem Kalender und dem Lebensrhythmus. […] Die Menschen sehnen sich zutiefst nach Erfüllung, sie haben ein geistliches Verlangen, das zu werden, was wir nach der Schöpfung sein sollen, in Christus schon sind und noch werden sollten. Wir wurden nach Gottes Bild geschaffen (imago dei trinitatis), wir wachsen in der Ebenbildlichkeit mit Christus. […] Spiritualität wurzelt in der Taufe und in der Nachfolge. Durch sie sind wir in das Sterben und die Auferstehung Christi hineingenommen, werden Glieder seines Leibes und empfangen die Gaben des Heiligen Geistes, damit wir ein Leben führen, das in den Dienst für Gott und für Gottes Kinder gestellt ist. Spiritualität ist die Feier der Gaben Gottes, Leben in Fülle, Hoffnung in Jesus Christus, dem gekreuzigten und auferstandenen Herrn, und Verwandlung durch den Heiligen Geist. Spiritualität ist auch das unablässige, oft mühsame Ringen um das Leben im Licht inmitten von Dunkelheit und Zweifel. Spiritualität bedeutet, das Kreuz um der Welt willen auf sich nehmen, an der Qual aller teilhaben und in den Tiefen menschlichen Elends Gottes Antlitz suchen. Spiritualität – in ihren vielfältigen Formen – heißt lebenspendende Energie empfangen, geläutert, inspiriert, frei gemacht und in allen Dingen in die Nachfolge Christi gestellt werden. Eine ökumenische Spiritualität für unsere Zeit sollte ‚hier und jetzt inkarniert, lebensspendend, in der Schrift verwurzelt und vom Gebet genährt, in der Gemeinschaft und der Feier Gestalt finden, ihre Mitte in der Eucharistie haben und in Vertrauen und Zuversicht ihren Ausdruck im Dienst und im Zeugnis finden. […] Ihre Quelle und Orientierung ist das Wirken des Heiligen Geistes. Sie wird in der Gemeinschaft und für andere gelebt und gesucht. Sie ist ein fortdauernder Prozess des Sichformenlassens und der Nachfolge‘“.51
Diese Umschreibung von Spiritualität enthält viele unterschiedliche Gesichtspunkte. Das ist bei einem Konsenspapier, auf das sich Vertreter und Vertreterinnen verschiedener Konfessionen und Denominationen geeinigt haben, auch nicht anders zu erwarten. Aber trotz dieser Fülle von Aspekten wirkt der Text nicht unverbindlich oder beliebig, weil er mit seinen biblischen und poetischen Bildern eine existenzielle Sprache spricht. Für diesen Beitrag ist er hilfreich, da er Spiritualität und Heiligung ausdrücklich aufeinander bezieht. Wenn wir die Kriterien für eine evangelische Spiritualität und die Untersuchungen zum Begriff Heiligung aus den ersten beiden Kapiteln dieses Beitrags mit der Beschreibung der Spiritualität aus Canberra vergleichen, fallen sofort die vielen Übereinstimmungen mit unseren beiden Begriffen auf. Ich nenne nur die wichtigsten: – die Bindung an das Wirken des Heiligen Geistes, 51 Müller-Römheld, Im Zeichen des Heiligen Geistes, 115–117; das Zitat im Zitat am Ende stammt aus einer nicht näher gekennzeichneten Schrift des 1975 gegründeten Ressorts Erneuerung und Gemeindeleben des Ökumenischen Rates der Kirchen.
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Holger Eschmann
die inhaltliche Bestimmung durch die Geschichte Gottes in Jesus Christus, die Betonung von Taufe und Abendmahl, Nachfolge, Bibel und Gebet, die Gemeinschaft der Kinder Gottes, der Einbezug des ganzen Lebens des Menschen, das Einüben der Spiritualität im konkreten Alltag, das Wachsen in der Ebenbildlichkeit mit Christus, die praktisch-ethische Dimension des Dienstes, die Erfahrung von Anfechtung und Gewissheit.52
Allerdings entlässt auch dieser ökumenische Text nicht aus der dialektischen Spannung, die sich im Zusammenspiel von Spiritualität und Heiligung ergibt, eine Spannung, die durch das biblische Zeugnis selbst vorgegeben ist: Durch Gottes Wirken sind die an ihn Glaubenden durch das Wort der Wahrheit in Christus geheiligt (1Kor 1,30; Joh 17,17). Genauso unmissverständlich wird den Christen und Christinnen in der Nachfolge Jesu Christi aber auch geboten, der Heiligung in ihrem Leben aktiv Raum und Gestalt zu geben (1Thess 4,3.7; Hebr 12,14).
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52 Zur Einschätzung des Canberra-Textes siehe auch Peng-Keller, Einführung in die Theologie der Spiritualität, 14f.
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Christian Möller
Evangelische Spiritualität und Alltag
1.
Eine ebenso befremdliche wie faszinierende Zusammenstellung zweier scheinbar gegensätzlicher Begriffe:
Spiritualität – ein Wort, das sich für viele mit Hoffnung verknüpft; Alltag – ein Wort, das Inbegriff eines täglichen Pflichtpensums ist. „Spiritualität“: Ein aufgehender Stern über einem ausgebrannten Krater mit Namen „Alltag“!? Geist, der mich erhebt, soll mit dem zusammenkommen, was mich täglich in die Pflicht nimmt und niederdrückt? Vielleicht ist es aber auch umgekehrt: Ein inflationär gewordener Begriff „Spiritualität“ soll mit der harten Währung des Alltags wieder Wert bekommen; ein aufgeblähtes Wort soll in den täglichen Zusammenhängen wieder seinen Ort finden; ein schillerndes Modewort soll im Alltag wieder sein passendes Maß, seinen treffenden Klang finden. Gehen wir zuerst der Herkunft des Begriffs „Spiritualität“ nach (2.), ehe wir uns dann den Alltagsbezug der Reich-Gottes-Verkündigung Jesu (3.) anschauen. Bei Martin Luther interessiert uns der ausgeprägte Zusammenhang von Glaube und Alltag (4.), bei Dietrich Bonhoeffer die Rede von einer „tiefen Diesseitigkeit“ (5.) und bei Fulbert Steffensky eine in den Alltag reichende „Schwarzbrot-Spiritualität“, die sich von spirituellen Feinschmeckereien gehobener Zeiten deutlich unterscheidet (6.). In einer abschließenden Thesenreihe soll schließlich der Zusammenhang von evangelischer Spiritualität und Alltag (7.) markiert werden.
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2.
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Zur Herkunft des Begriffs „Spiritualität“
Auf der Vollversammlung des Ökumenischen Rates der Kirchen 1975 in Nairobi war eine Botschaft an die Christen der Ökumene verabschiedet worden, in der es programmatisch hieß:1 „Wir sehnen uns nach einer neuen Spiritualität, die unser Planen, Denken und Handeln durchdringt“. Dieser ökumenische Ruf wurde vom Rat der Evangelischen Kirche in Deutschland aufgenommen. Eine Arbeitsgruppe wurde eingesetzt, die Überlegungen zu einer Spiritualität im Raum von evangelischer Theologie und Kirche erarbeiten sollte. Das Ergebnis erschien 1979 unter dem Thema „Evangelische Spiritualität“.2 Die Schrift schlägt vor, den Begriff „Spiritualität“ im evangelischen Bereich aufzugreifen, weil er „eine Alternative zu spätprotestantischer Frömmigkeit bietet“ und sich vom pietistischen Begriff der Frömmigkeit dadurch unterscheide, „dass er Glaube, Frömmigkeitsübung und Lebensgestaltung zusammenschließt“. Der „spirituellen Not“ sei freilich organisatorisch nicht beizukommen, weil Spiritualität nicht machbar sei. Es komme auf glaubwürdige Erfahrung und überzeugende Lebensgestaltung an. Seitdem ist der Begriff „Spiritualität“ nicht nur im katholischen und im evangelischen Raum immer weiter aufgeblüht, sondern breitet sich auch in allen Religionen wie auch im säkularen Raum schier uferlos aus. Psychologen suchen ebenso wie Esoteriker nach dem „spirituellen Weg“. Akademien bieten Themen an wie „Spiritualität und Management“ oder „Spiritualität und Gesundheit“. Selbst Fußballclubs stellen einen „spiritual coach“3 ein, um ihre Spieler seelisch und geistlich zu motivieren.
Skepsis ist geboten Der spirituelle Markt ist unübersichtlich geworden. Scheidung der Geister ist an der Zeit. Hilfreich ist eine gesunde Skepsis, wie sie etwa aus Fulbert Steffenskys4 „Zwiesprache: Spiritualität“ spricht. Seine Frage: „Warum verziehst du das Gesicht, wenn du das Wort Spiritualität hörst?“. Antwort: „Weil es ein Wort ist, bei dem ich nicht mehr weiß, was sich dahinter versteckt und welche Interessen damit verbunden sind. Das Wort treibt seinen Schabernack mit uns“. Es sei Ausdruck einer Erfahrungssucht. Wird darüber nicht die Suche nach dem Reich Gottes vergessen, nach dem zuerst und vor allem getrachtet werden soll (Mt 6,33)? Wird nicht über der Sehnsucht nach der „spirituellen Hochsaison“ die 1 2 3 4
Vgl. Möller, Der heilsame Riss, 39ff. EKD, Überlegungen und Anstöße, 3f. Z. B. der 1. FC Köln, der freilich den „spiritual coach“ in einen „life coach“ übersetzt hat. Steffensky, Heimathöhle, 143.
Evangelische Spiritualität und Alltag
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„Treue zum Alltag“ und d. h. die alltägliche, graue, unspektakuläre Arbeit am Gebet vergessen? Wie also vertragen sich Spiritualität und Alltag? Sind sie einander Feind wie Feuer und Wasser? Oder ziehen sie sich in ihrer Gegensätzlichkeit an?
3.
Reich Gottes und Alltag bei Jesus
Kehrt man mit dieser Frage bei Jesus ein, so findet sich in seiner Verkündigung eine ähnliche Spannung: Das „Reich Gottes“, ein eschatologisch hoch gespannter Begriff, wird in Jesu Gleichnissen mit so alltäglichen Dingen verglichen wie Senfkorn und Sauerteig (Lk 13,18–21), einem Schatz im Acker und einer kostbaren Perle (Mt 13,44–46) oder einem Netz, das ins Meer geworfen ist und Fische aller Art fängt (Mt 13,47). Ähnlich werden das Trachten nach dem Reich Gottes und das Betrachten der Lilien auf dem Feld und der Vögel unter dem Himmel (Mt 6,25–34) zusammengespannt. Was geschieht in dieser Spannung? Die Sorge, die einen Zug zur Maßlosigkeit in sich trägt und deshalb diesen Tag heute mit Sorgen um das Morgen überdehnt, wird in der Betrachtung der Lilien auf dem Feld und der Vögel unter dem Himmel auf diesen Tag mit seiner Plage eingegrenzt: „Es ist genug, dass jeder Tag seine eigene Plage hat“ (Mt 6,34). So wird Raum dafür geschaffen, sich dem Trachten nach dem Reich Gottes und seiner Gerechtigkeit zuerst hinzugeben und davon erfüllt zu werden. Alles andere fällt dann von selbst zu. Ähnlich ist es im Herrengebet, wenn die Bitten um so große Anliegen wie die Heiligung des Namens, das Kommen von Gottes Reich oder das Geschehen von Gottes Willen mit der Bitte um das tägliche Brot zusammengefügt werden: Und diese wird zur Mitte des Herrengebetes! Der Alltag mit seiner ewigen Brotsorge schrumpft zusammen auf die Bitte um das „tägliche Brot heute“. Mehr ist nicht nötig, weil ja die Brotsorge in den Schutz von Gottes Name, Reich und Willen gerät und dadurch auf diesen Tag begrenzt wird, wie umgekehrt auch die Heiligung des Namens, die Bitte um das Kommen des Reiches und das Geschehen von Gottes Willen auf diesen Tag mit seinem täglichen Brot bezogen bleiben. Ähnlich ist es mit der Verklärung Jesu auf dem Berg (Mk 9,1–29), die Petrus zu dem schwärmerischen Wunsch führt, oben auf dem Berg ewig zu bleiben und drei Hütten für die Ewigkeit zu bauen, während Jesus seine Jünger alsbald wieder den Berg hinab in den Alltag der Sprachlosigkeit zwischen einem epileptischen Knaben und seinem Vater führt und diesen mit den Möglichkeiten des Glaubens heilt. Wieder und wieder zeigt sich auf dem Weg Jesu ein Zug aus der Höhe in die Tiefe, aus dem Großen ins Kleine, aus der Ewigkeit in das Alltägliche. Dieser inkarnatorische Zug kann in dem Satz zusammengefasst werden: Geist wird Leib;
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Ewigkeit wird Zeit der Alltäglichkeit. Der Alltag in seiner totalitären, alle Tage grau in grau uniformierenden Gestalt wird dieser Tag heute, weil der Geist des Reiches Gottes in der Person Jesu begrenzend einbricht. Das ist die Kraft evangelischer Spiritualität. Umgekehrt wird diese Spiritualität durch die Beziehung auf den Alltag davor bewahrt, spiritualistisch gleichsam zu verdampfen, sich nach oben hin aufzulösen. Wie Paulus deutlich macht, mischt sich Gottes Dynamis in die Schwäche des Alltags ein und hilft dem Apostel dazu, dass seine Schwäche zu einer kreativen Schwachheit werden kann, in der sich Stärke manifestiert (2Kor 12,9). Wer sich seine Schwachheit leisten kann, ist ein starker Mensch. Aus eigenen Kräften kann das niemand. Es braucht dazu den Geist von Gottes Dynamis, damit ich mir an Gottes Gnade genügen lassen und sagen kann: „Wenn ich schwach bin, so bin ich stark“ (2Kor 12,10).
4.
Glaube und Alltag bei Martin Luther
Evangelische Spiritualität heißt bei Martin Luther schlicht und einfach „Glaube“. Wie Glaube und Alltag bei Luther zusammengehören und aufeinander bezogen sind, wird auf vielfältige Weise deutlich:
Tischgespräche Am schönsten kann man sich dieses Verhältnis von Glaube und Alltag bei Luther an der Szene verdeutlichen, wie der Reformator mit seinen Freunden und Studenten bei Tisch sitzt, Mahlzeit hält, Wein trinkt, musiziert und lange Tischreden austauscht, die irgendwann auch einmal aufgeschrieben wurden, so dass dicke Folianten entstanden.5 Geht man sie durch, so findet man das bunte, vielfältige, alltägliche Leben darin ebenso wie tiefsinnige Reflexionen der Gottesgelehrtheit. Irgendwann kehrt dann aber das Gespräch wieder zu den kleinen, banalen Dingen zurück, weil es von einer tiefen Begeisterung für das Alltägliche erfüllt ist. Wenn etwa Doktor Justus Jonas ganz poetisch erklärt, dass er einen Zweig mit Kirschen über seinem Arbeitstisch hängen habe, „damit ich beim Betrachten den Artikel von der göttlichen Schöpfung lerne“, so gibt Luther ihm zur Antwort: „Warum lernet ihr’s nicht täglich an euern Kindern und euerer Leibesfrucht, die jeden Tag vor euch stehen und viel mehr sind als alle Früchte der Bäume? Hier möget ihr Gottes Vorsehung sehen, der sie aus nichts erschaffen hat. Er hat ihnen in einem halben Jahr Leib und Leben und alle Glieder gegeben und will sie auch ernähren. Und dennoch gehen wir daran vorbei, als sollten wir blind und geizig werden über jene Gaben, wie es 5 WA TR.
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meistens geschieht, dass die Menschen, wenn ihnen Nachkommenschaft gegeben wird, schlechter und geiziger werden […]“.6
Solche Tischgespräche spielen sich in einem Wittenberger Haus ab, das früher selbst ein Kloster war, in welchem nach der Regel „ora et labora“ Spiritualität unter besonderen und außerordentlichen Bedingungen monastischen Zusammenlebens eingeübt wurde. Dass an demselben Ort nun Kinder spielen, ein munteres Familienleben blüht, Freunde und Studierende ein- und ausgehen, gegessen, getrunken und musiziert wird, setzt die monastische Regel „ora et labora“ keineswegs außer Kraft, sondern nur in einen neuen, alltäglichen Zusammenhang ein, weil sich das Beten und Arbeiten nunmehr in Ehe und Familie, im Beruf, im Alltag und in der Gesellschaft ereignet. Hier gewinnt das Normale und Alltägliche einen neuen Glanz und eine neue Würde. Hier wissen alle, wie sie vor Gott und mit ihrem Nächsten zusammengehören, denn alle leben aus der Gewissheit ihres Heils, das ihnen im Glauben widerfährt. Die Frage ist freilich, ob diese Art von Glauben nicht auf ein sehr bequemes Christentum hinausläuft, auf das also, was damals schon von altgläubiger wie von radikalgläubiger Seite aus „das sanfte Fleisch von Wittenberg“ genannt wurde. Wo bleibt da die weltweite Dimension des Glaubens? Wie kommt es hier zu „Kampf und Kontemplation“? Ist das nicht ein „Pantoffel-Christentum“, das es sich mit „billiger Gnade“ allzu bequem macht?
Die Flucht vor dem Alltäglichen Auf solche und ähnliche Fragen ging Luther in seinem „Sermon von den guten Werken“7 ein, der so etwas wie ein Manifest evangelischer Spiritualität darstellt. Der Reformator attackiert in dieser Schrift eine sich besonders geistlich dünkende Flucht vor dem Alltäglichen, Normalen in das Besondere und Außerordentliche. Am Beispiel der Sorge von Eltern für ihre Kinder wird Luthers Anliegen besonders deutlich: „Eltern, auch wenn sie sonst nichts zu tun hätten, können an ihren eigenen Kindern die Seligkeit erlangen. An ihnen haben sie, wenn sie sie zu Gottes Dienst recht erziehen, fürwahr beide Hände voll guter Werke vor sich. Denn was sind hier die Hungrigen, Durstigen, Nackten, Gefangenen, Kranken, Fremdlinge anderes als die Seelen deiner eigenen Kinder, mit denen dir Gott aus deinem Haus ein Spital macht und dich ihnen zum Spittelmeister einsetzt? Da sollst du sie pflegen, sie speisen und tränken mit guten Worten und Werken, damit sie lernen Gott vertrauen, an ihn glauben und ihn fürchten und ihre Hoffnung auf ihn setzen […]“. 6 WA TR, 224f. 7 WA 6, 196–276; Insel 1, 38–149.
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Christian Möller
Und weiter fragt Luther, ob der Alltag nicht schon genug zu tun gebe und ob nicht bei den alltäglichen Pflichten „eine rechte Kirche, ein auserwähltes Kloster, ja ein Paradies“ zu finden sei, in dem man die Seligkeit erlangen könne. Die Sehnsucht nach dem Besonderen, Außerordentlichen, Spektakulären, verkennt die Seligkeit des Alltäglichen und flüchtet sich in die scheinbar höhere Spiritualität. So eine Flucht bringt Luther zu den zornigen Worten: „Es hat keinen Heiligenschein, darum gilt es nichts. Da läuft der nach St. Jakob, gelobt diese sich unserer Lieben Frau. Niemand gelobt, dass er, Gott zu ehren, sich und sein Kind wohl regiere und lehre. Er lässt die sitzen, die Gott ihm an Leib und Seele zu bewahren befohlen hatte, und will Gott an einem andern Ort dienen, was ihm nicht befohlen ist. Solch verkehrtes Treiben verwehrt kein Bischof, straft kein Prediger; ja, aus Habgier bestätigen sie es und erdenken täglich nur noch mehr Wallfahrten, Heiligenerhebung, Ablassjahrmärkte: Gott erbarme sich über solche Blindheit!“8
Den Grund für diese Blindheit sieht Luther in der allgemein verbreiteten Unsicherheit angesichts der Frage, was denn eigentlich gute Werke seien und was nicht. Die Antwort, die er im „Sermon von den guten Werken“ an den Zehn Geboten entfaltet, ist klar: Im Glauben an das von Gott Gebotene wird alles gut, das Große ebenso wie das Kleine, das Kurze ebenso wie das Lange. Wo aber die Zuversicht zu Gott fehlt und die Schlange im Gewissen zu zischeln beginnt: „Sollte Gott das wirklich gesagt haben?“, da beginnt die große Unsicherheit, was nun wirklich gut oder böse sei, und ob das Alltägliche, Normale wirklich noch genügen könne. „Wer mit Gott nicht eins ist oder daran zweifelt, der fängt an, sucht und sorgt, wie er doch noch genug tun und Gott mit vielen Werken bewegen wolle. Er läuft nach St. Jakob, nach Rom, nach Jerusalem, hierhin und dahin, betet die St.-Brigitten-Gebete und dies und das, fastet an dem und diesem Tag, beichtet hier, beichtet da, fragt diesen und jenen und findet doch keine Ruhe und tut das alles unter großer Beschwer, Verzweiflung und Unlust des Herzens“.9
Der Glaube aber, der aus dem Hören auf Gottes Wort lebt, gleicht einem Baum, der an den Wasserbächen gepflanzt ist und seine Früchte bringt zu seiner Zeit (vgl. Ps 1,3).
8 Insel 1, 117. 9 A. a. O., 46.
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„Sündige kräftig, aber glaube noch kräftiger“ So eindeutig diese Ausrichtung des Verhältnisses von Glaube und Alltag zu sein scheint, muss sie aber doch immer wieder durch Feuerproben hindurch. Wenn z. B. Luther auf der Wartburg in der Schutzhaft seines Kurfürsten sitzt und die Autorität des Reformators in Wittenberg fehlt, beginnen sich rasch die kleinen Geister zu regen, die das Sagen übernehmen wollen. Nunmehr kam es auf Philipp Melanchthon an, den reformatorischen Kurs zu halten. In den tausend Entscheidungen des Alltags fiel ihm das oft schwer genug, und er wandte sich brieflich immer wieder an Luther, um seinen Rat einzuholen. Melanchthon muss ein skrupulöser Mensch gewesen sein, der alles sehr genau nahm und keine Fehler duldete, schon gar nicht bei sich selbst. Das brachte ihn in den turbulenten Zeiten von Luthers Abwesenheit in immer größere Verzweiflung, wie sie auch aus seinen Briefen zur Wartburg (1521/22) und später zur Veste Coburg (1530) spricht. Schließlich weiß Luther dieser Verzweiflung nur noch zu wehren, indem er am 1. August 1521 an Melanchthon schreibt: „Wenn du ein Prediger der Gnade bist, so predige eine wahre und keine erdichtete Gnade, wenn es wahre Gnade ist, wahrhaftig, dann trage keine erdichtete Sünde vor. Gott heilt nicht erdichtete Sünder. Sei ein wahrhaftiger Sünder und sündige kräftig, aber glaube noch kräftiger und freue dich in Christus, der ein Sieger über Sünde, Tod und Welt ist. Bete kräftig, auch als der kräftigste Sünder“.10
Normalerweise werden diese Sätze auf zwei lateinische Worte verkürzt: „pecca fortiter“ und in dieser Verkürzung kolportiert. Sie meinen dann so viel wie: „Hau’ mal richtig auf die Pauke! Besauf dich sinnlos! Mach’ was du willst, aber lass’ dich nicht erwischen!“. So wird Luther zum Vater von Laxheit, Willkür und Gleichgültigkeit gemacht. Hört man das „pecca fortiter“ jedoch in seinem ursprünglichen Zusammenhang, wird es zum Inbegriff einer reformatorischen Spiritualität, die die Sünde im Lichte der Vergebung großmacht, um einen Skrupulanten wie Melanchthon dazu zu bringen, in die Grenzen seines Menschseins vor Gott einzukehren, seine Existenz als Fragment anzunehmen und vor seinem Schuldigwerden nicht davonzulaufen und noch schuldiger zu werden. Vergebung der Sünde heißt ja nicht, dass damit alle Schuld verschwunden wäre. Es heißt vielmehr, dass der Fluch der Sünde im Licht der Gnade Jesu Christi beseitigt wird, so dass nunmehr die Schuld ans Tageslicht kommt, mit der ein Mensch umgehen, an der er arbeiten und zu der er ein Verhältnis gewinnen kann. Vergeben ist ein aktives Geben. Einem Menschen wird seine Schuld so gegeben, dass er an ihr nicht mehr verkümmert, sondern wächst. Die Beichte ist dann nicht mehr eine zerknirschende, sondern 10 WA Br 2, 372,82–85; Nr. 424.
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den Menschen im Licht der Wahrheit aufrichtende Sache. Luther kann die Beichte gar nicht oft genug begehren und anderen Mut zur Beichte machen, weil sie dazu hilft, in die Grenzen des Menschseins zurückzukehren und die Begeisterung für das Alltägliche wiederzugewinnen.
5.
Tiefe Diesseitigkeit bei Dietrich Bonhoeffer
Wie sieht evangelische Spiritualität im Verhältnis zum Alltag aus, wenn sie in der Gegenwart gelebt wird? Ein Gedankenexperiment mag es verdeutlichen, das Dietrich Bonhoeffer in einem Brief aus der Haftzelle in Tegel seinem Freund Eberhard Bethge mitteilt: „Ich erinnere mich eines Gespräches, das ich vor dreizehn Jahren in Amerika mit einem französischen jungen Pfarrer hatte. Wir hatten uns ganz einfach die Frage gestellt, was wir mit unserem Leben eigentlich wollten. Da sagte er: Ich möchte ein Heiliger werden (– und ich halte für möglich, dass er es geworden ist –); das beeindruckte mich damals sehr. Trotzdem widersprach ich ihm und sagte ungefähr: Ich möchte glauben lernen. Lange Zeit habe ich die Tiefe dieses Gegensatzes nicht verstanden. Ich dachte, ich könnte glauben lernen, indem ich so etwas wie ein heiliges Leben zu führen versuchte. Als das Ende dieses Weges schrieb ich wohl die ,Nachfolge‘. Heute sehe ich die Gefahren dieses Buches, zu dem ich allerdings nach wie vor stehe, deutlich. Später erfuhr ich und ich erfahre es bis zur Stunde, dass man erst in der vollen Diesseitigkeit des Lebens glauben lernt. Wenn man völlig darauf verzichtet hat, aus sich selbst etwas zu machen – sei es einen Heiligen oder einen bekehrten Sünder oder einen Kirchenmann (eine sogenannte priesterliche Gestalt!), einen Gerechten oder einen Ungerechten, einen Kranken oder einen Gesunden – und dies nenne ich Diesseitigkeit, nämlich in der Fülle der Aufgaben, Fragen, Erfolge und Misserfolge, Erfahrungen und Ratlosigkeiten leben –, dann wirft man sich Gott ganz in die Arme, dann nimmt man nicht mehr die eigenen Leiden, sondern das Leiden Gottes in der Welt ernst, dann wacht man mit Christus in Gethsemane, und ich denke, das ist Glaube, das ist Metanoia; und so wird man ein Mensch, ein Christ“.11
Diese Zeilen haben umso mehr Gewicht, als sie am 21. Juli 1944, also einen Tag nach dem gescheiterten Attentat gegen Hitler, geschrieben sind. Von diesem Scheitern hatte Bonhoeffer wohl bereits etwas vernommen. Wie nahe hätte es gelegen, in dieser außerordentlichen Zeit sich in eine außerordentliche, besondere Spiritualität hineinzusteigern, eine Begegnung mit der rettenden Kraft des Heiligen zu suchen und sich danach zu sehnen, in Weltflucht selbst ein Heiliger zu werden. Auf diesem Wege hatte ja Bonhoeffer schon mit dem kommunitären Experiment von Finkenwalde und seinen beiden Schriften Gemeinsames Leben und Nachfolge begonnen, erste Schritte zu gehen, die in eine rigorose Richtung 11 DBW 8, 541f.
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führten. In dieser Zeit fielen solche Begriffe wie „billige und teure Gnade“, auf die sich alle „Nachfolger“ bis heute gern berufen. Bonhoeffer selbst aber begann in der Haftzeit die Gefahren dieses Weges zu sehen, den er mit seiner Schrift „Nachfolge“ eingeschlagen hat. Es war der Weg in eine heilige Lebensführung, an dessen Ende das herauskommen sollte, was der junge französische Pfarrer mit seinem Leben erreichen wollte: ein Heiliger zu werden. Instinktiv widersprach Bonhoeffer schon Jahre zuvor. Nun aber, in der Haftzeit, verzichtete er bewusst auf alle Selbststilisierungen einer monastischen, pietistischen, esoterischen oder sonstwie gearteten Spiritualität zum heiligen, bekehrten Sünder usw. Er will nur noch in der Diesseitigkeit glauben lernen und das heißt in der Fülle der Aufgaben, Fragen, Erfolge und Misserfolge, Erfahrungen und Ratlosigkeiten leben, sich Gott ganz in die Arme werfen, das Leiden Gottes in der Welt ernst nehmen, mit Christus in Gethsemane wachen und so ein Mensch, ein Christ werden.
Beten und Tun des Gerechten Treffender lässt sich kaum in die Gegenwart übersetzen, was reformatorische Spiritualität als Leidenschaft für das Alltägliche meint: Es ist eine tiefe Diesseitigkeit des Christentums, die es zu entdecken gilt. Bonhoeffer unterscheidet sie von der „platten und banalen Diesseitigkeit der Aufgeklärten, der Betriebsamen, der Bequemen oder der Lasziven“, die einfach so in den Tag hinein leben, sich in den Tagesbetrieb stürzen, die Termine abhaken oder einfach alles auf sich zukommen lassen. Dagegen ist die tiefe Diesseitigkeit für Bonhoeffer voller Zucht. Die Erkenntnis des Todes und der Auferstehung ist ihm immer gegenwärtig. Zu dieser Zucht gehört für ihn die Freude an der täglichen Losung und die ständige Rückkehr zu den „schönen Paul-Gerhardt-Liedern“. Es ist nicht zufällig, dass in diesem Zusammenhang der Satz fällt: „Ich glaube, dass Luther in dieser Diesseitigkeit gelebt hat“. In der Tat gibt es in der Sache ganz ähnliche Äußerungen Luthers, in denen der „liebe Jüngste Tag“ mit der Freude an den täglichen Gaben Gottes zusammengebracht werden. Es ist nicht zufällig, dass das bis heute noch nicht identifizierte Wort vom Pflanzen eines Apfelbäumchens angesichts des Untergangs der Welt Luther zugeschrieben wird. Reformatorische Spiritualität als Leidenschaft für das Alltägliche – es sei ausdrücklich betont, dass der Alltag als solcher kein Grund zur Begeisterung sein muss. Es ist mit dem Alltag ähnlich wie mit der Normalität, die Hans Magnus Enzensberger gegen ihre Anbeter scharfsinnig in Schutz nimmt:
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„Der Versuch, die Normalität zu glorifizieren, ist nicht nur ein logischer Nonsens, weil jeder Heiligenschein seinen Sinn verliert, wenn er zur normalen Kopfbedeckung wird; er ist auch eine politische Lüge mit ungewöhnlich kurzen Beinen“.12
Normal sei eben nicht nur die Frühstückssemmel, sondern auch der Ehekrieg; normal sei nicht nur der Hausschuh, sondern auch das Massaker im Fernsehen; normal sei nicht nur die Zimmerlinde, sondern auch das Fließband, nicht nur die Gemütlichkeit, sondern auch Furcht und Zittern. Der Alltag als solcher muss keineswegs begeistern, sondern kann unendlich langweilig sein. Die Spiritualität, die den Alltag auf das Alltägliche begrenzt und sich an alltäglichen Dingen zu freuen vermag, kommt aus der schöpferischen Kraft des Wortes Gottes, das alle Dinge zu heiligen vermag. Dann werden die Lilien auf dem Felde ebenso wie die Spatzen auf dem Dach zu Gleichnissen des Reiches Gottes. Der Glaube, der aus der schöpferischen Kraft von Gottes Wort lebt, setzt eine Spiritualität frei, die sich in dieser Weise, wie es Jesus angefangen hat, für das Alltägliche zu begeistern vermag. Solch ein Glaube geht nicht im Einerlei des Alltags unter, sondern begrenzt ihn in der Bitte um das tägliche Brot auf den heutigen Tag mit seinen Besorgungen, seinen Nöten und seinen Schönheiten. So ein Glaube muss aber auch nicht aus dem Alltag in ein heiliges Sonderdasein flüchten, in irgendwelche höhere Welten oder Energien, weil er in der tiefen Diesseitigkeit lebt und an Gottes Leiden in der Welt teilhat. Nun wird der Alltag zum Kloster, so dass das benediktinische Motto „ora et labora“ bei Dietrich Bonhoeffer zu einem Vermächtnis wird, mit dem er seinen Patensohn in die Welt sendet: „Unser Christsein wird heute nur in zweierlei bestehen: im Beten und im Tun des Gerechten unter den Menschen“.13
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Schwarzbrot-Spiritualität bei Fulbert Steffensky
Einem seiner neuesten Bücher gab der jetzt in der Schweiz lebende Theologe Fulbert Steffensky den Titel „Schwarzbrot-Spiritualität“,14 um seinem „Unwillen gegen die neue Magie des Wortes Spiritualität und gegen die Aufblähung des Spiritualitätsmarktes“15 Ausdruck zu verleihen. Er versteht zwar die Sehnsucht nach einem solchen Wort, denn die Menschen seien es müde, in „ausgeleuchteten Räumen zu leben, die kein Geheimnis mehr bergen“.16 Sehnsucht entstehe, wo der Mensch erkennt, dass er mehr braucht, als er hat. Sie entstehe gerade dort, wo 12 13 14 15 16
Enzensberger, Politische Brosamen, 216. DBW 8, 435. Stuttgart 2005. Steffensky, Schwarzbrot-Spiritualität, 7. Ebd.
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wir die Fülle des Lebens genießen. Kern der Sehnsucht, die in dem Begriff „Spiritualität“ zum Ausdruck komme, sei der Wunsch nach Ganzheit und Heil ebenso wie der Wunsch nach Einigung mit Gott, dem Abgrund des Lebens und des Todes. Ob aber diese Sehnsucht auf dem Weg des spirituellen Erfahrens- und Erlebniszwanges gestillt werden kann, ist Steffenskys widerspenstige Frage ebenso wie sein hartnäckiger Protest gegen den Harmoniezwang eines „positiv thinking“, das sich mit der Suche nach Spiritualität gern verbindet. Erfahrung an sich rechtfertige noch nichts, wie auch das Ausbleiben von Erfahrung nichts verdamme. Harmoniezwänge können zur Aufkündigung der Solidarität mit denen führen, die die ersten Adressaten des Evangeliums sind: die Armen und die Geschändeten auf dieser Erde. Mit ihrem Alltag gilt es solidarisch zu werden. Dazu brauche es „Spiritualität als gebildete Aufmerksamkeit“;17 es ist Aufmerksamkeit für das alltägliche Leben, die sich die Fragen stellt: „Wie lese ich die Schmerzen der Menschen, und wie lasse ich mich von ihnen berühren? Wie gehe ich mit den Dingen des alltäglichen Lebens um? Bin ich fähig, sie als Gaben zu ehren, oder bin ich ausschließlich Benutzer und Verfüger der Welt? Ehre ich das Wasser, die Stille, die Nacht, die Tiere, die Luft zum Atmen, oder wähne ich alles für mich und meinen Nutzen zur Verfügung?“.18
Gebildet wird diese Art von Spiritualität für den Alltag, indem sie zum religiösen Handwerk wird, das man wie Kochen oder Nähen lernen kann, indem man sich an Regeln hält. Kernstück der Spiritualität ist das Gebet, für dessen alltägliche Einübung Steffensky 12 Regeln19 aufstellt: 1. Am Morgen oder am Abend einen Psalm in Ruhe beten und/oder den Losungen einige Minuten Aufmerksam widmen. 2. Gib deinem Vorhaben eine feste Zeit! 3. Gib deinem Vorhaben einen festen Ort! 4. Sei streng mit dir selber! 5. So ein Vorhaben ist kein „Seelenbad“, sondern Arbeit. 6. Sei dankbar für „geglückte Halbheit“! 7. Setze den Texten und Bildern der Lesungen nichts entgegen! Überliefere dich ihrer Kraft und lass dich von ihnen ziehen. 8. Bau dir eine kleine, sich wiederholende Liturgie! 9. Lerne Formeln und kurze Sätze aus dem Gebets- und Bildschatz der Tradition auswendig! 10. Wenn du zu Zeiten nicht beten kannst, lass es! Lies, setze dich einfach ruhig hin! Verlerne deinen Ort und deine Zeit nicht! 17 A. a. O., 17. 18 A. a. O., 19. 19 A. a. O., 20–23.
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11. Sei nicht gewaltsam mit dir selbst! Zwing dich nicht zur Gesammeltheit! 12. Birg deinen Versuch in den paulinischen Satz: Der Geist hilft unserer Schwachheit auf! (Röm 8). Steffensky übersetzt in diesen Regeln eine Spiritualität in den Alltag, wie er sie selbst dreizehn Jahre im benediktinischen Kloster Maria Laach gelernt und eingeübt hat, sie dann aber ab 1969 zusammen mit Dorothee Sölle in das Politische Nachtgebet in Köln und später als Religionspädagoge in Hamburg in eine evangelische Spiritualität weitergeführt hat. Was ihn an evangelischer Spiritualität fasziniert, ist „protestantischer Schwarzbrotgottesdienst“, in dem eine Gemeinde konzentriert ist; in dem die Gebete einfach sind, in dem viel gesungen wird und in dem die Pfarrer und Pfarrerinnen nicht mehr sagen, als sie sagen müssen“.20 Es sind vor allem Lieder Paul Gerhardts wie überhaupt die Schönheit des Singens, die Steffensky in der evangelischen Kirche liebt. In der Poesie des Singens sind wir uns selbst voraus – unseren Einsichten, unseren Argumenten, unserem Zwiespalt. „Wie an keiner anderen Stelle tut man beim Singen, als könnte man schon glauben. Wir geraten mit der Musik und in den Liedern in den Bereich der Schönheit. Die Schönheit heilt. Sie lehrt uns lächeln – wer täte es nicht bei Paul Gerhardts ‚Narzissus und die Tulipan‘ […]. Die Schönheit und die Gnade sind leibliche Geschwister, und sie begegnen uns am dichtesten in den Liedern. Zehnmal lieber würde ich im Gottesdienst auf die Predigt verzichten als auf die Lieder“.21
Steffensky berichtet freilich auch von Hamburger Erfahrungen mit Gruppen, die sich regelmäßig zu „frommen Feiern“ getroffen hätten: „Man sitzt in einem Kreis, hat die Schuhe ausgezogen, eine Kerze brennt, ein Blumenstrauß steht in der Mitte. Man singt leise und schöne Lieder, man ist gestimmt. Aber die Gruppe hat kein Thema“.
Eigentlich sei das nur Selbstgenuss und Selbsterfahrung. Man feiere im Grunde nur sich selbst. Gegen diese Art von ästhetischer Spiritualität setzt Steffensky „eine eher schmutzige Spiritualität“, die sich mit großen Themen des Lebens und seiner Bedrohung verbindet, und d. h. konkret: mit der Sehnsucht nach Frieden, mit dem Kampf gegen die Zerstörungen, die der Mensch plant und anrichtet, mit dem Kampf um die Erhaltung des Lebens, mit dem Kampf gegen die Unterdrückung des Menschen durch den Menschen. Wer diese Spiritualität im Alltag versuche, der wisse auch, wofür er bete, faste, beichte, schweige und singe. „Es sind Menschen mit einem großen Durst nach Leben. Sie leiden an dem, was dem Leben angetan wird“. Diese Spiritualität sei der „große Tanz der Hoffnung und 20 A. a. O., 85. 21 Steffensky, Der Reichtum des Gottesdienstes, Pastoralblätter 2002, 130–135, ebd.131f.
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des Glaubens“. In ihr seien die „beiden Geschwister Frömmigkeit und Radikalität endlich einmal vereint“.22 Was Steffensky nach zwanzig Jahren politischer Aufräumarbeit im kühlen Norden mehr und mehr an Spiritualität vermisst, ist die gestische Sprache des Glaubens. Es sei an der Zeit, neu zu bauen und neu zu komponieren. „Alles, was man wirklich will, worauf man wirklich hofft und woran man mit seinem Herzen glaubt, braucht seine Gestalt“.23 Das Christentum gebe es nicht als reine Idee, als abstrakte Hochschätzung bestimmter Gedanken. Unsere großen Wünsche brauchen Einübungen, Aufführungen, Inszenierungen, Verleiblichungen und Versinnlichungen. Ich kann mich nur selbst erkennen in dem, was ich glaube und hoffe, wenn ich meinem Glauben und meinen Hoffnungen eine Gestalt gebe. Unsere Wünsche brauchen die Feier und die Wiederholung. Der Protestantismus hat im Laufe seiner Geschichte wenig gestalterische Kraft bewiesen. Sein Hauptmittel ist die Rede gewesen, die Predigt. Er ist bestimmt von der Überzeugung: das Heil liegt hauptsächlich in der Beredung. Dagegen hält Steffensky: „Aber wir müssen auch schweigen, hören, lesen, fasten, segnen, Blumen aufstellen, beichten; in vielen Gesten uns unsere Hoffnungen wiederholen. Wir müssen uns selbst erkennbar sein als Glaubende, sonst wird der Glaube kraftlos“.
Und das alles müsse etwas Alltägliches sein, es könne nicht nur in herausgehobenen Festzeiten geschehen. „Gerade der Alltag braucht seinen regelmäßigen Trost, seine regelmäßige Erbauung, seine regelmäßige Reinigung. Religion geht nur, wenn sie alltägliche Religion ist, regelmäßige Ausübung ist. Es geht um unsere tägliche Ernährung“.24
Nach dem Tod von Dorothee Sölle verlässt Steffensky die lutherische Welt Hamburgs und geht nach Luzern in die Schweiz. Hier schließt er sich dem Romero-Haus der Bethlehem-Missionare an und findet darin eine neue geistliche Heimat, in der er eine ökumenische Spiritualität mit seiner neuen Frau lebt. Katholisch und evangelisch – das sind jetzt für ihn nur noch verschiedene Dialekte, die es in ihrer Stärke zu gebrauchen und gegenseitig zu bereichern gilt, um die alte Frage nach Gott neu zu stellen und im Alter zu schauen, wie einer sein Leben mit den Schätzen der Tradition neu zusammenbringen und als Fragment im Alltag leben kann.
22 Steffensky, Feier des Lebens, 40. 23 A. a. O., 39. 24 A. a. O., 39f.
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Thesen zum Verhältnis von Evangelischer Spiritualität und Alltag Evangelische Spiritualität ermöglicht durch die Kraft des Evangeliums eine Haltung, die den Menschen für das Kommen des Geistes von Jesus Christus transparent und durchlässig macht. Das evangelische Wort für Spiritualität heißt „Glaube“. Von Haus aus ist der Mensch ein durch die Sünde verschlossener homo in se incurvatus (in sich verkrümmter Mensch), der auch Spiritualität nur wie Schmieröl benutzt, um sich durch spirituelle Techniken um so mehr als ein homo religiosus in se incurvatus (religiöser in sich verkrümmter Mensch) abzudichten und wohlzufühlen. Erst das Bekenntnis zu meiner Gebrochenheit als Sünder vor Gott und vor mir selbst wie meinem Nächsten öffnet mich und schafft den „heilsamen Riss“ in meiner Existenz, der mich durchlässig für das Kommen des Geistes und hellhörig für den Alltag macht. Der Alltag trägt einen Zug zur Totalisierung in sich, alle Tage grau in grau zu färben und einförmig erleben zu lassen. Demgegenüber begrenzt evangelische Spiritualität den Alltag auf das Tägliche, Heutige, Gegenwärtige, etwa so, dass sie im Gegenüber zum Alltag die Feier des Sonntags einübt. Indem evangelische Spiritualität mich für das Kommen des Geistes durchlässig macht, ermöglicht sie mir eine Erfahrung mit dem Erleben des Alltags, die mich für Tägliches dankbar, aufgeschlossen und manchmal sogar begeistert macht. Täglich morgens aufstehen kann zuweilen beglückend, zuweilen mühselig und manchmal gar schmerzlich sein. Wenn der Königsberger Liederdichter Heinrich Albert mit Luthers Morgensegen vom „geistlichen Aufstehen“ (EG 440,4) spricht, meint er ein Begrüßen des Tages, der die Seele heute im Licht der Auferstehung Jesu auf das Ende aller Tage ausrichtet und so für diesen Tag um so dankbarer und empfänglicher macht. Das Gebet ist das Herzstück evangelischer Spiritualität. Wie jedes Handwerk, so braucht auch das Gebet seine Regeln, die ihm feste Zeiten, feste Orte und Methoden geben, um täglich geübt zu werden. Spiritualität ist gebildete, geformte Aufmerksamkeit für das alltägliche Leben, die dazu führt, die alltäglichen Dinge wie Wasser, Brot und Mahlzeiten etc. zu ehren im Dank für unverdiente Gaben. Statt sich mit einer ästhetischen Spiritualität der Harmonie des positiven Denkens hinzugeben, ist evangelische Spiritualität eher eine „schmutzige Spiritualität“, weil sie dem alltäglichen Kampf um Gerechtigkeit, der Sehnsucht nach Frieden und der Bewahrung der Schöpfung nicht ausweicht, sondern sie ins Gebet nimmt.
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10. In der Erfahrung mit dem alltäglichen Erleben zeigt der Alltag zuweilen einen „sehr feinen Riss […], der in das dahinter Liegende schauen lässt“. Dieser Riss ist „so klein, dass ihn die meisten Menschen in all dem Getöse und den Geschäftigkeiten des Alltags übersehen. Dieser Riss zeigt sich dann, wenn jemand uns über die Ebene dessen, was eigentlich ausgehandelt ist, über die reine Funktion einer Gesellschaft hinaus fordert. Denn dann ist der Punkt erreicht, wo ich, wenn ich gelernt habe, diesen Spalt in der Mauer wahrzunehmen, hinter die behauptete in die wirkliche Wirklichkeit des Menschen schauen kann. Der Weg dahin bedeutet, dem zu lauschen, was der Mensch in seinem jeweiligen Augenblick an menschlicher Wirklichkeit mitteilen will“.25
Literatur Quellen Bonhoeffer, Dietrich, Widerstand und Ergebung. Briefe und Aufzeichnungen aus der Haft, Dietrich Bonhoeffer Werke, Achter Band, DBW 8, München 1998. Luther, Martin, Tischreden, bearbeitet von Heinrich Fausel, Ausgewählte Werke, Ergänzungsreihe Dritter Band, München 1963 (WA TR). –, Von den guten Werken, WA 6, 196–276. Insel 1, 38–149. Enzensberger, Hans Magnus, Politische Brosamen, Franfurt a.M. 41985. Steffensky, Fulbert, Feier des Lebens. Spiritualität im Alltag, Stuttgart 1984. –, Der alltägliche Charme des Glaubens, Würzburg 2002 –, Schwarzbrot-Spiritualität, Stuttgart 2005. –, Der Reichtum des Gottesdienstes, in: Pastoralblätter 2002, 130–135. –, Heimathöhle Religion. Ein Gastrecht für widersprüchliche Gedanken, Stuttgart 2015.
Forschungsliteratur Dahlgrün, Corinna, Christliche Spiritualität. Formen und Traditionen der Suche nach Gott, Berlin/New York 2009. Evangelische Spiritualität. Überlegungen und Anstöße zur Neuorientierung. Vorgelegt von einer Arbeitsgruppe der EKD, Gütersloh 1979. Knörzer, Guido, Der Taxifahrer als Seelsorger, in: Diakonia 24, 1993, 41–49. Möller, Christian, Der heilsame Riss. Impulse reformatorischer Spiritualität, Stuttgart 2003. –, Leidenschaft für den Alltag. Impulse reformatorischer Spiritualität, Stuttgart 2006. –, Kirche, die bei Trost ist. Plädoyer für eine seelsorgliche Kirche, Göttingen 22007. 25 Knörzer, Taxifahrer, 48f.
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–, Das Kloster im Alltag. Martin Luther und Dietrich Bonhoeffer, in: Kirche mit allen Sinnen. Plädoyer für eine Gemeinde mit Herzen, Mund und Händen, Neukirchen 2015, 75–82. Zimmerling, Peter, Evangelische Spiritualität, Göttingen 22010.
Johannes Eurich
Evangelische Spiritualität in der Diakonie
Diakonie ist helfende Zuwendung zum Mitmenschen im Geist der Nächstenliebe. So könnte man die fachliche Hilfe, Unterstützung und Begleitung von Menschen in Notlagen oder mit besonderen Bedürfnissen unter Betonung der geistlichen Motivation der Hilfe beschreiben. Bei den Anfängen der modernen Diakonie im 19. Jahrhundert spielte der christliche Glaube und darin verwurzelte Begründungen eine große Rolle. Seitdem sind fachliche Orientierungen, die vielfach ohne Bezug auf geistliche Aspekte diakonisches Handeln anleiten, neben christliche Begründungen getreten. So fördert man heute die Selbstbestimmung der betroffenen Menschen und möchte sie zu einem nachhaltigen selbstständigen Leben und sozialer Teilhabe befähigen, soweit das möglich ist, ohne bei diesen Zielen explizit christliche Begründungen zu unterlegen. Diese erscheinen vielmehr in den allgemeinen Grundlagen der Einrichtung (z. B. im Leitbild) und stehen als weltanschauliche Verortung eher im Hintergrund organisationaler Ziele diakonischer Einrichtungen, die dann über Konzepte wie das der christlichen Organisationskultur oder der Balanced Score Card Eingang in den Organisationsalltag und das Organisationshandeln finden müssen. So kann der christliche Glaube im Selbstverständnis der Mitarbeitenden wie der diakonischen Einrichtung nach wie vor eine prägende Rolle spielen, aber er unterliegt auch im Bereich der Diakonie allgemeinen gesellschaftlichen Entwicklungen im Blick auf religiöse Orientierung. Nachlassende Bindungskräfte konfessioneller Milieus sowie Expansionsphasen der Diakonie (Erschließung neuer Tätigkeitsfelder und Zusammenschluss mit ostdeutschen diakonischen Werken im Rahmen der deutschen Wiedervereinigung) mit entsprechender Anwerbung bzw. Übernahme auch von kirchendistanzierten Mitarbeitenden haben ein pluralistisches Bild der religiösen Orientierung der diakonischen Mitarbeiterschaft ergeben. Durch Veranstaltungen im Rahmen diakonischer Glaubensbildung (Glaubenskurse, religionskundliche Fortbildungsangebote, Exerzitien etc.) wird versucht, verlorenen Boden gutzumachen und ein größeres Bewusstsein für die christliche Tradition zu wecken oder zumindest Zugänge zur spirituellen Dimension des Helfens zu eröffnen (z. B. durch Oasen-Tage, Selbsterfahrungs-
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Angebote, ganzheitlich ausgerichtete Wellness-Wochenenden) oder innere Ressourcen zum Ausgleich bzw. zur Bewältigung emotional fordernder Tätigkeiten (z. B. in der Altenpflege oder Hospizarbeit) zu erschließen. Diese Bemühungen werden durch die Ökonomisierung des sozialen Sektors forciert, denn hier kann ein spezifisches spirituelles Angebot ein Alleinstellungsmerkmal im Sozialmarkt bedeuten oder die Zugehörigkeit zur Kirche einen Vertrauensvorschuss auf Kundenseite evozieren, der sich in einer höheren Kundenbindung niederschlagen kann. Gleichzeitig stehen diese Bemühungen einer Rückgewinnung christlicher Orientierungskraft insofern unter Druck, als inzwischen die christologische Rückbindung diakonischer Hilfe hinterfragt und über einen schöpfungstheologischen Zugang ein allgemeiner Altruismus als Kennzeichen des Humanum propagiert wird.1 Sicherlich ist richtig, dass Helfen nichts explizit Christliches ist, jedoch führt die gleichzeitig vorgenommene Abblendung bestehender Unterschiede im Helfen, die oftmals kulturell bedingt sind und sich besonders in den unterschiedlichen Religionen zeigen, und die Nichtberücksichtigung der Ambivalenz des Helfens zu einer Auflösung der christlichen Begründung in eine allgemeine, „gutmenschliche“ Philanthropie, die gerade einer diakonischen Profilierung im Sinne des Bewusstseins und der Gestaltung ihrer eigenen Glaubenstradition entgegenwirkt. Ergeben diese unterschiedlichen Strömungen schon kein einheitliches Bild der Spiritualität in der Diakonie, so wird die Beschreibung dadurch erschwert, dass die Diakonie in ganz unterschiedlichen Tätigkeitsfeldern aktiv ist und entsprechend diverse Organisationen ausgebildet hat. Ihr Hilfespektrum reicht von professionellen Diensten in spezialisierten Facheinrichtungen (z. B. Suchtkliniken oder Kliniken für Epilepsie) über alle Handlungsfelder der Sozialen Arbeit bis zu zivilgesellschaftlichen Bewegungen wie z. B. der Tafelarbeit oder der Hospizbewegung. Entsprechend vielfältig sind die Trägerorganisationen aufgestellt und verfasst. Auch wenn es eine Tendenz zu diakonischen Unternehmen gibt (die Anzahl der Vereine nimmt ab, die der GmbHs nimmt zu), die weiterhin Mitglied eines diakonischen Landesverbands sind (daneben gibt es aber auch einen Unternehmer-Verband diakonischer Dienstgeber) gehört dazu ebenso das diakonische Engagement auf Kirchenkreis-Ebene oder von einzelnen Kirchengemeinden wie von einzelnen Christenmenschen. Zudem setzt sich die Diakonie auf politischer Ebene zur Weiterentwicklung wohlfahrtsstaatlicher Rahmenbedingungen und zugunsten sozial benachteiligter Menschen ein (auch im Rahmen der sogenannten Sozialanwaltschaft). Diakonisches Engagement findet also auf ganz unterschiedlichen gesellschaftlichen Ebenen statt und bedarf daher unterschiedlicher Zugänge zur Spiritualität.
1 Vgl. hierzu Rüegger/Sigrist, Diakonie.
Evangelische Spiritualität in der Diakonie
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Dabei kann von vornherein zweierlei hinsichtlich einer praxis pietatis in der Diakonie vermutet werden: Zum einen wird die Notwendigkeit spiritueller Besinnung besonders in Krisenzeiten erfahren, die zugleich auch potenzielle Zugangspunkte der Inanspruchnahme diakonischen Handelns darstellen. Arbeitslosigkeit, der Tod von Familienmitgliedern, Krankheiten usw. können unsere Lebenskonzepte entscheidend verändern, erfordern eine Neubesinnung und münden nicht selten auch in eine neue Orientierung. Zugleich schreiten die Professionalisierung und Verwissenschaftlichung diakonischer Arbeit voran und bedingen eine Sachbezogenheit, bei der spirituelle Dimensionen helfender Tätigkeiten zurücktreten und erst durch besondere Angebote wieder erschlossen werden müssen. Entsprechend wurde die Frage gestellt: „Aber ist uns, die wir in der Diakonie arbeiten, noch bewusst, dass Lebensbrüche und Krisen, Sterben und Trauern, der Kampf um Gesundheit und Heilung eben nicht nur medizinische oder soziale, sondern religiöse Herausforderungen sind?“2
Nicht umsonst gibt es heute viele Bemühungen, christliche Spiritualität in diakonischen Einrichtungen bewusst zu pflegen, ihr (wieder) einen Raum zu geben.3 Zum anderen ist zu vermuten, dass in den einzelnen Handlungszusammenhängen diakonischen Engagements unterschiedliche Formen der Spiritualität praktiziert werden. Gibt es so etwas wie eine gemeinsame Mitte derselben? Dieser Frage wird im ersten Punkt anhand des christlichen Verständnisses von Spiritualität im Gegensatz zu einem unbestimmten oder synkretistischen Spiritualitätsverständnis nachgegangen. Der zweite Punkt nimmt die evangelische Perspektive auf Spiritualität wieder auf und fragt nach der Bedeutung derselben für diakonisches Handeln. Dabei wird der Bezug der Rechtfertigung auf helfendes Handeln angesprochen, die Ausrichtung evangelischer Spiritualität auf die Gestaltung der Welt in diakonischer Hinsicht bedacht und anschließend der Frage nachgegangen, in welchen spirituellen Formen sich dies in der Diakonie niederschlagen kann. Im dritten Punkt soll der Fokus abschließend auf die Ermöglichung von Spiritualität und ihre Funktion in diakonischen Organisationen gerichtet werden.
2 Coenen-Marx, Geist Gottes, 52. 3 Vgl. Reber, Unternehmenskultur.
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Unterschiedliche Verständnisse von Spiritualität in der Diakonie
Spiritualität ist ein Ende des 19. Jahrhunderts wiederentdeckter Begriff, der aus der französischen katholischen Ordenstheologie ins Deutsche übertragen wurde.4 In der evangelischen Tradition bezieht sich Spiritualität auf die Reaktion des Menschen auf Gottes Heilshandeln in Christus und wurde früher als Frömmigkeit bezeichnet. Da Frömmigkeit heute eher Assoziationen von Enge weckt und nicht mehr so gebräuchlich ist, wird der positiver besetzte Begriff der Spiritualität verwendet.5 Nach evangelischem Verständnis wird Spiritualität durch den Spiritus sanctus bestimmt, der über Wort und Sakrament als Hilfsmittel in die Wirklichkeit der Menschen einbricht (CA V). Im Wort, das den Glauben schafft, vergegenwärtigt sich Gott selbst. Die Seele bedarf dann keiner weiteren Dinge. Entsprechend wird in CA VI ein neuer Gehorsam, nicht eine neue Spiritualität gefordert. Man kann bereits hieran erkennen, dass es im evangelischen Verständnis des Glaubens nicht um Spiritualität an sich, sondern um den Glauben und die Liebe geht. So beschreibt Luther den Christen nicht als frommen Menschen, sondern vom Glauben und der Liebe her. In seiner Schrift „Von der Freiheit eines Christenmenschen“ heißt es: „Aus dem allen ergibt sich die Folgerung, daß ein Christenmensch nicht in sich selbst lebt, sondern in Christus und in seinem Nächsten; in Christus durch den Glauben, im Nächsten durch die Liebe. Durch den Glauben fährt er über sich in Gott, aus Gott fährt er wieder unter sich durch die Liebe und bleibt doch immer in Gott und göttlicher Liebe.“6
Bereits mit dieser Bestimmung wird deutlich, dass Spiritualität in evangelischer Perspektive in der Verwurzelung der Existenz im Glauben an Christus und im Ausleben des Glaubens in der Liebe des Nächsten besteht. Wenn mit Christus dem Menschen alles geschenkt wird, sodass er im Glauben und in der Liebe in Gott leben kann – wozu sollte er dann noch spirituelle Übungen verfolgen? Aus dieser Sicht heraus wird die Skepsis verständlich, die in der evangelischen Tradition gegenüber allen Versuchen besteht, auf andere Art etwas Göttliches im Menschlichen finden zu wollen. „Den frommen, spirituellen Menschen als solchen gibt es sozusagen gar nicht! Ein Drittes neben Glauben und Liebe wird vom Evangelium nicht als Modell angeboten“.7 Im evangelischen Verständnis des Glaubens geht es daher nicht um Spiritualität an sich, sondern immer um den Glauben an Gott und die Liebe zum 4 5 6 7
Vgl. von Balthasar, Verbum Caro, 226–244. Vgl. Möller, Riss, 10. WA 7, 38. Barth, H.-M., Spiritualität, 47.
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Mitmenschen. Von dieser Glaubens-Mitte her können dann Formen geistlichen Lebens, Wege spiritueller Erfahrungen aufgenommen werden. In diesem Sinn wird im Folgenden von evangelischer Spiritualität gesprochen. Diese Bestimmung ist insofern für diakonisches Handeln bedeutsam, als der Ausübung des Glaubens in der Liebe ein hoher Stellenwert zuerkannt wird, ganz im Sinne von Pauli Diktum: wer liebt, hat die Forderung des Gesetzes Gottes erfüllt (Röm 13,8). Praktischem Helfen kann daher eine spirituelle Dimension innewohnen: in der Erfüllung des Willens Gottes wird Gemeinschaft mit Gott erfahren, wobei der Heilige Geist die Kraftquelle des Helfenden ist (Röm 8,26). In diesem traditionellen Verständnis wird evangelische Spiritualität also als Ausdruck des Glaubens an Gott verstanden, durch den Glauben inhaltlich bestimmt und vom Heiligen Geist gefüllt.8 Entsprechend formuliert Wolfgang Huber: „Der Begriff Spiritualität ist christlichen Ursprungs. Er leitet sich vom Spiritus Sanctus, vom Heiligen Geist, her. Wo der Heilige Geist Fühlen, Denken und Handeln eines Menschen bestimmt, ist sein Leben spirituell“.9
Helfen kann in evangelischer Perspektive also als ein spirituelles Geschehen erfahren werden, muss aber nicht so gedeutet werden. In der diakonischen Praxis findet man sowohl klassische Formen dieser Spiritualitätsausübung, um Hilfehandeln immer wieder in Bezug zum christlichen Glauben zu stellen und so eine Öffnung für das Wirken des Spiritus sanctus zu ermöglichen. Dazu gehören Andachten, Gottesdienste, die Feier des Abendmahls, Seelsorge, Haus- oder Gebetskreise, Bibellektüre einschließlich der Losungen zu Beginn von Sitzungen oder christliche Symbolik in der Gestaltung von Räumen. Daneben werden jedoch auch ganz andere Formen von Spiritualität von Mitarbeitenden in der Diakonie praktiziert, die von fernöstlichen Traditionen wie z. B. Reiki – der Energie-Medizin, die Menschen ermöglicht, zu ihrer Heilkraft in Beziehung zu treten, um die mentale, körperliche und emotionale Ebene ihrer Existenz zu harmonisieren – über Fantasiereisen, Atemübungen, Klangschalen, Heilsteine, Erfahrungen der Stille bis hin zu (weiteren) esoterischen Praktiken oder indianischen Riten reichen.10 Diese Formen der Spiritualität weisen auf ein anderes Verständnis derselben hin, welche Spiritualität als „anthropologische Grundkonstante“ begreift, weil der Mensch „ein spirituell begabtes und ein geistlich suchendes Wesen“ ist.11 Wird Spiritualität anthropologisch grundgelegt, bezieht 8 Evangelische Spiritualität wird in diesem Beitrag nicht grundsätzlich von katholischer oder anderen christlichen Traditionen von Spiritualität unterschieden. Insofern wird der Begriff christliche Spiritualität manchmal dazu synonym gebraucht, auch wenn er unschärfer ist. Wo Unterschiede für die Diakonie relevant erscheinen, wird auf ein spezifisches Verständnis der evangelischen Tradition hingewiesen. 9 Huber, Quellen und Perspektiven, 3. 10 Vgl. Coenen-Marx, Geist Gottes,47. 11 Götzelmann, Bildungsaufgabe, 10, Hervorhebung im Original.
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sich die Rede vom Geist (spiritus) nicht auf den Geist Gottes, sondern auf den menschlichen Geist und rückt damit in einen Gegensatz zur Körperlichkeit des Menschen.12 Dieses Verständnis scheint bei der alltagssprachlichen Verwendung des Begriffes heute zugrunde zu liegen und meint eine bestimmte Grundgestimmtheit des menschlichen Geistes, die sich in einer inneren Unruhe und dem Wunsch nach Erfahrung von Transzendenz äußert: „Vielleicht ist alle Sehnsucht das vermummte Warten auf den Grund des Lebens“.13 Die Sehnsucht des Menschen nach Ganzheit im Leben und nach etwas Größerem als der sichtbaren Welt scheint einer der Gründe für das vielfältige Angebot spiritueller Praktiken zu sein, die eine Art diffuser Religiosität darstellen und ihre Funktion im Ausgleich für eine hochgradig verzweckte und rationalisierte Alltagswelt haben. Individuelle Bedürfnisse nach Besinnung, Stille, Übereinstimmung mit sich selbst und seiner Umwelt, Sinnsuche und Lebensorientierung werden durch entsprechend vielfältige spirituelle Angebote beantwortet. Spiritualität kann dann die Bedeutung von Wellness für die Seele annehmen. Sie dient dazu, sich zu entspannen, neu bei sich selbst anzukommen, sich neu auszurichten. Das spirituelle Angebot muss dabei den Wünschen des Einzelnen nach Ganzheit und Sinn im Leben entsprechen, sodass die jeweiligen Bedürfnisse und nicht mehr so sehr die Inhalte christlicher Überlieferung für die spirituelle Praxis entscheidend sind. Entsprechend vage und offen bleibt die inhaltliche Bestimmung eines solchen Spiritualitäts-Verständnisses, sodass Spiritualität eher als ein „Containerbegriff“14 weitgehend unabhängig von Inhalten verwendet wird. Der ungebrochene Reiz, den solche spirituellen Angebote auf viele Menschen auch in der Diakonie ausüben, zeigt nicht nur ein hohes Bedürfnis nach Entlastung und Erholung jenseits vom Alltag, das von christlichen Angeboten in einer individualisierten Welt offenbar nur noch bedingt beantwortet werden kann, sondern auch ein anderes Verständnis von Spiritualität als im christlichen Glauben. Besonders im Blick auf die Ausrichtung von Spiritualität wird dies deutlich: Spirituelle Praktiken im Sinne von „Wellness für die Seele“ knüpfen bei sinnlichen Erfahrungen an, die einen Ausstieg aus der Alltagswelt ermöglichen und so zur Erholung von deren Strapazen und zur Besinnung auf das Wesentliche beitragen. Sie stellen christlich-traditionelle, besonders in der evangelischen Welt häufig kognitiv dominierte Formen geistlichen Lebens infrage. Zugleich zeigt sich an ihnen ein markanter Unterschied zur christlichen Spiritualität: denn besonders die Fokussierung auf den Ausstieg aus dem Alltag zur Entspannung der Seele würde letztlich einen theologischen Dualismus befördern, welcher in einen spirituellen Bereich der durch den Geist geschaffenen und auf Gott hin 12 Vgl. Sautter, Glaubenskurse, 47. 13 Steffensky, Erfahrung, 222, Hervorhebung im Original. 14 Sautter, Glaubenskurse, 48.
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ausgerichteten Welt und getrennt davon in einen materiellen Bereich einer „anscheinend nicht durch den Geist geschaffenen und nicht auf Gott ausgerichteten Welt“15 mündet. Christliche Spiritualität bezieht sich dagegen ausdrücklich auf die leib-seelische Ganzheit des Menschen. Die leibliche Dimension fällt genauso unter die Bestimmung des Geistes Gottes wie die seelische. Daher geht es bei christlich verstandener Spiritualität auch nicht um den Ausstieg aus der Alltagswelt mit ihren Zwängen, sondern um die Gestaltung derselben nach Gottes Willen. Gleichwohl muss man das Verhältnis von evangelischer Spiritualität und neueren spirituellen Formen nicht nur abgrenzend bestimmen. Man kann die neueren Formen auch deuten als Phänomene, die auf zugrunde liegende existenzielle Fragen hinweisen, ohne dass man sich bei der Suche nach Antworten gleich unmittelbar auf die Deutungen und Angebote, welche im christlichen Glauben gegeben werden, einlassen kann. Es könnte sich dabei um eine Annäherung an Gott über ein Drittes, nämlich andere spirituelle Wege handeln, wie sie bisweilen in der Befürwortung des stellvertretenden Gebets bei Personen sichtbar werden, die eben nicht selbst persönlich so zu beten vermögen.
2.
Evangelische Spiritualität als geistliche Grundlage diakonischen Handelns
Spiritualität wird in evangelischer Perspektive als Lebensgestaltung in der Kraft des Heiligen Geistes beschrieben, die auch die Zuwendung zum Nächsten als Ausdruck christlicher Liebe umfasst. Zugleich gibt es jedoch gewisse Vorbehalte in der evangelischen Tradition gegenüber dem Thema Spiritualität,16 die nicht nur in der oben bereits angesprochenen Relativierung geistlicher Übungen ihren Ausdruck finden, sondern darüber hinausgehend zu einer regelrechten „Geistvergessenheit“17 reichen können. Diese Reserviertheit gegenüber frommen Übungen hängt mit dem grundlegenden Verständnis des Menschen in reformatorischer Theologie zusammen. Als simul justus et peccator ist der Mensch von sich aus unfähig, ein Leben im Geist Gottes zu führen; vielmehr ist er egozentrisch in sich selbst verkrümmt und zeigt sich überaus erfinderisch im Erdenken von Spiritualitäten, die mit dem Willen Gottes nichts zu tun haben. Sogar fromme Übungen können dann den Versuch darstellen, sich selbst einen Weg zu Gott zu 15 Mildenberger, Evangelische Spiritualität, 310f. 16 Vgl. Barth, H.-M., Spiritualität, 47: „Evangelische Frömmigkeit bzw. Spiritualität ist dem Begriff nach eine problematische und der Sache nach eine abgeleitete und nachgeordnete Größe“. Ähnlich Grethlein, Christliche Lebensformen, nach dem der Protestantismus ein Problem mit der Spiritualität hatte und immer noch habe. 17 Zimmerling, Evangelische Spiritualität, 284.
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bahnen, den es abseits von Jesus Christus nicht gibt. Reformatorisch wird daher Spiritualität immer bezogen sein auf die eine Offenbarung Gottes in Jesus Christus, die sich in der Gegenwart durch das Wirken des Heiligen Geistes manifestiert.
2.1
Der Bezug evangelischer Spiritualität zum helfenden Handeln an sich
Spiritualität hat nach evangelischem Verständnis keinen „Zweck“, sondern ist ihrerseits Geschenk, Resultat göttlichen Handelns.18 Insofern kann durch Spiritualität nichts erreicht werden – weder im Sinne einer Disposition für Gottes Gnade noch im Blick auf das Kommen von Gottes Reich. Zwar sind Christen aufgerufen, für dieses zu beten, aber doch eher in dem Sinne, dadurch selbst zu einem Teil von Gottes Bewegung auf Erden zu werden, wie Martin Luther die zweite Bitte des Vaterunser ausgelegt hat: „Gottes Reich kommt auch ohne unser Gebet von selbst; aber wir bitten in diesem Gebet, dass es auch zu uns komme.“19 In dieser spirituellen Haltung des Empfangens und der Offenheit für Gottes Handeln kann diakonisches Handeln davor bewahrt werden, das eigene Engagement als Zeugnis seiner Spiritualität darzustellen.20 Zugleich kann helfendes Handeln auf individueller Ebene angesichts übergroßer Not (wer hilft, hilft nie genug) auch zur Überforderung werden. Es ist durch Vorläufigkeit, Bruchstückhaftigkeit und zum Teil auch Erfolglosigkeit gekennzeichnet, sodass das Fragmenthafte des eigenen Tuns auch zur Frustration, zur Anfechtung werden kann. Die Bewusstwerdung, dass allein „Gott (…) unsere Ganzheit“ ist,21 kann bereits eine Entlastung für die helfende Person bedeuten. Das Fragmenthafte des eigenen Tuns bis hin zur Fragmentarität des eigenen Lebens wird im christlichen Glauben so verstanden, dass nicht nur unser Tun, sondern auch unser Selbst nicht wesenhaft ganzheitlich, sondern fragmentarisch ist,22 aber in Gott die Hoffnung auf Vollendung erhält: „Es ist nun gerade der als Heilsgeschehen gedeutete Tod Jesu, der die Bruchstückhaftigkeit und Zerrissenheit des Lebens ebenso zeigt, wie er die Hoffnung auf eine höhere Vollendung unseres fragmentarischen Lebens begründet“.23 Nicht die Beseitigung jeglicher Not oder die Herstellung einer (nicht realisierbaren) Ganzheit ist Ziel diakonischen Han18 Vgl. Barth, H.-M., Spiritualität, 52. 19 BSLK, 538. 20 Vgl. Zimmerling, Evangelische Spiritualität, 16: „Einerseits befreit die Erfahrung der Rechtfertigung sola gratia dazu, den Glauben in der konkreten Lebensgestalt zu bewähren, andererseits bewahrt sie davor, das eigene spirituelle Streben zu überschätzen“. 21 Steffensky, Erfahrung, 224, Hervorhebung im Original. 22 Vgl. Luther, H., Fragment. 23 Körtner, Bedenken, 30.
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delns – das wird erst mit der Vollendung des Reiches Gottes erwartet. Im Vorletzten gibt es kein umfassendes Heilwerden der Welt, was im Blick auf das helfende Handeln den Einzelnen vor Überforderung schützen kann. Zentraler Aspekt dieses Heilsgeschehens ist die Lehre von der Rechtfertigung des Menschen, welche starke Impulse für die Ausrichtung diakonischen Handelns im Geist des Evangeliums enthält: Dieses besagt, dass Gott jeden Menschen bedingungslos annimmt und trotz seiner Verfehlungen rechtfertigt. Seine Liebe gilt ohne Grenzen jedem Menschen. Die Tendenz zum universalen Hilfsethos24 ist nur eine der daraus folgenden Orientierungen diakonischen Handelns, das zur Hilfe für jeden Menschen in Not unabhängig von religiösen, ethnischen oder sonstigen Unterschieden verpflichtet. „Innerhalb des christlichen Wirklichkeitsverständnisses, das Jesu Tod am Kreuz als integralen Bestandteil der Offenbarung von Gottes universalem Heilswillen deutet, wird jeder Mensch gewissermaßen zu einem ‚Für-den-Christus-gestorben-ist‘. Innerhalb dieses Wirklichkeitsverständnisses wird ihm damit eine Identität zugeschrieben, die ihren konkret wahrnehmbaren Ausdruck in einem Handeln für ihn findet, und zwar durch diejenigen, die ihm diese Identität zuschreiben“.25
Eine im Kreuzesgeschehen fundierte christologische Anthropologie nimmt den Nächsten folglich in einem spezifischen Sinn als Mensch, in dem uns Christus begegnet, wahr. Sie sieht die Nacktheit Christi im nackten Bettler, den Hunger Christi im Hunger der Mitmenschen und orientiert dadurch christliches Hilfehandeln als ein Geschehen auf Augenhöhe zwischen zwei Menschen, die einander wie Bruder und Schwester in Christus begegnen. Allen Formen der Überund Unterordnung, welche in dem prinzipiell asymmetrisch strukturierten Hilfegeschehen sich leicht einstellen können, weil ein Mensch auf die Unterstützung des anderen angewiesen ist, ist deshalb entgegenzuwirken. Wenn jeder Mitmensch als Bruder oder Schwester in Christus in den Blick kommt, besteht eine weitere Konsequenz daraus in der Einsicht, dass niemand aus der Gemeinschaft mit Gott ausgeschlossen werden darf. Hier ließen sich nicht nur direkte Bezüge zum Inklusionsparadigma herstellen, weil eben jeder Mensch in seinem So-Sein kommen darf, wie er ist, ohne sich zunächst ändern oder bestimmte Voraussetzungen erfüllen zu müssen, was heute vor allem im Blick auf Menschen mit Behinderung hinsichtlich eines gemeinsamen Lebens in Kirche und Gesellschaft eingeübt werden muss.26 In der vertrauenden Antwort an Gott erfährt ein Mensch dieses bedingungslose Angenommen-Sein. Eines der großen Geschenke besteht nach christlichem Glauben genau darin, dass Gott den
24 Vgl. Theißen, Bibel diakonisch. 25 Wolter, Ethisches Subjekt, 50. 26 Vgl. Eurich, Spiritualität und Inklusion, 21.
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Menschen immer schon entgegenkommt27 und ihnen seinen Geist gegeben hat, sodass Menschen Gott erkennen können.28 Vertraut ein Mensch sich Gott an, kann seine spirituelle Suche in Gott ihr Ziel finden.29 Auf Grundlage dieser geschenkten Annahme und des Vertrauens in Gottes gute Absichten mit seinen Kindern bekommt das Leben Freiheit und Spielraum – Freiheit von allen Zwängen der Selbsterfüllung oder Selbstbeabsichtigung und Spielraum zum Wahrnehmen und Sich-Einlassen auf den anderen Menschen. Auf dieser Grundlage kann die Haltung der freien Zuwendung zum Anderen aufbauen, die für menschliches Helfen deshalb bedeutungsvoll ist, weil sie vor der Verzweckung oder Instrumentalisierung des Hilfe-Handelns für Absichten, die dem Wohl des Anderen zuwiderlaufen, zu schützen vermag.
2.2
Die Ausrichtung evangelischer Spiritualität auf die (diakonische) Gestaltung der Welt
Wurden bislang vor allem Aspekte evangelischer Spiritualität benannt, die helfendes Handeln angesichts seiner Gefährdungen30 zu stabilisieren vermögen, so soll nun in den Blick genommen werden, dass evangelische Spiritualität aus der reformatorischen Haltung der Weltbejahung und der Weltverantwortung, die Familie, Beruf und Gesellschaft als Felder gottesdienstlicher Lebensführung neu entdeckt hat,31 ihren Auftrag der Lebensgestaltung empfängt. „Das ‚eigentliche‘ christliche Leben vollzieht sich nicht vorrangig im gottesdienstlichmeditativen Bereich, so sehr auch dieser konstitutiv dazugehört, oder unter monastischen Leitbildern, so hilfreich diese sein mögen, sondern genauso gut im Alltag und an dem Platz, an den der Glaubende gestellt ist“.32
Evangelische Spiritualität verwirklicht sich daher auch im professionellen Handeln als Sozialarbeiter, Pflegekraft, Therapeutin, Assistent etc. in der Diakonie. Dabei gibt es keine falsche Entgegensetzung von Geistlichem auf der einen und Alltäglichem auf der anderen Seite. Ebenso gilt für die Diakonie: „Die Frömmigkeit besteht hier gerade nicht in der Verfolgung verborgener christlicher oder 27 Vgl. Steffensky, Erfahrung, 224: „Wir brauchen uns nicht selber zu suchen; denn wir sind gefunden, ehe wir suchen“. 28 Vgl. Röm 8,16: „Gottes Geist gibt Zeugnis unserem Geist, dass wir seine Kinder sind“. 29 Vgl. Augustinus, confessiones, ed. L. Verheijen, Brepols, Turnhout 1981, I 1: „Inquietum est cor nostrum, donec requiescat in te, Domine“. 30 Vgl. zu vier grundlegenden Gefährdungen helfenden Handelns Theißen, Bibel diakonisch, 376ff. 31 Vgl. Zimmerling, Evangelische Spiritualität, 284. 32 Barth, H.-M., Spiritualität, 51.
Evangelische Spiritualität in der Diakonie
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gar kirchlicher Ziele, sondern in ‚Sachlichkeit‘“.33 Auch in den alltäglichen Vollzügen professionellen Handelns ist Gott gegenwärtig und wirkt durch seinen Geist. „Wann immer in den biblischen Traditionen Menschen zum Medium der positiven Zuwendung Gottes werden, dann sprechen die Texte vom Geist Gottes. Es sind die ganz profanen, ganz und gar technischen wie auch die menschlich empathischen Zuwendungen durch Ärztinnen und Ärzte, durch Pflegende, durch Christen, Muslime und religionslose Menschen, durch nähere und fernere Menschen, die Medien der begleitenden und tröstenden Gegenwart Gottes sind.“34
Für Helfen gilt in christlicher Perspektive: Alles Helfen kann Medium der Zuwendung des Schöpfers sein. Gott hat sich den Menschen ohne Einschränkung zugewandt und teilt nicht nur einzelne Bereiche des Lebens mit ihnen, sondern ist in allen Höhen und Tiefen menschlichen Lebens gegenwärtig. Christliche Spiritualität ist deshalb nichts Vergeistigtes, sondern Gestaltwerdung des Glaubens im gelebten Leben.35 Dietrich Bonhoeffer hat in seinen Briefen aus der Haft ein Beispiel für eine solche spirituelle Haltung gegeben und für sein eigenes Leben formuliert, er wolle nicht „ein Heiliger werden“, sondern „glauben lernen“.36 Die Diesseits-Bezogenheit des christlichen Glaubens findet ihren Ausdruck in der Hinwendung zum Leiden der Schöpfung und dem In-Dienst-Stellen des eigenen Lebens in die Gestaltung dieser Welt im Angesicht Gottes: „Später erfuhr ich und ich erfahre es bis zur Stunde, dass man erst in der vollen Diesseitigkeit des Lebens glauben lernt. Wenn man völlig darauf verzichtet hat, aus sich selbst etwas zu machen – sei es einen Heiligen oder einen bekehrten Sünder oder einen Kirchenmann […], einen Gerechten oder Ungerechten, einen Kranken oder Gesunden – und dies nenne ich Diesseitigkeit, nämlich in der Fülle der Aufgaben, Fragen, Erfolge und Misserfolge, Erfahrungen und Ratlosigkeiten leben, – dann wirft man sich Gott ganz in die Arme, dann nimmt man nicht die eigenen Leiden, sondern das Leiden Gottes in der Welt ernst, dann wacht man mit Christus in Gethsemane […].“37
Aus dieser grundsätzlichen Orientierung am Willen Gottes für diese Welt und dem Kommen seines Reiches folgt die Aufmerksamkeit für die Entwicklung dieser Welt, welche sich als Haltung der Wachsamkeit in gesellschaftlicher Verantwortung manifestiert. Ihr entspricht ein Einsatz „in der Fülle der Aufgaben, Fragen, Erfolge und Misserfolge“,38 welcher auch einen Widerspruch gegenüber einer einseitigen Orientierung an anderen gesellschaftlichen Leitbildern etwa des 33 34 35 36 37 38
Ebd., vgl. von Oppen, Mensch. Thomas, Behinderung, 87. Huber, Quellen und Perspektiven, 3. Bonhoeffer, Widerstand und Ergebung, 248. Ebd. Ebd.
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Erfolgs, der Schönheit, der Stärke beinhaltet, weil diese die Humanität untergraben und schwache Menschen ins Abseits stellen.39 Spiritualität befördert ein inneres Sensorium, mit dem immer wieder neu das Lebensdienliche von dem Lebensabträglichen unterschieden werden kann. Sie erhebt ihre Stimme gegen die Kommerzialisierung des Lebens, protestiert gegen die „Ökonomisierung der Seele“.40 Sie achtet auf das geknickte Rohr, übt sich in Solidarität mit den Schwachen, erkennt Gott in der Barmherzigkeit, wie ein bekanntes Wort des französischen Bischofs Jacques Gaillot besagt: „Wer in Gott eintaucht, taucht neben den Armen wieder auf“.41 Christliche Spiritualität beinhaltet deshalb immer eine diakonische Dimension. Sie ist nicht zu trennen von der Solidarität mit den Benachteiligten und Ausgegrenzten dieser Welt. Damit setzt sie Zeichen und bildet ein Gegengewicht gegen den Materialismus und die Verwertungskultur unserer Zeit. „Der Zwang, alles zu beherrschen, nichts ungenutzt zu lassen, hat in unserer Gesellschaft quasi-religiöse Züge angenommen. Es bedarf darum auch der Gegenkraft der Religion, um diesem Zwang Einhalt zu gebieten.“42
2.3
Formen evangelischer Spiritualität in der Diakonie
Fulbert Steffensky beschreibt Spiritualität als „geformte Aufmerksamkeit“.43 Der Weltgestaltung geht die Aufmerksamkeit für die zu entdeckenden Spuren Gottes in der Welt voraus. „Spiritualität ist eine Lesekunst. Es ist die Fähigkeit, das zweite Gesicht der Dinge wahrzunehmen: die Augen Christi in den Augen des Kindes, das Augenzwinkern Gottes im Glanz der Dinge“.44 Diese Aufmerksamkeit im alltäglichen Leben, die Steffensky weiter als „Vorhof der ausdrücklich religiösen Spiritualität“45 bezeichnet, muss eingeübt werden. „Die innere Fähigkeit zu sehen, zu hören, zu schmecken, was von Gott kommt, kann man schulen“.46 Ähnlich schreibt Steffensky: „Spiritualität ist Handwerk, sie besteht nicht aus der Genialität von religiösen Sonderbegabungen“.47 Dieses „Handwerk“ mit seinen Regeln kann dabei helfen, in den alltäglichen Routinen Gottes Spuren in der Welt zu entdecken. Sie braucht feste Orte und Zeiten, ohne dabei zu eng zu werden und 39 40 41 42 43 44 45 46 47
Claß, Aspekte, 289. Huber, Quellen und Perspektiven, 1. Zit. nach Steffensky, Erfahrung, 225. Claß, Aspekte, 288. Steffensky, Erfahrung, 225. Steffensky, Erfahrung, 226. Ebd., Hervorhebung im Original. Coenen-Marx, Geist Gottes, 54. Steffensky, Erfahrung, 227.
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die innere Freiheit zu normieren. Deshalb sind die Formen von Spiritualität nicht gering zu achten, auch wenn diese gerade in christlicher Tradition nicht den Reiz des Neuen versprühen. Hier gilt es, sich alte Schätze neu zu erschließen, indem morgens oder abends ein Psalm in Ruhe gebetet oder ein Abschnitt aus dem Evangelium gelesen oder der Tag mit den Losungen begonnen wird.48 Indem man einübt, das „zweite Gesicht der Dinge“ zu lesen, eröffnet sich ein anderes Verhältnis zur geschöpflichen Welt: Spiritualität lehrt Ehrfurcht und Ergriffenheit vor dem Leben und nimmt wahr, was ihm angetan wird. „Spiritualität ist eine Haltung, die das Leben in ihren Mittelpunkt nimmt und es gegen alle Mechanismen des Todes schützt und fördert“, sagt Leonardo Boff.49 Sie bezeichnet daher eine Haltung, die die Dinge des Lebens als Gaben ehrt und nicht unbedacht oder wie selbstverständlich über sie verfügt und sie einfach den eigenen Zwecken unterwirft. Deshalb fängt die Frage nach den Formen von Spiritualität mit der Frage an: Kann ich wahrnehmen und aufmerken? „Wie lese ich die Schmerzen der Menschen und wie lasse ich mich von ihnen berühren? Wie gehe ich um mit den Dingen des alltäglichen Lebens? Bin ich fähig, sie als Gaben zu ehren oder bin ich ausschließlich Benutzer und Verfüger der Welt?“50
Diese Haltung der Achtsamkeit wird umso wichtiger, je stärker technisierte Verfahren medizinische und pflegerische Kontexte prägen. Trotz aller technischen Geräte leben Medizin, Pflege und Therapie im direkten Kontakt mit dem Patienten auch „von der Fähigkeit, wahrzunehmen, wie Ausstrahlung, Geruch, Körpertemperatur und Stimme eines Patienten sich verändern“.51 Eine spirituelle Haltung der Achtsamkeit kann dabei helfen, den Nächsten wahrzunehmen, auf seine Lebenszeichen zu achten und nach Möglichkeiten zu suchen, seine Lebensbejahung zu unterstützen. Neben festen Zeiten und Orten sind für die Einübung von Spiritualität auch gemeinschaftliche Formen hilfreich, die auch in der Diakonie wiederentdeckt werden können.52 Letztere sind in der evangelischen Tradition durch die Betonung der subjektiven Seite des Glaubens teilweise aus dem Blick geraten und dadurch auch die Bedeutung der christlichen Gemeinschaft für Spiritualität.53 Bereits gemeinsames lautes Lesen und Vorlesen, Erzählen, Singen und Spielen biblischer Texte erschließen neue Dimensionen, die Körper und Seele, den ganzen Mensch gerade bei diakonischem Handeln einbeziehen können. Damit 48 Vgl. ebd.: „Wenn dies nicht möglich ist, liegt es nicht an der Hektik und der Überlast unseres Berufes, sondern daran, dass wir falsch leben“. 49 Zit. nach Coenen-Marx, Geist Gottes, 54. 50 Ebd. 51 Ebd. 52 Vgl. Dressler, Diakonie und Spiritualität; Rannenberg, Diakonische Unternehmen. 53 Zimmerling, Evangelische Spiritualität, 284f.
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spirituelle Formen nicht erstarren, bedürfen sie der Aneignung und Vermittlung auf kreative Weise. Hier kann viel von neueren Formen der Spiritualität gelernt werden, auch wenn bei evangelischer Spiritualität die Orientierung am Christusgeschehen erfolgt. Dieses weist daraufhin, dass Formen zwar eingeübt werden können, Spiritualität aber nicht erzwingbar ist. Sie „entwickelt sich von selbst und entzieht sich immer wieder gezielter Beeinflussung“.54 Gerade deshalb muss immer wieder neu der Augenblick transparent werden für den Weg Gottes mit dem Einzelnen. Spiritualität lebt in diesem Sinne zwischen Alltagsroutinen und Gottes Augenblicken. Auch wenn es christlicher Spiritualität um die Formung einer spezifischen inneren Haltung geht, so zielt sie dennoch nicht auf beabsichtigte Erfahrungen der eigenen Innerlichkeit. Gerade in der Diakonie wird Spiritualität vielmehr die Dimension des Leibes beachten. Sie sieht den ganzen Menschen in seiner Leiblichkeit, d. h., sie versucht, ihn in der Gestalt seines gelebten Lebens wahrzunehmen und von daher seine Bedürfnisse zu beantworten. Pflege wird dann nicht nur die Versorgung des Körpers oder die Ruhigstellung des Geistes bedeuten. Einen Menschen zu pflegen heißt, in eine Beziehung zu ihm zu treten, die ihn in seinem So-Sein wahrnimmt und auch das Recht zugesteht, bedürftig zu sein und ihm in seiner Bedürftigkeit zu geben, was er braucht, was ihm hilft und was ihm gut tut. „Wo ein Mensch aus Fleisch und Blut durchsichtig wird für Gott, wird diakonische Arbeit zu einer Herausforderung, die auch die Helfenden verändert“.55 Dies kann durchaus in einer doppelten Hinsicht geschehen: zum einen kann das Berührt-Werden durch den Anderen dazu führen, über das eigene Leben nachzudenken, die elementaren Dinge des Lebens bewusster wahrzunehmen und vielleicht neu zu entdecken, wie man selbst lebt. „Das ermöglicht einen neuen Zugang zum Glauben, ein neues Verständnis biblischer Texte – erfahrungsorientiert und nicht dogmatisch. Diese diakonische praxis pietatis verändert die Perspektive auf unseren Alltag: ein gutes Essen mit Freunden, eine Reise in die Fremde, einen schönen Pullover kaufen, nach einer Krankheit gesund werden, ist ein Geschenk. Es anzunehmen, gehört zur Barmherzigkeit gegen sich selbst“.56
Zum anderen kann das Berührt-Werden durch den Anderen dazu führen, dass man sich verstärkt abschottet. „Jeder echte Kontakt mit einem Menschen aus Fleisch und Blut macht uns verletzlich“.57 Eine natürliche Reaktion darauf ist, Schutzmechanismen aufzubauen, Mauern um die eigene Verletzlichkeit zu ziehen, weil man – gerade in der Profession des Helfens – nicht jede Not an sich heranlassen kann – innere Erschöpfung und Ausgebrannt-Sein wären sonst die 54 55 56 57
Götzelmann, Bildungsaufgabe, 18. Coenen-Marx, Geist Gottes, 55. A. a. O., 58, Hervorhebungen im Original. Sam Keen, zit. nach ebd.
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unvermeidbare Folge. Abschottung und innere Unempfindlichkeit bedeuten jedoch die Gefahr, an gelingender Begegnung vorbeizugehen und die Spuren Gottes im Alltag nicht mehr wahrzunehmen. Besonders in den von organisationalem Effizienzdruck getriebenen diakonischen Handlungsvollzügen ist das Moment des Innehaltens und Wahrnehmens schwieriger zu berücksichtigen. Die Herausforderung besteht darin, unter den vorgegebenen Rahmenbedingungen – in der Pflege etwa der hohen Taktung pflegerischer Tätigkeiten – nicht selbst der Verzweckung des Lebens zu erliegen. „Wir wissen das“, schreibt Cornelia Coenen-Marx. „Aber wer hat die Zeit, die Fragen hinter den Fragen zu hören? Die Pflegenden? Selten. Die Atemtherapeutin, die Bewegungstherapeuten? Vielleicht? Die Krankenhausseelsorger? Viele Gesprächspartner – aber wer nimmt wirklich eine Beziehung auf ?“.58 Der Freiraum für Unterbrechungen muss immer wieder unter Zeitmangel und gegen Verwertungsdruck erkämpft oder zumindest bewusst hergestellt werden. Allerdings darf diese Herausforderung nicht einfach auf die individuelle Ebene etwa der Pflegekraft verlagert und dieser ohne entsprechende (zeitliche) Möglichkeiten zur Gestaltung aufgebürdet werden. Sie ist vielmehr als Leitungsverantwortung zu definieren und muss strukturell bearbeitet werden, indem die Organisationskultur59 spirituell gestaltet wird. Inzwischen gibt es unterschiedliche, in der Praxis erprobte Ansätze, um durch eine Unterbrechungskultur, eine Reflexionskultur, eine Kultur existenzieller Kommunikation, eine Gebetskultur etc. eine „christlich-spirituelle Unternehmenskultur“60 auszubilden, die den einzelnen Mitarbeitenden Freiräume für die spirituelle Vertiefung diakonischen Handelns eröffnet.61
3.
Spiritualität in diakonischen Organisationen
Wurde bislang danach gefragt, wie evangelische Spiritualität und diakonisches Handeln zusammenhängen, soll nun der Fokus auf die Ermöglichung von Spiritualität und ihre Funktion in diakonischen Organisationen gerichtet werden. Auch hier gibt es eine reiche diakonische Tradition, die im 19. Jahrhundert bis weit in das 20. Jahrhundert hinein von Diakonen/innen und Diakonissen geprägt wurde. Diese verkörperten ein spezifisches diakonisches Ethos, dessen inhaltliche Bestimmung aus der jeweiligen Glaubenstradition herrührte und oftmals erwecklich-pietistisch ausgerichtet war. Bekannt sind aber auch Aussagen wie die
58 59 60 61
A. a. O., 53. Vgl. Hofmann, Diakonische Unternehmenskultur. Vgl. Reber, Unternehmenskultur. Vgl. auch Bd. 1 und Bd. 2 der Reihe Geistesgegenwa¨ rtig pflegen, Neukirchen-Vluyn 2013f.
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folgende des Lutheraners Wilhelm Löhe, die sich tief in das kulturelle Gedächtnis eingegraben haben: „Was will ich? Dienen will ich. Wem will ich dienen? Dem Herrn in seinen Elenden und Armen. Und was ist mein Lohn? Ich diene weder um Lohn noch um Dank, sondern aus Dank und Liebe; mein Lohn ist daß ich dienen darf“.62
Darin spiegelt sich eine Frömmigkeitspraxis wider, die demütige Selbstverleugnung, Entäußerung, ständige Dienstbereitschaft, Unterwerfung unter eine (männliche) Autorität als Kennzeichen diakonischen Dienstes verstand und sich durch Verinnerlichung in Gebet und durch gemeinschaftliche Formen eine sich selbst versagende Haltung in der Nachfolge Jesu im diakonischen Dienen bewahrte. Dieses wirkmächtige Erbe muss jedoch insofern ergänzt werden, als es ganz unterschiedliche Formen auch des weiblichen Engagements in der Diakonie gab, die ebenso weibliche Führungspersönlichkeiten in großer Unabhängigkeit kannte.63 Gleichwohl standen mit den Diakonissen als Repräsentantinnen einer christlichen Grundhaltung den Heimen der Inneren Mission Mitarbeitende zur Verfügung, die aus christlicher Liebe heraus oder zumindest verbunden mit christlicher Frömmigkeit ihren diakonischen Dienst ausübten und nach außen hin durch ihre Tracht den christlichen Anspruch signalisierten. Auch wenn manche im Nachhinein an den gelebten Formen und der Art des Dienstes Kritik üben, so prägten die Diakonissen maßgeblich das geistliche Klima eines Hauses und die darin ausgeübte Frömmigkeitspraxis. Heute wirkt ein solches Handlungsethos antiquiert und die Versagung persönlichen Glücks, Selbstlosigkeit im Dienst und Selbsthingabe an den Nächsten erscheinen als unangemessene Relikte aus der Frühzeit der Diakonie, deren Spiritualität in zeitgemäße Formen zu überführen ist. Trotzdem gilt auch heute für christliche Spiritualität das neutestamentliche Paradoxon vom Lebensgewinn durch Lebensverlust,64 welches für spirituelle Erfahrungen eher Selbstvergessenheit als beabsichtigte Selbsterfahrung anzeigt.65 Gleichwohl müssen andere, zeitgemäße Zugänge zu solchen spirituellen Erfahrungen gebahnt werden. Stichworte dafür lauten nach Corinna Dahlgrün: die Bezogenheit des Menschen beachten, Ansetzen bei spirituellen Erfahrungen oder der Suche danach, aktives Tun und Gestalten aus der Spiritualität heraus, Entwicklung einer inneren Haltung, Reflexion des Gelebten.66 Entsprechend schlägt sie folgendes Verständnis von Spiritualität heute vor: 62 63 64 65
Wilhelm Löhe, zit. nach Deinzer, Löhes Leben, 179. Vgl. Schmidt, Vorwort. Vgl. Mk 8,35. Vgl. Hermission, Spiritualität, 463. Vgl. auch Steffensky, Erfahrung, 226: „Es kann wohl nur der ein spiritueller Mensch werden, der die […] Kunst gelernt hat, sich zu lassen, sich zu vergessen und sich selber nicht zu beabsichtigen“. 66 Vgl. Dahlgrün, Spiritualität, 55.
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„Christliche Spiritualität ist die von Gott hervorgerufene liebende Beziehung des Menschen zu Gott, zu sich selbst und zur Welt, in der und der entsprechend der Mensch immer von neuem sein Leben gestaltet und die er nachdenkend verantwortet“.
In dem Maße, wie ein spezifisches diakonisches Ethos sich nicht mehr in der Breite auf den gelebten Glauben der Mitarbeitenden selbst stützen kann, wird alternativ versucht, über die Thematisierung und Fixierung theologischer Grundlagen für Organisationszwecke die christlichen Grundlagen der Diakonie organisational zu verankern: Solche „Theologisierungen“ haben jedoch das Manko, dass sie sich zwar auf eine im Leben verankerte Glaubenspraxis beziehen und diese reflektieren können, aber nie an deren Stelle zu treten vermögen. Instrumente wie Leitbilder können zwar für die Kommunikation der Wertebasis und Leitvorstellungen der Organisation nach innen und außen eingesetzt werden, stellen aber keinen Ersatz für gelebten Glauben dar. Folglich wurde darüberhinausgehend nach Ansätzen gesucht, wie die christliche Ausrichtung einer diakonischen Organisation gewährleistet und in der Praxis realisiert werden kann. Hier kann auf die bereits erwähnten Konzepte einer diakonischen Unternehmenskultur verwiesen werden, die z. B. christliche Rituale bei der Begrüßung oder Verabschiedung von Mitarbeitenden genauso vorsehen wie Andachten bzw. Gottesdienste oder seelsorgerliche Begleitung in diakonischen Einrichtungen. Dementsprechend geht es darum, einerseits ein Bewusstsein für die Notwendigkeit von Spiritualität zu schaffen und die Mitarbeitenden im christlichen Glauben sprachfähig zu machen, etwa durch Angebote zur Glaubensbildung in Seminarform. Neben diesen oftmals sehr niederschwellig angebotenen Fortbildungsmöglichkeiten gilt es andererseits, christliche Rituale (wieder) mit Leben zu füllen und im Organisationsalltag wirkungsvoll einzusetzen. Jedoch ist heute die Mitarbeiterschaft in der Diakonie fast genauso pluralistisch verfasst wie unsere Gesellschaft. Religion wird auch in einem „Tendenzbetrieb“, der zur Kirche gehört, letztlich als Privatsache angesehen. Auch wenn viele Mitarbeitende bewusst bei der Diakonie arbeiten und ihre christlichen Grundsätze bejahen, kann gleichwohl auf diese Weise kein Zugang zu einer christlichen Lebenshaltung erzwungen werden. „Die religio¨ se Deutbarkeit des Hilfeethos fu¨ hrt jedoch entgegen theologischem Wunschdenken nicht dazu, das Helfen durchweg in religio¨ se Bestimmtheit zu u¨ berfu¨ hren. Geholfen wird im Alltagsvollzug aus einem humanen Ethos heraus, aus Berufspflicht bzw. aufgrund der Regeln des Organisationsprogramms“.67
Wer daher die religiöse Lesart helfenden Handelns als Voraussetzung zur Mitarbeit in der Diakonie macht, „u¨ berfordert nicht nur regelma¨ßig Menschen, die 67 Moos, Kirche bei Bedarf, 267.
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in der Diakonie arbeiten; sie wird auch ihrer eigenen Motivationslage nicht ge¨ berfremdung verstanden“.68 recht und von daher als theologische U Aufschlussreich sind hierzu auch die Ergebnisse einer Untersuchung des Sozialwissenschaftlichen Instituts der EKD mit dem Titel „Aus der Kraft des Glaubens pflegen? Oder Wie geht’s Pflegenden in diakonischen Krankenhäusern?“.69 So ergibt die Studie zum einen, dass die religiös bedingten Ressourcen für das Verhältnis von Arbeitszufriedenheit und Sinnerleben im Beruf und für das Phänomen des „Burn outs“ keine signifikante Rolle spielen. Zum anderen hegen nur ca. 10 Prozent der antwortenden Pflegepersonen den ausgeprägten Wunsch nach Informationen über den Glauben und/oder religiöse Angebote. Dagegen wünschen sich 26 Prozent starke Unterstützung im Umgang mit Sinnfragen. Dazu ist anzumerken, dass natürlich auch der christliche Glaube einen Beitrag zum Umgang mit Sinnfragen leistet. Dass dies von den Pflegekräften aber größtenteils nicht gesehen wird, weist darauf hin, dass durch explizite Angebote die Orientierungskraft des christlichen Glaubens deutlich gemacht werden muss – sie kann nicht mehr als gegeben vorausgesetzt werden. Gleichzeitig zeigt diese Untersuchung aber auch an, dass die obligatorische Teilnahme an Weiterbildungsangeboten zum christlichen Glauben keinen Sinn machen würde; denn laut der Studie zeigen lediglich ca. 15 Prozent der Mitarbeitenden Interesse und Offenheit für derartige Angebote, was in etwa den Zahlen für die Hochreligiösen in Westdeutschland entspricht, die der Bertelsmann Religionsmonitor ausweist.70 Verpflichtende Glaubenskurse, die auf die Missionierung von Mitarbeitenden der Diakonie abzielen, würden – ganz abgesehen von dem fragwürdigen Aspekt der Vereinnahmung – allein schon aus dem Grund kontraproduktiv wirken, dass die Mehrheit der Mitarbeitenden laut der o.g. Erhebungen dafür nicht empfänglich ist und dahinter eher Versuche der weltanschaulichen Indoktrination sehen würden, die zu einer entsprechend ablehnenden Haltung gegenüber solchen Angeboten führt. Stattdessen ist die Diakonie vielmehr gefordert, christliche Grundsätze im Führungshandeln sowie innerhalb der (Unternehmens-) Kultur einer Einrichtung zu integrieren und sichtbar zu machen.71 Hier gilt, dass die Diakonie an ihren eigenen Prinzipien und Glaubenssätzen bemessen wird. Mangelnde Glaubwürdigkeit innerhalb der eigenen diakonischen Organisation wird von Mitarbeitenden sofort erkannt und durchkreuzt alle wohldurchdachten Weiterbildungsangebote zu Glaubensfragen. Daher versuchen jüngste Arbeiten, Spiritualität als vornormative Grundlage diakonischer Organisationen zu etablieren und in allen Organisationsvollzügen 68 A. a. O., 268. 69 Vgl. Lubatsch, Führung. Siehe auch unter: www.ekd.de/si/download/Lubatsch_ Vortrag_18.6.pdf. 70 Vgl. Bertelsmann Stiftung, Woran glaubt die Welt, 769ff. 71 Vgl. Lubatsch, Führung; vgl. Hoffmann, Diakonische Unternehmenskultur.
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als wesentliches Gestaltungselement fest zu verankern bzw. bei organisationalen Entscheidungen von Führungskräften wirksam einfließen zu lassen.72 Inwiefern evangelischer Spiritualität auch eine hilfreiche Funktion auf organisationaler Ebene zukommen kann, soll durch den Bezug auf die Rechtfertigung angedeutet werden: So kann die Rechtfertigungslehre als kritisches Korrektiv für eine Hilfsorganisation fungieren, da sie um die Ambivalenz moralischer Überzeugungen weiß und daher eine mögliche Selbstrechtfertigung der Organisation durch moralische Begründungen zu relativieren vermag. Sie stimuliert folglich selbstreflexiv eine realistischere Selbstwahrnehmung der Organisation, wodurch es zu rekursiven und iterativen Lernprozessen in der Organisation kommt, die zur Weiterentwicklung des eigenen diakonischen Selbstverständnisses in Auseinandersetzung mit Anfragen aus ihrer Umwelt führen.73 Wolfgang Maaser bezeichnet diesen Vorgang als Kontextualisierungsprozess, in dem „in gewisser Weise gleichermaßen ein Einspielen und eine Auseinandersetzung“ mit eigenen und anderen Orientierungen stattfindet: „In diesem stetigen Orientierungsvorgang identifiziert sie Gemeinsamkeiten und Differenzen mit anderen, bejaht bestimmte Auffassungen oder weist sie ab.“74 Auf diese Weise kann das christliche Selbstverständnis weiterentwickelt und zugleich die Organisation kompatibel zu den Umweltanforderungen ausgerichtet werden.
4.
Ausblick
Gegenwärtige Spiritualitätspraxis und Frömmigkeitsformen des christlichen Glaubens sind nicht deckungsgleich, auch wenn der Begriff Spiritualität heute zunehmend auch für letztere gebraucht wird. Offen ist, wohin sich Spiritualität in diakonischen Einrichtungen entwickelt: In der Auseinandersetzung mit dem Konzept der Spiritual Care hat Isolde Karle deutlich gemacht, dass bei diesem grundlegende Unterschiede zur Krankenhaus-Seelsorge etwa in diakonischen Krankenhäusern bestehen. Denn bei der Suche nach Spiritualität geht es „nicht unbedingt um die Suche nach Gott, sondern eher um die Suche nach dem Ich, um die Suche nach Sinn in Situationen, die als unbarmherzig kontingent erfahren werden, […]“.75 Spiritualität befindet sich an den „unscharfen Rändern des religiösen Feldes“76 und ist ein synkretistisches Phänomen, das aufgrund seiner Unbestimmtheit gerade dazu geeignet sei, Unbestimmbarkeit und Kontingenz zu 72 Vgl. Einig, Wie im Himmel so auf Erden; Deutscher Caritasverband, Entscheidungsfindung. 73 Maaser, Wolfgang, Kirche und Diakonie. Anmerkungen zu einem spannungsreichen Verhältnis, in: Paul Philippi, Begriff und Gestalt. Zu Grund-Sätzen der Diakonie, im Erscheinen. 74 Maaser, Kirche und Diakonie, 32. 75 Karle, Krankenhausseelsorge, 545, Hervorhebung im Original. 76 Graf, Wiederkehr, 245.
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symbolisieren. Die Inhalte der Religion, die Kommunikation bestimmter Wertorientierungen und Haltungen treten daher zurück hinter der Authentizität des Sprechens, so dass sich religiöse Kommunikation „zunehmend von Inhalten unabhängig macht“.77 Die inhaltliche Entleerung religiöser Sprache birgt jedoch ein Problem in sich: „Religion ist in ihrer historisch gewachsenen Gestalt immer auf konkrete Inhalte, Rituale und Sozialformen bezogen und kommunikativ verfasst. Wird Religion abstrakt und vage definiert, wird sie entkörperlicht und entsinnlicht, formalisiert und schematisiert. Übrig bleibt ein fleischloses Gerippe, dem das Wesentliche verloren ging“.78
Auch wenn die Vagheit des Spiritualitätsbegriffs eine große Offenheit impliziert, ist der Preis, der dafür zu zahlen ist, hoch: „Es ist der Preis der Entkonkretisierung und Entsinnlichung von Religion“.79 Evangelische Spiritualität in der Diakonie wird sich daher darauf konzentrieren müssen, die religiösen Sprach- und Sinnformen als unverzichtbare Ressourcen in diakonischen Handlungsfeldern präsent zu halten, will sie nicht der Gefahr erliegen, ihren auf Transzendenz, auf Gott verweisenden Charakter zu verlieren.80 In diesem Zusammenhang ist zu überlegen, inwiefern in der Diakonie eine „persönliche Spiritualität“ gepflegt werden kann.81 Diese bedarf Möglichkeiten und Gelegenheiten, sich alleine oder zusammen mit wenigen anderen bewusst aus dem helfenden Alltag herauszuziehen, um die eigene Betroffenheit oder Beteiligung an den Ereignissen des Alltags zu bedenken, nachzuerleben, neu aufzurufen – und das alles in der Präsenz Gottes. Vielfältige Formen sind dafür denkbar, traditionelle wie neuartige, unter Umständen auch solche aus anderen Kulturkreisen. Religiöse Tradition ist in ihrer Sprache und ihren Formen auch abständig, aber gerade das eröffnet Chancen, den Alltag zu durchbrechen und existenzielle Erfahrungen zu meditieren. Dies könnte für beide Seiten – Helfende wie Hilfe Empfangende – Chancen beinhalten, allein schon dadurch, dass routinisierte Abläufe immer wieder unterbrochen, ein neues Wahrnehmen ermöglicht und damit ein wechselseitiges Beziehungsgeschehen eröffnet und so eine für diakonisches Handeln wesentliche Dimension der Zuwendung befördert würde.
77 78 79 80 81
Nassehi, Versuch, 40, zitiert nach Karle, Krankenhausseelsorge, 545. Karle, Krankenhausseelsorge, 552. A. a. O., 554. Vgl. a. a. O., 552. Die folgenden Anregungen verdanke ich Heinz Schmidt.
Evangelische Spiritualität in der Diakonie
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Evangelische Spiritualität in der Diakonie
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Rochus Leonhardt
Evangelische Spiritualität und Prophetie
1.
Hinweise zur Begrifflichkeit
1.1
Spiritualität
Dass der Begriff der Spiritualität mehrschichtig und missverständlich ist, weshalb er sich „nicht eindeutig definieren“ lässt,1 darüber besteht schon lange Einigkeit. Dies gilt insbesondere im Blick auf die Verhältnisbestimmung von Spiritualität und Frömmigkeit.2 Ungeachtet dessen, dass sich angesichts der zahlreichen verschiedenen Zugänge zur Profilierung des Spiritualitätsbegriffs keine Bestimmung formulieren lassen wird, die allgemein zustimmungsfähig ist, soll hier, wo es um den Zusammenhang von Spiritualität und Prophetie geht, dennoch ein bestimmtes Verständnis von Spiritualität zugrunde gelegt werden. Den Ausgangspunkt bildet dabei die von dem Kirchenhistoriker Ulrich Köpf stammende Feststellung, nach der Spiritualität als „ein elitäres Phänomen in der Geschichte der christlichen Frömmigkeit“ zu gelten hat.3 Damit ist gesagt, dass von Spiritualität immer dann die Rede ist, wenn Ausprägungen christlicher Frömmigkeit angesprochen werden, die insofern außergewöhnlicher Art sind, als sie nur von einem (zumeist kleinen) Teil der Christinnen und Christen gelebt und praktiziert werden. Diese Präzisierung führt freilich, speziell im Blick auf evangelische Spiritualität, zu einem Problem. Denn nicht nur ist der Spiritualitätsbegriff ursprünglich im französischen Katholizismus verwurzelt.4 Vielmehr gilt auch, dass gerade die außergewöhnlichen Ausprägungen christlicher Frömmigkeit in der protestantischen Religionskultur traditionell unter dem Verdacht der Werkgerechtigkeit stehen. Es gehört jedenfalls zu den zentralen Einsichten der Rechtfertigungs1 2 3 4
Barth, Spiritualität, 11. Vgl. dazu Jaspert, Frömmigkeit. Köpf, Spiritualität II, 1593 (Hervorhebung von mir, RL). Vgl. dazu Barth, H.-M., Spiritualität, 44.
Evangelische Spiritualität und Prophetie
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theologie, dass der von Heilsgewissheit getragene christliche Lebensvollzug gerade vom Verzicht auf elitäre ‚Spiritualitäts‘-Praktiken geprägt ist, mit denen etwa Luther in Gestalt des Mönchtums konfrontiert war.5 „Gegen das monastische Berufs- und Standesethos setzte er das Leben aus dem Glauben in den Strukturen der Welt“,6 und er schärfte ein, „daß der Christ sich in einem bestimmten, von Gott gesetzten Beruf und Stand vorfindet, und daß es seine Aufgabe ist, sein christliches Leben in eben diesem Beruf und Stand zu führen“.7 Daher gilt: „Gott will nicht das besondere gute Werk, sondern den schlichten alltäglichen Gehorsam, der in gleicher Weise in den ganz unterschiedlichen Lebenszusammenhängen, in die der einzelne gestellt ist, geleistet wird“.8 – Der hier referierten Auffassung Luthers folgend hat auch die „Confessio Augustana“ von 1530 den – traditionell mit dem monastischen Lebensideal verbundenen – Begriff der christlichen Vollkommenheit neu gefasst, indem sie die perfectio christiana aus dem Kontext elitärer Spiritualität gelöst und mit der christlichen Alltagsfrömmigkeit verbunden hat, ein Vorgang, an den im späten 19. Jahrhundert Albrecht Ritschl anknüpfen konnte.9 Es scheint demnach, als müsste evangelische Spiritualität, wenn Spiritualität für außergewöhnliche Formen christlichen Frömmigkeitslebens stehen soll, als ein Oxymoron gelten. Allerdings ist in Rechnung zu stellen, dass in der Frömmigkeitsgeschichte auch des Protestantismus stets ein Bewusstsein dafür lebendig war, dass es, ungeachtet der Kritik am vorreformatorischen Werkgerechtigkeitsdenken, auch solcher Formen christlicher Lebensgestaltung bedarf, die den Sinn für die ‚Sperrigkeit‘ des Evangeliums in der Welt wach halten. Hier wäre weniger von einer elitären, als vielmehr von einer exemplarischen Spiritualität zu reden. In etwa diesem Sinne hat, um nur ein prominentes Beispiel zu nennen, Adolf von Harnack in der letzten seiner Vorlesungen zum Wesen des Christentums das rechtfertigungstheologisch begründete Verschwinden des Mönchtums – und damit den Ausfall solcher Exemplarität – als eine Schattenseite der Reformation und einen Hemmungsfaktor der kirchlichen Entwicklung bezeichnet. Jede Gemeinschaft nämlich braucht, so Harnack,
5 6 7 8 9
Vgl. dazu Köpf, Mönchtum; Lexutt/Mantey/Ortmann, Reformation und Mönchtum. Stegmann, Auffassung, 372f. A. a. O., 374. A. a. O., 375. Vgl. dazu auch Schwarz, Lehrer, 391–442, bes. 407–430. Vgl. dazu Confessio Augustana 27,49: „[C]hristliche Vollkommenheit besteht darin, mit Ernst Gott zu fürchten, und doch darauf zu vertrauen, dass wir um Christi willen einen gnädigen Gott haben, und in solchem Glauben zuzunehmen und ihn zu üben, Gott anzurufen, Hilfe von Gott zu erwarten in allen Sachen, und äußerlich gute Werke, die Gott geboten hat, zu tun, ein jeder nach seinem Beruf“. – Hier zitiert nach: Amt der VELKD (Hg.), Unser Glaube, 87; vgl. BSELK 176,5–9 (Editio princeps); 181,28–182,28–34.183,1–8 (Marburger Handschrift). Ferner: Ritschl, Vollkommenheit, 43–65. Dazu insgesamt: Leonhardt, Erlösungsreligion, bes. 48–51.
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Rochus Leonhardt
„Persönlichkeiten, die ausschließlich ihrem Zwecke leben; so braucht auch die Kirche Freiwillige, die jeden anderen Beruf fahren lassen, auf die ‚Welt‘ verzichten und sich ganz dem Dienst des Nächsten widmen, nicht weil dieser Beruf ein ‚höherer‘ ist, sondern weil er notwendig ist, und weil aus einer lebendigen Kirche auch dieser Antrieb hervorgehen muß. Er ist aber in den evangelischen Kirchen gehemmt worden durch die decidierte Haltung, die sie gegen den Katholizismus einnehmen mußten. Das ist ein teurer Preis, den wir gezahlt haben“.10
Obwohl Spiritualität im evangelische Kontext also einerseits – wäre sie verstanden als besonders verdienstvolle Frömmigkeitspraxis – „eine problematische […] Größe“ darstellt, drängt doch andererseits offensichtlich auch „evangelisches Christentum auf Gestaltung von ‚Spiritualität‘“11 – im Sinne einer Bewährung des Glaubens im Leben. In Abschnitt 2 wird dies exemplarisch beleuchtet. Dabei werden solche Realisierungsgestalten evangelischer Spiritualität in den Blick genommen, die sich selbst jedenfalls auch als prophetisch verstanden haben oder verstehen. Dabei wird sich zeigen, dass es Spiritualitätsformen gibt, die durchaus elitären Charakter haben, zugleich aber auch solche, die dezidiert auf eine Durchdringung der Gesellschaft insgesamt mit christlichem Geist abzielen. Zuvor freilich ist noch der Begriff der Prophetie zu profilieren.
1.2
Prophetie
Wenn es darum geht, den Begriff der Prophetie für eine Herausarbeitung der prophetischen Dimension evangelischer Spiritualität fruchtbar zu machen, kann das im alten Israel verwurzelte Prophetentum, auch wenn sich das Phänomen der Prophetie in diesem Kontext „am deutlichsten und zahlenmäßig stärksten“ zeigt,12 kein exklusiver Bezugspunkt sein. Vielmehr geht es nachfolgend zunächst um eine – hier im Anschluss an Max Weber vorgenommene – religionssoziologische Bestimmung des Prophetentums, der, neben der biblischen Tradition, auch analoge Überlieferungen aus anderen Religionen zugrunde liegen. Anschließend wird – dieses Mal im Anschluss an Paul Tillich – skizziert, inwiefern die prophetische Haltung als Spezifikum protestantischer Religiosität gelten kann. (1) „Wir wollen hier unter einem ‚Propheten‘ verstehen einen rein persönlichen Charismaträger, der kraft seiner Mission eine religiöse Lehre oder einen göttlichen Befehl verkündet“.13 Die „Verkündigung einer religiösen Heilswahrheit kraft persönlicher Offenbarung“ kann dementsprechend „als das entschei10 11 12 13
Harnack, Wesen des Christentums, 253f. Barth, H.-M., Spiritualität, 47f. Klein, Propheten/Prophetie I, 474,14. Weber, Wirtschaft und Gesellschaft, 177,18–20.
Evangelische Spiritualität und Prophetie
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dende Merkmal des Propheten festgehalten werden“.14 Diese Formulierungen entstammen dem Prophetenkapitel von Max Webers Religionssoziologie, die in den zweiten Teil des nach Webers Tod aus mehreren Textcorpora kompilierten opus magnum „Wirtschaft und Gesellschaft“ gehört, das erstmals 1921/1922 von Marianne Weber herausgegeben wurde und als erster und zweiter Halbband der 3. Abteilung des „Grundriß der Sozialökonomik“ erschien. In der hier verwendeten kritischen Edition haben die Herausgeber den Text der Religionssoziologie unter die Überschrift „Religiöse Gemeinschaften“ gestellt. Weber untersucht und vergleicht in seinen Ausführungen u. a. eine Reihe von religiösen Spezialisten, zu denen, neben dem Propheten, der Zauberer und der Priester gehören. Die zitierte Charakterisierung macht die Gemeinsamkeiten und Unterschiede gegenüber den beiden anderen Protagonisten deutlich. Der Prophet wird vorgestellt einerseits als ein rein persönlicher Charismaträger.15 Vom Priester unterscheidet ihn dies insofern, als dieser, selbst wenn auch er über persönliches Charisma verfügen mag, doch „als Glied eines vergesellschafteten Heilsbetriebs durch sein Amt legitimiert“ ist.16 Die Legitimation des Propheten wurzelt dagegen exklusiv in seiner persönlichen Gabe, ein Charakteristikum, das ihn mit dem Zauberer verbindet. Andererseits, und hier wird die Differenz zum Zauberer deutlich, gilt der Prophet als Künder einer religiösen Lehre; er verkündet also „inhaltliche Offenbarungen“, und „der Inhalt seiner Mission“ besteht „nicht in Magie, sondern in Lehre und Gebot“.17 Für den Inhalt der prophetischen Verkündigung ist schließlich typisch, dass er auf einer einheitlichen Welt- und Gesellschaftsperspektive beruht: „Leben und Welt, die sozialen wie die kosmischen Geschehnisse, haben für den Propheten einen bestimmten systematisch einheitlichen ‚Sinn‘, und das Verhalten der Menschen muß, um ihnen Heil zu bringen, daran orientiert und durch die Beziehung auf ihn einheitlich sinnvoll gestaltet werden“.18
In seiner Leipziger Habilitationsschrift von 2015 hat Georg Neugebauer die These erhärtet, dass das der – namentlich im § 2 der „Soziologische[n] Grundbegriffe“ skizzierten – Weberschen Handlungstypologie zugrunde liegende historische Anschauungsmaterial der Welt der Religionen entstammt. Angesichts der Tatsache, dass Webers religionstheoretische Überlegungen maßgeblich an aktuellen und einschlägigen Debatten und Beiträgen der protestantischen Theologie um 1900 orientiert waren, ergibt sich daraus nach Neugebauer, dass sich das „pro14 A. a. O., 188,4–7. 15 Der Begriff des Charisma wird von Weber als Sammelbezeichnung für alle „außeralltäglichen Kräfte“ verwendet (a.a.O, 122,15f). 16 A. a. O., 178,18f (Hervorhebung von mir, RL). 17 A. a. O., 178,22f. 18 A. a. O., 193,19–23.
570
Rochus Leonhardt
testantische Erbe seines Denkens bis in die Soziologischen Grundbegriffe erstreckt“.19 – Im hier verfolgten Zusammenhang ist dabei Neugebauers Nachweis dafür von besonderem Interesse, dass Webers Prophetenbild Aspekte enthält, die sich „als Konstruktionselemente des idealtypischen Begriffs wertrationalen Handelns“ bestimmen lassen.20 Ungeschützter formuliert: Als Weber beim Nachdenken über die Bestimmungsgründe sozialen Handelns die wertrationale Motivation von zweckrationalen, affektuellen und traditionalen Beweggründen unterschieden hat, stand ihm das Phänomen der Prophetie vor Augen. Die für Propheten charakteristische „Verkündigung einer religiösen Heilswahrheit kraft persönlicher Offenbarung“ ist also zugleich von einer wertrationalen Motivation getragen; sie ist bestimmt „durch bewußten Glauben an den – ethischen, ästhetischen, religiösen oder wie immer sonst zu deutenden – unbedingten Eigenwert eines bestimmten Sichverhaltens rein als solchen und unabhängig vom Erfolg“.21 Diese auf die Unabhängigkeit des Handelns vom Handlungserfolg abstellende Formulierung macht deutlich, dass die Motivation wertrationalen Handeln dem entspricht, was Weber in „Politik als Beruf“ als gesinnungsethische Maxime ausgewiesen hat: „religiös geredet: ‚Der Christ tut recht und stellt den Erfolg Gott anheim‘“.22 Verantwortlich fühlt sich der (wertrational agierende und als Prophet auftretende) Gesinnungsethiker nach Weber lediglich „dafür, daß die Flamme der reinen Gesinnung […] nicht erlischt. Sie stets neu anzufachen, ist der Zweck seiner, vom möglichen Erfolg her beurteilt, ganz irrationalen Taten, die nur exemplarischen Wert haben können und sollen“.23 (2) Während für Max Webers Religionssoziologie insgesamt typisch ist, dass die handlungspraktische Bedeutung religiöser Vorstellungen im Vordergrund des Interesses steht, hat Paul Tillich, der zweifellos ein guter Kenner einschlägiger Weber-Texte war,24 auch dasjenige berücksichtigt, was man als die ‚Innenseite‘ religiöser Erscheinungen bezeichnen kann. Für Tillichs Profilierung des Prophetie-Begriffs ist in diesem Zusammenhang seine Unterscheidung zwischen sakramentaler und prophetischer Haltung von Bedeutung: „Sakramental sind alle Gegenstände und Vorgänge, in denen das Seins-Jenseitige in einem Seienden gegenwärtig angeschaut wird […]. Die prophetische Kritik löst die unmittelbare 19 20 21 22 23 24
Neugebauer, Religionshermeneutik, 375. A. a. O., 354. Weber, Grundriß, 17. Weber, Politik als Beruf 237,13–15. A. a. O., 238,10–16. Friedrich Wilhelm Graf hat 2005 betont, dass es derzeit noch kaum eingehende Studien zur Weberrezeption „in den konfessionellen Theologien und der Religionswiss.“ gibt; zugleich aber hat er einen „starken Einfluß“ jedenfalls von Webers Protestantismus-Studie auch auf Tillich notiert (Graf, [Art.] Weber, 1320).
Evangelische Spiritualität und Prophetie
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Verbindung von heilig und gegenwärtig“.25 Als sakramentale Haltung gilt also die Selbst-Verabsolutierung eines Bedingten und damit der Versuch, „das Unbedingte in den Dienst des Bedingten zu stellen“,26 eine, wie er 1934 kritisch gegen seinen langjährigen Freund und zeitweisen Kontrahenten Emanuel Hirsch geltend gemacht hat, „Heiligsprechung eines in Raum und Zeit Gegebenen“.27 Dagegen wendet sich die in prophetischer Haltung wurzelnde Kritik, und diese prophetische Kritik gilt ihm als das zentrale Charakteristikum der protestantischen Religionskultur. Denn der Protestantismus macht nach Tillich in exemplarischer Weise ernst damit, dass das Unbedingte, so sehr es einerseits „in den verschiedensten Gegenständen, Personen und Vorgängen gegenwärtig“28 sein kann, doch andererseits vom bedingten und begrenzten Sein der irdisch-geschichtlichen Wirklichkeit des Menschen und der Welt radikal unterschieden bleibt und deshalb niemals in irgendeiner konkreten irdisch-geschichtlichen Gestalt aufgehen kann. Die für den Protestantismus im Sinne Tillichs29 typische prophetische Kritik richtet sich somit gegen alle Versuche, kontingente Erscheinungsgestalten des Unbedingten religiös zu überhöhen.
1.3
Zwischenfazit
Die vorgenommenen Begriffspräzisierungen sind nicht gänzlich alternativlos – zu vielschichtig sind die mit den Termini ‚Spiritualität‘ und ‚Prophetie‘ assoziierbaren Gehalte. Für eine auf die theologische Beurteilung gegenwärtiger Phänomene abzielende Verhältnisbestimmung von evangelischer Spiritualität und Prophetie sind solche Eingrenzungen, ungeachtet ihres kontingenten Charakters, freilich unverzichtbar, dienen sie doch im Blick auf die in Abschnitt 2 vorzunehmende Darstellung von Phänomenen des Prophetischen im Kontext evangelischer Spiritualität als Maßstab einer kritischen Würdigung. Grundsätzlich wird – anknüpfend an die Hinweise in 1.1 und 1.2 – davon ausgegangen, dass praktizierte Spiritualität insofern zu unterscheiden ist von ‚gemeinkirchlicher Durchschnittsfrömmigkeit‘, als in der Regel gilt, dass sie für sich gegenüber letzterer ein Surplus im Blick auf die Realisierung christlicher 25 26 27 28 29
Tillich, Natur und Sakrament, 167. Ders., Kairos, 70. Ders., Theologie des Kairos, 151. Schüssler, Aspekte, 151. Bekanntermaßen hat Tillich das protestantische Prinzip als eine sämtliche positiven religiösen oder konfessionellen Formationen transzendierende Größe betrachtet. Vgl. dazu Tillich, Protestantisches Prinzip, 85f: „Der Protestantismus hat ein Prinzip, das jenseits jeder seiner Verwirklichungen steht […]. Er ist weder mit der Reformation noch mit dem Urchristentum, noch mit irgendeiner religiösen Form überhaupt gleichzusetzen. Es transzendiert sie alle“.
572
Rochus Leonhardt
Existenz beansprucht und insofern in der Tat als „ein elitäres Phänomen“ christlicher Frömmigkeit gelten kann.30 Dabei kann hier noch offen bleiben, inwieweit solche Spiritualität die gemeinkirchliche Durchschnittsfrömmigkeit erreichen bzw. durchdringen will. Grundsätzlich gilt aber: Indem sich die so verstandene Spiritualität den tradierten und als selbstgenügsam erlebten ‚großkirchlichen‘ Denk- und Handlungsüblichkeiten gegenüber auch – mal mehr, mal weniger dezidiert – kritisch verhalten kann, ergibt sich eine Verbindung zum Phänomen der Prophetie; denn für diese ist eben jene kritische Haltung wesentlich, die die kategoriale Differenz zwischen Bedingtem und Unbedingtem zur Geltung bringt (Tillich). Und sofern die prophetische Kritik von einer einheitlichen Welt- und Gesellschaftsperspektive getragen ist, die die Unverrechenbarkeit des Unbedingten mit der irdisch-geschichtlichen Wirklichkeit betont, eignet ihr jene aus einer spezifischen Welt-Fremdheit resultierende Verantwortungs-Losigkeit, die für den wertrational agierenden Gesinnungsethiker geltend gemacht werden kann (Weber).
2.
Phänomene des Prophetischen im Kontext evangelischer Spiritualität
Einstimmung: munus propheticum Christi und munus propheticum ecclesiae In der 1988 publizierten erweiterten Fassung seiner Habilitationsvorlesung von 1986 hat Friedrich Wilhelm Graf die von ihm damals konstatierte „Inanspruchnahme prophetischer Kompetenz“ in Theologie und Kirche beider Konfessionen einer deutlichen Kritik unterzogen.31 Dieser Text kann als ein maßgeblicher sowohl theologiegeschichtlich informierter als auch theologisch pointierter Beitrag zum Verhältnis von Kirche und Prophetie in Neuzeit und Moderne gelten. Konkret zeigt Graf exemplarisch, wie die erstmals von Calvin prominent ausgeformte Lehre von den drei Ämtern Christi, dem prophetischen, dem hohepriesterlichen und dem königlichen, dadurch in die reformierte dogmatische Ekklesiologie überspielt wurde, dass die „geschichtliche Wirksamkeit des erhöhten Christus“ (in der dogmatischen Fachsprache: das munus propheticum in statu exaltationis) als „durch die Tätigkeit seiner Kirche vermittelt“ galt.32 Infolge dessen sei „[d]urch die altreformierte Frömmigkeit […] prophetische Kritik […] kulturgeschichtlich wirksam geworden“.33 Für das Luthertum, jedenfalls was die 30 31 32 33
Köpf, Spiritualität II, 1593. Graf, Wächteramt, 88. A. a. O., 90. A. a. O., 91.
Evangelische Spiritualität und Prophetie
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altprotestantische Tradition angeht, konstatiert Graf, dass aus Christi prophetischer Amtstätigkeit im Stand der Erhöhung zunächst keine Ambitionen der Kirche auf eine „Realisierung christokratischer Ansprüche“ abgeleitet wurden.34 Dies freilich änderte sich im 19. Jahrhundert, als sich die evangelische Kirche mit einer zunehmend säkularen gesellschaftlichen Gesamtlage konfrontiert sah. Es waren nun „gerade politisch radikal konservative Theologen“, die „den Gegensatz von Kirche und moderner Kultur“ betonten und dabei „jener Ethisierung des munus propheticum Christi zum modernen Wächteramt der Kirche über die Kultur den Weg bereiten, die sich in unserem Jahrhundert dann auf breiter Front […] durchsetzt“.35 Die Beanspruchung einer „ethische[n] Superiorität der Kirche über die Gesellschaft“ weist Graf dann als eine bereits im Protestantismus der 1920er und 1930er Jahre in nahezu allen theologischen Lagern begegnende Tendenz nach. Ab 1945 spielte das prophetische Amt der Kirche dann vor allem „in Theologie und Kirchenpolitik jener Gruppen in der ‚Bekennenden Kirche‘ [eine Rolle], die wesentlich von der Dahlemer Synode geprägt sind“.36 Grafs Beitrag, innerhalb dessen die Profilierung des prophetischen Anspruchs durchaus an Webers Bestimmungen der wertrational-gesinnungsethischen Haltung erinnert,37 zielt insgesamt auf eine Kritik der Rede vom christologisch fundierten prophetischen Wächteramt der Kirche. Eine Vollzugsweise des prophetischen Wächteramtes nämlich, „die mit ihrer theologischen Voraussetzung sich gleichschaltet, […] ist in ihrem Zentrum unkritisch […]. Sind der erhöhte Christus und die Kirche als Subjekt prophetischer Kritik identisch, […] dann läßt sich überhaupt kein Ort kritischer Distanz zu faktischen Kritikansprüchen mehr bezeichnen“.38
Der bleibenden Differenz zwischen Kirche und Christus entspricht deshalb nach Graf gerade nicht ein „prophetisches Wächteramt, sondern: fromme Selbstbegrenzung“.39 – Auf die bis hierher referierten Erwägungen zum Verhältnis von Christologie und Ekklesiologie wird bei der theologischen Beurteilung der nachstehend zu skizzierenden Phänomene des Prophetischen im Kontext evangelischer Spiritualität zurückzukommen sein, wobei die von Graf geäußerte Kritik insbesondere auf das – in Abschnitt 2.3 relativ ausführlich behandelte – Konzept der sog. Öffentlichen Theologie bezogen wird.
34 35 36 37
Ebd. A. a. O., 93. A. a. O., 96. „Weder muß der Prophet Kompromisse mit der Realität schließen, noch sich der eigenen Rationalität der Institutionen anpassen“. Vielmehr kritisiert er „allen Pragmatismus als Korruption und verkündet der Kultur Gericht, Krisis und Strafe“ (a. a. O., 98). 38 A. a. O., 100. 39 Ebd.
574 2.1
Rochus Leonhardt
Evangelische Kommunitäten: Die prophetische Dimension neomonastischer Existenz
Oben (Abschnitt 1.1) war bereits erwähnt worden, dass Adolf von Harnack das Verschwinden exemplarischer Formen christlichen Lebens im Protestantismus, namentlich des Mönchtums, als einen – wiewohl rechtfertigungstheologisch plausiblen, so doch zugleich – problematischen Sachverhalt bezeichnet hat (vgl. das in Anm. 10 nachgewiesene Zitat). Nun hatten sich bereits im Laufe des 19. Jahrhunderts verschiedene zunächst auf diakonische Aufgaben fokussierte Schwestern- und Bruderschaften im deutschen Protestantismus etabliert. In der Zeit nach dem Ersten Weltkrieg, also teilweise ebenfalls noch zu Harnacks Lebzeiten, entstanden erneut mehrere Bruderschaften. Als das vielleicht bekannteste Beispiel für den Versuch der Herstellung verbindlicher Gemeinschaft ohne Lösung aus Familie und Beruf (also ohne vita communis und damit ohne die Berücksichtigung der drei ‚klassischen‘ evangelischen Räte der vorreformatorischen monastischen Tradition) kann die 1931 gegründete Michaelsbruderschaft gelten. Nach dem Zweiten Weltkrieg kam es dann innerhalb des deutschen Protestantismus zur Bildung einer „Vielzahl von geistlichen Gemeinschaften mit gemeinsamem Leben“. Hier, in den als evangelische Kommunitäten im engeren Sinne zu bezeichnenden Gemeinschaften, manifestierte sich nun tatsächlich „eine Wiederkehr monastisch geprägter Frömmigkeit im Raum der evangelischen Kirche“.40 Im Gegensatz zur bis dahin dominanten exklusiven Fixierung der Existenz des Christenmenschen auf den weltlichen Beruf als „Bewährungsfeld des Glaubens“ wurde durch die Etablierung der Kommunitäten als neomonastischer Existenzformen die Einsicht zur Geltung gebracht, „dass die Nachfolge Jesu Christi in unterschiedlicher Gestalt gelebt werden kann“.41 Dementsprechend hat zuerst die 1979 erschienene EKD-Denkschrift „Evangelische Spiritualität“ die Kommunitäten auch ‚kirchenamtlich‘ als eine legitime und zu fördernde Ausprägung biblisch-reformatorischen Christseins gewürdigt.42 Auch ein jüngerer Text, nämlich das 2007 erschienene Votum des Rates der EKD „Verbindlich leben“, hat die Kommunitäten und geistlichen Gemeinschaften insgesamt als eine legitime Sozialgestalt der Kirche gewürdigt, die zur Stärkung evangelischer Spiritualität beitrage. Konkret im Geleitwort des Vorsitzenden des Rates der EKD (damals Wolfgang Huber) wird deutlich, dass die positive Würdigung exemplarischer christlicher Lebensformen außerhalb des weltlichen Berufs faktisch an Harnacks Problemanzeige von 1900 anknüpft: „Die Einsicht ist gewachsen, dass auch evangelische Spiritualität auf Gemeinschaften angewiesen ist, die dem gemeinsamen geistlichen Leben gewidmet sind“.43 40 41 42 43
Zimmerling, Kommunitäten, 441. A. a. O., 444. Vgl. dazu Kirchenkanzlei der EKD (Hg.), Evangelische Spiritualität. Kirchenamt der EKD (Hg.), Verbindlich leben, 5.
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Damit ist zunächst der schlichte Sachverhalt zur Geltung gebracht, dass der durch den Rechtfertigungsglauben befreite Christ „in unterschiedlichen Formen im Alltag zu leben“ vermag.44 Darüber hinaus freilich manifestiert sich in den Kommunitäten eben jenes Verständnis von Spiritualität, nach dem es sich dabei um „ein elitäres [nicht gemeinchristliches] Phänomen“ handelt.45 Hier liegen Chance und Gefahr eng beieinander. – Chance: Die Exemplarität der kommunitären Existenz kann durchaus „einen nicht zu unterschätzenden Beitrag zur kirchlichen Erneuerung leisten“.46 – Es handelt sich hier im Grunde um eine Anknüpfung an die bereits von Luther selbst – in seiner Vorrede zur Deutschen Messe von 1526 – ins Auge gefasste dritte Form des Gottesdienstes, die relevant wäre für diejenigen, „die mit Ernst Christen sein wollen“. Diese Menschen könnten „irgendwo allein in einem Haus sich versammeln zum Gebet, zum Lesen, zum Taufen, das Sakrament zu empfangen und andere christliche Werke auszuüben“.47 In diesem Kontext wäre dann auch eine von der Gemeinde selbst geübte Kirchenzucht (nach Mt 18) gut möglich. Freilich konnte Luther damals darauf verzichten, im Blick auf diese Gemeindeversammlungen über eine Ordnung nachzudenken, denn er hatte bekanntlich „noch nicht die Leute und Personen dazu. Ich sehe auch nicht viele, die danach drängen“.48 Im Bereich der ‚großkirchlichen‘ Protestantismen ist die von Luther hier nicht weiter verfolgte Option am ehesten eine kurze Zeitlang im Straßburg Martin Bucers Wirklichkeit geworden, namentlich in der von Bucer – auch als Reaktion auf den Unwillen der Straßburger Obrigkeit zur konsequenten Exekution der Kirchenzucht – initiierten sog. Christlichen Gemeinschaft. Die Mitglieder dieser Straßburger Christlichen Gemeinschaft, die u. a. „mit Philipp Jakob Speners Collegia Pietatis verglichen worden“ ist,49 „sollten ein vorbildliches, frommes Leben gemäß den apostolischen Vorbildern führen und sich freiwillig einer Zuchtpraxis unterwerfen“. Damit wurde „faktisch unter der Hand eine funktionierende, zugleich institutionalisierte Kirchenzucht – inklusive Bannpraxis – eingeführt, an der die Pfarrer beteiligt waren“.50 Der Straßburger Rat konnte allerdings 1547 ein Verbot dieser Gruppierungen durchsetzen. Lediglich einer kleinen Gruppe wurden 1548 weitere Treffen gestattet, freilich unter strengen Auflagen.51 In einer Exemplarität christlichen Lebens, die ungeachtet der Unterschiedlichkeit zwischen volkskirchlicher Frömmigkeit und kommunitärer Spiritualität 44 45 46 47 48 49 50 51
Zimmerling, Kommunitäten, 445 (Hervorhebung von mir, RL). Köpf, Spiritualität II, 1593. Zimmerling, Kommunitäten, 451. Luther, Deutsche Messe, 435,22–26. A. a. O., 435,39f. Becker, Gemeindeordnung, 95. Gäumann, Reich Christi, 397. Vgl. dazu Bellardi, Straßburg, 63–66.
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an der „Gleichwertigkeit“ beider Realisierungsformen der vita christiana festhält, ja, „ihr bleibendes Aufeinanderangewiesensein“ betont, kann der prophetische Charakter der evangelischen Kommunitäten erblickt werden. Sie erscheinen als „Zeichen des Reiches Gottes inmitten des praktischen Atheismus und Konsumismus der Gegenwart“, verkörpern die „Chance, zu Anregern neuer Gestaltungsformen von Christsein zu werden“ und avancieren damit zu „Hoffnungsträgern für die Kirche“.52 – Gefahr: Bereits Luther hatte die Befürchtung formuliert, dass eine ohne konkreten und nachhaltigen Bedarf von ihm entworfene Ordnung für die dritte Form des Gottesdienstes zu einer „rotterey“ führen könnte.53 Dem entspricht in etwa die gegenwärtig im Blick auf die kommunitäre Spiritualität geäußerte Befürchtung, es könne zu einem „Rückfall in ein vorreformatorisches Zwei-StufenChristsein“ kommen, „nämlich von Christen erster Klasse, die kommunitär leben, und von Christen zweiter Klasse, die in Familie und Beruf verbleiben“.54 – Insofern partizipiert gerade die prophetische Dimension neomonastischer Existenzformen an der in Abschnitt 1.1 angesprochenen grundsätzlichen Ambivalenz evangelischer Spiritualität. 2.2
Theologie der Hoffnung: Die zukunftsorientierende Kraft der prophetischen Botschaft
„Es gibt“, so heißt es in einem der meistgelesenen theologischen Bücher der zweiten deutschen Nachkriegszeit, „nur ein wirkliches Problem der christlichen Theologie, das ihr von ihrem Gegenstand her gestellt wird: das Problem der Zukunft“.55 – Diese Formulierung weist, wie auch der Titel von Jürgen Moltmanns Bestseller („Theologie der Hoffnung“) auf eine Verwurzelung im Zeitgeist der Sechzigerjahre hin, einer historische Phase, die in der Geschichte des bundesrepublikanischen Protestantismus als eine Zeit der Umbrüche charakterisiert wurde.56 Zeitgeistaffin ist das Buch zunächst wegen seiner thematischen Fokussierung auf die Zukunfts- und Hoffnungsthematik, hatten doch, wie ein kenntnisreicher Chronist der protestantischen Theologie im 20. Jahrhundert gezeigt hat, seinerzeit „Publikationen zu Stichworten wie Zukunft, Futurologie oder Hoffnung Konjunktur“.57 Dem speziellen Zusammenhang von (Zukunfts-) 52 Zimmerling, Die charismatischen Bewegungen, 186. Die zitierten Formulierungen entstammen einem „Kommunitäten als prophetische Modelle christlichen Lebens“ überschriebenen Abschnitt (a. a. O., 185f). 53 Luther, Deutsche Messe, 436,8. 54 Zimmerling, Kommunitäten, 451. 55 Moltmann, Theologie der Hoffnung, 12. 56 Vgl. dazu Greschat, Protestantismus, 80–133. 57 Fischer, Protestantische Theologie, 180.
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Hoffnung und Religion war bereits in den 1950er Jahren der Philosoph Ernst Bloch nachgegangen, der, seit er 1961 im Alter von 76 Jahren der DDR den Rücken gekehrt hatte, als Gastprofessor in Tübingen lehrte, wohin Moltmann sechs Jahre später berufen wurde. Moltmanns Buch stellt freilich nicht nur eine christlich-theologische Adaptation von Blochs opus magnum „Das Prinzip Hoffnung“ (1954–57) dar. Sondern es steht auch im Zeichen eines innertheologischen Paradigmenwechsels im deutschen Protestantismus, was den Zusammenhang von Glauben und Geschichte angeht, der sich in mehreren theologischen Disziplinen vollzog. In der alttestamentlichen Wissenschaft war es insbesondere Gerhard von Rad, der in seiner fulminanten „Theologie des Alten Testaments“ (1957–60) gezeigt hatte, welche Bedeutung dem Geschichtsbezug und der Zukunftsorientierung in den Glaubenszeugnissen des alten Israel zukommen. Im Neuen Testament waren es u. a. Ernst Käsemann (1954) und Günther Bornkamm (1956), die die theologische Relevanz auch der (geschichtlich verbürgten) Verkündigung und Wirksamkeit des vorösterlichen Jesus eingeschärft haben. Und im Bereich der Systematischen Theologie hat Wolfhart Pannenberg seit 1959 immer wieder versucht, die Offenbarungsqualität der Geschichte nachzuweisen, um damit den christlichen Glauben in historischer Erkenntnis zu verankern und wissenschaftlich einsichtig zu machen. Damit sind die geistes- und theologiegeschichtlichen Kontexte von Moltmanns „Theologie der Hoffnung“ einigermaßen umrissen. Der für ihn spezifischen Verhältnisbestimmung von evangelischer Spiritualität und Prophetie wird man ansichtig, wenn man sich die theologische Pointe seiner Monografie vor Augen führt. Diese lautet zunächst: Die christliche Hoffnung ist eschatisch orientiert. Sie lebt vom Glauben daran, dass mit der Auferstehung eine neue Wirklichkeit des umfassenden Heils aller Kreatur begonnen hat, eine Wirklichkeit, zu der auch unser aller Auferstehung gehören wird. Der Glaube an die „Auferweckung des gekreuzigten Christus“ ist damit hoffend auf die „Verheißungen der universalen Zukunft Christi“ ausgerichtet.58 – Damit ist deutlich, dass sich Moltmann im Bereich der prophetischen Traditionen des Alten Testaments für die auf die Zukunft orientierten Verheißungen interessiert. Dabei ist ihm vor allem wichtig, dass die „Zukunftsandrohungen und Zukunftsverheißungen Jahwes aus ihrer geschichtlichen Beschränktheit auf das eine Volk und auf seine geschichtliche Zukunft herausgenommen und […] eschatologisch“ verstanden werden.59 Zwar werde das Neue, „dessen Kommen geweissagt wird, vorgestellt in Analogie zum bisherigen Heilshandeln Gottes“ (neuer Bund etc.). „Aber es sind Analogien, die das durchaus Nicht-Analoge deuten wollen“, sodass „der Horizont des sich ankündigenden und kommenden Gottes auf alle Völker 58 Moltmann, Theologie der Hoffnung, 12. 59 A. a. O., 116.
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geht“60 – eine Horizonterweiterung, die letztlich im Christusgeschehen ‚eingelöst‘ wurde. Letzteres kommt freilich in dieser Konstellation nicht primär als ( jedenfalls fragmentarische) Erfüllung alttestamentlich-prophetischer Verheißungen zu stehen, sondern vielmehr als deren universalisierte Zuspitzung. Insofern möchte Moltmann das Evangelium auch gar nicht als „Überholung oder gar als Beendigung der Verheißungen Israels […] verstehen. Es ist in einem letzten, eschatologischen Sinne dieser Verheißungen mit ihnen sogar identisch“.61 Hier ist weder der weitere Ausbau von Moltmanns Christentumsverständnis in den zahlreichen nach 1964 erschienenen Monografien und Aufsätzen darzustellen, noch ist in eine Kritik einzutreten.62 Zu verweisen ist allerdings darauf, dass sein Verständnis des Evangeliums als Verheißung eines eschatischen Gottesreichs bereits hier und jetzt menschliche Aktivität freisetzt: „Die kommende Herrschaft des auferstandenen Christus kann man nicht nur erhoffen und abwarten. Diese Hoffnung und Erwartung prägt auch das Leben, Handeln und Leiden in der Gesellschaftsgeschichte. Darum bedeutet Sendung nicht nur Ausbreitung des Glaubens und der Hoffnung, sondern auch geschichtliche Veränderung des Lebens“.63
Diese Formulierungen machen deutlich, dass Moltmanns „Theologie der Hoffnung“ eine „verkappte politische Theologie“ darstellt,64 die zugleich Anstöße für spätere Konzeptionen dieser Art gegeben hat, die sich insbesondere mit Theologinnen und Theologen wie Johann Baptist Metz, Dorothee Sölle und Helmut Gollwitzer verbinden.65 Im Horizont von Moltmanns an den in Christus zugespitzten prophetischen Verheißungen orientierter Hoffnungstheologie wird es zur Aufgabe des Christenmenschen – man könnte auch sagen: zur Signatur christlicher Spiritualität –, „die erhoffte Zukunft ins Elend der Gegenwart zu bringen“.66 Auch in diesem Bereich, was näher auszuführen hier nicht der Ort ist, bleibt Moltmanns Denken ganz dem Zeitgeist verbunden. Anders gesagt: Es partizipiert erkennbar an der seit den 1960er Jahren vollzogenen und durch die Wechselwirkungen zwischen evangelischem Christentum und den damals aufkommenden neuen sozialen Bewegungen forcierten67 Linkspolitisierung von Teilen des deutschen Protestantismus, hat also teil an der damaligen „Politisierung der Theologie“.68
60 A. a. O., 116f. 61 A. a. O., 133. 62 Vgl. dazu Fischer, Protestantische Theologie, 183–188; Leonhardt, Beunruhigendes Versprechen. 63 Moltmann, Theologie der Hoffnung, 304. 64 Fischer, Protestantische Theologie, 189. 65 Vgl. dazu a. a. O., 189ff; Greschat, Protestantismus, 140–147. 66 Rohls, Protestantische Theologie der Neuzeit II, 786. 67 Vgl. dazu Hermle/Lepp/Oelke, Umbrüche. 68 Greschat, Protestantismus, 144.
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„An die Stelle der religiösen Überhöhung des Bestehenden bei den konservativen Ordnungstheologen im Luthertum der 30er Jahre tritt jetzt die Identifikation des Handelns Gottes mit sozialistisch gerichteten neuzeitlichen Emanzipationsprozessen. Konsequent wird die revolutionäre Praxis geradezu zum Wahrheitskriterium erklärt“.69
„Als Theologie des Reiches Gottes muß Theologie öffentliche Theologie sein“70 – diese Formulierung von Moltmann macht deutlich, dass der von ihm vertretene Ansatz mindestens terminologisch anschlussfähig ist an die sog. Öffentliche Theologie, eine Ausprägung evangelischer Spiritualität, die in ihrem Verhältnis zur Prophetie nachstehend zu behandeln ist. 2.3
Öffentliche Theologie: Prophetie im Dienste der Klerikalisierung des Politischen
Der Begriff der Öffentlichen Theologie spielt seit geraumer Zeit sowohl in der deutschsprachigen Fachdebatte als auch im kirchlichen Kontext eine Rolle. Dabei ist zunächst auf die seit 1993 von Wolfgang Huber (seit 2009 gemeinsam mit Heinrich Bedford-Strohm) herausgegebene gleichnamige Buchreihe zu verweisen, die in der Evangelischen Verlagsanstalt Leipzig erscheint und inzwischen (Stand: September 2017) bereits 34 Bände umfasst. Ferner liegt eine (in der erwähnten Buchreihe erschienene) begriffsgeschichtlich fundierte Profilierung dessen vor, was dieses Paradigma im deutschsprachigen Kontext bedeuten kann;71 ebenso wurde bereits eine Sammlung von Grundtexten zur Öffentlichen Theologie publiziert.72 Schließlich aber – last but not least – steht das Konzept der Öffentlichen Theologie seit der Wahl von Bedford-Strohm zum EKD-Ratsvorsitzenden am 11. November 2014 stets auch im Hintergrund der gesellschaftsrelevanten Verlautbarungen und Aktivitäten des kirchenamtlichen Protestantismus. Derselbe Bedford-Strohm war es auch, der durch die Gründung der Bamberger „Dietrich-Bonhoeffer-Forschungsstelle für Öffentliche Theologie“ (DBFÖT; 2008) sowie durch die Installation des Masterstudiengangs „Öffentliche Theologie/Public Theology“ an der Universität Bamberg (2010) seinem Verständnis von Öffentlicher Theologie eine Reputation im wissenschaftlichen Fachdiskurs zu erwerben und zu sichern versucht hat. Diesem Hinweis entspricht die Feststellung, nach der mit Bedford-Strohm „in Deutschland eine neue Phase Öffentlicher Theologie“ begonnen habe, „die von einer Kontextualisierung und Institutionalisierung der Debatte geprägt ist“.73
69 70 71 72 73
Lange, Ethik, 77. Moltmann, Gott im Projekt, 15. Höhne, Öffentliche Theologie. Höhne/van Oorschot (Hg.), Grundtexte. Höhne, Öffentliche Theologie, 30.
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Aus dieser faktisch gegebenen engen Anbindung des Konzepts der Öffentlichen Theologie an eine konkrete Person ergibt sich das weitere Vorgehen. Es wird nämlich so verfahren, dass dieser Begriff hier in Anlehnung an drei einschlägige Texte von Bedford-Strohm analysiert und kritisch bedacht wird. Zu nennen sind zunächst zwei aus dem Sommer 2011 stammende Beiträge, in denen gerade auch die prophetische Dimension des öffentlichen Redens der Kirche thematisch ist. Sie weisen zahlreiche inhaltliche Parallelen auf: Es handelt sich zum einen um seine Bamberger Abschiedsvorlesung vom 26. Juli 2011, die im Internet leicht zugänglich ist74, sowie um einen 2013 in einem Sammelband publizierten Aufsatz; er geht auf einen Vortrag zurück, der im Rahmen einer Tagung der KonradAdenauer-Stiftung gehalten wurde, die Ende August 2011 in Cadenabbia stattgefunden hat.75 Berücksichtigt wird ferner ein 2009 erschienener Text, in dem Bedford-Strohm seinen theologisch-ethischen Ansatz vorstellt.76 Dass die in den genannten Texten formulierten Überlegungen auch gegenwärtig noch die Auffassung Bedford-Strohms widerspiegeln, wird daran deutlich, dass er sie erst kürzlich und im Grundsatz unverändert erneut vorgetragen hat.77 Die Antwort auf die in den Titeln der erstgenannten Beiträge gestellte Frage „Was ist ‚Öffentliche Theologie‘?“ wird in dem 2013 publizierten Text durch einen argumentativen Dreischritt vorbereitet: (1) „Es gibt einen gesellschaftlichen Orientierungsbedarf in Grundfragen des Menschseins mit öffentlicher und politischer Relevanz“. (2) Die Kirchen, wiewohl lediglich ein Teil einer pluralistischen Gesellschaft, spielen „nach wie vor eine zentrale Rolle […], wenn nach den Quellen sozialen Zusammenhalts gefragt wird“ [umgestellt]. (3) Die Öffentliche Theologie ist der Versuch der Kirche, „in gesellschaftlichen Grundfragen Orientierung zu geben und dabei Ressourcen der Kommunikation zu erarbeiten, die religiöse Orientierungen in den Diskurs in pluralistischen Gesellschaften einzubringen helfen“.78 Öffentliche Theologie, ein Begriff, der sich (als „Public Theology“) bis in die frühen 70er Jahre des 20. Jahrhunderts zurückverfolgen lässt, ist danach eine Vollzugsweise kirchlichen Daseins und Lebens – man könnte durchaus auch sagen: ein Modus evangelischer Spiritualität –, durch die/ den eine Orientierungsleistung für die Gesamtgesellschaft erbracht wird. Im Hintergrund steht dabei die ursprünglich befreiungstheologisch verwurzelte Option für die Armen, die freilich inzwischen „ein fester Bestandteil der von der EKD vertretenen evangelischen Soziallehre geworden ist“.79 Im Unterschied zur ‚klassischen‘ Befreiungstheologie mit ihrer oftmals fundamentalen Frontstellung 74 75 76 77 78 79
Bedford-Strohm, Abschiedsvorlesung. Ders., Verantwortung. Ders., Vorrang für die Armen; vgl. auch FAZ, 16. 5. 2017. Vgl. Bedford-Strohm, Wie politisch darf die Kirche sein? Ders., Verantwortung, 28f. Ders., Vorrang für die Armen, 169.
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gegen die undemokratischen politischen Rahmenbedingungen in Lateinamerika versteht sich die Öffentliche Theologie ausdrücklich als Befreiungstheologie für eine demokratische Gesellschaft und wendet sich deshalb nicht gegen, sondern – mit ihren Orientierungsmaßgaben – an die politischen Verantwortungsträger. In seiner Abschiedsvorlesung hat Bedford-Strohm das diesem Zugang entsprechende Verständnis von Kirche vom Bild einer an der säkularen Umwelt nicht interessierten Kontrastgesellschaft ebenso abgegrenzt wie vom „Modernisierungsansatz“, den er mit Friedrich Schleiermacher, Wilhelm Gräb und Friedrich-Wilhelm Graf assoziiert. Dieser Ansatz versuche zwar, „in der Sprache von heute und auf dem Hintergrund der religiösen Bedürfnislage von heute die christliche Botschaft neu zu formulieren“; er verzichte dabei aber darauf, eine „normative kritische Wächterfunktion gegenüber einer Gesellschaft [geltend zu machen], die auf ethische Orientierung angewiesen ist“.80 Ebenfalls in beiden Beiträgen von 2011 bzw. 2013 werden dann „Vier Dimensionen öffentlicher Rede der Kirche“ behandelt. Dabei werden verschiedene Handlungsfelder kenntlich gemacht, auf denen die Öffentliche Theologie in je spezifischer Weise agiert. Die pastorale Dimension betrifft den Umgang „mit öffentlichen Katastrophen“, umfasst aber auch eine öffentliche Geltendmachung der „persönliche[n] Not derer, die von Sozialkürzungen betroffen sind“ sowie eine Stärkung von Menschen, „die politische Verantwortung tragen und sich täglich mit Dilemmasituationen konfrontiert sehen“.81 Die diskursive Dimension betrifft die „argumentative Plausibilisierung“ der öffentlich-theologisch erarbeiteten Orientierungen und zielt dabei auf „Leidenschaft, Begeisterung und Authentizität“ für die/bei der christlich inspirierte/n Gesellschaftsgestaltung.82 An dritter Stelle wird die politikberatende Dimension genannt. Sie „findet etwa in der Arbeit der Kammern der EKD ihren Ausdruck, in denen wichtige öffentliche Stellungnahmen vorbereitet werden“. Wichtig ist dabei insgesamt, dass „die politikberatende Funktion kirchlichen Redens durch Sachkompetenz gedeckt ist“.83 An letzter Stelle wird dann – im Verhältnis recht ausführlich – die prophetische Dimension benannt, wobei in fünffacher Hinsicht erläutert wird, unter welchen spezifischen Bedingungen „heute das Reden der Kirche prophetisch sein kann“. In Anlehnung an die biblischen Propheten wird grund80 Ders., Abschiedsvorlesung, 7. 81 A. a. O., 10f (= ders., Verantwortung, 35). 82 A. a. O., 11 (= ders., Verantwortung, 36). – Diese Dimension „steht im Zentrum, wenn der EKD-Ratsvorsitzende bei ‚Hart, aber Fair‘ oder bei ‚Maybrit Illner‘ über Präimplantationsdiagnostik diskutiert. Sie wird wirksam, wenn Synodale bei ihrer Synodaltagung auf einem Podium mit Expertinnen und Experten von außen über Klimawandel oder Wirtschaftsethik debattieren“ (ders., Abschiedsvorlesung, 11). Eine Berücksichtigung der kommunikativen Spezifik von Talkshows hätte Bedford-Strohm möglicherweise davor bewahrt, seine Auftritte in den genannten Sendungen als Beiträge zur argumentativen Plausibilisierung christlicher Gesellschaftsorientierung zu verstehen; vgl. dazu etwa Plake, Talkshows. 83 Bedford-Strohm, Abschiedsvorlesung, 11f (= ders., Verantwortung, 36).
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sätzlich „eine leidenschaftliche moralische Empörung“ dort artikuliert, „wo ganz offensichtliches Unrecht“ geschieht. Es geht entsprechend beim prophetischen Reden der Kirche (1) darum, „auf den moralischen Skandal hinzuweisen […] und so auch mitzuhelfen, dass intensivere Anstrengungen zu seiner Überwindung übernommen werden“.84 Dabei ist dann von maßgeblicher Bedeutung, dass, ganz im Sinn der Weberschen Charakterisierung des Propheten, „die prophetische Dimension des öffentlichen Redens der Kirche eher an die Person als an die Institution gebunden“ ist. (2) Dabei wird bei Bedford-Strohm, wie schon sein Sprachgebrauch (prophetisches Reden der Kirche) deutlich macht, die nachgerade klassische Spannung zwischen Propheten einerseits und Priestern (speziell: kirchlichen Amtsträgern) andererseits konsequent kassiert. Es sind bei ihm gerade die „mit einem Amt betrauten Personen“, die „zuweilen auch prophetisch reden und damit jenseits aller Kompromisse und Klugheitserwägungen in der Tradition der biblischen Propheten ein klares Wort sprechen“.85 Weiterhin (3) ist prophetisches Reden der Kirche „auf besondere Situationen“ beschränkt.86 Es muss ferner (4) insofern anschlussfähig an den öffentlichen Diskurs sein, als die zunächst fundamentalkritische Ansage „auf einen konstruktiven Neuentwurf“ zielt.87 Schließlich (5) „ist prophetisches Reden der Kirche auf Demut angewiesen“. Dies bedeutet, dass „das Anprangern moralischer Defizite durch die Kirche […] das geduldige Bohren dicker Bretter im politischen Alltagshandeln nicht ersetzt“. Insofern kann die „klare Kritik moralischer Defizite […] keinen höheren moralischen Status für sich in Anspruch nehmen als das kontinuierliche Arbeiten an konkreten Lösungen“.88 Soviel zum Profil der öffentlichen Theologie nach den wohl maßgeblichen Selbstzeugnissen ihres derzeit prominentesten Protagonisten.89 Hinzuzufügen ist noch, dass dieses Konzept von unterschiedlichen Seiten Kritik auf sich gezogen hat. Wilhelm Gräb etwa hat in seiner Berliner Abschiedsvorlesung vom 13. Juli 2016 behauptet, in der Öffentlichen Theologie werde „ein steil dogmatisch gefasster christlicher Glaube in Ansatz gebracht“ und als „Sache der Kirche und ihres Sendungsauftrags an die ‚Welt‘“ geltend gemacht.90 Nicht sehr weit davon entfernt ist der von Johannes Fischer formulierte Einwand, die Öffentliche Theologie, die das spezifische Profil des evangelischen Christentums so „auf ethischem Gebiet ausweisen will“, dass damit eine moralische Orientierung für die Gesamtgesell84 85 86 87 88 89
A. a. O., 12f (= ders., Verantwortung, 37). A. a. O., 13 (= ders., Verantwortung, 37f) – Hervorhebung von mir, RL. Ebd. (= ders., Verantwortung, 38). A. a. O., 14 (= ders., Verantwortung, 38). Ebd. (= ders., Verantwortung, 38). Erwähnt werden muss hier, dass Bedford-Strohm in seinem jüngsten Buch sein sonst prominent als öffentliche Theologie entfaltetes Konzept als Modell einer öffentlichen Kirche entfaltet hat (vgl. Bedford-Strohm, Radikal lieben). 90 Gräb, Lebenssinndeutung, 369 (vgl. den ganzen Zusammenhang 367–370).
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schaft verbunden ist, setze sich selbst unter einen „Zwang zur Eindeutigkeit“, der gerade auch den innerchristlichen Pluralismus nicht ernst nimmt. – Wenn aber im Blick auf ethisch relevante Fragen „unter Christinnen und Christen mit guten Gründen ein ebenso großes Spektrum unterschiedlicher Auffassungen vertreten werden kann wie in der Gesellschaft, wie kann die Kirche dann der Gesellschaft ethische Orientierung vermitteln?“91 Weiterhin haben erst kürzlich Christian Albrecht und Reiner Anselm auf die in der Öffentlichen Theologie virulente „Gefahr einer religiösen Aufwertung bestimmter politischer Positionen“ hingewiesen, „die als christentumsgemäß sakralisiert werden“.92 Schließlich ist auf die aktuelle Kritik von Ulrich Körtner und Günter Thomas hinzuweisen. Beide Autoren beklagen die allenthalben zu beobachtende Moralisierung des politischen Diskurses in Deutschland, an der sie maßgeblich auch den kirchenamtlichen Protestantismus beteiligt sehen, der mit seinem im Konzept der Öffentlichen Theologie verwurzelten prophetischen Gestus den eigentlich stark zu machenden moralischen Realismus einem irrationalen gesinnungsethischen Totalitarismus opfert.93 Das im August 2017 erschienene Impulspapier der Kammer für Öffentliche Verantwortung der EKD „Konsens und Konflikt“ macht deutlich, dass die genannten Kritikpunkte auch auf der Ebene der EKD für plausibel gehalten werden.94 Die genannten (m. E. durchweg zustimmungsfähigen) Einwände könnten noch durch Detailkritik angereichert werden: an Bedford-Strohms vielfach allzu grobschlächtiger Anknüpfung an die reformatorische Tradition (insbes. Luther); an seiner Rezeption des Bonhoefferschen Denkens; an der Inanspruchnahme neuerer Texte von Jürgen Habermas.95 – All dies kann freilich nicht Gegenstand des vorliegenden Textes sein, der die Öffentliche Theologie lediglich im Kontext einer Verhältnisbestimmung von evangelischer Spiritualität und Prophetie in den Blick nimmt. Spiritualität taucht im Konzept der Öffentlichen Theologie nicht als ein erläuterungsbedürftiger Begriff auf. Insgesamt freilich proklamiert das so bezeichnete Programm – anders als es bei den evangelischen Kommunitäten der Fall war – eine Exemplarität christlicher Lebenspraxis, deren Vollzug innerchristlich nicht auf eine Elite beschränkt ist und im wahrsten Sinne des Wortes beispielhaft für die Gesamtgesellschaft sein will. Ein deutlicheres Profil weist die prophetische Dimension der Öffentlichen Theologie auf. Für seinen Panegyriker Wolfgang Thielmann ist Bedford-Strohm „ein Prophet im Zeitalter sozialer Medien“:
91 92 93 94 95
Fischer, Unduldsamkeit, 45. Albrecht/Anselm, Öffentlicher Protestantismus, 31. Vgl. dazu Thomas, Universalismus; ders., Populismus; Körtner, Vernunft. Vgl. dazu: Konsens und Konflikt. Vgl. dazu von Scheliha, Religion und Sachpolitik.
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„Erst gewinnt er die Synode dafür [scil. für ein Votum gegen die Erleichterung der Sterbehilfe], die ihn gewählt hat, dann zieht er die Bundestagsabgeordneten aus dem Gebiet seiner Landeskirche ins Gespräch, dann veröffentlicht er ein Buch“.96
An dieser Stelle wird (à contrecœur) deutlich, dass der Begriff des Prophetischen im Konzept der Öffentlichen Theologie maßlos überdehnt und im Sinne einer Klerikalisierung des Politischen instrumentalisiert wird. Zu dieser Überdehnung gehört zunächst die bereits angesprochene Einebnung der Spannung zwischen Propheten und Priestern i. S. kirchlicher Amtsträger. Bedford-Strohm bindet die von ihm mit Recht geltend gemachte Fokussierung der prophetischen Dimension öffentlicher Theologie auf die Person sehr konkret an sich selbst als einen gewählten kirchlichen Amtsträger. Zur Spezifik des Propheten gehört nun zweifellos die „‚persönliche‘ Berufung“,97 aber diese geht eben auf eine göttliche Erwählung zurück und nicht auf die Wahl durch eine Synode. Ein gewählter Repräsentant – der Bischof einer Landeskirche und/oder der Ratsvorsitzende der EKD – hat in der Tat die Aufgabe, in seinen öffentlichen Stellungnahmen die innerkirchliche Vielfalt soweit wie möglich auf einen Nenner zu bringen. Dass er dieses sein Amt aber als ein prophetisches ausweist, ist problematisch. Faktisch nämlich kann der Rekurs auf die prophetentypische Priorität des Personalen die religiöse Legitimierung einer Selbstdarstellungspraxis befördern,98 die einerseits die oben zitierte Bescheidenheitsbekundung, nach der prophetisches Reden der Kirche auf Demut angewiesen sei (vgl. das in Anm. 87 nachgewiesene Zitat), als Floskel entlarvt. Andererseits droht durch die Diffusion von Amt und Prophetie eben diejenige Selbst-Verabsolutierung eines Bedingten (hier: der Institution Kirche), gegen die namentlich Paul Tillich das Prinzip der prophetischen Kritik in Anschlag gebracht hatte. Dass darüber hinaus die prätendierte prophetische Dimension der öffentlichen Theologie die Moralisierung politischer Diskurse befördert und schließlich auf eine Klerikalisierung des Politischen hinausläuft, wird vor allem daran deutlich, dass sich in der prophetischen Dimension der Öffentlichen Theologie ein (vom amtskirchlich verwurzelten Propheten geltend gemachter) Anspruch auf Allzuständigkeit manifestiert. Die beanspruchte Universalkompetenz beginnt bei der Benennung von Missständen und endet beim Aufzeigen konkreter Lösungsperspektiven. Dabei ist auffällig, dass, folgt man den oben herangezogenen Texten von Bedford-Strohm, innerhalb der prophetischen Dimension der Öffentlichen Theologie – also im Rahmen der Erläuterung zu den Bedingungen 96 Thielmann, So geht evangelisch, 131 (mit dem im Zitat genannten Buch ist gemeint: BedfordStrohm, Leben dürfen – Leben müssen. Argumente gegen die Sterbehilfe, München 2015). 97 Weber, Wirtschaft und Gesellschaft, 178,8. 98 Die Tatsache, dass gerade Bedford-Strohms jüngstes Buch als Coverabbildung eben sein eigenes Konterfei zeigt, könnte als Indiz für die erwähnte Tendenz betrachtet werden (vgl. Bedford-Strohm, Radikal lieben).
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heutiger prophetischer Rede der Kirche – die drei weiteren Dimensionen teilweise erneut begegnen. Bevor dies konkret gezeigt wird, seien die bereits referierten Dimensionen in einer Übersicht zusammengefasst. Vier Dimensionen der Öffentlichen Theologie 1. pastorale Dimension; 2. diskursive Dimension; 3. politikberatende Dimension; 4. prophetische Dimension (fünf besondere „Bedingungen, unter denen heute das Reden der Kirche prophetisch sein kann, ja vielleicht muss“99): 4,1 Evidenz eines moralischen Problems; 4,2 Bindung prophetischen Redens an eine Person; 4,3 Beschränkung auf spezielle Situationen; 4,4 Diskursoffenheit; Zielen auf konstruktiven Neuentwurf; 4,5 Demut; Verständnis für die Notwendigkeit kontinuierlichen Arbeitens an konkreten Lösungen. Sofern die pastorale Dimension Öffentlicher Theologie (1) etwa auch „die persönliche Not derer, die von Sozialkürzungen betroffen sind, in die Öffentlichkeit“100 bringt, ist die für die prophetische Skandalisierung erforderliche Bedingung der Evidenz eines moralischen Problems (4,1) teilweise bereits durch die Notwendigkeit pastoralen Handelns der Kirche erfüllt. Weiterhin: Wenn gesagt wird, die prophetische Dimension stehe unter der Bedingung der Diskursoffenheit (4,4), dann handelt es sich um eine hier nun ins Prophetische gewendete Reminiszenz an die diskursive Dimension der Öffentlichen Theologie (2), die Bedford-Strohm regelmäßig mit Hervorhebung von „Zweisprachigkeit“101 verbindet, mittels derer letztlich demonstriert werden soll, „dass das Christliche das politisch Vernünftige und Richtige ist“.102 Das Verhältnis der in der prophetischen Dimension Öffentlicher Theologie implizierten prophetischen Kritik einerseits zur politikberatenden Dimension (3) andererseits hat Bedford-Strohm ausdrücklich angesprochen: „Prophetische Kritik und Politikberatung stehen […] nicht im Widerspruch zueinander, sondern brauchen einander, um weder im Bestehenden aufzugehen, noch das Bestehende zu ignorieren“.103 – Und schließlich: Im betonten Verständnis für die Notwendigkeit kontinuierlichen Arbeitens an konkreten Lösungen (4,5) meldet sich erneut die politikberatende Dimension der Öffentlichen Theologie (3).
99 Bedford-Strohm, Abschiedsvorlesung, 13 (= ders., Verantwortung, 37). 100 A. a. O., 10 (= ders., Verantwortung, 35). 101 A. a. O., 6; ders., Verantwortung, 30; ders., Vorrang für die Armen, 175. Vgl. ferner BedfordStrohm, Zivilgesellschaft, 219. 102 Albrecht/Anselm, Öffentlicher Protestantismus, 32. 103 Bedford-Strohm, Verantwortung, 31.
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Entscheidend an diesen eigentümlichen inhaltlichen Verschränkungen der ersten drei Dimensionen Öffentlicher Theologie mit den Bedingungen ihrer vierten (prophetischen) Dimension ist nun, dass jedenfalls teilweise auch die Abstellung beklagter moralischer Missstände als Aufgabe des prophetischen Handelns ausgewiesen ist – ungeachtet des von Bedford-Strohm selbst konzedierten Sachverhalts, dass der Prophet „nicht den Platz des Königs einnehmen kann“.104 Dass auch hier eine Überdehnung des Prophetie-Begriffs vorliegt, dieses Mal im Sinne einer religiösen Legitimierung sozialpolitischer Ambitionen der Kirche, ist nicht zu übersehen.105 Auf die Öffentliche Theologie trifft daher ein von Friedrich Wilhelm Graf einmal im Blick auf den deutschen Protestantismus insgesamt geäußerter Vorwurf in besonderer Weise zu. Die evangelische Kirche würde, so Graf, „den Schwund an religiöser Kommunikationsfähigkeit […] durch Steigerung ihrer gesellschaftspolitischen Machtansprüche bearbeiten“ und versuchen, „ihr partikulares Ethos als für alle verbindlich und mit klassischen Lobbying-Methoden politisch durch[zu]setzen“.106 In eine ähnliche Stoßrichtung geht eine Formulierung des Philosophen Volker Gerhardt: „Wenn die Kirchen Herrschaftsaufgaben übernehmen – und sei dies auch nur durch lobbyistische Einflussnahme auf die Gesetzgebung eines demokratisch gewählten Parlaments –, verfehlen sie den einzigen Auftrag, der ihnen durch das Evangelium ausgegeben ist, nämlich den Gläubigen in ihrem Glauben beizustehen“.107
Ungeachtet der hier vorgetragenen Kritik an der Öffentlichen Theologie bleibt positiv zu vermerken, dass sie sich mit der unhintergehbaren Frage auseinandersetzt, wie der christliche Glaube gesamtgesellschaftlich und speziell politisch wirksam werden kann. Dass in den bisherigen Ausführungen versucht wurde, die von der Öffentlichen Theologie formulierte Antwort auf diese Frage als unzulänglich zu erweisen, führt grundsätzlich – zumal bei Anerkennung einer Berechtigung der Frage – zur Erwartung einer adäquateren Antwort. Im Rahmen des vorliegenden Beitrags kann dieser Erwartung jedoch nicht entsprochen werden.108
104 Ders., Abschiedsvorlesung, 14 (= ders., Verantwortung, 38). 105 Nach Max Weber ist übrigens die in der alttestamentlichen Prophetie begegnende Kritik an sozialen Missständen gerade nicht das eigentliche Zentrum der prophetischen Botschaft: „Das dem Geist des mosaischen Gesetzes widerstreitende Unrecht, auch das soziale, kommt für sie nur als Motiv und zwar als eines der Motive für Gottes Zorn in Betracht, nicht aber als Grundlage eines sozialen Reformprogramms“ (Weber, Wirtschaft und Gesellschaft, 184,6–10). 106 Graf, Missbrauchte Götter, 197. 107 Gerhardt, Modernität, 93. 108 Ich verweise dafür auf die von mir konzipierte Monografie zur Ethik, die voraussichtlich im Herbst 2019 in der Leipziger Evangelischen Verlagsanstalt erscheinen wird.
Evangelische Spiritualität und Prophetie
3.
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Zusammenfassung
Die in Abschnitt 2 skizzierten Phänomene des Prophetischen im Kontext evangelischer Spiritualität sind alles andere als einheitlich. Mit Spiritualität im Sinne eines exklusiv elitären Phänomens lassen sich am ehesten die Evangelischen Kommunitäten (2.1) assoziieren, deren prophetischer Charakter darin erblickt werden kann, dass sie Beispiele neuer Gestaltungsformen des christlichen Lebens darstellen. Die Theologie der Hoffnung inklusive ihrer handlungspraktischen Perspektiven (2.2) betont in besonderer Weise die Zukunftsdimension christlichen Glaubens. Christliche Spiritualität wird in diesem Kontext nicht – gleichsam elitär – als Kultivierung einer vom volkskirchlichen Normalfall unterschiedenen Lebenspraxis verstanden, sondern als eine spezifische Form der Geltendmachung des reformatorischen Grundsatzes, nach dem jeder Christ sein christliches Leben im weltlichen Beruf zu realisieren hat. Allerdings – und hier kommt die Anknüpfung der Hoffnungstheologie an die mit dem Christusgeschehen zugespitzten prophetischen Verheißungen zum Tragen – ist nach Moltmann die eigentliche Pointe der reformatorischen Berufung zur Berufserfüllung „die Berufung zur Mitarbeit am Reiche Gottes, das kommt“.109 Die schon bei Moltmann greifbare sowie insgesamt in den von seinem Denken inspirierten politischen Theologien deutliche Intention, aufgrund christlicher Glaubensüberzeugungen gesellschaftsverändernd zu wirken, kommt auch in der Öffentlichen Theologie (2.3) zur Geltung. Diese Absicht wird hier jedoch im Blick auf demokratische Gesellschaften artikuliert; entsprechend realisiert sich christliche Spiritualität darin, dass die Kirche politischen Verantwortungsträgern christlich fundierte Handlungsorientierungen vermittelt. Diese Vermittlungsaufgabe wird als prophetisches Reden der Kirche bestimmt. Da die prophetische Dimension des Vollzugs dieser Vermittlungstätigkeit aber – jedenfalls nach Bedford-Strohm – auch pastorale, diskursive und politikberatende Elemente aufweist, kommt es hier zu einer offensichtlichen Überdehnung des Prophetie-Begriffs, der dann faktisch nur noch dazu dient, kirchliche Handlungsorientierungen religiös zu überhöhen. Quellen Amt der VELKD (Hg.), Unser Glaube. Die Bekenntnisschriften der evangelisch-lutherischen Kirche. Ausgabe für die Gemeinde. Hg. im Auftrag der Vereinigten EvangelischLutherischen Kirche Deutschlands (VELKD). Redaktionell betreut von Johannes Hund und Hans-Otto Schneider, Gütersloh 62013. Bedford-Strohm, Heinrich, Öffentliche Theologie in der Zivilgesellschaft (2008), in: Höhne, Florian/ van Oorschot, Frederike (Hg.), Grundtexte Öffentliche Theologie, Leipzig 2015, 211–226. 109 Moltmann, Theologie der Hoffnung, 307.
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Reinhold Bernhardt
Evangelische Spiritualität im ökumenischen Horizont
Die ökumenische Dimension des Themas „evangelische Spiritualität“ soll in diesem Beitrag in zwei Richtungen entfaltet werden: zum einen im Blick auf die Ökumenische Bewegung mit ihrem Anliegen, die Einheit der Christenheit wiederherzustellen, und zum anderen im Blick auf die Beziehungen zu anderen Formen der Spiritualität, wie sie im hiesigen und im weltweiten Christentum begegnen. Dabei ist nicht allein an die klassischen Konfessionen des Katholizismus, der Orthodoxie und des Anglikanismus zu denken1, sondern auch und in der Gegenwart vor allem an die charismatischen Bewegungen innerhalb und außerhalb der institutionellen Kirchen. Abschließend soll die Frage erörtert werden, ob es ein spezifisch konfessionelles Profil der evangelischen Spiritualität gibt, worin es besteht und wie es kritisch in die Rezeption charismatischer Spiritualitätsformen einzubringen ist.
1.
Spiritualität als Antriebskraft der Ökumenischen Bewegung
In Leitlinie 5 der Charta Oecumenica heißt es: „Die Ökumene lebt davon, dass wir Gottes Wort gemeinsam hören und den Heiligen Geist in uns und durch uns wirken lassen. Kraft der dadurch empfangenen Gnade gibt es heute vielfältige Bestrebungen, durch Gebete und Gottesdienste die geistliche Gemeinschaft zwischen den Kirchen zu vertiefen und für die sichtbare Einheit der Kirche Christi zu beten“.2
Die Ökumenische Bewegung hat nicht nur über die theologische Klärung der Lehrunterschiede zwischen den christlichen Konfessionen und nicht nur auf dem Wege der praktischen Zusammenarbeit, sondern auch – und vor allem – durch geteilte Spiritualität versucht, Konfessionsgrenzen zu überwinden. Der 1 Siehe dazu Barth, H.-M., Spiritualität, 21–58. 2 ACK, Charta Oecumenica.
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spirituelle Weg verläuft dabei nicht neben dem theologischen Weg und dem praktischen Weg, sondern in, mit und unter diesen. Es war und ist kein eigener Weg, sondern die Kraftquelle dieser beiden Wege. Die Lehrgespräche und Kooperationsprojekte waren eingebettet in Formen gemeinsam geteilten geistlichen Lebens, um nicht nur im Denken und Handeln, sondern auch in der Besinnung auf den Grund des christlichen Glaubens miteinander verbunden zu sein. Besonders an der „Basis“, in den Kirchengemeinden vor Ort, in Einkehrhäusern und Kommunitäten ist die spirituelle Gemeinschaft nicht selten die wichtigste Form ökumenisch gelebten Christseins. In der „Gebetswoche für die Einheit der Christen“ wird ökumenische Spiritualität praktiziert. Es soll dabei nicht nur für die Einheit gebetet werden, sie wird im Gebet vollzogen. Eine ökumenische Gruppe aus einem jeweils anderen Land erarbeitet das biblische Leitthema, wobei die Situation in diesem Land in den Entwurf mit einfließt.3 Seit 1927 wird der „Weltgebetstag der Frauen“ unter dem Motto „Informiert beten – betend handeln“ begangen. Weltweit beteiligen sich Millionen Frauen daran (allein in Deutschland mehr als 1,3 Mio), was es rechtfertigt, diese Veranstaltung als „die stärkste ökumenische Basisbewegung“ zu bezeichnen.4 Indem solche Formen der gelebten Ökumene an der „Basis“ spirituelle Gemeinschaft für die daran Teilnehmenden ermöglicht haben, wurden sie selbst als spirituelle Ereignisse empfunden, in denen sich der Gemeinschaft stiftende Geist Gottes manifestiert. Das gilt auch für die institutionalisierte Ökumenische Bewegung. Nicht nur in ihren einzelnen Veranstaltungen, sondern auch in ihrem Bewegungscharakter insgesamt wurde sie – und hat sie sich selbst – auf die Wirksamkeit des Heiligen Geistes zurückgeführt. Man verstand sie nicht selten als pfingstliches Ereignis. Im „Ruf zur Einheit“, der auf der Ersten Weltkonferenz für Glaube und Kirchenverfassung 1927 in Lausanne formuliert wurde, heißt es: „Gottes Geist ist in unserer Mitte gewesen. Er war es, der uns hier zusammengerufen hat. Dass er unter uns war, wurde in unseren Gottesdiensten, in unseren Beratungen und in unserer Gemeinschaft offenbar. Er hat uns geholfen, uns gegenseitig zu entdecken […]“.5
Der Blick zurück in die Geschichte der Ökumenischen Bewegung zeigt, dass die Entwicklung ihres Anliegens in der gemeinsamen geistlichen Orientierung wurzelt. Aus der Spiritualität der Liturgischen Bewegung am Ende des 19. Jahrhunderts ging ein starker ökumenischer Impuls hervor. Das Hören auf das biblische Wort und das Gebet sollten im Mittelpunkt des christlichen Glaubenslebens stehen. Nationale, kirchliche- und konfessionelle Grenzen traten hinter
3 Heller, Seele der ökumenischen Bewegung. 4 Heilig, „Weltgebetstag der Frauen“. 5 Lausanne, 30.
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der Einheit in Christus zurück. Es galt und gilt die Aussage Reinhard Frielings: „Das gemeinsame Gebet ist das Herz der Ökumene“.6 Von Anfang an hat die „Bewegung für Glaube und Kirchenverfassung“ zum Gebet für die Einheit der Christenheit aufgerufen. Ebenso war die „Bewegung für Praktisches Christentum“ in einer spirituellen Praxis verankert: im Mittelpunkt der Zusammenkünfte standen gemeinsame Gottesdienste. Darin kommt der für die Ökumenische Bewegung zentrale Gedanke zum Ausdruck, dass sich ökumenische Gemeinschaft nicht herstellen lässt, sondern in Christus schon besteht und von dorther – in der geistlichen Teilhabe am Leib Christi – nur empfangen werden kann. Während ökumenische Lehrgespräche und Handlungsprogramme eher institutionenorientiert, d. h. auf die Kirchen und die zwischenkirchlichen Beziehungen bezogen sind, wird spirituelle Gemeinschaft unmittelbar von einzelnen Glaubenden vollzogen und erfahren. In einer Dialektik von Individualität und Sozialität baut sie das ökumenische Beziehungsgeflecht „von unten her“ auf. „Während die Kommunikabilität religiöser Theorien und theologischer Systeme rapide abzunehmen scheint, steht hier ein Feld offen, auf dem viele miteinander kommunizieren können“.7 Umso schmerzlicher wird es empfunden, wenn diese unmittelbar erfahrene spirituelle Gemeinschaft durch kirchliche Autorität begrenzt wird, wie es bei Nichtzulassungen zum Abendmahl der Fall ist. Spiritualität kann ebenso tief verbinden wie trennen. Auch dafür bietet die Ökumenische Bewegung vielfaches Anschauungsmaterial. Es ist nicht nur die Verweigerung der Zulassung zu eucharistischer Teilhabe am Leib Christi, sondern die Prägung der konfessionellen Spiritualitätsformen insgesamt, die trennend wirken kann – nicht durch äußeren Ausschluss, sondern inneres Befremdungsempfinden. Als Beispiele, an denen sich ein solches Empfinden entzünden kann, seien die Marien- und Heiligenverehrung im römischen Katholizismus, die Spiritualität orthodoxer Gottesdienste, aber auch fremde Formen evangelischer Spiritualität – wie die in presbyterianischen Kirchen Ghanas praktizierten Exorzismen – genannt. Die in der Begegnung mit solchen Formen der Religiosität ausgelösten kognitiven und emotiven Dissonanzen lassen es nicht zu, Spiritualität einfachhin als einendes Band der ökumenischen Christengemeinschaft auszugeben. Mindestens ebenso kann die Begegnung mit anderen Spiritualitätsstilen zu Abgrenzungen sowie
6 Frieling, Weg des ökumenischen Gedankens, 183. Vgl. die Formulierung aus „Unitatis Redintegratio“: „Diese Bekehrung des Herzens und die Heiligkeit des Lebens ist in Verbindung mit dem privaten und öffentlichen Gebet für die Einheit der Christen als die Seele der ganzen ökumenischen Bewegung anzusehen; sie kann mit Recht geistlicher Ökumenismus genannt werden“ (Vatikan, „Unitatis Redintegratio“, Abs. 8). 7 Barth, H.-M., Spiritualität, 9.
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einer tieferen Bewusstwerdung der eigenen Ausprägung führen und deren Profil schärfen. Seit den 1960er Jahren fand der Begriff „Spiritualität“ in der Ökumenischen Bewegung zunehmend Beachtung. Er wurde dabei allerdings aus seiner Festlegung auf den Bereich der frommen Innerlichkeit gelöst und herangezogen, um das Verhältnis von „Heil“ in der Gottesbeziehung und „Wohl“ in der Weltbeziehung des Glaubens zu bestimmen. Es kam darin das Anliegen des Begriffs „Heiligung“ zum Ausdruck, der traditionell dem Begriff der „Rechtfertigung“ zur Seite gestellt war. Damit einher ging die Akzentverschiebung von einem passiven zu einem aktiven Verständnis von Spiritualität. Sie ist nicht nur auf das Herz, sondern auch auf den Willen und das Handeln des Menschen bezogen und hat in diesem Sinne eine ethische Seite. Die Verbindung von Spiritualität und sozialethischer Aktivität (bis hin zum Kampf) war nicht zuletzt von Dietrich Bonhoeffer angeregt worden: Bonhoeffer hatte die Reduzierung des Glaubens auf den Bereich der Innerlichkeit zurückgewiesen und Glaube als tätige Nachfolge verstanden: als christusgemäße Lebensweise an einem bestimmten Ort zu einer bestimmten Zeit. Der individuelle Glaube wie auch die Gemeinschaft der Glaubenden lebt nach Bonhoeffer in einer doppelten Bewegung: in zentripetaler Bewegung auf Christus als sein Zentrum hin und in zentrifugaler Bewegung auf den Verkündigungs- und Friedensdienst in der Welt hin. Diese Spur lässt sich weiter bis in die Theologie der Reformatoren zurückverfolgen, die nach Röm 12,1 den Gottesdienst im Alltag der Welt aufwerteten. Im Heidelberger Katechismus von 1563 heißt es in der Antwort auf die Frage 103 zum vierten Gebot: „Gott will zum einen […] dass ich, besonders am Feiertag zu der Gemeinde Gottes fleißig komme. Dort soll ich Gottes Wort lernen, die heiligen Sakramente gebrauchen, den Herrn öffentlich anrufen und in christlicher Nächstenliebe für Bedürftige spenden. Zum andern soll ich an allen Tagen meines Lebens von meinen bösen Werken feiern [= ablassen] und den Herrn durch seinen Geist in mir wirken lassen. So fange ich den ewigen Sabbat schon in diesem Leben an“.8
Die Verbindung der Spiritualität mit dem Berufsethos der weltlichen Arbeit zieht sich durch die Geschichte des Protestantismus. Als der Welt zugewandte Spiritualität des Glaubens und der Liebe fiel sie in der ökumenischen Bewegung auf fruchtbaren Boden und wurde dort weiterentwickelt. Und diese Weiterentwicklung wirkte wiederum zurück auf das Selbstverständnis evangelischer Spiritualität. Bei der Vollversammlung des Weltkirchenrates in Nairobi 1975 fand zum ersten Mal ein eigener Workshop zum Thema „Spiritualität“ statt. Von 8 Evangelisch-reformierte Kirche, Der Heidelberger Katechismus, 66.
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M.M. Thomas, dem damaligen Direktor des Zentralkomitees des ÖRK, wurde der Begriff der „Spiritualität des Kampfes“9 geprägt, mit dem das Verständnis von „Spiritualität“ aus der ihm bis dahin zumeist anhaftenden quietistischen Engführung befreit und in einen Impuls zum sozialen Engagement überführt werden sollte. Die ökumene-politische Absicht dabei war auch, die Kluft zwischen Evangelikalen, die den Christusbezug betonten, und den Liberalen, die sich für soziale Gerechtigkeit in der Welt einsetzten, zu überbrücken. In der Diskussion des Vorschlags von M.M. Thomas lenkte Konrad Raiser den Blick auf die pneumatologischen Grundlagen des Verständnisses von Spiritualität. Er betonte die Zusammengehörigkeit der vertikalen und der horizontalen Dimension im Wirken des Heiligen Geistes und unterschied zwischen drei Aspekten im Verständnis des Geistes und seiner Wirksamkeit: dem Einbruch der eschatologischen Wirklichkeit in die Geschichte, der Kraft der innerweltlichen Transzendenz und dem Wirken in der Konstituierung und Auferbauung der Gemeinde.10 Diesem Schema entsprechen drei Typen von Spiritualität: eine in der Welt aktive, eine die Welt transzendierend (mystisch) kontemplative und eine auf die Glaubensgemeinschaft bezogene, kommuniale. Die Sechste Vollversammlung des Ökumenischen Rates der Kirchen in Vancouver 1983 nahm das Motiv der kämpferischen Spiritualität auf und stellte die anzustrebende Einheit der Kirchen in den Dienst dieses Kampfes gegen die globalen Bedrohungen. Damit war der „Konziliare Prozess für Gerechtigkeit, Frieden und Bewahrung der Schöpfung“ initiiert. Dieses Motiv zieht sich über die Ökumenische Weltversammlung in Seoul 1990 zur Siebten Vollversammlung des Ökumenischen Rates der Kirchen in Canberra, zu deren Eröffnung der damalige Generalsekretär des ÖRK Emilio Castro sagte: „Das Reden vom Geist bedeutet […] Beteiligung am Kampf für das Leben. Es bedeutet die gemeinsame Teilhabe an der Verheißung des Lebens in seiner Fülle (Joh 10,10)“.11 Schon im Vorfeld dieser Konferenz und auf der Konferenz selbst ist es aber zu einer deutlichen Akzentverschiebung von einer eher befreiungstheologisch orientierten „Spiritualität des Kampfes“ zu einer ganzheitlichen „Spiritualität des Lebens“ gekommen, die einer „Theologie des Lebens“ korreliert. Diese Programmformulierung wurde Ende der 1980er Jahre als Leitbegriff ökumenischen Denkens und Handelns – auch der Missionstheologie – eingeführt und profiliert. Einer der Wortführer dieser Programmatik war Konrad Raiser. In seinem 1989
9 Schon 1925 auf der Stockholmer Weltkonferenz für Praktisches Christentum ist an die Christenheit appelliert worden, für den Willen Gottes zu kämpfen und damit an der Realisierung des Gottesreiches mitzuwirken (Deißmann, Stockholmer Weltkirchenkonferenz, 95). 10 Raiser, Ökumene unterwegs, 417. 11 Bericht des Generalsekretärs, in: Müller-Römheld, Im Zeichen des Heiligen Geistes, Pkt. 20, 154. Siehe auch: Göbel, Spiritualität.
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erschienenen Buch „Ökumene im Übergang“ schlug er die Rede von „dem einen Haushalt des Lebens“ als neues Paradigma vor.12 Der Lebensbegriff war und ist dabei eng mit der Pneumatologie verbunden. Der Geist Gottes ist die Kraft des Lebens. Nach christlichem Verständnis bewirkt er die Hervorbringung, Entfaltung und Erfüllung von Leben in umfassendem Sinn. Das gilt auch für das „neue“ Leben in der Auferstehungswirklichkeit. Der schöpferische Geist wirkt Glaube und führt in die Gemeinschaft der Glaubenden. Aber er wirkt auch weit darüber hinaus in der ganzen Schöpfung. Unter den zu Beginn der 1990er Jahre erschienenen Entwürfen der Pneumatologie stellte vor allem derjenige von Jürgen Moltmann die Verbindung von Geist und Leben ins Zentrum, was sich schon im Titel ausdrückt: „Der Geist des Lebens. Eine ganzheitliche Pneumatologie“.13 Die Siebte Vollversammlung des ÖRK 1991 in Canberra stand unter dem Motto „Komm, Heiliger Geist – erneuere die ganze Schöpfung“. Zum ersten Mal in der Geschichte des ÖRK war damit eine Vollversammlung ganz an der Pneumatologie orientiert, die „ganzheitlich“ im Blick auf die Schöpfung entfaltet wurde. Spiritualität bedeute, „sowohl das Leben gestalten als auch Raum schaffen, damit der Heilige Geist wirken kann. Spiritualität hat daher eine praktische Dimension“.14 Die koreanische Theologin Chung Hyun Kyung sprach sich in ihrem Vortrag für eine „Kultur des Lebens“15 aus und bettete ihren Vortrag in einen spirituellen Tanz ein, in dem sie nach schamanischen Ritualen die Geister von Menschen anrief, die ausgebeutet, vergewaltigt oder umgebracht worden sind. Die sich daran anschließenden heftigen Diskussionen können als Auseinandersetzung um eine interkulturelle und interreligiöse Spiritualität verstanden werden. Sie wurden auch auf der Dritten Vollversammlung der Vereinigung von Dritte WeltTheologen (EATWOT) geführt, die 1992 in Nairobi zum Thema „Spiritualität der Dritten Welt – der Schrei nach Leben“ stattfand. In der jüngeren Vergangenheit ist „Spiritualität“ in der Ökumenischen Bewegung vor allem im Zusammenhang des Missionsverständnisses diskutiert worden. In der von der „Kommission für Weltmission und Evangelisation“ erarbeiteten und vom Zentralkomitee des ÖRK am 5. September 2012 angenommenen Erklärung „Gemeinsam für das Leben: Mission und Evangelisation in sich wandelnden Kontexten“ ist von „transformativer Spiritualität“ die Rede. Deren Erfahrungs- und Praxiskontext ist das interkulturelle und interreligiöse Begegnungsgeschehen in der globalisierten Welt.
12 13 14 15
Raiser, Ökumene im Übergang, 125–170. Moltmann, Geist des Lebens. Müller-Römheld, Im Zeichen des Heiligen Geistes, 115. A. a. O., 54.
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„[T]ransformational spirituality is born through contact between strangers, in encounters with people who are profoundly different from us. During these encounters, which can be disconcerting, disorienting and destabilizing, we are broken open and experience transformation, a transformation of our long-held beliefs, a transformation that shakes the foundation of our being and of our beliefs. This transformative spirituality born from encounters is spirituality for today in the globalizing world where each day we meet people who are different from us“.16
Spiritualität ist also nicht primär ein seelischer Zustand, sondern ein existenziellganzheitliches und ein dialogisch-kommunikatives Geschehen, das bei den daran Beteiligten zu Transformationen führt. Sie hat eine rezeptive, eine aktive und eine kommunikative Dimension. Alle drei Dimensionen beziehen sich nicht nur auf die subjektive Innenwelt, sondern auch auf die soziale Mitwelt, die kulturelle Lebenswelt und die natürliche Umwelt. Die Näherbestimmung der „transformativen Spiritualität“ ist dabei wiederum von der „Theologie des Lebens“ geprägt, die nicht nur ihre „vertikale“ Beziehung zum Geist Gottes, sondern auch ihre „horizontale“ Beziehung zu den konkreten Lebensverhältnissen betont. Sie realisiert sich dabei allerdings nicht nur im Einsatz für soziale Gerechtigkeit, sondern umfassender in einem Handeln, das der Bewahrung der natürlichen Lebensgrundlagen, der Schaffung humaner Lebensverhältnisse und der Entfaltung reicherer Lebensmöglichkeiten dienen will. Auf diese Weise soll die praktizierte Spiritualität transformierende Wirkungen in der Welt haben. Das Verständnis von Mission korreliert dieser Auffassung von Spiritualität als intersubjektivem Geschehen. Wenn Spiritualität nicht primär als individuell gepflegter Gottesglaube und nicht primär als tätiger Einsatz für andere, sondern als Kommunikation in der Kraft des Geistes zu verstehen ist, und wenn es sich dabei nicht um eine einseitige, sondern um eine wechselseitige, dialogische Kommunikation handelt, dann kann sich auch Mission nicht in der Form einer Mitteilung von einem Sender zum Empfänger der Botschaft vollziehen. Sie geschieht auf dem Wege gegenseitiger Inspiration. „[A]uthentische Mission [macht] den ‚Anderen‘ zum Partner und nicht zum ‚Objekt‘ der Mission“.17 Besonders die Marginalisierten sind dabei im Blick: nicht nur als privilegierte Partner, sondern als selbstständig handelnde Subjekte der Mission Gottes. Mission soll „von den Rändern her“ praktiziert werden.18 Dabei führt die missionarische Begegnung bei beiden Kommunikationspartnern zu Transformationen, und sie verwandelt – davon ausstrahlend – auch die Kontexte, in denen sie leben. Diese transformative Spiritualität ist verankert im innertrinitarischen Kommunikationsgeschehen Gottes, von dem alle Mission Gottes in der Welt ausgeht.19 16 17 18 19
Greenaway, Transformative Spirituality. ÖRK, Gemeinsam für das Leben, Pkt 93. A. a. O., Pkt 6 u. ö. A. a. O., Pkt 29.
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Die Missionserklärung des ÖRK setzt die Universalität der Geistgegenwart Gottes in allen Kulturen und Glaubenstraditionen voraus. „Dialog ist auf religiöser Ebene nur dann möglich, wenn wir mit der Erwartung an ihn herangehen, dass wir Gott begegnen, der uns vorausgegangen ist und unter Menschen, in deren jeweiligen Kontexten, gegenwärtig ist“.20 Ziel der Mission kann es demnach nur sein, die schon gegebene Gottesgegenwart zu entdecken, sie gegenüber Andersglaubenden und Areligiösen zu bezeugen, sich aber auch von den Quellen der Lebensdeutung und -bewältigung der Andersglaubenden und Areligiösen anrühren zu lassen. Denn auch darin könnte Gottes Geist zum Ausdruck kommen. Zusammenfassend kann man sagen, dass diese Erklärung Spiritualität als Bewegungsprinzip des christlichen Glaubens versteht, das zugleich die Kraftquelle der Mission ist. Glauben wird also weniger mit dem Hören auf das Wort Gottes als mit dem Berührtwerden vom Geist Gottes in Verbindung gebracht, wobei ersteres natürlich seine Bedeutung behält. Diese Inspiration führt in die Kommunikation und in die Aktion, die beide ihrerseits als Geistgeschehen zu verstehen sind. Kommunikation und Aktion sind dabei nicht nur auf den zwischenmenschlichen Bereich, sondern auf die Schöpfung insgesamt bezogen. Der Geist treibt zur Erneuerung der Schöpfung und zur Fülle des Lebens für alle Menschen. Diese Fülle auszubreiten, ist das Ziel der christlichen Mission als praktizierter Spiritualität. Angesichts der Bedrohung der Lebensgrundlagen und -formen hat eine „Theologie des Lebens“ aber auch eine kämpferische Seite. Es geht nicht nur um Bewahrung und Entwicklung, sondern auch um Protest und Befreiung.
2.
Evangelische Spiritualität im ökumenischen Horizont
Man mag im Blick auf die bisher dargestellte Entwicklung des Spiritualitätsverständnisses in der Ökumenischen Bewegung nach dem spezifischen Anteil der evangelischen Spiritualität daran fragen. In Unterscheidung von anderen christlichen Konfessionen wäre diese wohl als eher christozentrische statt sakramental-ekklesiozentrische Spiritualität zu bestimmen, die den persönlichen Glauben und die Orientierung dieses Glaubens am lebendigen, biblisch bezeugten und in der Verkündigung proklamierten Wort Gottes betont. Seit Luthers Erfahrung mit dem Spiritualismus in Wittenberg hat man den Geist im Protestantismus an das Wort gebunden und damit domestiziert. Demnach sprach der spiritus sanctus aus dem Wort und durch die Wortverkündigung. Evangelische Spiritualität war und ist verbunden mit Bibellesung, -meditation 20 A. a. O., Pkt 93.
Evangelische Spiritualität im ökumenischen Horizont
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und -auslegung. Die Bibel wurde und wird als Heilige Schrift auf Christus als ihre Sachmitte hin ausgelegt. Als inspiriert vom Geist Gottes gilt sie selbst als ein spirituelles Zeugnis, das die Rezipienten spirituell ergreifen will. Das auf diese Weise aus der Bibel als der Heiligen Schrift heraus sprechende Wort Gottes ist der normative Bezugspunkt des christlichen Glaubens. Aus dem gemeinsamen Hören auf dieses Wort baut sich nach evangelischem Verständnis die Gemeinschaft der Glaubenden auf. Dieses „klassische“ evangelische Spiritualitätsverständnis ist in die ökumenische Bewegung eingegangen und hat dort prägenden Einfluss ausgeübt. Es hat von den Entwicklungen in der Ökumenischen Bewegung aber auch starke Transformationsimpulse erhalten. Diese will ich im Folgenden skizzieren. Gegenüber der Betonung der Externalität des Wortes, das von außen auf den Menschen zukommt und im Hören erfasst wird, hat man der Dimension der spirituellen Erfahrung wieder mehr Gewicht gegeben. Der Liturgie wird höhere Wertschätzung entgegengebracht, Musik, Tanz und Kunst spielen in den Gottesdiensten eine größere Rolle. Das Pilgern wurde neu entdeckt. Es werden Heilungs- und Segnungsgottesdienste veranstaltet. Vor allem aber haben sich durch interkulturelle Begegnungen mit ChristInnen aus anderen kulturellen Kontexten und durch interreligiöse Begegnungen mit Angehörigen anderer Religionen Formen der transkonfessionellen und sogar transreligiösen Spiritualität ergeben, die neben oder mit der am „Wort“ orientierten Spiritualität praktiziert werden. Evangelische Spiritualität bewegt sich zwischen den Polen des Hörens auf das von außen zugesprochene Wort und des Empfindens innerer Geisterfülltheit. „Spiritualität“ ist dabei eng mit „Ganzheitlichkeit“ verbunden. „Ganzheitlichkeit“ schließt Leiblichkeit ein. Evangelische Spiritualität hat im ökumenischen Kontext eine „Verleiblichung“ erfahren. Über eine durch Bibelmeditation genährte intellektuelle Beschäftigung mit christlichen Glaubensinhalten und eine in der Gebetsgemeinschaft praktizierte Herzensfrömmigkeit hinaus haben Formen leiblicher Erfahrung ein größeres Gewicht bekommen. Da der Begriff „Frömmigkeit“ – besonders im Luthertum – eher auf die vom Welthandeln unterschiedene Gottesbeziehung bezogen worden war, bot sich der auch in anderen Sprachen verwendbare Spiritualitätsbegriff zur Bezeichnung dieser Ganzheitsdimension in der Ökumenischen Bewegung an. In dieser Ganzheitlichkeit umfasst Spiritualität alle Dimensionen des Glaubens in seinem Lebensbezug: Glaube als notitia und assensus, d. h. als Hören, Verstehen und Annehmen der Botschaft von Gottes unbedingter und universaler Menschenliebe (die kognitive Dimension); Glaube als „Sinn und Geschmack für das Unendliche“ (Schleiermacher), d. h. als Wahrnehmen der Gegenwart Gottes mit dem Herzen (die affektive Dimension); Glaube als hingebendes Vertrauen (fiducia) in den Geborgenheitsgrund des eigenen Daseins (die existenzielle Di-
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mension), Glaube als tätige Nachfolge, d. h. als Mitarbeit Gottes am Aufbau schöpfungsfreundlicher Lebensverhältnisse (die aktive Dimension); Glaube als Entdeckung der Gegenwart Gottes in der Begegnung mit Andersglaubenden und Areligiösen (die kommunikative Dimension). Dieser Fünfdimensionalität entsprechen fünf fortwährende spirituelle Transformationen: die Transformation des Glaubensdenkens, der Selbst- und Weltwahrnehmung, der Existenzorientierung im Vertrauen (fiducia) auf die heilschaffende Gegenwart Gottes, der Handlungsorientierung im Blick auf den Willen Gottes und der Öffnung für andere Glaubens- und Lebensformen. Die ganzheitliche Schöpfungspiritualität speist sich u. a. aus den weisheitlichen Traditionen der biblischen Überlieferung, in denen Gottes Gegenwart in der Schöpfung gepriesen und „Lebenskunde“ im Licht dieser Gegenwart vermittelt wird. Sie verbindet sich mit einem relationalen und prozessualen Wirklichkeitsverständnis, das die Welt als dynamisches Netzwerk des Lebens versteht. Der Mensch ist eingebunden in dieses geistdurchwehte Netz und dazu aufgerufen, in der Bewegungsrichtung des Geistes an dessen Ausbau mitzuwirken. Im Netzwerk des Lebens herrscht beziehungsvolle ethnische, soziale, kulturelle und religiöse Vielfalt sowie ein beständiger Austausch zwischen den Vielen. Das dynamische Moment kommt nicht zuletzt im Motiv der Pilgerschaft zum Ausdruck. Christen sind aufgerufen, aus der Sicherheit ihrer tradierten Glaubensformen aufzubrechen und sich der Erfahrung des Anderen und Fremden auszusetzen. Diese Pilgerschaft kann zum Ort der Neuentdeckung der biblischen Botschaft werden. Abraham und Sara werden dabei zu Leitfiguren. In den theologischen Reflexionen, die sich mit einer solch ganzheitlichen evangelischen Spiritualität in ökumenischer Weite verbinden, laufen verschiedene inner- und außertheologische Bewegungen zusammen: die Befreiungstheologie, die Ökologiebewegung, die Öffnung für den interreligiösen Dialog, eine auf gleichberechtigtem Austausch zwischen Kirchen der nördlichen und südlichen Hemisphäre ausgerichtete Missionsbewegung, das verstärkte Interesse an Theologien der Dritten Welt usw. Die globale und die lokale Ebene werden im Denken und Handeln aufeinander bezogen. Über Denken und Handeln hinaus spielt kulturübergreifend geteilte Spiritualität eine wichtige Rolle. Das Ökumeneverständnis, in dessen Rahmen sich diese ökumenische Spiritualität entfaltet, geht weit hinaus über die klassische Konfessionsökumene. Es versteht Ökumene als das ganze Lebenshaus der Erde, wie es der Zentralausschuss des ÖRK schon 1951 bestimmt hatte.
Evangelische Spiritualität im ökumenischen Horizont
3.
601
Evangelische Spiritualität in der charismatischen Bewegung
Nachdem in den vorigen beiden Abschnitten evangelische Spiritualität in ihrer Verflochtenheit in die Ökumenische Bewegung betrachtet wurde, soll sie jetzt zu der in der weltweiten Ökumene vorherrschenden Spiritualitätsform in Beziehung gesetzt werden: der pentekostal-charismatischen Religiosität. Besonders in der südlichen Hemisphäre begegnet eine Form der Spiritualität, die sich unmittelbar auf die Überlieferungen des Neuen Testaments beruft und den dort beschriebenen Geistwirkungen – Zungenreden, Prophetie, Heilungen usw. – eine zentrale Rolle in der Praxis des christlichen Glaubens zuweist. Der Kampf gegen böse Geister wird als „spiritual warfare“ geführt. Diese Christentumsformen sind oft eng verflochten mit der traditionellen Spiritualität ihres jeweiligen kulturellen Kontexts – zuweilen so eng, dass sich die Frage stellt, inwieweit sie noch als christlich, geschweige denn als evangelisch anzusehen sind. Die klassischen konfessionellen Profile spielen in ihrem Selbstverständnis oft nur eine nachrangige Rolle. Selbst dort, wo charismatische Kirchen der Konfessionsfamilie, von der sie abstammen, verbunden bleiben, durchlaufen sie Prozesse der Charismatisierung, wie etwa die von der Basler Mission gegründete Presbyterianische Kirche in Ghana. Es sollen im Folgenden die zentralen Erscheinungsformen der transkonfessionellen pfingstlichen und charismatischen Spiritualität betrachtet werden.21 Von grundlegender Bedeutung ist die Vorstellung, dass der Geist Gottes eine Kraft („power“) ist, die zu einem „empowerment“ der von ihr Ergriffenen führt. Die göttliche Geistkraft vermag dämonische Mächte zu überwinden, die physische und psychische Krankheiten verursachen, Unheil über Menschen bringen und ihnen auch materiellen Schaden zufügen. Spiritualität bedeutet dabei, an der Ausgießung des Heiligen Geistes teilzuhaben, diesen in sich einströmen und ihn möglichst ungehindert zur Wirkung kommen zu lassen. Der wichtigste Akt der Spiritualitätspraxis ist die Lebensübergabe, die in weiten Teilen des Pentekostalismus mit der Geisttaufe verbunden ist. Von nun an ist der Mensch „spirituell“, d. h. geistbegabt. Wie sich die Geisttaufe allerdings zu Bekehrung und Wassertaufe verhält, ist unter evangelisch-charismatischen TheologInnen umstritten. Einige postulieren die Mitwirkung des Geistes bei der Bekehrung, andere verstehen die Bekehrung als Voraussetzung des Geistwirkens. Nicht selten wird das Konzept der „Geistestaufe“ auch ganz abgelehnt und durch „Geisterneuerung“ ersetzt. Dass dieses neutestamentliche Motiv anschlussfähig ist an die „klassische“ evangelische Theologie im deutschsprachigen Raum, zeigt der Blick in die 21 Mittlerweile hat sich eine solide theologische Reflexionsarbeit zu charismatischer Spiritualität entwickelt. Siehe dazu exemplarisch: Haustein, Handbuch.
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Tauflehre Karl Barths, in der die Geisttaufe als „effektives, kausatives, ja kreatives und zwar göttlich wirksames, göttlich verursachendes, göttlich schöpferisches Handeln am Menschen und im Menschen“22 verstanden wird. Nicht der Wassertaufe, sondern nur der Geisttaufe kommt sakramentaler Charakter zu. Die Wassertaufe ist ein darauf antwortender Bekenntnisakt. Des Menschen Rechtfertigung, Heiligung und Berufung geschieht nach Barth in der Anteilgabe an Christus im Geist. Wenn auch die enthusiastische Praxis der Geisttaufe in charismatischer Spiritualität bei Barth kaum auf Zustimmung gestoßen wäre, so bietet seine Tauflehre doch einen theologischen Brückenkopf in diese Richtung. Als erster und vielen charismatischen TheologInnen wichtigster Erweis der Geisterfülltheit gilt das Reden in Zungen, die Glossolalie (nach Mk 16,17; Apg 2,1; 1Kor 12; 1Kor 14). Einige deuten sie als das Sprechen in existierenden, dem Sprecher aber bis dahin unbekannten Sprachen (Xenolalie), andere als geistgewirkte ekstatische Rede, die sich von allen menschheitlichen Sprachen unterscheidet. Diese Ausdrucksform von Spiritualität ist dem westlich volkskirchlichen Christentum weitgehend fremd und selbst in Gottesdiensten innerkonfessioneller charismatischer Gemeinden hierzulande kaum anzutreffen. Mit einem Verständnis des christlichen Glaubens, das diesen im Hören auf das verkündete Gottes Wort konstituiert, in der Gemeinschaft der Glaubenden vertieft und im Handeln in der Welt aktuiert sieht, scheint sie kaum vermittelbar zu sein. Eine wichtige Erscheinungsform charismatischer Spiritualität ist die Theologie und Praxis der Heilung, die mit Heiligung aufs engste zusammenhängt. Heilung ist dabei weit gefasst. Sie bezieht die Dimensionen des Physischen, des Psychischen, des Sozialen und nicht selten auch des Ökonomischen mit ein. Unheil in diesen Bereichen wird auf die Wirksamkeit von bösen Mächten zurückgeführt, die mit der Kraft des Geistes Gottes überwunden werden können. Dazu müssen diese Mächte zunächst identifiziert werden, wozu spirituelle Führer, die mit prophetischem Charisma begabt sind, behilflich sein können. Das geschieht im Prozess der sog. „deliverance“, also der Erlösung vom Bösen (in Anlehnung an die Vaterunser-Bitte). Ziel ist es, aus der Gefangenschaft des Dämonischen auszubrechen, die die Ursache alles Unheils darstellt. Tod, Krankheit und Unheil sind als Folge der Ursünde in die Welt gekommen. Diese Sünde hat Macht über die Menschen und muss durch eine stärkere Gegenmacht bekämpft werden. Die Befreiung von der Geistbesessenheit kann nach Auffassung vieler Wortführer der charismatischen Bewegung (besonders im globalen Süden) auch zu materiellem Wohlstand und einem höheren sozialen Status führen („prosperity gospel“). Es führt kein Weg an der Einsicht vorbei, dass diese Formen der pfingstlich und charismatisch geprägten Spiritualität mit der Verlagerung des Gravitati22 Karl Barth, KD IV/4, 37.
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onszentrums des Weltchristentums von Nord nach Süd – 1910 lebten 80 % der Christen in Europa und Nordamerika, 2010 nur noch 40 % – weiterhin erheblich an Bedeutung gewinnen und die evangelischen Spiritualitäten in der weltweiten Ökumene prägen werden. Im Weltmaßstab betrachtet, durchläuft diese eine tiefgreifende Charismatisierung, die auch das evangelische Christentum in Europa affiziert. Die Charismatische Bewegung ist auch im deutschsprachigen Raum konfessionsübergreifend präsent. Neben dem vielfältigen Spektrum charismatischer Religiosität, das sich in Freikirchen organisiert hat, gibt es auch eine „Charismatische Erneuerung in der Katholischen Kirche“23 sowie die „Geistliche Gemeinde-Erneuerung (GGE) in der Evangelischen Kirche in Deutschland“,24 in der Mitglieder und Funktionsträger evangelischer Landeskirchen mitwirken, die aber insgesamt kein Projekt dieser Kirchen ist. Zur Vineyard-Bewegung in Deutschland, Österreich und der Schweiz gehören freikirchliche, evangelische und römisch-katholische Gemeinschaften.25 Die „fresh expressions of church“-Bewegung, die 2004 in England entstanden ist und mittlerweile auch im deutschprachigen Raum Fuß gefasst hat, kann als Teil dieser Charismatisierungsströmung gesehen werden. Meilensteine der Ausbreitung waren die Konferenzen „Gemeinde 2.0 – Frische Formen für die Kirche von heute“ im März 2011, „Neues wagen“ im Januar 2013 und „Kirche“ im Februar 2013. Die als Netzwerk organisierte Bewegung wird u. a. von evangelischen Landeskirchen und evangelikalen Missionsvereinigungen unterstützt. Sie folgt dem Leitbild einer „mixed economy“, in der neben den etablierten kirchlichen Angeboten neue Formen des kirchlichen Lebens, die vor allem Jüngere und Kirchenferne ansprechen sollen, eingerichtet werden.26 Aus Sicht der Kirchenleitungen soll damit verhindert werden, dass sich die charismatischen Gemeinden aus dem Verband der verfassten Kirchen lösen und sich zu Freikirchen verselbstständigen.
4.
Erkennbar evangelisch
Abschließend sollen einige theologische Überlegungen zum evangelischen Profil einer charismatischen Spiritualität vorgetragen werden. Als geistliche Erneuerungsbewegung, die mit ihrer Einführung in eine lebendige Gottesbeziehung zahllosen Menschen Orientierung gibt, verdient sie Wertschätzung. Sie trägt dazu 23 24 25 26
http://www.erneuerung.de/ (16.01.16). http://www.gge-deutschland.de (16.01.16). http://www.vineyard-dach.net/ (16.01.16). http://freshexpressions.de/ (16.01.16).
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bei, die oft beklagte „Geistvergessenheit“ in den evangelischen Kirchen Europas zu korrigieren. Selbst westlichen Christen fremd anmutende Erscheinungsformen pentekostaler und charismatischer Frömmigkeit – wie die Glossolalie – können als eine Form evangelischer Spiritualität in kulturellen Kontexten respektiert werden, denen solche urchristlichen Ausdrucksformen naheliegen. Doch schließt das eine kritische Auseinandersetzung nicht aus. Anknüpfend an die Auseinandersetzung, die schon Paulus mit den Enthusiasten in Korinth geführt hat, anknüpfend auch an Luthers Warnung vor einer verabsolutierten Herrlichkeitstheologie ist daran zu erinnern, dass evangelische Spiritualität die christliche Existenz unter das Kreuz gestellt weiß. Die Erfüllung mit dem Geist ist eine eschatologische Gabe, die unter den weltlichen Daseinsbedingungen immer nur gebrochen – als Angeld – realisiert sein kann. Die Feier des lebenspendenden Geistes darf nicht die unter den Bedingungen der Existenz unaufhebbare Verstrickung des Menschen in selbstzentrierte Geisteshaltungen, inhumane soziale, politische und ökonomische Systemdynamiken und lebenshemmende Strukturen überblenden. Mit dem Empfang des Gottgeistes ist die Sünde des Menschen nicht einfach überwunden; sie bleibt eine permanente Herausforderung für den Glauben. Einem enthusiastischen Triumphalismus ist daher entgegenzutreten, zumal wenn er sich mit einem Heilsegoismus verbindet und sich einer besonderen Geistbegabung rühmt. Für ein erkennbar evangelisches Profil der charismatischen Spiritualität ist zweitens wichtig, dass der Geist auf Vater und Sohn bezogen bleibt und nicht als selbstständige Macht angesehen wird. Nach biblischer Überlieferung ruft der Heilige Geist zum Vater (Gal 4,6) und bewegt zum Bekenntnis zu Jesus Christus (1Kor 12,3). Auch die isolierte Anbetung des Geistes erscheint nicht unproblematisch. Nach altkirchlichem Gebetsverständnis wird zu Gott im Namen Jesu durch den Heiligen Geist gebetet.27 Nach Athanasius und dem Constantinopolitanum wird der Geist zusammen mit Vater und Sohn angebetet. Es muss klar sein, dass es der Gott-Geist ist, der in Christus – dem mit Gottes Geist gesalbten Messias – „eingewohnt“ hat. Dieser Hinweis auf das Zentrum der Geistpräsenz darf aber andererseits nicht als Begrenzung ausgelegt werden. Der Geist weht nicht nur da, wo die Christusbotschaft verkündet wird, sondern wo er will. Je weiter und offener evangelische Spiritualität aufgefasst und praktiziert wird, umso wichtiger wird allerdings die „Unterscheidung der Geister“, d. h. die theologische Religionskritik. Nicht jede Geisterfahrung ist Erfahrung des Geistes Gottes. Diese Unterscheidung wird nach evangelischem Verständnis nur am „Wort“ vorgenommen werden können, d. h. an der Konsonanz mit dem biblischen Christuszeugnis.28 Das „Wort“ ist dabei nicht als exklusives Medium des 27 Etwa bei Basilius, De spiritu sancto, 16–21. 28 Siehe dazu den Beitrag von Corinna Dahlgrün in diesem Band.
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Geistwirkens in Anschlag gebracht, sondern als Kriterium zur Prüfung von Erfahrungen, die auf das Wirken des Geistes zurückgeführt werden, wobei die Anwendung dieses Kriteriums wiederum auf den Geist angewiesen ist. Mit dieser Zuordnung von Wort und Geist ist die Freiheit des Geistes (nach Joh 3,8) gewahrt, ohne ihn vom Wort (und Sakrament) zu lösen, was mit CA V nicht vereinbar wäre. Er kann durch die Wortverkündigung zur Wirksamkeit kommen, aber auch darüber hinaus. Kriteriologisch bleibt er allerdings an die Normativität des Wortes gebunden. Charismatische Spiritualität hat ihren „Sitz im Leben“ in der Geisterfahrung des Einzelnen. Es ist eine Spiritualität, die keiner kirchlichen Vermittlungen und auch nicht notwendigerweise einer intellektuellen Aneignung der Glaubensinhalte bedarf. Das führt zu einer Aufwertung des individuellen Gläubigen, die besonders für Marginalisierte und Unterprivilegierte attraktiv ist. Nach evangelischem Glaubensverständnis sind zum einen der damit verbundene Individualismus und zum anderen die Unmittelbarkeit der Glaubenserfahrung fragwürdig. Gegenüber der Unmittelbarkeit der Geisterfahrung ist darauf hinzuweisen, dass sich Gottes Offenbarung für die reformatorische Theologie immer durch geschöpfliche Medien vollzieht: vor allem durch den Menschen Jesus, durch das biblische Zeugnis, die Verkündigung des Evangeliums und die an materielle Elemente gebundenen Sakramente. Für die Erkenntnis dieser Offenbarung bedarf es der Erleuchtungskraft des Geistes. Diese Erkenntnis drängt dann auf das intellektuelle Verstehen der Glaubensinhalte. Evangelische Spiritualität war deshalb stets mit Bildung im umfassenden Sinn des Wortes verbunden. Es wäre also zu fragen: Wie verhält sich charismatische Spiritualität zu theologischer Rationalität? Wie verhält sich die Unmittelbarkeit der Geisterfahrung zur Vermitteltheit der Offenbarung Gottes? Wie verhält sich die Unmittelbarkeit in der Beziehung zu Gott zur Beziehung zur Welt und zu den Mitmenschen? Weiß sich der Glaubende in die Welt gestellt und zum Engagement für humane Lebensverhältnisse aufgerufen? Ist die Zuwendung zum „Nächsten“ nicht nur sekundäre Applikation des Glaubens, sondern auch sein primärer Erfahrungsort? Wie also steht es um die Dimensionen des Welthaften, Sozialen und Intellektuellen? Evangelische Spiritualität wird in allen ihren Erfahrungs- und Ausdrucksgestalten die Unverfügbarkeit der Geistgabe betonen. Manche Formen pentekostalcharismatischer Glaubenspraxis – besonders in den Christentümern des Südens – sind mit einem magischen Verständnis unterlegt, demzufolge Heil, Heiligung und Heilung durch das Erbringen von spirituellen und auch anderweitigen (etwa finanziellen) Anstrengungen und Leistungen erworben werden kann. Der zu zahlende Preis kann auch in der Trennung von Beziehungspartnern und dem Abbruch der bisherigen Lebensweise bestehen. Damit sind dann Erwartungen göttlicher Belohnung verbunden. Solche Erscheinungsformen sind mit
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dem Anliegen der reformatorischen Theologie unvereinbar, die von der Zusage der geschenkten Gnade und der Rechtfertigung ohne alle Werke ausgeht. Die Interpretation der Gottesbeziehung im Sinne eines quasi ökonomischen do ut des verstößt gegen die grundlegende Einsicht vom Geschenkcharakter des im Glauben erfassten „neuen Seins“ (Tillich), der in der Rechtfertigungslehre seinen Ausdruck gefunden hat. Manche der Erscheinungsformen pentekostal-charismatischer Spiritualität stehen weniger mit der reformatorischen Theologie des 16. Jahrhunderts als mit dem neuprotestantischen Verständnis des christlichen Glaubens in Spannung. Das betrifft etwa die Propagierung eines spirituellen Kampfs („spiritual warfare“). Dabei ist es weniger der Begriff des Kampfes als solcher, der – wie gesehen – auch in der Ökumenischen Bewegung der jüngeren Vergangenheit eine wichtige Rolle spielte, als die Vorstellung, dass Menschen leibhaftig von bösen Geistern besetzt seien, die mithilfe des Gott-Geistes bekämpft werden müssen. So sehr diese Vorstellung in der Geisteswelt der Urchristenheit verankert ist, so schwer scheint sie mit einem entmythologisierten Verständnis des christlichen Glaubens in der Spätmoderne vereinbar zu sein. Die kritische Auseinandersetzung mit solch problematischen Erscheinungsformen sollte die pfingstlerische und charismatische Spiritualität nicht insgesamt diskreditieren. Evangelische Spiritualität wird durch ihre Impulse eine Belebung und Erneuerung erfahren können. Wenn sie aber als evangelische Spiritualität erkennbar bleiben will, wird sie gut daran tun, die ihr von dort zukommenden Impulse kritisch auf ihre Kompatibilität mit den Grundeinsichten und Prägungen des evangelischen Glaubensverständnisses zu prüfen.
Literatur Quellen ACK, Charta Oecumenica, http://www.oekumene-ack.de/themen/charta-oecumenica/ (16.01.16). Barth, Karl, Die Kirchliche Dogmatik (KD) IV/4, Zürich 1967. Evangelisch-reformierte Kirche (Hg), Der Heidelberger Katechismus, Neukirchen-Vluyn, 2012. (auch abrufbar unter: http://www.heidelberger-katechismus.net/8261-0-227-50. html), 16.01.16. Lausanne. Erste Weltkonferenz für Glauben und Kirchenverfassung, 3.–21. August 1927, in: Vischer, L., Die Einheit der Kirche, Material der ökumenischen Bewegung, München, 1965. ÖRK: Gemeinsam für das Leben: Mission und Evangelisation in sich wandelnden Kontexten: http://www.oikoumene.org/de/resources/documents/commissions/mission-
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and-evangelism/together-towards-life-mission-and-evangelism-in-changing-lands capes?set_language=de (16.01.16). Vatikan, Dekret „Unitatis Redintegratio. Über den Ökumenismus“ http://www.vatican.va/ archive/hist_councils/ii_vatican_council/documents/vat-ii_decree_19641121_unitatisredintegratio_ge.html (16.01.16).
Forschungsliteratur Barth, Hans-Martin, Spiritualität (Ökumenische Studienhefte 2), Göttingen 1993. Basilius, De Spiritu sancto = Über den Heiligen Geist (Fontes Christiani. 1. Folge), Freiburg/ Br. 1993. Deißmann, Adolf (Hg), Die Stockholmer Weltkirchenkonferenz. Vorgeschichte, Dienst und Arbeit der Weltkonferenz für Praktisches Christentum, 19.–30. August 1925, Amtlicher deutscher Bericht, Berlin 1926. Frieling, Reinhard, Der Weg des ökumenischen Gedankens. Eine Ökumenekunde, Göttingen, 1992. Göbel, Christa, Spiritualität im ökumenischen Kontext, ÖR 40, 1991, 318–326. Greenaway, Kristine, Transformative Spirituality: a spirituality of encounter (https://www. oikoumene.org/en/resources/documents/wcc-programmes/spiritual-life/transformati ve-spirituality-a-spirituality-of-encounter), 13.01.16). Haustein, Jörg; Maltese, Giovanni u. a. (Hg), Handbuch pfingstliche und charismatische Theologie, Göttingen 2014. Heller, Dagmar, Seele der ökumenischen Bewegung. Zur Geschichte und Bedeutung der Gebetswoche für die Einheit der Christen, in: Vorster, H. (Hg): „Ökumene lohnt sich“, Beiheft zur ÖR 68, Frankfurt/M. 1998, 312–320. Heilig, Petra, Artikel „Weltgebetstag der Frauen“, in: Taschenlexikon Ökumene, hg von Harald Uhl u. a. (im Auftrag der ACK Deutschland), Frankfurt 2003, 273–275. Moltmann Jürgen, Der Geist des Lebens. Eine ganzheitliche Pneumatologie, München 1991. Müller-Römheld, Walter (Hg), Im Zeichen des Heiligen Geistes. Bericht aus Canberra 1991. Offizieller Bericht der Siebten Vollversammlung des Ökumenischen Rats der Kirchen 7. bis 20. Februar 1991 in Canberra/Australien, Frankfurt am Main 1991. Raiser, Konrad, Ökumene im Übergang. Paradigmenwechsel in der ökumenischen Bewegung, München 1989. Raiser, Konrad, Ökumene unterwegs zwischen Kirche und Welt, Berlin 2013.
Werner Thiede
Evangelische Spiritualität und interreligiöser Dialog
Der Begriff der „Spiritualität“ hat sowohl eine christliche als auch eine außerchristliche Geschichte.1 Seit den 1968er Jahren ist er weithin zu einem Symbolwort für erfahrungsbezogene Religiosität überhaupt geworden.2 In der Konsequenz wurde die Rede von „Spiritualität“ international geradezu inflationär. 1988 stellte das „Praktische Lexikon der Spiritualität“ fest: „Spiritualität ist ein dem Gebrauche nach neuerer Begriff mit nicht eindeutig umschreibbarem Inhalt“.3 Eine Diskussion von bis dahin in der „Phase des Tastens und Fragens“ erfolgten Definitionsversuchen sei – so damals der Herausgeber – wenig sinnvoll, zumal der Begriff Spiritualität auch weiterhin noch mit Missverständnissen, Unklarheiten und Vorurteilen belegt sein werde. Diese Prognose lässt sich heute nur bestätigen. Nach wie vor schillert der Begriff „Spiritualität“ in bunten Farben – so bunt wie die Welt der Religionen insgesamt! Demgemäß steht auch der seit jener Zeit geradezu in Mode gekommene „Dialog der Religionen“4 oft in enger Verbindung mit einem sehr weit gefassten Spiritualitätsbegriff. Was bedeutet dies im Hinblick auf das Programm des interreligiösen Dialogs – und was unter dem Vorzeichen einer explizit evangelischen Spiritualität? Lässt sich hier theologisch Näheres bestimmen, nachdem selbst noch das „Evangelische Kirchenlexikon“ 1996 zum Begriff „Spiritualität“ festhielt, er bleibe im vielfältigen Sprachgebrauch ebenso wie die jeweils gemeinte Sache „äußerst unscharf“? Von protestantischer Seite her muss es in diesen Fragen um mehr gehen als um vage Aussagen auf der Basis eines rein funktionalen Verständnisses von Spiritualität bzw. Religion. Sofern sich evangelische Spiritualität genauer umreißen lässt, werden jedenfalls die vier reformatorischen Grundprinzipien solus Christus, sola scriptura, sola fide und sola gratia (allein Christus, allein die Schrift, 1 2 3 4
Vgl. Peng-Keller, Herkunft; Thiede, Spiritualitätsbegriff. Vgl. Thiede, Art. Erfahrung. Lippert, Ordensspiritualität, 951. Vgl. Thiede, Wahrheit, 11ff u. ö.
Evangelische Spiritualität und interreligiöser Dialog
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allein der Glaube, allein durch Gnade) eine Rolle spielen müssen – und zwar in ihrem Zusammenklang, ihrer gegenseitigen Beleuchtung, die ein fundamentalistisches Missverständnis ebenso ausschließt wie eine liberal-theologische, „neuprotestantische“ Verwässerung.5 Es geht hier um eine besondere Betonung des Gnadengedankens auf der Grundlage der Christus-Offenbarung, wie sie im Ansatz alle ökumenischen Bekenntnisse definieren. Dabei haben kirchlichpraktische und amtstheologische Einbettungen in der Regel deutlich weniger Gewicht als im Kontext katholischer Spiritualität. Aus einer in diesem Sinn verstandenen Perspektive evangelischer Spiritualität werden solche Religionen und Religiositäten notwendigerweise mehr oder weniger kritisch gesehen, die das christliche, sprich: das trinitarische Gottesverständnis nicht teilen. Entsprechendes gilt auch für solche Spiritualitäten, die zwar den Christus-Begriff hochhalten, ihn aber nicht im Sinne der ökumenischen Grundbekenntnisse deuten. Demzufolge verbindet sich mit evangelischer Spiritualität auf rechtfertigungstheologischer Basis tendenziell immer auch ein gewisses apologetisches Interesse. Der reformatorisch steil gefasste Gnadenbegriff lässt sich nicht ohne spirituelles Ringen um seine Tiefenschärfe und damit auch nicht ohne entsprechende Abgrenzungen und Unterscheidungen halten. Das aber hat Folgen für die evangelisch-spirituelle Beurteilung der gängigen Ansätze, Programme und Prozesse des interreligiösen Dialogs.
1.
Sieht evangelische Spiritualität den interreligiösen Dialog anders als katholische?
Der katholische Spiritualitätsbegriff hat eine ehrwürdige Tradition; sein mystischer Gehalt zeugt von einer gewissen Aufgeschlossenheit gegenüber spirituellen Gehalten in anderen Religionen und damit von einer relativen Dialogbereitschaft. Schon die Haltung zum Thema „natürliche Theologie“ ist katholischerseits traditionell etwas offener für die Wahrnehmung fremder Religiositäten als die auf evangelischer Seite. In der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts war es namentlich der Jesuit Pierre Teilhard de Chardin (1881–1955), der geradezu eine Neigung zu pantheistischem Denken zeigte – wenngleich nicht auf platte Weise, sondern auf der Basis seiner kosmischen Christologie.6 In einem frühen Tagebuch grenzte er sich explizit von einem „heidnischen“ bzw. „hinduistischen Pantheismus“7 ab, was freilich indirekt einen „christlichen“ Pantheismus legitimieren helfen sollte. Schon früh hatte er „mehr oder weniger theosophisch und 5 Vgl. z. B. Thiede, Evangelische Kirche, bes. 67ff. 6 Vgl. Thiede, Christus, 316ff. 7 Vgl. Chardin, Tagebücher, 88.96.98.
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gnostisch orientierte Religionsphilosophen“8 gelesen. Seine spätere Rede vom „Christus universalis“9 ließ ihn auch offen sein für einen gewissen „Ökumenismus“ nicht nur zwischen „Christen in einer wahrhaft ‚kosmischen‘ Größenordnung“, sondern sogar zwischen „den Menschen im allgemeinen“.10 Gleichwohl wusste er sich dem trinitarischen Paradigma verpflichtet: „Es macht gerade eben das ‚Gnaden‘-Merkmal der Welt aus, daß der Platz des universellen Zentrums nicht irgendeinem höchsten Mittler zwischen Gott und dem Universum gegeben wurde; sondern daß er vielmehr von der Gottheit selbst eingenommen worden ist – die uns so ‚in et cum Mundo‘ [in und mit der Welt] in den trinitaren Schoß ihrer Immanenz eingeführt hat“.11
Christus blieb für ihn „mit jeglichem Propheten und jeglichem Buddha inkommensurabel“.12 Einen „Zusammenfluss der Religionen“ hielt er ausschließlich im Zeichen des „universalen Christus“13 für möglich. Er wagte sogar das Christentum als „die Religion von morgen“ exklusiv „durch die lebendige und organisierte Achse seines römischen Katholizismus“ zu erhoffen: „Katholischsein ist die einzige Weise, voll und bis ans Ende Christ zu sein“.14 Noch offener für den interreligiösen Dialog zeigten sich in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts – nach dem II. Vaticanum15 – katholische Denker wie etwa Bede Griffith, Raimon Panikkar, David Steindl-Rast und Willigis Jäger. Griffith zufolge muss christliches Glaubensbekenntnis mit vollkommener Offenheit für andere Glaubenswege gekoppelt sein, denn alle Religionen sind aus „der kosmischen Offenbarung entstanden, die allen Menschen zuteil geworden ist. Sie ist eine Offenbarung Gottes in der Natur und in der Seele“.16 Panikkar, der als Sohn eines indischen Vaters und einer spanischen Mutter schon von Geburt an gleichsam interreligiös „vorprogrammiert“ war und sich im Zusammenfluss „von vier Strömungen: der hinduistischen, der christlichen, der buddhistischen
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So Schiwy, Teilhard de Chardin, 287. Vgl. Chardin, Wissenschaft und Christus, 37. Vgl. a. a. O., 257. A. a. O., 87. A. a. O., 257. Teilhard de Chardin erklärt 1934: „Eine allgemeine Konvergenz der Religionen auf einen Christus-Universalis, der sie im Grunde alle befriedigt: das scheint mir die einzig mögliche Bekehrung der Welt und die einzig vorstellbare Gestalt einer Religion der Zukunft zu sein“ (ders., Mein Glaube, 156; vgl. 141). 14 Chardin, Mein Glaube, 201f. 15 In der Einleitung zu „Nostra Aetate“ heißt es von der Kirche: „Gemäß ihrer Aufgabe, Einheit und Liebe unter den Menschen und damit auch unter den Völkern zu fördern, faßt sie vor allem das ins Auge, was den Menschen gemeinsam ist und sie zur Gemeinschaft untereinander führt“ (LThK2, Bd. 13, 489). Der Spiritualitätsbegriff bewegt sich in den Dokumenten des II. Vatikanischen Konzils freilich im Rahmen katholischer Tradition. 16 Vgl. Griffiths, Christus-Bewußtsein, 95 und 121.
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und der säkularen Tradition“17 sah, formulierte später eine regelrechte „Bergpredigt des innerreligiösen Gesprächs“.18 Allerdings war diese nicht wie bei Jesus in das Gewand von Seligpreisungen mit lauter tröstlich-verheißungsvollen Indikativen gekleidet, sondern kam in Gestalt programmatischer Bedingungen daher.19 So stellte er für religiöse Begegnungen die Regel auf, sie müssten von jeglicher Apologetik frei sein.20 Demgemäß behauptete er eine „pluralistische Polyvalenz“ des Christus-Symbols.21 David Steindl-Rast22 vertrat seinerseits eine mystische Erfahrung des „Zugehörens“ als gemeinsame Grundlage aller Religionen der Welt.23 Denn unser wahres Selbst sei „das göttliche Selbst“. Der Benediktiner-Pater und Zen-Meister Willigis Jäger schließlich verfolgt bis heute „Visionen einer integralen Spiritualität“:24 Mystisches Ahnen interpretiert er als „Erinnerung an die Einheit, aus der wir kommen.“ Alle Religionen seien Wege zur Erfahrung des Göttlichen, aber keine von ihnen könne behaupten, den einzigen Zugang zu ihm zu besitzen. Gleichwohl würden alle Religionen auf dem gleichen Gipfel enden. Jäger meint demgemäß, „dass die spirituellen Wege aller Religionen der gleichen Grundstruktur folgen“. Wenn man wie er das Absolute mit völliger Leere identifiziert, passt das zu der These, es sei gleichgültig, wie man das Göttlich-Unbegreifliche benenne – ob Brahman, Gott, kosmisches Bewusstsein oder noch anders. Konsequent erklärt Jäger, seine „Geistesschule“ und Übungswege seien „transkonfessionell“ und führten „über alle Dogmen und Bekenntnisse hinaus“.25 Demgegenüber stellt sich die kirchenamtliche Perspektive auf Jesus Christus deutlich anders dar – und zwar gerade im Zusammenhang interreligiöser Bezüge. Das zeigt sich besonders in der vatikanischen Verlautbarung Dominus Iesus26 aus dem „Heiligen Jahr“ 2000. Vom Papst bekräftigt,27 stellt sie unmissverständlich klar: Die „eigentliche“ Kirche ist und bleibt die römisch-katholische; als 17 Panikkar, Christus im Hinduismus, 9. Eine „Pluralität von Christussen“ wird abgelehnt (23 und 37), nicht aber die von „unbekannten Aspekten Christi“ (37). 18 Man vergleiche Mt 5,3–10 mit Panikkar, a. a. O., 175. 19 Ausführlich bin ich auf diese Regelvorgaben zum interreligiösen Dialog bereits eingegangen in Thiede, Sektierertum, 235ff. 20 Vgl. Panikkar, a. a. O. 82f (siehe auch 64f). 21 A. a. O., 45. 22 Vgl. Thiede: Mystik im Christentum, 227–231. 23 Vgl. Capra/Steindl-Rast, Wendezeit, 47. Nächstes Zitat ebd., 131. 24 Jäger: Westöstliche Weisheit. 25 A. a. O., 15. 26 Vgl. dazu Rainer, Anstößige Wahrheit; Müller, Einzigartigkeit Christi. 27 Papst Johannes Paul II. brieflich an Kardinal Lehmann: „Eine Ökumene, die die Wahrheitsfrage mehr oder weniger beiseite ließe, könnte nur zu Scheinerfolgen führen. Die Erklärung Dominus Iesus hat den Gläubigen wesentliche christologische und ekklesiologische Wahrheiten in Erinnerung gerufen, die unaufgebbar zum katholischen Selbstverständnis gehören“ (zit. nach Schuck, Die neuen Kardinäle, 12).
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Schwesterkirche stehen ihr die orthodoxen Kirchen immerhin sehr nahe; die protestantischen und sonstigen Kirchen aber sind nicht Kirche im Vollsinn des Begriffs. Gleichzeitig wehrt jene Verlautbarung pluralistische Relativierungen nicht nur auf dem Gebiet der Ekklesiologie, sondern ebenso auf dem der Christologie ab. Die entschiedene Kritik pluralistischer Christologien fand damals auch noch im evangelischen Lager weitgehende Zustimmung.
2.
Warum sieht evangelische Spiritualität den interreligiösen Dialog nicht in monistischer Perspektive?
In der religiösen Gegenwartskultur begegnet häufig ein Begriff von Spiritualität, der selber „monistisch“28 genannt werden kann. Diese Bedeutung hat er dort, wo er für ein religiöses oder religionsphilosophisches Wirklichkeitsverständnis steht, demzufolge Gott und Welt eine mehr oder weniger klar angenommene ontologische Einheit bilden. Solch ein monistischer Spiritualitätsbegriff pflegt von dem Letztprinzip „Geist“ auszugehen, das schon vom Begriff spiritus her wurzelhaft in dem Ausdruck „Spiritualität“ anklingt. Ungefähr jede „Geist“-Philosophie und namentlich alle von östlichem Denken inspirierten Systeme und Religionen sind mehr oder weniger monistisch strukturiert.29 Demgegenüber zeugen weder biblisches noch speziell reformatorisches Denken von einem monistischen und übrigens auch von keinem dualistischen Paradigma. Vielmehr orientieren sie sich an der Grundunterscheidung von Schöpfer und Schöpfung einerseits sowie an deren Überbrückung durch Jesus Christus andererseits. Von daher lässt sich vereinfacht sagen: Sie basieren auf einem trinitarischen Paradigma. Wenn der heutige „pluralistische“ Zeitgeist solch grundlegende Paradigmen nicht mehr recht zu unterscheiden weiß, führt das zu folgenreichen Begriffsverwirrungen, weil dieselben Zentralworte (z. B. „Christus“) recht unterschiedliche Bedeutungen annehmen können – je nachdem, ob sie in einem monistischen, dualistischen oder trinitarischen Verwendungszusammenhang stehen. Theologie und Kirche tun gut daran, aufs Neue die Geister, sprich: die Paradigmen zu unterscheiden. Im Ansatz ist die Alleinheitslehre – denn dies bedeutet „Monismus“ im Grunde – philosophisch und spirituell älter als das Christentum: Varianten ihrer geistigen Entwicklung reichen bis auf Parmenides zurück und gipfelten am Ende der Spätantike im Neuplatonismus. Als sich die Kirche im spätantiken Kontext 28 Unter „Monismus“ versteht man die „traditionell metaphysische Lehre, daß die Totalität der Wirklichkeit auf ein einziges Prinzip der Erklärung zurückführbar bzw. als Manifestation einer einzigen Substanz des Wirklichen begreifbar sei“ (Graf, Monismus, 833). 29 Vgl. auch Möllenbeck, Geist – Natur.
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ausbreitete, wurde alsbald versucht, ihre Lehren monistisch zu unterwandern, und zwar über Systeme des spätantiken Gnostizismus.30 Wirklich erfolgreich war in dieser Hinsicht aber erst das Frühmittelalter: Mit den stark neuplatonisch inspirierten Schriften des Pseudo-Dionysius Areopagita, die fälschlich urchristliche Wurzeln beanspruchten,31 gelang die trick- und folgenreiche Etablierung von Strukturen eines spirituellen Monismus inmitten der lateinischen Kirche. Später konnte sie sich noch fortsetzen, ja festigen, durch den von neuplatonischem und darüber hinaus von keltischem Monismus durchdrungenen Johannes Scottus Eriugena (ca. 810–878).32 Dessen Denken beeinflusste die hochund spätmittelalterliche Mystik nachhaltig. Noch bei Martin Luther, dessen frühe Begeisterung für die Theologia deutsch mit ihren neuplatonisch-monistischen Farben bekannt ist,33 zeigen sich Spuren davon – etwa in der Lehre von der All(ein)wirksamkeit Gottes, deren Problematik der Reformator theologisch nicht zu lösen vermochte. Seine dezidierte Orientierung an der Heiligen Schrift schwächte freilich die monistischen Einflüsse und stärkte das trinitarische Denken. Als sich die altprotestantische Spiritualität zu formieren begann, machte Jakob Böhme einen beeindruckenden Versuch, reformatorische und monistische Ansätze zu vereinen – mit Spätwirkungen bis in die Identitätsphilosophie Schellings und in die moderne Theosophie hinein. Letztere entwickelte sich zu einem bedeutsamen Einfallstor östlicher Spiritualität auf westlichem Boden, womit auch der Spiritualitätsbegriff als solcher seine kirchliche Prägung teilweise einbüßte. Bereits 1893 hatte Swami Vivekananda den Spiritualitätsbegriff programmatisch im World Parliament of Religions in Chicago in Beschlag genommen, mit dem der moderne interreligiöse Dialog in Gang kam. Das geschah damals auf dem Hintergrund einer Konfrontation von spiritualistischem und materialistischem Monismus. Was man in dieser Perspektive als spirituellen Grundkonsens aller Religionen ausmachen zu können meinte, war deutlich von der advaitischen Deutung indischer Philosophie bestimmt.34 Seit damals begann die immer erfolgreicher werdende Mission östlicher Religionen im Abendland und zeitigte eine wachsende Offenheit für religiösen Synkretismus, verstanden weniger als Inkulturationsphänomen infolge der Globalisierung religiöser Kontakte, sondern vielmehr als Frucht eines effektvoll propagierten spirituellen Monismus. In Chicago, in dessen Großraum mittlerweile mehr Hindus als Episkopalisten leben, trat 1993 ein zweites „Parlament der Weltreligionen“ zusammen. Swami 30 Dass Gnostizismus keineswegs einfach „Dualismus“ bietet, sondern letzterem oftmals ein Geist-Monismus zugrunde liegt, sollte sich theologisch inzwischen herumgesprochen haben. 31 Vgl. näherhin Thiede, Mystik im Christentum, 85ff. 32 Vgl. Schrimpf, Johannes Scottus Eriugena; Thiede, Mystik im Christentum, 92ff. 33 Vgl. Thiede, Mystik im Christentum, 145ff. 34 Vgl. Hummel, Hundertjahrfeiern.
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Ghahanananda sagte dort im Sinne der meisten anwesenden Vertreter der Religionen: „Die Behälter sind verschieden, der Inhalt ist derselbe.“ Es gelte, „von Harmonie zur Einheit“ voranzuschreiten.35 Von diesem Geist ist nicht nur der Spiritualitätsbegriff monistischer Prägung bis heute bestimmt, sondern auch auf weiten Strecken der interreligiöse Dialog. Bewusst oder unbewusst wird dort, wo Vertreter großer Religionen oder auch kleinerer religiöser Gemeinschaften das gemeinsame Gespräch suchen, ein spiritueller Monismus zugrunde gelegt – als könne ein Dialog allein auf einer solchen Basis sinnvoll und fruchtbar sein. Sogar die Regeln für die Teilnahme an interreligiösen Dialogen werden mitunter ganz im Geiste eines spirituellen Monismus definiert.36 Solches Gedankengut ist auch auf protestantischem Boden anzutreffen – etwa bei dem Theologieprofessor Paul Schwarzenau, der im Untertitel seines Buches „Das nachchristliche Zeitalter“ (1993) Elemente einer „planetarischen Religion“ beschwört mit der monistischen Leitthese, dass „alle [sic!] Religionen auf Impulse aus der Gottheit hervorgehen, also Offenbarungsreligionen sind“.37 Nicht eine „Superreligion“ solle das sein, sondern eine „Religion ohne Namen“ als „Einheitsbewusstsein aus der Tiefe der Ursprünge, aus Gott, der in Richtung einer multiformen Einheit des Menschengeschlechts durch alle Wege hindurch die getrennte Menschheit zusammenführt“. Authentische evangelische Spiritualität wird so jedoch nicht argumentieren oder votieren. In der Überzeugung, dass sich Gott ein- für allemal in Jesus Christus offenbart hat und sein Heiliger Geist von ihm zeugt, denkt sie trinitarisch, um von daher andere spirituelle Denkweisen kritisch, aber keineswegs lieblos in den Blick zu nehmen. So beweist sie, dass sie eine dialogische Haltung nicht trotz, sondern gerade wegen einer unterscheidenden, nicht-monistischen Position einzunehmen vermag. In Wahrheit ist erst derjenige dialogfähig, der sich und anderen über die Paradigmen-Differenzen zwischen eigenem und fremdem Denkens hermeneutisch einigermaßen Rechenschaft geben kann.
35 Nach dem Bericht von Lefebure, Weltparlament, 109. 36 Dazu Thiede, Sektierertum, 249ff. 37 Schwarzenau, Zeitalter, 19f und 172f (der Begriff „Spiritualität“ fällt hier nicht, ist aber der Sache nach präsent). Nächste Zitate: 9 und 46f. Eher theosophisch als theologisch oder religionswissenschaftlich klingt Schwarzenaus Behauptung, in allen Weltreligionen werde „ein gemeinsames Ziel angestrebt“ (245).
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3.
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Wie verhält sich evangelische Spiritualität zum religionstheologischen Paradigma des Pluralismus?
Der Begriff „Pluralismus“38 scheint eine rein beschreibende Funktion zu haben; entsprechend gängig ist er in unserer Kultur. In diesem Sinn erklärt der Rat der EKD in seinem neuesten Grundlagentext „Christlicher Glaube und religiöse Vielfalt in evangelischer Perspektive“: „Die Existenz anderer religiöser Gewissheiten und die Glaubensfreiheit, aus der Christenmenschen leben, gehören untrennbar zusammen. Da der christliche Glaube eine je eigene individuelle Gewissheit ist, kann er nicht verantwortlich vertreten werden, ohne das Recht divergierender religiöser Überzeugungen und damit das Recht des religiösen Pluralismus anzuerkennen und zu stärken“.39
Doch um rein formal-abstrakt von Vielheit(en) zu reden, könnte man gut, ja besser das Wort „Pluralität“ benutzen. Stattdessen präferiert man inner- wie außerkirchlich einen „-ismus“-Begriff – ohne zu bemerken, dass damit versteckt ein ideologischer Hintergrund ins Spiel kommen kann. Tatsächlich bildet die Kehrseite der Pluralismus-Medaille meist die eine oder andere Variante monistischer Weltanschauung. Denn der Vielheit entspricht die Einheit offen oder insgeheim. Eine Definition des religionstheologisch verstandenen Pluralismus – und zwar im schematischen Gegenüber zu Inklusivismus und Exklusivismus40 – lautet nach Perry Schmidt-Leukel: „Die Vermittlung heilshafter Erkenntnis/Offenbarung einer transzendenten Wirklichkeit gibt es in mehr als einer Religion, ohne dass dabei eine einzige Religion alle anderen überbietet“.41 Demnach bedeutet Pluralismus das relative, ja systematisch „vergleichgültigte“ Nebeneinander unterschiedlicher Weltsichten oder Religionen. Ausgeschlossen sind praktisch alle Formen von Ausschließlichkeit. Dass genau damit der Pluralismus selber im Kern eine strenge Ausschließlichkeit vertritt, ja zumutet, wird weithin übersehen – oder bewusst toleriert, weil man der pluralistischen Ideologie bewusst oder unbewusst frönt. Reformatorisch geprägte Spiritualität kann solch ideologischem Ausschließlichkeitsanspruch unmöglich willfahren, weil sie sonst andere, konkurrierende Religiositäten bzw. Offenbarungen als soteriologisch „gleichwertig“ akzeptieren müsste. Also wird sie religionstheologischen Pluralismus kritisch betrachten, 38 Zum Begriff siehe meinen Art. Pluralismus. 39 Gütersloh 2015, Abschnitt II: Religiöse Vielfalt und evangelische Identität – theologische Grundlinien. 40 S. u. Dieses Dreier-Schema wird heute zum Teil als überholt betrachtet (z. B. Wrogemann, Beziehungen, 27ff), was freilich auch wieder ein standpunktbezogenes Urteil darstellt. 41 Schmidt-Leukel, Gott ohne Grenzen, 354.
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während sie selbst umgekehrt natürlich zum Gegenstand „pluralistischer“ Kritik wird. Als ein markantes Beispiel hierfür lässt sich der Theologe und Religionsphilosoph John Hick anführen. Er betrachtet die Vielheit der Religionen als gleichrangige Ausformungen einer verborgenen letzten Transzendenz. In Anlehnung an Immanuel Kant deutet er jede Religion als gültigen Ausfluss einer realen Gotteserfahrung, die aber in keinem Fall das völlig transzendent bleibende „An sich“ Gottes einfängt. Damit tritt im Grunde die metaphysische Grundstruktur eines monistischen Neuplatonismus zu Tage: Der ersten Emanationsstufe der gänzlich transzendenten Ur-Einheit korrespondieren bei Hick die „Absolutheiten“, die unterschiedliche Modi von der Präsenz jener letzten Wirklichkeit des Unbedingten darstellen42 und in den verschiedenen Religionen unserer Welt erfahren werden. Folglich nimmt solch pluralistische Sichtweise alle möglichen „Offenbarungsansprüche“ der verschiedenen Religionen lediglich als Manifestationen des letztlich unbekannt bleibenden „Absoluten“. Pluralistische Relativierung der jeweiligen authentischen religiösen Erkenntniserfahrungen und Wahrheitsansprüche liegt auf der Linie monistischer Logik. Die Konsequenz daraus besteht im Diskurshorizont christlicher Theologie und Spiritualität in einer Pluralisierung der Christologie, also in einer systematischen Destruktion des Solus Christus-Prinzips. Hick macht folgenden Denkvorschlag: „Wählen wir nun aus unserer christlichen Begrifflichkeit einen heraus und nennen wir Gott, wie er am Menschen handelt, den Logos, dann müssen wir sagen, daß alles Heil in allen Religionen das Werk des Logos ist und daß Menschen in unterschiedlichen Kulturen und Glaubensrichtungen unter ihren vielfachen Bildern und Symbolen dem Logos begegnen und in ihm Heil finden können. Was wir jedoch nicht sagen können, ist, daß alle, die gerettet werden, diese Rettung durch Jesus Christus erfahren“.43
Überkommene kirchliche Christologie wird als „nicht mehr zeitgemäß“ abgetan. Damit raubt Hick allerdings der Botschaft des Christentums ihre Pointe, die gerade in der paradoxen Verknüpfung von Absolutheit und Partikularität, von Universalität und Singularität, von Ewigem und Geschichtlichem besteht.44 Er „minimiert Differenzen zwischen den Religionen zu Adiaphora, so als beträfen sie nur personale Dispositionen und kulturelle Variationen an der Oberfläche, nur die Ausgestaltung, nicht aber die Tiefenstruktur“.45 Mit authentischer
42 Vgl. Hick, Gotteserkenntnis, 80. 43 Hick, Weltreligionen. 44 Zu Recht bringt Helfenstein „die Abstriche der Pluralisten an der Christologie auch mit der mangelnden Bereitschaft in Verbindung, sich auf die christlich-theologische Argumentation zurückzubesinnen“ (Grundlagen, 397). 45 Bernhardt, Absolutheitsanspruch, 209f.
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evangelischer Spiritualität ist solch pluralistische Perspektive unvereinbar. Das gilt analog für andere Vertreter(innen) dieses religionstheologischen oder besser: religionsphilosophischen Paradigmas – etwa für Paul Knitter, der lehrt, „dass keine Religion und keine Offenbarung das einzige, letzte, exklusive oder inklusive Wort Gottes sein kann“.46 Dem entspricht wiederum eine pluralistische Christologie: „So gewiß Jesus ein Fenster ist, […] so kann es doch auch noch andere Fenster geben“.47 Im Vollzug von interreligiösen Dialogen wird oft versucht, das religionspluralistische Schema unterschwellig, aber doch zielstrebig und notfalls mit autoritärer Geste in Anschlag zu bringen. Mit Recht kritisiert Wolfgang Pfüller jenen „hybriden, selbstwidersprüchlichen Relativismus, der die Gleichwertigkeit aller Religionen postuliert und dabei einen Standort beansprucht, den er doch zugleich für unerreichbar hält: den überlegenen Standort der Wahrheit“.48 Dieter Becker betont in diesem Sinne, dass gerade auch die Multiperspektivität, von der pluralistische Religionstheologie ausgeht, kulturell bedingt ist: „Sie ist ein Phänomen unserer postmodernen westlichen Kultur. Die Vertreter einer pluralistischen Religionstheologie setzen die Identität des in den verschiedenen Religionen erfahrenen Gottes a priori voraus. Der Pluralismus wird zum absoluten Dogma gemacht, und andere Absolutheitsansprüche werden nicht toleriert“.49
So aber werde man der Wirklichkeit der Religionen nicht gerecht. Eine bewusste evangelische Spiritualität wird dies bei aller Dialogbereitschaft deutlich in Rechnung zu stellen haben. Demgemäß heißt es in dem erwähnten EKDGrundlagentext von 2015: „Von einer Imitation des weltanschaulichen Pluralismus durch die christlichen Kirchen selbst, von einer Anpassung ihres Glaubens an die säkularistischen Einstellungen oder an die Indifferenz der Religionsmüden erwartet sie sich keine Stärkung der Freiheit, sondern nur Profilverluste. Darum kann der Protestantismus den Pluralismus nicht dadurch stärken wollen, dass er Pointen der reformatorischen Theologie abschwächt […]“ (27).
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Knitter, Horizonte, 160. A. a. O. 161. Vgl. Pfüller, Behebung, 343. Siehe auch Schwandt, Pluralistische Theologie. Becker, Mission verstehen, 158. Vgl. auch Thiede, Evangelische Kirche, 15ff. Wolfhart Pannenberg betont: „Der Pluralismus entzieht sich dem Forum von Vernunft und Wahrheit ebenso wie der Fundamentalismus“ (ders., Kirche, 38).
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4.
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Besteht aus der Sicht evangelischer Spiritualität eine besondere Dialog-Eignung des Inklusivismus?
Um die offenkundige Aporie des pluralistischen Modells zu vermeiden, wird häufig das religionstheologische Modell des Inklusivismus vorgezogen. SchmidtLeukel definiert es folgendermaßen: „Die Vermittlung heilshafter Erkenntnis/ Offenbarung einer transzendenten Wirklichkeit gibt es in mehr als einer Religion, aber nur in einer einzigen Religion in einer alle anderen überbietenden Form“.50 Demnach besagt christlicher Inklusivismus, „dass sich heilshafte Offenbarung/Transzendenzerkenntnis in defizitärer Form auch in nichtchristlichen Religionen findet“ – dies scheint sich als passable Lösung der Dialogproblematik anzubieten. Kann evangelische Spiritualität solch integrative und doch nicht unkritische Perspektive bejahen? Ohne Schwierigkeiten ist das Paradigma des Inklusivismus freilich auch nicht. In all seinen Varianten zeigt es – gerade im Zuge seiner dialogwilligen, freundlichen Gestimmtheit – eine spürbar vereinnahmende Tendenz: Es interpretiert andere Religionen stets von der Warte eigener Überlegenheit aus. Seine unzweifelhafte Weite und Offenheit bezahlt es dabei mit einem verschwommeneren Christus- und Gnaden-Begriff, was seine Nähe zu evangelischer Spiritualität doch ein Stückweit infrage stellt. Was die Religionen potenziell oder real von vornherein so sehr verbindet, dass auch über ihre Grenzen hinweg vom demselben Heil die Rede sein kann, muss auch hier tendenziell übergeschichtlich, abstrakt und allgemein verstanden werden. Nicht selten steht bei einer derart gestimmten christlichen Religionstheologie eine abstrakte kosmische Christologie im Hintergrund, mittels derer man meint, andere Spiritualitäten programmatisch vereinnahmen zu dürfen.51 Beispielsweise begegnet bei Andreas Rössler eine inklusivistische Rede vom „kosmischen Christus“, die „das Wirken des ewigen Gotteswortes in der ganzen Menschheitsgeschichte bedenkt“.52 Der theologisch liberale Protestant hebt den kosmischen Christus deutlich ab vom geschichtlichen Jesus: Sollte nicht der auch während Jesu Erdenleben uneingeschränkt wirksame „kosmische Christus“ den Menschen Jesus lediglich als „besonderes Werkzeug“ angenommen und sich in ihm in durchaus „eindeutiger Weise manifestiert“53 haben? An Jesus als der
50 Schmidt-Leukel, Gott ohne Grenzen, 354. Nächstes Zitat a. a. O. 357. 51 „Der geschichtliche Jesus Christus kann nichts wirklich eschatologisch Neues bringen, weil an ihm als dem schöpferischen Grund alle immer schon teilhaben“, lautet daher eine kritische Beobachtung von Ahrens (Diskussion, 16). 52 Vgl. Rössler, Gottes Himmel, 22; ferner ders., Offenbarung. 53 Vgl. Rössler, Gottes Himmel, 22, 25f, 27 und 35. Im Leben Jesu, der nicht die zweite Person der Trinität, nicht der Schöpfungsmittler (32), sondern „eine menschliche Person wie alle an-
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„normativen Manifestation des kosmischen Christus“ lässt der Inklusivist zwar keinen Zweifel,54 doch der Ausblick ist weitläufig: „Jedenfalls gibt es in allen Religionen und über alle kulturellen und sprachlichen Schranken hinweg die Möglichkeit, sich dem von Gott ausgehenden Wort zu öffnen und sich von dem von Gott kommenden Geist erfüllen zu lassen“.55 Immerhin räumt Rössler den defizitären Charakter und die Vorläufigkeit, ja die Irrtumsanfälligkeit solcher „Möglichkeiten“ ein. Dass sich aber unter den Bedingungen unserer zeitlichen Existenz „manche Berührungspunkte mit den anderen Weltreligionen“56 ergeben, ist bei Rössler der Abstrahierung vom geschichtlichen Jesus zugunsten einer übergeschichtlichen kosmischen Christologie geschuldet. Von einem SolusChristus-Prinzip im biblischen und reformatorischen Sinn kann keine Rede mehr sein. Das Dilemma des inklusivistischen Modells in seinen allermeisten Varianten besteht darin, dass es den interreligiösen Dialog zu fördern sucht durch einen Spagat zwischen ausdrücklicher Positionalität und gleichzeitiger Offenheit für die grundlegenden „Wahrheiten“ anderer Religionen und Spiritualitäten. Dieses Paradox führt am Ende dazu, dass der Inklusivist sich sozusagen zwischen alle Stühle setzt. Und nur scheinbar kommt seine Haltung einer fruchtbaren Dialogfähigkeit zugute, denn in der Regel wird auch sein religiös anders gearteter Gesprächspartner nicht ohne vereinnahmende Tendenzen angetreten sein. Schließlich dürfte man kaum über eine gegenseitige Grundhaltung respektvoller Höflichkeit und freundlich-distanzierter Wahrnehmung hinausgelangen. Denn realistisch gilt nach wie vor, was bereits Paul Tillich klargestellt hat: „Jede Religion erhebt einen absoluten Anspruch; sie beansprucht das ‚ganze Herz‘; sie duldet nichts Unbedingtes neben sich“.57 Begegnen sich also auch unter inklusivistischem Vorzeichen bei näherer Betrachtung absolute Wahrheitsansprüche, dann gilt es, selbst das exklusivistische Modell ernsthaft zu reflektieren.
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deren Menschen auch“ (34) sei, habe „der kosmische Christus seine Strahlen wie in einem Brennspiegel verdichtet“ (27). Vgl. a. a. O., 52; ferner 174f. A. a. O. 28. A. a. O., 87. Oft wird von solcher Perspektive aus – namentlich im Kontext pluralistischer Religionstheologien – die Trinität als Grundmodell von Pluralität dargestellt. Dagegen ist einzuwenden, dass Pluralität und Pluralismus nicht bloß positiv-harmonistisch zu sehen sind, „sondern auch die Zerstörung lebendiger Beziehungen durch die Macht der Sünde“ repräsentieren (Körtner, Versöhnte Verschiedenheit, 80f). Tillich, Problem, 22. Insofern gilt das Diktum von Brücks im Tübinger Dialoggespräch: „Wenn wir nicht von der Wahrheit ergriffen sind und dann auch für die Wahrheit zu streiten bereit sind, können wir unsere Religionen, ganz egal welche, aufgeben“ (142 und 146f).
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Wie verhält sich evangelische Spiritualität zum religionstheologischen Paradigma des Exklusivismus?
Haben nicht die reformatorischen Sola-Prinzipien etwas grundlegend Exklusivistisches an sich? Schon Martin Luther hat sich im Großen Katechismus eindeutig geäußert: „Die außerhalb der Christenheit sind, seien es Heiden, Türken, Juden oder falsche Christen und Heuchler, mögen zwar nur einen wahrhaftigen Gott glauben und anbeten, aber sie wissen doch nicht, wie er gegen sie gesinnt ist. Sie können von ihm auch weder Liebe noch etwas Gutes erhoffen; deshalb bleiben sie in ewigem Zorn und Verdammnis. Denn sie haben den Herrn Christus nicht und sind auch mit keinen Gaben durch den Heiligen Geist erleuchtet und begnadet“.58
Entsprechend hat sich evangelische Spiritualität über die Jahrhunderte im Blick auf andere Religionen gezeigt. Das religionstheologische Modell des Exklusivismus wird von Schmidt-Leukel wie folgt definiert: „Die Vermittlung heilshafter Erkenntnis/Offenbarung einer transzendenten Wirklichkeit gibt es nur in einer einzigen Religion“.59 Tatsächlich ist in der gesamten Geschichte des Christentums ein diesem Modell gemäßes Denken unübersehbar wirksam gewesen. Das gilt schon für den zentralen Heilsanspruch, der sich im Neuen Testament mit Person und Werk Jesu Christi verbindet (z. B. Joh 14,6; Apg 4,12; Phil 2,9f), und ab dem 2. Jahrhundert auch für die christliche Kirche, wie das die cyprianische Formel extra ecclesiam nulla salus (außerhalb der Kirche kein Heil) besagt. Evangelische Theologie hat solch kirchliche Selbstverabsolutierung wieder zurückgeschraubt, während die römische Kongregation für die Glaubenslehre noch im Jahr 2000 in der Erklärung Dominus Iesus betont: „Es ist vor allem fest zu glauben, dass die ‚pilgernde Kirche‘ zum Heile notwendig ist. Der eine Christus ist Mittler und Weg zum Heil, der in seinem Leib, der Kirche, uns gegenwärtig wird […]“ (VI.20). Einig sind sich die großen Konfessionen weithin aber im christologischen Exklusivismus geblieben, also in ihrer bekenntnismäßigen Grundüberzeugung von der nicht zu relativierenden Bedeutung Jesu Christi diesseits und jenseits für das Heil der Menschen. Katholische wie evangelische Spiritualität gehen dabei meist mit der Gewissheit einher, das Christus-Bekenntnis im Sinne des exklusivistischen Modells beeinträchtige ihre Befähigung zum interreligiösen Dialog keineswegs; im Gegenteil bilde es die innere und äußere Voraussetzung für ein echtes Gespräch, das ohne je eigene Standpunkte gar nicht funktionieren könne.60
58 Luther, Der Große Katechismus, 103. 59 Schmidt-Leukel, Gott ohne Grenzen, 354. 60 Vgl. z. B. Küng, Weltethos, 131.
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Darüber gibt es freilich unterschiedliche Ansichten. Vielfach begegnet der Verdacht, dass religionstheologischer Exklusivismus wegen seiner Ausschließlichkeitshaltung zutiefst gesprächsunfähig und intolerant sei. Doch dieses gängige Vorurteil muss bei näherer Betrachtung der Einsicht weichen, dass auch exklusivistische Modelle ihr Verhältnis zu den „Anderen“ oft gründlich durchdacht haben und spirituell zu würdigen wissen. Im Endeffekt ist die faktische Haltung dann in der Regel kaum intoleranter als bei den Verteidigern des inklusivistischen und des pluralistischen Modells. So hat die moderne Dialektische Theologie das traditionelle Schema der Differenz von Natürlicher Theologie und Offenbarungstheologie reflektiert und letztlich beibehalten. Emil Brunner etwa betonte im Zuge seiner Auseinandersetzung mit Karl Barth:61 Wenn auch im Sinne natürlicher Theologie bei Nichtchristen formal ein innerer Anknüpfungspunkt für das religiöse Gespräch vorauszusetzen sei, handele es sich hierbei doch zugleich um den Punkt des größten Gegensatzes; für die Gnade sei das Geschöpf inhaltlich eben nicht naturaliter offen.62 Von Natur aus habe der Mensch ein zwar ansatzweise vorhandenes, aber jedenfalls entstelltes und für verkehrte Wege missbrauchtes Gottesverhältnis. Barth selbst legte in seiner berühmten Lichterlehre dar, dass es durchaus „Lichter“ außerhalb des Christentums gebe, doch sah er sie klar auf die allein gültige Gottesoffenbarung in Jesus Christus bezogen.63 Auch andere Vertreter eines theologischen Exklusivismus pflegen sich zwar spirituell authentisch, aber bereit zu einer realistischen, keineswegs unfreundlichen Haltung gegenüber religiös Andersdenkenden zu zeigen. Nicht zuletzt auf katholischem Boden bestätigt sich das. So hat Karl Rahner Nichtchristen, die von der göttlichen Gnade berührt worden sind, immerhin als „anonyme Christen“ bezeichnen können. Überhaupt hat dieser katholische Dogmatiker den Religionen zugestanden, nicht ohne Spuren der Gnadenbetroffenheit aller Menschen sein.64 Ausdrücklich formuliert er, dass „in den nichtchristlichen Religionen a priori durchaus gnadenhafte Momente angenommen werden können“.65 Dies verknüpft er freilich ausdrücklich mit dem Hinweis, solche Gnade sei bezogen auf das kirchlich vermittelte „Heil Christi“, weil es ein anderes Heil nicht gebe.66 Rahner bleibt daher bei der exklusivistischen Grundthese: „Das Christentum versteht sich als die für alle Menschen bestimmte, absolute Religion, die keine andere als gleichberechtigt neben sich anerkennen kann“.67 Demgemäß könne von christlicher Seite auf 61 62 63 64 65 66 67
Vgl. Barth, Nein! Vgl. Brunner, Widerspruch, 552. Vgl. Barth, KD IV/3, § 69. Dazu Berkhof/Kraus, Lichterlehre, 30ff. Vgl. Rahner, Christentum,153. A. a. O., 143. Vgl. a. a. O., 140 und 155. A. a. O., 139.
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die Anmaßung des exklusivistischen Anspruchs nicht verzichtet werden,68 auch wenn die Möglichkeit echter religiöser Akte in anderen Religionen mit einem wenigstens indirekten Bezug auf den „wahren einen Gott“69 prinzipiell anzunehmen sei. Damit zeigt sich: Authentische christliche Theologie kann und sollte ihren wesenhaft exklusiven Wahrheitsanspruch durchaus mit einer missionarischdialogischen Ausrichtung verbinden. Ein theologisch reflektierter Exklusivismus sieht sich mit vielen steilen Wahrheitsansprüchen anderer Religionen und Weltanschauungen konfrontiert. Insofern gilt das Diktum Michael von Brücks: „Wenn wir nicht von der Wahrheit ergriffen sind und dann auch für die Wahrheit zu streiten bereit sind, können wir unsere Religionen, ganz egal welche, aufgeben“.70 Dies ließe sich sogar kritisch anführen gegen jenen neoliberalen Protestantismus71 unserer Tage, der von einem exklusiven Wahrheitsanspruch nicht mehr zu reden wagt, ihn allerdings unausgesprochen für seine eigene Denkfigur zu erheben pflegt. Eine wahrhaft evangelische Spiritualität wird auch und gerade im Zeitalter des religiösen Pluralismus das Exklusive ihrer theologischen Prinzipien zu bewähren haben.
6.
Was ist aus Sicht evangelischer Spiritualität von multikulturellen Gottesdiensten und multiplen religiösen Identitäten zu halten?
Da Dialogbereitschaft nicht mit dem grundsätzlichen Relativieren oder gar Preisgeben religiöser Überzeugungen zu verwechseln ist, darf die je eigene Spiritualität im Falle konkreter Begegnungen nicht überfordert werden. Gespräche und Zusammenkünfte verschiedenster Art schließen gemeinsames Beten und Begehen ritueller Handlungen um der jeweils mit Herz und Verstand geglaubten Wahrheit willen dann logischerweise aus, wenn es sich inhaltlich an wesenhaft unterschiedlich gedachte transzendente Mächte richtet. Eine andere Praxis wäre falsch verstandene Höflichkeit, nämlich Verrat am je eigenen, dabei in der Regel ja nicht subjektivistisch, sondern so oder so gemeinschaftlich getragenen Glauben. Analoges gilt hinsichtlich jener eher selten vorkommenden Gemüter, die für sich eine „multiple religiöse Identität“ in Anspruch nehmen. Ihre Meinung, sie könnten gleichzeitig Christ und Buddhist, Christ und Moslem, Jude und Hinduist 68 69 70 71
A. a. O., 158. A. a. O., 150. Vgl. Anm. 57. Vgl. Thiede, Evangelische Kirche, 13ff und 47ff.
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oder dergleichen sein und beide Bekenntnisse mit Herz und Verstand leben, zeugt entweder von spiritueller Naivität oder von mangelnder theologisch-religiöser Aufrichtigkeit. Dass dieses Urteil sein Recht hat, beweisen nähere Betrachtungen solcher Gestalten und Behauptungen, die im multikulturellen Horizont unserer Tage gar nicht mehr allzu ungewöhnlich anmuten mögen.72 Zweifellos gibt es „multiple“ religiöse Existenzen, und ihnen ist keineswegs pauschal zu unterstellen, sie seien subjektiv unwahrhaftig. Tatsächlich aber pflegen sie Spiritualitäten so zu verknüpfen, dass die eine durch die andere im Kern überformt oder verzerrt wird. Kurz: Gelebter krasser Synkretismus funktioniert immer nur auf Kosten einer der beiden Religiositäten. Der Hinduismus etwa ist mit seinem Gottes- und Götterverständnis wesenhaft offen für die Wahrheit vieler Religionen und wirkt recht integrativ. Mit dem Blick aufs Christentum kann er beispielsweise ganz anders als etwa Islam und Judentum urteilen: Natürlich sei es möglich und wahr, dass Gott Mensch wird; ja er werde es hundertfach in besonderen Menschen und in gewisser Hinsicht überhaupt in jedem Menschen. Damit ist jedoch der Skopus der christlichen Botschaft nur scheinbar eingeholt; bei genauerem Hinsehen ist er schlicht verfehlt, weil die Einmaligkeit der Fleischwerdung des Logos bestritten wird.73 Besonders tolerant wirken oft Buddhisten, sodass multiple Identitäten gerade in der versuchten Integration von Buddhismus und Christentum nicht selten sind. Offensichtlich bietet sich der Buddhismus für multiple religiöse Identitäten vorzüglich an, zumal er in seiner historischen Grundgestalt bekanntlich ohne jeden Gottesglauben auskommt. Doch der Anschein der Kompatibilität trügt: Die buddhistische Ursprungslehre kommt nicht nur ohne Gott aus, sondern sie wendet sich explizit gegen einen theistischen Schöpferglauben.74 Daher besteht die angebliche Kompatibilität mit dem christlichen Glauben nur dort, wo der Gottesgedanke derart umgeformt, ja entleert wird, dass er mit der non-dualistischen Perspektive des Buddhismus zusammenpasst. So leugnet etwa Detlef Witt, der Gründer des ersten christlichen Zen-Zentrums Deutschlands in Beuron und spätere Leiter des christlich-buddhistischen Zen-Zentrums in Bad WurzachEintürnen ausdrücklich ein Gegenüber von Schöpfer und Schöpfung.75 Damit bringt er eine non-dualistische Perspektive zum Ausdruck, entfernt sich aber vom biblischen Denken. Das tut er auch, wenn er für Buddhismus und Christentum gleichermaßen formulieren zu können meint: „Der Mensch muß seine
72 Vgl. Bernhardt/Schmidt-Leukel, Multiple religiöse Identität. 73 Den faktischen Pluralismus von Wahrheitsansprüchen unterstreicht Pannenberg, Religionen, 104f. 74 Vgl. näherhin die Ausführungen in meinem Aufsatz: Buddha und Jesus (Wiederabdruck in: Thiede, Wahrheit, 125–150). 75 Vgl. Witt, Evolution, 324.
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Erlösung selbst wirken“.76 Damit wird exemplarisch deutlich, wie in Witts multipler Identität die buddhistische Identität konzeptionell die Vorherrschaft über die christliche errungen hat: Sie ist das Standbein und die christliche lediglich das Spielbein. Auf weitere Beispiele sei hier verzichtet.77 Durchweg erweisen sich multiple Identitäten als religiöse Konstrukte, die zwar von Mal zu Mal als originell und vielleicht sogar als ästhetisch gelungen erscheinen mögen, aber nie im Blick auf beide jeweils „vereinigten“ Religiositäten als wirklich authentisch gelten können. Evangelische Spiritualität wird im Blick auf entsprechende, oft hochreflektierte Gestalten und doch irgendwie kurios anmutende Phänomene mit deutlichem Vorbehalt reagieren, ohne in Respektlosigkeit zu verfallen. Sie wird sich selbst in solchen Fällen einem eventuellen Gespräch nicht verweigern, sondern in dem betreffenden Gegenüber, das ein merkwürdiges „Gefundenhaben“ zu repräsentieren scheint, den insgeheim immer noch spirituell auf der Suche Befindlichen wahrnehmen. Jedenfalls gilt es gerade auch in solchen Fällen, die Geister zu unterscheiden.
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Gert Pickel
Evangelische Spiritualität und Säkularismus oder Atheismus
1.
Einleitung – Spiritualität in einer säkularen Umwelt
In der Religionssoziologie kreuzen sich viele Debatten. Eine bezieht sich auf den lange Zeit diskutierten Prozess der Säkularisierung. In der Tat scheinen die jährlich wiederkehrenden Austrittszahlen aus den Kirchen und die sinkende Gottesdienstpraxis schlagende Hinweise für eine solche Entwicklung zu sein, die als sozialer Bedeutungsverlust von Religion interpretiert wird.1 Doch mit dieser Argumentationslinie konkurrieren alternative Deutungen. So ist immer wieder von einer Wiederkehr der Religionen und einer Rückkehr des Religiösen die Rede. Steht ersteres in Zusammenhang mit den weitreichenden Prozessen religiöser Pluralisierung und weltweiten Migrationsentwicklungen mit religiösen Folgen, verweist das zweite Argument auf Phänomene einer Neugruppierung individualisierter Religiosität, speziell in modernen Gesellschaften. Egal welcher Richtung man zuneigt, eine Wiederbelebung der Debatte um die Durchsetzung eines Prozesses der Säkularisierung oder eben nicht, ist kaum zu bestreiten.2 Individualisierte Religiosität wird in großen Teilen dieser Diskussionen neben und jenseits der (christlichen) Kirchen gesehen. Gerade die Individualisierungstheorie des Religiösen geht von einer Transformation des Religiösen aus. Diese führt von tradierten und bekannten Formen etablierter und verfasster Religiosität hin zu neuer Bastelreligiosität oder neuen Mischungen persönlicher Religiosität. Man kann, so die Meinung von fast achtzig Prozent der Deutschen, auch ohne Kirche religiös sein. Nicht wenige Wissenschaftler und Betrachter scheuen sich aber, manche dieser freieren Formen der subjektiven, individualisierten Religiosität als Religiosität anzuerkennen oder zu bezeichnen.3 So erweitert die Individualisierungstheorie des Religiösen diesen Begriff unter funktionalen Ansprüchen auf viele Phänomene, die man in der Theologie nur mit Schwierigkeiten als „religiös“ oder „heilig“ zu ak1 Pickel, Situation, 78–90. 2 Vgl. Pollack, Rückkehr. 3 Vgl. Knoblauch, Religion.
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zeptieren bereit ist. Dies gilt speziell, wenn es sich um sehr persönliche religiöse Erfahrungen handelt und sie einen starken Diesseitsbezug aufweisen. Aufgrund einer Differenzmarkierung zu dem zumeist mit etablierten Religionen in Zusammenhang gebrachten Verständnis von Religiosität hat sich in den letzten Jahren in erheblichem Umfang der Begriff der Spiritualität im Sprachgebrauch ausgebreitet.4 Anders als kirchlich gebundene (traditionale) Religiosität wird sie oft als nicht von einem Rückgang betroffen angesehen. Im Gegenteil, unter Bedingungen der individualisierten Moderne wird sogar ein wachsendes Interesse für Spiritualität beim Menschen konstatiert. Die britischen Religionssoziologen Woodhead und Heelas sprechen mit dem beginnenden Jahrtausend von einer „spirituellen Revolution“, die in der westlichen Welt stattzufinden scheint.5 So diskutabel diese starke Aussage an manchen Stellen derzeit noch ist, so unklar ist, in welchem Verhältnis diese „spirituelle Revolution“ zu den ebenfalls in den europäischen Gesellschaften beobachtbaren Entwicklungen der Säkularisierung und gar zu Positionen des Säkularismus oder überzeugten Atheismus steht.6 Löst sie sich von traditionaler Religiosität und deren sozialen Bindungen – und entwickelt sich womöglich in eine andere Richtung? Kommt es vielleicht gar nicht zu einer Säkularisierung, sondern zu einer Transformation des Religiösen zu Spiritualität und Bastelreligiosität? Auch ist ihre Stellung im Verhältnis zu Kirchen unklar. Versteht man Spiritualität vor allem unter dem Aspekt des Alternativen und als „alternative Spiritualität“, dann befindet sich diese eher im Gegensatz zu einem traditional geprägten Verständnis von Religiosität. Dies bedeutet aber, dass sie jenseits der Kirchen ihren Raum sucht. Finden wir nicht auch in den Kirchen vielfältige spirituelle Angebote? Die Frage ist, wie sehen dies die Betroffenen, die Menschen selbst?
2.
Was ist Spiritualität aus religionssoziologischer Sicht?
In der Religionssoziologie bewegen sich die Einschätzungen von Spiritualität zwischen einer eher diffusen Bedeutung individualisierter Religiosität, die nicht als solche benannt werden möchte, bis hin zu einer Gleichsetzung mit Religiosität. In den neueren Deutungen taucht Spiritualität überwiegend als Wortduett „alternative Spiritualität“ auf, was ihren Gegensatz zu „normaler Religiosität“ betonen soll.7 Insgesamt ist das Selbstverständnis von Spiritualität variantenreich und unklar. In der Forschung werden oft Praktiken aufgegriffen und als Spiritualität gedeutet.8 Häufig trägt bei dieser Verwendung die Vorannahme der „Alternativität“ zur Aus4 5 6 7 8
Hamberg, Spirituality, 742–750.757. Vgl. Heelas/Woodhead, Revolution. Hamberg, Spirituality, 742–744. Heelas, Spiritualities, 758–761. Siegers, Spiritualität, 5.
Evangelische Spiritualität und Säkularismus oder Atheismus
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wahl bei. So finden sich neben Horoskopen, Bachblütentherapie, Zen-Meditation und Wünschelrutenglauben noch Esoterik und mystische Erfahrungen. Hintergrund dieses Vorgehens ist es, Differenz zu einer traditionalen Religiosität herzustellen. Diese Betonung des Gegenkulturellen geht einher mit einer Bindung an die sozialen Bewegungen eines holistischen Verständnisses des Selbst. Dort wird die Entfaltung eines „höheren Selbst“ als neue Form eines ganzheitlich-religiösen Verständnisses interpretiert – und anhand der Praktiken beschrieben.9 Solch ein Vorgehen bringt, neben dem Vorteil der Differenzbildung, Probleme. So wie nicht sicher zu schließen ist, dass die Praktiken einen wirklichen Bezug zu einer mehr als diesseitigen (zum Beispiel auf Gesundheitsvorsorge ausgerichteten) Handlungsoption aufweisen, so wenig reflektieren sie Kernbestandteile der Spiritualität als geistige Grenzüberschreitung oder ein holistisches Konzept. Spiritualität kann aber auch als spezifischer Bestandteil von Religiosität identifiziert werden, den der religiösen Erfahrung. Wenn aktuell von Spiritualität gesprochen wird, thematisiert man zumeist eine persönliche Beziehung oder Erfahrung zu einer Transzendenz oder etwas nicht Diesseitigem. Somit handelt es sich beim Kernverständnis von Spiritualität in der Religionssoziologie um ein primär individuelles Phänomen. Dies korrespondiert gut mit dem auf das „eigene Selbst“ bezogenen Verständnis des holistischen Milieus neuer religiöser oder spiritueller Bewegungen. Verschiedene der angesprochenen (alternativen) Praktiken können Folge dieser individuellen Erfahrungen sein, aber eben auch innerkirchliche oder als neutral verstandene Praktiken können anschließen (Kerzen anzünden, Rosenkranz beten, Übungen zur Kontemplation). Sie sind unterstützend, allerdings für die Definition von Spiritualität nachrangig. Auf die grenzüberschreitende Funktion einer religiösen (oder spirituellen) Erfahrung kann für eine Definition eines Phänomens als spirituell nicht verzichtet werden, auf die Praktiken schon, selbst wenn diese unterstützend und identifizierend hilfreich sind. Mit einem solchen Verständnis kommt Spiritualität in starke Nähe zu der von Ernst Troeltsch eingeführten Mystik.10 Troeltsch grenzt diese Sozialform von Religion von anderen, kollektiven Formen der Religion ab. Die durch eine individuelle Beziehung zu einem „numinosen Glauben“ gekennzeichnete Mystik erhält ihren eigenen Platz neben der Kirche und der Sekte. Diese Einordnung der Mystik als individuelles Phänomen, aber auch von mehreren Menschen geteilte Sozialform, kann für viele heutige Phänomenbestimmungen für Spiritualität in gleicher Weise verwendet werden.11 Sie greift auch holistische Denkfiguren auf, welche die Erfahrungsebene, Praktiken und soziales Leben im Sinne einer ganzheitlichen Konzeption abbilden. Ihren Kern bildet aber eben wieder die subjektive, individuale Bezugnahme auf etwas Jenseitiges, Transzendentes. 9 Höllinger/Tripold, Ganzheitliches Leben, 13–16. 10 Vgl. Troeltsch, Soziallehren. 11 Vgl. Otto, Heilige.
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Stärker noch als in der Typologie von Ernst Troeltsch stellt William James das Individuum ins Zentrum von Religiosität. Er betont die Zentralität von religiöser Erfahrung und bestimmt sie quasi als „die wahre Religiosität“. Selbst wenn nicht die Begriffe Spiritualität oder Mystik fallen, hat er doch ähnliches im Sinn: Religiosität als individuelle und persönliche Komponente des (wahren) Glaubens. Aus Sicht einer evangelischen Spiritualität bleibt allerdings ein Wermutstropfen. So sieht James nämlich die Kirche und jegliche Form der institutionalisierten Religion bzw. einer Beziehung zu ihr als eher schädlich an. Kirche ist nicht nur allein eine Folge der vorangehenden individualisierten Religiosität, nein, sie ist sogar so etwas wie deren Instrumentalisierung. Nicht von ungefähr kommt James dann auch zu der Einschätzung von „Kirche als dem verderbten Partner der Religiosität“. Damit kommt einer Bindung an eine bestimmte Religion, wie es evangelisch ja suggeriert, ein beschädigender Charakter zu. Auch religiöse Vergemeinschaftung wird sekundär. Diesem individualistischen Blick hat nicht nur Emile Durkheim widersprochen, auch Charles Taylor, beileibe kein Gegner der Gedanken von James, mahnt eine Integration dieser individualistischen Füllung des Erfahrungsbegriffs mit einem kollektive religiöse Erfahrung berücksichtigenden Zugriff an.12 Dies birgt eine Frage: Haben wir es bei Spiritualität wirklich vorrangig mit einem rein individualistischen Phänomen zu tun, oder ist nicht – speziell eine evangelische – Spiritualität etwas, was man in Gemeinschaft erfährt? Sowohl Evangelisationsveranstaltungen als auch die Orientierung an Gemeinschaft in Freikirchen lassen letzteres zumindest nicht als Scheinfrage wirken. Abb. 1: Dimensionen der Religiosität bei Charles Glock Religiöse Rituale Religiöse Erfahrungen
Religiöses Wissen Zusammenhänge und Wechselwirkungen
Ideologie (Glauben)
Religiöse Konsequenzen Eigene Zusammenstellung nach Glock und Huber.13
Diese Diskussion um religiöse Erfahrung hat bis in die empirisch arbeitende Religionspsychologie und Religionssoziologie geführt. Charles Glock identifizierte fünf Bestandteile der Religiosität. Neben religiösen Praktiken, religiösen Konsequenzen, religiöser Ideologie (worunter er den Glauben versteht) und dem religiösen Wissen stellt die religiöse Erfahrung eine eigenständige Dimension der Religiosität dar. Sie ist gleichzeitig unabhängig, wie mit allen anderen Dimensionen verbunden. Religiöse 12 Vgl. Taylor, Age. 13 Vgl. Glock, Study; Huber, Zentralität.
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Erfahrungen sind somit ohne religiöses Wissen und sie flankierende religiöse Praktiken nur schwer vorstellbar. Letztere werden benötigt, um religiöse Erfahrungen zu ermöglichen – und als solche beim Individuum erkennbar zu machen. Gleichwohl besitzt die religiöse Erfahrung auch Elemente von Unabhängigkeit. Die explizite Einschätzung des Selbst als spirituell bei gleichzeitiger Distanzierung zur Selbsteinschätzung als religiös deutet dies an. Und es kann sein, dass die Offenheit für religiöse Erfahrungen langlebiger ist als die Orientierung an religiösen Riten und religiösem Wissen. Selbst die Säkularisierungstheorie sieht hier ja auch nicht gleichzeitige Verluste vor. Soziologisch gesprochen steht neben der Gelegenheitsstruktur, eine Erfahrung überhaupt für einen selbst wirklich machen zu können, eine Deutungskultur, die den religiösen Bezug durch dessen Zuordnung ermöglicht. Die soziale Kontextualisierung der Erfahrung besitzt also eine wesentliche Bedeutung.14 Dies hat auch James nicht anders gesehen, unterscheidet er doch zwischen Erfahrungen und religiösen Erfahrungen. In seinen Konsequenzen an einer ähnlichen Stelle, aber unabhängig von diesen Überlegungen, landet Georg Simmel. Auch er gesteht der individualisierten Religiosität als anthropologische Konstante eine große Bedeutung für Religion zu. Gleichzeitig sind aber recht offene spirituelle oder transzendente Überlegungen und Fragen eben alleine für sich noch keine Religiosität. Sie müssen mit einem im Diesseits bestehenden, kulturell gewachsenen Verständnis von Religion korrespondieren, um zu Religiosität zu werden. Einfach gesagt: Die numinosen Erfahrungen und Vorstellungen des Individuums werden erst dann zu Religion (und Religiosität), wenn sie sich in der Gesellschaft mit entsprechenden Sozial- und Kulturformen verbinden. Diese kulturelle Deutungsnotwendigkeit im Diesseits ist neben der individualisierten Erfahrung die zweite wichtige Komponente, um Phänomene als religiös deklarieren zu können. Ist dies nicht der Fall, so kommt es aus seiner Sicht zu religiösen Halbprodukten, die er als „religioid“ bezeichnet.15 Diese Unterscheidung eröffnet die Möglichkeit, einem zu breit angelegten Verständnis von Religiosität zu begegnen, wie es manchmal der Individualisierungstheorie des Religiösen vorgeworfen wird. Damit sind wir beim Verhältnis der aktuellen religionssoziologischen Theorien zu Spiritualität. Es ist an dieser Stelle nicht notwendig die drei derzeit dominierenden Ansätze der Religionssoziologie ausführlich darzustellen.16 Interessant ist aber ihr Verhältnis zu Spiritualität. Die Überlegungen der Individualisierungstheorie sind primär auf die persönliche Religiosität ausgerichtet und sprechen Spiritualität direkt an. Diese wird als ein Bestandteil einer eher ungebundenen, fluiden und auf jeden Fall persönlichen Religiosität angesehen. Sie bleibt im Bereich der Begrifflichkeit von Religiosität, 14 Wuthnow, Spirituality, 318f. 15 Vgl. Simmel, Religion. 16 Vgl. Pickel, Religionssoziologie, 135–225.
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verweist aber über deren traditionales Verständnis im Sinne von Weltreligionen hinaus. Dies ist ein Grund, warum Spiritualität oft in Verbindung mit dem Terminus „alternative Spiritualität“ aufscheint.17 Es kennzeichnet auch den immer wieder betonten Gegensatz zu einer institutionalisierten Sozialform der Religion und Religiosität. Nach Hubert Knoblauch zeichnet sich Spiritualität vor allem durch die Aspekte Ganzheitlichkeit (Holismus), Distanz zur traditionalen institutionalisierten Religiosität und einem klaren Subjektivismus aus.18 Entsprechend spielt der Aspekt der persönlichen Erfahrung mit Bezug auf das Selbst die tragende Rolle für das individualisierungstheoretische Verständnis von Spiritualität. Die Individualisierungstheorie, bzw. ihre zentralen Vertreter, gehen von einer Ausbreitung von Spiritualität im Sinne einer breit gefassten Form des Umgangs von Menschen mit Unsicherheit und dem nicht direkt Erfahrbaren aus. Dies kann unterschiedliche Formen annehmen, welche im Sinne von „Bastelreligiositäten“ auch viele Synkretismen zulassen. Eine Vielfalt der Formen von Spiritualität ist quasi das Leitbild, auf welches sich moderne Gesellschaften zubewegen. Abb. 2: Aktuelle Ansätze der Religionssoziologie und ihr Verhältnis zu Spiritualität Säkularisierungstheorie
Individualisierungs- Marktmodell These des Religiösen
Grundannahme Spannungsverhältnis zwischen Moderne und Religion
Konstantes Bedürfnis des Individuums nach Religion
Bezugstheorie
Individuelle religiöse Grundorientierung als anthropologische Konstante Modernisierungstheorie Individualisierungstheorie
Angebotsorientierte Markttheorie
Kontinuierlicher Bedeutungsverlust von Religion als sinnstiftender und sozialer Instanz
Religiöser Markt bestimmt Ausmaß an Religiosität und Kirchlichkeit
Haupthypothese
Bedeutungsverlust institutionalisierter Religion; Weiter-bestehen privater Formen von Religion Stellung von Impliziert eine persön- Leitbild einer vielSpiritualität liche Religiosität, welche fältigen und indivisich mit der Modernidualisierten „spirisierung ebenfalls säku- tuellen“ Gesellschaft mit dem larisiert Schwerpunkt einer Alternative Eigene Zusammenstellung.
Ausdrucksform persönlicher Religiosität, die sich über Nachfrage zu verschiedenen Sozialformen entwickelt
Die Säkularisierungstheorie beschäftigt sich mit Spiritualität nur am Rande, erkennt aber religiöse Erfahrung als einen wichtigen Bestandteil der Religiosität an. Sie sieht Spiritualität – speziell aufgrund von mit der Modernisierung verbun17 Vgl. Stolz u. a., Religion. 18 Knoblauch, Religion, 125–128.
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denen Prozessen der Rationalisierung – nur begrenzt als alternative Ausdrucksform zu „traditionaler“ Religiosität. Diese ist vielmehr in andere Aspekte von Religiosität eingebettet – und dürfte damit langfristig genauso unter Druck geraten wie andere Formen des Religiösen. So ist es aus Sicht von Säkularisierungstheoretikern unwahrscheinlich, dass diese Religiositätsform ohne soziale und kulturelle Verankerung selbstständig überlebt. Es fehlt ihr die Möglichkeit der Tradierung und Weitergabe. Außerreligiöse Formen von Spiritualität werden kritisch gesehen. Sie sind analytisch unspezifisch und können deshalb nicht als Religiosität kategorisiert werden. Es ist dann eben keine Religiosität mehr, sondern es sind Lebenshilfe oder ganz normale persönliche Erfahrungen, die in diesem Zusammenhang beschrieben werden. Mit Simmel könnte man von religioiden Formen sprechen. Das Marktmodell des Religiösen beschäftigt sich nicht explizit mit Spiritualität. Implizit sieht es diese Ausformung – vielleicht auch vergleichbar mit dem Verständnis von Mystik als Sozialform von Troeltsch – als eine Antwort auf eine Richtung religiöser Nachfrage. Die Nachfrage bezieht sich auf persönliche Auseinandersetzungen mit Unsicherheit, reflektiert aber die daraus resultierenden Varianten der Nachfrage unter den Individuen. Spirituelle Angebote stehen (gleichberechtigt) neben anderen Angebotsmöglichkeiten. Damit können spirituelle Praktiken wie Erfahrungsangebote von religiösen Anbietern als eine Variante des Angebots verwendet werden. Gerade Freikirchen integrieren gerne Elemente der Spiritualität in ihr Programm. Doch auch „traditionale“ Kirchen greifen auf spirituelle Angebote zurück, so sie denn Erfolg versprechen. Die eher freieren spirituellen Angebote stehen immer in Konkurrenz sowohl zu traditionalen religiösen Angeboten als auch zu säkularen Angeboten. Interessanterweise wird ihre Manifestation in bestimmten Sozialformen gerade im Marktmodell grundsätzlich mitgedacht, geht man doch davon aus, dass entsprechende Angebote notwendig sind, um aus der unsichtbaren Nachfrage eine sichtbare Spiritualität (und Religiosität) zu machen. Die Neigung amerikanischer Megachurches, auf spirituelle Elemente und Aspekte kollektiver religiöser Erfahrung in ihren Gottesdiensten zurückzugreifen, ist ein Beispiel hierfür. Insgesamt kann man nach diesem Durchlauf durch die religionssoziologische Theorien- und Klassikerlandschaft sagen, dass Spiritualität vor allem durch das persönliche Verhältnis zu Religiosität oder zu Religioiden gekennzeichnet ist. Gelegentlich wird ihr ein stärkerer grenzüberschreitender Charakter zugestanden als der Religiosität, manchmal wird sie mit letzterer gleichgesetzt, und manchmal steht sie als Alternative neben dieser. Zentrale Komponente ist aber immer ihre Subjektivität.19 Damit enthalten alle Verwendungen von Spiritualität einen Bezug auf individuelle religiöse Erfahrung. Um diesem Zugriff gerecht zu 19 Siegers, Spiritualität, 5–30.
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werden, ist es sinnvoll, das Eigenverständnis der Menschen über Spiritualität aufzunehmen.
3.
Spiritualität aus empirischer Sicht
Die empirische Beschäftigung mit Spiritualität hat mit der Zunahme der Begriffsverwendung in öffentlichen Diskursen in den letzten Jahren einen Schub erfahren. Selbst wenn nicht immer exakt zu bestimmen ist, welches Verständnis von Spiritualität jeweils in den Diskussionen ihre Anwendung findet, ist überwiegend die Präferenz für die Variante einer Trennung dieses Bereiches von Religiosität zu erkennen. Gelegentlich wird versucht, typologisch aus dieser Trennung Kapital zu schlagen und unterschiedliche Formen der modernen, pluralen und sich pluralisierenden Religiosität nachzuzeichnen. Eine valide empirische Messung von Spiritualität ist genauso wenig einfach wie die Interpretation der vorliegenden Daten.20 Eine mittlerweile breit genutzte Möglichkeit ist die direkte Frage an Menschen, ob Spiritualität für ihr Leben wichtig ist oder ob sie spirituell sind. Die Eigeneinschätzungen liegen bei dieser Nachfrage allerdings nicht besonders hoch (Abb. 3). Spiritualität scheint auf den ersten Blick in Deutschland kein über Religiosität hinausgreifendes Massenphänomen zu sein. Nur Minderheiten empfinden sich als spirituelle Menschen. Immerhin ein Viertel der Befragten in Westdeutschland und jeder Sechste in Ostdeutschland schätzt sich zumindest als moderat spirituell ein. Gleichwohl liegen diese Werte hinter den Selbsteinschätzungen als religiös zurück. Dies ist damit zu erklären, dass in einem westlich geprägten Umfeld eine Gruppe religiöser Menschen Spiritualität als alternativ-esoterisch gedeutetem Phänomen kritisch bis ablehnend gegenübersteht. Es überwiegt aber die enge Kopplung. Die Korrelationen zwischen Spiritualität und Religiosität fallen mit r=0.49 (Deutschland r=0.41) sehr stark aus. Diese geringe Trennschärfe zwischen beiden Konzepten in den Köpfen der Menschen belegen auch verschiedene religionspsychologische Studien.21 Man muss von einer erheblichen Kulturgebundenheit transzendenter Anschauungen ausgehen, welche Religiosität und Spiritualität als eng miteinander verbunden identifizieren.
20 Vgl. Klein (u. a.), Spirituality. 21 A. a. O., 73.
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Evangelische Spiritualität und Säkularismus oder Atheismus
Abb. 3: Empirische Verbreitung von Spiritualität Sehr/relativ spirituell
Moderat spirituell
Wenig Gar nicht spirituell spirituell
Ostdeutschland
13 4
25 16
30 20
32 60
Religion Islam Religion Katholisch
22 14
38 34
19 28
11 24
Religion Evangelisch Religion Ev. Freikirche
7 40
21 13
34 13
38 34
Konfessionslose Sich selbst als Atheisten klassifizierende
6 3
11 13
22 29
61 55
Westdeutschland
Westdeutschland 12 13 14 61 Ostdeutschland 5 8 9 78 Bertelsmann Religionsmonitor 2013; Wichtigkeit von Spiritualität für das eigene Leben; Deutsche Stichprobe; Allbus 2012: Frage: Würden Sie sich als spirituellen Menschen einschätzen? Kategorisierung einer Antwortskala von 1–10; Aussagen in Prozent.
Ein differenzierender Blick auf die Verteilung von Spiritualität nach Religionsgemeinschaften zeigt, dass sich unter den Katholiken noch relativ viele finden, die zumindest eine moderate Spiritualität ihr Eigen nennen. Ernüchternder fallen die Zahlen für die Protestanten aus. Spiritualität scheint bei vielen von ihnen mit dem rationalistisch-nüchternen Weltbild, das den Protestantismus prägt, nicht so einfach in Einklang zu bringen zu sein. Vor allem das zum Begriff der Gemeinschaft kritisch eingestellte Denken im Nachkriegsprotestantismus mit seiner starken Betonung einer individuellen Gottesbeziehung könnte einen verlängerten Effekt besitzen. Doch auch der nach allgemeiner Wahrnehmung spiritueller eingestellte Katholizismus kann unter seinen Mitgliedern keine wirkliche „spirituelle Revolution“ entfalten. Anders ist es übrigens bei den Muslimen, wo eine klare Mehrheit eine zumindest moderate Spiritualität angibt. Da aber auch die Werte für Religiosität unter den Muslimen höher ausfallen als in allen anderen Gruppen, ist wieder von einer engen Verzahnung von Religiosität und Spiritualität auszugehen – wenn sie denn mit dieser einfachen Frage halbwegs angemessen identifiziert wird. Ein ähnliches Ergebnis kann übrigens auch für Anhänger evangelischer Freikirchen konstatiert werden. Dort finden wir (allerdings unter dem Vorbehalt nur geringer Fallzahlen in den Studien) eine große Nähe zur Selbsteinschätzung als spirituell oder auch zu religiösen Erfahrungen. Diese Ergebnisse sind kein spezifisch deutsches Phänomen. Bezüge zwischen Religiosität und Spiritualität sind weltweit auffindbar, und die deskriptiven Ergebnisse differieren nur begrenzt (Abb. 4). Überall dort, wo die Religiosität hoch ist, ist in der Regel das Selbstgefühl der Spiritualität weiter verbreitet – und
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umgekehrt. Die Selbsteinschätzungen reflektieren die Befunde zur Säkularisierung in Europa. Wir finden allerdings auch Differenzen zwischen der Eigeneinschätzung von Religiosität und Spiritualität. In den USA, Spanien und Frankreich gibt es eine etwas höhere Zahl an Menschen, die sich eher spirituell einschätzen als religiös. Hier scheint eine stärkere Distanzierung zur mit Kirche verbundenen Religiosität zu greifen. In Südkorea, Israel und am deutlichsten in Deutschland ist das Verhältnis umgekehrt. Dort kann von einem die Religiosität überlagernden Spiritualitätsschub nur unter großen Schwierigkeiten gesprochen werden. Abb. 4: Wichtigkeit von Religion und Spiritualität für das Leben in 13 Ländern
Bertelsmann Religionsmonitor 2013; Wichtigkeit für das eigene Leben; Aussagen in Prozent.
Wie ist es nun mit der religiösen Erfahrung, die eingangs als „seelenverwandt“ zur Spiritualität ausgemacht wurde? Hier zeigen Daten des Religionsmonitors einen Anstieg der Nennungen zwischen 2008 und 2013.22 Zwei Aussagen seien zur Betrachtung herangezogen. Zum einen inwieweit man das Gefühl hatte, mit einer spirituellen Macht in Kontakt gewesen zu sein, zum anderen das Gefühl, mit der Welt eins geworden zu sein. Das erste wird als Indiz für eine Du-Erfahrung, das zweite für eine All-Erfahrung angesehen. Die Ablehnung dieser Aussagen ist sowohl unter den Kirchenmitgliedern als auch unter den Konfessionslosen hoch. Speziell die Konfessionslosen geben an, bislang kaum entsprechende Erfahrungen gemacht zu haben. Doch auch die Erfahrungen der evangelischen Kirchenmitglieder sind übersichtlich. Am geringsten ist noch die Ablehnung der Aussage, in Kontakt mit Gott oder einer spirituellen Macht gekommen zu sein. Da nicht alle der weiteren Antworten spiegelbildlich auf der 5-Punkte-Skala als 22 Huber, Anzeichen, 104–107.
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Zustimmung zu werten sind, haben wir es auch hier mit Minderheiten zu tun, die entsprechende Erfahrungen gemacht haben. Vieles deutet darauf hin, dass auch die religiöse Erfahrung – soweit sie christlich religiös konnotiert wird – nicht gegen Abbruchsprozesse gefeit ist. Und warum auch, ist die religiöse Erfahrung doch in eine durch religiöse Riten, Wissen und Glaubensüberzeugungen geprägte Kultur eingebettet. So greifen die religiösen Erfahrungen stark auf traditionalreligiöse Bindungen zurück, wie die hohen Korrelationen mit der Kirchenverbundenheit (r=.56/.51), dem Gottesglauben (r=.55/.61) oder der religiösen Sozialisation (r=.47/46) zeigen. Einfach gesagt, setzt sich der Komplex der Religiosität aus verschiedenen, eng miteinander verzahnten Dimensionen zusammen, die in Richtung eines kulturell verankerten Religiositätsverständnisses weisen. Dass eine Verbindung zwischen der Selbsteinschätzung als spirituell und den beiden Erfahrungsdimensionen vorliegt, zeigen Korrelationsanalysen. Die DuErfahrung steht genauso (r=0.43) wie das Gefühl, eins mit der Welt zu sein, (r=0.27) mit der spirituellen Selbsteinschätzung in einer signifikanten Beziehung. Gleichwohl sinkt der Zusammenhang gegenüber der Beziehung zu Dimensionen der Religiosität ab (zur Du-Erfahrung r=.60, zur All-Erfahrung r=.43). Es scheint Differenzen in der Selbsteinschätzung und den Aspekten religiöser Erfahrungen zu geben. Bestimmte Gruppen neigen scheinbar dazu, einen Unterschied zwischen religiösen und spirituellen Erfahrungen in ihrem Denken vorzunehmen. Abb. 5: Religiöse Erfahrungen (ablehnende Antworten)
V. Kirchenmitgliedschaftsuntersuchung 2012; Erfahrung = „Ich hatte Situationen, da hatte ich das Gefühl, mit Gott oder einer spirituellen Macht in Kontakt zu sein“; Eins mit Welt = „Ich hatte schon das Gefühl eins zu sein mit der Welt“; aufgeführt ablehnende Antworten 1 (trifft überhaupt nicht zu) und 2 (trifft eher nicht zu) auf einer 5-PunkteSkala.
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In eine ähnliche Richtung kann man eine direkte Nachfrage hinsichtlich des Verhältnisses zwischen der spirituellen Selbsteinschätzung und der religiösen Selbsteinschätzung interpretieren. Im europäischen Vergleich dominieren die korrespondierenden Einschätzungen, und die meisten Menschen setzen Spiritualität und Religiosität gleich. Genauso finden sich kulturell variierende Gruppengrößen, die eine gleichzeitige Ablehnung beider Einschätzungen äußern. Diese (anwachsende) Gruppe kann als Konsequenz der Säkularisierung gesehen werden. Daneben finden sich aber auch Differenzierungen. Insgesamt überwiegt dann die Selbstbezeichnung religiös, aber nicht spirituell. Das Antwortverhalten ist kultur- und religionsgebunden. Einfach gesagt: Je religiöser ein Land, desto häufiger findet man ein Bekenntnis zu eigener Religiosität mit einer gleichzeitigen Distanzierung zur Spiritualität. Letztere wird als Alternative, aber eben nicht als zur eigenen Religion zählende Alternative gesehen. Es sind die protestantischen Kulturgebiete, wo eine stärkere Spiritualität existiert. Deutlich wird dies in Norwegen und in Schweden. Gründe können sowohl die stärkere Orientierung auf das Individuum im Protestantismus als auch eine höhere Distanzierung zur institutionalisierten und verfassten Kirche sein. Ein Merkmal, welches Hubert Knoblauch ja als essenziell für die Klassifikation von (alternativer) Spiritualität identifiziert.23 Abb. 6: Religiosität und/oder Spiritualität nach Selbstaussagen Weder religiös noch spirituell
Spirituell, aber nicht religiös
Norwegen
53 50
24 22
5 8
18 20
Belgien Großbritannien
45 44
12 13
14 11
28 32
Dänemark Niederlande
42 41
13 12
18 19
27 28
Ungarn Finnland
40 33
15 13
13 10
33 44
Portugal Italien
25 18
8 8
20 16
47 59
Schweden
Religiös, aber nicht spirituell
Religiös und spirituell
Polen 13 2 34 51 Westdeutschland 34 13 41 12 Ostdeutschland 76 9 11 4 Religion and Moral Pluralism (RAMP) 1999; Eigeneinschätzungen der eigenen Spiritualität und/oder Religiosität; ergänzt um Werte zu Deutschland auf Basis Allbus 2008.24 23 Knoblauch, Religion, 122–125; Heelas/Woodhead, Revolution. 24 Knoblauch, Religion, 122.
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Gleichzeitig ist auffällig, dass in Ländern, in denen es einen Überhang im Verhältnis von spirituellen gegenüber religiösen Menschen gibt, auch die Zahl der Nichttranszendenten am höchsten ausfällt. Dies lässt es nicht abwegig erscheinen, dass eine mehrheitliche Spiritualität ohne religiöse Bindungen zeitlich eine geringere Stabilität aufweist als die sozial verankerte Religiosität. Mit einer Abwendung von der institutionalisierten Kirche könnte über die Zeit auch die kulturell gedeutete Religiosität diffundieren und erodieren. Als Konsequenz wählen Menschen dann entweder eine exklusiv auf die eigene Erfahrung ausgerichtete spirituelle Option – oder eine säkulare Option. Abbildung 6 gibt Hinweise darauf, dass die zweite Option relational häufiger gewählt wird. Auf der impliziten Ebene der Selbsteinschätzung der Menschen besteht jedenfalls eine enge Verbundenheit von Religiosität und Spiritualität.25 Für das Gros der Menschen ist Spiritualität stark mit religiöser Erfahrung und mit anderen Dimensionen von Religiosität verbunden. Gleichwohl bedeutet dieses Ergebnis nicht, dass es entsprechende Gruppen nicht gibt. Es lässt sich empirisch zeigen, dass Spiritualität mit nichtchristlichen oder außerkirchlichen Formen von „Religiosität“ in Korrespondenz steht. Zen-Meditation, Spiritismus, Mystik und weitere „spirituellen“ Praktiken und Denkweisen korrelieren stärker mit einem spirituellen als mit einem religiösen Selbstverständnis. Dies deutet auf die Existenz des oft gebrauchten Verständnisses einer „alternativen Spiritualität“ in Teilen der Bevölkerung hin und kann als Hinweis auf ein holistisches Milieu mit spiritueller Prägung verstanden werden.26 Sie steht im Kontrast zu einer an Dogmen orientierten Deutung von Religiosität, kann dabei aber auch in eine Bastelreligiosität einfließen. Gleichzeitig findet sich eine Gruppe, die Spiritualität mit alternativen Erfahrungsvorstellungen und neuen (spirituellen oder religiösen) Praktiken verbindet. Gelegentlich kommt es zur Ausbildung von Synkretismen, manchmal zu einem bewussten Gegensatz zu etablierten Religionsformen. Allerdings ist dies nicht so verbreitet, dass man von einer Transformation des Religiösen hin zum Spirituellen reden kann.
25 Klein (u. a.), Spirituality, 83. 26 Höllinger/Tripold, Ganzheitliches Leben, 270–273.
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Abb. 7: Korrelationen: Spirituelles Selbstverständnis und außerkirchliche Praxisformen
Allbus 2012; Spiritualität und Religiosität (Selbsteinschätzung auf 10 Punkte Skala); Pearsons R-Korrelationen (signifikant bei p