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German Pages [829] Year 2017
Peter Zimmerling (Hg.)
Handbuch Evangelische Spiritualität Band 1: Geschichte
Peter Zimmerling (Hg.)
Handbuch Evangelische Spiritualität Band 1: Geschichte
Vandenhoeck & Ruprecht
Mit einer Abbildung Umschlagabbildung: © Maria Einert, Leipzig, „wirkfeld“, 2014 www.maria-einert.de Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. ISBN 978-3-666-56719-3 Weitere Ausgaben und Online-Angebote sind erhältlich unter: www.v-r.de © 2017, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Theaterstraße 13, D-37073 Göttingen/ Vandenhoeck & Ruprecht LLC, Bristol, CT, U.S.A. www.v-r.de Alle Rechte vorbehalten. Das Werk und seine Teile sind urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung in anderen als den gesetzlich zugelassenen Fällen bedarf der vorherigen schriftlichen Einwilligung des Verlages.
Danksagung
Das Handbuch Evangelische Spiritualität insgesamt und so auch sein erster Band sind ein Gemeinschaftswerk, das von der Fachkompetenz der Beiträgerinnen und Beiträger lebt. Als Herausgeber möchte ich zuerst den Kolleginnen und Kollegen danken, die sich zur Mitarbeit bereit erklärt und Artikel zur Verfügung gestellt haben. Mein Dank gilt auch meinen Mitarbeitern, die sich oft über Gebühr engagiert haben: Herrn Tobias Liebscher, Herrn Friedemann Liebscher, Frau Lydia Keller, Herrn Kevin Stilzebach, Herrn Johannes Schütt, besonders aber Herrn Dr. Markus Schmidt, ohne dessen Verlässlichkeit der Band nicht hätte erscheinen können. Er hat alle anfallenden redaktionellen Arbeiten umgehend erledigt. Darüber hinaus lag die Organisation des Internationalen wissenschaftlichen Symposiums „Evangelische Spiritualität“, das vom 5. bis 7. Februar 2016 an der Universität Leipzig mit Beiträgerinnen und Beiträgern der beiden ersten Bände stattfand, in seinen Händen. Der Leipziger Künstlerin Frau Maria Einert danke ich für die Bereitstellung des Titelbildes. In bewährter Weise hat Frau Margitta Berndt (Herrnhut) Korrektur gelesen. Den folgenden Kirchen, Stiftungen, Vereinen und Institutionen bin ich für finanzielle Unterstützung des Gesamtprojekts sehr dankbar: Evangelische Kirche in Deutschland, Evangelische Kirche Berlin-Brandenburg-schlesische Oberlausitz, Evangelische Kirche in Hessen und Nassau, Evangelische Landeskirche in Baden, Evangelisch-Lutherische Landeskirche Sachsens, Dr. Heinz-Horst Deichmann Stiftung, Evangelische Diaspora e.V., Förderverein der Theologischen Fakultät Leipzig e.V., Stiftung Geistliches Leben. Schließlich möchte ich den Herren Jörg Persch und Christoph Spill vom Verlag Vandenhoeck & Ruprecht danken: Herrn Persch, dass er sich schon vor Jahren bereit erklärte, das dreibändige Handbuch in das Verlagsprogramm aufzunehmen, und Herrn Spill vom theologischen Lektorat, der den Band in bewährter Weise betreute. Leipzig, im Herbst 2016
Peter Zimmerling
Geleitwort des Ratsvorsitzenden der Evangelischen Kirche in Deutschland
Liebe Leserin, lieber Leser, dass sich die wissenschaftliche Theologie mit evangelischer Spiritualität befasst, markiert eine wichtige Zäsur: Die ungute Trennung von theologischer Wissenschaft und geistlichem Leben lässt sich überwinden, und es lassen sich Maßstäbe gewinnen für eine Selbstbesinnung der Evangelischen Kirche auf die kräftigen Wurzeln und den großen Reichtum ihrer lebendigen Spiritualität. Ich freue mich, dass profilierte Autorinnen und Autoren aus unterschiedlichen wissenschaftlichen Disziplinen auf dem Weg sind, ein dreibändiges Handbuch zu Geschichte, Theologie und Praxis evangelischer Spiritualität zu erarbeiten. Schön, dass rechtzeitig vor dem 500. Jahrestag des Thesenanschlages Martin Luthers nun der erste Band dieses Werkes vorliegt. Er vereint eine Darstellung der Geschichte evangelischer Spiritualität von der Reformation bis in unsere Gegenwart. Die Beiträge darin zeugen von der Kraft eines Glaubens, der allein in der Gnade Gottes gegründet ist. Aus dieser Kraft ging von Wittenberg eine Bewegung aus, die Deutschland, Europa und die Welt veränderte. Auf dem Weg zu dieser Publikation hat die Evangelische Kirche in Deutschland das Internationale wissenschaftliche Symposium „Evangelische Spiritualität“ im Februar 2016, zu dem Peter Zimmerling nach Leipzig eingeladen hatte, gefördert. Mit Spannung erwarte ich nun die beiden weiteren Bände dieses Projekts. Der Arbeit daran wünsche ich Gottes Segen. Ich bin überzeugt, dass das Handbuch Evangelische Spiritualität eine breite Rezeption in Theologie, Kirche und Gesellschaft erfahren wird. Dr. Heinrich Bedford-Strohm, Landesbischof, Vorsitzender des Rates der EKD
Geleitwort des Landesbischofs der Evangelisch-Lutherischen Landeskirche Sachsens
Individueller Glaube drückt sich in einem spezifischen Lebensstil und in einem diakonischen Handeln aus. Seine Kraft zieht er aus einer persönlichen Gottesbeziehung. Gott kann darin als naher und als ferner Gott erlebt werden. Sich auf diese „unfassbare“ Gottesbeziehung im Geheimnis einzulassen, bleibt ein Wagnis, weil sich der und die Glaubende auf Änderungen einstellen muss: Änderungen des Lebensstils, Änderung des Gottesbildes, Änderung der Sicht auf die Menschen. Die Bibel beschreibt diese tiefgreifenden Änderungen als Umkehr: Umkehr zu Gott als den Schöpfer und den Bewahrer dieser Welt. Martin Luther, Paul Gerhardt, Dietrich Bonhoeffer und viele andere, die in diesem Handbuch genannt und beschrieben werden, haben ihre theologischen Erkenntnisse infolge ihres von wissenschaftlichen Prinzipien geleiteten Nachdenkens über Gott und infolge ihres spirituell-persönlichen Ringens mit Gott erworben. Sie haben Gott sowohl als Gegenüber betrachtet, zu dem sie umkehren können, als auch als Lebensmitte – als Begleiter auf ihren Lebenswegen. Vielleicht konnten sie gerade deshalb ihre gewonnenen Positionen durch die Wirren ihrer Zeit geradlinig und aufopferungsvoll vertreten. Glaubensüberzeugungen sollten sich sowohl im theologischen Diskurs als auch in der persönlichen Gottesbeziehung bewähren. Gottesbeziehungen sollten weder die eine noch die andere Seite der gleichen Medaille ausblenden. Sicherlich mag die eine oder die andere Seite unterschiedlich hell glänzen. Das vorliegende Handbuch malt uns mit Hilfe unterschiedlicher Personen evangelischen Glaubens Bilder vor Augen, die diese unbedingte Verbindung beider Seiten sichtbar werden lässt. Diese Vorbilder bestärken uns darin – auf ihre je eigene Weise –, Spiritualität zu wagen. Diese Vorbilder wollen uns ermuntern und zugleich ermutigen, für die eigene Spiritualität ausreichend Zeit im Rhythmus des Tages zu reservieren. Dr. Carsten Rentzing Landesbischof
Elias Baeck „Luthers Thesenanschlag“, 1730 © Stiftung Luthergedenkstätten in Sachsen-Anhalt
Inhalt
Danksagung
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Geleitwort des Ratsvorsitzenden der Evangelischen Kirche in Deutschland
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Geleitwort des Landesbischofs der Evangelisch-Lutherischen Landeskirche Sachsens . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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Peter Zimmerling Das Handbuch Evangelische Spiritualität. Idee und Vorgeschichte
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Peter Zimmerling Zur Geschichte der Evangelischen Spiritualität. Eine Einführung in Band 1 des Handbuches Evangelische Spiritualität . . . . . . . . . . . . . . . . .
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Armin Kohnle Vom Spätmittelalter zur Reformationszeit. Entwicklungslinien und Tendenzen in Spiritualität und Frömmigkeit . . . . . . . . . . . . . . . .
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Markus Wriedt Johann von Staupitz (ca. 1465–1524). Ein Beispiel der Spiritualität spätmittelalterlicher Frömmigkeitstheologie . . . . . . . . . . . . . . . . .
63
Volker Leppin Martin Luthers (1483–1546) Spiritualität . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
81
Martin H. Jung Die Spiritualität Philipp Melanchthons (1497–1560)
98
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10
Inhalt
Johannes Voigtländer Huldrych Zwinglis (1484–1531) Spiritualität. Vertrauen auf Gott, das Christen- und Bürgergemeinde reformiert . . . . . . . . . . . . . . . . . . 118 Alfred Mengel Gott ehren. Die Spiritualität Johannes Calvins (1509–1564)
. . . . . . . . 136
C. Arnold Snyder Die Spiritualität der Täufer . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 161 Nicholas Sagovsky Die Herausbildung der anglikanischen Spiritualität in den Jahren 1534– 1662 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 167 Markus Matthias Die Spiritualität der altlutherischen Orthodoxie . . . . . . . . . . . . . . . 186 Wolfgang Sommer Die Spiritualität zwischen lutherischer Orthodoxie, Mystik und Pietismus am Beispiel von Johann Arndt (1555–1621) . . . . . . . . . . . . . . . . . 213 Dietrich Meyer Jakob Böhme (1575–1624) und seine Schüler. Jakob Böhmes Leben und Schau . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 239 Thomas Illg Lutherisch-orthodoxe Spiritualität – Johann Gerhard (1582–1637) Sven Grosse Die Spiritualität Paul Gerhardts (1607–1676)
. . . . 261
. . . . . . . . . . . . . . . . 281
Jan van de Kamp Bevorzugte Formen der evangelischen Spiritualität im deutschen Sprachraum im 17. Jahrhundert . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 299 Klaus vom Orde Die Spiritualität Philipp Jakob Speners (1635–1705)
. . . . . . . . . . . . 320
Sebastian Türk Die Spiritualität des radikalen Pietismus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 339
Inhalt
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Eberhard Winkler Die Spiritualität August Hermann Franckes (1663–1727) . . . . . . . . . . 359 Andreas Lindner Spiritualität zwischen Orthodoxie und Pietismus am Beispiel Johann Martin Schamelius (1668–1742) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 377 Dieter Ising Spiritualität in der Seelsorge des württembergischen Pietisten Johann Albrecht Bengel (1687–1752) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 400 Dietrich Meyer Die Spiritualität des reformierten Pietismus am Beispiel Gerhard Tersteegens (1697–1769) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 419 Peter Vogt Evangelische Spiritualität bei Nikolaus Ludwig Graf von Zinzendorf (1700–1760) und der Herrnhuter Brüdergemeine seiner Zeit . . . . . . . . 438 Christoph Raedel Methodistische Spiritualität . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 461 Claus-Dieter Osthövener Die Spiritualität im Zeitalter der Aufklärung. Ein Überblick . . . . . . . . 485 Ulrich Dreesman Johann Joachim Spaldings (1714–1804) „Bestimmung des Menschen“ als Dokument aufklärerischer Spiritualität. Eine Skizze . . . . . . . . . . . 498 Oswald Bayer Die Spiritualität Johann Georg Hamanns (1730–1788)
. . . . . . . . . . . 511
Wilhelm Gräb Ein Herrnhuter – höherer Ordnung. Die Spiritualität Friedrich Daniel Ernst Schleiermachers (1768–1834) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 529 Ulrike Treusch „Steh auf von den Toten.“ Aspekte einer Spiritualität der Erweckungsbewegung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 549
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Inhalt
Rudolf Gebhard Erweckliche Spiritualität – Anna Schlatter-Bernet (1773–1826)
. . . . . . 567
Christine Axt-Piscalar „Ohne die Höllenfahrt der Sündenerkenntnis ist die Himmelfahrt der Gotteserkenntnis nicht möglich.“ Die Spiritualität Friedrich August Gottreu Tholucks (1799–1877) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 588 Jobst Reller Die Spiritualität in der niedersächsischen Erweckungsbewegung
. . . . . 606
Theodor Strohm Spiritualität im Leben und Werk Johann Hinrich Wicherns (1808–1881) . 629 Markus Iff Wurzeln und Gestalt freikirchlicher Spiritualität – unter besonderer Berücksichtigung der Freien evangelischen Gemeinden und des deutschen Baptismus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 652 Thorsten Dietz Die Spiritualität der Gemeinschaftsbewegung . . . . . . . . . . . . . . . . 671 Klaus Fitschen Die Spiritualität Adolf von Harnacks (1851–1930)
. . . . . . . . . . . . . 695
Nils Ole Oermann Wie und was glaubte Albert Schweitzer (1875–1965)? . . . . . . . . . . . . 702 Martin Hüneburg Erneuerung der Kirche durch eine neue Spiritualität: Die Spiritualität der Evangelischen Michaelsbruderschaft . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 711 Dietrich Kuessner Die Spiritualität der Deutschen Christen. Ein Versuch . . . . . . . . . . . 733 Ferdinand Schlingensiepen Spiritualität in der Bekennenden Kirche . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 755 Christian Löhr Dietrich Bonhoeffers (1906–1945) Entdeckung einer zweckgebundenen Spiritualität . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 764
Inhalt
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Reinhard Hempelmann Ein Überblick über die evangelische Spiritualität in der Nachkriegszeit . . 783 Peter Zimmerling Pfingstlich-charismatische Spiritualität . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 804 Personenregister . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 826
Peter Zimmerling
Das Handbuch Evangelische Spiritualität Idee und Vorgeschichte
Die Idee, ein Handbuch Evangelische Spiritualität zu edieren, hat – wie wohl alle derartigen Projekte – eine längere Vorgeschichte. Seit meiner Habilitationsschrift von 2001 über das pfingstlich-charismatische Christsein1 haben mich spirituelle Fragestellungen nicht mehr losgelassen. Dabei konzentrierte ich mich mehr und mehr auf das Phänomen evangelischer Spiritualität.2 Mir war deutlich geworden: Im Raum der römisch-katholischen Theologie existiert eine Fülle von Publikationen zur christlichen Spiritualität. Auch die beiden Handbücher zur christlichen Spiritualität, die in den vergangenen Jahrzehnten erschienen, sind katholischer Provenienz.3 Währenddessen führt die Spiritualität im Bereich der wissenschaftlichen evangelischen Theologie trotz einer in den vergangenen Jahren zu beobachtenden Zunahme an Veröffentlichungen zum Thema immer noch weithin ein Schattendasein. Im wissenschaftlich-theologischen Bewusstsein sind konkrete Kenntnisse über die mannigfachen Erscheinungsformen evangelischer Spiritualität häufig nur ansatzweise vorhanden. Diese Feststellung korrespondiert mit dem Befund, den aktuelle empirische Studien aus dem Bereich der Religionssoziologie erbracht haben, wonach sich das spirituelle Interesse selbst vieler Kirchenmitglieder eher auf esoterische und fernöstliche Spiritualitätsformen richtet, und dass, wenn überhaupt, vor allem charismatische und fundamentalistische Erscheinungsformen von Spiritualität im Rahmen des Protestantismus an Vitalität gewinnen. Wenn die Theologie jedoch nicht auf die Spiritualität bezogen ist, schneidet sie sich selbst von ihrem Wurzelboden ab. Ohne
1 Vgl. Zimmerling, Peter, Die charismatischen Bewegungen. Theologie, Spiritualität, Anstöße zum Gespräch, Göttingen 22002; ders., Charismatische Bewegungen (UTB 3199), Göttingen 2009. 2 Vgl. Zimmerling, Peter, Evangelische Spiritualität. Wurzeln und Zugänge, Göttingen 22010; ders., Evangelische Mystik, Göttingen 2015. 3 Geschichte der christlichen Spiritualität, Bd.1–3, hg. von Louis Dupré/Don E. Saliers in Verbindung mit John Meyendorff, Würzburg 1993–1997; Waaijman, Kees, Handbuch der Spiritualität. Formen, Grundlagen, Methoden, Bd. 1–3, Mainz 2004–2007.
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Peter Zimmerling
Wurzelboden aber wird sie nicht nur merkwürdig ortlos, sondern auch steril und ist auf Dauer nicht überlebensfähig.4 Angesichts dieser Beobachtungen lag es nahe, ein Handbuch Evangelische Spiritualität zu erarbeiten, zumal die Reformationsdekade zusätzlich zur Selbstreflexion und Selbstdarstellung evangelischen Christseins herausforderte. Das Projekt eines solchen Handbuchs ließ sich naturgemäß nur als Gemeinschaftswerk und im interdisziplinären Diskurs durchführen. Darum arbeiten daran sowohl Fachvertreterinnen und -vertreter aus den unterschiedlichen theologischen Disziplinen (Bibelwissenschaften, Kirchengeschichte, Systematische Theologie, Praktische Theologie und Diakonik) und solche aus den Humanwissenschaften, den Kulturwissenschaften, aber auch aus den Wirtschaftsund Naturwissenschaften mit. Um der innerprotestantischen Vielfalt Rechnung zu tragen, habe ich mich darum bemüht, ausgewiesene Fachvertreter zu Wort kommen zu lassen, die den unterschiedlichsten spirituellen, theologischen und kirchlichen Traditionen angehören.
1.
Ziel
Ziel des auf drei Bände angelegten Handbuchs Evangelische Spiritualität ist es, die reichen Traditionen evangelischer Spiritualität in das theologische Bewusstsein zu bringen und für gegenwärtige wissenschaftliche Diskurse zur Verfügung zu stellen. Das Handbuch soll die Frage klären helfen, inwiefern es eine genuin evangelische Spiritualität gibt und worin ihre Konstitutionsbedingungen und theologischen Grundlagen, ihre Erscheinungsformen, ihre geschichtlichen Veränderungen, ihre Praxis und aktuelle Relevanz, aber auch ihre Gefährdungen bestehen. Eine wichtige Leitfrage lautet: Worin besteht der spezifische Beitrag der evangelischen Tradition im Hinblick auf Geschichte, Theologie und Praxis christlicher Spiritualität? Es waren vor allem zwei Spiritualitätslehrer aus dem Bereich der Orthodoxie und des römischen Katholizismus, der Mönch Mitrophan vom Berg Athos und Abt Emmanuel Jungclaussen von der Benediktinerabtei Niederaltaich, die mich für das besondere Profil und die besonderen Gestaltungsformen evangelischer Spiritualität sensibilisierten. Sie machten mir deutlich, dass diese spirituelle Prägung in der Weltchristenheit nicht verloren gehen dürfe, sondern stärker als bisher zur Geltung gebracht werden sollte. Der Grund dafür lag bei beiden darin, dass sie durch die evangelische Spiritualität nachhaltige Impulse empfangen hatten.
4 So auch Christa Reich, Evangelium: klingendes Wort. Zur theologischen Bedeutung des Singens, hg. von Christian Möller in Verbindung mit der Hessischen Kantorei, Stuttgart 1979, 105.
Das Handbuch Evangelische Spiritualität
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In meiner Antrittsvorlesung an der Theologischen Fakultät der Universität Leipzig im Jahr 2005 plädierte ich für eine Integration der Spiritualität in das Studium der Evangelischen Theologie.5 Inzwischen haben die meisten Landeskirchen und viele Theologischen Fakultäten erkannt, dass die Theologiestudierenden auf dem Weg zur Gewinnung einer eigenen reflektierten Spiritualität nicht allein gelassen werden dürfen und entsprechende Angebote entwickelt.6 Die wissenschaftliche Theologie war in der Vergangenheit gut darin, Studierenden zu helfen, die Enge und Beschränktheit ihres mitgebrachten Kinderglaubens in Frage zu stellen und zu überwinden. Meist blieben sie jedoch ohne Hilfe, wenn es darum ging, einen lebendigen und gereiften Glauben einschließlich konkreter Gestaltungsformen zu entwickeln.7 In Leipzig dient unter anderem das von Zeit zu Zeit durchgeführte Studium spirituale diesem Ziel. Auch das dreibändige Handbuch Evangelische Spiritualität möchte einen Baustein im Rahmen dieser Aufgabe zur Verfügung stellen. Als profundes Sammelwerk soll es außer für Theologiestudierende vorwiegend für Fachwissenschaftler, aber auch für Theologen und theologisch gebildete, in der kirchlichen Praxis engagierte Laien als wissenschaftliches Nachschlagewerk und als Einstiegslektüre in das vertiefende Studium der evangelischen Spiritualität fungieren.
2.
Zum Begriff „Evangelische Spiritualität“
Der Siegeszug des Begriffs „Spiritualität“ im Protestantismus begann mit der Fünften Vollversammlung des Ökumenischen Rates der Kirchen in Nairobi 1975. Im Schlusskommuniqué der Vollversammlung hieß es: „Wir sehnen uns nach einer neuen Spiritualität, die unser Planen, Denken und Handeln durchdringt“.8 In Deutschland wurde der Begriff durch die Ende 1979 erschienene EKD-Studie „Evangelische Spiritualität“ kirchlich anerkannt.9 Mit ihr vollzog die evangelische
5 Vgl. Zimmerling, Peter, Plädoyer für eine neue Einheit von Theologie und Spiritualität, in: PTh 97/2008, 130–143. 6 Vgl. Hermisson, Sabine, Modelle zur Förderung von Spiritualität in Vikariat und kirchlicher Studienbegleitung. Eine qualitativ-empirische Analyse, in: Ralph Kunz/Claudia Kohli Reichenbach (Hg.), Spiritualität im Diskurs. Spiritualitätsforschung in theologischer Perspektive, Zürich 2012, 143–157. 7 So vor Jahren schon Ruhbach, Gerhard, Theologie und Spiritualität. Beiträge zur Gestaltwerdung des christlichen Glaubens, Göttingen 1987, 17. 8 Krüger, Harald/Müller-Römheld, Walter (Hg.), Bericht aus Nairobi 1975. Ergebnisse, Erlebnisse, Ereignisse. Offizieller Bericht der Fünften Vollversammlung des Ökumenischen Rates der Kirchen. 23. Nov. bis 10. Dez. 1975 in Nairobi/Kenia, Frankfurt a.M. 21976, 1, hier wird „spirituality“ noch mit „Frömmigkeit“ übersetzt; anders bereits 321ff, dem Bericht über den Workshop „Spiritualität“. 9 Evangelische Spiritualität. Überlegungen und Anstöße zu einer Neuorientierung, vorgelegt von
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Peter Zimmerling
Kirche einen Paradigmenwechsel: Sie nahm das Problem der Spiritualität als eine für das Christsein in der modernen Welt wesentliche Fragestellung auf. Der Begriff besitzt gegenüber „Frömmigkeit“, „Religiosität“ und „Glaube“ verschiedene Vorteile: Er ist im Bereich der gesamten Ökumene verständlich; er macht deutlich, dass es Spiritualität nur im Plural gibt;10 er bringt das in der abendländischen Theologie lange ungenügend berücksichtigte Wirken des Geistes neu zu Bewusstsein;11 der Aspekt der Gestaltwerdung macht deutlich, dass die soziale Dimension zum Glauben untrennbar dazugehört. Schließlich spricht für die Verwendung des Begriffs „Spiritualität“, dass er im Gegensatz zu den traditionellen Begriffen „Frömmigkeit“, „Religiosität“ und „Glaube“ für junge und ältere Menschen, auch für solche, die dem christlichen Glauben fernstehen, einen positiven Klang besitzt. Während viele Menschen in einer postchristlichen Gesellschaft meinen, mit dem altbekannten Christentum fertig zu sein, weist der Begriff „Spiritualität“ auf Unbekanntes. Gerade die häufig konstatierte Vagheit macht neugierig, verlockt dazu, sich mit den damit bezeichneten Phänomenen näher zu beschäftigen. Weil „Spiritualität“ einen Containerbegriff darstellt, sollte derjenige, der ihn verwendet, sagen, was er darunter versteht. Das tun die meisten der am Handbuch beteiligten Autorinnen und Autoren mehr oder weniger ausführlich zu Beginn ihrer Beiträge. Als Herausgeber habe ich keine weitergehenden Vorgaben gemacht, was ein Autor unter dem Begriff verstehen soll, um ihn nicht zu stark einzuengen. Zudem birgt eine zu starre Begriffsbildung die Gefahr in sich, den Blick für die konkreten spirituellen Phänomene eher zu verstellen als zu schärfen. Die Beschäftigung mit den geschichtlichen Erscheinungsformen der Spiritualität bietet die beste Chance dafür, dem, was Spiritualität ist, auf die Spur zu kommen. Ich habe allerdings immer wieder auf mein Buch „Evangelische Spiritualität“ verwiesen, in dem ich in Aufnahme von Überlegungen der genannten EKDStudie von folgendem weiten Spiritualitätsbegriff ausgehe: Ich verstehe unter Spiritualität den äußere Gestalt gewinnenden gelebten Glauben, der die drei Aspekte rechtfertigender Glaube, Frömmigkeitsübung und Lebensgestaltung umfasst. Evangelische, d. h. vom Evangelium geprägte Spiritualität wird dabei durch den Rechtfertigungsglauben sowohl motiviert als auch begrenzt. Die Erfahrung, durch Gott gerechtfertigt zu sein, befreit dazu, den Glauben in immer neuen Formen einzuüben und in der alltäglichen Lebensgestaltung zu bewähren. einer Arbeitsgruppe der Evangelischen Kirche in Deutschland, hg. von der Kirchenkanzlei im Auftrag des Rates der Evangelischen Kirche in Deutschland, Gütersloh 21980. 10 Erwin Fahlbusch u. a., Art. Spiritualität, in: Evangelisches Kirchenlexikon, Hg. von ders. u. a., Bd. 4, Göttingen 31996, 402–419; Karl-Friedrich Wiggermann, Art. Spiritualität, in: TRE, Bd. 31, Berlin/New York 2000, 708–717. 11 Vgl. dazu im Einzelnen Zimmerling, Peter, Charismatische Bewegungen, Göttingen 2009, 29– 33.
Das Handbuch Evangelische Spiritualität
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Umgekehrt bewahrt der Rechtfertigungsglaube davor, das eigene spirituelle und ethische Streben zu überschätzen. Eine so verstandene Spiritualität vermag einerseits den heutigen Reichtum an spirituellen Möglichkeiten positiv aufzunehmen. Die seit einigen Jahren zu beobachtende Erweiterung von spirituellen Formen im Raum des Protestantismus sollte als Bereicherung des evangelischen Glaubens gewürdigt werden, auch wenn die neuen Formen häufig aus dem Bereich der katholischen (wie z. B. das Pilgern), der orthodoxen (wie z. B. das sog. Jesusgebet) und zum Teil aus anderen religiösen Traditionen (wie z. B. die Meditation) stammen. Spirituelle Suchbewegungen der Gegenwart können auf diese Weise gewürdigt werden. Andererseits geht mit der neuen spirituellen Vielfalt häufig eine Patchwork-Spiritualität einher, verbunden mit einer spirituellen Überanstrengung des Subjekts. In dieser Situation ermöglicht der Glaube, dass Gott mir in Jesus Christus auch ohne mein eigenes spirituelles Tun und Streben gnädig ist, mich in spiritueller Hinsicht zu begrenzen. Ich kann und brauche mir durch mein spirituelles Streben nicht den Himmel verdienen. Dass mir meine Gerechtigkeit von außen als iustitia aliena, als fremde Gerechtigkeit, zugeeignet wird, ist keine spirituelle Beschränkung, sondern hilft mir, dass ich meine Selbstbegrenzung als Geschöpf auch in spiritueller Hinsicht bejahen kann. Ich muss nicht mehr sein, als ich vor Gott und Menschen bin: ein heilsam begrenzter Mensch. Auf diese Weise ist sichergestellt, dass spirituelle Übungen – wie die Zugehörigkeit zu einem Hauskreis oder die Inanspruchnahme von geistlicher Begleitung oder die Teilnahme an der Aktion „Sieben Wochen ohne“ – nicht unter der Hand zum Ausweis von Christsein werden. Da meine Seligkeit nicht an einer bestimmten spirituellen Praxis hängt, ist für evangelische Spiritualität ein Raum der Freiheit konstitutiv.
3.
Inhalt
Die drei Bände des Handbuches „Evangelische Spiritualität“ sind inhaltlich folgendermaßen gegliedert: Im ersten Band werden die geschichtlichen Erscheinungsformen evangelischer Spiritualität von der Reformation bis in die Gegenwart dargestellt. Der Protestantismus bildete seit seiner Entstehung im ersten Drittel des 16. Jahrhunderts eine Fülle von Erscheinungsformen der Spiritualität aus. Diese Vielfalt war ein wesentlicher Grund für seine Vitalität. Gleichzeitig erlebte der Protestantismus im Lauf seiner Geschichte mehrere schwere Krisen: zum Beispiel die Gegenreformation, den 30jährigen Krieg, das Dritte Reich, die SED-Herrschaft. Dabei stellte sich mir die Frage, ob bestimmte Formen evangelischer Spiritualität diese Krisen begünstigt haben. Ich hoffe, dass der zweite Band des Handbuchs, in dem es um die Theologie der evangelischen Spiritualität geht, hierauf Antworten geben wird.
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Peter Zimmerling
Im zweiten Band wird die Theorie evangelischer Spiritualität entfaltet. Dabei geht es darum, theologische Kriterien zu entwickeln, um eine evangelische Spiritualität zu konturieren, die rechtfertigungstheologisch orientiert und im Kontext der spätmodernen Gesellschaft lebbar ist. Von hier aus lässt sich auch der Ort evangelischer Spiritualität im Kontext der Ökumene und des interreligiösen Dialogs näher bestimmen. Im dritten Band sind die vielfältigen Praxisformen evangelischer Spiritualität darzustellen. Dabei geht es neben der Entfaltung ihrer Gestalt und der Untersuchung ihrer Beziehungen zueinander um ihre kritische Würdigung. Die Unterteilung in Geschichte, Theologie und Praxis erlaubt, sich dem Phänomen der evangelischen Spiritualität aus drei unterschiedlichen Perspektiven anzunähern. Dadurch ist es möglich, voneinander verschiedene Aspekte wahrzunehmen. Zusammengenommen erlauben sie eine Gesamtschau evangelischer Spiritualität.
4.
Evangelische Spiritualität im ökumenischen Kontext
Um Missverständnissen vorzubeugen: Die Konzentration des Handbuchs auf die evangelische Spiritualität ist nicht in konfessionalistischem oder gar antiökumenischem Sinne gemeint, war doch die gelebte Spiritualität immer schon das Feld, auf dem der ökumenische Austausch zwischen den Konfessionen am besten funktionierte. Das Gleiche gilt für alle praktischen Fragen wie den Einsatz für Gerechtigkeit, Frieden und Bewahrung der Schöpfung. Zu allen Zeiten beeinflussten sich die Mitglieder der verschiedenen Konfessionen auf diesem Gebiet – häufig, ohne sich entsprechender Abhängigkeiten bewusst zu sein. Offensichtlich wirkt gerade die Unterschiedlichkeit der gelebten Spiritualität anziehend. Fremder Reichtum fasziniert! Ihn möchte man selbst ausprobieren; an ihm möchte man selbst Anteil haben. Zeiten, in denen die offizielle Ökumene stagniert, tun deshalb gut daran, das ökumenische Potenzial gelebter Spiritualität zu entdecken. Vielleicht kann in Zukunft über diesen Umweg die organisierte Ökumene neue Dynamik gewinnen. Evangelische, katholische und orthodoxe Spiritualität zeichnen sich durch je besondere Prägung und eigene Schwerpunkte aus. Meine These ist: Die einzelnen Traditionen gewinnen an Reichtum und Relevanz, wenn sie bereit sind, voneinander zu lernen. Außerdem ermöglicht der gegenseitige Austausch, falsche Einseitigkeiten zu überwinden. Voraussetzung dafür ist allerdings, dass auch der Protestantismus bereit ist, sich seiner eigenen Spiritualität bewusst zu werden, diese zu pflegen und an die nachwachsende Generation weiterzugeben. Obwohl bei dem Handbuch der Akzent auf der Selbstvergewisserung und Selbstdarstellung der evangelischen Spiritualität liegt, besteht das übergreifende Ziel darin,
Das Handbuch Evangelische Spiritualität
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auf der Basis der eigenen Identität ein qualifiziertes Gespräch mit den ökumenischen Partnern zu ermöglichen. Evangelische Spiritualität sollte in Zukunft an den Stellen weiterentwickelt werden, wo sie sich angesichts der Herausforderungen der Gegenwart als defizitär erweist. Dabei ist vor allem die Bedeutung von Emotionalität und Sinnlichkeit, aber auch die Frage nach einer Pluralisierung der Formen zu bedenken. Menschen wollen den Glauben heute nicht nur denken, sondern auch mit Leib und Seele erfahren.12 Die fortschreitende Ausdifferenzierung der ästhetischen Milieus in unserer Gesellschaft lässt nicht länger zu, sämtliche Kirchenmitglieder oder gar alle Mitglieder der Gesellschaft auf einige wenige traditionelle Spiritualitätsformen der eigenen Konfession festzulegen. Eine Erweiterung der Formenvielfalt ist dringend geboten. Die unterschiedlichen Konfessionen tun angesichts dieser Situation gut daran, bei den anderen Konfessionen in die Schule zu gehen, um spirituelle Formen zu entdecken, die zur Bereicherung des eigenen spirituellen Profils beitragen. Dass darüber hinaus auch nichtchristliche religiöse Traditionen als Inspirationsquelle für neue spirituelle Formen fungieren können, hat die Entwicklung der christlichen Meditationsbewegung nach dem Zweiten Weltkrieg gezeigt.
12 So auch Meyer-Blanck, Michael, Inszenierung des Evangeliums. Ein kurzer Gang durch den Sonntagsgottesdienst nach der Erneuerten Agende, Göttingen 1997, 133.
Peter Zimmerling
Zur Geschichte der Evangelischen Spiritualität Eine Einführung in Band 1 des Handbuches Evangelische Spiritualität
1.
Ein Novum
Eine Geschichte der Evangelischen Spiritualität aus theologischer Perspektive ist meines Wissens in Deutschland noch nicht geschrieben worden. Immerhin existiert seit einigen Jahren aus der Feder des Profanhistorikers Lucian Hölscher eine „Geschichte der protestantischen Frömmigkeit in Deutschland“, in der die großen Perioden der deutschen protestantischen Kirchengeschichte bis zum Vorabend des Ersten Weltkriegs 1914 abgeschritten und auf ihre Frömmigkeit hin untersucht werden.1 In der Untersuchung stehen Fragen der innerprotestantischen Konfessionsbildung, der Kirchen- und Gemeindeverfassung, der religiösen Sozialisation, der Häufigkeit des Gottesdienstbesuchs und des Sakramentsempfangs und der Inanspruchnahme von Kasualien im Vordergrund. Mit Hilfe dieser Parameter zeichnet Hölscher die Entwicklung der protestantischen Frömmigkeit in den ersten vier Jahrhunderten nach. Während er primär die Außenseite des spirituellen bzw. religiösen Lebens untersucht, geht es im ersten Band des Handbuchs Evangelische Spiritualität primär um dessen Innenseite, wobei neben den theologischen Überzeugungen auch die äußeren Frömmigkeitsformen untersucht werden. Es wird höchste Zeit, die reichen Traditionen evangelischer Spiritualität wiederzuentdecken. Das Reformationsjubiläum im Jahr 2017 mit der vorgeschalteten Reformationsdekade ist ein gesamtgesellschaftliches Ereignis, das Theologie und Kirche herausfordert, die Spezifika und unterschiedlichen Ausprägungsformen evangelischer Spiritualität zu reflektieren, in das öffentliche Gespräch einzubringen und Wege zu ihrer erfahrungsmäßigen Aneignung zu
1 Hölscher, Lucian, Geschichte der protestantischen Frömmigkeit in Deutschland, München 2005.
Zur Geschichte der Evangelischen Spiritualität
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eröffnen. Die wissenschaftliche Theologie hat diese Aufgabe bislang nur ansatzweise erkannt.
2.
Das Zerbrechen der Einheit von Theologie und Spiritualität2
Warum hat es bisher noch kein wissenschaftliches Werk über die Geschichte der evangelischen Spiritualität in Deutschland gegeben? Dafür sind mehrere Gründe verantwortlich. Einer besteht in der Überbetonung der ethischen Aspekte des christlichen Glaubens durch den Neuprotestantismus. Dadurch ging das Bewusstsein für die Notwendigkeit der Stille vor Gott, der Kontemplation, verloren. Im Gegensatz dazu empfahl Luther ausdrücklich den Weg der Stille als einen Weg zu Gott: „Gleichwie die Sonne in einem stillen Wasser gut zu sehen ist und es kräftig erwärmt, kann sie in einem bewegten, rauschenden Wasser nicht deutlich gesehen werden. Darum, willst du auch erleuchtet und warm werden durch das Evangelium, so gehe hin, wo du still sein und das Bild dir tief ins Herz fassen kannst, da wirst du finden Wunder über Wunder“.3
Eine andere Ursache für die Vernachlässigung der eigenen spirituellen Traditionen durch die evangelische Theologie ist das Zerbrechen der Einheit von wissenschaftlicher Theologie und Spiritualität seit dem 18. Jahrhundert. Dieses Phänomen ist eine im Hinblick auf die Geschichte der christlichen Theologie vergleichsweise neue und relativ kurze Erscheinung. So sind etwa bei den Reformatoren wissenschaftlich-theologische Denkbemühung und praxis pietatis noch untrennbar miteinander verknüpft. Pointiert gesagt: Das reformatorische Theologieverständnis ist im Kern nicht intellektualistisch, sondern existenziellerfahrungsbezogen. Darauf hat gerade Martin Luther immer wieder hingewiesen. Schon in der Heidelberger Disputation stellte er fest, dass nur ein theologus crucis eine theologia crucis betreiben kann, d. h. „dass nur der Vollzug theologischer Existenz auch Theologie im eigentlichen Sinn des Wortes ermöglicht“.4 Aufgrund der reformatorischen Verbindung zwischen scholastischer und monastischer Theologie entstand nach der Reformation eine spezielle theologia ascetica als Unterdisziplin der Praktischen Theologie. Darunter verstand man
2 Die folgenden Überlegungen habe ich ausführlich erstmals vorgetragen in: Zimmerling, Peter, Plädoyer für eine neue Einheit von Theologie und Spiritualität, in: PTh 97, 2008, 130–143. 3 Zit. nach Huber, Wolfgang, Im Geist wandeln. Die evangelische Kirche braucht eine Erneuerung ihrer Frömmigkeitskultur, in: Zeitzeichen, Heft 7, 2002, 20. 4 So Gerhard Ruhbach, Theologie und Spiritualität. Beiträge zur Gestaltwerdung des christlichen Glaubens, Göttingen 1987, 22.
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eine „Einübungslehre in den christlichen Glauben für Pfarrer und Gemeindeglieder“.5 Einige kurze Schlaglichter müssen im Folgenden genügen. Die Trennung von Theologie und Spiritualität muss von der geistigen Grundlagenkrise her verstanden werden, die Europa nach den Schrecken des Dreißigjährigen Krieges erfasst hatte. Allein Deutschland verlor in diesem Krieg zwischen 30 und 40 Prozent seiner Bevölkerung.6 Die führenden Denker Europas suchten nach einem neuen Lebensfundament jenseits des Konfessionalismus, der zur Katastrophe des Krieges geführt hatte. Sie glaubten, es in der allen Menschen gemeinsamen Vernunft und einem damit verbundenen Sprengen der kirchlichen Fesseln gefunden zu haben. Der Vernunft wurden geradezu göttliche Attribute beigelegt. Der Naturrechtler Hugo Grotius (1583–1645) erhob die Forderung, dass die Naturrechte „etsi deus non daretur“ („auch wenn es Gott nicht gäbe“) gelten sollten.7 Seine Forderung wurde im Verlauf des 18. und 19. Jahrhunderts von allen Wissenschaften einschließlich der Theologie übernommen und zur Grundlage ihrer Methoden gemacht. Entgegen der eigenen Intention von Grotius interpretierte schon die Aufklärung seine Forderung so, dass auch Gott selbst die Naturgesetze nicht zu durchbrechen vermag. In Deutschland war Johann Salomo Semler (1725–1791) der erste Theologe, der bewusst für die Trennung von Theologie und Spiritualität eintrat. Semler hat für die spirituelle Seite der Theologie kein Verständnis und „lässt das Moment der existenziellen Erfahrung nur in der Form des Moralischen gelten“.8 In klassischer Weise forderte später Ernst Troeltsch in seinem Artikel „Über historische und dogmatische Methode in der Theologie“ von 1898 die Anwendung eines atheistischen Grundaxioms in der Theologie.9 Diese hat, wie die anderen 5 Vgl. hier und im Folgenden Seitz, Manfred, Erneuerung der Gemeinde. Gemeindeaufbau und Spiritualität, Göttingen 21991, 74. 6 Vgl. Hubatsch, Walther, Das Zeitalter des Absolutismus 1600–1789 (Geschichte der Neuzeit), Braunschweig 41975, 47f. 7 Die Formel stammt aus seinem 1625 erschienenen Werk „De iure belli ac pacis libri tres“. Ursprünglich war die Wendung nicht deistisch oder gar atheistisch gemeint, wie sich aus dem Zusammenhang bei Grotius ergibt: „Diese hier dargestellten Bestimmungen würden auch Platz greifen, selbst wenn man annähme, was freilich ohne die größte Sünde nicht geschehen könnte, dass es keinen Gott gebe, oder dass er sich um die menschlichen Angelegenheiten nicht bekümmere“. 8 Bayer, Oswald, Monastische und scholastische Theologie, in: „Dass allen Menschen geholfen werde …“. Theologische und anthropologische Beiträge für Manfred Seitz zum 65. Geburtstag, hg. von Rudolf Landau/Günter R. Schmidt, Stuttgart 1993, 13. Ganz konsequent übt Semler scharfe Kritik an Luthers Überzeugung, dass oratio, meditatio, tentatio erst den Theologen zum Theologen machen (Semler, Johann Salomon, Erster Anhang zu dem Versuch einer Anleitung zur Gottesgelersamkeit, enthaltend eine historische und theol. Erleuterung des alten Ausspruchs oratio, meditatio, tentatio faciunt theologum in einer Zuschrift an seine Zuhörer, worin er seine Vorlesungen anzeigt, Halle 1758). 9 Vgl. Troeltsch, Ernst, Über historische und dogmatische Methode in der Theologie, in: ders.,
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historischen Wissenschaften auch, von einem einheitlichen – atheistischen – Geschichts- und Wirklichkeitsverständnis auszugehen. Kritik, Analogie, Korrelation und das Wirken bedeutender Persönlichkeiten bilden das Raster, nach dem die biblischen Überlieferungen auf ihre Glaubwürdigkeit hin zu befragen sind. Ein Eingreifen Gottes, das die kausale Struktur des Geschichtsverlaufs durchbricht, kann es eo ipso nicht geben. Der theologische Liberalismus des 19. Jahrhunderts identifizierte die moderne – europäische – Kulturentwicklung mit dem Kommen des Reiches Gottes. Mit dem Scheitern Deutschlands im Ersten Weltkrieg und aufgrund der Tatsache, dass sich die – nach ihrem Selbstverständnis – führenden Kulturnationen Europas einen derart mörderischen Krieg liefern konnten, geriet das kulturoptimistische Denken des Liberalismus in eine Krise. Aber auch der theologische Neuansatz der dialektischen Theologie nach dem Ersten Weltkrieg führte zu keiner Reintegration der Spiritualität in die wissenschaftliche Theologie. Karl Barth vermochte keine befriedigende Antwort auf die Frage nach dem Ort der Offenbarung Gottes in der Welt zu geben. Sie berührt die Welt nach Barth immer nur tangential, d. h., sie gewinnt nirgends eine räumliche Ausdehnung.10 Gott ist „der ganz andere“, wodurch Gott und Welt radikal getrennt bleiben. Der inkarnatorische Charakter des christlichen Glaubens fand keine angemessene Berücksichtigung. Erst der späte Karl Barth hat die Frage nach der Erfahrbarkeit Gottes in der Welt als theologisch legitim anerkannt, gleichzeitig die Ablehnung jeder Form von Pietismus und Mystik durch die dialektische Theologie modifiziert und damit indirekt ein Defizit seiner früheren Arbeit zugegeben.11
3.
Impulse Dietrich Bonhoeffers für eine neue Einheit von Theologie und Spiritualität
Lange vor Barth – und nachhaltiger als dieser – hat dessen Schüler Dietrich Bonhoeffer die Spiritualität auf die Agenda der wissenschaftlichen Theologie gesetzt. Bonhoeffer ist im 20. Jahrhundert der bekannteste Vertreter des Versuchs, die Einheit zwischen Theologie und Spiritualität zu erneuern.12 VorausZur religiösen Lage, Religionsphilosophie und Ethik. Gesammelte Schriften, Bd. 2, Tübingen 2 1922, 729–753 (Neudruck: Aalen 1962). 10 Vgl. Barth, Karl, Der Römerbrief, Zürich 121978 (Neudruck der 2. Auflage von 1922). 11 Vgl. Schleiermacher-Auswahl, besorgt von Heinz Bolli, mit einem Nachwort von Karl Barth (Gütersloher Taschenbücher Siebenstern 419), Gütersloh 31983, 311f. 12 Bonhoeffers Überlegungen stehen nicht für sich da. Vergleichbare Bemühungen gingen auch von den anderen illegalen Predigerseminaren der Bekennenden Kirche aus. Vgl. etwa Hans Joachim Iwand, der das ostpreußische Predigerseminar der Bekennenden Kirche in Bloestau leitete (dazu Seim, Jürgen, Hans Joachim Iwand. Eine Biografie, Gütersloh 1999, 142–217; bes.
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setzung des aszetischen Zugs von Bonhoeffers Theologie war sein Bruch mit der erkenntnistheoretischen Tradition des 19. Jahrhunderts, wonach die Lebens- und Glaubenspraxis eines Theologen ohne Relevanz für dessen Theologie sei. Stattdessen geht Bonhoeffer von der Interdependenz zwischen Erkenntnis und Existenz aus.13 In der „Nachfolge“ schreibt er: „Das bedeutet, dass eine Erkenntnis nicht getrennt werden kann von der Existenz, in der sie gewonnen ist“.14 Dem entspricht, dass aszetische Überlegungen und entsprechende praktische Übungen in Finkenwalde die Konstitutionsbedingung für die praktisch-theologischen Lehrveranstaltungen im eigentlichen Sinne darstellen.15 Die Vorlesungen, in denen Bonhoeffer die theologischen Grundlagen für seine Aszetik entfaltet, werden zusammen mit den Exerzitien zum Proprium Finkenwaldes. Im Vordergrund der Exerzitien stehen dabei die morgendliche Schriftmeditation, Tagzeitengebete, die Beichte und der Abendmahlsgang. Bonhoeffer hat von seinen theoretischen Überlegungen in der „Nachfolge“ und von den Exerzitien im „Gemeinsamen Leben“ auch literarisch Rechenschaft abgelegt. Beide Bücher stellen einen wichtigen Schritt auf dem Weg zu einer neuen Einheit von Theologie und Spiritualität im 20. Jahrhundert dar. Indem Bonhoeffer die Nachfolge als konstitutiven Bestandteil des Glaubens entdeckte, trug er zur Überwindung des viel beklagten Erfahrungsdefizits des Protestantismus bei. Die kerygmatische Grundorientierung von Bonhoeffers Praktischer Theologie mutet heute vielen fremd an. Sein Versuch, gedachte und gelebte Theologie zu verbinden, lässt auf dem Hintergrund der neuen Wichtigkeit spiritueller Fragen in der gegenwärtigen evangelischen Theologie jedoch aufhorchen. Christian Möller hat Manfred Josuttis als Hauptvertreter eines spirituellen Paradigmas in der Praktischen Theologie bezeichnet.16 Zweifellos gehört auch Dietrich Bonhoeffer zu dessen Vertretern. Er führt über Josuttis hinaus, indem er klarer als dieser für eine von reformatorischen Grundeinsichten geprägte und gemeinschaftlich gelebte, mithin kirchlich verortete Spiritualität eintritt, für die das Engagement für die Welt unverzichtbar ist, ohne die Bedeutung der Glaubens-
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ab 168; vgl. auch Iwand, Hans-Joachim, Von der Gemeinschaft christlichen Lebens. Zwei Reden zur Feier der Beichte und des Heiligen Abendmahls [Theologische Existenz heute 52], München 1937). Vgl. Abromeit, Hans-Jürgen, Die Beziehung zwischen Erkenntnis und Existenz bei Dietrich Bonhoeffer. Herausforderung zu einem anderen Verhältnis von Theorie und Praxis, in: Pastoraltheologie 75, 1986, 284–305. Bonhoeffer, Dietrich, Nachfolge, hg. von Martin Kuske/Ilse Tödt, Dietrich Bonhoeffer Werke (DBW 4) Gütersloh 21994, 38. Vgl. im Einzelnen Zimmerling, Peter, Bonhoeffer als Praktischer Theologe, Göttingen 2006, 57–76. Vgl. Möller, Christian, Einführung in die Praktische Theologie (UTB 2529), Tübingen/Basel 2004, 29f.
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beziehung des Einzelnen zu Christus zu übersehen.17 Dieser Unterschied sollte angesichts des gegenwärtig auch in spiritueller Hinsicht überbordenden Individualismus nicht übersehen werden. Im Vorwort des „Gemeinsamen Lebens“ weist Bonhoeffer ausdrücklich darauf hin, dass er der Kirche als Ganzer mit seinen aszetischen Überlegungen dienen will. „Da es sich nicht um eine Angelegenheit privater Zirkel, sondern um eine der Kirche gestellte Aufgabe handelt, geht es auch nicht um mehr oder weniger zufällige Einzellösungen, sondern um eine gemeinsame kirchliche Verantwortung.“18 Dabei ist Bonhoeffer sich der vielen Vorbehalte bewusst, die diesem Wunsch entgegenstehen: „Die begreifliche Zurückhaltung in der Behandlung dieser kaum neu erfassten Aufgabe muss allmählich einer kirchlichen Bereitschaft zur Mithilfe weichen“.19 Es lässt sich ergänzen: Notwendig ist auch die Mithilfe der akademischen Theologie.
4.
Jedes Fass riecht nach dem ersten Guss. Der Wittenberger Beichtstuhlstreit
Jedes Fass riecht nach dem ersten Guss. Das gilt auch für die evangelische Spiritualität. Darum tut eine „Geschichte der Evangelischen Spiritualität“ gut daran, den Blick zunächst auf die Reformation zu richten. Am Anfang der Reformation stand der Wittenberger Beichtstuhlstreit. Eine seelsorgerlich-spirituelle Herausforderung bildete deren Initialzündung! Dahinter verbarg sich die 1500 Jahre lang letztlich ungelöst gebliebene Frage nach dem Umgang mit der Sünde im Christenleben. Weder die altkirchliche Praxis der Taufe auf dem Sterbebett noch die Einführung der Privatbeichte für alle Christen noch das Ablasswesen hatten an dieser Stelle eine echte Lösung gebracht. Der Zeitpunkt des Todes ließ sich nicht mit Sicherheit vorhersehen und die Beichte war an die Erfüllung bestimmter Bedingungen geknüpft, so dass man nie sicher sein konnte, ob die Absolution tatsächlich wirksam war. Auch das komplizierte Ablasswesen vermochte Menschen keine letzte Heilsgewissheit zu geben. Als Professor der Universität war Luther im Nebenamt Seelsorger an der Wittenberger Schlosskirche. Durch Gemeindeglieder erhielt er Einblick in den von Johann Tetzel in Brandenburg durchgeführten Ablasshandel. Tetzel verkündete, dass der Ablass auch Sünde und Schuld vergebe, ja, dass keine Sünde zu groß für den Ablass sei. Er konnte sogar für die Verstorbenen gekauft werden. 17 Vgl. z. B.: „es gibt eben neben dem Wir doch auch ein Ich und Christus“, Bonhoeffer, Dietrich, Widerstand und Ergebung. Briefe und Aufzeichnungen aus der Haft, hg. von Christian Gremmels u. a. (DBW 8), Gütersloh 1998, 246. 18 Bonhoeffer, Dietrich, Gemeinsames Leben/Das Gebetbuch der Bibel. Eine Einführung in die Psalmen, hg. von Gerhard Ludwig Müller/Albrecht Schönherr (DBW 5), München 1987, 14. 19 A. a. O.
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Überdies vermittelte der Ablass absolute Heilsgewissheit: Wer zahlte, war seine Sünde los. Im Beichtstuhl zeigten die Gemeindeglieder Martin Luther ihre teuer erworbenen Ablasszettel und verlangten die Absolution. Luther geriet über diesen Handel in Zorn und versuchte, ihn im Gespräch mit Verantwortlichen in Kirche und Staat abzustellen. Aber niemand wollte sich in dieser Sache die Finger verbrennen, da – was Luther selbst nicht wusste – hinter dem Handel eine Abmachung zwischen Staat, Kirche und Hochfinanz, zwischen Hohenzollern, Papst und Fuggern stand. Erst nach monatelangen Überlegungen, als Tetzel die Gegend um Wittenberg schon verlassen hatte, verfasste Luther die 95 Thesen, in denen er gegen den Ablasshandel öffentlich – allerdings immer noch bloß im akademischen Raum – Einspruch erhob. Als Aufforderung zu einer gelehrten Disputation auf Latein verfasst, verbreiteten sich die 95 Thesen in deutscher Übersetzung jedoch in Windeseile durch ganz Deutschland. Luther hatte schon vorher den sog. reformatorischen Durchbruch erlebt. Seine reformatorische Theologie wäre jedoch ohne die 95 Thesen eine akademische Angelegenheit geblieben. Erst im Gefolge der Thesen wurde Luther – von ihm unbeabsichtigt – zum Reformator. Die 95 Thesen zeigen ein grundlegend verändertes Seelsorge- und Spiritualitätsverständnis gegenüber der bisher vorherrschenden mittelalterlichen Lehre und Praxis. Im Mittelpunkt der spätmittelalterlichen Seelsorge und Spiritualität stand eine dinglich verstandene Buße, verbunden mit einer ebenso dinglich verstandenen Gnade. Mit seinen Thesen tat Luther einen gewaltigen Schritt auf dem Weg zur Wiedergewinnung eines personalen Buß- und Gnadenverständnisses. Er will in den 95 Thesen klarmachen:20 Während der Ablass Strafscheu statt Buße züchtet, sucht wahre Reue die Strafe und flieht sie nicht. Das kommt in These 40 klassisch zum Ausdruck: „Wahrhafte Reue sucht und liebt die Strafen, die reiche Fülle des Ablasses dagegen befreit von ihnen und lässt sie hassen, zumindest bietet sie die Gelegenheit dazu“. Luthers Gedanken lassen eine gegenüber der mittelalterlichen Theologie diametral verschiedene Auffassung der Buße erkennen. Auf dem Hintergrund seiner Neuentdeckung der paulinischen Rechtfertigungslehre ist Luther überzeugt, dass zur wahren Buße gehört, dass ich nicht nur meine Tatsünden erkenne, sondern begreife, dass selbst die innersten Motive meines Handelns selbstsüchtig sind. Ich bin durch und durch nicht so, wie ich als Geschöpf Gottes sein sollte. Indem ich Buße tue, gebe ich Gott in seinem Verdammungsurteil über mich recht. Paradoxerweise ist aber gerade das der einzige Weg für den Menschen, um Gottes Wohlgefallen zu erlangen. Indem ich Gott recht gebe, wird der Weg frei, dass ich in den Genuss der von Jesus Christus erwirkten Versöhnung komme. Dadurch, dass ich auf diese Weise Buße tue, 20 WA 1,229–238, im Folgenden zit. nach: Reformation, ausgewählt und kommentiert von Volker Leppin (Kirchen- und Theologiegeschichte in Quellen 3), Neukirchen-Vluyn 2005, 37f.
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nehme ich Abschied von der Vorstellung, aufgrund eigener Anstrengung – etwa durch den Kauf von Ablässen – vor Gott wohlgefällig leben zu können und lasse mir gefallen, dass mir das Tun Jesu Christi von Gott als Gerechtigkeit angerechnet wird. Und genau so entspreche ich dem Willen Gottes! Damit ist die eineinhalb Jahrtausende ungelöst gebliebene Frage nach der Sünde im Christenleben beantwortet. In der ersten These ist bereits in nuce die reformatorische Seelsorge- und Spiritualitätskonzeption enthalten: „Unser Herr und Meister Jesus Christus wollte, als er sprach: ‚Tut Buße‘ usw. (Mt 4,17), dass das ganze Leben der Gläubigen Buße sei“. Die zweite These zeigt die Richtung an, die die reformatorische Seelsorge- und Spiritualitätspraxis einschlagen wird: „Dieses Wort [Mt 4,17] kann nicht in Bezug auf die sakramentale Buße (d. h. auf Sündenbekenntnis und Genugtuung [confessionis et satisfactionis], die durch das Priesteramt vollzogen wird,) verstanden werden“. Luther wehrt hier ein doppeltes Missverständnis ab: Einerseits, dass die kirchliche Hierarchie Macht habe, durch ihr Bußinstitut dem Menschen den Himmel auf- oder zuzuschließen, andererseits, dass der Mensch sich durch die Kirche von seiner täglich und existenziell zu vollziehenden Umkehr dispensieren könnte.
5.
Konzentration und Grenzüberschreitung
Reformatorische Spiritualität zeichnet sich durch eine doppelte, gegenläufige Bewegung aus. Einmal verläuft diese Bewegung in Richtung auf Konzentration, zum anderen in Richtung auf Grenzüberschreitung. Einerseits konzentriert sie sich auf Jesus Christus, auf die Bibel, auf Gottes Handeln und auf den individuellen Glauben (solus Christus, sola scriptura, sola gratia, sola fide). Andererseits ermutigt die reformatorische Spiritualität durch eine Haltung der Weltbejahung und Weltverantwortung zum Überschreiten des binnenkirchlichen Raumes in Richtung auf Familie, Beruf und Gesellschaft, die als Felder gottesdienstlicher Lebensführung von den Reformatoren neu entdeckt wurden. Alltagsverträglichkeit und Demokratisierung werden dadurch zu herausragenden Merkmalen evangelischer Spiritualität. Die reformationsgeschichtliche Forschung hat in den vergangenen Jahrzehnten zunehmend die Verankerung von Luthers Theologie und Spiritualität im Spätmittelalter erkannt. Darüber ist bisweilen in Vergessenheit geraten, dass die Reformation trotz aller Verbindungen und Abhängigkeiten einen epochalen Einschnitt darstellte – und schon von den Zeitgenossen als solcher verstanden wurde. Die Forschung wird in Zukunft das Verhältnis von Kontinuität und Diskontinuität noch genauer bestimmen müssen. Besonders deutlich kommt das Moment der Diskontinuität im Bekenntnis Luthers vor Kaiser Karl V. auf dem
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Wormser Reichstag und in dessen Reaktion darauf zum Ausdruck. Auf die Frage, ob Luther seine Schriften widerrufen würde oder nicht, sagte dieser am Schluss seiner Rede am 18. April 1521 – nachdem er sich am Tag zuvor noch Bedenkzeit erbeten hatte: „Weil Eure geheiligte Majestät und Eure Herrschaften es verlangen, will ich eine schlichte Antwort geben, die weder Hörner noch Zähne hat: Wenn ich nicht durch das Zeugnis der Heiligen Schrift oder vernünftige Gründe überwunden werde (nisi convictus fuero testimoniis scripturarum aut ratione evidente) – denn weder dem Papst, noch den Konzilien allein vermag ich zu glauben, da es feststeht, dass sie wiederholt geirrt und sich selbst widersprochen haben –, so halte ich mich überwunden durch die Schriften, die ich angeführt habe, und mein Gewissen ist durch Gottes Worte gefangen (capta conscientia in verbis dei). Und darum kann und will ich nichts widerrufen, weil gegen das Gewissen zu handeln weder sicher noch lauter ist. Ich kann nicht anders, hier stehe ich, Gott helfe mir. Amen“.21
Mit diesen Worten wagte ein einzelner Mönch unter Berufung auf die Freiheit seines Gewissens und seines Glaubens, eine mehr als tausendjährige Kirchenund Theologiegeschichte in die Schranken zu rufen. Die Unerhörtheit dieses Vorgangs hat Kaiser Karl V. erkannt und in seinem Bekenntnis vom 19. April 1521 klar zum Ausdruck gebracht. Er verfasste dieses Bekenntnis noch in der Nacht vom 18. zum 19. April 1521, unter dem unmittelbaren Eindruck von Luthers Weigerung zu widerrufen. „Denn es ist gewiss, dass ein einzelner (Ordens)bruder irrt mit seiner Meinung, die gegen die ganze Christenheit steht, sowohl während der vergangenen tausend und mehr Jahre als auch in der Gegenwart; andernfalls wäre die ganze genannte Christenheit immer im Irrtum gewesen und würde es (noch heute) sein. Deshalb habe ich mich entschlossen, alles in dieser Sache daranzusetzen: meine Königreiche und Herrschaften, meine Freunde, meinen Leib, mein Blut, mein Leben und meine Seele.“22
Karl V. ist fest überzeugt, dass Luther irrt, und daher bereit, alle ihm zur Verfügung stehenden Machtmittel einzusetzen, um diese Irrlehre zu vernichten. Zur evangelischen Spiritualität gehört seit Luthers Bekenntnis grundlegend die Gewissensfreiheit des Einzelnen. Dieses Verständnis ging nach dem Zweiten Weltkrieg auch in die Menschenrechtscharta der Vereinten Nationen ein. Allerdings handelt es sich bei Luther um eine in besonderer Weise qualifizierte Freiheit.23 Der Reformator hat sein neues Verständnis des Evangeliums durch das Studium der Heiligen Schrift gewonnen. Darum bildet die Bibel für ihn den 21 WA 7,838,2–8 (zit. nach: Reformation, 65f). 22 DRTA.JR 2, 595,7–596,1 (zit. nach: Reformation, 66). 23 So auch Bayer, Oswald, Vita passiva. Luther und die Mystik, in: Die Kirchenkritik der Mystiker: Prophetie aus Gotteserfahrung. Bd. 2 Frühe Neuzeit, hg. von Mariano Delgado/Gotthard Fuchs, Fribourg/Stuttgart 2005, 99–103.
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unaufgebbaren Ermöglichungsgrund für die Freiheit des Gewissens. Diese ist, wie Luthers Bekenntnis erkennen lässt, gebunden an Gottes Wort: „durch Gottes Worte gefangen“. Gleichzeitig schließt Luther aus der Neuentdeckung des Evangeliums durch die Schrift, dass die Bibel – unter Verzicht auf die kirchliche Tradition – genügt, um zu wissen, was Gott dem Menschen geben will und was er von ihm fordert (sola scriptura). Jeder Mensch ist in der Lage, selbstständig aus der Bibel den Willen Gottes zu erfahren. Die Konsequenz ist die Emanzipation des Glaubens und damit des einzelnen Gläubigen von kirchlicher Bevormundung. Damit diese reformatorische Erkenntnis keine bloße Theorie blieb, übersetzte Luther die Bibel in die deutsche Sprache. Das geschah im Hinblick auf das Neue Testament bald nach dem Reichstag zu Worms, noch in der Zeit, in der Luther sich auf der Wartburg in Sicherheitsgewahrsam befand. Aus der persönlichen Gewissensbindung an die Schrift folgt die Zuspitzung von Luthers Spiritualität auf den individuellen Glauben (sola fide). Die Bedeutung des persönlichen Glaubens wird besonders in seiner Auslegung der drei Artikel des Glaubensbekenntnisses im Kleinen und Großen Katechismus deutlich. Aus den mächtigen Granitblöcken der objektiven Aussagen des Apostolikums wird durch Luther das subjektive, mich persönlich betreffende, ja bedrängende Bekenntnis: „mein Herr, der mich verlorenen und verdammten Menschen erlöst hat […]|, auf dass ich sein Eigen sei“. „Der Heilige Geist hat mich berufen, erleuchtet, geheiliget“. Darum auch Luthers Forderung, dass die objektiv im Werk Jesu Christi geschehene Versöhnung jedem Menschen subjektiv zugeeignet, „in den Busen gesenkt“ werden muss.24 Luthers Bekenntnis vor Kaiser und Reich hat die Wirkungsgeschichte des Reformators tief geprägt. Er wurde in der Folgezeit häufig ausschließlich als Vorkämpfer für die Freiheit des individuellen Gewissens betrachtet. Luther betont tatsächlich die Freiheit des Individuums. Klassisch hat er diesen Sachverhalt im ersten Leitsatz seiner Schrift „Von der Freiheit eines Christenmenschen“ zum Ausdruck gebracht: „Ein Christenmensch ist ein freier Herr über alle Dinge und niemand untertan“.25 Dabei wird jedoch zweierlei häufig übersehen. Zum einen kommt die Freiheit des Menschen für Luther erst in dessen Liebe zum Nächsten zur Erfüllung. Das wird mit dem zweiten Leitsatz angedeutet: „Ein Christenmensch ist ein dienstbarer Knecht aller Dinge und jedermann untertan“.26 Keine abstrakt verstandene Freiheit, sondern die Liebe zum Nächsten ist das Ziel von Luthers Freiheitsverständnis! Das belegt besonders deutlich das Ende der Freiheitsschrift:
24 BSLK, 654. 25 WA 7, 21, 1–4 (zit. nach: Reformation, 61). 26 A. a. O.
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„Aus dem allen folgt der Schluss: Ein Christenmensch lebt nicht in sich selbst, sondern in Christus und seinem Nächsten, in Christus durch den Glauben, im Nächsten durch die Liebe. Durch den Glauben geht er über sich hinaus bis zu Gott, aus Gott kehrt er wieder unter sich zurück durch die Liebe und bleibt doch immer in Gott und göttlicher Liebe […] Siehe, das ist die rechte, geistliche, christliche Freiheit, die das Herz frei macht von allen Sünden, Gesetzen und Geboten, welche alle andere Freiheit übertrifft wie der Himmel die Erde“.27
Zum anderen wollte Luther zwar den Glauben des Einzelnen von klerikaler Bevormundung befreien, intendierte jedoch nie einen individuellen Glauben unabhängig von der christlichen Gemeinde. Der Mensch ist und bleibt auch für Luther ein soziales Wesen. Die Orientierung von Luthers Glaube an der menschlichen Gemeinschaft ergibt sich dabei notwendig aus dem Gedanken, dass die Gemeinde das Wirkungsfeld der Liebe darstellt. Die neuzeitliche Denkfigur von Gott und der Einzelseele stellt eine Abstraktion dar. Für Luther gibt es menschliche Freiheit nicht unabhängig von der Gesellschaft, sondern nur eingebunden in die „Gemeinschaft der Heiligen“, wie es im Apostolischen Glaubensbekenntnis heißt. Luthers Auslegung des Dritten Glaubensartikels im Kleinen Katechismus ist ein klassischer Beleg dafür, dass sich in seiner Spiritualität der Einzelne und die Gemeinde komplementär zueinander verhalten: „Ich glaube, dass ich nicht aus eigener Vernunft noch Kraft an Jesus Christus, meinen Herrn, glauben oder zu ihm kommen kann; sondern der Heilige Geist hat mich durch das Evangelium berufen, mit seinen Gaben erleuchtet, im rechten Glauben geheiligt und erhalten; gleichwie er die ganze Christenheit auf Erden beruft, sammelt, erleuchtet, heiligt und bei Jesus Christus erhält im rechten einigen Glauben; in welcher Christenheit er mir und allen Gläubigen täglich alle Sünden reichlich vergibt und am Jüngsten Tage mich und alle Toten auferwecken wird und mir samt allen Gläubigen in Christus ein ewiges Leben geben wird“.
6.
Die Geschichte der evangelischen Spiritualität – eine fortwährende Transformationsgeschichte
Die Geschichte der evangelischen Spiritualität lässt sich als Transformationsgeschichte reformatorischer Spiritualität lesen. Das gilt im Hinblick auf so unterschiedliche spirituelle Erscheinungsformen wie die Orthodoxie, den Pietismus, den Rationalismus, die Erweckungsbewegung, den theologischen Liberalismus, die Bekennende Kirche und die pfingstlich-charismatischen Bewegungen. Sie alle haben auf ihre Weise Anliegen reformatorischer Spiritualität, besonders die Erkenntnis von der Rechtfertigung allein aus Gnaden, unter wechselnden ge27 WA 7, 38, 6–14. (zit. nach: Reformation, 62).
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sellschaftlichen Herausforderungen und kulturellen Bedingungen zur Geltung zu bringen versucht. Es spricht für die ungebrochene Vitalität reformatorischer Spiritualität, dass sie bis heute immer neue Ausdrucksformen gefunden hat. Eine Voraussetzung für die Transformationskraft evangelischer Spiritualität war die Fähigkeit zur Modifikation und Korrektur. Die Geschichte der evangelischen Spiritualität zeichnet sich von Anfang an durch eine zunehmende Pluralisierung aus. Evangelische Spiritualität weist eine Fülle unterschiedlichster theologischer Prägungen und Gestaltungsformen auf. Bisweilen drängt sich der Eindruck auf, dass es der deutschen landeskirchlich orientierten Universitätstheologie schwerfällt, diese Diversifizierung evangelischer Spiritualität vorurteilsfrei wahrzunehmen, zu untersuchen und kritisch zu würdigen – als müsse man wie im Zeitalter der Orthodoxie mit der herrschenden theologischen Überzeugung übereinstimmen, nach dem Motto: Es gibt nur den einen richtigen Glauben und auch nur die eine legitime Gestalt der evangelischen Kirche. Schon der Begriff Spiritualität zeigt jedoch: Es gibt Spiritualität – und damit auch evangelische Spiritualität – nur im Plural. Im Gegensatz dazu suggeriert der Begriff ,,Glaube“, dass es ihn nur im Singular geben könne. Ich musste bereits während des Studiums in Tübingen lernen, dass es neben dem Glauben der Kirche ganz unterschiedliche ,,Gläuble“ (Plural!) der einzelnen Christen gibt. Solch ein individuelles „Gläuble“ wurde in der württembergischen Landeskirche jahrhundertelang in den pietistischen Gemeinschaften kräftig gefördert. Dabei wurde die besondere Gestalt des individuellen Glaubens – wenn es gut ging – getragen, inspiriert, korrigiert und geweitet durch den Glauben der Kirche. Das je verschiedene „persönlichkeitsspezifische Credo“, wie es der Praktische Theologe Klaus Winkler in Bethel vor Jahren ausgedrückt hat,28 ist kein Zeichen für den Verfall, sondern für die Lebendigkeit des Glaubens der Kirche. Ich plädiere daher dafür, die zunehmende Pluralisierung der evangelischen Spiritualität in Geschichte und Gegenwart nicht als Bedrohung, sondern als Zeichen für die Vitalität des Protestantismus zu bewerten. Darum war es für mich von Anfang an klar, dass auch die Geschichte der Spiritualität evangelischer Freikirchen in einem Handbuch für evangelische Spiritualität berücksichtigt werden musste (auch wenn ein spezifischer Beitrag über die Spiritualität des sog. linken Flügels der Reformation aus organisatorischen Gründen leider fehlt). Eine weitere wichtige Einsicht aus der Geschichte der evangelischen Spiritualität besteht darin, dass sie von Anfang an internationale Wirkungen hervorrief. Die Reformation – und damit auch ihre Spiritualität – war sofort eine weit über Deutschland hinausgreifende Bewegung. Zur Geschichte der evangelischen Spiritualität gehört untrennbar ihre internationale Ausbreitung und Verflechtung in Form einer Fülle von schwer greifbaren und nicht leicht 28 Vgl. Winkler, Klaus, Das persönlichkeitsspezifische Credo, in: WzM 34/1982, 159–163.
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nachvollziehbaren Interdependenzen. Beispiele dafür sind die anglikanische, genauso die methodistische und die baptistische Spiritualität, ebenso die afroamerikanische und die pfingstlich-charismatische Spiritualität und die der früheren Missionskirchen in Afrika und Asien. Weltweit wächst der Protestantismus – anders als es die Situation in Deutschland vermuten lässt – in rasanter Weise. Das Phänomen einer zunehmenden internationalen Ausbreitung der evangelischen Spiritualität weist im Umkehrschluss darauf hin, dass sie offensichtlich eine Kompatibilität mit den unterschiedlichsten Kulturen aufweist: Darin unterscheidet sie sich nicht von christlicher Spiritualität insgesamt, die im Laufe ihrer Geschichte immer wieder neue Kulturen zu durchdringen vermochte – und ihrerseits von diesen geprägt wurde. Beispiele dafür stellen im ersten und zweiten Jahrhundert die griechische, syrische und ägyptische Kultur dar.
7.
Aufbau und Inhalt des Handbuchs Evangelische Spiritualität, Bd. 1: Geschichte
Angesichts der Fülle von Erscheinungsformen evangelischer Spiritualität war im vorliegenden ersten Band „Geschichte“ des Handbuchs Evangelische Spiritualität ein exemplarisches Vorgehen unerlässlich. Manche werden zum Beispiel einen Beitrag über den sogenannten radikalen Flügel der Reformation oder über einen Vertreter der reformierten Orthodoxie schmerzhaft vermissen. Dennoch sollten zumindest die wichtigsten Epochen und Persönlichkeiten der Spiritualitätsgeschichte mit Einzelbeiträgen vertreten sein. Dabei wechseln Überblicksdarstellungen mit Artikeln über Persönlichkeiten ab, wobei die Beiträge über einzelne Persönlichkeiten eine Art Tiefenbohrung bieten. Neben herausragenden Vertretern einer Epoche, die die weitere Geschichte der evangelischen Spiritualität geprägt haben, werden exemplarisch Übergangs- und Vermittlungspersonen dargestellt. Jeder Beitrag sollte wie ein Mosaik verstanden werden. Erst zusammen ergeben die Artikel ein angemessenes Gesamtbild der Geschichte evangelischer Spiritualität. Der Einsatz bei der Reformation wurde bereits begründet. Der Überblicksartikel über reformatorische Spiritualität und der Beitrag über die Spiritualität von Johann Staupitz zeigen, was reformatorische Spiritualität dem Spätmittelalter verdankt. Die Artikel über Philipp Melanchthon, Huldrych Zwingli und Johannes Calvin lassen erkennen, dass die reformatorische Spiritualität von Anfang an in mehrfacher Gestalt in Erscheinung trat. Mit der anglikanischen Spiritualität tritt reformatorischer Spiritualität eine Transformationsgestalt an die Seite, die sich nicht nur außerhalb des kontinentaleuropäischen Europas
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formiert, sondern auch eine von der festländischen Reformation unterschiedene Prägung erkennen lässt. Die verschiedenen Artikel zur Spiritualität im Zeitalter der Orthodoxie machen deutlich, dass diese Zeit alles andere als eine homogene spirituelle Landschaft bildete. Auch die traditionellen Grenzziehungen zwischen orthodoxer, pietistischer und mystischer Theologie erweisen sich nur als bedingt hilfreich. Allein die Tatsache, dass Johann Arndt der Lehrer Johann Gerhards und gleichzeitig das große Vorbild Philipp Jakob Speners und des älteren Pietismus insgesamt, aber auch einer der wichtigen Impulsgeber für die Dichtung Paul Gerhardts war, deutet stattdessen auf mannigfaltige Abhängigkeiten und Verflechtungen hin. Die spirituelle Vitalität, die das Zeitalter der Orthodoxie prägte, lässt die Rede von einer Frömmigkeitskrise in der älteren nachreformatorischen Zeit endgültig als obsolet erscheinen. Auch die Periode des älteren Pietismus war eine spirituell vielfältige und anregende Zeit. Nach mittlerweile einhelliger Überzeugung der Forschung stellte er die bedeutendste nachreformatorische Erneuerungsbewegung im Protestantismus dar. Das zeigt sich nicht zuletzt an der Fülle seiner Erscheinungsformen (man denke nur an so unterschiedliche Bewegungen wie den halleschen, den württembergischen, den rheinisch-reformierten, den Herrnhuter und den radikalen Pietismus, denen allesamt eigene Artikel gewidmet sind). Auch in dieser Zeit gab es eine Vielzahl von Übergangs- und Vermittlungsfiguren, die von Johann Martin Schamelius repräsentiert werden. Für die Kraft des älteren Pietismus spricht, dass er nicht nur als Impulsgeber für den frühen Methodismus wirkte (John Wesley erlebte seine Bekehrung in der Londoner Kapelle der Herrnhuter), sondern auch das Zeitalter der evangelischen Weltmission eröffnete und damit die weltweite Ausbreitung des Protestantismus einleitete. Auch wenn sich der Pietismus mehr und mehr zu einem entschiedenen Gegner des aufklärerischen Rationalismus entwickelte, vertrat dieser doch seinerseits eine eigenständige Form protestantischer Spiritualität. Der Protestantismus zeichnet sich im 19. Jahrhundert in spiritueller Hinsicht wiederum durch große Vielfalt aus, wobei Friedrich Schleiermacher einerseits als Überwinder einer einseitig rationalistisch ausgerichteten evangelischen Spiritualität und andererseits als großer Anreger für neue Gestaltungsformen zu gelten hat. Sowohl der theologische Liberalismus (bei dem mit Adolf von Harnack und Albert Schweitzer zwei von dessen Hauptvertretern porträtiert werden) als auch die Erweckungsbewegung (mit Friedrich August Tholuck als theologischem Vordenker und Johann Hinrich Wichern als wichtigstem Impulsgeber einer diakonischen Spiritualität im Protestantismus) sind ohne ihn nicht vorstellbar. In diesem Zeitraum beginnen auch freikirchliche Spiritualitätsformen Fuß zu fassen. Es kommt zur dauerhaften Etablierung verschiedener Freikirchen in Deutschland, die fortan die spirituelle Landschaft mitprägen (Baptisten,
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Methodisten, später auch Freie evangelische Gemeinden). Eine nicht zu unterschätzende Spielart des älteren Pietismus bildet die in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts sich formierende deutsche Gemeinschaftsbewegung, die im Rahmen der Landeskirchen verbleibt. Das 20. Jahrhundert bietet in spiritueller Hinsicht ein neues Bild. Ursache dafür sind nicht zuletzt die veränderten Konstitutionsbedingungen des landeskirchlichen Protestantismus. Mit dem Ende des deutschen Kaiserreichs wird die 400 Jahre währende Verbindung von Thron und Altar aufgelöst. Die Landeskirchen werden in die Freiheit von staatlicher Bevormundung, aber auch von staatlichem Schutz entlassen. Erstmals während seiner Geschichte wird der deutsche landeskirchliche Protestantismus aber auch verfolgt: zunächst im Dritten Reich und dann vom SED-Regime in der DDR. Ganz unterschiedliche Spiritualitätsformen wie die der Evangelischen Michaelsbruderschaft, der Deutschen Christen und der Bekennenden Kirche reagieren auf die veränderten kirchlichen Rahmenbedingungen. Die Geschichte der evangelischen Spiritualität nach dem Zweiten Weltkrieg muss notwendigerweise aphoristisch-zurückhaltend ausfallen. Erst mit einem weiteren Abstand wird gesagt werden können, welche spirituellen Bewegungen wirklich nachhaltig gewirkt haben. Aber eines wird man wahrscheinlich wagen dürfen: Mit der pfingstlich-charismatischen Spiritualität ist noch einmal eine ganz neue Form im Protestantismus entstanden. Mit ihrer pneumatischen Orientierung unterscheidet sie sich wesentlich von der am ersten oder zweiten Glaubensartikel orientierten traditionellen evangelischen Spiritualität. Der erste Band des Handbuchs will die weithin verschütteten Quellen evangelischer Spiritualität freilegen. Meine Hoffnung ist, dass er damit zu einer Erneuerung der evangelischen Kirche beiträgt. Dass die Erneuerung der Kirche nicht einfach auf organisatorischem Wege zu erreichen ist, bringt das folgende Zitat des katholischen Kirchenhistorikers Joseph Wittig aus Breslau in bildhafter Sprache eindrucksvoll zum Ausdruck. Ausgehend von der Überlegung, dass die Kirche als lebendiger Organismus, als Neuschöpfung Gottes, nicht wie andere menschliche Institutionen reformiert werden kann, begründet Wittig seine Skepsis gegenüber jeglicher organisierter Kirchenreform wie folgt: „Wenn ich das Wort Kirchenreform in den Mund nehme, dann ist es mir, als ob ich wieder etwas ausspucken müsste, entweder den Kern, wie bei einer Kirsche, oder die Schale, wie bei einer Stachelbeere. Denn etwas daran ist nicht richtig […]. Der Fehler liegt in der kleinen Vorsilbe des Wortes Reform, denn diese bedeutet entweder ‚zurück‘ oder ‚noch einmal‘. Ein Zurück oder ein Nocheinmal gibt es aber im echten Leben ohne Vergewaltigung nicht. Jedes echte Leben wehrt sich dagegen. Man kann den Schmetterling, wenn seine Flügel nicht ganz gut gelungen sind, nicht mehr zurück in die Puppe stecken. Man soll ihn in Gottes Namen auf das Kraut fliegen lassen und auf das nächste Jahr hoffen. Deshalb wehrt sich auch die Kirche ganz unwillkürlich, in irgendeine
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frühere, wenn auch noch so ideale und heilige Form zurück gezwungen zu werden. Nicht Reformierung, sondern Formierung will sie. Sie ist wie die Natur: Wachsen will sie; immer neue Gestalten will sie schaffen. […] Man muss ihr nur auch Winterzeiten und Brachzeiten gönnen. Es muss manchmal alles in ihr ganz wie tot sein. […] Im Winter ist es oft so, dass ich kaum noch an grüne Büsche und blühende Wiesen glauben kann. So ist es mit der Kirche“.29
Dass die Potenziale evangelischer Spiritualität durch das Studium ihrer geschichtlichen Ausprägungen für Theologie, Kirche und Gesellschaft freigesetzt werden, ist das Ziel dieses ersten Bandes des Handbuchs Evangelische Spiritualität.
29 Wittig, Joseph, Heinrich II. als Reformator des religiösen und kirchlichen Lebens, in: Eugen Rosenstock/ders., Das Alter der Kirche. Kapitel und Akten, Bd. 2, Studienausgabe, Berlin 1928, 561.
Armin Kohnle
Vom Spätmittelalter zur Reformationszeit Entwicklungslinien und Tendenzen in Spiritualität und Frömmigkeit
Der schillernde Begriff der „Spiritualität“ war in der Reformationszeit in seiner deutschen Form unbekannt. Auch in der Reformationsforschung ist der Terminus weder fest eingeführt noch inhaltlich verbindlich gefüllt. Wenn man den neuesten Untersuchungen zur Begriffsgeschichte folgen darf, war das lateinische Substantiv spiritualitas in seiner religiösen Bedeutung bis in das hohe Mittelalter gebräuchlich, wurde dann im deutschen Sprachraum aber durch den Begriff der „Frömmigkeit“ abgelöst.1 Dieser Sprachgebrauch blieb unangefochten, bis die Dialektische Theologie den Frömmigkeitsbegriff zu Beginn des 20. Jahrhunderts „zu ächten und weitgehend zu verdrängen“2 begann. Die erneute Verschiebung hin zum deutschen Terminus „Spiritualität“ erfolgte nach dem Zweiten Weltkrieg zuerst auf römisch-katholischer Seite und wurde von der evangelischen Theologie seit den späten 1970er Jahren übernommen.3 Ob Spiritualität und Frömmigkeit als Synonyme zu gelten haben oder ob zwischen einem Gattungsbegriff Frömmigkeit und einem Artbegriff Spiritualität zu differenzieren ist, steht zur Diskussion. Folgt man dieser Differenzierung, die der Kirchenhistoriker Ulrich Köpf vorgeschlagen hat, ist unter Spiritualität „ein elitäres Phänomen in der Geschichte christlicher Frömmigkeit“4 zu verstehen, die zwar inhaltlich variieren kann, aber stets eine „bewußt geformte, regelmäßig gepflegte und methodisch eingeübte Art von Frömmigkeit und religiösem Verhalten“5 darstellt. Auf die Reformationszeit übertragen, würde dieses enge Verständnis von Spiritualität als Elitenphänomen bedeuten, dass es zwar für die großen Theologen des 16. Jahrhunderts untersucht werden könnte, so wie es in den folgenden Beiträgen anhand der Spiritualitätsprofile eines Johann von Staupitz, Martin Luther, Philipp Melanchthon, Huldrych Zwingli und Johannes Calvin geschieht, 1 2 3 4
Vgl. Jaspert, Spiritualität oder Frömmigkeit. bes. 11–15.105; Köpf, Spiritualität I. Jaspert, Spiritualität oder Frömmigkeit, 11. Vgl. a. a. O. Diese Unterscheidung bei Köpf, Spiritualität II, das Zit. a. a. O., 1593. Zur Diskussion der Köpfschen Unterscheidung vgl. Jaspert, Spiritualität oder Frömmigkeit, 50f. 5 Köpf, Spiritualität II, 1591.
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dass aber das durchschnittliche religiöse Verhalten der Bevölkerung in Stadt und Land, der evangelischen Pfarrerschaft oder des Adels außerhalb des Blickfelds bliebe. Sie verfügten nach der Köpfschen Definition zwar über Frömmigkeit, aber wohl kaum über eine spezifische Spiritualität. Da die Durchschnittsfrömmigkeit aber von den theologischen Leitfiguren beeinflusst war, wird im Folgenden zwischen elitärer Spiritualität und allgemeiner Frömmigkeit nicht näher unterschieden. Vielmehr wird ein Spiritualitätsbegriff zugrunde gelegt, der zu Frömmigkeitsformen jeder Art hin offen ist. Die Begriffe „Spiritualität“ und „Frömmigkeit“ werden synonym gebraucht bzw. es wird mit dem Begriffspaar „Spiritualität und Frömmigkeit“ operiert. Verstanden wird darunter der gelebte Glauben, der „konkrete Lebensvollzug des Glaubens durch eine bestimmte Lebensgestaltung“.6 Auch wenn die religiösen Handlungen eines Menschen ohne den hinter ihnen stehenden religiösen Sinn7 nicht gedacht werden können, geht es im Folgenden nicht um das reflektierte Glaubenswissen, die Theologie, sondern um die Glaubenspraxis. Die Perspektive ist eine kirchenhistorische. Ziel ist die Ergänzung und Einordnung der in diesem Band versammelten Beiträge, die jeweils großen Theologenpersönlichkeiten oder Strömungen gewidmet sind. Die Elitenspiritualität der Reformatoren soll gleichsam durch Beobachtungen zur allgemeinen Frömmigkeitsentwicklung unterfüttert werden. Dabei ist im Spätmittelalter einzusetzen, denn ohne die Kenntnis der Voraussetzungen und Grundlagen bleibt die Frömmigkeit der Reformationszeit unverständlich.
1.
Spiritualität um 1500
Die These Arnold Angenendts vom 15. Jahrhundert als „der frömmsten Zeit deutscher Kirchengeschichte“8 dürfte konfessionenübergreifend bei Kirchenhistorikern heute auf Zustimmung stoßen. Bernd Moeller bezeichnete die Jahrzehnte um 1500 als „eine der kirchenfrömmsten Zeiten des Mittelalters“.9 Die vorreformatorische Kirche hatte insbesondere in Deutschland Hochkonjunktur. Die Menschen lechzten nach Erlösung und waren in hohem Maße bereit, das kirchliche Heilsangebot anzunehmen. Das blühende Stiftungswesen weist auf ein reiches materielles Engagement der Laien für die Kirche. Auf der anderen Seite sind Verfallstendenzen aber nicht zu übersehen. Deshalb sind Verallgemeinerungen schwierig, wenn nicht unmöglich. Volker Leppin hat für die vor6 7 8 9
Kühne/Bünz/Müller (Hg.), Alltag und Frömmigkeit, 17. So die Definition bei Greschat, Frömmigkeit. Angenendt, Religiosität im Mittelalter, 475. Moeller, Frömmigkeit, 81.
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reformatorische Epoche von einer „äußerst disparaten Frömmigkeit“, einer „Vielfalt von Polaritäten“10 und von einer „starken Polarität innerhalb großer Pluralität“11 gesprochen. Das weite Feld der spätmittelalterlichen Spiritualität und Glaubenspraxis kann mit den Begriffen meditatio, oratio, tentatio, sacramenta und caritas grob umrissen werden.12 Da es eine einheitliche, die gesamte spätmittelalterliche Kirche und Gesellschaft umfassende Spiritualität nicht gab, soll hier der Versuch unternommen werden, die Wurzeln der Frömmigkeit, aus denen heraus die Reformation erwuchs und die sie fortführte oder auch abschnitt, in strukturierter Weise zu umschreiben.
1.1
Meditatio – Meditation und Kontemplation
Das meditative oder kontemplative, allein der individuellen Nähe zu Gott gewidmete Leben, wie es in den zahllosen Männer- und Frauenklöstern des Mittelalters gepflegt wurde, war nicht nur gesellschaftlich akzeptiert, sondern stand im Ruf besonderer Heiligkeit. Doch das Mönchtum – seinem Ursprung nach eine Form der Laienfrömmigkeit – war im späten Mittelalter längst nicht mehr so unumstritten wie in früheren Zeiten. Die monastischen Grundtugenden Armut, Keuschheit und Gehorsam, deren vollkommene, in klösterlicher Abgeschiedenheit vollzogene Erfüllung das individuelle Heil sicherte, wurden von Außenstehenden nicht nur hoch geschätzt oder gar bewundert, sondern zunehmend auch beargwöhnt. Auf den in vielen Klöstern eingetretenen Verfall der Disziplin reagierten im Verlauf des 15. Jahrhunderts die Ordensgemeinschaften mit Reformbemühungen, die eine strengere Beachtung der Ordensregeln zum Ziel hatten. Reformrichtungen oder „observante“ Zweige entwickelten sich sowohl im traditionellen Benediktinertum als auch in den Bettelorden.13 Zu einer neuen Blüte der monastischen Lebensweise führten diese Reformansätze insgesamt aber nicht. Vermeintliches oder tatsächliches moralisches Fehlverhalten machte das Mönchtum häufig zur Zielscheibe öffentlicher Angriffe oder zum Gegenstand von Spott. Der spätmittelalterliche Antiklerikalismus14 10 Leppin, Frömmigkeit, 192. 11 Leppin, Vereindeutigung, 312. 12 Die jüngsten Skizzen spätmittelalterlicher Frömmigkeit bieten a.a.O. und Seebaß, Geschichte des Christentums III, 50–69; grundlegend Angenendt, Religiosität im Mittelalter, bes. 68–87; vgl. auch ders., Frömmigkeit im Mittelalter; Hamm, Frömmigkeitstheologie; ders., Reformation; Litz u.a. (Hg.), Frömmigkeit – Theologie – Frömmigkeitstheologie; Schreiner (Hg.), Laienfrömmigkeit im späten Mittelalter; Kühne/Bünz/Müller (Hg.), Alltag und Frömmigkeit. 13 Aus der unerschöpflichen Literatur zum mittelalterlichen Mönchtum vgl. Frank, Geschichte des christlichen Mönchtums. 14 Vgl. Goertz, Pfaffenhaß; ders., Antiklerikalismus.
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wurde nicht nur von Fehltritten Einzelner befeuert, sondern richtete sich auch gegen die Standesprivilegien, die das Mönchtum mit dem Weiheklerus teilte: Steuerfreiheit, Befreiung von bürgerlichen Pflichten und Diensten, eigener Gerichtsstand. Seinen Bildungsvorsprung hatte das Mönchtum wie die Geistlichkeit insgesamt um 1500 längst eingebüßt. Träger des Humanismus,15 der wichtigsten Bildungsbewegung des ausgehenden Mittelalters, waren nicht nur Kleriker, sondern auch Laien. Die Kluft, die den Kleriker noch immer von der Welt der Laien trennte, wurde nicht mehr durch Bildung, sondern vornehmlich durch die sakramentale Weihe markiert, die in dieser Zeit auch die meisten Mönche erhielten. Bei aller Kritik am Mönchtum, die nicht nur aus dem gebildeten Bürgertum der Städte kam, sondern – wie die massiven Übergriffe auf die Klöster im Bauernkrieg deutlich machen – auch in der Landbevölkerung verbreitet war, übte ein christliches Leben in Gemeinschaft und Konzentration auf die persönliche Gottesbeziehung auf die Menschen des späten Mittelalters noch immer eine erhebliche Faszination aus. Die Klöster waren Stätten des Gebets, vor allem des Psalmgebets. Das Mönchtum übernahm traditionell die Aufgabe, für die Seelen der Verstorbenen zu beten. Dieser monastische Gebetsdienst wurde von den spätmittelalterlichen Christen noch immer hoch geschätzt. Wie in früheren Zeiten suchten die Menschen die Nähe der Mönche und ihrer Gebete, indem sie sich ein Begräbnis im Kloster wählten. Im Testament Kurfürst Friedrichs des Weisen von Sachsen von 1493 zum Beispiel wurde das Kloster Reinhardsbrunn als Begräbnisstätte genannt. Die dortigen Mönche sollten dem Kurfürsten ein ewiges Gedächtnis halten – gebunden allerdings an die Bedingung einer Reform des Klosters.16 Semi-monastische Lebensformen waren um 1500 verbreitet. Kaum eine spätmittelalterliche Stadt, die nicht über eines oder mehrere Beginenhäuser verfügte, in denen sich Frauen zusammenfanden, die einen dritten Weg zwischen den traditionellen Frauenorden und einem Leben in der Welt suchten.17 Ihr Ziel war ein persönliches, affektives Christusverhältnis als Alternative zu der intellektualistischen scholastischen Theologie der Zeit und zum etablierten System der sakramentalen Heilsvermittlung durch den Priester. Trotz Unterdrückungsversuchen durch die Amtskirche ließ sich die mit dem Beginentum verbundene, zur Ekstase neigende Frauenspiritualität nicht auslöschen. Nicht zuletzt ihrer Integration in das traditionelle Ordenswesen diente die von Meister Eckhart ausgehende spätmittelalterliche Mystik, die besonders auf die spiritu15 Vgl. Spitz, Humanismus/Humanismusforschung; Worstbrock (Hg.), Deutscher Humanismus. 16 Vgl. Kirn, Friedrich der Weise, 105. 17 Vgl. Voigt, Beginen.
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ellen Bedürfnisse frommer Frauen einging, die aber auch unter Männern großen Widerhall fand und im Dominikanerorden besonders gepflegt wurde.18 Sie beruhte auf der Idee des Loslassens alles Irdischen, wodurch der Mensch in seiner Seele aufnahmebereit wird für die direkte Begegnung mit Gott. Die bedeutendste Frömmigkeitsbewegung des 15. Jahrhunderts, die aus den Niederlanden über Zentraleuropa sich ausbreitende Devotio moderna, wies zahlreiche Berührungspunkte mit dem beginischen und mystischen Frömmigkeitstypus auf. Auch diese Laienbewegung verfolgte das Ideal eines geistlichen Lebens in Gemeinschaft, aber ohne Bindung an eine Ordensregel. Die, wie sie sich selbst nannten, Brüder und Schwestern vom gemeinsamen Leben strebten nach einer ernsten Christusnachfolge und geistlichen Durchdringung des Alltags mittels Meditation und Lektüre.19 Andachtsliteratur, aber auch Teil- oder Vollübersetzungen der Bibel waren für den Gebrauch von Laien im 15. Jahrhundert durchaus verfügbar, wenngleich kostspielig.20 Weit verbreitet war die Thomas von Kempen zugeschriebene Schrift Imitatio Christi, die eine Anleitung zur Christusnachfolge in Innerlichkeit und Abgeschiedenheit bot.21 Gerade für die Laienfrömmigkeit war dieser Text von großer Bedeutung, machte er die abgehobene und nur hinter Klostermauern praktizierbare Mystik doch für das städtische Bürgertum zugänglich und im Alltag lebbar.22 Diese Schrift zeigt zugleich, dass das Spätmittelalter durchaus eine intensive Christusfrömmigkeit kannte, insbesondere in dem Milieu, das Berndt Hamm als „Frömmigkeitstheologie“ bezeichnet hat.23 Ein Vertreter dieser Richtung, der Erfurter Theologe und Prediger Johann von Paltz, empfahl die Betrachtung der Wunden Christi in seiner „himmlischen Fundgrube“ als besonderes Andachtsmittel.24 Auch Johann von Staupitz kann in die Traditionslinie der spätmittelalterlichen Frömmigkeitsschriftsteller gestellt werden. Die Betrachtung, die Wahrnehmung mit den Augen, war ein für die spätmittelalterliche Frömmigkeit zentrales Element. Sie war zu guten Teilen „Schaufrömmigkeit“.25 Spätmittelalterliche Kirchen waren mit Altären, Reliquienschreinen, Heiligenbildern und Heiligenskulpturen gefüllt. Auf ihnen konnten die Augen der Andächtigen ruhen. Die Zeit unmittelbar vor der Reformation war eine Blütezeit der Kunst. Die Frömmigkeit verlangte nach Anschauung, nach der 18 Vgl. Leppin, Mystik; Hamm/Leppin (Hg.), Gottes Nähe. 19 Vgl. Klug, Armut und Arbeit. 20 Vgl. Sonderegger, Geschichte deutschsprachiger Bibelübersetzungen, bes. 257–260 zu den gedruckten deutschsprachigen Bibeln vor Luther; Kühne/Bünz/Müller, Alltag und Frömmigkeit, 247–256. 21 Vgl. Thomas von Kempen, Nachfolge Christi. 22 Vgl. Leppin, Frömmigkeit, 208f. 23 Hamm, Religiosität; vgl. Litz u.a. (Hg.), Frömmigkeit – Theologie – Frömmigkeitstheologie. 24 Vgl. Hamm, Frömmigkeitstheologie. 25 Der Begriff bei Schreiner, Laienfrömmigkeit, 31.
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Sichtbarkeit des Heiligen, das in irdischen Dingen präsent sein konnte. Der spätmittelalterliche Kirchenraum war ein „Schauraum“,26 er war zugleich eine Bühne, auf der die Heilsgeschichte aufgeführt wurde. Die Menschen des Spätmittelalters liebten performative Akte wie das Hochziehen einer hölzernen Christusfigur im Himmelfahrtsgottesdienst durch ein Loch im Kirchengewölbe,27 Passions-, Oster- oder Fronleichnamsspiele. Es ist ein verbreitetes Missverständnis, dass im vorreformatorischen Gottesdienst nicht gepredigt wurde. Tatsächlich spielte die Predigt um 1500 eine wichtige Rolle für die Laienfrömmigkeit. In den Städten übernahmen insbesondere die Bettelorden diese Aufgabe, aber auch in den dörflichen Pfarrkirchen gehörte die Predigt zu den Aufgaben des Pfarrers. In den Städten gab es die Tendenz, einen von der Messe unabhängigen Prädikantengottesdienst zu etablieren. Die zahlreichen Stiftungen von Prädikaturen weisen darauf hin, dass die Verkündigung als defizitär betrachtet wurde. Man darf jedenfalls davon ausgehen, dass das Hören einer Predigt zu der religiösen Praxis der Menschen gehörte.28 Ein weiteres Missverständnis ist es, dass um 1500 auf Lateinisch gepredigt wurde; Predigtsprache war selbstverständlich Deutsch. Die Auslegung einer biblischen Perikope war nur eine Möglichkeit; Heiligen- oder Marienpredigten, Moralpredigten oder Predigten über Katechismusstücke waren ebenfalls verbreitet. Das Niveau darf man sich außerhalb des Prädikantengottesdienstes nicht allzu hoch vorstellen, da viele spätmittelalterliche Messpriester keine studierten Theologen waren.
1.2
Oratio – Gebet
Die Spiritualität der Innerlichkeit, die zum Treiben der Welt auf Distanz blieb und die individuelle religiöse Erfahrung in das Zentrum rückte, war nicht die Spiritualität der Mehrheit der Menschen. Die Landbevölkerung, zu der um 1500 die überwiegende Mehrheit zu rechnen war, kam mit dem Göttlichen regelmäßig in der örtlichen Pfarrkirche in Kontakt, wo man die Messe besuchte und die Sakramente empfing.29 Darüber hinaus war der Alltag durch die Kirchenglocken, die Woche durch den Besuch der Messe, das Jahr durch die zahlreichen Feiertage und das Leben insgesamt durch Taufe, Eheschließung und Begräbnis, also durch priesterlich gespendete Sakramente gegliedert. 26 Wenzel, Hören und Sehen, 99. 27 Zu den „handelnden Bildwerken“ vgl. Kühne/Bünz/Müller (Hg.), Alltag und Frömmigkeit, 290–304. 28 Vgl. zur Predigt a. a. O., 305–316. 29 Vgl. Bünz/Fouquet (Hg.), Pfarrei.
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Der allgegenwärtige Tod schuf ein Bewusstsein für die ständige Gefährdung des Lebens. Auf das Lebensende galt es sich vorzubereiten, denn der unerwartete, der überraschende Tod war der schlechte Tod. Über die Kunst des Sterbens belehrten die Sterbebüchlein, in denen man in Text oder Bild erfahren konnte, wie eine christliche Sterbevorbereitung aussehen sollte.30 Spätmittelalterliche Frömmigkeit stand im Schatten des Todes und konnte zu einer Bußgesinnung oder auch zu zügellosem Lebensgenuss führen. Vor allem aber suchten die Menschen den himmlischen Beistand in den alltäglichen Gefährdungen des Lebens. Das Gebet war das Mittel, diesen Beistand zu erhalten. Nicht Gottvater und der Sohn waren die ersten Adressaten, sondern Maria und die Heiligen, die die Anliegen der Gläubigen vor Gott trugen. Der mittelalterliche Heiligenkult war hochdifferenziert.31 Die Legenda Aurea des Dominikaners Jacobus de Voragine aus der Mitte des 13. Jahrhunderts diente dem Spätmittelalter als religiöses Volksbuch.32 Frömmigkeit und Kunst fanden in den hier versammelten Heiligenlegenden einen Schatz, aus dem sich das religiöse Wissen und die Andacht der einfachen Bevölkerung speisen konnten. Der Marienkult war gleichfalls hochentwickelt und im Volk tief verankert. Maria wurde eine Stellung über allen Heiligen zugemessen, gelegentlich wurde sie in unmittelbare Nähe zur Trinität gerückt. Die Marienverehrung des Spätmittelalters äußerte sich in unterschiedlichen Formen: Marienwallfahrten an Orte, an denen von Marienwundern berichtet wurde, zogen viele Menschen an; der Festkalender war voller Marienfeste (Mariae Geburt, Heimsuchung, Verkündigung, Himmelfahrt, Empfängnis);33 das Rosenkranzgebet, das 1479 von Papst Sixtus IV. allen Gläubigen als tägliche Übung empfohlen wurde, war fester Bestandteil der Gebetspraxis vieler Menschen.34 Marienmotive waren das beliebteste Genre der spätmittelalterlichen Malerei. Dem Gebet an heiligen Stätten und unter Betrachtung oder Berührung von Reliquien wurde eine besondere Wirksamkeit zugeschrieben. Hier hatte das Pilgerwesen seinen Ursprung. Die Pilgerreise oder Wallfahrt zu den heiligen Orten in der näheren Umgebung gehörte zu den üblichen religiösen Übungen des mittelalterlichen Menschen. Fernwallfahrten nach Jerusalem, Rom oder Santiago de Compostela setzten voraus, dass der Pilger über die nötigen Mittel verfügte und für längere Zeit von Zuhause abkömmlich war. Solche Reisen konnten als 30 Vgl. Rudolf, Ars moriendi. 31 Vgl. Angenendt, Heilige und Reliquien; Ohler, Pilgerleben; ders., Pilgerstab und Jakobsmuschel. 32 Von den zahlreichen Textausgaben und Übersetzungen sei genannt: Die Legenda Aurea des Jacobus de Voragine, aus dem Lateinischen übersetzt von Richard Benz. 33 Vgl. Schreiner, Maria. 34 Vgl. Kühne/Bünz/Müller (Hg.), Alltag und Frömmigkeit, 113–121 zum Rosenkranz.
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Sühneleistung oder zu einem anderen Zweck unternommen werden, etwa um am Grab eines Heiligen die Genesung von einer Krankheit zu erbitten. An Wallfahrtsorten waren Ablässe zu erhalten, in besonders reichem Maße in Rom in den seit 1300 ausgerufenen „heiligen“ Jahren. Die Ausweitung des Heiligen- und Reliquienkults und die besseren Verkehrswege machten Pilgerreisen im Spätmittelalter zu einem Massenphänomen. Ohne Kritik blieb diese Praxis aber nicht. „Qui multum peregrinantur raro sanctificantur“ (Wer viel pilgert, wird selten heilig), meinte schon Thomas von Kempen.35 Von der Pilgerreise wurden gerne Souvenirs und Devotionalien mitgebracht: Wasser aus dem Jordan, Palmzweige aus Jerusalem oder Pilgerzeichen, mit denen man zu Hause den Aufenthalt an der heiligen Stätte belegen konnte.36 Diese Gegenstände dienten der Vergegenwärtigung des Heiligen im Alltag des Zurückgekehrten, der sich zuvor an der Pilgerstätte nicht selten durch Wandritzungen verewigt hatte. Ein magischer Umgang mit derartigen heiligen Gegenständen war eine stete Gefahr. Wer über die nötigen Mittel verfügte, baute sich zu Hause sein eigenes Heiliges Grab im verkleinerten Maßstab nach. Das Heilige Grab in Görlitz bietet ein Beispiel eines solchen Transfers von Sakralarchitektur aus dem Heiligen Land.37 So erhielten auch diejenigen einen Abglanz der heiligen Stätte und einen Ort für ihre Gebete, die sich eine weite Pilgerreise nicht leisten konnten. Der spätmittelalterliche Adel reiste nach Jerusalem, um sich am Heiligen Grab zum Ritter schlagen zu lassen. Hier wirkte das aus der Kreuzfahrerzeit stammende Ideal des christlichen Rittertums bis in die Reformationszeit nach. Luthers Landesherr Friedrich der Weise ließ sich 1493 in Jerusalem den Ritterschlag erteilen und ein monumentales Gemälde über seinen Aufenthalt im Heiligen Land anfertigen.38 Reliquiensammlungen, sogenannte Heiltümer, bildeten lokale Sakralzentren und boten den Pilgerscharen ein Ziel für ihre Andacht, für Gebete und für die Erlangung von Gnaden. Mit dem Besuch des Heiltums, das regelmäßig öffentlich zur Schau gestellt wurde (Heiltumsweisungen), und dem Gebet im Angesicht der Reliquien waren Ablässe verbunden. Solche Heiltümer fanden sich in Luthers Zeit in seiner unmittelbaren Umgebung in Halle und Wittenberg.39 Beide Reliquiensammlungen gingen auf die Initiative von Fürsten, des Kardinals Albrecht von Mainz und des Kurfürsten Friedrich von Sachsen, zurück. Im berühmten, von Lucas Cranach d.Ä. illustrierten Wittenberger Heiltumsbuch von 1509 35 36 37 38
Thomas von Kempen, Nachfolge Christi I, 23, 4. Beispiele für Pilgerzeichen bei Kühne/Bünz/Müller (Hg.), Alltag und Frömmigkeit, 162–171. Vgl. Anders/Winzeler (Hg.), Lausitzer Jerusalem. Zur Jerusalemreise Friedrichs des Weisen vgl. Ludolphy, Friedrich der Weise, 351–354; Wiedergabe des Gedächtnisbildes in: Kühne/Bünz/Müller (Hg.), Alltag und Frömmigkeit, 172. 39 Vgl. Kühne, Ostensio reliquiarum; Laube, Zwischen Hybris und Hybridität.
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konnten sich die Besucher der Reliquiensammlung im Vorfeld informieren, welche Partikel sie vor Ort antreffen konnten und in welchen kunstvollen Reliquiaren sie präsentiert wurden.40 Die von den Heiligen bewirkten Wunder spielten für die Frömmigkeit eine erhebliche Rolle. Mirakelbücher informierten über die Wunder, die am Grab oder Schrein eines Heiligen geschahen, und machten Werbung, sich dem Schutz des Heiligen zu unterstellen oder die heilige Stätte zu besuchen. Mirakelbücher konnten auch der Vorbereitung einer Heiligsprechung dienen, wie im Falle des Bischofs Benno von Meißen, dessen Leben und Wunder 1517 im Druck erschienen.41 Das Totengedenken gehörte zu den Grundäußerungen spätmittelalterlicher Frömmigkeit. Die Totenmemoria wurde in den unterschiedlichsten Formen gepflegt, gehörten doch auch die Toten zur Gemeinschaft der Kirche. Nicht nur Mönche konnten für ihren Gebetsdienst bezahlt werden, sondern viel häufiger noch wurden Seelenmessen gestiftet. Dabei wurde von den Hinterbliebenen eine bestimmte Anzahl oder auch jährlich wiederkehrende Messen, die einer bestimmten verstorbenen Person zugewendet wurden, finanziert. Die zahllosen spätmittelalterlichen Altaristen, deren Aufgabe es war, an einem bestimmten Altar die Messe zu lesen, bezogen von derartigen Stiftungen ihr Einkommen. Das hoch differenzierte Bruderschaftswesen, das im 15. Jahrhundert blühte, hatte seine Wurzeln in der gemeinsamen Totenmemoria. Bruderschaften gab es in unterschiedlicher Zusammensetzung und mit unterschiedlicher Zielsetzung.42 Sie konnten nach Berufsgruppen organisiert sein oder sich um bestimmte Heilige, Altäre oder zu einem bestimmten Zweck zusammenfinden. Sie konnten aus Klerikern oder Laien bestehen. Ein Grundanliegen aller Bruderschaften war die Pflege der Frömmigkeit in einer Gemeinschaft, die über den Tod hinaus währte. Die Absicherung eines würdigen Begräbnisses der Mitglieder und das Gedenken an die Verstorbenen gehörten zu ihren Grundfunktionen.
1.3
Tentatio – Versuchung und Sünde
Die Askese, worunter im späten Mittelalter nicht nur die sexuelle Enthaltsamkeit, sondern überhaupt der Verzicht auf weltliche Genüsse zu verstehen ist, war seit neutestamentlicher Zeit ein wichtiger Aspekt christlicher Lebensführung und die Antwort auf die Versuchung und die Sünde, die das christliche Leben immer begleiten. Das Mittelalter hat das asketische Ideal hochgehalten, dieses Ideal aber überwiegend dem Mönchtum als dem Stand der professionellen Asketen zuge40 Vgl. Cárdenas, Friedrich der Weise. 41 Vgl. Kühne/Bünz/Müller (Hg.), Alltag und Frömmigkeit, 144–149. 42 Vgl. Escher-Apsner (Hg.), Bruderschaften.
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wiesen.43 Die Klosterreformen des Spätmittelalters zielten immer auch auf die Einschärfung des asketischen Ideals. Reinheit, Distanz zur Welt und Selbstüberwindung waren zu allen Zeiten Charaktermerkmale des Mönchtums. Tatsächlich spielte die Askese in der Spiritualität der Männer- und Frauenorden eine unterschiedlich wichtige Rolle. So waren im Benediktinertum die asketischen Anforderungen gemäßigter als in den Bettelorden. Unterschiedliches Gewicht hatten in den vielfältigen monastischen Traditionen auch einzelne asketische Leistungen wie das Schweigen, das Fasten, der Verzicht auf Gemeinschaft, die Selbstkasteiung, die auch durch Steigerung der Gebetsleistungen erreicht werden konnte, oder die Armut. Dabei konnte die Askese unterschiedliche Funktionen erfüllen: Sie konnte ein Mittel sein, die körperlichen Anfechtungen zu kontrollieren, sie konnte als spirituelles Werkzeug dienen oder auch zu einer frommen Leistung degenerieren. Aus dem Mönchtum wurden einige der asketischen Praktiken auch in die Lebenswelt der Laien getragen. Von erheblicher Bedeutung waren die Fastenregeln, Fastenzeiten und Fastentage, die den Menschen um 1500 als ein Gestrüpp kirchenrechtlicher Vorschriften erschienen sein mussten. Die Verletzung der Fastenregeln hatte erhebliche Konsequenzen, doch gab es auch die Möglichkeit, sich gegen eine Geldzahlung von bestimmten Vorschriften dispensieren zu lassen.44 Monastisch-asketische Ideale waren durch die gregorianische Kirchenreform im 11. und 12. Jahrhundert auch auf den Weltklerus übertragen worden. Erst jetzt setzte sich der Zwangszölibat der Priester in der westlichen Kirche durch und wurde zu einem Dauerproblem bis zum heutigen Tag.45 Dabei spielten Reinheitsvorstellungen ebenso eine Rolle wie praktische Überlegungen, war ein zölibatär lebender Priester doch flexibler einsetzbar und billiger als derjenige, der eine Familie zu versorgen hatte. Der Zölibat schützte außerdem vor der Zerstreuung des kirchlichen Vermögens. Die Widersprüchlichkeiten, die sich aus der Tatsache ergaben, dass viele Priester des Spätmittelalters den Zölibat als Verpflichtung zur Ehelosigkeit, aber nicht als Verpflichtung zur Keuschheit begriffen, beschäftigten die Kirchenreformdebatten bis zur Reformation. Moralische Fehltritte von Priestern wogen umso schwerer, als die Priesterweihe eine deutliche Trennlinie zu den Laien darstellte und nach mittelalterlichem Verständnis an einen Kleriker oder Mönch höhere moralische Anforderungen zu stellen waren als an einen Laien. Das religiöse Leben des Spätmittelalters war „hochgradig klerikalisiert“.46
43 44 45 46
Vgl. Kerscher/Krieger (Hg.), Askese im Mittelalter. Vgl. Hall/Crehan, Fasten/Fastentage. Vgl. Price, Zölibat. Leppin, Vereindeutigung, 308.
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Im Bußsakrament bot die Kirche eine Vielzahl von Möglichkeiten an, die begangenen Sünden, die aus Reue gebeichtet wurden, durch Kompensationsleistungen wiedergutzumachen.47 Die unbegrenzt wiederholbare private Buße war eines der Wesenselemente mittelalterlicher Glaubenspraxis und in ihrer Bedeutung für die Frömmigkeit der Durchschnittschristen kaum zu überschätzen. Für die Lossprechung legte der Priester eine Bußleistung fest, die vom reuigen Sünder zu erbringen war. Die Kalkulierbarkeit der Strafen brachte eine Rechenhaftigkeit in das mittelalterliche Bußwesen, die den ursprünglichen Zusammenhang von Reue, Buße und sakramentaler Lossprechung zu zerstören drohte. Bußleistungen konnten im Spätmittelalter in Geldstrafen umgewandelt oder durch andere Personen stellvertretend erbracht werden. Die Ablässe (ursprünglich: das Erlassen von Bußleistungen) nahmen seit dem 14. Jahrhundert einen enormen Aufschwung.48 Die Kommerzialisierung des Ablasswesens und seine Verquickung mit der Fegefeuerlehre und der Theorie des Kirchenschatzes der überschüssigen Werke Christi und der Heiligen, aus denen Papst und Bischöfe Gnaden austeilen konnten, führten zu den problematischen Formen der Ablassverkündigung, gegen die Luther am 31. Oktober 1517 öffentlich protestierte. Kritik am kirchlichen Missbrauch von Ablässen als Geldquelle oder als Mittel in politischen Auseinandersetzungen sowie an ihrem inflationären Gebrauch war aber auch schon vor Luther geäußert worden.49 Das Fegefeuer (purgatorium), gedacht als Reinigungsort, durch den hindurch die Seele des Menschen nach Ableistung einer seinen irdischen Verfehlungen entsprechenden Zeit den Himmel erreicht, war für die spätmittelalterliche Frömmigkeit von immenser Bedeutung.50 Seitdem auf Initiative des Kardinals Raimund Peraudi, des wichtigsten päpstlichen Ablasspredigers der vorreformatorischen Epoche, 1476 die Verbindung von Fegefeuer und Ablass kirchenamtlich festgestellt worden war, konnten Ablässe auch den Verstorbenen im Fegefeuer zugewendet werden. Das Schicksal der Toten und die Frömmigkeit der Lebenden gingen auf diese Weise eine enge Verbindung ein. Das Fegefeuer prägte die spätmittelalterlichen Jenseitsvorstellungen in starkem Maße, ohne dass andere Konzepte (Himmel, Paradies, Hölle, Jüngstes Gericht) deshalb verschwunden wären. Luther selbst hat während seines Aufenthalts in Rom nach eigenem Zeugnis fast bedauert, dass Vater und Mutter noch am Leben waren, denn sonst hätte er sie durch fromme Leistungen aus dem Fegefeuer erlösen können.51 47 48 49 50
Vgl. Benrath, Buße. Vgl. Benrath, Ablaß. Vgl. Winterhager, Ablaßkritik. Vgl. Koch, Fegefeuer; Andreas Merkt, Das Fegefeuer. Entstehung und Funktion einer Idee, Darmstadt 2005. 51 Vgl. Brecht, Luther, 107.
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1.4
49
Sacramenta – Sakramente
Die Siebenzahl der Sakramente war seit dem Hochmittelalter in der westlichen Kirche fixiert. Unter ihnen spielte die Eucharistie für die Frömmigkeit die wichtigste Rolle, wobei die Lehre von der Wesensverwandlung (Transsubstantiation), derzufolge die Substanz der Elemente Brot und Wein in Leib und Blut Christi gewandelt werden, deren äußerliche Eigenschaften (Akzidenzien) aber unverändert bleiben, in den Rang eines kirchlich approbierten Quasi-Dogmas aufrückte.52 Die Wandlung der Hostie in den Leib Christi durch den ein Opfer darbringenden Priester wurde als das Herzstück der Messe verstanden, das rituelle Zeigen (Elevation) der Hostie konnte als „Augenkommunion“ nachgerade zum Ersatz der tatsächlichen physischen Kommunion der Gemeinde werden. Die um die geweihte Hostie kreisende spätmittelalterliche Frömmigkeit fand an zahlreichen Berichten von Bluthostienwundern immer neue Nahrung. Im brandenburgischen Wilsnack entstand eine bedeutende überregionale Wallfahrtsstätte, nachdem in der dortigen Nikolaikirche im ausgehenden 14. Jahrhundert angeblich blutende Hostien gefunden worden waren.53 Vom Papsttum wurde diese Form der Frömmigkeit gezielt gefördert. Seit 1264 wurde das Fronleichnamsfest als Fest des Leibes und Blutes Christi überall in Europa gefeiert. Prozessionen waren an vielen Orten fester Bestandteil der Festlichkeiten. Die Gemeinde folgte in der Prozession dem in der Monstranz für alle sichtbar vorangetragenen Allerheiligsten. Volksfrömmigkeit und Volksfest vermischten sich an dieser Stelle in einer für das Spätmittelalter typischen Weise. Die sakramentale Begleitung des Lebenswegs begann mit der Taufe, die als Voraussetzung des Heils und der Erlösung verstanden wurde. Für den häufig eintretenden Fall eines ungetauft gestorbenen Säuglings entwickelte die Kirche die Vorstellung des Limbus, der Vorhölle, die diejenigen aufnahm, die ohne eigenes Verschulden nicht in den Himmel kommen konnten. Vor diesem Hintergrund gewann die Nottaufe des Säuglings, die bei Lebensgefahr von der Hebamme vorgenommen wurde, erhebliches Gewicht. Die Nottaufe spielte, allerdings ohne Rekurs auf die begleitenden Jenseitsspekulationen, in den Kirchenordnungen der Wittenberger Reformation weiterhin eine wichtige Rolle, während sie in der reformierten Tradition abgelehnt wurde. Wie der Lebensanfang sakramental abgesichert sein musste, stand auch am Lebensende ein vom Priester gespendeter sakramentaler Akt, die Letzte Ölung (extrema unctio). Tief in das private Leben griff insbesondere das kirchliche Ehesakrament ein. Die prinzipielle Unauflöslichkeit der Ehe schuf zu allen Zeiten Probleme und beschäftigte schon vor der Reformation intensiv die kirchlichen 52 Vgl. Jorissen, Transsubstantiation. 53 Vgl. Escher/Kühne (Hg.), Wilsnackfahrt.
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Gerichte.54 Kirche begegnete den Menschen um 1500 also keineswegs nur als heilsvermittelnde, sondern immer auch als rechtsprechende Instanz, die über die intimsten Lebensverhältnisse wachte. Nicht weniger tief als das Problem der Ehescheidung griffen die kirchenrechtlichen Ehehindernisse in das Privatleben ein, unter denen die verbotenen Verwandtschaftsgrade in einer überwiegend dörflich-agrarisch geprägten Gesellschaft eine erhebliche Hürde bei der Partnersuche darstellen konnten.55 Die vom Priester gespendeten kirchlichen Sakramente waren vorreformatorisch also mehr als nur heilsvermittelnde Akte, sie waren zugleich lebensstrukturierende und lebenskontrollierende Eingriffe an den Wendepunkten des Lebens.
1.5
Caritas – Nächstenliebe und gute Werke
Spätmittelalterliche Frömmigkeit beruhte auf der Annahme eines Tun-ErgehensZusammenhangs, auf einer Haltung des „Do-ut-des“ oder auf dem Prinzip der Gabe und Gegengabe.56 Die Nächstenliebe wurde primär als Forderung an den Einzelnen verstanden, den notleidenden Christen in der eigenen Gemeinde oder in der näheren Umgebung beizustehen. Bettelei war in spätmittelalterlichen Städten eine Normalität, die Bettlerexistenz mancherorts eine zünftisch organisierte Profession.57 Bettler, unter denen sich auch Behinderte oder Kriegsinvaliden fanden, belagerten die Kirchentüren und Stadttore. An diese Menschen Almosen zu verteilen, gehörte zu den alltäglichen frommen Verrichtungen der Christen. Dem Bettelwesen begegnete man aber auch in Gestalt der Bettelmönche bzw. im Spätmittelalter häufiger noch der Terminarier, für die das Betteln nicht nur eine Einnahmequelle, sondern auch eine fromme Übung darstellte, oder in den Kurrendeschülern, zu denen bekanntlich auch Martin Luther gehörte. Die religiös motivierte Armut, damit auch das Betteln, war gesellschaftlich anerkannt. Wer mehr tun wollte als individuelle Almosen an Bettler zu verteilen, konnte eine Stiftung für soziale Zwecke einrichten. Noch lag das rudimentär ausgebildete Sozialwesen überwiegend in kirchlicher Hand. Die Klöster übernahmen die Aufgabe der Fürsorge für Pilger und Arme. Die Hospitäler fungierten als soziale Einrichtungen für Kranke und Alte.58 In den Bruderschaften wurden neben religiösen oft auch karitative Zwecke verfolgt. Elendenbruderschaften widmeten sich explizit der Armenfürsorge. 54 55 56 57 58
Vgl. Brink, Ehe/Eherecht/Ehescheidung. Vgl. Mikat, Ehe; Merzbacher, Ehe. Vgl. Angenendt, Religiosität im Mittelalter, 373–378. Zum Bettlerwesen im Mittelalter vgl. Ammerer, Bettler. Vgl. Matheus, Hospitäler; Bulst/Spieß, Hospitäler; Dirmeier, (Hg.), Organisierte Barmherzigkeit.
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Gute Werke zu tun, galt als verdienstlich nicht im gesellschaftlichen Sinne, sondern vor Gott. Unter einem „Seelgerät“ wurden im weitesten Sinne alle frommen Handlungen verstanden, mit denen man sich im Himmel einen Schatz sammeln konnte. Diese Handlungen konnten unterschiedlichster Art sein: eine fromme Stiftung, eine testamentarische Verfügung zugunsten einer kirchlichen Einrichtung, fromme Leistungen. Erwartet wurde eine den eigenen Verdiensten entsprechende Belohnung im Jenseits. Die Bereitschaft der spätmittelalterlichen Menschen, durch gute Werke zugleich die Nächstenliebe zu befördern und dem eigenen Seelenheil zu nützen, war stark ausgeprägt. Dies ging nahezu zwangsläufig mit der Vorstellung einher, dass das eigene Ergehen im Jenseits durch fromme Taten hier und jetzt zu beeinflussen sei. Kritik an dieser Vorstellung wurde schon von Meister Eckhart geübt. Er schimpfte auf die „Kaufleute“, die nur etwas tun, damit sie von Gott etwas dafür bekommen.59
2.
Von der spätmittelalterlichen zur reformatorischen Spiritualität
Frömmigkeit und Spiritualität der Jahre um 1500, so kann festgehalten werden, lassen sich nicht leicht auf einen Nenner bringen. Licht und Schatten lagen eng beieinander. Johan Huizingas klassische Darstellung des „Herbsts des Mittelalters“60 konstatierte einerseits eine ganz mit Religion durchtränkte Gesellschaft, in der der Glaube etwas Selbstverständliches und die Fähigkeit zu religiöser Inbrunst ausgeprägt waren, in der auf der anderen Seite aber auch eine Überwucherung der Religion mit Äußerlichkeiten und eine Neigung zur Vulgarisation des Heiligen, zu Übertreibung, Naivität und Ehrfurchtslosigkeit im Umgang mit Religion und Kirche festzustellen sind. Andere Studien betonten weniger den „herbstlichen“, den absterbenden Charakter spätmittelalterlicher Frömmigkeit,61 als vielmehr die in ihr angelegten Potenziale wie die nahezu geschlossene Kirchlichkeit, die gesteigerte Heilssehnsucht und Heilsangst sowie die Tendenz zur Verinnerlichung. Ob man nun die Licht- oder die Schattenseiten stärker akzentuiert, in einem wichtigen Punkt dürfte heute in der Forschung ein überwiegender Konsens bestehen: Die Reformation war nicht in erster Linie eine Reaktion auf die Defizite spätmittelalterlicher Frömmigkeit, Theologie und Kirche, sondern vor allem die für viele Menschen überzeugende Antwort auf ihre persönliche Heilssehnsucht. 59 Eckharts Kritik ist zitiert bei Angenendt, Religiosität im MIttelalter, 377f. 60 Huizinga, Herbst des Mittelalters, bes. 246–284. 61 Zur Auseinandersetzung mit Huizingas Spätmittelalterbild vgl. den Sammelband Aertsen/ Pickavé (Hg.), „Herbst des Mittelalters“?.
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Deswegen lassen sich reformatorische Spiritualität und Frömmigkeit auch nicht im Rahmen eines Ursache-Wirkungs-Zusammenhangs mit der vorreformatorischen Zeit verknüpfen, so sehr die Reformation das mittelalterliche Erbe auch im Hinblick auf die Frömmigkeit zugleich in sich trug und überwand. Eine homogene reformatorische Spiritualität gab es ebenso wenig wie es sie im Spätmittelalter gegeben hatte.62 Zurückzuweisen ist die Vorstellung, die reformatorische Theologie habe zu einer Aufhebung aller Spiritualität und Frömmigkeit geführt. Kontinuitäten und Abbrüche standen vielmehr nebeneinander. Die Entwicklung lässt sich als ein Prozess der Konzentration, Reduktion, Transformation und Innovation von einer neuen theologischen Mitte her beschreiben. Dabei ist hier nicht der Ort, die hinter den reformationszeitlichen Entwicklungen stehenden theologischen Begründungszusammenhänge im Einzelnen aufzudecken. Denn dies würde von der Spiritualitäts- und Frömmigkeitsthematik weg und hin zu einer Theologiegeschichte der Reformationszeit führen.
2.1
Konzentration
Die Wittenberger Reformation hatte ihr theologisches Zentrum in der Lehre von der Rechtfertigung des Sünders allein aus Gnade durch den Glauben. Die Exklusivpartikel sola fide, sola scriptura, sola gratia und solus Christus sind Abbreviaturen dieser Konzentration der christlichen Botschaft auf ihre rechtfertigungstheologische Mitte. Von dieser Mitte aus wurde die spätmittelalterliche Glaubenspraxis neu beurteilt. Dabei rückten der einzelne Mensch und sein Heil in den Mittelpunkt. Dieser Prozess, den Berndt Hamm als „normative Zentrierung“63 und Volker Leppin als „Vereindeutigung“64 gegenüber dem vorreformatorischen Zustand beschrieben haben, wird hier mit dem Begriff der „Konzentration“ belegt.65 Für die ausgesprochen bunte Welt der spätmittelalterlichen Glaubenspraxis bedeutete diese rechtfertigungstheologische Konzentration, dass Verhaltensweisen und Einstellungen, die für die Frömmigkeit des Spätmittelalters wichtig gewesen waren, beseitigt oder mit einem neuen Sinn versehen, also in
62 Literatur zur Spiritualität der Reformationszeit ist rar. Peters, Spiritualität der lutherischen Reformation, ist einer der wenigen, der sich des Themas annimmt, allerdings fast in fast ausschließlicher Konzentration auf Luther und unter Anwendung eines ausschließlich theologisch-abstrakten Spiritualitätsbegriffs, der sich mit dem hier verwendeten, auf die Glaubenspraxis abhebenden Spiritualitätsbegriff nicht deckt. 63 Hamm, Reformation. 64 Leppin, Vereindeutigung. 65 So auch Zimmerling, Evangelische Spiritualität, 15–47.
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transformierter Form fortgesetzt wurden. An die Stelle von nicht mehr tragbaren Glaubenspraktiken traten zudem andere, evangelische Formen der Frömmigkeit. Die Bibel als alleiniger Maßstab für das christliche Reden und Handeln (sola scriptura) schloss andere Offenbarungsquellen grundsätzlich aus. Doch dieser in den Wittenberger und Schweizer Hauptströmungen der Reformation gültige Satz wurde nicht von allen reformatorischen Theologen des 16. Jahrhunderts geteilt. So bestand Thomas Müntzer auf der Erfahrung einer direkten Offenbarung Gottes durch seinen Geist im Inneren des Menschen, eine Erfahrung, die den Sinn der Heiligen Schrift erst aufschließt.66 In den Kreisen der sogenannten radikalen Reformation (Täufer, Schwenckfelder, Spiritualisten) entwickelte sich eine durchaus eigenständige, von den Wittenberger und Schweizer Richtungen unabhängige, den Heiligen Geist stärker akzentuierende Frömmigkeit und Spiritualität. Aber auch zwischen den reformatorischen Zentren Wittenberg, Zürich und Genf gab es erhebliche Unterschiede hinsichtlich der Konsequenzen, die man aus der rechtfertigungstheologischen Konzentration des christlichen Lebens zog. Die Rechtfertigung des Sünders allein durch den Glauben aus Gnade (sola fide, sola gratia) schloss eine Mitwirkungsmöglichkeit des Menschen zum Heil aus. Die Konsequenzen für die reformatorische Glaubenspraxis waren enorm, verloren damit doch alle menschlichen Bemühungen, sich ein Guthaben im Himmel zu sammeln, an Berechtigung. Der Kampf der Reformatoren gegen die Verdienstlichkeit der guten Werke und gegen die Möglichkeit der Selbstheiligung des Menschen durch frommes Tun oder Lassen hatte hier seinen Ursprung. Der Glaube wurde stattdessen zum Dreh- und Angelpunkt reformatorischer Frömmigkeit. Zweifellos brachte diese Konzentration eine erhebliche Reduktion der Möglichkeiten frommer Handlungen mit sich. Der von altgläubiger Seite erhobene Vorwurf, die Ablehnung der Verdienstlichkeit der guten Werke zerstöre jede Form der tätigen Nächstenliebe, war dennoch unberechtigt. In seiner großen Schrift „Von den guten Werken“ begründete Luther bereits 1520 eine neue evangelische Ethik des sozialen Engagements, indem er die guten Werke als Früchte des Glaubens definierte.67 Die Zentrierung des Glaubens auf die in Jesus Christus sichtbare Zuwendung Gottes zum Menschen und die ausschließliche Heilsmittlerschaft Christi (solus Christus) waren frömmigkeitsgeschichtlich ebenfalls höchst bedeutsam. Reformatorische Frömmigkeit beruhte auf der unmittelbaren Gottesbeziehung des Menschen. Damit knüpfte sie an die die Christusnachfolge und Innerlichkeit betonenden Strömungen des Spätmittelalters an. Instanzen, die wie die Heiligen 66 Zu Thomas Müntzer vgl. die neuesten Biografien von Goertz, Thomas Müntzer; Bräuer/ Vogler, Thomas Müntzer. 67 Vgl. dazu Härle, Allein aus Glauben!.
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oder Maria zwischen den Menschen und Gott traten, aber auch die Vorstellung eines priesterlichen Mittleramtes hatten reformatorisch keinen Platz mehr.
2.2
Reduktion
Die mit der Reformation verbundene rechtfertigungstheologische Konzentration bedeutete zunächst, dass das große Spektrum spätmittelalterlicher Frömmigkeitspraxis deutlich reduziert wurde. Luthers Reformation begann mit seiner Kritik am Ablass und der hinter dem Ablass stehenden Theologie und Glaubenspraxis. Ebenso dramatische Auswirkungen auf die Frömmigkeit hatte die reformatorische Ablehnung von Mönchtum, Klöstern und Priesterzölibat. Im Reich wie in Europa ging die Reformation durchweg mit der Auflösung der Ordensgemeinschaften einher.68 Die Begründung lieferte Luther im Herbst 1521 in der Schrift „De votis monasticis“.69 Die monastischen Gelübde fielen für Luther unter das Verdikt der Werkgerechtigkeit und waren deshalb Sünde, ja unfromme Gotteslästerei. Allerdings ließ er die Möglichkeit offen, dass es auch einen rechten Gebrauch der Gelübde im Glauben geben könne. Eine höhere Heiligkeit des Lebens hinter Klostermauern und in Bindung an ein Ordensgelübde hat Luther nicht anerkannt. Faktisch hat die Reformation damit die Möglichkeiten für Männer und Frauen, ein religiöses Gemeinschaftsleben zu führen, nahezu eliminiert. Das meditative oder kontemplative Element christlicher Frömmigkeitspraxis wurde stattdessen durch Bibellektüre, Morgengebet, Tischgebet und Abendgebet in den Alltag integriert. Eine christliche Lebensführung wurde zur Aufgabe jedes Menschen, für Geistliche und Laien galten künftig die gleichen moralischen Anforderungen. Eine deutliche Reduktion erfolgte auch hinsichtlich der spätmittelalterlichen Sakramentsfrömmigkeit. Luther begrenzte die Sakramente auf Taufe und Abendmahl, das künftig in der biblischen Form unter beiderlei Gestalt auch an die Gemeinde ausgeteilt wurde. Das Bußsakrament, an dem Luther noch eine Zeit lang festgehalten hatte, verlor seine sakramentale Qualität in Luthers ausgeformter Theologie und damit auch in den Kirchen der Reformation. Häufiger Abendmahlsempfang und regelmäßige Beichte blieben in der lutherischen Tradition aber eine gängige Praxis, während im reformierten Bereich der Bruch mit den spätmittelalterlichen Verhältnissen deutlicher vollzogen wurde. Ähnliches gilt für den Umgang mit dem Bilderschmuck in den Kirchen. Während im 68 Zu den Klosterauflösungen in der Reformationszeit vgl. zuletzt Wolgast, Schicksal der Klöster. 69 Aus der umfangreichen neueren Literatur vgl. Bultmann/Leppin/Lindner (Hg.), Luther und das monastische Erbe; Lexutt/Mantey/Ortmann (Hg.), Reformation und Mönchtum.
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Bereich der Wittenberger Reformation die spätmittelalterliche Kunst in der Regel mit Respekt behandelt und nur das entfernt wurde, was theologisch anstößig war,70 kam es im reformierten Bereich zu einer konsequenten Purifizierung der Kirchenräume und zum radikalen Bruch mit der spätmittelalterlichen Schaufrömmigkeit. Gegen das Wallfahren nach Rom sprach sich Luther 1520 in der Adelsschrift aus. Dabei monierte er, dass die Menschen das Wallfahren für ein gutes Werk hielten. Doch dies sei ein falscher Wahn und ein Missverständnis der göttlichen Gebote. Um den falschen Glauben der einfältigen Christen auszurotten, empfahl er, das Wallfahren generell zu unterlassen. Immerhin sah er aber die Möglichkeit vor, dass jemand aus Neugier, um Land und Städte zu beschauen, auf eine Pilgerreise gehen wollte. In diesem Fall sollte er dies mit Erlaubnis seines Pfarrers und seines Oberherrn tun dürfen.71 Wilde Kapellen und Feldkirchen, zu denen sich neue Wallfahrten entwickelten, sollten „zu Boden zerstört“ werden.72 Auch andere Frömmigkeitspraktiken des Spätmittelalters unterzog Luther in der Adelsschrift einer strengen Kritik: Gelübde,73 Jahrtage, Begängnisse und Seelenmessen sollten abgestellt,74 die überbordenden Heiligenfesttage und Kirchweihen abgeschafft,75 das Fasten einem jeden freigestellt werden.76 Gegenüber Wundern und Heiligenerhebungen äußerte er sich ablehnend,77 ebenso gegen die Bruderschaften.78 Diesen Ausdrucksformen mittelalterlicher Frömmigkeit fehlte nach Luthers Überzeugung die biblische Legitimation, sie lenkten außerdem von dem ab, was Gott wirklich vom Menschen erwartete: Glauben und Nächstenliebe.
2.3
Transformation
So überwältigend auf den ersten Blick der Traditionsabbruch erscheint, der im Hinblick auf die Frömmigkeitspraxis mit der Reformation eintrat, blieb das mittelalterliche Erbe doch in anderer Hinsicht lebendig, wenngleich in einer durch die reformatorische Theologie transformierten Form. Religiöse Vorschriften wurden jetzt an der christlichen Freiheit gemessen.79 Sich selbst in freier 70 71 72 73 74 75 76 77 78 79
Vgl. Fritz (Hg.), Kraft des Luthertums. Vgl. Luther, An den Christlichen Adel, 58–60. Vgl. a. a. O., 77. Vgl. a. a. O., 61–64. Vgl. a. a. O., 72f. Vgl. a. a. O., 74f. Vgl. a. a. O., 76f. Vgl. a. a. O., 77–81. Vgl. a. a. O., 85f. Am ausführlichsten dargestellt in Luthers Freiheitsschrift von 1520; vgl. dazu Rieger, Von der Freiheit eines Christenmenschen.
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Knechtschaft religiöse Verpflichtungen aufzuerlegen, blieb nach wie vor möglich, sofern damit nicht die Selbstheiligung in das Gott-Mensch-Verhältnis erneuten Einzug hielt. Die reformatorische Transformation spätmittelalterlicher Frömmigkeitspraxis bestand zu einem guten Teil in der Verstärkung von Elementen, die in der Tradition vorlagen, nun aber einen neuen Stellenwert erhielten. Beispiele liefern das Predigthören und die Bibellektüre. Luther erkannte der Predigt eine heilsmittlerische Funktion zu. Reformatorisches Gedankengut verbreitete sich durch Druckschriften, aber auch durch die Predigt. Das Predigthören gewann eine Bedeutung für die Gemeindefrömmigkeit, die es im Spätmittelalter nicht gehabt hatte. Die Predigt hatte die Aufgabe, das Evangelium direkt zu den Menschen zu bringen, sie war selbst gesprochenes und gehörtes Evangelium und sollte zum Glauben reizen.80 Auch die Predigtinhalte änderten sich. Gesetz und Evangelium standen im Mittelpunkt. Nicht mehr das Schauen, sondern das Hören war der wichtigste Sinn, der dem Menschen den Zugang zu Gott eröffnete. Waren deutschsprachige Bibeln im Spätmittelalter zwar vorhanden, aber kaum verbreitet gewesen, änderte sich dies mit Luthers Übersetzung des Neuen Testaments 1521, mit der Zürcher Bibel (1524–1529) und mit der ersten Vollbibel in Luthers Übersetzung von 1534. Bibellektüre und Auswendiglernen von Bibelversen gehörten seither elementar zur evangelischen Frömmigkeitspraxis, auch wenn man nicht davon ausgehen kann, dass schon im 16. Jahrhundert jeder Haushalt über eine eigene Bibel verfügte. Dies erreichte erst der Pietismus im späteren 17. und im 18. Jahrhundert. Transformationen gab es auch auf anderen Feldern, die schon für die vorreformatorische Frömmigkeit wichtig gewesen waren. Durch die Lehre vom Allgemeinen Priestertum der Getauften, die Luther in der Adelsschrift entfaltete,81 wurde die Kluft zwischen geweihtem Kleriker und ungeweihtem Laien beseitigt und jedem Christen die gleiche geistliche Dignität zuerkannt. Die Neudefinition der Ehe nicht mehr als Sakrament, sondern als weltliches Ding,82 sowie der Wegfall des priesterlichen Zwangszölibats veränderten die Einstellung zu Fragen von Sexualität und Askese. Eine Transformation fand auch auf dem Feld der Sozialfürsorge statt. Schon in der Adelsschrift erhob Luther die Forderung, den Bettel abzuschaffen.83 Die individuelle Wohltätigkeit, die auf der Verdienstlichkeit der Werke beruhte, wurde in den Gemeinen Kasten überführt, der das christliche Sozialwesen auf eine neue Grundlage stellte.84 80 Zur Predigt bei Luther vgl. kompakt: Beutel, Predigt. 81 Vgl. Luther, An den christlichen Adel, 10–16. 82 Zur Theologie der Ehe bei Luther vgl. Beyer, Luthers Ehelehre bis 1525, in Treu (Hg.), Katharina von Bora, 59–82; Junghans, Die evangelische Ehe, in: Ebd., 83–92. 83 Vgl. Luther, An den christlichen Adel, 82f. 84 Vgl. Peters, Beutel- und Kastenordnungen.
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2.4
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Innovation
Schließlich brachte die Reformation auch eine Reihe von frömmigkeitsgeschichtlichen Innovationen. Seit dem Erscheinen der ersten evangelischen Gesangbücher in den 1520er Jahren wurde das Gesangbuch zu einem Medium evangelischer Frömmigkeit. Der Gemeindegesang, überhaupt das Singen evangelischer Kirchenlieder, wurde zu einem Kennzeichen des reformatorischen Glaubens. Man hat in diesem Zusammenhang von einer „Gesangbuchfrömmigkeit“ gesprochen.85 Zu den Innovationen der Reformationszeit kann auch die auf den Katechismus ausgerichtete Frömmigkeit gerechnet werden. Die Katechismusfrömmigkeit, wie man in Analogie zur Gesangbuchfrömmigkeit formulieren könnte, erhielt durch Luthers Großen und Kleinen Katechismus 1529 die entscheidenden Impulse, reichte im 16. Jahrhundert aber weit über den Bereich der Wittenberger Reformation hinaus. Der Katechismus war ein Lebensbegleiter, der wieder und wieder gelesen, auswendig gelernt und abgeprüft wurde. Zu einem Element der Frömmigkeit stiegen in der Reformationszeit schließlich auch die Bekenntnistexte auf. In einer dem Mittelalter unbekannten Weise dienten sie wenigstens den Theologen als Mittel der Integration und Abgrenzung.86
3.
Fazit
Mit der Reformation fand eine große Reduktion im Frömmigkeitsleben der Menschen statt. Die spätmittelalterliche Vielfalt frommer Handlungen, die hier nicht annähernd in allen ihren Verästelungen vorgestellt werden konnte, wurde auf eine theologische Mitte hin konzentriert. Je nach konfessionellem Standpunkt wird man diese Entwicklung als theologisch sinnvolle Bereinigung oder als Verarmung betrachten können. Die vorstehende Untersuchung der großen Entwicklungslinien hat aber auch gezeigt, dass nicht nur Abbrüche, sondern auch Kontinuitätslinien aus dem Spätmittelalter in die Reformationszeit führten. Der Umbruch, den die Reformation für Frömmigkeit und Spiritualität bedeutete, war den Zeitgenossen durchaus bewusst. Der Wandel schlug sich in der Lebensgeschichte vieler Menschen unmittelbar nieder. Kaspar Güttel, ein ehemaliger Augustinermönch und späterer evangelischer Prediger in Eisleben, rechnete 1535 in seinem Lebensbericht mit der eigenen spirituellen Vergangenheit schonungslos ab: Er habe früher nur von den guten Werken und von der
85 Vgl. Michel, Gesangbuchfrömmigkeit. 86 Vgl. Dingel, Integration und Abgrenzung.
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Gerechtigkeit, die aus dem Gesetz kommt, etwas gewusst, aber nichts von der Gerechtigkeit, die aus dem Glauben kommt. Und weiter: „Also, dieweil ich anders nicht gewust, denn mit meinen guten wercken […] müstet vor Got frum, gerecht und selig werden. Derhalben ich der letzte nicht sein wolt, mit viel rosenkrentzen, plappern, mit wasser unnd brod zu fasten, mit viel unnützer mühe und arbeit, als walfarten zu etlichen abgöttischen feldteuffeln, auch wüllen unnd barfuss gelauffen, nachmals zwier in das Beyerisch gebirg zu S. Wolffgang, dreymal gegen Baiern Oeching, ein mal gegen Ache, und im jubeljar M. D. gegen Rom etc. Aber gewislich anders nicht ausgericht, dann wie das gemein und warhafftig sprichwort laut Zwippel hinein gefürt, und nicht mit kleiner unkost, mit verlust der edlen zeit, gehabter mühe, fahre und arbeit knoblauch wider heraus gebracht“.87
Führte im Falle Güttels die Reformation zu einer Distanzierung von der eigenen religiösen Praxis, liefert Herzog Georg von Sachsen ein Beispiel eines Fürsten, der sich durch die reformatorische Neubewertung spätmittelalterlicher Frömmigkeitsformen abgestoßen fühlte. 1527 stellte der Herzog fest, Luther wolle alles zerstören: Die Kirche, den Glauben, die lieben Heiligen, die alten Kirchenlehrer, Heiligenbilder, Kruzifixe, die guten Werke wie jungfräuliche Keuschheit, Fasten, Beten, Feiern, Kirchgehen, Prozessionen, Kreuzgänge, Litanei, Vesper, Messe, die Stundengebete, Vigilien, Seelenmessen, Begängnisse, den dreißigsten Tag, den Jahrestag und alles, was zugunsten der lieben verstorbenen Seelen von der Kirche bereitgehalten wird. Darüber hinaus tasten Luther und seine Anhänger nach Georgs Meinung die Sakramente selbst an: Firmung, heilige Ölung, Priesterweihe und Beichte wollen sie für gar keine Sakramente halten. Die anderen Sakramente wie die Taufe und die Ehe verkehren und verändern sie gegen den Brauch der Kirche. Die Messe halten sie für einen Greuel. Besonders erbost ist der Herzog über die Abendmahlskontroversen der Neuerer. Sie haben keine Ehrfurcht vor dem Sakrament, dem man den Rücken zukehrt, vor dem man sich nicht verneigt, das man in die Hände nimmt, das man isst und trinkt, als sei es irgendeine Speise oder Trank, ja, das man sogar in der Hosentasche mit sich herumträgt.88 Der Wandel von Frömmigkeit und Spiritualität vom Spätmittelalter zur Reformation, für den die zitierten Stimmen nur zwei Beispiele liefern, bleibt ein Desiderat der reformationsgeschichtlichen Forschung.
87 Bünz, Kaspar Güttels Lebensbericht, 269f. 88 Vgl. Geß (Hg.), Akten und Briefe, 775–780 (Nr. 1467). Vgl. dazu Kohnle, Frömmigkeit der Wettiner; ders., Wandel fürstlicher Frömmigkeitspraxis.
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Literatur Quellen Die Legenda Aurea des Jacobus de Voragine, aus dem Lateinischen übersetzt von Richard Benz, Gütersloh 142004. Geß, Felician (Hg.), Akten und Briefe zur Kirchenpolitik Herzog Georgs von Sachsen, Bd. 2: 1525–1527, Leipzig/Berlin 1917. Luther, Martin, An den Christlichen Adel teutscher Nation. Studienausgabe, hg. von Armin Kohnle, Stuttgart 2015. Thomas von Kempen, Nachfolge Christi, Leipzig 161978.
Forschungsliteratur Aertsen, Jan A./Pickavé, Martin (Hg.), „Herbst des Mittelalters“? Fragen zur Bewertung des 14. und 15. Jahrhunderts, Berlin/New York 2004. Ammerer, Gerhard, Art. Bettler, in: Enzyklopädie der Neuzeit, Bd. 2, Stuttgart 2005, 91–93. Anders, Ines/Winzeler, Marius (Hg.), Lausitzer Jerusalem. 500 Jahre Heiliges Grab zu Görlitz, Görlitz/Zittau 2005. Angenendt, Arnold, Geschichte der Religiosität im Mittelalter, Darmstadt 42009. –, Grundformen der Frömmigkeit im Mittelalter (Enzyklopädie deutscher Geschichte 68), München 22004. –, Heilige und Reliquien. Die Geschichte ihres Kultes vom frühen Christentum bis zur Gegenwart, München 1994. Benrath, Gustav Adolf, Art. Ablaß, in: TRE Bd. 1, Berlin/New York 1977, 347–364. –, Art. Buße V. Historisch, in: TRE Bd. 7, Berlin/New York 1981, 452–473. Beutel, Albrecht, Predigt, in: Das Luther-Lexikon, hg. von Volker Leppin/Gury SchneiderLudorff, Regensburg 2014, 558–560. Beyer, Michael, Luthers Ehelehre bis 1525, in: Martin Treu (Hg.), Katharina von Bora. Die Lutherin. Aufsätze anläßlich ihres 500. Geburtstages, Wittenberg 1999, 59–82. Bräuer, Siegfried/Vogler, Günter, Thomas Müntzer. Neu Ordnung machen in der Welt. Eine Biographie, Gütersloh 2016 [im Druck]. Brecht, Martin, Martin Luther, Bd. 1: Sein Weg zur Reformation 1483–1521, Stuttgart 31990. Brink, Leendert, Art. Ehe/Eherecht/Ehescheidung VI. Mittelalter, in: TRE Bd. 9, Berlin/New York 1982, 330–336. Bulst, Neithard/Spieß, Karl-Heinz, Sozialgeschichte mittelalterlicher Hospitäler, Ostfildern 2007. Bultmann, Christoph/Leppin, Volker/Lindner, Andreas (Hg.), Luther und das monastische Erbe, Tübingen 2007. Bünz, Enno, Kaspar Güttels Lebensbericht. Mit einem Editionsanhang, in: Armin Kohnle/ Siegfried Bräuer (Hg.), Von Grafen und Predigern. Zur Reformationsgeschichte des Mansfelder Landes, Leipzig 2014, 245–291. Bünz, Enno/Fouquet, Gerhard (Hg.), Die Pfarrei im späten Mittelalter, Ostfildern 2013.
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Armin Kohnle
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Markus Wriedt
Johann von Staupitz (ca. 1465–1524) Ein Beispiel der Spiritualität spätmittelalterlicher Frömmigkeitstheologie
1.
Biografie
Die Bedeutung des sächsischen Augustinereremiten Johann von Staupitz wurde der Nachwelt zumeist im Urteil seines Ordensbruders Martin Luther vermittelt. „Ich habe alle mein Dinge von Doktor Staupitz.“1 In der historiografischen Rekonstruktion wurde dies häufig im Blick auf die theologische Positionierung des späteren Reformators hin beschrieben und so eine intensive Suche nach den material-theologischen Elementen dessen betrieben, was Luther zum „Vater der reformatorischen Theologie“ in Wittenberg hat werden lassen. Im Laufe der vergangenen 150 Jahre ist allerdings deutlich geworden, dass es weniger eine Adaption zumeist retrospektiv charakterisierter theologischer Schulmeinungen war, die Staupitz auszeichnete, als vielmehr eine Melange von persönlich integrer Lebensform, beeindruckender menschlicher Nähe, seelsorgerlicher Zuwendung und schlussendlich einer im Orden gepflegten Tradition spätmittelalterlicher Spiritualität, für deren reflektierte Form der Begriff der „Frömmigkeitstheologie“ geprägt wurde.2 Um das theologische Profil und das dieses prägende spirituelle Erscheinungsbild des Johann von Staupitz zu erfassen, sind die üblichen Referenzierungen seines hinterlassenen Werkes zwischen Spätscholastik und Reformation, theologischer Innovation und konservativem Beharren sowie die Ableitungen des Gesamtbildes seiner Theologie aus unterschiedlichen theologischen und frömmigkeitlichen Strömungen der vielgestaltigen spätmittelalterlichen Theologie wenig hilfreich. Im Interesse einer historisch angemessenen Rekonstruktion der Bedeutung des sächsischen Vertreters deutschsprachiger Frömmig1 WA TR 1, 88,6f (Nr. 173). 2 Vgl. Hamm, Was ist Frömmigkeitstheologie?; siehe auch die neueren im Literaturverzeichnis angegebenen Studien.
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keitstheologie ist zwar durchaus von den gut dokumentierten Wirkungen auf den ihm anvertrauten jungen Martin Luther auszugehen, aber nicht das spätere Bild der sog. „Vollgestalt reformatorischer Theologie“ als Referenzrahmen zur Beurteilung seiner Theologie heranzuziehen. Im Folgenden soll vielmehr eine knappe Skizze jener oben erwähnten Melange spätmittelalterlicher Traditionen westlich-lateinischer Spiritualität gegeben werden, die sich aus der letztlich unbrauchbaren Fokussierung auf ein „vor-reformatorisches Profil“ zu lösen versucht. Die hilfreiche Zuwendung von Staupitz war nicht auf Luther beschränkt. Vielmehr ist die außergewöhnliche Hochachtung, die seine Zeitgenossen dem Generalvikar der observanten Augustinereremitenkongregation entgegenbrachten, zum größten Teil in seiner menschlichen Integrität und seinem spirituell-seelsorgerlichen Wirken begründet. Freilich entzieht sich dieses weitgehend der historischen Rekonstruktion, weil die Gespräche in der Regel nicht festgehalten wurden und die weitverstreute Korrespondenz auch nur einen geringen Teil der für die Gesprächs- und Korrespondenzpartner wichtigen und hilfreichen Momente wiedergibt. So sind es in der Hauptsache Predigten, die ein freilich eingeschränktes Bild von der Weite und Tragfähigkeit des theologisch-spirituellen Ansatzes von Staupitz gewinnen lassen. Allerdings handelt es sich auch hierbei um – teilweise von Staupitz redigierte – häufig von dritter Hand bearbeitete Predigtnachschriften, die weder den mündlichen Vortrag noch die theologisch-positionellen Aussagen des Predigers in aller wünschenswerten Eindeutigkeit widerspiegeln.
1.1
Lebensweg ins Generalvikariat
Verwertbare Daten für die Biografie des wirkmächtigen Ordensmannes, vor allem in den entscheidenden Jahren der theologischen Ausbildung und Prägung, liegen weitgehend im Dunkeln. Johann von Staupitz wurde um 1465 in Motterwitz bei Grimma geboren. Die Familie war hier schon länger ansässig und stand in guten Beziehungen zum sächsischen Herrscherhaus. 1483 immatrikulierte er sich an der Universität Köln. 1484 wechselte er für ein Jahr nach Leipzig und schloss seine Studien 1489 ab. Um 1490 trat Staupitz in das Augustinereremitenkloster in München ein; allerdings gibt es über seine Beweggründe und den erneuten Ortswechsel keine Hinweise. 1497 sandten ihn seine Ordensoberen nach Tübingen, wo er die Heilige Schrift auszulegen hatte. Die Vorlesungen sind nicht erhalten; dafür jedoch 34 schriftlich ausgearbeitete Predigt-Entwürfe über das Hiobbuch (Hiob 1,1–2,10), die auf eindrückliche Weise das umfangreiche scholastische Wissen des Augustiners dokumentieren. Am 7. Juli 1500 wurde Staupitz in Tübingen schließlich zum Doktor der Theologie promoviert. Im
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Frühjahr desselben Jahres trat Staupitz mit einem Traktat über den Besuch der Messe zum ersten Male an eine breitere Öffentlichkeit. Auch wenn er darin weitgehend in scholastischer Manier für die Parochialbindung der Gläubigen argumentiert, schimmert bisweilen eine Tendenz zur pragmatisch-seelsorglichen Ausdrucksweise späterer Veröffentlichungen durch. Um das Jahr 1502 berief ihn Kurfürst Friedrich von Sachsen, mit dem Staupitz wohl seit seiner Jugendzeit in engem Kontakt stand, nach Wittenberg an die neugegründete Landesuniversität. Der Augustiner vertrat die Bibelwissenschaft und wurde schon 1503 Dekan der Theologischen Fakultät.3 In dieser Funktion sollte er mehrere Aufgaben vereinigen: Zum einen benötigte der Landesherr die Erfahrungen von Staupitz aus Tübingen, dessen Universitätsverfassung über weite Strecken als Vorbild für Wittenberg gewählt worden war. Zum anderen kam dem Orden wachsende Bedeutung mit der Verantwortung für die theologische Ausbildung in Wittenberg zu. Staupitz betraute zahlreiche Augustiner mit der Wahrnehmung universitärer Ämter. Es gelang ihm, die theologische Fakultät mit Blick auf die Verbindung von traditioneller Theologie und seelsorgerlichem Engagement zu prägen.4 Entsprechend wuchs der Wittenberger Konvent, der bisher eher unbedeutend war, rasch zu einer wichtigen Gemeinschaft heran. Leider gibt es über das Wirken von Staupitz im Konvent kaum Zeugnisse, aber dessen Wachstum und die große Zahl von hervorragend ausgebildeten Männern, die das weitere Geschick des Ordens und der Kirche im Umbruch maßgeblich beeinflussten, lassen vermuten, dass er zu den integrativen Personen sowohl der Universität als auch in der beginnenden sächsischen Kirchenreformbewegung zu zählen ist. Im selben Jahr wurde Staupitz durch das Kapitel der reformierten Augustinereremiten zum Generalvikar gewählt.5 Staupitz verschrieb sich ganz der Reform des Klosterlebens und der intensiveren Wahrnehmung des Predigt- und Seelsorgeauftrages seines Ordens in den rasch wachsenden Städten des 16. Jahrhunderts. Neben seiner Tätigkeit als Vikar versah er weiterhin seine Aufgabe als Universitätslehrer in Wittenberg. Über die vielfältigen persönlichen Gespräche und seelsorgerlichen Unterredungen, die Staupitz auch im Auftrage des Kurfürsten in diplomatischer Mission geführt hat, gibt es nur wenig authentische Unterlagen, so dass vor allem die zahlreichen Freundschaften und der sie bezeugende Briefwechsel aus späterer Zeit einen Hinweis auf das außergewöhnliche Wirken des Augustiners geben.
3 Vgl. meinen Beitrag: Wriedt, Staupitz als Gründungsmitglied. 4 Vgl. meinen Beitrag: Wriedt, Anfänge der Theologischen Fakultät. 5 Dazu ausführlicher Posset, The Front-Runner of the Catholic Reformation, unter Verwertung neuester Literatur. Zu von Staupitzes umstrittenen Unionsplänen siehe jetzt auch Schneider, Tilemann Schnabel und sein Orden; ders., Eine hessische Intervention in Rom.
66 1.2
Markus Wriedt
Predigttätigkeit und Ordensobservanz
Seit 1511 konzentrierte sich Staupitz stärker auf den praktischen Teil seiner Aufgaben. Unter anderem übergab er seinen Lehrstuhl zum Wintersemester 1512 an Martin Luther und widmete sich ganz den Anforderungen des Generalvikariats. Neben den vielfältigen Gesprächen und der sich daraus entwickelnden, freilich erst zu einem geringen Teil zugänglich gemachten Korrespondenz ist das seelsorgerliche Wirken von Staupitz vor allem aus seinen Predigten zu erschließen. Zwischen 1512 und 1521 hat er zahlreiche Predigtreihen gehalten, die entweder in Mitschriften oder von ihm selbst autorisierten Druckfassungen überliefert sind. Charakteristisch für diese Predigtzyklen ist der völlige Verzicht auf den Nachweis theologischer Autoritäten der Tradition. Gleichwohl werden insbesondere die Kirchenväter von Staupitz weiter im Kontext seiner Argumentation verwendet. Ein Beispiel dafür ist seine 1515 in Leipzig veröffentlichte Sterbetrostschrift „Nachfolgung des willigen Leidens und Sterbens Christi“ für Gräfin Agnes von Mansfeld. Ein systematischer Schwerpunkt der Kirchenväterrezeption lässt sich nur schwer erkennen. Die ausführlichen Paraphrasen werden ganz der Argumentation des Traktats und seiner biblischen Ausrichtung unterworfen. Staupitz formuliert in deutlicher Nähe zur spätmittelalterlichen ars moriendi, der Sterbekunst, den spirituell akzentuierten Trost für die Sterbende. Auf Einladung des Nürnberger Ratskonsulenten Christoph Scheurl, mit dem er seit dessen Promotion in Bologna bekannt war, hielt Staupitz im Advent 1516 in der Augustinerkirche eine Reihe von Predigten, die aufgrund ihrer großen Resonanz, die sie bei den Hörenden gefunden hatten, wenige Tage nach Neujahr 1517 im Druck erschienen. Staupitz macht mit dem Titel der lateinischen Predigtsammlung „Libellus de exsecutione aeternae praedestinationis“ („Ein nutzbarliches Büchlein von der entlichen Volziehung ewiger Fürsehung“) deutlich, dass er eine Darstellung der Fragen und tröstenden Antworten vorlegt, die im Umgang mit der geistlichen Anfechtung durch die dogmatische Lehre von der doppelten Prädestination entstehen. Staupitz beschreibt die göttliche Erwählung als universalen Heilsprozess und betont darin insbesondere die Zuwendung Gottes zum Menschen und Christi Heilstat. Wie Lichtstrahlen durch eine Linse gebündelt, erscheinen im Verlauf der Predigten die zentralen Topoi der klassischen Dogmatik von der Gotteslehre bis hin zur Eschatologie und werden im Blick auf die Erwählungslehre in christologischer Akzentuierung spirituell interpretiert. Die dogmatische Aussage findet ihre Erklärung im Miteinander von christologischer und spiritueller Erbauung zum Trost der geängsteten Gewissen. Eine weitere Sammlung von Adventspredigten aus dem Jahre 1517 veröffentlichte Staupitz unter dem Titel „Von der Liebe Gottes“. In zwanzig Unterabschnitten beleuchtet der Augustiner darin die Frage der Gottesliebe. Er beginnt mit dem Gebot, Gott über alle Dinge zu lieben, und stellt die Unerfüllbarkeit
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dieser Forderung für den Menschen fest. Staupitz löst die Problematik unter Rückgriff auf die Pneumatologie und die Erwählungslehre: Der Heilige Geist ist es, der die Liebe zu Gott in die Herzen der Menschen senkt. Allerdings ist es Gottes freie Gnade, die verfügt, wer in welchem Ausmaß der Einwohnung des Geistes teilhaftig wird. 1520 übergab Staupitz sein Amt als Ordensvikar an Wenzeslaus Linck. Aus den Jahren 1517 bis 1520 sind erneut zahlreiche Predigtmitschriften erhalten. In ihnen setzt Staupitz die theologischen Akzente wie bereits zuvor. Im Zentrum steht das Zeugnis der Schrift, die Autoritäten der Tradition treten völlig zurück. Tenor nahezu aller Auslegungen ist der Trost der geängsteten Gewissen aus der Offenbarung des Versöhnungs- und Erlösungswillens Gottes im Leiden und Sterben Jesu Christi. Stärker als in frühen Jahren betont Staupitz das Wirken Gottes verborgen unter dem Gegensatz, die Alleinwirksamkeit Christi bei der Erlösung und des Heiligen Geistes beim Trost und in den Werken der Liebe, sowie die faktische Unfreiheit des menschlichen Willens. Auffällig ist ein explizit anti-pelagianischer Akzent: Staupitz wendet sich gegen jegliche Mitwirkung des Menschen zu seinem Heil. Allein das Sündenbekenntnis und die Bitte um Vergebung sind sein Teil. Deutlich fällt in diesem Zusammenhang seine Polemik gegen die „eitle Wundenmeditation“, d. h. eine selbstgefällige und auf die eigene Leistung konzentrierte Reflektion der persönlichen Nachfolgebereitschaft, und den Ablass aus. Über den letzten Abschnitt des Lebens von Staupitz gibt es nur wenige Zeugnisse. Auf Einladung des Bischofs Matthäus Lang ging der Augustiner 1520 nach Salzburg. Mit römischem Dispens für den Ordenswechsel trat er 1521 in das Benediktinerkloster St. Peter ein und wurde 1522 zu dessen Abt gewählt. In dieser Funktion starb Johann von Staupitz am 28. Dezember 1524.
2.
Staupitz als Beispiel spätmittelalterlicher Spiritualität
Eine kirchenhistorisch zu verantwortende Definition dessen, was gegenwärtig unter „Spiritualität“ verstanden wird, leidet perspektivisch an dem Problem, dass dieser Begriff für das Spätmittelalter nicht nachweisbar ist. Im Zentrum einer Wortfeldanalyse erweist sich die geistliche Dimension des Begriffs als wesentlich. Freilich ist nicht klar, ob Spiritualität eine Lebensform, eine Erkenntnisweise, ein theoretisches Konzept oder anderes umschreibt. Hier helfen auch abgrenzende Begriffe wie Frömmigkeit, Theologie, Mystik und vieles andere mehr kaum weiter. Für die Spiritualität des ausgehenden Mittelalters ist daher eine umfassende Begriffsbestimmung in den Blick zu nehmen, welche gleichermaßen die Geistwirkung in Erfahrungen, frommen Handlungen, theoretischen Erwägungen im Kontext der Bibelauslegung oder auch theologischer Reflexion thematisiert.
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Markus Wriedt
Dabei ist festzuhalten, dass die unmittelbare Geisterfahrung sich sprachlicher, theoretischer oder auch liturgischer Bemächtigung entzieht. Schon für die Menschen des 15. und 16. Jahrhunderts ist die Geisterfahrung fremd und sprachlich nicht zu erfassen. Sie kann nur in ihren Wirkungen beschrieben werden: Verändern sich Menschen unter dem Geist, erfahren sie Trost, Zuversicht, Glück, Liebe etc. In einer weiteren Reflexionsstufe werden sodann diese Erfahrungen sowie die durch sie evozierten Verhaltensweisen theologisch beurteilt und gewürdigt, zum einen im Blick auf ihre Kompatibilität zu der Tradition der kirchlichen Lehre und zur Vermeidung nicht- oder schlecht-autorisierter Innovation, zum anderen im Blick auf ihre dogmatische Anschlussfähigkeit. Werden spirituelle Dimensionen des Glaubens erschlossen, die als neu und mithin gefährdend, zumindest aber heterodox einzuschätzen sind? Es ist also gewiss anachronistisch, moderne Begriffsdefinitionen und ihre Konnotationen auf den mehr als 500 Jahre entfernten Ordensgeistlichen Johann von Staupitz zu beziehen. Zu fragen ist, wo die nur schwer zu fassende Spiritualität im hinterlassenen Werk des Augustiners oder in diesbezüglichen Beschreibungen seines Wirkens manifest wird. Der historische Ort, an dem im Folgenden die Spiritualität von Staupitz aufgesucht werden soll, ist die ihn in besonderer Weise von zeitgenössischen Theologen und Ordensleuten unterscheidende, im Falle Luthers sogar höchst wirkmächtige und folgenreiche Seelsorge. Weder kann dabei Seelsorge mit Spiritualität gleichgesetzt werden, noch sind andere Identifikationen möglich. Nach Staupitz gründet das seelsorgerliche Handeln im persönlich erfahrenen Trost, den die Botschaft vom Erlösungswerk Jesu Christi durch das Wirken des Heiligen Geistes vermittelt. Sie dient über den Akt der Verkündigung hinaus dazu, dem angefochtenen Gewissen Trost und Hoffnung zuzusprechen. Insofern handelt der Seelsorger zwar eigenverantwortlich, aber nicht aus eigener Vollmacht. Vielmehr wirkt er als instrumentum Dei (Werkzeug Gottes) in Abhängigkeit vom Wirken des Heiligen Geistes an den ihm anvertrauten Menschen. Darin unterscheidet sich Staupitz freilich nicht vom gängigen Seelsorgeverständnis seiner Zeit, wohl aber in der von verschiedenen Menschen beschriebenen Wirkung des Trostes und der Ansprache, die wohl nur aus der spirituellen Dimension des seelsorgerlichen Handelns verständlich gemacht werden kann. Der Ort seines Trostes sind die geistlichen Anfechtungen, die sich aus der Angst vor dem jenseitigen Schicksal ergeben. Sie werden manifest in der Todesangst, in der Sorge um die ewige Prädestination oder auch im Ringen um ein existenzielles Verständnis der Forderung nach einer reinen Liebe zu Gott. Analog leuchtet die spirituelle Begründung seelsorgerlichen Handelns bei Staupitz auch in dessen einzelnen Elementen auf: Der Trost ist nur wirksam, wenn er im Wort Gottes durch den Heiligen Geist vermittelt das Herz des Menschen erreicht. Alle andere Zuwendung muss schlechterdings auf ein „Ver-
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trösten“ hinauslaufen, das – wiederum modern gesprochen – die Situationsanalyse des Menschen vor Gott verdrängt, das Sündenbekenntnis verhindert und darum dem erlösenden, rechtfertigenden und letztlich heiligenden Gnadenwirken Gottes entgegensteht. Dieser spirituelle Rückbezug betrifft denjenigen, der des Trostes bedarf ebenso wie den, der sich veranlasst sieht zu trösten. Darf ersterer Gott nicht vorschreiben, wie und wann er zu helfen hat, so kann letzterer nur als Werkzeug Gottes, nicht aber als selbstmächtiger Tröster auftreten. Insofern der Trost eine schonungslose Selbstanalyse unter dem Urteil des Gesetzes vor Gott beinhaltet, gehört zu einem biblisch begründeten Trost die Ermahnung zur Selbstbesinnung und Buße unmittelbar hinzu. Auch diese kann sinnvoll nur sein, wenn sie sich auf das Wirken des Heiligen Geistes bezieht. Im Zentrum der Seelsorge von Staupitz steht die geistgewirkte existenzielle Annahme des Christusgeschehens. Dagegen wird der Verweis auf die kirchlichsakramentale Heilsvermittlung fast schon abgewertet. Momente der Individualisierung, des pro me / pro nobis (für mich / für uns) und die aus der Erfahrung dieser Einsicht entstehende persönliche und unvermittelte Gottesbegegnung machen die Spiritualität des Augustiners aus, die sich in seinem seelsorgerlichen Handeln niederschlägt. Staupitz war kein Theoretiker der Spiritualität, sondern ein von tiefer, praktisch gewendeter Spiritualität – Frömmigkeit – geprägter Mensch. Sein gesamtes Handeln im Konvent, für den observanten Zweig der Augustinereremiten, in der Kirche oder auch in den vielfältigen Beratungsmissionen für den sächsischen Herrscher ist zwar theologisch reflektiert und begründet, gleichwohl fehlen weitgehend theoretische oder allgemeingültige Reflexionen. Die Spiritualität von Staupitz speist sich aus der persönlich erfahrenen Geborgenheit in der Liebe Gottes und dem unerschütterlichen Wissen um die Barmherzigkeit des Schöpfers. Sie erfährt er im Gebet – sowohl dem liturgisch gebotenen als auch dem individuellen – und einer intensiven Schrift- und Bildmeditation. Sein spirituelles Wirken hat zwei Schwerpunkte: das persönliche Gespräch und – den allein historisch greifbaren, schriftlichen Zeugnissen folgend – die Predigt. Für den Historiker ist der erste Aspekt dieses Wirkens von Staupitz nur noch aus einigen Notizen Dritter in Briefen und höchst unvollständig zu rekonstruieren. Die Berichte Luthers über seine Gespräche mit dem Generalvikar stellen eine Ausnahme dar. Sie sind historisch auch nur von bedingtem Quellenwert, insofern sie lange Jahre nach dem tatsächlichen Geschehen die Sicht Luthers und anderer in ihrem durch die Gesprächspartner und ihre Anregungen bedingten und damit neuen Kontext wiedergeben. Demgegenüber ist die Predigttätigkeit von Staupitz in zu einem großen Teil von ihm persönlich redaktionell überarbeiteten Quellen erhalten. Der größte Teil liegt inzwischen in umfangreichen Editionen vor; allein der Briefwechsel und die sog. Salzburger Predigten nach 1512 sind noch zu veröffentlichen. Umfangreiche Vorarbeiten auch dazu liegen vor.
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Markus Wriedt
Dem Charakter des Handbuches folgend sollen im Folgenden einige Motivstränge skizziert werden, die für die Spiritualität von Staupitz charakteristisch erscheinen.
2.1
Christusförmigkeit
Sowohl in seinem Hauptwerk, dem „Libellus de exsecutione aeternae praedestinationis“, wie auch in zahlreichen anderen Schriften betont Staupitz die Pflicht zur wachsenden Verähnlichung mit Christus. Er verwendet dafür den Begriff der conformitas Christi (Gleichförmigkeit mit Christus, Christusförmigkeit) und präfiguriert damit die für die reformatorische Entdeckung Luthers so wichtige Unterscheidung von conformitas activa und conformitas passiva. Die Verähnlichung mit Christus ist keine aktiv zu leistende Tat des Glaubens, sondern vielmehr die Folge des Glaubens, die sich im getrösteten Gewissen, in einer Heilszuversicht und einer spezifischen Gottunmittelbarkeit niederschlägt. Sie lässt die activitas des Menschen hinter die Erfahrung geschenkhaft zugewendeter Gnade zurücktreten. Allerdings ist Staupitz noch weit von jeglicher Exklusivitätsformulierung im Sinne des später von Luther propagierten sola gratia. Erfahrungen der wachsenden Christusähnlichkeit können verschiedentlich gesucht werden. Hierbei nennt Staupitz die ganze Fülle an kirchlicher Heilsvermittlung und sakramentaler Vergewisserung. Allerdings kann durch die fromme Übung nicht der Impuls im Sinne der Gnadenzuwendung Gottes und der damit verbundenen Empfindung der Geborgenheit in Gott bzw. Gottesliebe gesetzt werden. Er ist Christus bzw. dem Heiligen Geist allein überlassen. Ist dieser Impuls allerdings erfolgt, hat der Christ sich in der conformitas Christi zu üben. Dazu verhelfen der Heilige Geist und eine große Fülle an Tätigkeiten von der Bibellektüre und der Meditation einzelner Schriftstellen, über das regelmäßige Gebet bis hin zu bestimmten Formen frommer Askese. Christus ist in allem Vorbild und Ziel menschlichen Strebens. Allerdings nicht nur das, sondern auch ein Modell, das dem Glaubenden eingeprägt wird. Staupitz wählt dafür eine mediale grammatische Konstruktion und lässt letztlich offen, wie viel eigene Tat des Menschen für diese Erfahrung erforderlich ist. Insgesamt jedoch erreicht die von Staupitz formulierte Christusförmigkeit eine existenzielle Tiefe, die, wenn denn nicht einmalig, so doch außergewöhnlich für seine Zeit war. Die größte Christusähnlichkeit erreicht der Mensch im Sterben. Dies ist freilich auch am stärksten von geistlichen Anfechtungen betroffen, die darum zu einem zweiten Thema der angewandten Spiritualität von Staupitz avancieren.
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2.2
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Anfechtungen überwinden
Obwohl sich die Schriften von Staupitz größter Beliebtheit erfreuten und insbesondere in den städtischen Kreisen von Nürnberg und anderswo im Bürgertum intensiv gelesen wurden, enthalten sie doch keine konkreten Hinweise zum Umgang mit geistlicher Not. Staupitz ist vielmehr daran gelegen, den Dämonen Namen zu geben, mithin ein Schema zu ihrer Identifikation zu entwerfen. Die Erfahrung der Gottverlassenheit Christi am Kreuz wird zum Modellfall, anhand dessen der Fromme sich auf folgende geistliche Anfechtungen einstellen soll: Da ist zunächst Hohn und Spott der Umgebung. Er wird verstärkt durch die Einflüsterung des Satans, der Sterbende habe nicht genug Buße für die begangenen Sünden erworben. Nicht minder gefährlich ist der teuflische Vorhalt, der Sterbende habe alles richtig gemacht und könne sich jetzt getrost auf den Weg zu Gott machen. Dazu tritt die Agonie, verbunden mit mannigfaltigen Nöten des Leibes und der Sorge. Für viele Sterbende ist allerdings auch die Sorge um andere, vor allem die Hinterbliebenen, eine schwere Anfechtung. Die Verzweiflung über die eigene Unfähigkeit zum Heil ist als schwere Verführung des Teufels zu werten. Sie leitet dazu an, dem Glauben insgesamt abzuschwören und sich anderen Trost als den in Christus zu suchen. Erneut im antagonistischen Gegensatz ist dazu die letzte Anfechtung zu nennen, das naive und unbedingte Vertrauen auf Gottes Barmherzigkeit, welches alle Sorge – und damit auch den nötigen Ernst im Jüngsten Gericht – übermalt. Diese Anfechtungen münden in die schwere Verzweiflung, die durch die Frage nach Gottes Heilsratschluss und seine Beziehung zum Menschen – Hass oder Liebe – hervorgerufen wird. Die Aufzählung der Sorgen und Nöte lassen einen erfahrenen und in täglicher Zuwendung erprobten Menschen erkennen. Doch nicht das, sondern die spirituelle Art, mit Anfechtung umzugehen, ist bemerkenswert. Aus einer geistlichen Haltung eines tiefen Vertrauens zu Gott, das allerdings selbst nicht frei von Zweifeln und Sorgen ist, entwickelt Staupitz ein modern anmutendes analytisches Verfahren im Umgang mit depressiven Einflüssen: Er therapiert nicht das Symptom, sondern fragt nach dessen Ursachen. So tröstet er mit diesen Sätzen nicht allein die in der Sterbestunde Angefochtenen. Er wendet sich insbesondere jenen zu, die mitten im Leben ihre Seligkeit zu verspielen drohen, indem sie den drohenden Tod verdrängen und damit die nötige Vorbereitung auf das eigene Sterben versäumen. Staupitz macht sich hierin das Anliegen der mittelalterlichen ars moriendi zu eigen – freilich in durchaus selbstständiger Umgestaltung, indem er zahlreiche theologische Einseitigkeiten unter die Einflüsterungen des Satans zählt und damit deutlich Kritik an bestehenden Frömmigkeitsformen und ihrer theologischen Legitimation übt. So sehr Staupitz einerseits gerade in der bildhaften Ausgestaltung der Anfechtungen die Not des Einzelnen vor Augen hat, so
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sehr kann er andererseits auf die Seelsorge an den Lebenden verweisen und ihre Lebensführung im Blick behalten.
2.3
Die spirituelle Dimension des Lebens und Sterbens
Ihre ganze Wucht entfaltet die spirituelle Aufbereitung des lebensbegleitenden Trostes von Staupitz im Kontext der Frage nach der Bedeutung des Besuches von Kranken und Sterbenden. Im Fokus dieser konkreten Handlungsanweisung lässt sich einerseits die spirituelle Dimension seines frommen Handelns erkennen, zugleich aber klingen sehr konkrete Handlungsanweisungen an. Moderne Entwürfe zum kommunikativen Umgang mit seelischer Not geradezu vorwegnehmend, erkennt der Augustiner den mit Leiden, Sterben und Tod verbundenen Verlust von Sozialität und Kommunikativität. Der Krankenbesuch und das Aufsuchen der Sterbenden haben ihren Grund nicht allein im biblischen Gebot, sondern auch in der geistlichen Not des Verlassen- und Allein-Seins. Wieder ist Christus das Modell dieser Todesanfechtung, freilich auch er als Vorbild der geistlichen Not. Indem er zum Urbild der Anfechtung stilisiert wird, erlebt der Mensch eine tiefe Verbundenheit – eben die Verähnlichung – mit Christus. Diese freilich nicht in abgehobener, theoretischer Überlegung, sondern im Miterleben. Die conformitas Christi wird zum Moment des Einswerdens (unio cum Christo). Damit überträgt sich dann freilich auch Christi Auferstehungserfahrung als fester Grund der christlichen Hoffnung auf den Verzweifelten. Sie ist der tiefere, spirituelle Grund des Trostes. Staupitz entfaltet diese Überlegung in sechs Argumenten, die vom Vorbildcharakter Christi ausgehen. Ihnen folgt die paulinisch-augustinische Unterscheidung von Geist und Wort, die derartig allegorisiert wird, dass das Wort der Anfechtung unendlich vom Geist geschieden ist und ihm darum nichts anhaben kann. Hier deutet sich ein Fleisch-Geist-Dualismus an, der von Luther später zugunsten der Unterscheidung von Gesetz und Evangelium hermeneutisch transformiert ist, zu den Argumenten seiner radikalen Gegner wie Karlstadt und Zwingli allerdings eine stärkere Nähe zeigt. Der sächsische Augustiner Staupitz ist „augustinischer“ und in seiner Rezeption der paulinischen Geist-Buchstaben-Dichotomie dichter an Augustins Signifikationshermeneutik als sein jüngerer Nachfolger im Amt, Luther. Staupitz betont weiterhin den besonderen Dienst der Seelsorger, deren Aufgabe allerdings nicht in der Bußpredigt, sondern der bildreichen und nachvollziehbaren Schilderung des Erlösungsgeschehens in Christus besteht. Sie bereitet der geistlichen Stärkung der Angefochtenen den Weg und hat ihr Pendant im berühmten Bußrat von Staupitz an den jungen Luther: Als dieser in seiner Sündenangst zu verzweifeln droht, verweist ihn Staupitz eindringlich darauf, dass Christi Leiden und Sterben nicht nur allgemein für den Menschen, sondern ganz
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konkret für den angefochtenen Martin Luther geschehen ist. Luther behauptet später, damit sei das Licht des Evangeliums in ihm angezündet worden und Staupitzes Worte haben wie der Pfeil eines starken Bogenschützen in seinem Herzen gehaftet. Wiederum stehen das existenziell nachempfundene Vorbild Christi und die Forderung an alle Menschen, sich ihm nachzubilden, im Mittelpunkt der tröstenden Überlegungen. Sein Trost besteht weder in Sym- noch in Empathie, sondern in dem immer neuen Hinweis auf die Überwindung des Todes in Jesus Christus, den er sich nicht durch noch so liebevoll gemeintes Verständnis für die Situation des Angefochtenen und eine aus ihr resultierende seelsorgerliche Methodik aufweichen oder gar hintansetzen lässt. Es geht ihm um das Erschließen der spirituellen Dimension des Glaubens. Darin dürfte auch seine besondere Wirkung auf seine Zeitgenossen gelegen haben.
3.
Wirkung
3.1
Würdigung
Staupitz wirkt nicht durch Methode, Technik oder material-dogmatische Lehraussagen. In seiner seelsorgerlichen Zuwendung schlägt sich in charakteristischer Weise der in seiner Spiritualität begründete kommunikative Umgang mit den ihm anvertrauten Menschen nieder. Er hat in seinem Gottes- und Christusverhältnis jene Sprache gefunden, die wirkmächtig auch andere Menschen erreicht. Es geht ihm um den modus loquendi (Art und Weise des Redens), in dem dem Wirken des Geistes größtmöglicher Raum gegeben wird. Die spirituelle Eigenart, ihre Besonderheit und Einzigartigkeit, die – neben seiner persönlichen Integrität und Frömmigkeit – die Hochschätzung bei seinen Zeitgenossen begründete, ist systematisch-theologisch nicht zu charakterisieren. Sie ist vielmehr mit einigen anachronistischen, weil modernen Charakterisierungen zu versuchen, die sich vor allem auf seine Predigtzeugnisse beziehen: In erster Linie ist hier eine geistgetragene „Existenzialisierung“ der Schriftauslegung und des meditativen Umganges mit theologischen Fragestellungen zu nennen. Staupitz nimmt die individuelle Erfahrung des glaubenden Menschen auf und formuliert diese nicht nur im Licht, sondern vor allem in den Worten der Heiligen Schrift. Insbesondere der Anfechtung des Glaubens misst er große Bedeutung zu. So macht Staupitz einerseits die persönliche Erfahrung und Frömmigkeit zum Ausgangspunkt seiner Überlegungen, lässt dabei aber andererseits die Schrift in christozentrischer Auslegung zum Maßstab der Formulierung möglicher Lösungsvorschläge werden.
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Mit der Betonung der individuellen Glaubenserfahrung kommt die später für die modernere Theologie und Spiritualität der Frühen Neuzeit – in Sonderheit auch der Reformation – so entscheidende Akzentuierung des frommen Individuums in den Blick. Freilich wird sie bei Staupitz noch im sakral-institutionellen Kontext verankert. Für den Mönch und Theologen Staupitz ist die Existenz des Christen außerhalb der Gemeinschaft anderer Christen, außerhalb der Kirche, undenkbar. Freilich ist die Ekklesiologie des Augustiners bereits von einer unübersehbaren Tendenz zur Verinnerlichung und Individualisierung bzw. Spiritualisierung geprägt, die ihn von seinen Zeitgenossen unterscheidet. Die Kirche wird bei Staupitz sowohl zum Ur- wie auch zum Abbild: Abbild der Beziehung Christi zur gläubigen Einzelseele, welche die Liebe des Vaters zum Sohn widerspiegelt, und Urbild der Liebesgemeinschaft zwischen den Ehepartnern. So dient der Einzelne der Kirche, indem seine Gottesbeziehung die ihre konstituiert. Die Kirche vertritt aber auch den Einzelnen, droht sein Glaube zu scheitern. Von entscheidender Bedeutung ist hierbei, dass dieses Verhältnis von Christus aufgebaut und erhalten wird. So hält Staupitz auch in der Ekklesiologie seine christozentrische Gnadenlehre durch. Schließlich kommt hier eine latente Institutionen- und Kirchenkritik zum Vorschein. Indem Staupitz die menschliche Erfahrung im Licht der Heiligen Schrift zu sehen bereit ist, schützt ihn gerade diese Schriftbezogenheit vor allzu schnellen, auf die dogmatische Tradition gegründeten Urteilen. Umgekehrt bewahrt ihn die an der vielschichtigen Terminologie und den vielfältigen Bildern der Schrift gewonnene Einsicht in die individuelle seelsorgerliche Problematik vor einengenden Charakterisierungen.
3.2
Vermächtnis
Abschließend soll versucht werden, einige Strukturmomente der Spiritualität von Staupitz, die sich bereits für die Entwicklung des jungen Augustinereremiten Martin Luther als bedeutsam herausgestellt haben, zu skizzieren. Sie können unter Berücksichtigung der historischen Distanz auch für moderne Formen der Spiritualität fruchtbar gemacht werden: a) Unter dem Stichwort der Kontextualität war bereits das wichtigste Moment der theologischen Reflexionen und spirituell-seelsorgerlichen Handlungsanwendungen von Staupitz angeklungen: die Wahrnehmung des angefochtenen Mitmenschen in seiner jeweiligen Umgebung und Bedingtheit. Diese Wahrnehmung verbindet sich bei Staupitz mit einer großen Offenheit für andere, fremde Erfahrungen. Eine Vorbedingung für diese Offenheit ist die große persönliche Integrität von Staupitz und seine geistbezogene, gelebte
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Frömmigkeit, die zu den theologischen Aussagen der Predigt nicht in Distanz trat. b) Diese Eigenschaften sind bei Staupitz das Ergebnis eines jahrzehntelangen Umgangs mit Texten der Bibel und der Tradition, die immer wieder neu auf die individuell wahrgenommene Gegenwart bezogen werden. Nicht ohne Grund zeichnet sich die Artikulation von Spiritualität bei Staupitz durch zwei Schwerpunkte aus: Predigt und Gespräch. Ist erstere dabei stärker von dem Bemühen geprägt, für eine relativ große Zahl zu einer verbindlichen Aussage auf der Grundlage der Heiligen Schrift über die Probleme der Gegenwart zu kommen, zeichnet sich der große Bereich der seelsorgerlichspirituellen Zuwendungen von Staupitz durch eine auf die Not des Gesprächspartners zugeschnittene Problemanalyse aus. Staupitz gelingt es, seine zeitgenössische Redeweise mit dem modus loquendi der Schrift zu einer harmonischen Einheit zu verschmelzen. Diese Verbindung beschränkt sich dabei nicht auf den Bereich sprachlicher Vermittlung, sondern wirkt sich insbesondere auch bei der Analyse und Bewertung der jeweiligen persönlichen Anfechtung aus. So kann Staupitz sich einerseits von zeit- oder amtsbedingten Sichtweisen lösen und zu einer befreienden Kritik des Einzelnen wie auch der Institution Kirche oder anderen Bedingungen menschlicher Existenz kommen. Andererseits ist er gerade aufgrund seiner biblischen Fundierung zu einer unabhängigen „Orthodoxie“ im Sinne der Bewahrung des kirchlichen Traditionszeugnisses fähig, die Suchenden Halt und Identität vermitteln kann. c) Für Staupitz ist die persönliche Glaubenserfahrung das schlechterdings entscheidende Fundament aller Glaubensreflexion und allen frommen Handelns. Die Frömmigkeit von Staupitz wird getragen von der stets neu erfahrenen Geborgenheit in der Liebe Gottes und dem unerschütterlichen Wissen um dessen Barmherzigkeit. Sie prägt exemplarisch zahlreiche Predigten und Gespräche des Augustiners. Dennoch setzt er diese Erfahrungen nicht absolut und bleibt offen für die Not des in seinem Glauben angefochtenen Mitchristen. d) Von besonderer Bedeutung für Staupitz ist das Moment der persönlichen Erfahrung. So versucht er in seinen Predigten immer wieder Stationen im alltäglichen Leben aufzuweisen, wo der Angefochtene Gott begegnen kann bzw. sich Gottes Handeln in der Welt offenbart. Auch in den Gesprächen, soweit sie der Nachwelt durch Briefe oder Nachschriften überliefert sind, findet sich dieses Moment der Gotteserfahrung im Alltag immer wieder. Dazu kommt eine an der Bibel entwickelte Bildhaftigkeit der Sprache, die zu persönlichen Assoziationen anreizt, und – kaum mehr kontrollierbar – Glaubenserfahrungen freisetzt. Dennoch wird die Erfahrung nicht zum Maßstab theologischer Argumentation. Staupitz lehnt die Begründung wie
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die Kritik dogmatischer Aussagen ausschließlich vor dem Hintergrund individueller Erfahrungen ab. e) So entsteht aus der frommen Grundhaltung des sächsischen Augustiners jene spirituell getragene Grundhaltung, aus der heraus Staupitz seinen Mitmenschen in höchst unterschiedlichen Lebenssituationen begegnet. Die Spiritualität von Staupitz entsteht in der Spannung zwischen einer sich aus individueller Glaubenserfahrung speisenden Zuversicht und der biblischen Verheißung des diese Zuversicht nicht enttäuschenden Gottes. Etwas überspitzt formuliert lässt sich hier die Innen- von der Außen-Dimension unterscheiden. Trost wird wirksam, weil Gott in ihm sein Handeln an und für den Menschen offenbart. Der gelingende Trost ist freilich kein singulärer Akt, sondern ein Lernprozess, in dessen Verlauf der Mensch eine Vielzahl von Gotteserfahrungen macht. Dieser Prozess dauert ein Leben lang und kann darum nicht abgeschlossen werden. Vor diesem Hintergrund wird aber auch verständlich, dass der Trost nicht allein die unmittelbar Betroffenen angeht, sondern alle Mitchristen. Die Not des Einzelnen wird zum Spiegelbild eigener Anfechtungen. Der individuelle Trost kann zur Lernhilfe für eigene Lebenssituationen dienen. Nur so lässt sich die Veröffentlichung der Sterbetrostschrift oder anderer Werke seelsorgerlichen Inhalts verstehen – und rechtfertigen.
3.3
Die spirituelle Dimension der Theologie von Staupitz
Vor dem Hintergrund der eingangs notierten Bedenken gegen die anachronistische Übertragung moderner Terminologie auf Ereignisse und Vorgänge der Tradition, die sich noch dazu einem direkten historiografisch gesicherten Zugriff entzieht, ist Spiritualität als Begriff zu verstehen, der im Dreieck der Positionen „Frömmigkeit“ im Sinne des gelebten und handlungspragmatisch gewendeten „Glaubens“, im Sinne der reflektierten und sprachlich bewältigten Glaubensüberzeugungen sowie einer dritten Komponente, welche die existenziell-spirituelle Begründung und Ermächtigung zu Glaube und Frömmigkeit allererst darstellt, einen unverzichtbaren Eckpunkt ausmacht. Nach innen und auf Gott bezogen ist es der Glaube an das Erlösungswerk Jesu Christi, der sich mit dem Sündenbekenntnis im Gebet an Gott mit der Bitte um Vergebung wendet. Nach außen ist es die Liebe, die sich getragen und gegründet im Wirken des Heiligen Geistes dem Nächsten in ihren vielfältigen Formen von Trost, Begleitung, Ermahnung und Korrektur, aber auch Freude und Mitgefühl zuwendet. Beide Dimensionen werden erschlossen und umfasst von der sich dem sprachlich-rational-reflektierten Zugang entziehenden Erfahrung der Gottesoffenbarung in Wort, Liturgie und kirchlicher Heilsvermittlung.
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Nach der im Orden der Augustinereremiten bewahrten kirchlich-frömmigkeitlichen Tradition gründen Spiritualität und das sich aus ihr speisende seelsorgerliche Handeln aller Gläubigen aneinander theologisch im Da- und Dabeisein Gottes, dem Erlösungswerk Jesu Christi und dem Wirken des Heiligen Geistes. Er lässt Gott dem Menschen angenehm werden – diese spezifische Umformung des amor Dei (Liebe zu Gott) ist allemal für Staupitz charakteristisch – und ermächtigt so zu einer sich auch auf andere Menschen erstreckenden Liebe. Eine Spiritualität, die sich nicht als von Gott herkommend und auf ihn hin orientiert versteht, wird schlechterdings als Selbstüberschätzung des Menschen, als Sünde verworfen. Die spirituelle Dimension seelsorgerlichen Handelns beschränkt sich nicht auf die tröstende Zuwendung in persönlicher Anfechtung, sondern weitet sich zu einem Bekenntnis zur Gegenwart Gottes in allen Bereichen des Lebens. Das gesamte Leben des Menschen ist nach der Augustinus-Theologie der observanten Augustinereremiten in all seinen Dimensionen von Gott geschaffen und erhalten. Insofern gibt es keinen Bereich, der Gottes Zuwendung entzogen wäre. Wenn aber alle Lebenssituationen letztlich auf Gott zurückgeführt werden können, ist er auch die einzig sinnvolle Adresse der Bitte um Hilfe und zum Dank für die Abwendung der bedrohlichen Umstände. Die spirituelle Dimension dieser Frömmigkeitstheologie gründet in einem, modern gesprochen, radikal „ganzheitlichen“ Lebens- und Wirklichkeitsverständnis, für das Staupitz ein sehr früher Zeuge im ausgehenden Mittelalter ist. Auch der Zuspruch des Evangeliums gründet in Predigt wie brüderlichem Gespräch in der Erfahrung des lebendigen Gottes, in, mittelalterlich gesprochen, der Erfahrung der Wohnungnahme des Heiligen Geistes. Zunächst ist der Fromme in seinem gesamten Handeln an Gebot und Fürsorge Gottes gebunden. Er ist sein Werkzeug und hat seinem Willen zu gehorchen und durch sein Handeln zur Durchsetzung zu verhelfen. So wie aber der Seelsorger das Vergebungswort Gottes dem Angefochtenen zuspricht, so ist er selbst der Vergebung bedürftig und teilhaftig. Das macht seine Freiheit aus. Sicherlich kann kein Mensch das Werk christlicher Nächstenliebe frei von persönlicher Schuld tun. Aber gerade weil das so ist, steht das Schuldbekenntnis am Beginn aller diakonisch-karitativen Arbeit. Diese selbst wird fortgesetzt im Vertrauen auf Gottes Vergebung und seine Verheißung. Die Konzentration der seelsorgerlichen Verkündigung von Staupitz auf den Trost der geängsteten Gewissen ist sicherlich ein auch für heutige Seelsorge und Verkündigung entscheidender und wegweisender Aspekt. So wichtig das Engagement von Kirche und ihren verschiedenen Vertretern in allen Bereichen gesellschaftlichen Lebens ist, so sehr muss doch auch bedacht werden, dass es zum Proprium des Evangeliums und seiner Verkündigung gehört, die Liebe Gottes zu seinen Geschöpfen, seine gnädige Zuwendung und sein barmherziges Urteil über ihr vielfach vergebliches Streben zuzusprechen. Alles weitere Engagement kann
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nur daraus folgen, diesen Zuspruch und seine existenzielle Begründung im Wirken des Geistes aber zu keiner Zeit ersetzen. Freilich läuft eine einseitig auf die Liebe Gottes und seine Zuwendung zum Menschen konzentrierte Verkündigung rasch Gefahr, die Gründe für Not und Anfechtung zu verdecken und zu bloßer „Ver-Tröstung“ zu verkommen. In dem Bemühen, dieser Gefahr vorzubeugen, tendierten und neigen auch heute noch zahlreiche Seelsorger dazu, den Unterschied Gottes zum Menschen zu betonen. Gott will den Menschen eben nicht vernichten und zermalmen, sondern ihm in Liebe seine Gnade zuwenden. Insofern gehört zum biblischen Trost das Gerichtswort dazu, es darf aber nicht das letzte Wort bleiben. Ebenso ist Gottes Wort Fleisch geworden. Gott will zum Menschen menschlich sprechen. Der inkarnatorische Grundzug der Spiritualität von Staupitz – fokussiert auf den Begriff der Nachfolge oder Ähnlichwerdung (conformitas) des Menschen mit Christus – hat dabei mehrere Bezüge: Zum einen lässt es den Seelsorger ganz deutlich als Werkzeug Gottes und Vollstrecker seines Willens erscheinen. Zum anderen betont Staupitz immer wieder die Nähe und Zuwendung Gottes, die der Mensch sinnlich wahrnehmen und erkennen kann. Das spirituelle Proprium von Staupitz – soweit sich für ihn überhaupt von einem reflektierten Konzept sprechen lässt – folgt logisch aus seiner Gnadenund Rechtfertigungslehre und setzt diese für die Glaubens- und Lebenspraxis der Mitchristen um. Glaubenslehre und Frömmigkeitspraxis treten nicht in Widerspruch. In dieser Identität von Leben und Lehre dürfte die größte Bedeutung von Staupitz für seine Wegbegleiter, Freunde und Untergebenen gelegen haben. Um die eingangs gestellte Frage zu beantworten, ist darum in erster Linie auf die Vermittlung dieser Glaubensidentität zu verweisen. Aber gerade sie ist offensichtlich nur schwer kommunizierbar, geschweige denn: erlernbar. Auch den Nachweis von Strukturmomenten dieser schwer zu fassenden Form von Spiritualität wird diese Vermittlung kaum leisten können. Wohl aber kann durch die Beschäftigung mit den Schriften des Augustiners ein Anreiz zur individuellen Umsetzung seiner Schriftauslegung in Glaubenspraxis gegeben werden.
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–, Libellus de exsecutione aeternae praedestinationis, hg. von Lothar Graf zu Dohna/ Richard Wetzel, mit der Übertragung von Christoph Scheurl „Ein nutzbarliches Büchlein von der entlichen Volziehung ewiger Fürsehung“, bearb. von Lothar Graf zu Dohna/ Albrecht Endriss (Sämtliche Schriften Abhandlungen, Predigten, Zeugnisse, hg. von Lothar Graf zu Dohna/Richard Wetzel II, Lateinische Schriften 2), Berlin/New York 1979. –, Tübinger Predigten, hg. von Georg Buchwald/Ernst Wolf (QFRG 8), Leipzig 1927. –, Sämtliche Werke, hg. von Joachim Karl Friedrich Knaake (Iohannis Staupitii opera quae reperiri potuerunt omnia), Bd. I: Deutsche Schriften, Potsdam 1867. Schneider-Lastin, Wolfgang, Johann von Staupitz. Salzburger Predigten 1512. Eine textkritische Edition, hg. von, Univ.-Diss. Tübingen 1983.
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Volker Leppin
Martin Luthers (1483–1546) Spiritualität
Martin Luther lebte bis in sein zweiundvierzigstes Lebensjahr als Mönch. Diesen Weg hatte er zwanzig Jahre zuvor im Konflikt mit seinem Vater eingeschlagen. Die Klarheit aber, die er sich hiervon wohl gewünscht hatte, hat er nicht oder nicht dauerhaft gewonnen: Nur im ersten Jahr nach seinem Mönchsgelübde (und dann wieder nach der Priesterweihe) habe ihn der Teufel in Ruhe gelassen, so berichtet er später.1 Gleichwohl fasste er Fuß in Kloster und Orden, stieg auf: Gefördert von seinem Ordensoberen Johann von Staupitz, der ihm zugleich zum geistlichen Begleiter wurde, wurde er 1512 Professor für Theologie in Wittenberg und im Mai 1515 Provinzialvikar der Augustinereremiten. Deren Spiritualität war wie die der Franziskaner und der Dominikaner von einer radikalen Armutsforderung bestimmt, für ihre Theologie war der Kirchenvater Augustin bestimmend. Schon die Nennung dieses Namens macht deutlich, dass Luthers Entwicklung nicht ohne diese spätmittelalterlichen Prägungen verstehbar ist. Seine reformatorische Theologie und Spiritualität stellt sich weniger als Bruch mit der Vergangenheit dar denn als eine Transformation des Vorgegebenen. Sein Neuansatz, der schließlich zur Bildung der evangelischen Konfessionen führte, wurzelte tief im Mittelalter, freilich in sehr bestimmten Traditionen. Zu seinem Verständnis muss man sich von eindimensionalen Vorstellungen vom Mittelalter verabschieden. Mit zunehmender Intensität lassen sich in dieser langen Phase christlicher Geschichte Entwicklungen beobachten, die einander in spannungsvoller Polarität gegenübertraten. Das gilt in der Theologie, in welcher es neben der akademischen Scholastik auch spirituell orientierte, in der Regel monastisch verortete Denker und Wegbegleiter gab. Es gilt für die Kirchenpolitik, in der die zentralistische Orientierung an der Leitung durch Papst und Kurie nur die eine Seite darstellte, der auf der anderen ein Bestreben um Dezentralität und regionale Leitung der Kirche durch Fürsten oder städtische Räte entgegenstand.
1 Vgl. WA 8,660,31f.
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Nicht anders stand es mit der Spiritualität: Jene Ablassfrömmigkeit, gegen die Luther sich mit seinen 95 Thesen am 31. Oktober 1517 wandte, war Ausdruck der einen Gestalt spätmittelalterlicher Frömmigkeit. In ihr ging es um Äußerliches: Man wollte etwas für das eigene Heil tun können, möglichst viel und möglichst berechenbar. Quantifizierung stand im Mittelpunkt: Messbarkeit des Geleisteten, und ein „Gradualismus“ (Berndt Hamm), der den Glaubenden die Möglichkeit eröffnete, ihrem Heil Stufe für Stufe näherzukommen. Dem stand schon im späten Mittelalter eine innerlich ausgerichtete Frömmigkeit entgegen, der es vor allem darum ging, die Herzen und Sinne der Menschen zu bewegen. Nicht deren Tun sollte zählen, sondern alles Gewicht kam der demütigen Haltung im Angesicht Gottes zu. Repräsentanten dieser Frömmigkeitshaltung waren die Mystiker Meister Eckhart († 1328) und Johannes Tauler († 1361) im 14. Jahrhundert und Frömmigkeitstheologen wie Johannes von Paltz († 1511) und Johann von Staupitz († 1524; s. den Beitrag von Markus Wriedt in diesem Band) an der Schwelle zum 16. Jahrhundert. Sie haben den jungen Mönch Martin Luther nachhaltig geprägt.
1.
Die Entstehung von Luthers Spiritualität im spätmittelalterlichen Horizont
Das Kloster war für Luthers spirituelle Suche ein wichtiger Haltepunkt, ein vorläufiges Ziel. Anknüpfend an seine eigenen Formulierungen wird sein Weg oft und zu Recht als die Suche nach einem gnädigen Gott beschrieben.2 Dem entspricht, dass der junge Novize bei der Profess, die Luther 1506 ablegte, gefragt wurde, was er begehre, und seine Antwort statutengemäß zu lauten hatte: „Gottes und Eure Barmherzigkeit“.3 So brachte das Kloster zunächst auch spirituelle Geborgenheit und eine Weitung des eigenen Horizontes. Die wichtigsten Quellen für Martin Luthers Spiritualität waren sein monastisches Umfeld und die Literatur, der er sich immer intensiver zuwandte: Augustin und, ab etwa 1515, die spätmittelalterliche deutschsprachige Mystik. Zur klösterlichen Existenz gehörte das Stundengebet. Auch wenn Luther schon während seiner Klosterzeit gelegentlich darüber klagte, dass er nicht dazu kam, die Pflichten des Stundengebets ganz einzuhalten,4 war damit doch eine Strukturierung des Tages vorgegeben, die man vor allem in einer bestimmten Hinsicht nicht unterschätzen darf: Als Mönch wurde er im Tagesverlauf immer wieder mit der Bibel konfrontiert. Sie wurde für
2 Vgl. WA 37, 661, 23f; WA 45, 626, 34f. 3 Constitutiones OESA, cap. 15. 4 Vgl. WA.B 1, 72 (Nr. 28, 11–13).
Martin Luthers (1483–1546) Spiritualität
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den jungen Mann, der bis zum Alter von zwanzig Jahren keine vollständige Bibel gesehen hatte,5 so zur Begleiterin im Alltag. Trotz all dieser positiven Impulse allerdings konnte das Kloster auf die Dauer Luthers spirituellen Hunger nicht stillen. Er sei, so berichtet er es später, als Mönch „ye lenger yhe vertzagter worden“.6 Damit spielt er auf die quälenden Anfechtungen an, die tentationes. Diese gehörten zwar einerseits zur monastischen Existenz selbstverständlich dazu, konnten den jungen Mönch aber andererseits an den Rand der Verzweiflung bringen und damit in die Ferne von eben jenem barmherzigen und gnädigen Gott, den er doch suchte.7 Zum Verständnis des Ausmaßes dieser Bedrohung ist stets zu bedenken, dass für Luther in seiner monastischen Zeit wie auch später der Teufel als höchst reales Gegenüber Gottes bedrohlich präsent war. Wer von Gott fortfiel, konnte rasch in den Fängen des Satans landen. Die Anfechtungen waren auch durch die Diskrepanzerfahrung geprägt: Luther empfand die monastische Existenz als eine Anforderung, der er nicht standhalten konnte. Er selbst hat diese Empfindungen später vor dem Horizont seiner reformatorischen Rechtfertigungstheologie interpretiert, nach welcher Gott seine Gnade allein durch den Glauben ohne Werke schenkt. Die monastische Existenz verfiel so im Nachhinein dem Verdikt der Werkgerechtigkeit. Diese spätere Selbstinterpretation wird aber den Nöten des jungen Mönchs wohl nur zum Teil gerecht. Er erfüllte ja seine Anforderungen durchaus, war nach eigenem Bekenntnis ein überaus heiliger Mönch.8 Er hat wohl sogar mehr von sich gefordert als nötig: Über das durch viele andere Verpflichtungen bedingte Versäumen der Stundengebete, das er beklagte, hätte er sich keine Sorgen machen müssen. Als Lektor des Ordens hatte er von Rechts wegen die Möglichkeit, die Gebetsstunden einzeln für sich nachzuholen.9 Dass er sich dennoch über seine Versäumnisse grämte, ist aber auch nicht einfach, wie es ihm früher gelegentlich polemisch entgegengehalten wurde, Ausdruck dessen, dass er ein viel zu skrupulöser Mönch gewesen wäre. Angemessener wird man diese Haltung vor dem Hintergrund der beschriebenen Spannungen innerhalb der mittelalterlichen Frömmigkeit zu deuten haben: Äußerliches Bemühen konnte Luther spirituell nicht befriedigen. Am treffendsten beschreibt er selbst dies in einer Erinnerung aus dem Jahre 1525, wonach er, selbst wenn er alle Stundengebete absolviert hatte, nicht sicher gewesen sei, ob seine innere Haltung angemessen und würdig genug gewesen sei.10 5 6 7 8 9 10
Vgl. WA.TR 3, 598, 10f (Nr. 3767). WA 10/1/2, 436, 24. Vgl. WA 4, 665, 21f. Vgl. WA 28, 7, 11. Vgl. Constitutiones OESA pro reformatione Alemanniae, cap. 36. Vgl. WA 17/I, 112, 9–113, 2.
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Unter allen Anfechtungen war aber offenbar die schlimmste eine, die mit der Lehre des Ordenspatrons Augustin zusammenhing. Dieser hatte aus der theologischen Grundüberzeugung, dass alles Heil von der Gnade Gottes abhing, und den Ausführungen des Apostels Paulus in Röm 9–11 eine strenge und schroffe Lehre von der Prädestination entwickelt: Aus der eigentlich seit Adam ganz dem Verderben anheimgegeben Masse der Menschen hatte Gott aus grundloser Gnade schon vor ihrer Geburt und ohne Ansehung ihrer Person, ihrer Qualitäten oder ihres Tuns, Menschen ausgesucht, denen er das Heil schenkte – während er die anderen ebenso ohne erkennbaren Grund ihrem Verderben überließ. Diese Lehre war in der mittelalterlichen Theologie nur selten – etwa bei dem Mönch Gottschalk († ca. 870) im 9. und dem kurz vor seinem Tod noch zum Erzbischof geweihten Thomas Bradwardine († 1349) im 14. Jahrhundert – in voller Schärfe entfaltet worden, bildete aber in abgemilderter Form einen Grundbaustein theologischen Denkens über Jahrhunderte. Luther erfasste sie nun offenkundig in aller existentiellen Schärfe. Wenn Gottes Auswahl zum Heil grundlos ist, bedeutet dies für den Einzelnen auch: So wenig wie er seine eigene innerliche Haltung beim Stundengebet recht erfassen kann, so wenig kann er an sich wahrnehmen, ob er zu jenen gehört, die Gott erwählt, prädestiniert hat. Auch wer den gegenüber einfachen Laien vermeintlich sichereren Weg des asketischen Lebens im Orden, die via securior, beschritten hatte, durfte sich nicht sicher sein, dass dieser zum Himmel führte. Auch wenn sich diese Prädestinationssorgen während Luthers Phase als Mönch entwickelten, muss man sich aus der Rückschau deutlich machen: Ihr Grund lag keineswegs in der monastischen Existenz als solcher. Luthers Problematik wurzelte tiefer als in einer bestimmten sozialen Existenzform. Und ihren Grund hatte sie gerade in einer Theologie, deren Schärfen sonst im mittelalterlichen Kontext eher gekappt wurden. Vor allem aber ist es bedeutsam, dass das System geistlicher Begleitung innerhalb des Ordens an diesem Punkt nicht etwa versagte, sondern griff. Luther berichtet später von einem Gespräch mit seinem Beichtvater Johannes von Staupitz: „Ich führte einmal bei meinem Staupitz Klage über die Erhabenheit der Prädestination. Er antwortet mir: In den Wunden Christi versteht und findet man die Prädestination, nirgendwo anders, denn es ist geschrieben: ‚Diesen hört!‘ Der Vater ist zu hoch, aber der Vater hat gesagt: Ich werde euch einen Weg geben, um zu mir zu gelangen, freilich Christus. Geht, glaubt, hängt euch an Christus, so wird es sich wohl finden, wer ich bin, zu seiner Zeit. Das tun wir nicht, daher ist Gott für uns unbegreiflich, undenkbar; er wird nicht begriffen, außerhalb Christi will er nicht erfasst sein“.11
11 WA.TR 2, Nr. 1490 (112, 9–16); Übers. V.L.
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Luther kam immer wieder auf diesen Ratschlag von Staupitz zurück – und dies aus gutem Grund. Er hat ihn offenkundig nicht nur in dieser Situation als hilfreich empfunden. Tatsächlich lässt sich hieran die Entstehung des reformatorischen solus Christus, Christus allein, noch im monastischen Kontext nachvollziehen. Es war Staupitz selbst, der Luther die Konzentration aller Theologie und Spiritualität auf Christus nahebrachte, ihm zeigte und ihn spüren ließ, dass er hierin Trost finden konnte. Gegenüber allen ängstigenden Vorstellungen von Gott, die Luther auch kannte, war hier eben jener gnädige Gott zu finden, den er suchte. Dieses mittelalterliche Erbe führte er später in seiner reformatorischen Theologie fort, und es ist bleibender Bestandteil evangelischer Frömmigkeit. Angesichts der sich vertiefenden Einsicht in die Sündigkeit des Menschen – in der Römerbriefvorlesung steigerte Luther diese Erkenntnis bis hin zu dem Satz, dass die Ursünde ein peccatum radicale sei, eine Wurzelsünde –12 gewann für Luther auch die Frage der Buße immer größeres Gewicht. Dabei verschränkten sich in besonderer Weise akademische Bemühung um die Erfassung des biblischen Textes, Predigtaufgabe und existentieller Bezug auf die gelebte Spiritualität. Wiederum war es Staupitz, der Luther in letzterer Hinsicht Hilfe schenkte: „Ich erinnere mich, ehrwürdiger Vater, dass bei Deinen so anziehenden und heilsamen Gesprächen, mit denen mich der Herr Jesus wunderbar zu trösten pflegt, zuweilen das Wort ‚Buße‘ gefallen ist. Es erbarmte uns des Gewissens vieler und jener Henker, die mit unerträglichen Geboten eine Beichtvorschrift (wie sie es nennen) vorlegen. Dich aber nahmen wir auf, als ob Du vom Himmel herab redetest: dass wahre Buße allein mit der Liebe zu Gerechtigkeit und zu Gott beginne. Was jene für das Ziel und die Vollendung der Buße hielten, das sei vielmehr der Anfang“.13
Diese Passage aus Luthers Widmungsschreiben zur Erläuterung der Ablassthesen steht im Kontext eines Berichtes, der in vielem Luthers sehr spätem Rückblick auf seine reformatorische Entdeckung aus dem Vorwort zur Ausgabe seiner lateinischen Werke von 154514 entspricht, freilich mit dem hier erkennbaren markanten Unterschied: dass nicht die iustitia, Gerechtigkeit, im Mittelpunkt der Entdeckung steht, sondern die Buße: poenitentia. Dies spricht dafür, dass Luther in beiden Berichten jeweils versucht, eine langanhaltende Entwicklung in einem Punkt zu konzentrieren.15 Jedenfalls wird man sich angesichts dieser Beobachtung davon verabschieden müssen, anzunehmen, dass Luther sich schlagartig aufgrund einer neuen Fassung der Rechtfertigungslehre von der mittelalterlichen Theologie und Spiritualität gelöst habe. Vielmehr war der Prozess theologischer Neubestimmung ein 12 13 14 15
Vgl. WA 56, 277, 12. WA 1, 525, 4–14; Luther Deutsch 2, 28. Vgl. WA 54, 185, 12–186, 20. Zu Details vgl. Leppin, Aufnahme mystischer Traditionen.
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schleichender und hatte sein Zentrum in dem existentiellen Vorgang der Buße. Neben Paulus und Augustin war für diese Entwicklung von besonderer Bedeutung die Literatur der Mystik: Eben um das Jahr 1515, auf das Luthers Äußerungen in dem Widmungsschreiben verweisen, entdeckte er Johannes Taulers Predigten für sich und befasste sich hier in besonderer Weise mit der Frage der Buße: Begeistert las er, dass das Entscheidende hieran nicht der Gang vor den Beichtvater sei, sondern die echte, tiefe Reue über die Sünden vor Gott. In Predigten entfaltete er in der Folgezeit den Gedanken weiter, bis dieser schließlich in die beiden ersten Thesen gegen den Ablass mündete: „1. Da unser Herr und Meister Jesus Christus sagt: ‚Tut Buße‘ usw., wollte er, dass das ganze Leben der Gläubigen Buße sein sollte. 2. Dieses Wort kann nicht von der sakramentalen Buße verstanden werden, d. h. nicht von der Beichte und der Genugtuung, die durch das priesterliche Amt vollzogen wird.“16
Für die heutige Forschung ist es längst Gemeingut, dass diese Thesen nicht einfach den Anfang der Reformation darstellen. Man wird es aber noch zugespitzter sagen dürfen: In ihnen kommt vor allem die verinnerlichte Frömmigkeitstradition der spätmittelalterlichen Mystik zu einem klaren Ausdruck.
2.
Transformationen der Spiritualität
2.1
Gottes Ferne
In einem späten Rückblick in einer Tischrede aus dem Jahr 1542 reflektierte Luther noch einmal den Ratschlag, den Staupitz ihm in seiner Prädestinationsanfechtung gegeben hatte. Aber er interpretierte ihn nun mit Begriffen, die in dem damaligen Gespräch wohl noch nicht gefallen waren. Staupitz hatte ihn, so die jetzige Erinnerung, auf Christus hingewiesen und diesen dem nicht offenbarten Willen Gottes beziehungsweise dem verborgenen Gott entgegengestellt: dem Deus absconditus.17 So gedeutet, verbindet Luther auf höchst interessante Weise den geistlichen Ratschlag mit einer theologischen Zentralidee, die er in seiner großen Schrift „De servo arbitrio“ im Jahre 1525 entwickelt hatte: Dass der Mensch nicht spekulierend nach dem Deus absconditus suchen solle, sondern sich an den Deus revelatus, den offenbaren Gott, halten solle. In Jesus Christus hat Gott sich selbst und seinen Willen mit den Menschen mitgeteilt – auch wenn es manches Geschehen in der Welt und im individuellen Leben gibt, das den16 WA 1, 233, 10–13; Luther Deutsch 2, 32. 17 Vgl. WA.TR 5, 294, 10.34 (Nr. 5658a); vgl. auch den Zusammenhang in der Genesisvorlesung: WA 43, 458, 35–463, 17.
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kerisch mit dieser gnädigen Zuwendung Gottes nicht zusammenzubringen ist. Der geistliche Ratschlag wie seine theologische Reflexion laufen auf dasselbe Ziel hinaus: Vom Grübeln über den unerkannten und fremden Willen Gottes abzulassen und sich ganz an Christus zu halten. Dass Luther diesen Ratschlag in Erinnerung brachte, ist Ausdruck dessen, dass in seiner Frömmigkeit auch Raum für den fernen Gott war: Das Bewusstsein, dass Gott dem Menschen nicht nur gnädig erscheint, bestimmte Luthers reformatorische Spiritualität in hohem Maße. Die Sorge um die Prädestination, die ihn als jungen Menschen umgetrieben hatte, war auch im Rahmen der an Augustin orientierten reformatorischen Theologie nicht verschwunden. Wohl aus dem Jahr 1543 stammt ein – freilich für den Druck bearbeiteter – Brief an eine hochstehende Persönlichkeit, in welcher Luther diese in ihren Sorgen um die Erwählung ganz im Sinne von Staupitz mahnte, nicht zu grübeln, sondern sich an das Wort der Verheißung zu halten.18 Und doch weiß er um die dunklen Seiten Gottes und spricht sie auch aus. So, wie aus der völligen Abhängigkeit von Gott konsequenterweise die Prädestinationslehre folgen muss, gilt auch, noch weiterreichender: „Im übrigen beweint der verborgene Gott in der Majestät den Tod nicht und hebt ihn nicht auf, sondern er wirkt Leben und Tod und alles in allem“.19 Eben die Allwirksamkeit Gottes, die Luther im Großen Katechismus dankbar im Bekenntnis des Glaubenden entfalten konnte, „das er mir geben hat und on unterlas erhelt leib, seele und leben, gliedmasse, klein und gros, alle synne, vernunfft und verstand und so fort an, essen und trincken, kleider, narung, weib und kind, gesind, haus und hoff etc.“20, zeigte in Leid und Tod auch ihre bedrohliche Seite. Freilich wies der Ursprung des Bösen auch eine Ambivalenz auf: Ursprung des Bösen war für Luther nicht immer direkt und unmittelbar Gott, sondern vielfach der Teufel. So kann es im selben Großen Katechismus, in der Vaterunserauslegung, heißen: „Darumb haben wir auff erden nichts zu thuen denn on unterlas widder diesen heuptfeind zu bitten. Denn wo uns Gott nicht erhielte, weren wir keine stunde fur yhm sicher.“21 Man kann diese Spannung theologisch durch den Gedanken der Zulassung einfangen.22 Existenziell mindert dies Luthers tiefe Erfahrung einer bedrohlichen Nähe des Teufels nicht: Als „Mensch zwischen Gott und Teufel“ (Oberman) erfuhr Luther sich immer wieder und erlebte den Widersacher Gottes dabei nicht nur als abstrakte Macht, sondern auch als sehr konkrete Figur, die ihm auch einmal in Gestalt einer schwarzen Sau oder eines Hundes begegnen konnte.23 Doch blieb damit das 18 19 20 21 22 23
Vgl. WA.B 10, 488–495 (Nr. 3967). WA 18, 685, 21–23; Übers. V.L. WA 30/1, 183, 33–184, 2. WA 30/1, 211, 5–7. Vgl. WA.TR 2, 172, 23–25 (Nr. 1671). Vgl. WA.TR 5, 87, 16–88, 3 (Nr. 5358b).
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Bewusstsein von Gott als dem letzten Ursprung nicht nur von Heil und Wohlergehen, sondern auch von Verderben und Unglück erhalten. Hierin liegt der tiefste Grund für die Anfechtungserfahrungen. Diese bleiben dauerhaftes Erbe der klösterlichen Existenz auch unter reformatorischen Bedingungen. 1528 berichtete Martin Luther, dass ihm diese von Jugend an vertraute Erfahrung keineswegs entschwunden sei, sondern sie sogar noch immer stärker werde,24 und wenig später verwies er gegenüber seinem Vertrauten Hieronymus Weller zum Trost in der Anfechtung auf seine eigene Klosterzeit.25 Wie man mit solchen Anfechtungen umgehen sollte, hatte er schon 1521 in seiner vielfach gedruckten „Tröstung für eine Person in hohen Anfechtungen“ ausgeführt und seinen Ratschlag in sechs Punkte unterteilt: Erstens solle man sich bewusst sein, dass man sein Fundament nicht in sich selbst, sondern in Gott habe. Zweitens sich bewusst halten, dass man die Erfahrung der Anfechtung mit anderen teile, drittens sich nach dem Vorbild Christi in Lk 22,42 ganz auf den Willen Gottes verlassen, sodann viertens den bösen Geist durch das Lob Gottes vertreiben, fünftens das Leiden tragen, ohne nach den Gründen zu forschen, und sich dabei durch das Gebet Ps 142 trösten. Schließlich solle man allen Zweifel an Gottes Gebetserhörung meiden.26 Alles also lief auf ein immer neues Vertrauen in Gott hinaus: Derselbe, der die Anfechtung sandte, war auch der einzige, der in ihr Trost spenden konnte. So konnten die Anfechtungen, tentationes, auch ihren positiven Sinn gewinnen: Erst durch sie hat Luther nach seinem eigenen Bekenntnis seine Theologie entwickeln können,27 und er konnte die Zusammengehörigkeit von Gebet, Meditation und Anfechtung – oratio, meditatio, tentatio – geradezu zu der maßgeblichen Weise, Theologie zu treiben, erklären.28 Die Anfechtung sei der „Pruefestein, die leret dich nicht allein wissen und verstehen, sondern auch erfaren, wie recht, wie warhafftig, wie suesse, wie lieblich, wie mechtig, wie troestlich Gottes wort sey, weisheit uber alle weisheit“.29 Die existentielle Erfahrung von Leid und Unglück war für Luther aber nur die eine Seite der Erfahrung von Gottesferne. Im Horizont seiner Rechtfertigungslehre entscheidend war, dass der Mensch von sich aus vor Gott ausschließlich als Sünder steht. Dies ist nicht nur eine Erfahrungstatsache, sondern wird ihm auch von außen, durch Gott selbst aufgewiesen: Die wesentliche Funktion des Wortes Gottes ist es, ihm im „theologischen“ oder „aufweisenden“ Gebrauch seinen Stand als Sünder vorzuhalten. Der Ruf zur Buße als Lebensänderung, der die 24 25 26 27 28 29
Vgl. WA.B 4, 319 (Nr. 1197, 6f). Vgl. WA.B 5, 519 (Nr. 1670, 24–34). Vgl. WA 7, 785–791 Druckfassung. Vgl. WA.TR 1, 146, 12–14 (Nr. 352). Vgl. WA 50, 659, 3f. A. a. O., 660, 1–4.
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Ablassthesen begründete, verstummte nicht, sondern blieb prägend für reformatorische Frömmigkeit. Sie verdrängte auch nicht gleich die private Beichte. Aus seiner klösterlichen Erfahrung wusste Luther um deren Nutzen: „Ja, ich were langst vom teüffel erwürgt, wenn mich nit die beichte erhalten hett. Dann es sind vil zweyfeliche sachen, die der mensch nit erreychen kan noch sich darjnn erkuonden, so nympt er seinen bruoder auff ein ort und helt jm für sein anliegende not“.30 Folgerichtig mahnte er – übrigens gemeinsam mit Melanchthon –31 den Rat der Stadt Nürnberg noch 1533, die private Absolution und mir ihr konsequenterweise die Privatbeichte nicht fallen zu lassen.32 Die Verbindung mit der grundlegenden Kritik am herkömmlichen Bußsakrament aus den Ablassthesen machte er in seiner bald auch zusammen mit anderen gemeinsam gedruckten Palmsonntagspredigt von 1524 deutlich.33 Die Stellung im Kirchenjahr gab Luther Anlass, über die seit dem Vierten Laterankonzil geltende Verpflichtung zur Kommunion an Ostern mit vorheriger Beichte zu predigen. Er unterschied drei Gestalten von Beichte. Die erste war jenes aus mystischer Tradition bekannte Bekenntnis der Sünden unmittelbar vor Gott, die zweite, dass „wenn eyner seynem nehisten leyd than hat, sol ers fur yhm bekennen“34. Die dritte war die Privatbeichte vor dem Priester. Vehement wandte Luther sich im Namen christlicher Freiheit dagegen, sie verpflichtend zu machen, erklärte aber: „doch ist sie geratten und gut“35, vor allem, um das Wort der Zusage in der Absolution zu hören. Auch mit diesen seit dem Ende der Privatbeichte durch Pietismus und Aufklärung im Luthertum wenig präsenten Hinweisen Luthers wird vor allem eines deutlich: Der Blick auf die eigene Sünde ist nicht das Ziel evangelischer Spiritualität, sondern verweist auf Christus als den einzigen Retter. So formte Luther sein mystisches Erbe um: Auch für Meister Eckhart und Tauler war es eine feste Überzeugung gewesen, dass der Mensch zunächst in seiner Eigensucht fern von Gott stand. Erst der mystische Weg zu Gott eröffnete eine neue Nähe. Für Luther war es das Wort Gottes, das einen solchen Weg bahnte: drohend mit Gottes Zorn im Gesetz und verheißend im Evangelium von Jesus Christus.
30 31 32 33 34 35
WA 10/3, 62, 1–4. S. den Artikel von M.H. Jung in diesem Band. Vgl. WA.B 6, 454f (Nr. 2010). Vgl. WA 15, 481–497. A. a. O., 483, 30f. A. a. O., 485, 24.
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Die Nähe Christi
Schon in der Rede vom Deus absconditus und dem ihm gegenüberstehenden Deus revelatus wird erkennbar, dass die ganze Spiritualität Luthers auf Christus ausgerichtet ist. Wie schon die Hinweise auf Staupitz zeigen, steht er damit in einer reichen Tradition spätmittelalterlicher Frömmigkeitstheologie. Vesperbilder mit dem toten Jesus auf dem Schoß seiner Mutter und Schmerzensmannbilder, auf denen der Heiland seine Wunden zeigt, leiteten zur Meditation der Passion an. Viele Texte, etwa die für den sächsischen Kurfürsten verfasste „himmlische Fundgrube“ des Johannes von Paltz, stellten dies in den Mittelpunkt. Vor diesem Horizont verfasste auch Luther 1519 seinen „Sermon von der Betrachtung des heyligen leydens Christi“,36 in welchem er jene dialektische Beziehung von Erschrecken und Gnade christologisch konzentrierte: Im Betrachten Christi sollte der Glaubende erschrecken und sich selbst und seine Sünde als Ursprung der Leiden Christi erkennen. Je mehr er dies tut, desto gewisser kann er seine Sünden auf Christus werfen und ihn als seinen Erlöser erkennen. Diese sehr konkrete, liturgisch auf die Fasten- und Osterzeit ausgerichtete Meditation hat Luther dann der Sache nach in seinem Freiheitstraktat von 1520 aufgenommen, in welchem er, ganz der mystischen Literatur entsprechend, Christus als den Bräutigam der Seele pries, der alle Sünde des Menschen auf sich nahm. In diesen Ausführungen wird deutlich, dass die Nähe Christi zu den Menschen auf deren Seite als allererstes ein Empfangen bedeutet. Die Spiritualität, die Luther anmahnt, ist eine ganz und gar passive – auch wenn aus der Begegnung mit Christus und dem Austausch mit ihm die Zuwendung zum Nächsten und damit eine neue christliche Diakonie und Aktivität erwächst, ist diese doch für das Gottesverhältnis nicht entscheidend. Vielmehr gilt es, Raum für die Begegnungen mit Christus zu lassen. Solche ereignen sich vor allem in Wort und Sakrament. In Auseinandersetzung mit den sogenannten „Schwärmern“ – zunächst insbesondere Andreas Karlstadt (1486–1541) und Thomas Müntzer († 1525) – betonte Luther immer mehr das „Leiblich wort“37, das heißt, die lebendig erklingende Stimme des Evangeliums. Karlstadt und Müntzer hatten beide das mystische Erbe des Mittelalters unmittelbarer in die reformatorische Bewegung eingebracht als Luther. Der Betonung des Inneren setzten sie keine Kontrolle durch Äußeres entgegen. Luther hingegen wurde immer deutlicher, dass eine solche Kontrolle nötig sei. So betonte er das extra nos das „Außerhalb-unser“ des
36 Vgl. WA 1, 136–142. 37 WA 15, 507, 22f u. ö.
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Wortes: Hierdurch konnte er sicher sein, dass im Schriftwort Gottes Geist selbst und nicht der eigene Geist des Menschen wirksam war. Gegen Karlstadt betonte er: „Das wort, das wort, das wort, hoerestu du luegen geyst auch, das wort thuts, Denn ob Christus tausentmal fur uns gegeben und gecreutzigt wuerde, were es alles umb sonst, wenn nicht das wort Gottes keme, und teylets aus und schencket myrs und sprche, das soll deyn seyn, nym und habe dyrs“.38 Das Wort also erst schafft die Gegenwart Christi bei und in den Glaubenden. Diese Grunderkenntnisse hat Luther schon sehr früh, in seiner ersten Psalmenvorlesung aus den Jahren 1513–1515 formuliert: Aus den Worten der Schrift begehren die Glaubenden den Heiligen Geist,39 und die Schrift selbst wandelt dann die Glaubenden in einer Weise, deren Formulierung die Prägung durch die Mystik schon vor der Begegnung mit Tauler erkennen lässt: „und mache dir klar, dass die Kraft der Schrift diese ist, dass sie nicht in den verwandelt wird, der sie studiert, sondern dass sie den, der sie liebt in sich selbst und ihre Eigenheiten verwandelt“40. Wie eng die Verbindung des Wortes der Schrift mit Christus ist, zeigt Luthers berühmte Formulierung aus der Vorrede zum Jakobusund Judasbrief im Septembertestament von 1522, dass die apostolischen Bücher „alle sampt Christum predigen und treiben“.41 Die Geistbestimmtheit des Schriftwortes unterscheidet den von Luther geforderten Umgang mit der Heiligen Schrift demnach auch von einem reinen Biblizismus, dem jedes Wort der Bibel gleich viel wert wäre: Für Luther ist es die Christus treibende, Glauben weckende Kraft des Wortes, die die Schrift im Kern ausmacht. Auf die so verstandene Schrift aber soll sich das ganze Glaubensleben, ja, das Leben überhaupt konzentrieren: „Und wenn wuendschen hulffe, wer keyn bessers tzu wundschen, denn das schlecht alle bucher abthan weren unnd nichts bliebe bey aller welt, zuuor bey den Christen, denn die blosse lautter schrifft oder Biblie“.42 Um der Aneignung des Glaubens, aber auch seiner dogmatischen Festigung willen, hoffte Luther daher, dass die Zusammenfassung des christlichen Glaubens in Loci communes, wie sie Melanchthon 1521 vorgenommen hatte, die Christen dazu befähigen möge, dass sie „darnach die schrifft selbs lesen kuendten und jhene weitter stercken und spicken, auff das sie des glaubens und der schrifft gewaltig wuerden, so moecht es wol stehen umb die Christenheit“43. Die andere Weise, in der Christus den Glaubenden nahekommt, ist das Sakrament, vor allem das Abendmahl. Ähnlich wie im Falle des Schriftwortes verbindet Luther hier die materielle Seite, das Brot, in ganz besonderer Weise mit 38 39 40 41 42 43
WA 18, 202, 37–203, 2. Vgl. WA 3, 256, 1f. WA 3, 397, 9–11; Übers. VL. WA.DB 7, 384, 25f. WA 10/1/1, 627, 16–18. WA 17/2, 319, 11–13.
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dem Heiligen Geist. Dabei steht das Sakrament als äußeres Zeichen dem Wort keineswegs gegenüber – im Gegenteil: Über die Einsetzungsworte schreibt er 1523: „Darumb weytt mehr an dißen wortten gelegen ist denn an dem sacrament selbs, und eyn Christen sich auch gewehnen soll, viel mehr auff diße wortt achten denn auff das sacrament“.44 Dennoch erhält das Abendmahl ein eigenes, von der Predigt unterscheidbares Gewicht. Vor allem in Auseinandersetzung mit der Abendmahlslehre Huldrych Zwinglis gewann bei Luther die Auffassung Gestalt, dass das Geheimnis der Naturen Christi ein neues Wirklichkeitsverständnis begründete: Wenn sich in Christus selbst menschliche und göttliche Natur aufs innigste verbanden, war es unsinnig, wie Zwingli Geist und Materie schroff zu trennen. Vielmehr entstand im Brot des Abendmahls eine neue, geistdurchdrungene Wirklichkeit: Mit dem äußeren Brot war auf eine durch die Vernunft nicht aufzulösende Weise die göttliche Natur Jesu Christi verbunden. Damit rückt in Luthers Spiritualität neben der Predigt das Abendmahl in besonderer Weise in den Mittelpunkt. Es bringt die leibliche Begegnung mit Jesus Christus selbst und eröffnet zugleich auch, ähnlich wie die Schrift, eine mystisch gefärbte Dimension. 1523 benannte Luther in seiner Gründonnerstagspredigt „zween nutze und fruecht des sacraments. Die erste, die uns macht bruder und miteerben Christi, also das wir werden eyn kuchen mit Christo. Die ander macht, das wir auch werden eyn kuchen mit einander als mit dem nehisten.“45 Das von Luther auch sonst oft gebrauchte Bild des Kuchens macht deutlich, dass die Nähe zu Christus im Abendmahl der durch die Predigt bedingten nicht nachsteht – und es zeigt zugleich, dass Luthers Spiritualität keineswegs auf Individualisierung oder gar Vereinzelung hinausläuft: Indem im Zentrum der Christusbegegnung grundlegende kirchliche Akte, Predigt und Abendmahl, stehen, heißt Verbindung mit Christus immer auch Einverleibung in seinen irdischen Leib, die Kirche.
2.3
Der antwortende Mensch
Die primäre Haltung des Menschen gegenüber Gott ist der Glaube. So heißt es im Großen Katechismus: „Also das der Glaube nichts anders ist denn ein antwort und bekentnis der christen auff das erste gepot gestellet“.46 Der Glaube schließt als erstes und höchstes Werk alle anderen Werke ein, wie Luther vor allem in seiner Schrift „Von den guten Werken“ ausführt.47 Hiermit gelangt er an die 44 45 46 47
WA 11, 432, 25–27. WA 12, 485, 1–3. WA 30/1, 183, 20f. Vgl. WA 6, 202–276.
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paradoxale Grenze dessen, was über christliche Frömmigkeit gesagt werden kann: So grundlegend sie passiv und rein empfangend ist, so sehr nimmt sie doch auch den Glaubenden in ein aktives Geschehen hinein. Selbst der von Gott geschenkte Glaube äußert sich als eine vom Menschen erfahrbare Wendung zu Gott und kann entsprechend auch weiter entfaltet werden. In einer Predigt zum 29. Oktober 1525 betonte Luther vor allem, dass der Glaube „ein lebendig und unruwig ding“ sei.48 Vor diesem Hintergrund der Wendung gegen ein bloß statisches Glaubensverständnis konnte er auch die Vorstellung eines Wachstums im Glauben entfalten:49 Der Glaube ist nicht einmal gegeben, sondern ihn zu pflegen und immer neu mit Leben zu füllen, ist der wesentliche Inhalt reformatorischer Spiritualität. In eben dieser Predigt kündigte Luther auch seine Deutsche Messe an,50 die im folgenden Jahr im Druck erschien. Sie gab der Ausübung gemeinschaftlicher Frömmigkeit Gestalt. Luther unterschied in der Vorrede drei Gestalten des Gottesdienstes:51 Zum einen gebe es den lateinischsprachigen Gottesdienst, der ausdrücklich aufrecht erhalten bleiben sollte. Für die Laien aber, die des Lateinischen nicht mächtig sind, galt die deutschsprachige Messe, deren wichtigster liturgischer Akzent die Ausrichtung des gesamten Geschehens, bis hin zu den verwendeten Melodien, auf die Verkündigung war. Schließlich benannte Luther eine „dritte weyse, die rechte art der Euangelischen ordnunge haben solte“. In ihr sollten sich die, „so mit ernst Christen wollen seyn“, in Privathäusern zum Gebet versammeln.52 Diese Vision, die im Pietismus vielfach rezipiert wurde, hatte für Luther noch weitgehend eschatologischen Charakter: Er betonte, dass die Menschen, die dies vermöchten, noch nicht bereitstünden und er es daher bei den beiden genannten öffentlichen Gottesdienstformen belassen wolle. Auch die Katechismusunterweisung in der Familie, die er durchaus kannte und vorsah, fiel ausdrücklich nicht unter jene Form des Gottesdienstes für die ernsthaft Christlichen.53 Für Luthers Vorstellung von christlicher Gemeinde war aber eben diese Unterweisung durch den Hausvater im privaten Bereich zentral. Er übte diesen Brauch selbst in seiner Familie, die nach der Eheschließung mit Katharina von Bora 1525 im ehemaligen Schwarzen Kloster wuchs.54 In der ursprünglichen Vorrede zum Großen Katechismus wird Luthers diesbezügliche Erwartung deutlich: „Daruemb auch ein yglicher hausvater schueldig ist, das er zum wenigsten die wochen einmal seine kinder und gesinde umbfrage und 48 49 50 51 52 53 54
WA 17/I, 445, 13. Vgl. a. a. O., 19f. Vgl. a. a. O., 459, 15f. Vgl. WA 19, 73, 32–75, 30. A. a. O., 75, 3–5. Vgl. WA 19, 76, 19–23. Vgl. WA.TR 2, 194, 12f (Nr. 1727).
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verhoere, was sie davon wissen odder lernen, Und wo sie es nicht konnen, mit ernst dazu halte“55. Einübung in das Glaubensleben beginnt im Haus – und die Nachrichten über Luthers Familienleben lassen erahnen, wie dies im Einzelnen aussah. Vor Tische lasen die Kinder aus dem Evangelium vor.56 Und den Tag beschloss ein vom Vater gesprochener Abendsegen, dessen Gestalt Konrad Cordatus überliefert hat: „Ghe hin schlaffen, liebes kinnichen, vnd nur bis frum. Gelt will ich dir nicht lassen, aber ein reichen Gott will ich dir lassen, nur sey frum.“57 Auch gemeinsames Gebet wurde geübt, und zwar nicht nur für das eigene Wohl, sondern, wie Luther aus der Ferne schrieb: „für den lieben Fürsten und für mich“58. Diese Strukturierung des Tages durch einzelne Akte des Glaubenslebens stellt gewiss ebenso eine Transformation des klösterlichen Lebens in die reformatorische Christenheit dar, wie dies beim Stundengebet der Fall ist: Luther hat zwar dessen Auswüchse im Mittelalter scharf kritisiert, es aber keineswegs völlig abgeschafft. Vielmehr sollte es, wie insbesondere Andreas Odenthal gezeigt hat, als gemeindliche Praxis erhalten bleiben. Das monastische Erbe prägte nicht nur in dieser Hinsicht Luthers Gebetspraxis und -lehre. Von seinem eigenen Gebet gibt ein Bericht Veit Dietrichs an Melanchthon vom 30. Juni 1530 einen lebhaften Eindruck: „Ken Tag vergeht, ohne dass er nicht mindestens drei Stunden […] im Gebet verbringt. Einmal geschah es mir, dass ich ihn im Gebet hörte. Guter Gott, welcher Geist, wie viel Glaube liegt in diesen Worten!“59. So intensiv diese Schilderung ist: An ein freies Gebet ist schwerlich zu denken. Seit seinem Klostereintritt war Luther mit dem Psalter als Gebetbuch der Christen vertraut und nahm ihn als wichtigstes Gebetbuch. Auf ihn griff er auch zurück, als er selbst im Jahre 1522 sein „Betbüchlein“ in den Druck gab. Es enthielt die Katechismusstücke Dekalog, Glaubensbekenntnis und Vaterunser. Ihnen folgte das Ave Maria, freilich mit erläuternden Bemerkungen, durch welche Luther sich dagegen verwahrte, dass hierdurch Maria oder andere Heilige zum Grund des glaubenden Vertrauens genommen werden sollten. Hierin spiegelt sich die Entwicklung seines Heiligenverständnisses, nach welchem es durchaus Menschen gab, deren man in besonderer Weise gedenken kann, aber nicht wegen ihres Tuns, sondern allein wegen der Gnade, die Gott an ihnen hatte sichtbar werden lassen. Hierauf folgte eine Sammlung von Psalmen. Luther hat sie nicht einfach der Reihenfolge im Psalter nach aufgeführt, sondern thematisch gruppiert: Dem Gebet „umb erhebung des heyligen Euangelions“ sollte der 12. Psalm dienen, der Zunahme des Glaubens der 67., von der Erbsünde handelte der 51. Psalm, dem 55 56 57 58 59
WA 30/1, 129, 20–23. Vgl. WA.TR 5, 227, 13 (Nr. 5544). WA.TR 3, 26, 15–17 (Nr. 2848a). WA.B 6, 271 [Nr. 1908, 38f). MBW.T 4/1, 303 (Nr. 949, 15–17); Übers. VL.
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Dank war der 103. gewidmet, der 20. war bestimmt für das Gebet um gute Obrigkeit, der 79. richtete sich gegen die Feinde des Evangeliums. Hieran schloss der 25. Psalm an als „gemeijn gepet sich gotte zu befellen“. Der abschließende 10. Psalm war anfänglich noch nicht eigens qualifiziert, wurde aber in späteren Auflagen als gegen den Antichristen, also nach Luthers Verständnis das Papsttum, gerichtet gedeutet. Mit diesem Betbüchlein hatte die Gemeinde ein Instrument in der Hand, das es im alltäglichen Leben begleiten konnte. Die besondere Leistung Luthers lag – nach dem Vorbild eines kurz zuvor von Georg Spalatin verfassten Gebetbuches – in der Konzentration der Gebete auf einige wenige fundamentale Texte. Hierin unterschieden sich die reformatorischen Werke deutlich von ihren spätmittelalterlichen Vorgängern. Zwei von ihnen, den Hortulus animae und den Paradisus animae, erwähnte Luther polemisch in seiner Einleitung zum Betbüchlein. In beiden Fällen – der Hortulus ist in vielen Varianten erhalten, der Paradisus nur in einer 1498 in Basel gedruckten Fassung – handelte es sich um Anleitungen zum Gebet, die, gleichfalls mit vielen Psalmentexten durchsetzt, das gesamte Kirchenjahr, insbesondere auch seine Marien- und sonstigen Heiligentage entlanggingen. Dem zog Luther die über einzelne Anlässe hinausgehenden, grundsätzlich das Verhältnis des Menschen zu seinem Schöpfer und Erlöser reflektierenden, biblischen Vorlagen vor. Dass er auch mit seiner Gebetsreform an spätmittelalterliche Formen anknüpfen konnte, bleibt hiervon unbenommen. Dies gilt insbesondere für seine Kritik an veräußerlichtem Gebet, wie er sie in der Einfältigen Weise zu beten aus dem Jahre 1535 besonders prägnant formulierte: „Fur war, es findet sich, das es der rechte Meister gestellet und geleret hat, Und ist jamer uber jamer, das solch gebet solchs Meisters sol also on alle andacht zu plappert und zu klappert werden jnn aller welt. Viel beten des jars vileicht etlich tausendt Pater noster, Und wenn sie tausent jar also sollten beten, so hetten sie doch nicht einen buchstaben oder tuettel davon geschmeckt noch gebettet.“60 Es ist offenkundig, dass Luther sich mit dieser Äußerung gegen ihm bekannte Formen spätmittelalterlicher Gebetspraxis wandte. Die Grundlage für seine Kritik hieran sah er in der Mahnung Jesu in Mt 6,7, die er im Septembertestament mit „Vnnd wenn yhr betet sollt yhr nitt viel plappern, wie die heyden“ übersetzt hatte.61 Tatsächlich hatte dieser Vers auch schon im späten Mittelalter mystischer Kritik an uninspiriertem Gebet gedient.62 Wie in anderen Bereichen, so erweist sich Luther auch hier als Erbe der spätmittelalterlichen innerlichen Frömmigkeit – und prägte genau so die werdende evangelische Spiritualität.
60 WA 38, 364, 20–25. 61 WA.DB 6, 32. 62 Vgl. Meister Eckhart, Expositio, 322, 3–6.
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Im Grundsatz knüpfte auch der evangelische geistliche Gesang an spätmittelalterliche Entwicklungen an – und dies war Luther durchaus bewusst: In der Vorrede vom Wittenberger Gesangbuch von 1524 verwies er darauf, dass der Gesang einen seit der Alten Kirche gepflegten Brauch darstelle.63 Das Singen hatte dabei vor allem die Aufgabe, „das heylige Euangelion, so itzt von Gottes gnaden widder auff gangen ist, zu treyben und ynn schwanck zu bringen“64. Luther war sich dessen bewusst, dass die Musik in besonderer Weise geeignet war, die Überzeugungen des Evangeliums zu verbreiten und zu verinnerlichen. Wie in anderen Zusammenhängen, so gilt auch hier: So sehr Luther die Musik schätzte, sie gewann keine Eigenständigkeit gegenüber dem Wort, trat aber in dessen Dienst, um den ganzen Menschen zu berühren. Die Kirchenmusik ist ein besonderer, aber nicht der einzige Fall für die Prägung der evangelischen Frömmigkeit durch Martin Luther. Er hat seine eigenen Prägungen und Anregungen aus der innerlichen Frömmigkeit des späten Mittelalters erfahren. Diese hat er nicht einfach fortgesetzt, sondern behutsam transformiert – als entscheidendes Scharnier des Wandels erweist sich dabei immer wieder der Bezug auf das äußere Wort Gottes. Dieses selbst wird zum Mittel der unmittelbaren Begegnung mit Christus – die bis hin zu der Verbindung in „einem Kuchen“ führte. Auch hierin wirkt in Luthers Spiritualität, später vielfach vergessen, die mystische Frömmigkeit des späten Mittelalters nach. Luthers Spiritualität ist reformatorisch – und wurzelt doch auch in der gemeinchristlichen Tradition des Mittelalters.
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63 Vgl. WA 35, 474f. 64 A. a. O., 474, 13f.
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Martin H. Jung
Die Spiritualität Philipp Melanchthons (1497–1560)
Als dem zweiten erstrangigen Wittenberger Reformator neben Martin Luther kommt Philipp Melanchthon (1497–1560) eine große geschichtliche, speziell auch theologiegeschichtliche Bedeutung zu, war er doch der Autor des ersten Lehrbuchs der evangelischen Theologie. Große Beachtung fand Melanchthon in den vergangenen Jahren auch als Brückenbauer und Friedensstifter, suchte und führte er doch gleichermaßen das Gespräch mit den Reformatoren in Zürich und Genf wie mit den Repräsentanten der alten Kirche. Doch auch für die Frömmigkeitsgeschichte der Reformationszeit ist er von nicht zu unterschätzender Bedeutung. Den Begriff Spiritualität kannte Melanchthon nicht. Er sprach von Fromkeyt, Frömmigkeit, lateinisch: pietas, aber davon sprach er häufig, allen Vorurteilen zum Trotz, die sich mit seinem Leben und Werk bis heute verbinden. Im Zentrum von Melanchthons Frömmigkeit stand das Gebet. Von ihm gibt es zahlreiche Gebete, er betätigte sich gegenüber seinen Studenten als Lehrer des Gebets und durch seine vielen, häufig sehr privaten Briefe gewinnen wir einen Einblick in seine eigene Gebetspraxis. Melanchthon beschäftigte sich ferner mit der Frage, wie eine neue, evangelische Form der Heiligenverehrung aussehen könnte, und praktizierte diese auch. Die dritte Dimension von Melanchthons Spiritualität ist der Umgang mit Leid. Wie jeder Mensch machte er Leiderfahrungen, aber wir sehen auch, wie er darüber reflektiert und wie er sie bewältigt hat. Als Letztes muss im Zusammenhang mit Melanchthons Spiritualität der von ihm oftmals herausgestellte Zusammenhang von Bildung und Frömmigkeit – pietas et eruditio – behandelt werden.
1.
Melanchthon als Beter
Die meisten Melanchthongebete, die uns überliefert sind, bestehen aus kurzen Gebetsseufzern, die ihm beim Arbeiten gekommen sind, niedergeschrieben in seinen Briefen. Wenn Melanchthon sich in einem Brief über die aktuellen Pro-
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bleme der Kirchen äußerte, fügte er gerne einen Gebetsgedanken ein, wie: „Möge Gott seine Kirche bewahren“.1 Auch wenn er an seine Freunde private Briefe schrieb und zum Beispiel anlässlich einer Hochzeit seine Glückwünsche übermittelte, formulierte er gleichzeitig eine kurze Gebetsbitte um göttlichen Segen für das Brautpaar und seine Familie.2 Diese Gebetsgedanken drückte Melanchthon meistens in indirekter Rede aus, das heißt, er redete Gott nicht direkt an, sondern sprach von Gott in der dritten Person. Dieser Stil, in Briefen Gebetsgedanken niederzuschreiben, war nicht Stil der Zeit, sondern eine Eigenart Melanchthons, die er allmählich herausgebildet hat und die Ausdruck seines Gebetslebens war. In den 1520er Jahren finden sich nur selten Gebete in Melanchthons Briefen. Aber in den 40er und 50er Jahren, in den letzten zwanzig Jahren seines Lebens, gibt es kaum einen Brief, der nicht ein Gebet enthält. Ja, manche Briefe enthalten sogar zwei oder drei kurze Gebete, und manchmal bestehen Briefe zur Hälfte aus Gebeten und gebetsähnlichen Formulierungen. Der betende Briefstil war Ausdruck der Tatsache, dass Melanchthon Gebetsgedanken bei seiner täglichen Arbeit immer begleiteten. Er praktizierte das sogenannte „ständige Beten“, das in der Christenheit, insbesondere im Mönchtum, immer als ein hohes Ideal angesehen worden war. Den biblischen Hintergrund hierfür bildet 1Thess 5,17 („Betet ohne Unterlass“). Da von Melanchthon sehr viele Briefe erhalten sind (die – noch nicht abgeschlossene – Neuedition des Melanchthon-Briefwechsels umfasst etwa 10.000 Texte), gibt es entsprechend viele solche Briefgebete. Doch es gibt auch noch andere Melanchthongebete. Schon seit den 20er Jahren, aber mit zunehmender Intensität im Alter, war Melanchthon darauf aus, seinen Schülern, Studenten und Freunden das Beten zu lehren. Aus diesem Grund hat er zahlreiche wohlüberlegte Gebete niedergeschrieben, die sich in zwei literarische Gattungen einteilen lassen: Gedichte und Prosatexte. Melanchthon hat gerne und viel gedichtet, teilweise in lateinischer und teilweise in griechischer Sprache. Und so sind auch viele Gebete in Gedichtform entstanden, kunstvolle Texte, die sich manchmal an Psalmen anlehnen. Diese Gebete im Stil antiker Gedichte zeigen Melanchthons Anliegen, seinen Schülern die hochstehende Bildung der Antike zu vermitteln und damit gleichzeitig die Übung christlicher Frömmigkeit zu verbinden. Beim Erlernen der lateinischen Dichtkunst sollten sich die Schüler und Studenten zugleich im Beten üben. Typisch für Melanchthons Beten waren diese Texte freilich nicht. Er bevorzugte eigentlich immer den Prosastil und liebte es, einfach und schmucklos zu sprechen, weil der Inhalt und nicht die sprachliche Form entscheidend sei. Auch an 1 MBW 5478. 2 Vgl. MBW 5805.
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Melanchthons Briefen und Reden lässt sich beobachten, dass er die aufwendige sprachliche Gestaltung, die er als junger, vom Humanismus geprägter Mensch noch geliebt hatte, später nicht mehr gepflegt hat, sondern einfach und verständlich, direkt und ohne Umwege sagte, was es zu sagen galt. Es gibt von Melanchthon mehrere hundert längere Gebetstexte im Prosastil. Er hat solche Gebete in seinen theologischen Lehrbüchern niedergeschrieben, er hat sie für Kirchenordnungen formuliert, und er hat sie in seine zahlreichen Reden eingebaut. Immer verfolgte er mit diesen Gebeten ein Ziel: den Lesern und den Hörern zu zeigen, wie man beten solle. Wenn wir Melanchthons Gebete im Prosastil betrachten, fällt uns die ausführliche Anrede Gottes auf, in der in der Regel die ganze Trinität angesprochen wird und in der Eigenschaften Gottes aufgelistet werden. Melanchthon ging es dabei einerseits um den doxologischen Preis der Gottheit und andrerseits darum, durch die sehr bestimmte Gottesanrede das christliche Beten vom heidnischen zu unterscheiden und an die zentralen Heilstatsachen (Tod und Auferstehung Jesu) zu erinnern, um im Beter die Gewissheit zu stärken, dass er gehört und erhört werde. Im Übrigen hatte Melanchthon zu unterschiedlichen Weisen des Betens ein ausgesprochen tolerantes Verhältnis. Oftmals hat er, wenn er über notwendige kirchliche Veränderungen diskutierte, betont, man dürfe das Gebetsleben von Menschen nicht leichtfertig stören oder gar zerstören. Als er 1529 zum letzten Mal vor ihrem Tod seine Mutter in Bretten besuchte, hat sie ihm geklagt, sie wisse angesichts der Veränderungen in der Kirche nicht mehr, was man glauben und wie man beten solle. Melanchthon hat sich darauf die Gebete seiner Mutter, die ja als Bürgerin Brettens noch im altgläubigen Frömmigkeitsmilieu lebte, vorsprechen lassen und hat daran nichts Anstößiges gefunden. Er hat seiner Mutter empfohlen, weiter wie bisher zu glauben und zu beten und sich durch die Auseinandersetzungen zwischen den Anhängern Luthers und denen der Papstkirche nicht aus der Fassung bringen zu lassen.3 In seinen theologischen Werken hat sich Melanchthon oft und immer wieder neu mit dem Gebet befasst. Es ist eines der Themen, denen er sich am häufigsten zugewandt hat. Dabei hat er eine differenzierte Gebetslehre entwickelt, die er je nach Zielgruppe seiner Schriften entweder wissenschaftlich-theologisch oder katechetisch entfaltet hat.4 Melanchthon geht davon aus, dass das Ziel der göttlichen Schöpfung und der Zweck der Erlösungstat Christi die Gottebenbildlichkeit des Menschen ist (vgl. Gen 1,27). Ein Ebenbild Gottes, so sagt Melanchthon, sei ein Mensch dann, wenn er ein Leben zum Lobe Gottes führe. Was will Gott vom Menschen? Melanchthon 3 Vgl. Adam, Vitae, 333. 4 Vgl. MSA II/22, 686–725 (Loci theologici 1559).
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sagt, Gott wolle erkannt und gepriesen werden.5 Gotteserkenntnis und Gottesanbetung, theologische Lehre und frommes Gebet sind also die zwei zentralen Aufgaben des Menschen. Jedem Beten muss aus der Sicht Melanchthons Gotteserkenntnis vorangehen. Zuerst muss man wissen, wer Gott ist, bevor man ihn anrufen kann. Melanchthon beobachtet, dass die Menschen zu allen Zeiten und in allen Religionen gebetet haben. Was unterscheidet das christliche vom nichtchristlichen Beten? Melanchthon meint, dass Nichtchristen bei ihrem Beten immer von Zweifeln erfüllt werden, ob sie gehört und erhört werden. Der Christ könne sich dagegen auf die Offenbarung Gottes in Jesus Christus und die göttlichen Zusagen verlassen, könne also fest auf die von Gott zugesagte Gebetserhörung vertrauen (vgl. Mt 7,7).6 Melanchthon war der festen Überzeugung, dass die Erhörung von Gebeten nicht nur möglich, sondern dass sie gewiss sei. Freilich, so sagte er, erfolge die Erhörung nicht immer zu dem Zeitpunkt und auf die Art und Weise, wie sich der Beter das gewünscht habe. Es gebe Fälle, in denen Gott den Glauben des Beters prüfen wolle, und manchmal wolle Gott etwas anderes und das heißt letztlich etwas Besseres geben, als erbeten worden sei. Dem Zweifler empfiehlt Melanchthon, mit dem Beten nicht aufzuhören, auch dann nicht, wenn Gott scheinbar nicht erhören wolle. Nur zwei Gründe gibt es für Melanchthon, warum Gott die Erhörung wirklich versagen könnte: wenn der Beter unbußfertig sei oder wenn die betende Gemeinschaft die evangelische Glaubenslehre nicht rein bewahre. Die Reinheit der Lehre ist wichtig für das rechte, für das „erfolgreiche“ Beten. An Melanchthons Gebeten überrascht, dass sie überwiegend aus Bitten bestehen. „Bitte und Fürbitte, Dank und Anbetung“ (Johannes Brenz) spielen bei ihm nicht gleichermaßen eine wichtige Rolle, sondern die Bitten und Fürbitten dominieren. Sie haben konkrete Anliegen, die aber doch so allgemein ausgedrückt werden, dass Gott nicht direkt vorgeschrieben wird, wie er handeln soll. Häufig steht die Bitte um die Sündenvergebung an erster Stelle. Daneben spielen persönliche und allgemeine, kirchliche und politische Belange gleichermaßen eine Rolle: Gesundheit, Bewahrung (einzelner Menschen, der Kirche, der Staaten, der Wissenschaften), Frieden, christliche und glückbringende Obrigkeiten, Segen, Erfüllung der göttlichen Verheißungen, Einheit der Kirche und der christlichen Lehre. Aber auch um Regen konnte Melanchthon in einer Zeit großer Trockenheit Gott anrufen.7 Beten war für Melanchthon vor allem Bitten. Er war überzeugt, Gott wolle gerade so vom Menschen geehrt werden. Gott zu bitten ist die rechte Weise, ihn zu 5 Vgl. MSA II/12, 195. 6 Vgl. MSA II/22, 687f. 7 Vgl. MBW 2211.
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loben und zu ehren. Wenn Melanchthon vom Beten redet, verwendet er am liebsten das Wort „Anrufung“ (invocatio). Dieses Wort bringt für ihn am besten zum Ausdruck, um was es beim Beten geht. Schon 1527 hatte Melanchthon definiert, Beten bedeute so viel wie „Gott unsere Not vortragen und Hilfe von ihm erwarten“.8 Es geht Melanchthon also um das Bitten, zugespitzt sogar um das Bitten in Notlagen, wie es Ps 50,15 gebiete: „Rufe mich an in der Not“. Die Anrufung der Heiligen lehnt Melanchthon ab. Die Menschen, so sagt er, brauchen keine „Heiligen“, keine „verstorbenen Menschen“ als Mittler,9 sondern sie haben ja alle einen, den einzigen Mittler: Jesus Christus. Alle Gebetsanliegen sind an ihn zu richten, und er tritt beim Vater für die Menschen ein. Aber alle Gebetsanliegen – große und kleine – dürfen auch an ihn gerichtet werden, er will von uns angerufen werden. Die Betonung des Bittgebets heißt nun nicht, dass für Melanchthon das Danken und das Loben keine Rolle gespielt hätte. Er hat auch Lob- und Dankgebete verfasst. Besonders die Gebete in Gedichtform enthalten Elemente des Lobens und Dankens. Außerdem war Melanchthon der Ansicht, in der jenseitigen Existenz, in der ewigen Gottesgemeinschaft werde alles Beten in das Loben und Danken einmünden. Dann gebe es nichts mehr zu bitten, weil das erlöste Leben frei sei von Mangel und Not. Durch Melanchthons Briefe und andere Zeugnisse können wir auch einen Einblick gewinnen in seinen alltäglichen Frömmigkeitsstil. Das Gebet war, wie wir schon gesehen haben, für Melanchthon nicht einfach eine gelegentliche kultische Aktivität, sondern eine Lebenshaltung. Aber das „Beten ohne Unterlass“ beim Arbeiten war nur ein Aspekt seiner Gebetspraxis. Melanchthon kannte und schätzte auch feste Gebetszeiten. Als Vorbild hierfür hatte er seinen eigenen Vater vor Augen. Dieser war ein großer und fleißiger Beter und hatte seine persönliche Gebetspraxis am Vorbild der Mönche ausgerichtet. Gemäß der alten asketischen Tradition sei er sogar um Mitternacht aufgestanden, auf die Knie gefallen und habe gebetet. Melanchthon hat, obwohl er seinen Vater sehr schätzte, die strenge Form des monastischen Stundengebets nie gepflegt. Er bevorzugte freiere Formen. Den Schlaf hat er nicht unterbrochen, um zu beten, und er hatte auch nie das Ziel, täglich ein bestimmtes Gebetspensum (eine bestimmte Anzahl von Psalmen) zu erfüllen. Er hat das Horenbeten schon kritisiert, als Luther noch daran festhielt. Bis in das Jahr 1520 hat Luther versucht, seine Gebetspflichten als Mönch konsequent zu erfüllen. Über diese „törichte Anstrengung“ hat Melanchthon, der ja nie Mönch oder Priester gewesen war, offen gespottet.10 8 SupplMel 5/1, 74. 9 MSA VI, 155. 10 Manlius, Locorum communium collectanea, Teil 1, 115f.
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Melanchthon hielt folgende feste Gebetszeiten ein: Morgens nach dem Aufstehen hat er gebetet, mittags vor und nach den Mahlzeiten und abends vor dem Schlafengehen. Eine Mischung aus freien und festen Elementen war für Melanchthons Gebetspraxis kennzeichnend. Seine Andachten bestanden aus Schriftlesung und einem ausführlichen Gebet. Außerdem hatte auch das Sprechen von Psalmen, des Vaterunsers und des Glaubensbekenntnisses in Melanchthons Andachten einen festen Platz. Als ideal sah er es an, mindestens dreimal täglich das Apostolische Glaubensbekenntnis aufzusagen. Melanchthon war auch ein eifriger Bibelleser. Schon als junger Mann, in seiner Tübinger Zeit, hatte er eine Bibel erworben und eifrig studiert. Ein enger Zusammenhang bestand für Melanchthon zwischen der Bibellektüre und dem Gebet: Die Bibellektüre und das Bedenken des Bibeltextes führten zum Gebet, und das Gebet war für ihn eine Voraussetzung, um die Bibel richtig verstehen und auslegen zu können. Am wichtigsten war für Melanchthon die Morgenandacht, die er übrigens für sich allein, nicht im Kreis der Familie, hielt. Melanchthon stand morgens sehr früh auf, spätestens um vier Uhr. Als Morgengebet sprach er ein frei formuliertes Gebet, in dem jedoch manche Wendungen und manche Anliegen ziemlich konstant waren. Dabei pflegte Melanchthon manchmal mit dem Blick nach Osten zu beten, was einer längst außer Gebrauch gekommenen Sitte aus frühchristlicher Zeit entsprach. Im Osten, in Jerusalem, lagen für Melanchthon der Ort der Gottesoffenbarung und der Ort, an dem der Gottessohn zum Opfer wurde. Abends ging Melanchthon früh zu Bett und er öffnete vor dem Schlafengehen keine Briefe mehr, da neue Nachrichten ihn nur beunruhigt und seine Nachtruhe gestört hätten. Als Abendandacht las er in der Bibel und sprach anschließend ein Gebet. Die Quellen erlauben uns nicht nur, Melanchthons Gebete kennenzulernen, seine Gebetslehre zu bedenken und seine Gebetspraxis im Tagesablauf zu untersuchen, sie zeigen uns auch, wie er in besonderen Lebenssituationen im Gebet Trost und Hilfe gesucht und gefunden hat. Beispielsweise als Melanchthon 1530, getrennt von Luther, in Augsburg mit den Altgläubigen und dem Kaiser über das von den Evangelischen vorgelegte Bekenntnis verhandelte und um die Zukunft der Kirche und um den Frieden im Reich äußerst besorgt war, versuchte er, seine Sorgen durch Beten zu bewältigen. Er ermahnte brieflich seine Freunde, eifrig zu beten, und suchte auch selbst Zuflucht im Gebet. Das Gebet begleitete all sein Überlegen und Tun, und es blieb auch dann noch eine Möglichkeit, als es nichts mehr zu verhandeln und zu hoffen gab. „Es bleibt nur noch das Gebet“, hat er in jenen Tagen, Krieg befürchtend, an
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einen befreundeten Pfarrer geschrieben.11 Und später hat er einmal über den Zusammenhang zwischen Sorgen und Gebet gesagt: „Durch die Sorgen werde ich zum Beten getrieben, und mit meinen Gebeten stoße ich die Sorgen von mir weg“.12 Die Macht des Gebetes erfuhr Melanchthon auf eine überwältigende Art an sich selbst, als er 1540 auf dem Weg zum Hagenauer Religionsgespräch krank wurde und schließlich in Weimar todkrank danieder lag. Damals eilten Luther und andere Freunde herbei, um dem Todkranken zu helfen, und zwar durch inständiges Beten zu helfen. Melanchthon wurde wieder gesund und Melanchthon, Luther und viele andere verglichen das, was in Weimar geschehen war, mit der Auferweckung eines Toten. Für Luther gab es nie einen Zweifel, dass Melanchthon durch die Kraft des Gebetes aus dem Tod in das Leben zurückgerufen worden war. Melanchthon stand anschließend sein Lebenssinn und -ziel mit neuer Klarheit vor Augen. Er dankte Gott für das neu eröffnete Leben und begriff dieses Leben als göttlichen Auftrag.13 Er wollte nunmehr nichts anderes mehr tun, als durch Lehren und Beten der Herrlichkeit Gottes zu dienen.14 Die größte Krise machte Melanchthon allerdings im privaten Bereich durch, und zwar wegen seiner unglücklich verheirateten Tochter Anna, die auf seinen Rat als 14jährige den jungen und ehrgeizigen, aber auch rücksichtslosen Poeten Georg Sabinus geheiratet hatte, der später Gründungsrektor der Hochschule in Königsberg wurde. Melanchthon gab sich, weil er Sabinus falsch eingeschätzt hatte, die Hauptschuld an ihrem tragischen Schicksal und wäre wegen dieses Kummers am liebsten aus dem Leben geschieden. Nur ständiges Beten machte es ihm möglich, dieses jahrelange Leid zu ertragen. 1547 starb die Tochter, nachdem sie sechs Kinder geboren hatte, im Alter von 24 Jahren, und Melanchthon versuchte, ihren Tod als eine von Gott geschenkte Erlösung zu begreifen. Trotz seiner großen Trauer – wochenlang schilderte er in Briefen an Freunde sein tiefes Leid – führte er keine Klage gegen Gott, sondern er fand Gott gegenüber Dankesworte.15 Er dankte dafür, dass Anna nunmehr frei geworden sei von ihrer Mühsal, und erblickte darin eine Bestätigung dafür, dass seine Gebete nicht vergeblich waren. In einem Brief aus jener bewegenden Zeit empfahl er als Konsequenz seiner Erfahrungen, alles in Gottes Hand zu legen und nicht auf menschlichen Rat zu vertrauen.16 Auch die größte Krise des Protestantismus im Reformationszeitalter, der Schmalkaldische Krieg (1546/47), die darauffolgende sogenannte Interimszeit 11 12 13 14 15 16
MBW 1080. Camerarius, De vita, 110f. Vgl. MBW 2459. Vgl. MBW 3696. Vgl. MBW 4671. Vgl. MBW 4713.
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und der erneute Krieg im Jahre 1552, war für Melanchthon eine Zeit bewegter Gebetserfahrungen und einer intensiven Gebetspraxis. Unaufhörlich betete er für den Erhalt der Kirchen und der Wissenschaften und um Frieden. In der Erhaltung der Stadt Wittenberg während des Kriegs und in dem schließlich wiedererlangten Frieden erblickte er Gebetserhörungen.
2.
Historien- und Heiligengedenken bei Melanchthon
Philipp Melanchthon hat die Heiligenanrufung (invocatio sanctorum) energisch bekämpft, seit 1522/23 und bis an sein Lebensende. Gleichzeitig hat er aber ausgehend von seiner privaten Andachtspraxis gemeinsam mit einigen Schülern versucht, eine dem evangelischen Bekenntnis gemäße und mit der allgemeinen Erinnerung an wichtige geschichtliche Ereignisse verbundene Form des Heiligengedenkens zu entwickeln und zu lehren. Dieses evangelische Historien- und Heiligengedenken stieß bis ins frühe 17. Jahrhundert auf Resonanz, ist dann aber abgebrochen. Die von Melanchthon gepflegte neue Form der Heiligenverehrung steht im Zusammenhang mit der protestantischen Kalendergeschichte. „De cultu sanctorum“ (Über den Heiligenkult) wird in der Confessio Augustana in Artikel 21 gesagt, „quod memoria sanctorum proponi potest“ (dass die Erinnerung an die Heiligen stattfinden kann). Deutlicher und bestimmter ist die deutsche Fassung: „Vom Heiligendienst wird von den Unseren also gelehret, dass man der Heiligen gedenken soll, auf dass wir unsern Glauben stärken, so wir sehen, wie ihnen Gnad widerfahren, auch wie ihnen durch Glauben geholfen ist; darzu, dass man Exempel nehme von ihren guten Werken, ein jeder nach seinem Beruf“.17 In der Apologie enthält Artikel 21 eine ausführliche Gebetslehre, in der dargelegt wird, dass die Anrufung Gott allein gebühre. Vor dieser längeren Abhandlung über das Gebet wird zur Frage nach den Heiligen klargestellt, dass das Bekenntnis die Heiligenverehrung billigt („probat honores sanctorum“).18 Dreifach sei die Ehre, die aus evangelischer Sicht den Heiligen gebühre: 1) Man ehre die Heiligen durch die Gott dargebrachte Danksagung für die Beispiele der Barmherzigkeit, die der Kirche durch die Heiligen gegeben worden seien, und für ihre Rolle als Lehrer der Kirche. Die Ehrung der Heiligen erfolgt also durch den Gott gespendeten Dank, aber auch die Heiligen selbst seien zu preisen (laudandi), weil sie von den ihnen von Gott gegebenen Gaben rechten Gebrauch gemacht hätten. 2) Geehrt würden die Heiligen auch, indem ihre Lebensgeschichte zur Glaubensbekräftigung gebraucht werde – dazu, so ist zu folgern, 17 BSLK, 83b (Hervorhebung M.H. Jung). 18 A. a. O., 317 (Hervorhebung M.H. Jung).
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muss man diese Lebensgeschichten kennen. Und 3) ehre man die Heiligen durch die imitatio (Nachahmung), und zwar durch die imitatio ihres Glaubens ebenso wie durch die imitatio ihrer Tugenden, die in der deutschen Fassung der Apologie mit „Liebe“ und „Geduld“ konkretisiert werden. Ergänzend ist noch auf einen dritten Text aus dieser Traditionslinie einzugehen, der den bekenntniskonformen Umgang mit den Heiligen konkretisiert, das Examen ordinandorum (Examen der zu Ordinierenden) von 1552. Hier erklärt Melanchthon, wie „von den Heiligen recht zu predigen sey“. Man solle an ihnen zeigen, „welchen Menschen sich Gott geoffenbaret hat vnd sein wort gegeben“, und auch, für „welche Lere zu jeder zeit die Heiligen gepredigt vnd gestritten“ hätten, damit die Christen der Gegenwart „durch jr zeugnis gesterckt“ würden. Lernen könne man an den Heiligen auch, dass die Kirche „fur vnd fur vnter dem Creutz gewesen“ und gleichwohl „durch Göttliche macht“ erhalten worden sei.19 Der Blick in den Kalender und die damit verbundene Besinnung auf die religiöse und geschichtliche Bedeutung des jeweiligen Tages war ein fester Bestandteil von Melanchthons Morgenandacht. Er ließ sich aus dieser Besinnung auf den Charakter des Tages einen Impuls geben, der vergleichbar ist mit der Funktion der Herrnhuter Losungen im Pietismus und der zum Danken und Bitten anregen oder einen hilfreichen oder tröstlichen Gedanken für die anstehenden Tagesaufgaben vermitteln sollte. Hierfür hat sich Melanchthon im Laufe der Zeit einen eigenen Kalender geschaffen, der von den traditionellen kirchlichen Fest- und Namenstagen nur noch die mit reformatorischem Denken zu vereinbarenden enthielt und zugleich neue, andere Gedenktage aus der Allgemeingeschichte und aus dem persönlichen Bereich verzeichnet hatte. Zu diesem Zweck übertrug Melanchthon die Ereignisse der Passionszeit in eine feste historische Chronologie, was vereinzelt schon im Mittelalter versucht worden war. Melanchthons Zeitleiste reichte vom 14. März, an dem Jesus „die andere Seite des Jordans“ (Joh 10,40) verlassen habe, bis zum 27. März, dem Auferstehungstag.20 Der Termin des Karfreitags und alle anderen variablen Feiertage waren dadurch nicht mehr vom Mondzyklus abhängig, sondern hatten ein festes Datum. Der 25. März, der Tag des Frühlingsäquinoktiums, wurde für Melanchthon zum feststehenden Gedenktag der Kreuzigung Christi am 14. Nisan des Jahres 3980 nach der Welterschaffung, wobei er auf altkirchliche und mittelalterliche Traditionen, die sich aber in der Kirche nicht durchgesetzt hatten, zurückgreifen konnte. Dieser Tag, der 25. März, war nach Ansicht Melanchthons aber gleichzeitig der sechste Schöpfungstag, der Tag, an dem Adam erschaffen worden war. Außerdem war es nach Melanchthon der Tag, an dem sich der 19 MSA VI, 228. 20 CR 5, 709f.
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Sündenfall ereignet hatte, und es war für ihn der Tag, an dem Noah die Arche betreten hatte. Aber das ist noch nicht alles. Für Melanchthon verbanden sich mit dem 25. März auch der Auszug Israels aus Ägypten und die Opferung Isaaks. In Übereinstimmung mit der breiten und anerkannten Tradition war schließlich der 25. März auch für Melanchthon der Tag der Empfängnis Christi. Die Zusammenschau und genaue Datierung der Ereignisse offenbart ein Interesse an der Geschichte und ist zugleich Ausdruck einer theologischen, einer heilsgeschichtlichen Konzeption. Wichtige, in einem geschichtlichen oder theologischen Zusammenhang stehende Ereignisse wurden infolge von liturgischen Anliegen und Frömmigkeitsinteressen schon immer gerne zeitlich oder örtlich kombiniert. Der 25. März war für Melanchthon gewissermaßen der höchste der kirchlichen Feiertage, obwohl er in der liturgischen Praxis der Kirche ja gar nicht als solcher begangen wurde. Die Bedeutung, die er für Melanchthons Frömmigkeitsleben hatte, lässt sich aber an vielen Äußerungen in den Briefen ablesen, die er am 25. März verfasst hat, und daran, dass er am 24. März 1545 seine Überlegungen und die ihnen zugrundeliegenden Berechnungen in Wittenberg öffentlich ausgehängt hat.21 Das traditionelle Heiligengedenken spielte in Melanchthons Tagesgedächtnis nur noch eine begrenzte Rolle. Beispielsweise gedachte Melanchthon am 20. August Bernhards von Clairvaux (1090–1153) und würdigte vor allem dessen politisches Werk, nämlich die Versöhnung des gebannten Gegenkönigs Konrad III. (1093–1152) mit Kirche und Kaiser, lobte aber auch seine religiöse Botschaft.22 Für zutreffend hält Melanchthon die Berichte, dass Bernhard Dämonen ausgetrieben habe, und erläutert, auch in der Gegenwart käme es vor, dass Menschen durch fromme Gebete von Dämonen befreit würden. Die Kirchenväter Augustin (354–430),23 Ambrosius (ca. 339–397) 24 und der Schutzpatron der Humanisten Hieronymus (ca. 347–419) 25 behielten ihre Gedenktage sowie Elisabeth von Thüringen (1207–1231), die Melanchthon als „fromme Fürstin“ schätzte.26 Auch Gregor der Große (ca. 540–604),27 der Heilige Laurentius (gest. 258) 28 und die Heilige Katharina fanden Beachtung.29 Der Katharina-Tag war Melanchthon wichtig, weil seine Frau und zwei seiner noch zu seinen Leb21 22 23 24 25 26 27 28 29
Vgl. A. a. O. Vgl. CR 25, 371f. Vgl. MBW 5890. Vgl. MBW 8175. Vgl. MBW 8370. Vgl. MBW 7336. Vgl. MBW 7744. Vgl. MBW 3288. Vgl. MBW 8432.
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zeiten geborenen Enkelinnen den Namen der legendären, historisch nicht fassbaren alexandrinischen Heiligen trugen. Die ebenfalls ziemlich legendarische Gestalt des römischen Diakons Laurentius war für den Reformator von Bedeutung, weil er in einer Laurentiuskirche (in Bretten) getauft worden war. Melanchthon hatte ein starkes Interesse an geschichtlichen Fakten. Das kann man nicht nur an den Gedenktagen erkennen, sondern auch daran, dass er es liebte, vor seinen Hörern auszurechnen, wieviel Jahre es nunmehr genau her sei, seit sich eine Sache ereignet habe. Das legendarische Material, vor allem, was äußerlich-mirakulös war, wurde weitgehend eliminiert. Das konnte sogar so weit gehen, dass Melanchthon einen Heiligentag zum Anlass nahm, um eine regelrechte Gegenpredigt zu halten, in der er die „stultas fabulas“ (törichten Fabeln) widerlegte, die sich um den Heiligen rankten.30 Durch sein Tagesgedenken, zu dem das Heiligengedenken gehörte, erinnerte sich Melanchthon regelmäßig an zentrale Heilstatsachen, aber auch an Gottes Präsenz in der Geschichte der Völker und im Leben des Einzelnen. Daraus gewann er Gottvertrauen und Zuversicht, um tatkräftig und verantwortlich handeln zu können. Diesen Zusammenhang zeigen 1) seine Briefe, besonders dann, wenn sie tröstliche Gedanken und Ratschläge oder Gebetsworte enthalten, 2) viele Passagen in akademischen Reden und 3) die zahlreichen, wichtigen, aber noch unzulänglich edierten Texte der wenig beachteten sogenannten Postille31 und 4) die reiche, aber noch gar nicht umfassend edierte Überlieferung von Melanchthonaussprüchen und Melanchthonanekdoten, die mit Luthers Tischreden vergleichbar sind.32 Hier, in diesen vier umfangreichen Quellensammlungen und außerdem in der Chronik kann man auch Informationen darüber finden, welche Relevanz eine bestimmte Gestalt der Geschichte oder ein bestimmtes Ereignis, dessen er gedachte, für ihn hatten. Ein Beispiel aus Melanchthons Praxis soll etwas ausführlicher vorgestellt werden. Der 16. Oktober war der Tag des Heiligen Gallus (ca. 555–650) und der Todestag des Demosthenes (384–322 v. Chr.). Melanchthon begann eine Sonntagsansprache im Jahre 1555 mit der Frage: „Das Gedenken welches Heiligen wird heute gefeiert?“ (Cuius sancti memoria hodie celebratur?). Die Schüler – oder der Praeceptor selbst – antworteten: „Sancti Galli“. Ausführlich hat Melanchthon von Gallus und seiner schwierigen Missionstätigkeit berichtet, natürlich streng geschichtlich ausgerichtet und ohne legendarische Züge. Dann leitete er zum zweiten Thema über: „Eben dieser Tag ist auch der Tag, an dem Demosthenes ermordet wurde“ (Haec eadem dies est dies interfecti Demosthenis). Nun wurde die Lebensgeschichte und die Bedeutung des attischen Rhetors und Staatsmanns 30 Vgl. CR 24, Sp. 197. 31 Vgl. CR 24/25. 32 Die wichtigste Sammlung: Manlius, Locorum communium collectanea.
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erzählt, eine nur scheinbar profane Angelegenheit, denn Melanchthon zog aus dieser Betrachtung, mehr als aus der Beschäftigung mit dem Heiligen Gallus, religiös-erbauliche Konsequenzen: „Wenn wir dies erwägen, bitten wir zugleich Gott mit brennenden Bitten, dass er uns zu Gefäßen der Barmherzigkeit mache und es nicht zulasse, dass wir Gefäße des Zornes werden“ (Hoc considerantes, petamus ardentibus votis, ut Deus nos faciat vasa misericordiae, et non sinat nos fieri vasa irae [vgl. Röm 9,22f]). Demosthenes war für Melanchthon ein Gefäß des Zorns, obwohl er von Gott mit hervorragenden Gaben ausgestattet worden war. Paulus war ein Gefäß der Gnade, so erläuterte Melanchthon und fügte mit Blick auf die Gegenwart hinzu: Auch „noster pastor“ (unser Pfarrer) und die sächsischen Fürsten seien Gefäße der Gnade. Und natürlich auch der Heilige Gallus – so müsste man aufgrund des Kontextes ergänzen. Als weitere Gefäße des Zorns nannte Melanchthon Gestalten aus der Reformationszeit: Thomas Müntzer (ca. 1490–1525), Heinrich Pfeiffer (gest. 1525), Nikolaus Storch (gest. 1530). Ein Gefäß der Gnade, so erklärte Melanchthon in deutscher Sprache, ist „ein gnadenwerckzeug, dadurch Gott viel gutes wircket“, also ein Mensch, der „viel thut, das ihm und andern zum besten gereicht“. Die Betrachtung über Gallus und Demosthenes mündete in ein Gebet: „Herr Gott, mache mich zu einem Gefäß der Barmherzigkeit und nicht zu einem Gefäß des Zornes“ (Domine Deus, fac me vas misericordiae, et non sim vas irae). Schließlich forderte Melanchthon wieder dazu auf, „die historien“ zu bedenken und daraus zu lernen, „dass wir arme elende würmlein sein“, die ohne Christus nichts vermögen.33
3.
Leiderfahrungen und Leidenstheologie bei Melanchthon
Melanchthons äußerlich so erfolgreiches und langes Leben hatte als Kehrseite zahlreiche Erfahrungen des Leids im persönlichen Bereich. Es begann mit einer am Anfang unglücklichen Ehe. 1529 verlor Melanchthon einen Sohn und 1547 eine Tochter. 1540 stürzten ihn die verheerenden Folgen der Doppelehe Philipps von Hessen, an deren Zustandekommen und Rechtfertigung er beteiligt gewesen war, in eine tiefe Krise, er wurde krank und war dem Tode nah. Schon von 1537 an, und verstärkt in den 40er Jahren, litt er unsäglich an der unglücklichen Ehe seiner Tochter, für die er sich selbst die Schuld gab. Im „Leidensjahr 1544“ (Karl Matthes) 34 erwog er eine Selbsttötung.35 Von seinen Leidenserfahrungen hat Melanchthon in zahlreichen Briefen berichtet, und in seinen theologischen Werken hat er über das Thema Leid re33 CR 25, 663–666. 34 Matthes, Melanchthon, 232. 35 Vgl. MBW 3598.
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flektiert. Das Kapitel über das Leid in der dritten Ausgabe der Loci 1543/44 schrieb er, wie er selbst sagte „in höchstem Schmerz“ über das traurige Schicksal seiner Tochter.36 Melanchthon fragt nach dem Warum und dem Wozu des Leids und sieht zehn Gründe dafür, dass Christen und der Kirche Leid, ja mehr Leid als anderen Menschen zugefügt werde. Im Einzelnen führt er aus, dass auch in der Kirche die Folgen des Sündenfalls andauerten und Gott gerade an der Kirche einer den Zorn Gottes negierenden Welt seinen Zorn über die Sünde demonstriere. Auch der Teufel bedränge die Kirche mehr als er die Welt bedränge. Viele Kalamitäten seien konkrete göttliche Strafen für konkrete Sünden, aber durch Leiden und Anfechtungen werde der Welt auch die Wahrheit der christlichen Lehre bekräftigt. Leid in diesem Leben bekräftige auch die Existenz eines jenseitigen Lebens, in dem es zu einem gerechten Ausgleich komme. Durch das Leiden werde die Kirche und würden die Christen dem leidenden Gottessohn gleichförmig. Auch könne das Leid als eine heilsame Medizin und als erzieherische Maßnahme Gottes mit dem Ziel der Vervollkommnung interpretiert werden. Der leidende Fromme und eine Kirche unter dem Kreuz seien leuchtende Beispiele des wahren Glaubens. Durch die Kreuzesexistenz der Kirche werde klar, dass sie nicht durch menschlichen Rat, sondern vom Sohn Gottes selbst gesammelt, verteidigt und bewahrt werde.37 Den zehn möglichen Ursachen und Begründungen des Leids stellt Melanchthon fünf Trostgründe gegenüber: Als erstes führt er das göttliche Wissen und den göttlichen Beistand an. Zweitens nennt er die mögliche Sinngebung des Leidens. Drittens erwähnt er die göttliche Hilfszusage. Viertens habe der Leidende die Möglichkeit, auch selbst zu handeln, indem er bete. Fünftens führten auch Geduld und Gehorsam zu einer Linderung der Schmerzen und schenkten Trost.38 Was Melanchthon theoretisch, lehrhaft entfaltete, resultierte aus eigenen Leidenserfahrungen, und er wandte es in eigenen Leidenssituationen selbst an, wovon seine Briefe zeugen.
4.
Frömmigkeit und Bildung
Von seiner berühmten Wittenberger Antrittsrede 1518 an waren Melanchthon Bildung und ihr dienliche Reformen wichtige Anliegen. Zur Bildung gehörten für ihn die alten Sprachen, aber auch Mathematik und Geschichte. Und unver36 MBW 3761. 37 Vgl. MSA II/22, 659–667. 38 Vgl. MSA II/22, 669–679.
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zichtbar war für ihn auch, dass Bildung von Frömmigkeit begleitet werde und der Frömmigkeit diene. Den Zusammenhang von Bildung und Frömmigkeit hat er in zahlreichen Veröffentlichungen thematisiert und sowohl in seinem Haus als auch an der Universität konkretisiert. Melanchthon betätigte sich auch als religiöser Erzieher seiner Studenten. Die mittelalterliche und die frühneuzeitliche Universität war nicht nur eine Lehr-, sondern auch eine Erziehungsanstalt, und ein Teilaspekt der dort, insbesondere im Rahmen des artistischen Grundstudiums der vierzehn- bis zwanzigjährigen Studenten geleisteten pädagogischen Arbeit war die religiöse Erziehung. Die Reformation hat diese Ausrichtung der Universität nicht abgeschwächt, sondern verstärkt. In Melanchthons grundsätzlichen, programmatischen Äußerungen zum Thema Studium, zum Lehren und zum Lernen, begegnen uns von der Wittenberger Antrittsrede 1518 bis an sein Lebensende immer wieder die beiden Stichworte pietas (Frömmigkeit) und eruditio (Bildung). Den Glauben begreift Melanchthon zwar als ein Geschenk Gottes, zu dem der Beschenkte nur Ja sagen muss, aber pietas kann aus seiner Sicht gelehrt, kann eingeübt werden: „pietas […] pietate discitur“ (Frömmigkeit lernt man durch Frömmigkeit), sagt Melanchthon.39 Pietas lernt man, indem man sie praktiziert. Grundsätzlich kann es für Melanchthon eruditio ohne pietas geben, aber das wäre eine unvollkommene eruditio. Die wahre Bildung, die hochstehende Bildung bedarf aus seiner Sicht der Frömmigkeit. Und umgekehrt gilt dasselbe: Grundsätzlich kann es für Melanchthon pietas ohne eruditio geben, aber das wäre eine sehr problematische, sehr gefährdete pietas. Die wahre Frömmigkeit braucht die Bildung. Pietas und eruditio stehen also in einem wechselseitigen Abhängigkeitsverhältnis. Melanchthon glaubt, dass nur der Fromme zu wahrer Bildung gelangen könne, weil nur mit Gottes Hilfe dem menschlichen Bemühen Erfolg beschieden sei.40 Der Reformator beruft sich in diesem Zusammenhang immer auf Mt 6,33: „Trachtet zuerst nach dem Reich Gottes und nach seiner Gerechtigkeit, so wird euch das alles zufallen“. Gott werde, so sagt er häufig, die Studien der Frommen begünstigen und ihnen Erfolg schenken. Melanchthon selbst hat sich zeitlebens in all seinem Wirken und Tun als ein ganz und gar von Gott abhängiger, auf Gottes Hilfe angewiesener Mensch begriffen und erfahren. Gerade bei seinem Engagement in den kirchlichen und politischen Auseinandersetzungen der Zeit hat er dies ständig erlebt. „Non humanis consiliis“, nicht nach menschlichem Rat und gemäß menschlicher Weisheit verlaufen die Dinge im Leben, sondern nach Gottes Plan. Deshalb ist die pietas wegen der durch sie gegebenen Möglichkeit der 39 SupplMel 5/1, 373 (Z. 8). 40 Vgl. Hartfelder (Hg.), Melanchthoniana paedagogica, 5.
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göttlichen Hilfe eine wichtige Voraussetzung, um zu wahrer Bildung zu gelangen, sagt Melanchthon. Und umgekehrt gilt: Die Frömmigkeit, der christliche Glaube, die Kirche brauchen die Bildung, weil pietas ohne eruditio zwangsläufig zu Verwirrung, zu Zweifel, zu Streit und zur Spaltung führt. Bildung meint dabei nicht nur die spezielle theologische Bildung, sondern die breite Allgemeinbildung, insbesondere die sprachliche Bildung, aber auch die Beschäftigung mit der Geschichte oder der Mathematik. „Ad pietatem sine litteris perveniri non possit“ (Ohne Wissenschaft kann man Frömmigkeit nicht erlangen), hat Melanchthon 1523 formuliert.41 Pietas und eruditio stehen für Melanchthon also in einem Verhältnis wechselseitiger Abhängigkeit und sind doch keine gleichrangigen Größen. Letztlich ist die eruditio der pietas untergeordnet, weil alle Bildungsbemühungen daraufhin befragt und danach beurteilt werden, ob sie der Gesellschaft und der Kirche und damit zusammenhängend auch der pietas nützlich sind oder nicht. Der erste Bereich, in dem Melanchthon als religiöser Erzieher gefordert war, war sein eigenes Haus. Hierbei kamen drei Dinge zusammen: 1) Melanchthon wurden im Laufe der Jahre vier Kinder geboren; 2) er unterhielt in seinem Haus in den zwanziger Jahren eine kleine Privatschule, in der fremde Kinder auf das Studium vorbereitet wurden;42 3) in seinem Haus lebten immer sogenannte Kostgänger, das waren Studenten als bezahlende Untermieter, natürlich mit vollem Familienanschluss. Für die Privatschule hat Melanchthon bereits Anfang der zwanziger Jahre eine ganze Reihe von Gebeten geschaffen, und zwar in Gedichtform, in lateinischer Sprache. Indem Gebete gedichtet und rezitiert wurden, konnte man die Stilübung mit der Frömmigkeitsunterweisung verbinden. Das gleiche Anliegen, Bildungsund Frömmigkeitsinteressen möglichst effektiv zu verbinden, begegnet uns in Melanchthons 1527/28 im Zusammenhang mit dem Visitationsunterricht konzipierter dreiklassiger Schulordnung: Lesen lernt man da am Vaterunser.43 Über Tischsitten im Hause Melanchthons im Jahre 1540 informiert uns Johannes Mathesius.44 Nach dem Essen betete Melanchthons fünfzehnjähriger Sohn Philipp die Hauptstücke des Katechismus. Danach las die neunjährige Tochter Magdalena einen Abschnitt aus Luthers Katechismusauslegung, dann kamen die Kostgänger und Gäste an die Reihe: Einer erklärte biblische Weisheitssprüche, ein anderer las einen Abschnitt aus einem geschichtlichen Buch der Bibel, ein dritter eine Evangelienperikope und ein vierter einen Psalm. Daneben 41 42 43 44
SupplMel 5/2, 20 (Z. 12f.) Vgl. Koch, Melanthon’s Schola privata. Vgl. MSA 12, 267. Vgl. WA TR 5, Nr. 5257, 32 (Z. 10–16).
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wurde aber auch aus Livius und aus Thukydides vorgelesen. Melanchthon selbst erzählte geschichtliche und andere Anekdoten und kommentierte das Vorgelesene mit eigenen Gedanken. Es muss nicht immer genau so abgelaufen sein, aber der Bericht zeigt, wie intensiv die Kinder und Jugendlichen im Hause Melanchthons, das eine ecclesiola Dei (Kirchlein Gottes) war, zu frommen Tischsitten angehalten wurden und wie auch hier christliche Traditionen und antike Überlieferungen nebeneinander ihren Platz hatten. Die Bücher der heidnischen Geschichtsschreiber der Antike boten Melanchthon Anlass, über das Wirken Gottes in der Geschichte nachzudenken. Auch dies war ein Versuch, pietas und eruditio zu verbinden. Die intensive persönliche Betreuung der Studenten durch die Professoren war eine wichtige Zielvorstellung Melanchthons. Schon in seinen ersten Wittenberger Jahren hat er zu erreichen versucht, dass jeder Student unter die Aufsicht eines Präzeptors komme. Doch damit konnte er sich zunächst nicht durchsetzen. Weder die Studenten noch die Professoren waren von dieser Idee begeistert und auch die Stadt Wittenberg versagte die notwendige organisatorische Unterstützung. Im privaten Bereich hat Melanchthon diese intensive Einzelbetreuung aber praktiziert und zwar nicht nur bei Studenten, die bei ihm im Hause lebten, sondern auch, indem er einzelnen Studenten persönliche, auf ihre Situation zugeschnittene Studienpläne entworfen hat, von denen uns einige erhalten sind.45 Da wird erläutert, wie man sich die Woche und wie man sich den Tag einteilen soll. Melanchthon gibt Hinweise, wie man methodisch am besten arbeitet. Er empfiehlt konkrete Autoren: Cicero, Livius, Plutarch, Lucian, Aristoteles. Und immer stellt er auch Leitlinien für die fromme Gestaltung des Tagesablaufs auf. Morgens und abends sollen die Studenten in der Bibel lesen, und zwar morgens im Alten und abends im Neuen Testament. Die Bibellektüre soll in ein frei formuliertes Gebet einmünden, das Impulse des biblischen Textes aufgreift. Auf die meditatio (Meditation) folgt die oratio (Gebet). Melanchthon empfiehlt, regelmäßig Psalmen zu beten, und nennt solche, die er für besonders geeignet erachtet. Dazu gehören Ps 6; 24; 50; 78; 101; 129. Das Psalmenbeten hat Melanchthon immer geschätzt, nur gegen die spezielle Form des Stundengebets mit seinen strengen Normierungen hatte er Aversionen. Was Melanchthon jahrelang im persönlichen Bereich und mit seinen Privatschülern und Kostgängern erprobt hatte, konnte er später teilweise in offizielle Geltung bringen, und zwar als er den Auftrag bekam, für die Universität Wittenberg neue Satzungen auszuarbeiten. Im Wintersemester 1523/24 hatte Melanchthon erstmals Gelegenheit hierzu. Als Rektor der Universität erließ er neue Satzungen „de studiis“ und „de mori45 Vgl. MBW 854; 3123; 7331; WA TR 2, Nr. 2272b, 399f.
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bus“ (über die Studien und die Sitten).46 Hier wurden sowohl die Deklamationen eingeführt und das Disputationswesen neu geregelt als auch das Tutorensystem, die Überwachung durch Präzeptoren, für verbindlich erklärt. Den Studenten wurden das Waffentragen, Hurerei und Trinkgelage verboten und eine ehrbare Kleidung vorgeschrieben. Wer von pietas (Frömmigkeit) und amor (Liebe) geleitet werde, brauche solche Gesetze nicht, sagt Melanchthon. Und er erklärt dann in den Satzungen auch, wie man zur pietas gelangen könne: durch Bibellektüre: „Pietatem alet sacrorum codicum cognitio“ (Die Kenntnis der Heiligen Schriften nährt die Frömmigkeit). Weit über diese Andeutungen hinaus gehen die Satzungen, die Melanchthon 1545 der philosophischen Fakultät gegeben hat. Hier wird den Studenten wie in den individuellen Studienplänen morgens und abends Bibellektüre und Gebet vorgeschrieben, außerdem soll vor und nach dem Essen gebetet und sonntags der Gottesdienst besucht werden. Das sittliche Leben der Studenten wird streng und Punkt für Punkt am Maßstab der Zehn Gebote ausgerichtet. Die Studenten werden persönlich angesprochen: „Jeden Tag, wenn du in das Auditorium kommst, denke daran, dass du vor das Angesicht Gottes, Christi und der Engel gelangst. Ihnen musst du gegenübertreten mit einer frommen Gesinnung und mit dem Gebet, dass deine Studien von Gott unterstützt und gelenkt werden. Denn unsere Studien sind weder uns noch der Kirche, noch dem Staatswesen förderlich, wenn sie nicht von Gott unterstützt werden.“47 Der Hörsaal gleicht hier einem Gotteshaus, die Vorlesung wird zu einer gottesdienstlichen Versammlung. In den vierziger Jahren hat Melanchthon neben der persönlichen und der gesetzlichen auch noch eine dritte Ebene gefunden, durch die er als Erzieher, als religiöser Erzieher, auf Studenten, und zwar auf die große Masse der Studenten einwirken konnte. Regelmäßig hielt er nämlich in den 1540er und 50er Jahren, bis an sein Lebensende, sonntags in Wittenberg eine eigentümliche Veranstaltung ab, die man als Mischung aus Predigt und Vorlesung charakterisieren kann und die sich in Wittenberg großer Beliebtheit erfreute. Ursprünglich waren diese „Sonntagsansprachen“ für ausländische Studenten gedacht, die den deutschsprachigen Predigten im Gemeindegottesdienst nicht folgen konnten. Die Vorträge wurden von Studenten mitgeschrieben und schon im 16. Jahrhundert veröffentlicht. Ein Beispiel für die von Melanchthon im Rahmen dieser Sonntagsvorträge vorgenommene Frömmigkeitsunterweisung ist das im Zusammenhang mit der frommen Betrachtung der Geschichte stehende evangelische Heiligengedenken:
46 Friedensburg (Bearb.), Urkundenbuch, 128f. 47 A. a. O., 275 (Übersetzung M.H. Jung).
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Am 11. November, irgendwann in den 40er Jahren, erinnerte Melanchthon seine Studenten an den Heiligen Martin und sagte: „Ihr wisst, dass in dieser Woche das Gedächtnis des Bischofs Martin gefeiert wird. Sein Name ist berühmt. Ihr müsst wissen, wer er war und was er getan hat. Denn es ist nützlich, die Geschichte der Kirche zu kennen“.48 Melanchthon erläuterte den Brauch, am Martinstag Wein und Most zu trinken und zu verschenken und verwies auf die Martin zugeschriebene „singularis liberalitas“ (einzigartige Freigebigkeit). Dann erklärte er die Situation im 4. Jahrhundert, schilderte einige Stationen aus dem Leben des Heiligen und hob einen Punkt hervor, Martins beständigen Kampf für die Wahrheit gegen die Arianer. Heilige sind aus protestantischer Sicht nicht Wundertäter, sondern Lehrer und Wahrheitszeugen. Die Betrachtung der genauen Zeitumstände schließt Melanchthon mit dem Gedanken, hier könne man deutlich erkennen, dass Gott seine Kirche bewahre „wie ein armes elendes schifflein, inter maximos fluctus [zwischen großen Wellen]“, und zwar nicht aufgrund menschlicher Ratschlüsse und Kräfte, sondern um Christi willen. Der Blick in den Kalender, die Besinnung auf den Charakter des Tages, die Erinnerung an wichtige Ereignisse der Geschichte und des persönlichen Lebens gehörten zu der von Melanchthon praktizierten und empfohlenen alltäglichen Andachtspraxis. Gottes Walten in der Geschichte sollte dadurch vergegenwärtigt werden, um daraus Zuversicht für die anstehenden Tagesaufgaben zu gewinnen. Zahlreich sind die von Melanchthon geschaffenen, aber heute weitgehend vergessenen literarischen Hilfsmittel für die religiöse Erziehung. Mehrfach hat Melanchthon hierbei Pionierarbeit für die evangelischen Kirchen geleistet. Melanchthon hat bereits 1523/24, einige Jahre vor Luther, im Zusammenhang mit seiner schola privata einen Katechismus zusammengestellt, das „Enchiridion elementorum puerilium“.49 In der zeitgenössischen deutschen Fassung lautet der Titel: „Handtbüchlein, wie man die kinder zu der geschrifft vnd lere halten sol“.50 Das kleine Büchlein enthält die katechetischen Hauptstücke, allerdings ohne Erklärungen, daneben wichtige Bibeltexte, kunstvolle Gebete und antike Weisheitssprüche. Melanchthon hat später noch weitere Katechismen verfasst, darunter einen nach mittelalterlichen Vorbildern geschaffenen, in den 40er Jahren erschienenen Bilderkatechismus, der alle Themen der katechetischen Unterweisung mit Holzschnitten zu dazu passenden biblischen Geschichten illustriert.51 Als erster hat Melanchthon 1527 ein evangelisches Spruchbuch veröffentlicht: „Etliche Sprüche, darin das ganze christliche Leben gefasst ist“.52
48 49 50 51 52
CR 25, 814–818 (Übersetzung M.H. Jung). SupplMel 5/2, 20–56. A. a. O., CXXVII. Vgl. A. a. O., 421–485. A. a. O., 61–73.
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Auch Melanchthons Lehrbuch der Theologie enthält in der letzten, 1543/44 niedergeschriebenen Ausgabe zahlreiche Partien, in denen der Verfasser die Studenten zur praxis pietatis (Frömmigkeitspraxis) anleitet. Der Umgang mit dem Leid wird thematisiert und der Weg zum rechten Beten wird aufgezeigt. Die letzte Ausgabe der Loci enthält zu diesem Zweck mehrere Beispielgebete.53 Melanchthon hat nicht nur mit seinen Loci die protestantische Theologie und mit seinen philologischen und philosophischen Lehrbüchern evangelische Schulen und Hochschulen geprägt, sondern er hat mit seinen vielfältigen Bemühungen um die religiöse Erziehung seiner Schüler und Studenten protestantische Frömmigkeit entscheidend mitgeformt, und zwar durch seine katechetischen Schriften und seine Lehrbücher sowie durch von ihm geschaffene oder durch ihn beeinflusste Universitätsstatuten, insbesondere aber durch die persönliche Prägung unzähliger Studenten, die bei ihm lernten und sich von ihm unterweisen ließen, um dann später als Lehrer, Pfarrer und Professoren im melanchthonschen Geist weiterzuwirken.
Literatur Quellen Adam, Melchior, Vitae Germanorum theologorum, Frankfurt a.M. 1620. Camerarius, Joachi, De vita Philippi Melanchthonis narratio, Halle 1777. Corpus Reformatorum, Zürich 1834ff [kurz: CR]. D. Martin Luthers Werke. Weimarer Ausgabe. Kritische Gesamtausgabe, 135 Bde, II. Abt.: Tischreden, 6 Bde. Weimar 1912ff [kurz: WA TR]. Die Bekenntnisschriften der Evangelisch-Lutherischen Kirche, hg. im Gedenkjahr der Augsburgischen Konfession 1930, Berlin 21978 [kurz: BSLK]. Friedensburg, Walter (Bearb.), Urkundenbuch der Universität Wittenberg, T. 1. Magdeburg 1926. Manlius, Johann, Locorum communium collectanea, Basel 1563. Melanchthons Briefwechsel. Kritische und kommentierte Gesamtausgabe, hg. von Christine Mundhenk, Stuttgart-Bad-Cannstadt 1977ff [kurz: MBW]. Melanchthons Werke in Auswahl. Studienausgabe, hg. von Robert Stupperich, Gütersloh 1951ff [kurz: MSA]. Supplementa Melanchthoniana. Werke Philipp Melanchthons, die im Corpus Reformatorum vermißt werden, hg. von der Melanchthon-Kommission des Vereins für Reformationsgeschichte, Leipzig, 1910ff [kurz: SupplMel].
53 Vgl. MSA II/12, z. B. 237f; MSA II/22 z.B. 688f.
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Forschungsliteratur Gödl, Siegfried, Melanchthons Stellung zur Heiligenanrufung. Anrufung Gottes und Anrufung der Heiligen, Wien 1977. Hartfelder, Karl (Hg.), Melanchthoniana paedagogica. Eine Ergänzung zu den Werken Melanchthons im Corpus Reformatorum, Leipzig 1892. Jaspert, Bernd, Christliche Frömmigkeit, Bd. 2/1, Nordhausen 2014, 52–66. Jung, Martin H., Prädestination, Eschatologie, Frömmigkeit, in: Melanchthon Handbuch, Berlin 2016. –, Melanchthon und die reformierte Frömmigkeit, in: Andreas Beck (Hg.), Melanchthon und die Reformierte Tradition, Göttingen 2014. –, Philipp Melanchthon. Gebildeter Glaube. Ein Nachwort zum Themenjahr „Reformation und Bildung“ und zum 450. Todestag des Reformators, in: Luther 82/2011, 150–162. –, Philipp Melanchthon und seine Zeit, Göttingen 22010. –, „Sooft ich gebetet habe mit Ernst, so bin ich gewisslich erhört worden.“ Glaubenserfahrungen Melanchthons im Spiegel seiner Briefe, in: Jahrbuch für badische Kirchenund Religionsgeschichte 4/2010, 111–123. –, Evangelische Heiligenverehrung. Die Vorstellungen des Osnabrücker Reformators Hermann Bonnus, in: Jahrbuch der Gesellschaft für niedersächsische Kirchengeschichte 102/2004, 63−80. –, Frömmigkeit und Bildung. Melanchthon als religiöser Erzieher seiner Studenten, in: Günter Frank/Sebastian Lalla (Hg.), Fragmenta Melanchthoniana. Zur Geistesgeschichte des Mittelalters und der frühen Neuzeit, Bd. 1, Heidelberg 2003, 135–146. –, Leidenserfahrungen und Leidenstheologie in Melanchthons Loci, in: Günter Frank (Hg.), Der Theologe Melanchthon [Vorträge der internationalen Melanchthontagung, Bretten, Februar 1997] (Melanchthon-Schriften der Stadt Bretten 5), Stuttgart 2000, 259–290. –, Pietas und eruditio. Philipp Melanchthon als religiöser Erzieher der Studenten, in: Theologische Zeitschrift 56/2000, 36–49. –, Evangelisches Historien- und Heiligengedenken bei Melanchthon und seinen Schülern. Zum Sitz im Leben und zur Geschichte der protestantischen Namenkalender, in: Udo Sträter (Hg.), Melanchthonbild und Melanchthonrezeption in der Lutherischen Orthodoxie und im Pietismus. Referate des dritten Wittenberger Symposiums zur Erforschung der Lutherischen Orthodoxie [Wittenberg, 6.–8. Dezember 1996] (Themata Leucoreana 5), Wittenberg 1999, 49–80. –, Frömmigkeit und Theologie bei Philipp Melanchthon. Das Gebet im Leben und in der Lehre des Reformators (Beiträge zur historischen Theologie 102), Tübingen 1998. Jung, Martin H. (Hg.)/Kock, Manfred (Vorw.), Ich rufe zu dir. Gebete des Reformators Philipp Melanchthon [4., ganz neu gestaltete Aufl.], Frankfurt a.M. 2010. Koch, Ludwig, Philipp Melanthon’s Schola privata. Ein historischer Beitrag zum Ehrengedächtniss des Präceptor Germaniae, Gotha 1859. Kuropka, Nicole, Philipp Melanchthon, Tübingen 2010. Matthes, Karl, Philipp Melanchthon. Sein Leben und Wirken, Altenburg 1841. Scheible, Heinz, Melanchthon. Eine Biographie, München 1997.
Johannes Voigtländer
Huldrych Zwinglis (1484–1531) Spiritualität Vertrauen auf Gott, das Christen- und Bürgergemeinde reformiert
Der Begriff Spiritualität findet sich bei Huldrych Zwingli nicht. Kein Wunder, wenn wir uns darüber im Klaren sind, dass sich das Wort selber erst in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts in der protestantischen Theologie einen Platz erobert.1 Da es auch im deutschen Sprachraum keine anerkannte, allgemeingültige Definition des schillernden Begriffs Spiritualität gibt, muss mit ein paar Pflöcken das Terrain markiert werden, von dem aus der Blick auf den Zürcher Reformator unternommen werden soll. Fulbert Steffensky bietet in seinem Sammelband „Schwarzbrot-Spiritualität“ auch keine abstrakte Definition, aber er beschreibt eine Haltung, ein Selbstverständnis mit Spiritualität, die das Feuer, das Movens eines Menschen, bei der Sache zu bleiben, in Worte zu fassen und kommunikabel zu machen sucht. Dabei ist ihm folgender Sachverhalt und Zusammenhang wichtig, die Transzendenz glaubend festzuhalten, sich von ihr mit Hoffnung ausstatten zu lassen und sich zugleich im Diesseits für Gottes Recht und Gerechtigkeit unter den Menschen zu engagieren. Spiritualität wäre demnach die Achtsamkeit für das, was von der Sache her – vom Wort Gottes her – geboten ist und zwar gelassen, fröhlich, demütig, nachdenklich, zuversichtlich. Steffensky verbindet mit Spiritualität aber auch die Bereitschaft und die Offenheit zu einer reflexiv-kritischen Haltung, „sich selbst zu exilieren; wenn sie die Fähigkeit des Auszugs aus überflüssigem und totem Gehäuse behalten hat; wenn sie einstimmt in die dauernde Bewegung der Selbstreinigung und Selbstverarmung“.2 Auch auf diese Weise wird sich die Unschärfe des Begriffs nicht wirklich auflösen lassen. Das Schillernde, das Unscharfe ist dem Begriff Spiritualität immanent. Denn die Frage nach ihr, die Frage nach der Spiritualität, wird sich immer der Gefahr der Grenzüberschreitung aussetzen; weil ein Geschehen extra nos, weil das Geschehen, dass Gott sich als der Gnädige offenbart und wir ganz
1 Vgl. Köpf, Spiritualität, 1589f. Siehe auch Zimmerling, Evangelische Spiritualität, 15. 2 Steffensky, Schwarzbrot-Spiritualität, 58.
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von diesem Zuspruch leben, sich dann doch irgendwie als eine Möglichkeit des Menschen gerieren möchte.
1.
Entdeckungen
Nach der Schule nimmt der am 1. Januar 1484 geborene Huldrych Zwingli 1498 das Studium der artes liberales in Wien auf. Wien und seine Universität zählte damals zu den bei den Eidgenossen besonders bevorzugten Universitäten. Anfang 1506 schließt er in Basel, 1502 war er dorthin gewechselt, sein Studium mit der Promotion zum Magister Artium ab und widmet sich von nun an der Theologie. Bereits Ende dieses Jahres wird er auf die Pfarrstelle in Glarus gewählt. Er versteht sich als volksnah, mischt sich in die Tagespolitik ein, warnt in „Das Fabelgedicht vom Ochsen“3 vor der Bestechlichkeit und streitet in der Frage des Reislaufens für die Unterstützung des Papstes, gegen Frankreich. Er pflegt eine breite Korrespondenz zu humanistischen Kreisen. Aber auch die Reformbewegung der Devotio moderna wird mit ihrer Frömmigkeit und dem Bestreben, Christus nachzufolgen sowie eine enge Beziehung zu Gott anzustreben, auf Zwingli Einfluss ausgeübt haben. Doch all das reicht ihm nicht. Er will sich grundlegender mit theologischen Fragen befassen. So beginnt er Anfang 1513, Griechisch zu lernen und versteht diese Entscheidung, die selbstverständlich auch aus einem humanistischen Bildungsinteresse gespeist wird, als seine bewusste Hinwendung zur Bibel. So schreibt er am 13. Februar 1513 an den Freund Joachim Vadian in Wien: „Ich habe mir nämlich so fest Griechisch zu studieren vorgenommen, dass mich ausser Gott niemand davon abbringen kann. Es ist mir dabei nicht um den Ruhm zu tun (denn nach dem zu streben, ist auf keinem Wege ehrenhaft), sondern nur um die hochheiligen Schriften“.4
In diese Zeit fällt auch seine intensive Beschäftigung mit Erasmus von Rotterdam. Über die Lektüre der Expostulatio5 gewinnt er sein Verständnis des solus Christus und wendet sich auf diesem Weg Schritt für Schritt von der Scholastik ab. Das heißt nicht, dass Zwingli nun die Philosophie grundsätzlich ablehnt, aber er zieht sie nicht mehr zur Klärung theologischer Fragen heran. Christus Jesus ist der alleinige und einzige Mittler; so wie er uns in der Heiligen Schrift bezeugt wird. Später, 1523, schreibt er über diese Vorgänge und was sie für ihn persönlich bedeutet haben: 3 Zwingli, Z I, 1–22 4 Zwingli, Briefe Bd.1, 5. 5 Erasmus von Rotterdam, Expostulatio Jesu cum homine suapte culpa pereunte, 1514.
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„Ich will euch, liebste Brüder in Christus Jesus, nicht verheimlichen, wie ich zur Überzeugung und zum festen Glauben kam, daß wir keinen anderen Mittler brauchen außer Christus, und ebenso, daß zwischen uns und Gott niemand vermitteln kann außer Christus allein. Vor acht oder neun Jahren las ich ein hilfreiches Gedicht des hochgelehrten Erasmus von Rotterdam, das er dem Herrn Jesus in den Mund legte. Darin klagt Jesus in vielen und klaren Worten, daß man nicht alles Gute bei ihm suche, obwohl er doch der Quell alles Guten, der Retter, die Zuflucht und der Schatz der Seele sei. Da dachte ich: Es verhält sich tatsächlich so; warum suchen wir noch Hilfe bei den Geschöpfen?“6
1516 positioniert er sich kritisch gegenüber einem allegorischen Schriftverständnis, so wie es Erasmus favorisiert. Zwingli ist das zu weit weg von der Schrift, und so erarbeitet er sich den einfachen Schriftsinn. Die Bibel ist gleichsam ihr eigener Interpret, sie besitzt Klarheit und Licht, so dass der Heilige Geist den Sinn erschließt (im Grunde kann von einem pneumatologischen Schriftsinn gesprochen werden). „Als ich nun aber vor sieben oder acht Jahren anfing, mich ganz an die Heilige Schrift zu halten, kam mir die Philosophie und Theologie der Kritikaster immer dazwischen. Da kam mir schließlich, angeleitet durch Schrift und Gottes Wort, der Gedanke: Ich muß das alles liegen lassen und Gottes Willen unmittelbar aus seinem eigenen, eindeutigen Wort lernen! Ich bat Gott um Erleuchtung, und die Schrift begann mir viel klarer zu werden als nach dem Studium von zahlreichen Kommentaren und Auslegern, obwohl ich bloß die Bibel las. Seht, das ist doch ein sicheres Zeichen, daß Gott mich leitet, denn mit meinem kleinen Verstand hätte ich nie so weit kommen können. Als ob unser Verstandeslicht die göttliche Klarheit überbieten und erhellen könnte, während doch Christus sagt: „Ich gebe nichts auf menschlichen Schein. Aber ich erkenne, daß ihr keine Liebe zu Gott in euch habt“ (Joh 5,41–41). Liebten sie nämlich Gott, so würden sie nur seinem Wort glauben. Ist er doch „das Licht, das alle Menschen erleuchtet, die in die Welt kommen [sic!]“ [Joh 1,9]. Die Philosophie ist aber kein solches Licht.“7
Im Spätsommer 1515 begleitet Zwingli eidgenössische Söldner, Reisläufer, aus Glarus als Feldprediger nach Oberitalien. Auf der Seite der päpstlichen Truppen erlebt er eine vernichtende Niederlage. Diese Niederlage ist so verheerend, dass gar die Schweizer Eidgenossenschaft politisch bedroht zu sein scheint. Zusammen mit seiner Erfahrung aus der Gemeindearbeit, dass das Söldnerwesen die sozialen Strukturen der Gemeinwesen verwüstet und verödend zurücklässt, gelangt er zu der Gewissheit, dass Gott in solchen Grenzerfahrungen der Menschen sein Gericht zur Umkehr an denselben vollstreckt. In der Konsequenz verurteilt er von nun an das Reislaufen. Auch seine Erkrankung an der Pest 1519 wird er als
6 Zwingli, Schriften II, 254. 7 Zwingli, Schriften I, 149 und 147.
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ein solches Gericht zur Buße begreifen. 1522 nimmt er noch einmal zur sehr kontrovers geführten Debatte um die eidgenössischen Soldbündnisse in einem offenen Brief an die Schwyzer Stellung: „Gott schuf den Menschen nach 1. Mose 2,7 aus Erde, damit ihn – wie mir scheint – die Herkunft der Materie, aus der er gebildet ist, demütig mache, und damit die gemeinsame Mutter aller Menschen, die Erde, nicht zulasse, daß ihre Kinder sich übereinander erhöben und sich zerstritten; sind sie doch alle von einer einzigen Mutter gleich geboren und werden auf dieselbe Weise ernährt. […] Wir entnehmen aus all dem, daß Gott, die ewige Wahrheit, nicht nur am Anfang, in der Schöpfung, Einigkeit vorgesehen und vorbestimmt hat, sondern auch in der Wiedergeburt, die uns Christus schenkt. […] Warum entstehen in der Eidgenossenschaft, in der man bisher in brüderlicher Liebe zusammenlebte, derartige Streitereien wegen der fremden Herren? Antwort: Die wahre ‚pietas‘, d. h. die Frömmigkeit, die rechte Verehrung und Anerkennung Gottes gibt es nicht mehr; auch der heilige Paulus schreibt den Römern (Röm 1,28–31): ,Und so, wie sie es abgelehnt haben, Gott anzuerkennen, so hat Gott sie hingegeben in eine verworfene, unwürdige Gesinnung und Haltung, so daß sie Ungehöriges tun, voll von Ungerechtigkeit, Unkeuschheit, Bosheit, Habgier, Schlechtigkeit, voll von Haß, gewalttätigem Eifer, Mordgier, Streitsucht, Verschlagenheit; sie sind haltlos, Ohrenbläser, Verleumder, Gottesfeinde, Lästerer, eitle Protze und Prahler, sie hecken Böses aus, sind ungehorsam gegen Vater und Mutter, sind unvernünftig, undiszipliniert, feindselig, unfriedlich und unbarmherzig.‘ […] , daß diese Laster als Plage und Strafe nachfolgen, wo man Gott aufgibt und nur noch an sich selbst glaubt.“8
Die Diskussion um das Reislaufen spitzt sich weiter zu, und Zwingli weicht auf eine Außenstelle der Gemeinde Glarus aus, nach Maria Einsiedeln. Dort wird er bis zu seiner Wahl und zu seinem Wechsel nach Zürich bleiben. Ihm selber ist es dabei so ernst mit den Entdeckungen und Einsichten der letzten Jahre, dass er auch sein eigenes Leben neu zu ordnen beabsichtigt. Er beschließt, sein Versprechen, sexuell enthaltsam zu leben, von nun an ernst zu nehmen. Bei dieser Entscheidung hat sicher auch die Zurückhaltung und eine gewisse Skepsis der Sexualität und der Ehe gegenüber, wie sie in humanistischen Kreisen gepflegt wurde, eine unterstützende Rolle gespielt. Wenige Jahre später gesteht er aber, dass er nur über eineinhalb Jahre diesem Vorsatz treu bleiben konnte/wollte. In einem Schreiben an den für ihn zuständigen Konstanzer Bischof, Hugo von Hohenlanden, gibt er im August 1522 Rechenschaft: „Es handelt sich um folgendes. Wir sehen zwar, wie das Menschengeschlecht sich sein ganzes Leben lang um die Erlangung der Seligkeit hernach ängstigt und sorgt, weniger weil wir von Natur so gewissenhaft wären, als vielmehr infolge des Verlangens nach einem Leben, dessen Hauch Gott der Schöpfer bereits zu Beginn der Erschaffung unserer Gestalt eingehaucht hat [Gen 2,7] – daß es aber keineswegs allenthalben am Tag liegt, auf welche Weise sie zu finden ist. […] Denn das, was menschlicher Weisheit 8 Zwingli, Schriften I, 82–84.
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entspringt, auch wenn es in noch so glänzendem Schein oder Schmuck auftritt, kann uns täuschen; was aber aus göttlicher Weisheit stammt, niemals. Hier liegt der Lebensnerv des Glaubens; wer den nicht hat, wird schwanken, ermatten, fallen. […] Da kam mir bei meiner Suche [der Text] in den Sinn ‚Alles wird im Lichte klar werden‘ [Eph 5,13, nach dem Urtext wörtlich: alles wird klar, indem es vom Licht strafend aufgedeckt wird]; in dem [Lichte] nämlich, welches spricht: ‚Ich bin das Licht der Welt‘ [Joh 8,12], das auch ‚erleuchtet einen jeden, der in diese Welt kommt‘ [Joh 1,9, Vulg.]. Und wiederum jenes [Wort]: ‚Glaubet nicht jedem Geist, sondern prüfet die Geister, ob sie aus Gott sind!‘ [1Joh. 4,1.] Und während ich nach dem [Probier-]Stein suche, finde ich keinen andern, als den Stein des Anstoßes und Fels des Ärgernisses [1Petr 2,7f] […] Nachdem ich also jene Behauptungen auf diese Weise [d. h. mit Christus!] verglichen hatte, hub ich an, jede Lehre an diesem Stein zu untersuchen, und wenn ich sah, daß der Stein dieselbe Farbe von sich gab, oder vielmehr die Klarheit des Steins ertrug, so nahm ich sie an; wenn nicht, verwarf ich sie“.9
Damit sind an der Schwelle von Huldrych Zwinglis Berufung nach Zürich, zum 1. Januar 1519, die wesentlichen Entdeckungen und Entscheidungen zur Gestaltung der Zürcher Reformation angelegt, und zugleich scheinen die zentralen Facetten seiner Spiritualität auf. Er sieht sich herausgerufen und herausgefordert – und das betrifft ihn auch ganz unmittelbar als Person –, dass es nur um das eine gehen kann, dass nur das dem Leben Sinn und Inhalt gibt, dass das Geschöpf seinem Schöpfer die Ehre erweist. Alles andere ist menschliche Hybris und wäre nichts anderes als der Ausdruck des Elends der Menschen. Deshalb wird Zwingli darauf achten und alles unterlassen wollen, das auch nur den Anschein erweckt, das Geschöpf wolle sich zum Schöpfer erheben. Nicht einmal sprachliche Ungenauigkeiten wird er dulden wollen. Alles geht um die Ehre Gottes, der sich in Christus Jesus, in Kreuz und Auferstehung, ganz für die Menschen verwendet hat und im Heiligen Geist wirkt, wann und wo er will.
2.
Konkretion
2.1
Prophezei
Kaum hat Zwingli die Stelle eines Leutpriesters am Großmünster in Zürich angetreten, da nimmt er eine erste, aber für ihn bezeichnende und wichtige Veränderung vor. Er führt die lectio continua für die Predigt ein und wendet sich damit demonstrativ von der Praxis der Perikopenreihen, nach denen gepredigt wurde, ab. Nach dem Vorbild der Kirchenväter Johannes Chrysostomos und Augustin werden die Bücher des Alten und Neuen Testaments fortlaufend aus9 Zwingli, Z I, 259,38–261,11. Übersetzung von Locher, Grundzüge der Theologie Zwinglis, 190– 193.
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gelegt. Sein Interesse gilt dabei dem biblischen Text, dem Wort Gottes. Er beabsichtigt so die Gemeinde zu erziehen, dass sie auf das Wort hört und von ihm her lebt. Im Blick ist die Ehre Gottes, zum anderen das Heil der Menschen und das Wohl der Gemeinde. All das kann nach seiner Einsicht nur Gestalt und konkrete Formen annehmen, wenn nicht mehr Menschen nach Bedarf oder rein zufällig Predigttexte aussuchen, die dann gepredigt werden sollen, sondern Veränderung, Heilung, ist erst dann möglich, wenn Gottes Wort als Ganzes, die Bibel, zu Wort kommt. Das ist der erste konkrete reformatorische Eingriff, den Huldrych Zwingli umsetzt und mit dem er auch etwas von seiner Spiritualität zum Ausdruck bringt: Alles hat sich vom Wort Gottes her zu verstehen und von daher seine Ausrichtung zu finden. In den kommenden Monaten wird er Mt auslegen, dann Apg, 1–2Tim, Gal, 1– 2Petr und Hebr. Fast täglich ist er auf der Kanzel, um sich dieser Aufgabe zu widmen. Zwingli reicht es aber nicht, den Prozess der Auseinandersetzung mit einem biblischen Text und Buch allein in der Hand der Prediger zu wissen, die sich damit in ihre Studierzimmer zurückziehen. Er stellt sich vielmehr vor, dass es zu einem angemessenen Verständnis der Texte auch des Austausches, des Gesprächs und des gemeinsamen Ringens um das Verstehen bedarf und gründet 1525 die Prophezei. Von nun an treffen sich jeden Morgen – außer Freitag (Markttag) und Sonntag – um sieben Uhr (im Winter um acht Uhr) für eine Stunde alle, Pfarrer, Prädikanten, Chorherren und die älteren Schüler, in der Sakristei des Großmünsters. Nach einem Gebet wird der anstehende Textabschnitt eines alttestamentlichen Buches in Latein vorgelesen. Dann trägt der Hebräischlektor den Text in Hebräisch vor und gibt Erläuterungen zu einzelnen Wörtern und zum Text. Im nächsten Schritt wird dieser Text aus der Septuaginta auf Griechisch vorgelesen und erläutert – meist von Zwingli selbst. Bis zu dieser Stelle des Seminars ist die Verkehrssprache Latein. Für den folgenden Teil des Seminars ist die Gemeinde zugelassen, und der Text wird jetzt in Deutsch vorgelesen und erklärt. Dabei wird die Laiengemeinde ermutigt, nachzufragen und aktiv am Verstehensprozess teilzunehmen. Am Nachmittag wird über den Text im Gemeindegottesdienst gepredigt. So werden Stück für Stück die Bücher des Alten Testaments gemeinschaftlich erarbeitet. Aus diesen kollektiven Prozessen des Lesens, Hörens und Auslegens entstehen im Laufe der Jahre die Zürcher Bibelübersetzung und eine Reihe biblischer Kommentare. War die Arbeit in der Prophezei auf das Alte Testament konzentriert, so gab es nachmittags im Frauenmünster eine vergleichbare Beschäftigung und Auseinandersetzung mit dem Neuen Testament. Dieser Arbeitszusammenhang war aber nicht ganz so institutionalisiert.
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Zwei Sachverhalte werden hier deutlich: 1) Die Heilige Schrift hat eine hohe und zentrale Bedeutung. 2) Das rechte Verstehen der Bibel erfordert einen kommunikativen Prozess in der Gemeinde im Hören und Reden, an dem Theologen und Laien beteiligt sind. Huldrych Zwingli geht bei seinen reformatorischen Überlegungen zur Entwicklung der Prophezei von der Voraussetzung aus, dass die Gemeinde neben den Predigten auch einen Anspruch und ein Recht auf Bildung hat. Mit diesem Ansatz ist er ganz dicht an der jüdischen Tradition des Lehrhauses, an die er sich in gewisser Weise anlehnt und die er aufnimmt. Es ist nicht zu entscheiden, ob das ein bewusster Prozess war. Die Einrichtung der Prophezei hat die Zürcher Reformation aber sehr geprägt und entscheidend dazu beigetragen, das Wort Gottes mit dem Alltag der Menschen in Verbindung zu bringen.
2.2
Christus noster
Dem sola scriptura korrespondiert für Zwingli das absolute solus Christus. Das Vertrauen auf Gottes gnädiges Handeln zum Heil der Menschen, das in Kreuz und Auferstehung konkret wird, ist Zentrum des solus Christus. Hier gründen die Nachfolge, die Gottesliebe und die Nächstenliebe und die Hoffnung auf die Vollendung von Gottes Reich. Im zweiten Artikel der ersten Zürcher Disputation formuliert er es so: „Die Hauptsache des Evangeliums ist kurz zusammengefaßt die, daß unser Herr Christus Jesus, wahrer Gottessohn, uns den Willen seines himmlischen Vaters mitgeteilt und uns durch seine Unschuld vom Tod erlöst und mit Gott versöhnt hat“.10 Im dritten Artikel und seiner Auslegung wird das in der Bedeutung für die Menschheit noch deutlicher: „Deshalb ist Christus der einzige Weg zur Seligkeit für alle, die je waren, sind und sein werden. – Der Weg ist Christus, der im Johannesevangelium 14,6 sagt: ,Ich bin der Weg, die Wahrheit und das Leben.‘ Er ist auch die Tür, durch die man notwendigerweise zur Seligkeit gelangt: ,Ich bin die Tür. Wer durch mich hineingeht, wird gerettet […]‘ (Joh 10,9). Daß er aber der einzige Weg sei, und man daher auf keinem anderen zu Gott kommen könne, bezeugt er selber im Johannesevangelium 14,6: ,Niemand kommt zum Vater außer durch mich.‘ … Weiter sagt Paulus im 1. Korintherbrief 15,22: ,Wie in Adam alle Menschen tot sind, so werden in Christus alle lebendig gemacht.‘ Da nun alle Menschen in Adam tot sind, werden alle, die glauben, in Christus lebendig […]. Aber auch alle Glaubenden vor Christus haben ihre Hoffnung, zu Gott zu kommen, auf Christus ausgerichtet. Dies haben Abraham, Jakob, Mose, David und andere, vor allem aber die Propheten in Taten und Worten deutlich veranschaulicht“.11 10 Zwingli, Schriften II, 28. 11 A.a.O, 31f.
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Oder in der Morgenpredigt zum Abschluss der zweiten Zürcher Disputation am 28. Oktober 1523: „Es ist daher nötig, daß alle, die zu Hirten seiner Schafe berufen sind, ihr Amt und ihren Auftrag nach keinem anderen Vorbild verrichten lernen als einzig nach dem wahren Gotteswort. Dieses hat sich im Herrn Jesus Christus, Gottes wahrem Sohne, sehen lassen und seinen deutlichsten Ausdruck gefunden“.12 „Was aber gepredigt werden soll […]: nichts anderes nämlich als das Wort Gottes. Aus diesem soll der Hirt seinen Anbefohlenen ihre üble Lage erklären. Haben sie die erkannt, und fühlen sie, daß sie aus eigenen Kräften nicht selig werden können, so soll er sie an die Gnade Gottes verweisen, damit sie sich ihr anvertrauen. Er sagt ihnen, Gott habe uns als Pfand seiner Gnade seinen einzigen Sohn gegeben, unseren Herrn Jesus Christus, durch den wir in Ewigkeit einen sicheren Zugang zu Gott haben [vgl. Röm 5,2]. Wenn sie die Seligkeit und das Pfand der Gnade Gottes im Glauben angenommen haben und jetzt Gott angehören – zuvor gehörten sie dem Fleisch und der Verdammnis an –, so sind sie auch schuldig, künftig nach dem Willen Gottes zu leben [vgl. 1Petr 4,2], denn sie sind ein ,neues Geschöpf‘(vgl. Gal 6,15).“13
Huldrych Zwingli entwickelt so sein Theologumenon des Christus noster und damit auch einen sehr eigenen Aspekt seiner Spiritualität. Mit ihm will er deutlich machen, dass es sich im Heilsgeschehen, dass es sich in der Frage der Erlösung wie in der Frage des Glaubens immer um ein Geschehen handelt, das von Christus allein ausgeht. Das gilt dann auch für die Spiritualität, die nichts vom Menschen Ausgehendes ist, die keine anthropologische Möglichkeit darstellt, die nur angeregt oder freigelegt werden müsste. Nein, ohne unser Zutun geschieht da alles. Wir sind die Schale, die vom Christus noster gefüllt wird. Und wir sind eine Schale, weil wir Gottes Geschöpfe sind – auch dabei ist keine anthropologische Vorfindlichkeit in den Blick genommen oder auch nur angedacht. So sind wir ein neues Geschöpf und leben künftig nach dem Willen Gottes. So sind wir in den Dienst genommen, in einem Geschehen für uns, das in uns vollzogen wird. Dieses Geschehen umfasst alles, „den Heilsplan, die Heilsgeschichte, die Erlösung, das Gebot, den Glauben, die Liebe, die Hoffnung“14. Es kommt für Zwingli aber noch ein weiterer, wichtiger Aspekt hinzu, wenn er vom Christus noster redet: Christus ist der Hauptmann. Das ist für uns heute eine schwierige und irritierende Weise, von Christus zu reden. Für Zwingli ist sie aber kennzeichnend. Denn in Christus begegnen uns Gnade und Gericht. Er ist Leben und Tod. Am Hauptmann erweist sich, ob ich meine Entscheidung ernstgemeint habe und wirklich zu ihr stehe. Christus ist Hauptmann, weil er führt, weil wir ihm vertrauen. Hauptmann ist er, weil man ihm zu gehorchen hat. Im Grunde 12 Zwingli, Schriften I, 255. 13 A. a. O., 264. 14 Locher, Die Theologie Zwinglis, 39.
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spitzt Zwingli, mit Hilfe eines Bildes seiner Zeit, die Frage nach der Gottheit Jesu Christi zu; denn es geht, auch an dieser Stelle, um die Ehre Gottes, und das darf nicht aus dem Blick geraten. Es geht um die Ehre Gottes, auch in Christus Jesus, und nicht um eine nette und interessante Persönlichkeit, die man sich anhört, um sich dann, beizeiten, wieder seinem Alltag zuzuwenden. Aber Zwingli sprengt dieses Bild, das sich als ein statisches und formales bei den Menschen festsetzen könnte, gleich wieder dialektisch auf, wenn er deutlich macht, dass dieser Hauptmann sein Leben und sein Blut für die Menschen gibt. Nicht ohne Grund und ganz konsequent hat Zwingli allen seinen gedruckten Texten auf dem Titelblatt das Zitat aus Mt 11,28 vorangestellt: „Christus Mathei am XI: Kumend zuo mir alle die arbeitend unnd beladen sind / ich will üch ruow geben“.
2.3
Gottesdienst
Sehr früh schon, bereits in Glarus und in Maria Einsiedeln, hat sich Zwingli mit Fragen der Liturgie beschäftigt und liturgiegeschichtliche Forschungen und theologische Überlegungen dazu angestellt. So ist es ihm nach den ersten Jahren in Zürich ein Anliegen, auch den Gottesdienst in seiner Gestalt zu reformieren und die Liturgie unter die reformatorische Einsicht des sola scriptura zu stellen. Aber auch dieser Aspekt der Zwinglischen Spiritualität kommt ohne den begründenden und ermöglichenden Hinweis auf die Gemeinschaft und die Verantwortung füreinander nicht aus. „Es sollen darum unsere Zeremonien keine anderen sein als die, die Christus gebraucht hat. Durch sie wird Gott verherrlicht, nämlich dadurch, daß wir uns der Wahrheit und Unschuld befleißigen und daß wir bereit sind, nicht die Brüder auszubeuten, sondern uns für sie hinzugeben. Das ist: den Vater in Geist und Wahrheit anbeten [vgl. Joh 54,24].“15
In der Einleitung zu seinem Kanonversuch schreibt er: „Was nun die Worte Christi selbst angeht, so darf sie niemand ändern; sie müssen unantastbar bleiben, aber nicht wie wir sie bisher gebraucht, sondern wie sie Matthäus, Markus, Lukas und Paulus aufgezeichnet haben. Wenn diese Worte immer rein und unverändert bewahrt werden, so ist der Kern der Sache schon gesichert. Denn wenn es auch nur wenig ausmacht, mit welchen Worten einer Gott anredet, so soll man es nur nicht geringfügig ansehen, daß man das Wort Gottes genau wiedergibt. Es ist unantastbar (sacrosanctum). Es kann und darf uns nicht unterworfen sein.“16
15 Zwingli, Schriften III, 366f. 16 Zwingli, Kanonversuch, 13.
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Der Gottesdienst mit seiner Liturgie ist nicht Selbstzweck, sondern er dient dazu, den Worten Christi, dem Wort Gottes, Raum zu geben. Dabei geht es um die Erkenntnis der Menschen. Sie sollen erkennen, dass sie Sünder sind, dass ihnen die Gnade Gottes in Jesus Christus zugesagt ist und dass sie so in die dankbare Nachfolge gerufen sind. „Zuerst wird in einer recht langen Predigt die Wohltat Gottes verkündet, die er uns durch seinen Sohn hat angedeihen lassen, und das Volk wird zur Erkenntnis dieser Sache und zur Danksagung hingeleitet. Nachdem das getan ist, wird ein Tisch vor dem Chor aufgestellt, wie man ihn nennt, vor den Treppenstufen; dieser wird mit einem Tuch zugedeckt, ungesäuertes Brot wird darauf gestellt und Wein wird in Becher geschenkt. Dann tritt der Pfarrer mit zwei Dienern nach vorn; sie wenden sich alle dem Volk zu, so daß der Pfarrer oder das kirchliche Oberhaupt in ihrer Mitte steht; dabei hat er kein anderes Kleid an als das, welches gewöhnlich von ehrwürdigen Männern und Dienern der Kirche getragen wird. Dann hebt der Pfarrer mit lauter Stimme an – aber nicht in lateinischer Sprache, sondern in der Volkssprache –, damit alle verstehen, was sich abspielt […]“.17
Für Zwingli verbindet der Gottesdienst mit seiner Liturgie die Gemeinde mit den Menschen vor Ort und schafft gleichsam die Beheimatung. Die Bibel, das Wort Gottes, verbindet die Gemeinde mit der unsichtbaren Kirche.18 Zwingli versucht, die Gemeinde zu bilden und zu erziehen und versteht sich selbst als pädagogisch handelnder Hirt. In den Artikeln 44 bis 46 der Schlussreden19 webt er mit Hilfe des Begriffs Andacht das ihm so wichtige Gebet in seine reformatorischen Überlegungen zu Gottesdienst und gemeindlicher Praxis ein.20 Andacht, ein auf Gott gerichtetes Denken und Reden, ein an das Wort gebundenes Bekennen und Erkennen – andächtig –; so wird das Gebet zu einem Fundament seiner Spiritualität. Das Gebet als konzentrierte Aufmerksamkeit auf Gott und sein Wort, das der Heilige Geist begleitet, in dem Gott sich als das lebendige Gegenüber zu erfahren gibt. „Wahre Anbeter rufen Gott mit Geist und in der Wahrheit an, ohne alles Geschrei vor den Menschen […], daß kein Gebet wohlgefälliger sein kann als jenes, das ihn wahrhaft erkennt und mit einem von Zweifel freien Herzen anruft; nicht mit Heuchelei, sondern mit rechtem, wahrem Bekennen und Erkennen. So wie Mose im 2. Buch 14,15 bangen Herzens zu Gott ruft und doch seine Lippen nicht bewegt. […] Ebenso hat Christus im Matthäusevangelium 6,7 das viele Plappern verboten und im Johannesevangelium 4,24 die wahre Anbetung im Geist und in der Wahrheit gelehrt. Damit macht er uns frei von bestimmten Gebetsorten; Gott will nämlich nicht an einem Ort lieber als an einem
17 18 19 20
Zwingli, Schriften IV, 316. Vgl. Gordon, zwinglian worship, 131. Vgl. Zwingli, Schriften II, 396–402. Siehe zur Bedeutung des Gebets: Lutz, Ergibt dich ihm ganz.
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andern angerufen werden, sondern an allen Orten, wo er im Geist und in der Wahrheit angerufen wird, sagt er: ,Da bin ich!‘.“21
Vielleicht wird über den Begriff der Andacht nachvollziehbar, warum Huldrych Zwingli bis zum Schluss seine uneindeutige Haltung zum Gemeindegesang im Gottesdienst nicht aufzugeben vermochte. Denn einerseits ist er ein hochmusikalischer Mensch gewesen, der mehrere Instrumente beherrschte. Er komponierte Lieder für den Gemeindegesang (z. B. EG 242) und dichtete Liedtexte. Zugleich bleibt er dem Gemeindegesang gegenüber skeptisch und sieht in ihm keinen notwendigen Bestandteil des Gottesdienstes. Er räumt ihm keinen Platz ein, aber er verurteilt ihn nicht abschließend. Geschrei will er nicht. Hat er Sorge, dass der Gesang die Gemeinde vom Wort, von der Aufmerksamkeit für Gottes Wirken, ablenken könnte?
2.4
Wiedergedächtnis/re-memoratio
Die Feier des Wiedergedächtnisses, des Nachtmahls, der Eucharistie, des Abendmahls als ein Fest der Befreiung ist eine weitere Konkretion von Zwinglis Spiritualität. Im Commentarius fasst er wichtige Aspekte seines Verständnisses zusammen: „Folgendes ist mehr als sonnenklar: Beschneidung und Passah, die nicht ohne Blut vollzogen werden konnten, sind durch Christus, der alles fremde Blut durch sein eigenes stillt, zu dem Zweck in diese zwei neuen, den Menschen ansprechenden Handlungen umgestaltet worden, damit wir erkennen können, daß sich der Schrecken des Gesetzes in die Wohltat der Gnade verwandelt hat. Dem Gesetz, das mit Tierblut geweiht ist, verpflichtet man sich durch das Blut der Beschneidung. Dem Herrn Christus, der durch sein eigenes Blut den ewigen Bund [vgl. Hebr 13,20] geweiht hat, werden wir verpflichtet durch die Begießung mit Wasser, damit wir erkennen können, daß das Feuer der Tieropfer durch das Blut Christi ausgelöscht worden ist. Das Passah war ein großes Erinnerungsfest, bei welchem sie dem Herrn für die Befreiung aus der Knechtschaft Ägyptens Dank sagten. Damit aber keine Spur des blutigen Gesetzes zurückbleibe, wollte er, daß die festliche Erinnerung an ihn selber mit der symbolischen (besser: zeichenhaften) Verwendung von Dingen begangen wird, die dem Menschen sehr lieb sind, nämlich mit Brot und Wein. In diesem Sinn ist also die Taufe unsere Beschneidung, das Abendmahl unser Passah, das heißt das große Erinnerungsfest der Erlösung.“22
An dem angemessenen Verständnis des Wiedergedächtnisses entscheidet sich für Zwingli die wahre und die falsche Religion. Aus dieser Feier lebt die Ge21 Zwingli, Schriften II, 396f. 22 Zwingli, Schriften III, 297f.
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meinde, aus ihr gewinnt sie Gemeinschaft, aus ihr erhält sie Orientierung und Ermutigung. Dabei ruht die Feier nicht in sich, sondern sie ist angewiesen auf die Verkündigung, ohne die es eine Feier des Wiedergedächtnisses nicht geben kann. „so bedeutet […] das Abendmahl sowohl alles, was uns durch die göttliche Freigebigkeit durch Christus gegeben worden ist, als auch, daß wir dankbar sein und mit derjenigen Liebe unsere Brüder aufnehmen müssen, mit der uns Christus aufgenommen, umsorgt und glücklich gemacht hat“.23
Ein unverzichtbares Element des Zwinglischen Wiedergedächtnisses ist die Verbindung zum hebräischen, jüdischen Denken und seiner Sprache. Das Hebräische hat ein qualifiziert anderes Zeitverständnis als zum Beispiel die deutsche Sprache. Wenn wir uns erinnern, dann wenden wir uns zurück. „In der Sprache der hebräischen Bibel liegt die Vergangenheit nicht […] hinter, sondern vor jemandem. Wenn Israel sich erinnert, muß es sich nicht umwenden, nicht zurückschauen, sondern ‚nur‘ die Augen öffnen. Mit offenen Augen sehen, sehen, was vor einem liegt, heißt, das Vergangene sehen. Erinnerung ist deshalb keine Unterbrechung der Praxis, sondern ist Praxis, Praxis, die ihrerseits etwas unterbricht.“24 So glaubt die Judenheit – durch dieses Zeitverständnis ausgestattet –, dass das Ereignis der Befreiung aus der Sklaverei eben nicht nur ein vergangenes, ein historisches Ereignis ist. Sondern indem sie sich erinnert, beschreibt sie zugleich seine Bedeutung für die je eigene und die gemeinschaftliche Zukunft und für die Gegenwart. Die Erinnerung nimmt die Menschen zugleich in ein zukünftiges und gegenwärtiges Geschehen mit hinein. Erinnerung ist etwas, das niemanden unberührt und unbewegt lässt im Hinblick auf seine aktuelle und seine zukünftige Situation. Erinnerung, memoria, ist also keine Fixierung auf die Vergangenheit, sondern die Eröffnung von Zukunft und damit von Gegenwart und insofern ist Jesus Christus im Abendmahl real präsent, wenn wir uns an seinen Tod um unseres Heils willen erinnern lassen. Zwingli kann in seinen letzten Schriften diesen Vorgang, der im Grunde den Umgang des Schöpfers mit seinen Geschöpfen beschreibt, den Vorgang, dass er den Menschen mittels der Erinnerung Zukunft und Gegenwart ermöglicht, glaubende Betrachtung, fidei contemplatio25, nennen. Dabei ist unser heutiges Verständnis von Kontemplation mit seinem stark ausgeprägten meditativen und introvertierenden Kern viel zu eng. Zwingli will hingegen mit der fidei contemplatio ein Geschehen beschreiben, das sich dem Heiligen Geist verdankt, das von außen auf uns zukommt und in dem sich Christus Jesus als der Christus
23 Zwingli, Schriften IV, 293. 24 Ebach, Erinnerung gegen die Verwertung der Geschichte. 25 Z. B. Zwingli, Schriften IV, 117.
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noster erweist. Insofern eröffnet sich eine ganze Theologie, wenn Zwingli das Abendmahl als ein Wiedergedächtnis beschreibt und versteht. Ein Weiteres, heute sehr Befremdliches kommt hinzu, die Kirchenzucht. Für Zwingli eine konsequente Durchführung seiner theologischen Überlegungen. Denn wenn die auf Gottes geschehene Zusage antwortende Gemeinde in der Eucharistie sich wechselseitig ihrer Zugehörigkeit zur Gemeinde, zur Kirche, zum sichtbaren Leib Christi versichert, dann ist sie nicht nur für die Form, sondern auch für die Glaubwürdigkeit der Feier verantwortlich. Dann kann sie nicht die Augen davor verschließen, dass möglicherweise ein Gemeindeglied öffentlich das Wort Gottes in Misskredit bringt („wenn einer schamlos hurte, trank, Wucher trieb, Götzen verehrte, Verleumdungen verbreitete oder raubte“26) und dennoch neben den anderen an den Tisch des Herrn tritt. Da muss die Gemeinde bis zur Besserung, bis zur Umkehr, einschreiten.
2.5
Res publica christiana
Zwingli unterscheidet nicht zwischen einer inneren und einer äußeren Herrschaft Christi, sondern er glaubt, das Christi Herrschaft allumfassend und nicht zu begrenzen ist und sich deshalb notwendigerweise auch auf den äußeren Bereich des Lebens, die Bürgergemeinde, erstreckt – „Christi regnum etiam esse externum“27. Deshalb ist ihm auch eine Gegenüberstellung von Evangelium und Gesetz fremd und defizitär. Vielmehr begreift er das Gesetz als eine Ausdrucksform des Evangeliums, des Wortes Gottes. So beschränkt sich das, was wir über seine Spiritualität sagen können auch nicht auf den Bereich einer persönlichen Heilszuversicht – denn letztlich handelt es sich hierbei ausschließlich um eine Gabe, um ein Geschenk, was nie vergessen werden darf –, sondern schließt das Gemeinwesen, das öffentliche Leben, die Gesellschaft und die Politik immer mit ein. Ein Absehen von dieser nicht spannungsfreien, dialektischen Verbundenheit der beiden Bereiche hieße, Gott nicht die Ehre zu geben und seine Souveränität zu begrenzen. Gott nimmt beide Bereiche in Anspruch, weil sein vorausgehender Zuspruch beiden Bereichen gilt. „Gott ist nicht allein deswegen gerecht, weil er einem jeden das Seine gibt, wie die Menschen die Gerechtigkeit beschrieben haben. Wenn wir ihn nach dieser Richtschnur messen wollten, so täten wir dergleichen, als ob wir ohne ihn etwas wären. Denn was ist unser? Nichts; es ist alles sein, was wir haben und sind […]. Also ist er in anderer Weise gerecht, oder er gibt niemandem etwas; denn er ist niemandem etwas schuldig. Er ist dergestalt gerecht, daß er der unversehrte Brunnen aller Unschuld […] und alles Guten 26 Zwingli, Schriften III, 304. 27 Zwingli, Z IX, 454,13.
Huldrych Zwinglis (1484–1531) Spiritualität
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ist; […]. Daraus folgt, daß wir an seine Gerechtigkeit nicht heranzureichen vermögen, das heißt, daß wir das Maß seiner Vollkommenheit, Unschuld und Reinheit nicht erreichen können. Dennoch fordert Gott, daß wir wie er sein sollten, wenn wir begehrten bei ihm zu wohnen.“28 „Die menschliche Gerechtigkeit oder Obrigkeit ist nichts anderes als die ordentliche Staatsgewalt, die wir die weltliche Gewalt nennen; denn die sogenannte geistliche Gewalt hat für ihre Machtausübung keine Grundlage in der göttlichen Schrift.“29 „Die menschliche Seele wird von niemandem außer von Gott allein erkannt. So kann sie auch niemand leiten als Gott allein. Wenn nicht Gott die Seele der Menschen frei macht, ist er nicht frei; sobald er aber frei ist, kann ihn niemand mehr gefangennehmen; und auch wenn man ihn zwingen will, anders zu glauben, tut er das nicht. […] Darum soll und kann kein Fürst etwas gebieten, das dem Wort Gottes zuwiderläuft oder daß man das Wort Gottes nach des Menschen Gefallen predigen solle. Denn sobald sie das tun, sollen die Boten Gottes sprechen: ,Man muß Gott mehr gehorchen als den Menschen‘ (Apg 4,19; 5,29).“30 „Wo Ihr den Eigennutz habt äußerlich frevelhaft Übles tun sehen, da straft ihn; laßt ihn nicht wachsen. Und damit er in den Herzen der Menschen ausgelöscht werde, so sorgt dafür, daß Gottes Wort getreulich bei Euch gepredigt werde. Denn wenn Gott nicht in den Herzen der Menschen wohnt, ist nichts darin als der Mensch selbst. […] Wo aber Gott in eines Menschen Herz wohnt, da denkt der Mensch nur an das, was Gott gefällt, und sucht Gottes Ehre und des Nächsten Nutzen. Nun kann die Erkenntnis Gottes nirgendwoher deutlicher kommen als aus seinem eigenen Wort. […] Wenn Ihr seht, daß es allein zur Ehre Gottes und zum Heil der Seelen gereicht, so fördert es, unbekümmert darum, was dieser oder jener dazu sage. […] Darum hört auf das Gotteswort, denn das allein wird Euch wieder zurechtbringen.“31
Da ist er wieder, dieser Grundton, wie eine ostinate Stimme, der sich in fast allen Schriften finden lässt: Gott die Ehre geben, für das Heil der Seelen sorgen und der Nutzen des Nächsten, die Heilung des Gemeinwesens. Sie gehören für Zwingli zusammen, sie fallen fast in eins. Die Reformation in Zürich zielt auf die Christen- und die Bürgergemeinde, wobei Erstere ein Teil der Zweiten ist. Damit zeichnet sich das theologische Denken Zwinglis durch eine Offenheit in die Welt hinein aus. Nicht nur, dass er sich auf interessante und rechtschaffene Menschen außerhalb der Christen- und der Judenheit im Himmel freut, nein, seine Theologie umschließt auch die Säkularität. Denn auch sie ist Teil der von Gott geschaffenen Welt. So verstand er das Zürcher Gemeinwesen als res publica christiana. Dabei sollte sich nicht das Christentum verweltlichen, sondern das Zürcher Gemeinwesen und schließlich auch die Welt verchristlichen, durch Menschen, die 28 29 30 31
Zwingli, Schriften I, 162f. A. a. O., 187. A. a. O., 192. Zwingli, Ausgewählte Schriften, 104.
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Johannes Voigtländer
sich als Christen bewusst in ihr engagieren, als der Versuch, Gottes Willen in dieser Welt zu verwirklichen. „In der Kirche Christi ist die Obrigkeit ebenso notwendig wie das Prophetenamt, obwohl dieses den Vorrang hat. Denn so wie der Mensch nur aus Seele und Leib bestehen kann, obwohl der Leib der niedrigere und unwichtigere Teil ist, genau so kann die Kirche ohne Obrigkeit nicht bestehen, wenngleich die Obrigkeit die weniger feinfühligen und dem Geist weiter entfernten Sachen besorgt und anordnet.“32
Dieser aus dem Wort Gottes abgeleitete Anspruch an das weltliche Handeln der Christen, weiß sich gerufen durch Gottes Souveränität, die durch nichts eingeschränkt werden kann und darf. Dieser Gott hat sich selbst unwiderruflich in seinem Bund an die Menschen gebunden; deshalb ist niemand von vornherein ausgeschlossen. Dieser Gott hat sich in seiner einmaligen Menschwerdung konkret für seine Geschöpfe eingesetzt und handelt gegenwärtig als Heiliger Geist; deshalb gibt es keinen Bereich, der sich für Zwingli dem Anspruch der göttlichen Gerechtigkeit entzieht. So ist es nicht verwunderlich, dass Huldrych Zwingli als ein theologischer Vater der Barmer Theologischen Erklärung anzusehen ist, der mit seiner Spiritualität Christen in die Verantwortung, auch in die politische Verantwortung, ruft.
2.6
Gottes Geist weht, wo er will (Joh 3,8)
„Aufgrund der Worte Christi behaupte ich: Jeder, der von der Lehre, die vom Himmel kommt – d. h. vom Evangelium –, wahr und Gott gemäß reden möchte, muß darin von Gott unterwiesen, bestätigt und besiegelt sein. Daraus folgt zwangsläufig auch, daß das richtige Verständnis des Evangeliums nicht von irgendeinem Menschen abhängt, sondern allein davon, ob Gott einen zieht [vgl. Joh 6,44] und erleuchtet. Denn Paulus sagt, daß der fleischliche, d. h. natürliche Mensch die Dinge nicht annehme, die zum Geist Gottes gehören [vgl. 1Kor 2,14]. Wenn es nun allein von Gott abhängt, kann kein Mensch jemals den anderen des Evangeliums versichern; das kann nur Gott.“33 „Der Heilige Geist wird euch alles lehren. Nichts ist davon ausgenommen, sondern er wird uns alles lehren, was uns zusteht, von Gott zu wissen.“34
Hier leuchtet Huldrych Zwinglis so auszeichnende und kennzeichnende Pneumatologie auf. Ohne den Geist geht nichts. Doch damit ist nicht ein freier Geist gemeint, geschweige denn, dass damit ein menschlicher Geist in den Blick genommen ist. Zwingli bindet den Heiligen Geist trinitarisch ein. Der Geist, der der Heilige Geist ist, geht vom Vater und vom Sohn aus. 32 Zwingli, Schriften IV, 328. 33 Zwingli, Schriften II, 22. 34 A. a. O., 23.
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Von diesem Geist aber, dem Heiligen Geist, ist der Mensch abhängig. Er lebt von ihm. Er ist auf ihn angewiesen. In ihm begegnet uns heute die gnädige Zuwendung Gottes. Ohne den Heiligen Geist gibt es keine Erkenntnis Gottes. Es ist dieser Geist, der gleichsam Autor der Schrift, des Wortes Gottes, ist und deshalb nicht von der Schrift zu trennen ist, aber nicht aus der Schrift kommt und deshalb auch nicht von der Schrift abhängig ist. Und dennoch bedarf es der Schrift zum Unterscheiden der Geister. Es ist ein dialektisches Verhältnis, wie Zwingli den Heiligen Geist und das Wort Gottes aufeinander bezieht. Das hat oft zu dem Missverständnis geführt, Zwingli sei ein Spiritualist, der einen unabhängigen Geist neben Gott und über das Wort stelle. Doch ihm geht es auch im Verstehen des Heiligen Geistes einmal um die Übereinstimmung mit Gottes Wort, dann um die Ehre Gottes und schließlich um die Demut der Menschen. „Ob der Geist Gottes bei euch ist, erkennt man zunächst an folgendem: Wenn ihr Gottes Wort euren Anführer sein laßt und nichts beschließt, als was deutlich in Gottes Wort festgelegt ist, so daß die Schrift euer Meister ist, und nicht ihr Meister über die Schrift seid, dann ist der Geist Gottes bei euch.“35
Weil aber der Geist weht, wo er will (Joh 3,8) und der Geist es ist, der lebendig macht und nicht das Fleisch (Joh 6,63), deshalb ist es mitnichten Zwinglis Absicht, den Heiligen Geist zu begrenzen. Er kann sich vielmehr vorstellen, dass der Geist auch außerhalb der Kirche weht und auch nicht nur unter Christen, sondern dass sein Werk, als das Werk Gottes, sich auch außerhalb all dessen in der Welt ins Leben ruft. Der Geist ist nicht gebunden, auch nicht an Wort und Sakrament. Anderenfalls würde man den Heiligen Geist doch wieder unter menschliche Verfügungsgewalt stellen. „Der Geist braucht aber keinen Führer und kein Transportmittel. Er selbst ist nämlich Kraft und Träger, durch den alles gebracht wird, er hat nicht nötig, selber gebracht zu werden. Wir lesen auch in den heiligen Schriften nie, daß Sichtbares, was die Sakramente ja sind, den Geist mit Sicherheit mit sich bringen würde. Vielmehr war, wenn Sichtbares je mit dem Geist verbunden war, der Geist der Träger, nicht das Sichtbare.“36
Es ist der Heilige Geist, der die Menschen ergreift, der sie ihres Glaubens gewiss macht, der sie allein aus Gottes Zuspruch leben lässt und der sie unter Gottes Anspruch auf die Welt ausrichtet. Es ist Gottes gnädige Gegenwart, die Glauben ermöglicht und die die Voraussetzung, die Ermöglichung, der Horizont jedweder Spiritualität ist. Es sind die Fragen und die Herausforderungen des gemeindlichen Alltags und der Bürgerschaft, die Huldrych Zwinglis Spiritualität bestimmen und die ihn 35 A. a. O., 71. 36 Zwingli, Schriften IV, 113.
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Johannes Voigtländer
immer wieder angetrieben und nicht haben ruhen lassen. So hat er sich auf die Suche nach Antworten begeben. Dabei ging es ihm nicht darum, das Gewissen seiner Mitmenschen zu beruhigen und zu salvieren, sondern er wollte die Übel seiner Zeit an der Wurzel packen, denn die Axt ist bereits an die Wurzeln gelegt. Demut und der Wille zur Tat sind ihm die beiden Seiten der einen Medaille, des Glaubens, des Vertrauens auf Gott allein. Dieses Vertrauen lebt aus der von Gott in Jesus Christus geschenkten Gewissheit, dass Gott uns zu seinen Bundesgenossen gemacht hat. Davon werden wir durch die Heilige Schrift unterrichtet, die uns der Heilige Geist verstehen lässt. In ihr wird Gottes heilschaffendes Werk geoffenbart, das in Gottes Menschwerdung in Christus Jesus in Kreuz und Auferweckung vollzogen ist und in das uns der Heilige Geist mit hineinnimmt. Huldrych Zwinglis theologisches Denken, das bundestheologisch gegründet ist und eine pneumatologische Zuspitzung erfährt, nimmt die Menschen guten Willens in die Verantwortung, in der Nachfolge das Ihre zu tun, um dienstbare Geschöpfe seiner Gerechtigkeit zu sein. Dabei ist ihm die verantwortlich lebende und handelnde Gemeinde, als Gemeinschaft der Glaubenden, konkreter Ausdruck seiner Spiritualität.
Literatur Quellen Zwingli, Huldreich, Huldreich Zwinglis sämtliche Werke, Bd. 1–21 (Corpus Reformatorum 89–101), Zürich 1908ff [kurz: Z]. Zwingli, Huldrych, Schriften, Bd. 1–4, im Auftrag des Zwinglivereins hg. von Thomas Brunnschweiler/Samuel Lutz unter Mitarbeit von Hans Ulrich Bächtold, Zürich 1995. Zwingli, Huldrych/Farner, Oskar, Huldrych Zwinglis Briefe: Bd. 1: 1512–1523, Zürich 1918. Zwingli, Ulrich/Farner, Oskar, Huldrych Zwinglis Briefe: Bd. 2: 1524–1526, Zürich 1920. Zwingli, Ulrich/Saxer, Ernst, Ausgewählte Schriften. In neuhochdeutscher Wiedergabe mit einer historisch-biographischen Einführung, Neukirchen-Vluyn 1988. Zwingli, Huldrych, Zwinglis Kanonversuch, eingeleitet, übersetzt und kommentiert von Fritz Schmidt-Clausing, Frankfurt am Main 1969.
Forschungsliteratur Ebach, Jürgen, Erinnerung gegen die Verwertung der Geschichte, 1987 http://www.comlink. de/cl-hh/m.blumentritt/agr243 s.htm. Gordon, Bruce, Transcendence and community in zwinglian worship. The liturgy of 1525 in Zurich, in: R. N. Swanson (ed.), Continuity and change in Christian worship. Papers
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read at the 1997 summer meeting and the 1998 winter meeting of the Ecclesiastical History Society, Woodbridge 1999, 128–150. Köpf, Ulrich, Art. Spiritualität: I. Zum Begriff, in: RGG4, Tübingen 2008, 1589–1591. Locher, Gottfried Wilhelm, Grundzüge der Theologie Huldrych Zwinglis im Vergleich mit derjenigen Martin Luthers und Johannes Calvins, in: ders. (Hg.), Huldrych Zwingli in neuer Sicht. Zehn Beiträge zur Theologie der Zürcher Reformation, Zürich 1969, 173– 274. –, Die Theologie Huldrych Zwinglis im Lichte seiner Christologie, Zürich 1952. Lutz, Samuel, Ergib dich ihm ganz. Huldrych Zwinglis Gebet als Ausdruck seiner Frömmigkeit und Theologie, Zürich 1993. Steffensky, Fulbert, Schwarzbrot-Spiritualität, Stuttgart 2005. Zimmerling, Peter, Evangelische Spiritualität. Wurzeln und Zugänge, Göttingen 22010.
Alfred Mengel
Gott ehren Die Spiritualität Johannes Calvins (1509–1564) Dem Andenken meiner Frau Elke Mengel, geb. Hallensleben, gewidmet
1.
Einleitung
1.1
Gott ehren
Johannes Calvin (1509–1564) 1 beginnt seinen Katechismus von 1542 mit der Frage nach dem „Hauptziel des menschlichen Lebens“ und antwortet: „Gott zu erkennen“.2 Seine Institutio leitet er mit der Verknüpfung von Gotteserkenntnis und Selbsterkenntnis ein.3 Beide aber sind darauf ausgerichtet, dass Gott „geehrt wird“.4 Dabei muss „das Herz […] im Eifer um die Ehre Gottes in einer Weise brennen, dass seine Flamme nach außen schlägt“.5 Wenige Monate vor seinem Tod 1564 betet Calvin zum Abschluss einer Vorlesung über den Propheten Hesekiel: „Laß uns […] bedenken, wie unvergleichlich die Gabe Deines Geistes ist. Laß uns Dir unser ganzes Leben weihen und Deinen Namen verherrlichen, in Jesus Christus, unserem Herrn“.6 Die angeführten Calvinzitate begründen die Überschrift dieses Beitrags. Zugleich machen sie deutlich, dass Calvin die Einheit von Theologie und Spiritualität gelehrt und gelebt hat.7
1 Der Reformator Johannes Calvin (franz. Jean Cauvin) wurde am 10. 7. 1509 in Noyon (Nordfrankreich) geboren und starb am 27. 5. 1564 in Genf. Humanistisch gebildet, studierte er Jura. Theologisch war er Autodidakt. Als Prediger und Lehrer wirkte er 1536–1538 in Genf, von dort vertrieben 1538–1541 in Straßburg, zurückgerufen von 1541 bis zu seinem Tod wieder in Genf. 2 Jacobs, 14. 3 Vgl. Inst I,1,1. 4 Jacobs, 14. 5 CStA 5.2, 542f, zu Röm 10,10. 6 Dahm, 41. 7 Dazu vgl. Zimmerling, Spiritualität, 18–22.
Gott ehren
1.2
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Die Spiritualität Calvins
Die genannten Calvinäußerungen lassen ein Verständnis von Spiritualität anklingen, das Calvin angemessen ist. Begriffe wie praxis pietatis, geistliches Leben, Leben aus Glauben, sind für Calvins Spiritualität treffend, aber nicht umfassend.8 Folgende Aspekte kennzeichnen sie: – Spiritualität ist Begegnung mit dem dreieinigen Gott, mit dem Mitmenschen, mit mir selbst. Die Ausrichtung auf Gott übergeht den Menschen nicht, verhindert aber ein Kreisen des Menschen um sich selbst. – Spiritualität ist immer auf das Wirken des Heiligen Geistes bezogen, wobei Calvin den Heiligen Geist trinitarisch verortet denkt. – Calvins Spiritualität ist vorrangig wortgeprägt – vom Wort der Heiligen Schrift und von der Antwort des Menschen. – Spiritualität ist eingebunden in die christliche Gemeinde. – Spiritualität umfasst alle Bereiche des Lebens wie auch den ganzen Menschen, d. h. seine sensitiven, emotionalen und rationalen Fähigkeiten. Die Rechtfertigung des Sünders aus freier Gnade um Christi willen wird dabei nicht relativiert.
1.3
Wegbeschreibung
Die nachfolgenden Darlegungen möchten die genannten Aspekte der Spiritualität Calvins an seiner Person und an seinem Werk erläutern und verifizieren. Ich folge dabei im Wesentlichen dem Aufbau der Institutio von 1559, dem Hauptwerk Calvins – letztlich ein Erbauungsbuch. Calvin soll möglichst oft selbst zu Wort kommen, um eine unmittelbare Begegnung mit ihm zu ermöglichen. Drei Schlüsselworte gliedern die Darstellung: Am Anfang steht die spirituelle Wahrnehmung der Schöpfung, sodann geht es um die enge Bezogenheit von Spiritualität und Heiliger Schrift und schließlich wird dem für Calvin so typischen Motiv der Pilgerschaft nachgegangen.
8 Zur Notwendigkeit der Präzisierung des Begriffes „Spiritualität“ vgl. a. a. O., 15f.
138
Alfred Mengel
2.
Spiritualität und die Schöpfung
2.1
Betrachten und Genießen der Schöpfung
Nach Calvin hat die Schöpfung ihren Grund in Gott, in seiner Ehre, Güte und Freude.9 Sie wurde geschaffen, dass sie „ein Schauplatz (theatrum) der göttlichen Herrlichkeit sei“.10 Calvin spricht vom Meditieren der Schöpfung. Denn im „Theater“ der Schöpfung räumt Gott der Kirche einen „Ehrenplatz“ ein.11 Was wird gespielt? „Die Vögel besangen Gott, die Tiere riefen ihn an, die Elemente erzitterten vor ihm, die Berge erklangen vor ihm, die Flüsse und Quellen warfen ihm zärtliche Blicke zu, die Gräser und Blumen lächelten ihn an.“12 Darum werden wir „in heiliger Erwägung“ (sancta meditatione) Gottes Werke betrachten, „nicht etwa bloß mit flüchtigem Blick und sozusagen mit leerer Anschauung durcheilen, sondern wir sollen bei solcher Erkenntnis lange verweilen, sie ernstlich und getreulich im Herzen bewegen und uns je und je ihrer erinnern“.13 Der Mensch ist Teil, aber auch Gegenüber der Schöpfung. Er betrachtet sie und er genießt sie.14 Gott will uns mit den Nahrungsmitteln nicht nur sättigen; essen darf auch Freude machen. Kleider bedecken nicht nur den Körper, sie dürfen auch ein „anmutiges Aussehen“ haben. „Kräuter, Bäume und Früchte sollen uns nicht nur mancherlei Nutzen bringen, sondern sie sollen auch freundlich anzusehen sein und einen Wohlgeruch haben.“15 Und zum Wein sagt Calvin: „Wir lassen nicht […] ab, Geschmack an ihm zu finden“.16 Spiritualität betrifft den ganzen Menschen, seine Leiblichkeit, seine sozialen Bezüge, seine Sexualität. „Mit gutem ruhigem Gewissen dürfen die Kinder Gottes in der Ehe leben und züchtig und ehrbar miteinander verkehren.“17 Ehelosigkeit ist eine „besondere Gabe“, aber keine bessere.18 Das biblische Wort „Es ist nicht gut, dass der Mensch allein sei“ (Gen 2,18) bezieht Calvin zuerst auf die Ehe.19 Dann würdigt er aber auch mit einer großen Offenheit andere Formen
9 10 11 12 13 14 15 16 17 18 19
Vgl. CStA 6, 312f, zu Ps 104,31f. CR 55, 146, zu Hebr 11,3. Vgl. CR 31, 361, zu Ps 135,13. CStA 1.1, 37. Inst I,14,21. Vgl. CStA 6, 312f, zu Ps 104,31. Inst III,10,2. Doumergue, Calvins Wesen, 80. Genesis, 37, zu Gen 2,22. Röm Kor, 366, zu 1Kor 7,7. Vgl. Genesis, 35.
Gott ehren
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menschlichen Miteinanders, denn Gen 2,18 „ist ein allgemeingültiger Satz, den jeder Mensch auf sich beziehen mag“.20 Gottes Schöpfung wahrnehmen, in ihr und von ihr zusammen mit anderen zu leben, führt zur Dankbarkeit und zum Lobpreis des Schöpfers – im persönlichen Gebet wie in der Liturgie der Gemeinde. „Wenn wir sehen, wie Gott alles uns zugut, uns zum Heil geordnet hat, […] dann sollen wir uns eben dazu bringen lassen, ihm zu vertrauen, ihn anzurufen, ihn zu loben und zu lieben!“21
2.2
Verantwortung für die Schöpfung
Der Mensch hat einen Schöpfungsauftrag erhalten. Calvin bezieht sich auf Gen 2,15 und spricht von einem maßvollen und bescheidenen Gebrauch der Schöpfung und betont, sie müsse sorgfältig verwaltet und bewahrt werden.22 Zum Schöpfungsauftrag zählt also auch die Arbeit. Sie ist ein Aspekt der Spiritualität Calvins, da auch die Arbeit aus dem Glauben heraus verrichtet wird und eine pneumatische Komponente hat. Denn es hieße „den Geist auslöschen“, wenn durch „Faulheit die Gaben Gottes verspielt“ würden.23 So kann es nicht überraschen, dass der fleißige Calvin den Auftrag zur Arbeit betont: „Der Mensch [ist] zur Tätigkeit, nicht zur trägen Untätigkeit bestimmt. Es ist ganz und gar der Naturordnung zuwider, mit Essen, Trinken und Schlafen das Leben hinzubringen“.24 Dabei hebt er den gemeinschaftsbezogenen, dem Allgemeinwohl dienenden Charakter der Arbeit hervor.25 Damit sie gelingt, wird sie dem Segen Gottes anbefohlen.26 Calvin warnt allerdings vor maßlosem Arbeiten. Gottes Gebot und die Regel der Liebe begrenzen die Arbeit. „Wenn aber ein Mensch, ohne nach Gott zu fragen, nur hurtig und hastig herumhetzt, wird er Hals über Kopf hinstürzen und zugrunde gehen.“27 Im Vertrauen auf Gottes Vorsehung geht es um „das stille Arbeiten, dem die Gläubigen im Gehorsam des Glaubens obliegen. Auch wenn ihr Leben reich an Arbeit ist, [gehen sie] still und gelassen im Gehorsam gegen Gott ihren Weg; ihre Hände sind nicht müßig, aber ihre Herzen bleiben in der Stille, in der Glaubensstille, als schliefen sie“.28 20 21 22 23 24 25 26 27 28
CR 51, 46. Inst I,14,22. Vgl. Genesis, 33; Kl Paul, 543, zu Gen 2,15. Kl Paul, 391, zu 1Thess 5,19. Genesis, 33. Vgl. Ev Harm 1, 412, zu Lk 10,38–42. Vgl. Psalmen 2, 544, zu Ps 127,2. A. a. O. A. a. O., 544f; hier kommt Calvin der ostkirchlichen Hesychia nahe.
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Zwei Beispiele seien genannt, wie die Regel der Liebe Arbeit begrenzt und Erholung ermöglicht: Der Schule in Lausanne empfiehlt Calvin, zwei Nachmittagslektionen zu streichen. „Ich höre nämlich, die Knaben würden durch die Menge der Unterrichtsstunden fast erdrückt.“29 Die Frau seines Freundes Viret, Prediger in Lausanne, war 1546 gestorben. Calvin schreibt ihm: „Komm und Du sollst Dich erholen. Meinetwegen darfst Du ausruhen, ganz wie Du willst“.30 Im Sommer 1550 lädt er Viret erneut ein. „Wir [gehen] beide zu Herrn de Falais. Von ihm fahren wir dann ans andere Ufer hinüber und machen bei den Herren De Lisle und Pommier einen Landaufenthalt bis donnerstags.“31 Die Begrenzung der Arbeit hat auch einen sozialen Aspekt. Bei der Auslegung des Sabbatgebotes bemerkt Calvin: „Knechten und Arbeitern [muss] Erholung von ihrer Mühsal gewährt werden“.32 Die Arbeitsruhe des Feiertages bezieht Calvin wieder auf die Meditation der Schöpfung. Denn Gott „weihte den siebenten Tag der Betrachtung seiner Werke“.33 Der Grundintention Calvins, dass Spiritualität Gott ehrt, entspricht es, wenn der Feiertag zudem dazu dient, dass die christliche Gemeinde sich versammelt, um Gottes Wort zu hören und seinen Namen zu loben.34 Aufmerksame Wahrnehmung der Schöpfung wird Leid und Zerrissenheit in ihr nicht übersehen. Die Welt ist Gott entfremdet, Bosheit und Schuld machen sich breit.35 Auch die schuldlosen Kreaturen sind „uns als Leidensgefährten an die Seite“ gestellt.36 Eindringlich warnt Calvin vor Gewalt und Krieg: Menschen „ziehen in den Krieg, weil sie Gott verachten, der Teufel leitet sie dorthin“.37 Er beklagt die Verwüstungen, die Kriege anrichten: „Sind Bäume etwa Feinde, die gegen dich marschieren und dich anzugreifen drohen?“38 Er klagt an, ruft zum Gehorsam gegen Gottes Gebot, ermutigt zur Geduld, steht treu in der Fürbitte und stützt sich auf die Hoffnung, dass Gott seine Schöpfung erneuern und heilen wird.39 Die ganze Spannung zwischen der Freude an der Schöpfung, der Verzweiflung am Elend der Welt und der Hoffnung auf Gottes heilende Zukunft bringt Calvin in der Betrachtung von Hebr 11,1 bewegend zum Ausdruck: 29 30 31 32 33 34 35 36 37 38 39
Schwarz 2, 493. Schwarz 1, 334f; Stauffer, 29. Schwarz 2, 525. CStA 1.1, 150f. CStA 2, 68f. Vgl. Inst II,8,34. Vgl. Hebr, 404, zu 1Joh 5,19. A. a. O., 422f, zu Röm 8,22. CStA 7, 14. A. a. O. Vgl. CStA 5.2, 420f, zu Röm 8,21.
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„Der Geist Gottes zeigt uns nämlich verborgene Dinge, von denen keine Erkenntnis zu unseren Sinnen gelangen kann. Uns wird ewiges Leben verheißen – aber uns, den Toten. Uns wird von seliger Auferstehung geredet – inzwischen sind wir von Verwesung umgeben. Gerechte werden wir genannt – und doch wohnt in uns die Sünde. Wir hören, daß wir selig sind – inzwischen werden wir erdrückt von unendlichem Elend. Überfluß an allen Gütern wird uns verheißen – reich sind wir aber nur an Hunger und Durst. Gott ruft, gleich werde er bei uns sein – aber er scheint taub zu sein für unser Geschrei. Was würde aus uns, wenn wir uns nicht auf die Hoffnung stemmten und unser Sinn auf dem durch Gottes Wort und Geist erleuchteten Weg, mitten durch die Finsternis hindurch, über diese Welt hinauseilte?“40
2.3
Sicht der Schöpfung
Calvins Weltsicht kann als Entgrenzung bzw. Ausweitung dargestellt werden. Die Parzellierung der Wirklichkeit in einerseits heilige Orte, Zeiten und Personen und in andererseits profane Orte, Zeiten und Personen hebt Calvin auf: Denn die ganze Schöpfung ist Schauplatz der Herrlichkeit Gottes und Aufgabenfeld eines jeden Menschen.41 Und alle Zeit ist in die Heilsgeschichte hinein genommen und unmittelbar zu Gott. Darum misst Calvin dem Kirchenjahr so gut wie keine Bedeutung bei.42 Den Sonntag sieht er pragmatisch als Ruhe- und Gottesdiensttag, ansonsten aber fällt das Sabbatgebot unter das in Christus überwundene Zeremonialgesetz.43 Schließlich ist jeder Mensch im Glauben selbst auf Gott bezogen und mit Möglichkeiten des Geistes begabt, also geistlich. Die Ordensgelübde etwa werden verneint und doch verändert und verallgemeinert beibehalten: Die „Armut“ wird zu einem allgemeinen einfachen Lebensstil, die „ehelose Keuschheit“ zur asketischen Zucht aller und der „Gehorsam“ zum unbedingten und gleichzeitig mündigen Gehorsam jedes Einzelnen gegen Gott. Der Genfer Psalmengesang im Gottesdienst und im täglichen Leben greift das monastische Stundengebet auf und verallgemeinert es.44 Praktisch wird der Dienst der Gemeinde in vier Ämtern geordnet: Prediger, Lehrer, Älteste, Diakone, wobei vorrangig Aufgabenbereiche beschrieben werden.45 Dass der Prediger nicht herausgehoben wird, zeigt seine bürgerliche Kleidung auch im Gottesdienst.46 Andererseits erwartet Calvin von 40 41 42 43 44 45 46
CR 55, 143f; Übersetzung s. Kreck, Zukunft, 13. Vgl. Psalmen 1, 235f, zu Ps 24,1. Vgl. Benoît, Weihnachten in Genf, 40. Vgl. Inst III,8,31. S. auch unter 4.1. Vgl. CStA 2, 238–259. S. das Gemälde „Temple de Lyon. Nommé Paradis“ (Genf, Öffentliche und Universitätsbibliothek).
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den Genfer Ratsherren ein solches Verhalten, dass Christi „Ehre in ihnen aufleuchtet“.47 Pointiert hat Arnold A. van Ruler Calvins Wahrnehmung der Wirklichkeit charakterisiert: Der Calvinismus „weiß um die Heiligkeit der profanen Dinge“.48
3.
Spiritualität und die Heilige Schrift
3.1
Die Bibel und das innere Zeugnis des Heiligen Geistes
In der Schöpfung stellt Gott den Menschen nur „die Umrisse seines Wesens“ vor Augen. Um sich „zu unserem Heil kundzumachen“, hat er das „Licht seines Wortes hinzu gegeben“. Grundlegend ist, dass Gott nicht schweigt, sondern redet.49 Calvin weiß um die menschliche Enstehungsseite der biblischen Bücher, wie auch des Kanons. Dennoch hält er fest: „Es hat Gott gefallen, allein in der Schrift seine Wahrheit zu stetem Gedächtnis zu erhalten“.50 Mithin „kommt niemand auch nur zum geringsten Verständnis rechter und heilsamer Lehre, wenn er nicht zuvor ein Schüler der Schrift wird“.51 Dabei finden wir im Alten Testament eine „vom Heiligen Geist eingegebene Lehre“.52 Im Zeugnis der Apostel vernehmen wir das Wort des erhöhten Christus, weil sein „Geist ihnen Weisung gab“.53 Doch wie kann man dessen gewiss sein, dass Gott in der Bibel zu uns redet? Entscheidend ist, dass „die Schrift durch sich selbst einen Eindruck von ihrer Wahrheit hervor[ruft]“.54 „Denn wie Gott selbst in seinem Wort der einzige vollgültige Zeuge von sich selber ist, so wird auch dies Wort nicht eher im Menschenherzen Glauben finden, als bis es vom inneren Zeugnis des Heiligen Geistes versiegelt worden ist.“55 Wort und Geist sind also in der Freiheit des Geistes wechselseitig miteinander verknüpft. Der Geist öffnet das Wort, wehrt aber zugleich einem Verständnis des Evangeliums, als stünde es uns zur Verfügung. Umgekehrt wehrt das Wort gerade in der Kraft des Geistes einem spiritualistischen, subjektivistischen Geistverständnis. 47 CStA 7, 8. 48 van Ruler, Leben und Werk Calvins, 92; sehr schön wird diese Weltsicht in dem Gedicht „Auf Goldgrund“ von C.F. Meyer ausgedrückt. 49 Vgl. Inst I,6,1. 50 Inst I,7,1. 51 Inst I,6,2. 52 Kl Paul, 569, zu 2Tim 3,16. 53 Inst IV,8,8. 54 Inst I,7,2; OS III, 67,6. 55 Inst I,7,4.
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Das Zeugnis des Geistes erweist sich als grundlegende Erfahrung. In der sehr persönlichen Vorrede zum Psalmenkommentar berichtet Calvin von seiner „plötzlichen Bekehrung zur Gelehrigkeit“ (subita conversione ad docilitatem).56 „Gelehrigkeit“ meint bei Calvin zuerst die hingebungsvolle Beschäftigung mit dem Zeugnis der Bibel. Weitergehend besagt „Gelehrigkeit“ auch, in der Schule Gottes das Leben aus dem Glauben im Heiligen Geist zu lernen.57 In Inst I,8,11 spricht Calvin im Blick auf die Bekehrung des Paulus ebenfalls von „einer plötzlichen und unerwarteten Veränderung“. Beziehen wir beide Erfahrungen aufeinander, dann ergibt sich: Durch das innere Zeugnis des Heiligen Geistes ereignet sich eine grundlegende Begegnung mit der Heiligen Schrift, die uns zu der Gewissheit befreit, dass uns in der Bibel der lebendige Gott selbst zu unserem Heil anredet, wir dem erhöhten Christus begegnen und darin zum Glauben gelangen.58 Gottes Geist erfasst den Menschen ganz. In der Psalmenvorrede fährt Calvin fort: „Erfüllt vom Geschmack [gustus] an wahrer Frömmigkeit entbrannte ich in einem solchen Eifer, darin Fortschritte zu machen“.59 Die Wahrheit der Schrift ist „nicht weniger deutlich als die Farbe an einem weißen oder schwarzen, der Geschmack an einem süßen oder bitteren Ding!“60 Empfinden, Wissen und Wollen sind einbezogen: „Wir kommen zu dieser Gewissheit, weil wir empfinden [sentimus], dass hier die unbezweifelbare Gewalt göttlicher Majestät waltet und wirkt – und diese Majestät zieht und entzündet uns zum Gehorsam, mit Wissen und Willen, aber viel lebendiger und stärker als alles menschliche Wollen und Wissen!“61
Dass das biblische Wort zur Anrede Gottes wird und der Mensch diese Anrede so wahrnimmt, dass sie sein Leben verwandelt und fortan bestimmt, ist ein Geheimnis, das „jeder einzelne Gläubige bei sich selber erfährt – freilich reichen meine Worte bei weitem nicht aus, um dieses Geschehen angemessen zu beschreiben“.62 Für den Zugang zur Bibel ist es nicht belanglos, mit welcher inneren Haltung wir ihr begegnen. Calvin erwartet, dass wir die Würde der Heiligen Schrift achten.63 „Gib, daß Dein heiliges Wort die rechte Ehrfurcht bei uns finde“,64 betet er.
56 57 58 59 60 61 62 63 64
Vgl. CStA 6, 24–27 (eigene Übersetzung). Vgl. Dahm, 19. Vgl. Inst I,8,13. CStA 6, 26f. Inst I,7,2. Inst I,7,5. A. a. O. Vgl. Inst I,9,3. Dahm, 10.
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Die Ehrerbietung vor dem biblischen Wort kann leiblich ausgedrückt werden, indem es stehend gelesen und gehört wird.65
3.2
Die Auslegung der Heiligen Schrift
Calvins Bekehrung führte zu einer intensiven Beschäftigung mit der Bibel, deren größeren Teil er kommentiert hat. Seine Vorlesungen beginnt er mit dem stets gleichen Gebet: „Der Herr gebe, dass die Beschäftigung mit den Geheimnissen seiner göttlichen Weisheit unsere Frömmigkeit wahrhaft fördere, zu seiner Ehre und zu unserer Erbauung“.66 Auch die Auslegung muss in „Ehrfurcht und Glauben […] in Zurückhaltung und Bescheidenheit geübt werden“, sie soll „der Wahrheit der Schrift selber dienstbar sein“.67 Calvin fragt zuerst nach dem Sinn (sensus) und dann nach dem Nutzen (usus).68 Philologisch und historisch sorgfältig erschließt er den Sinn im Gespräch mit älteren und zeitgenössischen Auslegern. Dabei kann er andere Sichtweisen gelten lassen: „Aber auch die andere Auslegung passt gut, so daß ich dem Leser die Wahl lassen möchte.“69 Nach dem Nutzen fragen bedeutet: „Wir sollen bei dem Lesen der Schrift stets das aufsuchen und bedenken, was der Auferbauung dient […]. Ein Theologe soll nicht mit Geschwätz die Ohren kitzeln, sondern Wahres, Gewisses und Förderliches lehren und dadurch die Gewissen aufrichten!“70 Die Vorlesung beschließt Calvin mit einem freien, aus dem biblischen Wort erwachsenen, Gebet. So zu Hesekiel 2,4: „Gib, wir bitten Dich, daß Dein Wort bei uns nicht ein steinernes Herz und einen eisernen Kopf vorfindet, sondern den gelehrigen Sinn“.71
3.3
Die Meditation der Heiligen Schrift
In der Vorrede zum Neuen Testament der französischen Bibelübersetzung seines Cousins Olivetan bittet Calvin, „dieses heilige Evangelium zu hören, zu betrachten, zu lesen und zu bewahren“.72 Er beschwört „Könige, Prinzen und 65 66 67 68 69 70 71 72
Vgl. Ev Harm 1, 148, zu Lk 4,16. Dahm, VI. Inst I,13,3. Vgl. CStA 7, 6. Röm Kor, 519. Inst I,14,4. Dahm, 38. CStA 1.1, 49.
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christliche Obrigkeiten, […] daß es keinem Christen verwehrt oder verboten sei, frei in seiner eigenen Sprache dieses Evangelium zu lesen, zu erörtern und zu verstehen“.73 Wie vollzieht sich die Betrachtung der Heiligen Schrift bei Calvin praktisch? Meditation meint, das biblische Wort sorgfältig und eingehend wahrnehmen, der Reihe nach alle Einzelheiten erwägen.74 Letztlich geht es Calvin darum, dass es wirklich zu einer Begegnung mit dem Bibelwort kommt. Albert Watier hat 1889 „mit Erstaunen festgestellt, daß Calvin das Wort der Schrift wie eine lebendige Person ansieht, die mit ihm handelt“.75
3.4
Die Predigt der Heiligen Schrift
„Durch den Dienst des Evangeliums“ schüttet Gott „seinen Segen“ aus, „um die Herzen im Glauben zu erleuchten und sie daraufhin auch zur Anrufung seines Namens zuzurüsten, in welcher allen Menschen das Heil verheißen wird“, schreibt Calvin zu Röm 10,17.76 Die Predigt gehört in die lebendige Dynamik des Geistwirkens hinein. Es ist die eine Bewegung, die die biblischen Zeugen erleuchtet hat, die dem Wort der Bibel Kraft verleiht, die den Prediger bewegt und die Gemeinde für das Gehörte öffnet und darin vergewissert. Darum wird in der Genfer Gottesdienstordnung die Predigt mit Gebet umgeben. Dieses Gebet ist getragen von der Gewissheit, dass in Christus die ganze Fülle der Weisheit zu finden ist. Zentral ist die Bitte, Christus möge den Prediger und die Gemeinde mit dem Heiligen Geist leiten. Die Bedeutung des Wortes Gottes soll erkannt und im Alltag des Lebens bewährt werden, beides „zu Ruhm und Ehre seines Namens“.77 Die Predigt beschließt Calvin mit einer frei formulierten Gebetsanleitung, so dass das Gehörte zum eigenen Gebet des Hörers werden kann.78 Calvin predigte sonntags zweimal, an den Werktagen jede zweite Woche einmal täglich. Er formulierte frei im Geschehen des Predigens und inmitten der Gemeinde, aber nicht unvorbereitet. Am Vorabend meditierte er das Schriftwort, d. h. er bedachte den Text, las gegebenenfalls Auslegungen und überlegte, wie er das biblische Zeugnis der Gemeinde nahebringen kann. Dann vertraute er seinem Gedächtnis. Für seine Zeit predigte er eher kurz, etwa 45 Minuten.79 Er 73 74 75 76 77 78 79
A. a. O., 55.57. Vgl. Ev Harm 1, 82. Zit. n. Mühlhaupt, Predigt, XIX. CStA 5.2, 553. CStA 2, 165. Vgl. Mühlhaupt, Psalter, 108. Vgl. Mühlhaupt, Predigt, 16f.
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sprach zumeist „bedächtig“80, vermochte sich aber auch „in Zorn“ zu reden.81 Seine Sprache war von einer „bibelgebundenen Einfachheit“82, eindringlich, klärende Bilder und Sprichwörter verwendend, nahe der Volkssprache.83 Während ihm bei der Kommentierung biblischer Bücher sein reiches humanistisches Wissen und seine vornehme Ästhetik durchaus hilfreich waren, nahm er sich darin in der Predigt ganz zurück. Er wollte weder mit Wissen noch mit Rhetorik glänzen. Calvin hat immer auch das Leid der réfugiés in Genf und das seiner verfolgten Glaubensgeschwister in Frankreich, Spanien, Italien, England und in den Niederlanden vor Augen. Darum der tröstende und aufbauende Grundton seiner Predigt. Mögen manche Genfer seine Predigten „gering geschätzt, gescholten, wenig besucht“ haben,84 die gedruckten Predigten Calvins stärkten die verfolgten Gemeinden. Der hugenottische Blutzeuge Admiral Gaspard de Coligny las Calvins Hiobpredigten täglich.85 Calvin legt der Predigt nicht dem Kirchenjahr zugeordnete Bibelabschnitte zugrunde, sondern fortlaufend ganze biblische Bücher. Werktags predigt er über alttestamentliche, sonntags über neutestamentliche Bücher und die Psalmen. Mit der lectio continua möchte Calvin die Gemeinde mit dem Zeugnis der biblischen Bücher im Zusammenhang vertraut machen. Doch ist hier auch das Motiv der Perseveranz bedeutsam, das Beharren im Glauben.86 Das Bleiben in Christus wird durch das Bleiben am Wort gestärkt, führt also zu einer Kontinuität nicht nur in der kommentierenden Vorlesung, sondern auch in der Predigt. Kann eine Intention, die den Prediger Calvin bewegte und damit Teil seiner Spiritualität ist, näher beschrieben werden? Er will das Schriftwort ausgelegen und anwenden, dabei geschieht Weckung und Stärkung des Glaubens, Begründung der Heiligung, Hinführung zum Gebet und Anleitung zum Lobpreis. Calvin geht es grundlegend um „die Heranbildung, um nicht zu sagen Erziehung einer mündigen, in Glaubensdingen auskunftsfähigen Gemeinde“.87 Aufmerksam achtet er auf das Ergehen der Menschen und auf das öffentliche Leben in Genf und weit über Genf hinaus. Er reagiert vom Wort Gottes her – Predigt als „Wahrnehmung einer Situationsanalogie“.88 Denn zur Verherrlichung des hei80 81 82 83 84 85 86 87 88
A. a. O., XVI. A. a. O., 22 Anm. 1. Bizer, 4. Vgl. Mühlhaupt, Predigt, 32. Vgl. a. a. O., 22. Vgl. a. a. O., XVIII. S. auch unter 4.5. Vgl. CStA 7, V. Opitz, Hermeneutik, 276, vgl. CStA 7, 5.
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ligen Namens Gottes gehört auch, „alle Aktivitäten unseres Lebens in den Dienst des Gehorsams“ Gott gegenüber zu stellen.89 Das Recht, die politische Organisation, die Wirtschaft, die soziale Verantwortung sind Aspekte seiner Predigt.90 Von besonderer Bedeutung im Kontext von Spiritualität und Verkündigung ist die Heiligung. Christus ist uns nach 1Kor 1,30 von Gott nicht nur zur Gerechtigkeit, sondern auch zur Heiligung gemacht, betont Calvin.91 Heiligung ist ein vom Heiligen Geist Ergriffen- und Geführtsein. Gott schreibt seine Worte in unsre Herzen und gibt mit seinem Geist die Kraft, sie zu erfüllen.92 Das Beachten der Heiligung führt bei Calvin nicht zu einer gesetzlich moralisierenden Predigt. Geistgewirkte evangeliumsgemäße Heiligung vollzieht sich im Kontext von Befreiung, Christusgemeinschaft und Liebe: Im ersten Satz des Dekaloges (Ex 20,2) erkennt Calvin das „Eingangswort“ zum ganzen Gesetz.93 Doch wenn der Dekalog sich an die richtet, die aus der Knechtschaft in Ägypten befreit wurden, was geht er dann die an, die nicht in Ägypten waren? Calvin verweist auf die Kontinuität von Gottes Gottsein und verbindet diese mit der Erfahrung der Befreiung. „Denn mit derselben Güte, mit der er einst das jüdische Volk aus der Knechtschaft geführt hat, befreit er auch alle seine Knechte aus dem immerwährenden Ägypten der Gläubigen, d. h. von der Macht der Sünde“.94 Diese Befreiung gründet im Heilswerk Christi, denn Christus „hat uns von den drei Tyrannen Sünde, Tod und Teufel befreit. Am Kreuz hat er uns diese Freiheit erworben und ihre Frucht genießen wir im Evangelium“.95 Deshalb ist sie „ein unschätzbares Gut und wir müssen bis zum letzten Atemzug darum kämpfen“.96 Christliche Freiheit ist ihrem Wesen nach Befreiung von der Anklage und dem Urteil des Gesetzes und zugleich Befreiung zu einem von Gottes Geist bestimmten Leben, also zur Heiligung.97 Sie hat bei Calvin auch eine soziale, politische Seite: Weil wir dem Gott der Freiheit gehören, kann es keinen blinden Gehorsam Menschen gegenüber geben.98 Gern verwendet Calvin nach Joh 15,1–8 das Bild von der Einpflanzung in Christus. Das Heil, das Christus erworben hat, wird uns in der Gemeinschaft mit ihm zuteil. Taufe und Glaube verbinden uns durch den Heiligen Geist mit 89 90 91 92 93 94 95 96 97
CStA 5.2, 618f. Vgl. CStA 7, 6–15. Vgl. CStA 1.1, 167. Vgl. Kl Paul, 543. CStA 1.1, 147. A. a. O.; vgl. auch Inst II,8,15. Kl Paul, 78, zu Gal 5,1. Kl Paul, 77. Vgl. Inst III,19 („Von der christlichen Freiheit“); Freiheit umweht die Gestalt Calvins, „ein adliger Zug, bei aller Demut ein stolzes Wissen um die Souveränität der Botschaft, an der das Leben der Welt hängt“, Kreck, Eigenart, 34. 98 Vgl. Röm Kor, 373.
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Christus.99 Das Eingepflanztsein in Christus bringt als Frucht die Heiligung hervor. Darum erbitten Christen „keine Reichtümer, Ehre oder dergleichen, sondern die Lebenskraft des Heiligen Geistes, der es ihnen möglich macht, Frucht zu bringen“.100 Heiligung ist zugleich Ausdruck von Liebe. Der Glaube wirkt in der Liebe, nicht als Relativierung der Rechtfertigung aus freier Gnade, sondern als Folge der Grundbegegnung mit Christus, der „Wiedergeburt“.101 Und der Dekalog wird beachtet, weil wir „von der Liebe zu diesem Gesetzgeber durchdrungen“ sind.102 Also keine Werkgerechtigkeit, keine Gesetzlichkeit, keine Leistung, auch kein Erfolg, vielmehr Frucht der geistgewirkten Christusgemeinschaft in der Liebe.
3.5
Die Bezeugung der Heiligen Schrift im täglichen Leben
Seinen Kindern und Enkeln den Glauben an Gott nahe zu bringen, sei eine wesentliche Aufgabe, bemerkt Calvin.103 In einer Predigt bittet er, nicht nur selbst Gott zu loben, sondern auch seinen Nächsten anzusprechen, damit Gott überall und von allen gelobt werde.104 Dieser Zeugendienst soll aber nicht „in schwärmerischem Ungestüm“ geschehen, „sondern mit festem und beharrlichem, aber besonnenem Eifer für Gott.“105 Bemerkenswert ist, dass Calvin den Zeugendienst der Frauen ausdrücklich hervorhebt. Röm 16,3 kommentiert er: Paulus scheue sich nicht, „im Werk des Herrn eine Frau als Mitarbeiterin neben sich zu haben“.106 Ein Beispiel ist Calvins eigene Frau, Idelette de Bure. Zustimmend und nicht ohne Stolz berichtet er, sie habe den kranken Bürgermeister Poral besucht. Calvin zitiert Poral: Es sei „Gottes wunderbarer Rat“ gewesen, dass Idelette de Bure nach Genf gekommen sei, „damit auch sie dem Evangelium diene“.107 Nachdrücklich tritt Calvin dafür ein, das Zeugnis der Heiligen Schrift auch im Gespräch zu erschließen. Dafür schuf er die Bibelbesprechung der Genfer Pfarrer und der Lehrer am Gymnasium. Freitags versammeln sie sich. Abwechselnd legt ein Theologe öffentlich eine Schriftstelle aus, ein Gespräch schließt sich an. Die Prediger und Lehrer bleiben dann noch zur Klärung offener Fragen und zur 99 100 101 102 103 104 105 106 107
Vgl. Kl Paul, 538. Johannes, 372f. Kl Paul, 80f, zu Gal 5,6. Inst II,8,15. Vgl. Psalmen 2,55. Vgl. Mühlhaupt, Psalter, 121. Inst I,8,13. CStA 5.2, 753. Schwarz 1, 224.
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„freundschaftlichen“ Schlichtung von Streit zusammen.108 Von vielen Gemeindegliedern werden die Bibelbesprechungen sehr geschätzt.109 Wie wichtig Calvin das Gespräch auch über weite Entfernungen war, zeigt sein überaus umfangreicher Briefwechsel. In seinen Briefen geht er auf Menschen, ihre Lebensumstände, ihre Fragen ein. Ergreifend sind die seelsorgerlichen Briefe.110 Doch wenn irgend möglich, pflegt er das Gespräch in der Begegnung. 1545 schreibt er an Luther: „Könnte ich doch zu Euch fliegen, um auch nur auf einige Stunden Deine Gegenwart zu genießen“.111 Calvin sucht das ökumenische Gespräch mit der römisch-katholischen Kirche durch die Teilnahme an den Religionsgesprächen in Hagenau, Worms und Regensburg. Innerprotestantisch unterstützte er nachdrücklich eine europaweite Synode in England, damit „ernste Männer aus den wichtigsten Kirchen zusammenträten [und] die einzelnen Artikel des Glauben fleißig besprächen“. Er selbst will dafür zehn Meere durchqueren.112 Als notwendige Gesprächstugenden erwartet Calvin „die Mäßigung (moderatio), die Zubilligung gleichen Rechtes für die Partner (aequitas) 113, die Menschlichkeit (humanitas) 114 und eine bescheidene Gesinnung (modestia)“.115 Calvins Wertschätzung des Gesprächs wird jedoch erst in seiner Tiefe verstanden, wenn die christologische und pneumatische Dimension des Gesprächs gesehen wird. Letztlich geht es um die Frage, wie Christus in seiner Gemeinde wirksam wird bzw. wie er sie leitet. Eine hierarchisch autoritative Ordnung der Kirche lehnt Calvin ab. Jesus Christus ist das Haupt einer geschwisterlichen Gemeinde. Wie aber vollzieht sich Christi Wirken im erschließenden oder seelsorgerlichen Gespräch, wie vollzieht sich seine Leitung? Hier ist die Zusage Christi in Mt 18,20 von grundsätzlicher Bedeutung: Wo Menschen im Namen Jesu betend zusammenkommen, da ist der erhöhte Herr zugegen, „um sie mit seinem Rat zu leiten. [Sie] sollen sich seinem Wort in Gehorsam fügen und seinem Geist 108 109 110 111 112 113
Vgl. CStA 2, 246f. Vgl. Schwarz 2, 494. Vgl. z. B. Schwarz 1, 185–190. CStA 8,101. Vgl. Schwarz 2, 595f, dort auch das Zit. In Inst I,11,3 steht eine bemerkenswerte Äußerung Calvins zum Judentum. Er weiß um die Verfolgung und Gefährdung des jüdischen Volkes; er fordert auf, die eigene Sünde zu erkennen, „damit wir nicht die Schuld für ein allgemeines Verderben auf die Juden schieben“. 114 Gegenüber katholischen Mitchristen erwartet Calvin Respekt und Takt. In der Kirche im französischen Sauve hatte man 1561 bilderstürmerisch Figuren verbrannt und ein Kreuz heruntergerissen. Calvin tadelt dieses Vorgehen scharf, nennt es eine „verrückte Tat“ und verlangt, „dafür zu sorgen, daß in Zukunft solche Handlungen nicht mehr vorkommen“, vgl. Staufer, Calvins Menschlichkeit, 41. 115 Staedtke, Calvin, 86; die bescheidene Demut Calvins zeigen seine Abschiedsreden: „Ich habe viele Schwächen gehabt, die ihr ertragen mußtet“, CStA 2, 298f.
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die Leitung überlassen“.116 Arnold A. van Ruler resümiert: „Das Gespräch ist die Weise, auf die der Geist die Kirche in alle Wahrheit führt“.117 Diese Einsicht hat dann auch in den von Calvin geprägten Kirchen zu kirchenleitenden Presbyterien und Synoden geführt.
3.6
Die Heilige Schrift und das Bild
Bedeutsam und charakteristisch für die Spiritualität Calvins ist seine Haltung zum biblischen Bilderverbot. Mit der Ostkirche zählt er das Bilderverbot Ex 20,4– 6 als zweites der Zehn Gebote. Er beachtet es konsequent, denn im Unterschied zur Ostkirche sind auch Christusdarstellungen und pädagogische Gottesbilder nicht erlaubt.118 Reformierte Kirchengebäude sollen bilderlos und von „ursprünglicher Schlichtheit“, aber nicht stillos sein, ihre „Ausschmückung“ ein „anständiges Mittelmaß“ beachten.119 Calvin argumentiert: „Dienst und Verehrung Gottes [sind] geistiger Natur, denn so, wie er selbst Geist ist, fordert er auch, daß wir ihm im Geiste und in der Wahrheit dienen“.120 Gott setzt „sein Wort klar allen Bildern und Gestaltungen entgegen“.121 In den Gottesdarstellungen sieht Calvin einen grenzverletzenden Zugriff des Menschen, der Gottes habhaft werden, seine „Nähe besitzen“ will.122 Die Bedeutung des Bilderverbotes ist aber weitreichender und tiefgreifender. Theologie, Glaube und christliches Leben dürfen nicht zur doktrinären Ideologie erstarren und verkommen. Bekenntnistreue ist geboten, doch endgültige Festlegungen müssen vermieden werden. Das bedeutet keine Beliebigkeit in der Lehre. Gemeint ist eine bleibende Offenheit für die Gegenwart Christi, für die Lebendigkeit des Wortes Gottes und für die Unverfügbarkeit des Heiligen Geistes. So hält Calvin die Bekenntnisbildung für grundsätzlich unabgeschlossen. Er kann in Lehre und Gestaltung im Blick auf die Einheit der universalen Kirche „von oft verblüffender Großzügigkeit“123 sein, er ist der große Vermittler.124 Selbst die Prädestinationslehre, die der Theologe Calvin darlegt, gerinnt nicht zur Ideologie. Der Prediger Calvin kann sagen: „Wenn wir die Erkenntnis
116 117 118 119 120 121 122 123 124
Ev Harm 2, 109f. Ruler, Leben und Werk Calvins, 88. Vgl. Inst I,11. A. a. O. IV,5,18. CStA 1.1, 148f; vgl. Joh 4,23. Inst I,11,2. Vgl. a. a. O.,1. Weber, Einheit der Kirche, 137. Vgl. a. a. O., 130–143.
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haben, daß Gott unser Vater ist, wie sollten wir dann nicht wünschen und verlangen, daß er als solcher allen bekannt werde“.125 Calvins Ausführungen zum Bilderverbot sind zudem deutlich religionskritisch. Der Mensch möchte sich seinen Gott nach seinem Bild machen, so dass „der Menschengeist zu allen Zeiten sozusagen eine Werkstatt von Götzenbildern gewesen ist.“126 Diese Haltung führt bei Calvin jedoch keineswegs zur Kunstfeindlichkeit. „Malerei und Bildhauerkunst [sind] Gottes Geschenke“127. Die Künste wurden „ins Dasein gerufen durch den Heiligen Geist, nütze und lieblich für das Leben in menschlicher Gemeinschaft“.128
4.
Spiritualität der Pilgerschaft
Christliche Existenz erlebt und betrachtet Calvin als Weg, der auf dieser Erde durch das Leben führt und einmündet in Gottes Ewigkeit. Doch das Bild des Weges greift weiter. Das Verstehen der Heiligen Schrift möchte ein fortschreitendes Erkennen sein.129 Der Glaube, die Demut, die Heiligung können nach und nach wachsen. Das Gebet mag mehr und mehr an Tiefe und Zuversicht gewinnen, die Liebe reifen, die Hoffnung drängender werden. So ist Spiritualität ein Beginnen, ein Fortschreiten und ein eschatologisches Zum-Ziel-Gelangen. In der Ewigkeit kommt der Glaube zum Schauen und die Hoffnung wird erfüllt, Liebe und Anbetung aber bleiben. Wir sind „Pilgrime“ und Tag für Tag auf den Beistand der Gnade und auf die Kraft des Heiligen Geistes angewiesen.130 Darum betet Calvin: „Da gib, allmächtiger Gott, daß wir immer mehr eilen auf der Bahn Deiner heiligen Berufung“ […] „und, von Deinem Wort und Geist geleitet, unseren Lauf vollenden“.131
4.1
Kirche – versammelte Gemeinde
Die Pilgerschaft beginnt in der Kirche, der „Mutter aller Frommen“.132 Sie besteht als Ortsgemeinde und als katholische, d. h. als allgemeine Weltkirche, weil sie „über den ganzen Erdkreis und durch alle Zeiten zerstreut, doch durch die eine 125 126 127 128 129 130 131 132
Deuteronomiumpredigten, zit. nach Doumergue, Calvins Wesen, 92. Inst I,11,8. A. a. O., 12. Zit. nach Doumergue, Calvins Wesen, 75. Calvin verweist hier auf den Weg Christi mit den Emmaus-Jüngern, vgl. Inst I,9,3. Vgl. a. a. O., III,2,4. Dahm, 50.44. Inst IV,1.
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Lehre Christi und den einen Geist verbunden ist und an der Einheit des Glaubens […] festhält“.133 Gemeinde ist versammelte Gemeinde. Calvin meidet die Bezeichnung „Gottesdienst“ und verwendet neutestamentlich „Versammlung“ oder verwandte Begriffe. Er wünscht, es möge „allgemein dahin kommen, daß keine Zusammenkunft der Kirche ohne Wort, Gebete, die Teilhabe am Mahl und Almosen geschähe“.134 Die Versammlungen der Kirche fleißig zu besuchen, ist nötig, damit die Frömmigkeit lebendig bleibt.135 Im Gesang sieht Calvin ein wesentliches Element des Gottesdienstes. Denn er vermag die Herzen der Menschen zu bewegen und zu entflammen, sodass sie Gott mit wirklicher innerer Beteiligung loben.136 Lieder sind Gebete und dann Gottes würdig, wenn sie von ihm herkommen, also aus seinem Wort. „Darum werden wir keine […] besseren und geeigneteren Lieder finden als die Psalmen Davids, die der Heilige Geist ihm eingegeben“ hat.137 Calvin zitiert Chrysostomus: Psalmen zu singen, sei „wie eine Andacht [meditation], um sich der Gesellschaft der Engel anzuschließen“.138 Deshalb trug er Sorge, dass alle 150 Psalmen139 französisch gereimt und mit Melodien, die „Gewicht und Würde“ (poidz et maiesté) haben, versehen wurden.140 In den französischen reformierten Gottesdiensten wurden ausschließlich Psalmen gesungen, von Kirchentrompetern begleitet.141 Der Lobpreis Gottes erklingt aber auch im Alltag. Die gereimten Psalmen sollen sich einprägen, damit sie auch „in den Häusern und auf dem Feld“ gesungen werden können, was auch geschah.142 Der vollständige „Genfer Psalter“ erschien 1562 und ist bis heute ein wesentliches Element reformierter Spiritualität.
4.2
Taufe und Glaube
Die Taufe ist das sichtbare Zeichen für die Zugehörigkeit zum Volk Gottes und für das Versprechen des Weggeleites durch Christus. Sie geschieht auf Glauben hin. Darum verbindet Calvin Taufe und Glaube eng miteinander. Der Glaube ist nicht selbstverständlich, er ist Geschenk der Gnade: „Der Glaube ist ein Augenscheinlichwerden der Dinge, die nicht augenscheinlich sind, ein Schauen dessen, 133 134 135 136 137 138 139 140 141 142
CStA 1.2, 368f . Inst IV,17,44. Vgl. a. a. O. II,8,34. Vgl. CStA 2, 156f. A. a. O., 158f. A. a. O. Dazu die Zehn Gebote und den Lobgesang des Simeon. CStA 2, 160f. Vgl. Lörcher (Hg.), Lobt Gott, 376. CStA 2, 156f.
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was man nicht sieht, eine Durchsichtigkeit dessen, was dunkel ist, ein Gegenwärtigsein des nicht Gegenwärtigen, ein Aufweis des Verborgenen!“143 Glaube ist ein Akt der Befreiung, „das vornehmste Werk des Heiligen Geistes“.144 Die Taufe besiegelt sichtbar, was aufgrund der „Verheißung des Bundes“ gilt.145 Sie festigt den Glauben als Gemeinschaft mit dem gekreuzigten und auferstandenen Christus und stärkt das Bekenntnis.146 Calvin vertritt die Säuglingstaufe und begründet sie mit der generationenübergreifenden Bundeszusage Gottes.147 Die Taufe ist einmalig. Doch eine Taufhandlung betrifft nicht nur den Täufling, sie ist zugleich Tauferinnerung der ganzen Gemeinde. Darum soll grundsätzlich die Taufe „in Gegenwart der Gemeinde geschehen“ und zwar „mit lauter Stimme“, einmal, weil die Taufe „eine feierliche Aufnahme in die Kirche ist“,148 aber auch, damit „alle auferbaut werden, wenn sie erkennen und ihnen ins Gedächtnis gerufen wird, worin Frucht und Nutzen ihrer eigenen Taufe besteht“.149
4.3
Gebet auf dem Weg und der Weg des Gebetes
Das Gebet ist das Herzstück der Spiritualität Calvins – Weggespräch mit Gott. Es ist kein Zufall, dass Calvin in der Mitte der Institutio vom Gebet handelt und ihm das längste Kapitel widmet: „Vom Gebet, das die vornehmste Übung des Glaubens ist“.150 Es ist eine Hinwendung zu Gott, der sich uns als personales Gegenüber erschließt. „Der Geschmack der Barmherzigkeit Gottes öffnet uns die Tür zum Gebet.“151 Es umfasst Reden und Hören, denn es gleicht „einer Zwiesprache zwischen Gott und uns“ (communication), in der „wir in die Tiefe unseres Herzen hinabsteigen“ und „alles, was unsere Herzen bewegt, ausbreiten“.152 Dabei dürfen wir „es wagen, uns Gott vertraulich zu nahen, da Jesus Christus unser Fürsprecher ist“.153 Auch im Gebet sind wir hilflos und ganz auf Gott angewiesen, dessen Geist unsere Herzen öffnet und uns befähigt, überhaupt Worte zu finden. Vom Geist kommen „der starke Trieb, die Glut und Kraft, die Freudigkeit, die Gewissheit 143 144 145 146 147 148 149 150 151 152 153
Inst III,2,41. A. a. O.,1,4; S. auch oben unter 3.1 und 3.4. Inst IV,16,5. Vgl. a. a. O.,15,1–6. Vgl. a. a. O.,16. CStA 2, 182f. A. a. O., 192f. Inst III,20. Jeremia, 678, zu Kgl 3,41. CStA 1.1, 182f. Jacobs, 47.
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der Erhörung, von ihm endlich die unaussprechlichen Seufzer“.154 In der Heiligen Schrift, besonders in den Psalmen, findet Calvin Ermutigung, Anleitung und Maß für das Gebet.155 Und mit dem Herrengebet hat Gott „ein Muster [formulam] gestaltet und gleichsam vorgeschrieben“.156 Besonders wichtig ist Calvin die persönliche wie gottesdienstliche Fürbitte, das Eintreten füreinander, als ob man sich in gleicher Notlage befände.157 Dabei ist der Betende zugleich ausgerichtet auf die Verherrlichung des Namens Gottes. Doch Gott will seine Ehre nicht um seiner selbst willen geachtet sehen, da „alles, was zu seiner Ehre dient, auch für uns heilvoll ist“.158 Was bemerkt Calvin zur Gebetspraxis? Er empfiehlt die Einsamkeit; „denn wenn wir wissen, daß nur Gott uns zuhört, sind wir aufmerksamer, wir schütten unser Herz in seinen Schoß aus, wir gehen genauer mit uns zu Rate und machen uns Gedanken darüber, daß wir mit Gott selbst zu tun haben“.159 Gewiss aber kann auch mit anderen Menschen gebetet werden und besonders gemeinsam in den Gottesdiensten.160 Wird am „Ort der Not“ – etwa bei Kranken – gebetet, so geschieht es mit „größerer Teilnahme“ und „die Wärme des Gebetes wird gesteigert“.161 Calvin schätzte das kniende Beten. In seinem Arbeitszimmer hinterließ er ein Bärenfell, das vom anhaltenden Knien ganz abgeschabt war.162 Auch in den Gottesdiensten in und um Genf betete die Gemeinde kniend. „Sobald der Prediger auftaucht, begeben sich alle außer ihm auf die Knie, während er stehen bleibt und betet. Er spricht ein freies Gebet, das seiner Vorstellungskraft entstammt“.163 Warum knien? Zu Daniel 6,10 führt Calvin aus: „Wie ernst es dem Daniel aber mit seinem Gebet war, geht daraus hervor, daß er auf seine Knie fiel, nicht als gehöre das Kniebeugen notwendig zum Gebet hinzu, aber es erinnert uns daran, dass wir vor Gott nicht stehen können ohne Demut und Ehrerbietung; zudem bereitet es unsere Seele besser zum ernsten Beten vor.“164
Auch das Aufheben der Hände kennt Calvin. „Wozu tut man dies beim Gebet? Doch nur, damit die Herzen zu Gott gerichtet werden.“165 Bei der Segensbitte
154 155 156 157 158 159 160 161 162 163 164 165
Hebr, 485, zu Judas 20. Vgl. CStA 6, 20f. A. a. O. 2, 92f. Vgl. a. a. O., 5.2, 746f, zu Röm 15,30. A. a. O., 2, 94f. Ev Harm 2, 26, zu Mt 14,23. Vgl. a. a. O. Hebr, 467, zu Jak 5,14. Hinweis von Dr. Ferenc Fodor, Sárospatak. So ein Bericht von 1556; s. Moore-Keish, Theologie, 34. Ezechiel und Daniel, 461. Psalmen 2, 583, zu Ps 134,2.
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„entspricht“ diese Geste „der alten hohenpriesterlichen Form“.166 Für alle Gesten ist aber nötig, dass sich die äußere Haltung mit der inneren Bewegung verbindet.167 Feststehende Gebetszeiten sind hilfreich. Wiederum zu Dan 6,10 bemerkt Calvin: „Dreimal am Tage betete er. Auch das ist zu beachten; denn wenn wir uns nicht bestimmte Gebetszeiten festsetzen, so können wir das Beten leicht überhaupt vergessen. In der Wahl dieser Zeiten ist uns von Gott Freiheit gelassen, aber jeder muß soviel von seiner Schwachheit kennen, daß er sich solche Mittel zu Hilfe nimmt“.168
Auch ein zeitweiliges Fasten ist Teil der Spiritualität Calvins. Es ist eng mit dem Gebet verbunden. Gemeint ist ein Zurücknehmen der leiblichen Bedürfnisse, das Gebet und Meditation vorbereitet und vor schweren Entscheidungen hilfreich sein kann.169 Fasten ist zudem ein Zeichen der Demütigung des Einzelnen wie einer Gemeinschaft vor Gott.170 Konkret meint Fasten, eine bestimmte Zeit ganz auf Speise zu verzichten oder ohne „Ergötzen“ nur das Allernotwendigste zu essen,171 allgemeiner noch: „freiwillige Enthaltsamkeitsübungen“.172 Vor allem aber darf es nicht bei einem nur äußerlichen Tun bleiben, es muss mit einer inneren Haltung des Herzens verbunden sein.173 Schließlich ist auch die Beichte dem Gebet benachbart, weil sie vor Gott geschieht. Sündenbekenntnis und Absolution sind feste Elemente der Genfer Gottesdienstordnung.174 Eine allgemeine Beichte erfolgt auch in besonderen Bußgottesdiensten bei „Pestilenz oder Krieg oder Dürre.“175 Die Einzelbeichte empfiehlt Calvin, um einander „mit gegenseitigem Rat und gegenseitiger Tröstung beizustehen“. Sie kann bei jedem abgelegt werden, „der uns dazu aus der Schar der Kirche am meisten geschickt erscheint“.176 Auch um Vergebung bitten ist eine Form der Beichte.177
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Ev Harm 2, 448. Vgl. Jeremia, 678, zu Kgl 3,41. Ezechiel und Daniel, 461. Vgl. Inst IV,12,15; Röm Kor, 365. „Wenn in Deutschland die Pest, in Frankreich die Verfolgung wütet […] erscheint Calvin auf dem Rathaus und bittet um einen außerordentlichen Bettag“, Mühlhaupt, Predigt, 20. Diese Bettage wurden mit einem Fasten verbunden, vgl. Inst IV,12,18. Vgl. Inst IV,12,18. Röm Kor, 540, zu 2Kor 6,5. Vgl. Inst IV,12,19. Vgl. CStA 2, 162f. Inst III,4,11. A. a. O.,12. Vgl. a. a. O.
156 4.4
Alfred Mengel
Abendmahl
Das Mahl des Herrn stärkt auf dem Pilgerweg. Calvin lehrt die Präsenz Christi im Abendmahl als Christi geistgewirkte Gegenwart, die sich in der Feier des ganzen Mahles vollzieht. „Die Zeichen sind Brot und Wein, mit welchen der Herr uns die wahre Gemeinschaft [communication] mit seinem Leib und Blut, nämlich die geistliche, vorstellt […] Christus mit all seinen Reichtümern ist für uns hier gegenwärtig.“178 Weil „der Leib Christi Nahrung und Schutz des geistlichen Lebens“ ist,179 müsse das Mahl des Herrn oft, wenigstens wöchentlich gefeiert werden.180 Die liturgische Gestaltung soll mit Lob und Danksagung festlich sein und dem Geheimnis des Abendmahles und der großen Freigiebigkeit Gottes entsprechen.181 Das Abendmahl ist Tischgemeinschaft mit Christus und untereinander. Es spornt zu gegenseitiger Liebe an,182 die auch zu einer Versöhnung von Streitenden führen möchte.183 Seinem Charakter gemäß wird es in der versammelten Gemeinde gefeiert. Die Genfer Kirche duldete daher kein Krankenabendmahl. Calvin jedoch meint, dass „man die eines solchen Gutes nicht berauben darf, die an einer langwierigen Krankheit leiden oder in Lebensgefahr sind. Es dient zur Glaubensstärkung“.184
4.5
Mühe, Beständigkeit und Freude der Pilgerschaft
Bei „unserer Wanderung auf Erden” ist „uns viel Kampf verordnet“.185 Zweifel und Anfechtung, Trübsal und Leid, Sünde und Schuld, Hass und Feindschaft bedrängen uns. Nachfolge Christi bedeutet „Selbstverleugnung“ (abnegatio sui) und „freiwilliges Tragen des Kreuzes“ (tolerantia crucis).186 Da brauchen wir die Gabe der Geduld, die wir von Gott empfangen,187 aber auch die „Tapferkeit“, die „wacker Widerstand leistet“.188 Vor allem bedarf es des demütigen Gebetes: „Leite Du selbst unsere Schritte; wir können unser Leben nicht schützen […] Geborgen 178 CStA 1.1, 198f. 179 A. a. O. 180 Vgl. Inst IV,17,43. Der Genfer Rat ließ allerdings nur vier Feiern im Jahr zu. Doch ergab sich dadurch die Möglichkeit zu intensiver Abendmahlserschließung – auch für Kinder; vgl. CStA 2, 260f. 181 Vgl. CStA 1.1, 198f. 182 Vgl. a. a. O., 198–201. 183 Vgl. Opitz, Leben, 81. 184 Schwarz 3, 1265. 185 Dahm, 16. 186 Ev Harm 2, 70, zu Mt 16,24. 187 Vgl. Inst III,8,4. 188 A. a. O.,8.
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in Deiner Treue und Deinem Schutz laß uns unsere Erdenwanderung vollenden“.189 Auf dieser Erdenwanderung werden wir müde, können fallen, sind vielfach bedroht. Dennoch kommen wir letztlich nicht vom Weg ab. Diese Gewissheit des Bleibens in Christus, des Beharrens im Glauben angesichts eigener Schwachheit, innerer Zweifel und äußerer Bedrohung ist Calvin besonders wichtig. Die Perseveranz ist die seelsorgerliche Intention der Lehre Calvins von der Gnadenwahl und wendet sich aktuell an die leidende Kirche. Sie betrifft aber jeden Glaubenden, ja berührt die menschliche Existenz grundlegend.190 Jürgen Moltmann charakterisiert sie sehr schön: „Ist mit dem Zeugnis des ewigen Vorsatzes Gottes in der Berufung das Ereignis des Glaubens der Zufälligkeit entnommen, so ist mit dem Zeugnis von Gottes beständiger Treue der Bestand des Glaubens auch der Hinfälligkeit entnommen“.191 Calvin: „Denn die Menschen, welche Christus mit der Erkenntnis seines Namens erleuchtet und in den Schoß seiner Kirche aufgenommen hat, die nimmt er auch […] in seine Treue und in seine Hut.“192 Die Gewissheit der Heilsbeständigkeit, die Bewahrung im Glauben ist geistgewirkt und wird im Gebet gestärkt: „Wecke in uns die Sehnsucht fest zu beharren in der Hoffnung auf jenes Heil, zu dem Du uns rufst“.193 Wir bleiben in der Gemeinschaft mit Jesus Christus, „der die Quelle alles Guts und Lebens ist und die Fülle der Freude in sich schließt“.194 Die Pilger, die getrost unterwegs sind, haben das Ziel ihrer Pilgerschaft vor Augen. Meditatio futurae vitae (Bedenken des künftigen Lebens) meint das Ausgerichtetsein auf das Ziel der Pilgerschaft: Gottes ewige Herrlichkeit.195 „Wir sind dazu geschaffen, dass wir in unserem Erdenwandel nach dem ewigen Reich Gottes trachten.“196 Inmitten irdischen Leides ist dieses Ziel ein „schöner Trost“.197 Dieser Trost ist keine Vertröstung und führt nicht zur Weltflucht. Calvin vergisst nicht: Wir „müssen […] festen Fußes auf der Erde stehen“.198 Zugleich aber bleibt es dabei, dass wir als Fremdlinge in dieser Welt leben, bis Gott uns „droben“ zu seiner „Ruhe“ bringt.199
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Dahm, 27. Hierzu vgl. Weber, Treue Gottes, 99–112. Moltmann, Erwählung, 52. Inst III,24,6; vgl. auch Hofius, Erwählung und Bewahrung, 86. Dahm, 3. Mühlhaupt, Predigten, 131. Vgl. Inst III,9. Zit. nach Kolfhaus, Leben, 541. Kl Paul, 328, zu Kol 3,4. Zit. nach Kolfhaus, Leben, 553. Vgl. Dahm, 42.
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5.
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Schluss
Ein 1545 veröffentlichtes französisches Gedicht „Salutation a Jésus Christ“ (Gruß an Jesus Christus) zeigt Calvins tiefe Christusliebe: „Du bist die wahre und vollkommene Sanftmut, Ohne Bitterkeit, Ärger und Härte: Lass uns genießen, Lieben und anbeten Deine so sanfte Güte; Lass uns nach ihr verlangen Und immer bleiben In deiner sanften Einzigkeit“.200
Die Wahrnehmung der Schöpfung, die Hingabe an das Wort Gottes, die Weltverantwortung und der Dienst in der Kirche gehören zur Spiritualität. In allem wird Gottes Ehre gesucht. Jesus Christus aber ist der Anfang (principium), die Mitte (medium) und das Ziel (finis) des Glaubensweges und der Spiritualität Johannes Calvins.201
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Alfred Mengel
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C. Arnold Snyder
Die Spiritualität der Täufer1
Die Reformbewegung des 16. Jahrhunderts, die Täufertum genannt wird, erhielt ihren Namen, weil ihre Anhänger die Kindertaufe ablehnten und die Erwachsenentaufe praktizierten. Diese erfolgte auf ein Bekenntnis des Glaubens und war ein Zeichen der Buße, der Wiedergeburt und der Verpflichtung, ein neues Leben zu leben. Die erste bekannte Erwachsenentaufe ereignete sich in Zürich in der Schweiz im Januar 1525. Taufgesinnte fanden sich bald überall entlang des Rheins, von der Schweiz bis zu den Niederlanden, im Osten bis Polen und im Süden bis Mähren und Österreich sowie an Orten dazwischen – gleichermaßen entschieden abgelehnt von katholischen wie protestantischen Autoritäten. Der Spiritualität der Täufer wird in Broschüren, Liedern, Briefen, Gedichtsammlungen und Sammlungen von Bibelzitaten, welche sie für die Erbauung der Kirchenmitglieder zusammenstellten, Ausdruck verliehen. Ein kleiner Teil dieser Literatur wurde gedruckt, der größere Teil durch handgeschriebene Kopien verbreitet. Diese Quellen werden von gerichtlichen Niederschriften ergänzt, die bis heute in europäischen Archiven erhalten sind, in welchen viele tausend festgenommene und eingesperrte Täufer von ihrem Glauben und ihrer Praxis Zeugnis geben, häufig unter Androhung von Folter und dem unmittelbar bevorstehenden Tod. Bemerkenswerterweise offenbaren die Zeugnisse der Täufer trotz Ermangelung einer zentralen Leitung einen vergleichbaren spirituellen Weg, der einen inneren Prozess der spirituellen Transformation mit einem klaren Verständnis der erwarteten äußerlichen „Frucht“ verbindet. Dieser spirituelle Weg wurde geformt, verteidigt und gelehrt aus biblischen Quellen, interpretiert und geordnet auf die wiedererkennbare Art und Weise der Täufer. Die überlebenden Täufertraditionen (die Schweizer Brüder – später auch die Amischen –, die Mennoniten und die Hutterer) einigten sich in Bezug auf die entscheidenden 1 Die Übersetzung aus dem Englischen besorgte Lydia Keller, Leipzig. Der Originaltext erschien unter C. Arnold Snyder, Anabaptist Spirituality, in: The New SCM Dictionary of Christian Spirituality, Norwich, UK 2005 © scm press. Wiederabdruck in Übersetzung mit freundlicher Genehmigung von Verlag und Autor.
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strittigen Themen mit relativ kleinen Unterschieden und betonten klare spezifische „Regeln des Zusammenlebens“ für ihre Mitglieder. Diese gereiften Täufertraditionen wurden den nachfolgenden Generationen bis zum heutigen Tag weitergereicht. Das Täufertum entstand als eine Bewegung der Reformation – protestantische Prinzipien wurden aber in einer einzigartigen Art und Weise weiterentwickelt. Täufer bestanden darauf, dass spirituelle Erneuerung und das Leben eines neuen und heiligen Lebens notwendige und sichtbare Entsprechungen des rettenden Glaubens sind. Diese Lehre wurde bei den etablierten Protestanten als eine „neue Sorte des Mönchtums“ denunziert. In vielerlei Hinsicht vereinigten die Täufer auf einmalige Art und Weise spätmittelalterliche, christozentrische und asketische Frömmigkeit mit den biblischen Prinzipien der Reformation. Frühe Zeugen berichten, dass Prediger der Täufer (Männer und Frauen) den Einzelnen zur Buße und Bekehrung aufforderten. In vielen Fällen rief der Ruf zur Buße bei den Hörern emotionale Reaktionen der Zerknirschung hervor und die Bitte um die Taufe als einem Zeichen der Buße und den Vorsatz, ein neues Leben zu leben. Die Täufer mahnten ihre Hörer, Gott zu fürchten und sich vom Eigenwillen und der Welt abzuwenden. Die einzige Hoffnung des Sünders war es, die Freudenbotschaft anzunehmen und auf die rettende Kraft des gekreuzigten Christus zu vertrauen. Die Täufer waren überzeugt, dass Gott keine aufrichtig bußfertige Person abweisen würde. Die Hindernisse gegenüber einem spirituellen Leben, glaubten sie, waren nicht durch Gott vorherbestimmt, sondern selbst gewählt. Der Widerstand gegen den wirksamen Empfang der Gnade Gottes lag im Eigenwillen, der Liebe des Fleisches, der Liebe der Welt, der Liebe der Bequemlichkeit und des Komforts und der Angst vor den Konsequenzen einer vollen Hingabe an den Glauben – der Angst vor den hohen Kosten einer echten Nachfolge und Jüngerschaft Christi in Wort und Tat. Die Täufer sprachen nicht von „Glaube allein“, sondern vom „Gehorsam des Glaubens“. Wahrer Glaube führt zu einer neuen Geburt, einer spirituellen Erneuerung durch Gottes Gnade und Kraft. „Gläubige“ sind die, die spirituelle Kinder Gottes geworden sind. Der Beginn des Weges zur Erlösung war für die Täufer daher nicht durch ein forensisches Verständnis von Erlösung durch „Glaube allein“ gekennzeichnet, sondern durch den Gesamtprozess der Buße, der Selbstverleugnung, des Glaubens, der Wiedergeburt und des Gehorsams. Es war dieser Prozess, der in dem biblischen Zeichen der Taufe zum Ausdruck gebracht wurde. Einige der zentralen Themen und Verhaltensweisen einer früheren mystischen Tradition wurden von den Täufern aufgenommen (und modifiziert), insbesondere die Art und Weise, wie die ersten Stationen des spirituellen Weges verstanden und traditionellerweise beschrieben wurden. Zentral unter diesen war die Kultivierung einer Haltung der Gelassenheit (die entscheidende chris-
Die Spiritualität der Täufer
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tusähnliche Tugend der Hingabe) und „die Geburt Christi im Inneren“. Diese christozentrischen Schwerpunkte wurden durch die Täufer entschieden aufgenommen. Mit der Grundannahme der „Geburt Christi im Inneren“ erwarteten sowohl die mystischen Traditionen als auch die Traditionen der Täufer, dass sich dieselben Tugenden der Natur Christi im Wiedergeborenen widerspiegelten: Demut, Geduld, vollständige Hingabe an den Willen Gottes, vollkommene Liebe und Gehorsam. Sich auf den engen Weg der Errettung durch Buße, Selbstaufgabe, Vertrauen, Wiedergeburt und Gehorsam zu begeben, war eine Entscheidung, die jedem erwachsenen Mann und jeder erwachsenen Frau persönlich zukam – kein Kind konnte Buße tun, wiedergeboren werden oder versprechen, ein neues Leben im Gehorsam gegen Christus zu führen. Mit ihrer Betonung der spirituellen Erneuerung teilten die Täufer einen wichtigen Punkt des Ansatzes zeitgleicher Spiritualisten wie Kaspar Schwenckfeld und Sebastian Franck. Dennoch waren die Täufer anders als die Spiritualisten überzeugt, dass christliches Leben nicht privat, subjektiv oder individuell gelebt werden kann, sondern notwendigerweise vor der Welt gelebt werden muss, in der Kirche, dem inkarnierten Leib Christi in dieser Welt. Die Wassertaufe markierte den Beginn des äußeren Lebens und Zeugnisses für die neue spirituelle Existenz in Christus. Viele frühe Täufer sprachen von einer dreifachen Taufe mit Geist, Wasser und Blut. Die „Taufe im Geist“ verwies auf den inneren Prozess der Buße, Hingabe und Wiedergeburt – die wahre und wirksame Taufe. Dennoch bezeugten Personen, die durch den Geist getauft worden waren, ihre neue spirituelle Geburt durch die Wassertaufe, die von Christus selbst aufgetragen (und beispielhaft vollzogen) worden war. Die Wassertaufe war nach dem Verständnis der Täufer das sichtbare äußere Siegel und Zeugnis vor der gläubigen Gemeinde, dass ein Bund mit Gott im Herzen geschlossen worden war, sich vom Eigenwillen abzuwenden, Gottes Willen in allen Dingen zu akzeptieren und Christus gehorsam bis in den Tod zu folgen. Die öffentliche Verpflichtung und das Versprechen der Wassertaufe war ein „Zeugnis eines guten Gewissens vor Gott“, ein öffentliches Siegel der inneren spirituellen Taufe, die vorangegangen war. An zweiter Stelle war das Zeichen der Wassertaufe ein Vertrag, der mit der Kirche geschlossen wurde und die Absicht des Einzelnen bestätigte, dem Leib Christi als ein volles Mitglied anzugehören. Schließlich bezeugte die Wassertaufe, dass der Einzelne nun auch bereit war, die Möglichkeit der Bluttaufe, das Martyrium, auf sich zu nehmen – das Leiden, welches für jene zu erwarten ist, die öffentlich dem gekreuzigten Christus nachfolgen. Aufgrund der intensiven Verfolgung, welche die frühen Täufer erlitten, weil sie an der Ablehnung der Kindertaufe festhielten, war die Bluttaufe eine reale Möglichkeit, mit der man sich vor der Zustimmung zur Wassertaufe auseinandersetzen musste.
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Die Wassertaufe war für die Spiritualität der Täufer zentral, nicht wegen irgendeiner sakramentalen Funktion (das Wasser übermittelte keine Gnade), sondern weil dieses öffentliche, geächtete Zeichen die individuelle Erfahrung einer spirituellen Erneuerung bezeugte und diese innere Erfahrung zu einem sichtbaren, andauernden Leben als Glied des Leibes Christi in der Welt verpflichtete. Die zunächst gebräuchliche Bezeichnung der Täufer als „Wiedertäufer“ war, obwohl sie sich auf den sekundären Akt der Wassertaufe fokussierte, letztlich kein falsch gewählter Name, um die Bewegung zu beschreiben. Dies war besonders dann der Fall, wenn der Begriff „Taufe“ eine Taufe mit Geist, Wasser und Blut bedeutete. Die sichtbare Praxis der Spiritualität der Täufer sollte sich sowohl individuell als auch kollektiv äußern. Von getauften Individuen wurde gefordert, dass sie ein christusähnliches Leben führten, das am biblischen Zeugnis der Worte und des Vorbildes Christi gemessen wurde. An erster Stelle wurde von Gliedern des Leibes Christi erwartet, dass sie bereit waren, ihre materiellen Güter mit den Notleidenden zu teilen. Gemeinschaftliches Teilen war die Norm der Täufer. An zweiter Stelle wurden Jesu Worte, dass eine Rede „Ja“ und „Nein“ sein müsse (Mt 5,33– 37), nicht nur als ein Verbot des Schwörens von Eiden verstanden. Es ging darüber hinaus darum, Freude an der Wahrhaftigkeit zu haben: Diejenigen, die reines Herzens sind, werden wahrhaftig reden und wahrhaftig leben. Schließlich glaubte und praktizierte die überwiegende Mehrheit der Täufer (es gab einige frühe Ausnahmen) „Widerstandslosigkeit gegen das Böse“, indem sie Rechtsstreite und die Teilnahme an Krieg und Gewalt vermieden. Wie Christus es zuließ, dass er zum Kreuz geführt wurde, ebenso sollten es auch die Glieder seines Leibes tun. Von jedem, der durch die Kraft Gottes neu geboren war, wurde erwartet, dass er die sichtbare Frucht der leidenschaftlichen teilenden Liebe, der Wahrhaftigkeit und der Friedfertigkeit hervorbrachte und damit ein Spiegelbild von Christus selbst wurde. Individuelle Äußerungen eines Wiedergeborenen wurden durch die gemeinschaftlichen Praktiken in der „Gemeinschaft der Heiligen“, der Kirche, gefestigt. Die kirchlichen Praktiken der Täufer versuchten, den Befehl und die Praxis des Neuen Testamentes widerzuspiegeln. Die anfängliche Hingabe in der Taufe spiegelte den Befehl in Mt 28,19f und in Mk 16,15f wieder. Sie wurde in der Gemeinschaft gefeiert und umfasste die Verpflichtung, ein neues christusähnliches Leben zu führen. Die Taufe verpflichtete darüber hinaus zu brüderlicher Ermahnung und Belehrung (den Bann bzw. die Kirchenzucht), womit den Anweisungen in Mt 18,15–17 gefolgt wurde. Die Feier des Abendmahles war auf die getauften Mitglieder beschränkt und es ging eine Prüfung der Beziehungen und der „Würdigkeit“ der Teilnehmer voraus (1Kor 11,23–29). Die Feier des Abendmahls erinnerte an das Opfer Christi, rief aber auch den Bund der lebendigen Glieder Christi mit Christus dem Haupt und untereinander ins Ge-
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dächtnis und feierte diesen. In der Mitte des 16. Jahrhunderts wurde die Feier der Fußwaschung als ein Zeichen der Demut und des Willens, alle Dinge mit den Gliedern des Leibes Christi zu teilen, in den Gemeinschaften der Täufer eingeführt, womit der Praxis und dem Befehl Christi entsprochen wurde (Joh 13,1–15). Die kirchlichen Praktiken der Täufer basierten auf direkten Befehlen des Neuen Testaments, ebenso wie ihre gemeinschaftlichen Veranstaltungen zur Entscheidung und Neuentscheidung für den spirituellen Weg der Buße, Gelassenheit, Wiedergeburt und eines neuen Lebens, das danach strebt, Christus in gehorsamer Jüngerschaft zu folgen. Etwa 2.500 Täufer starben zwischen 1525 und 1600 den Märtyrertod. Die zeitüberdauernden Dokumente bezeugen die spirituellen Übungen, die diese Märtyrer stärkten. Diese Übungen basierten zuallererst auf Worten der Schrift, in einem verblüffenden Ausmaß erinnert, abgerufen und verinnerlicht. Gefangene Täufer (viele bekennende Analphabeten) verärgerten den Klerus und die regierenden Autoritäten mit massenhaft biblischen Texten. Die Bibel war ihre Lebensregel. Täufer waren außerdem bekannt für inbrünstige freie Gebete mit einer besonderen Vorliebe für das Gebet des Herrn, das sie auf ihre eigene Art und Weise interpretierten. Schließlich komponierten Täufer in der Tat Tausende von Hymnen, welche sie „in einer spirituellen Weise“ sangen, womit sie gleichermaßen die Worte und Beispiele der Schrift wie ihre eigene Lehre und die Geschichte ihrer Märtyrer und Zeugen ins Gedächtnis riefen. Ihre geheimen Lobpreisgottesdienste waren Gelegenheiten, ihren Glauben durch Gebet, Predigt und Lieder gemeinsam zu stärken. Die Spiritualität der Täufer war demnach an der Buße und Erneuerung orientiert, gemeinschaftlich, biblisch und christozentrisch. Das Zeugnis der Täufer war ein einfaches Leben in Lauterkeit vor dieser Welt, das durch Gottes Gnade ermöglicht wurde. Es folgte den Prinzipien des Königreiches, das durch Jesus angekündigt worden war.
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C. Arnold Snyder
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Nicholas Sagovsky
Die Herausbildung der anglikanischen Spiritualität in den Jahren 1534–16621
1.
Einführung: Ecclesia Anglicana
Die entscheidende Ursache für die Entstehung der Anglikanischen Kirche2 war der Bruch mit Rom in der Mitte des 16. Jahrhunderts. Es bleibt jedoch festzuhalten, dass diese Ablehnung der Autorität des Papstes nicht die Ablehnung der christlichen Tradition bedeutete, die in England seit tausend Jahren praktiziert worden war. Der früheste Text, der in der Rückschau als bedeutsam für die Identität der anglikanischen Kirche angesehen werden kann, ist Bedas „Ecclesiastical History of the English People“, der 731 abgeschlossen wurde. Wie Eusebs Kirchengeschichte aus dem 4. Jahrhundert, welcher sie nachempfunden ist, wird Bedas Geschichte als eine Fortsetzung der Apostelgeschichte erzählt. Sie zeigt, wie das Evangelium sowohl aus dem Süden als auch aus dem Norden nach England kam und wie eine authentische englische Form des Christentums entstand, die römischen Sitten folgte und in Gemeinschaft mit der Römischen Kirche heranwuchs. Im späten 15. Jahrhundert wurden Euseb und Beda in Straßburg zusammen in einem Band gedruckt.3 Bedas Werk ist nur einer von mehreren Texten, die von entscheidender Bedeutung für die Herausbildung der anglikanischen Spiritualität waren. Der erste 1 Zitate aus dem Book of Common Prayer wurden, sofern enthalten, der deutschen Ausgabe von 1901 entnommen und geringfügig sprachlich aktualisiert. Die deutschen Übersetzungen der Articles of Religion wurden dem Corpus Confessionum, hg. C. Fabricius, 17. Abteilung, I. Band, 1937, S. 374–403 entnommen und ebenfalls geringfügig sprachlich aktualisiert. Bei allen anderen Übersetzungen aus englischen Originaltexten handelt es sich um eigene Übersetzungen. Die Übersetzung des gesamten Beitrages aus dem Englischen besorgte Johannes Schütt, Leipzig. 2 „Anglicanism“ ist aus „Anglican“ abgeleitet, der englischen Form des lateinischen anglicana, das im späten Mittelalter verwendet wurde, um die christliche Kirche in England zu beschreiben (ecclesia anglicana). „Anglicanism“ wurde erst ab den 1830er Jahren als englischer Begriff verwendet, als die Traditionen, die von der Kirche Englands kamen, durch die Kolonien des britischen Reiches verbreitet wurden. Vgl. Sykes, Study of Anglicanism, 406f.424–429. 3 Vgl. Wright, Companion to Bede, viii.
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ist die Bibel in englischer Sprache, vor allem die „Authorised Version“ von 1611. Der zweite ist das „Book of Common Prayer“, das ursprünglich im Jahre 1549 als eine vorsichtige englische Bearbeitung des römisch-katholischen Messbuches und Breviers veröffentlicht wurde. Eine deutlich evangelischere Version wurde 1552 veröffentlicht. Dies war die Grundlage für zwei weitere Auflagen, die zum endgültigen Book of Common Prayer des Jahres 1662 führten, welches das standardmäßige anglikanische Gottesdienstbuch bis zum 20. Jahrhundert blieb. Es wurde von zwei „Books of Homilies“ (Predigtbüchern) ergänzt, die 1547 und 1571 veröffentlicht wurden. Diese boten schlecht ausgebildeten Geistlichen eine Auswahl von dogmatisch und politisch autorisierten Predigten, die bedenkenlos in den Gemeinden gehalten werden konnten. Ein in den Privathäusern beliebter anglikanischer Text war Foxes „Acts and Monuments of Christian Martyrs“ (1. Auflage 1563).4 Es war vor allem Foxe, der die Erinnerung an die protestantischen Märtyrer wachhielt, um die Identität der Anglikanischen Kirche gegenüber der Kirche von Rom abzuheben.
2.
Ecclesia Anglicana und die Reformation
Im 14. Jahrhundert war Kritik an der Kirche weit verbreitet. John Wycliff (1330– 1384), Wissenschaftler und Bibellehrer aus Oxford, äußerte sich ausgesprochen kritisch gegenüber kirchlichen Missbräuchen und der Lehre der Kirche. Wycliff übersetzte die Vulgata ins Englische und gründete seine Kritik direkt auf dem englischen Bibeltext. Seine Anhänger waren im Volksmund als die Lollarden bekannt und wurden als gefährliche Radikale betrachtet, die das eigene Verständnis über das der Kirche Christi setzten. Die Bauernrevolte 1381 wurde zu einem gewissen Grad den Lollarden angelastet. Wycliff wurde anschließend von seinem Lehramt in Oxford vertrieben, obwohl er sich gegen die Rebellion ausgesprochen hatte. Im Jahre 1415, dreißig Jahre nach seinem Tod, wurde Wycliff auf dem Konzil von Konstanz rückwirkend als Ketzer verurteilt. Auf demselben Konzil wurde der Böhme Jan Hus, der stark von Wycliff beeinflusst worden war und unter einer Sicherheitsgarantie nach Konstanz ging, um sich selbst zu verteidigen, verdammt und auf dem Scheiterhaufen verbrannt. Obwohl Wycliff nicht umgebracht wurde, ist er einer von Foxes „Märtyrern“ wie Jan Hus. Trotz der weit verbreiteten Verfolgungen, Inhaftierungen und gelegentlichen Verbrennungen überlebten die Lollarden das folgende Jahrhundert in den frühen Tagen der Reformation. 4 Die vollständigen Texte der vier Ausgaben (1563, 1570, 1576, 1583) von John Foxes „Acts and Monuments“ sind online verfügbar auf http://www.johnfoxe.org und werden wie folgt zitiert: The Unabridged Acts and Monuments or TAMO (HRI Online Publications, Sheffield, 2011).
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Obwohl im frühen 16. Jahrhundert Wissenschaftler, Schriftsteller und auch viele Laien die klerikalen Missbräuche und die nach Rom abgeführten Steuern kritisierten, bedeutete das nicht, dass sie England vom katholischen Glauben ablösen wollten. Nach der Thronbesteigung Heinrich (engl. Henry) VIII. Tudors im Jahre 1509 hielt sich der international renommierte Erasmus von Rotterdam bei seinem Freund Thomas More auf, den er durch Satire über Rom unterhielt. Er ging dann nach Cambridge, wo er Griechisch unterrichtete. Sowohl Erasmus als auch More waren an Reformen interessiert. 1516 stellte Erasmus eine kritische Edition des griechischen Neuen Testaments für Gelehrte wie Thomas More und John Colet in England als auch Martin Luther in Deutschland zur Verfügung. Als klar wurde, dass es für Luther keinen Kompromiss mit Rom geben würde, distanzierten sich Erasmus und More von der neuen evangelischen Bewegung. Dennoch fand Luthers zunehmend schrille Kritik an der Arroganz, Gier und Ignoranz Roms in England offene Ohren, vor allem unter jungen Wissenschaftlern der Universität von Cambridge wie Thomas Bilney, Hugh Latimer und Thomas Cranmer. Mit der Übersetzung des Neuen Testaments vom Griechischen ins Englische von William Tyndale 1526 wurde der jungen evangelischen Bewegung in England ein bedeutendes Instrument in die Hand gegeben. Zehn Jahre später, kurz nach Tyndales Hinrichtung durch Erhängen und Verbrennen auf dem Scheiterhaufen bei Brüssel, tauchte eine englische Übersetzung der ganzen Bibel auf, die weitestgehend von Tyndale stammte. Tyndale war ein weiterer Märtyrer der Darstellung von Foxe. Im Gegensatz zu Städten wie Wittenberg, Zürich und Straßburg erlebten die Städte Englands keine Volksbewegung in den 1520er Jahren, die Reformen forderte. Der entscheidende Durchbruch hierfür wurde vom englischen König angeführt. Der Reformationswissenschaftler Christopher Haigh stellte die These auf, dass in England drei verschiedene Reformationen vorlagen: unter Heinrich VIII. (regente 1509–1547), unter Eduard (engl. Edward) VI. (reg. 1547–1553) und unter Elisabeth I. (engl. Elizabeth, reg. 1558–1603).5 Damit bringt er zum Ausdruck, dass England einen Prozess der Reformation in Stufen durchlief, dessen Charakter sich unter jedem dieser Tudors unterschied. Diese unstete Reformation wurde scharf von der fünfjährigen Herrschaft Marias (engl. Mary) unterbrochen (reg. 1553–1558). Als treue Katholikin versuchte Maria, die Tochter Katharinas von Aragon, den Bruch zwischen ihrer Nation und Rom zu revidieren. Auf der lokalen Ebene und außerhalb der Hauptstadt änderte sich die Volksreligion bis in die Regierungszeit von Elisabeth sehr langsam. Die erste Phase der Reformation spitzte sich im Jahre 1534 unter Heinrich VIII. zu, als er, nachdem er die Möglichkeit, Berufung in Rom einzulegen, abgeschafft hatte, die gesamte päpstliche Autorität in seinen Ländern für nichtig 5 Vgl. Haigh, English Reformations.
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erklärte. In einer Hinsicht war dies ein politischer Schachzug. Ursache war Heinrichs dringendes Anliegen, einen männlichen Erben zu zeugen. Er war jedoch mehr und mehr überzeugt, dass seine Frau Katharina, die eine Tochter zur Welt gebracht hatte, ihm niemals einen Sohn schenken würde, und wollte daher seine Ehe annullieren. Der Papst lehnte unter dem Druck von Katharinas Neffen, Karl V., dem Kaiser des Heiligen Römischen Reiches Deutscher Nation, die Annullierung ab – eine Ablehnung, die Heinrich nicht akzeptieren wollte. 1533 ernannte er Thomas Cranmer zum Erzbischof von Canterbury. Dieser hatte eine Sammlung von Gutachten italienischer und französischer Universitäten zugunsten einer Annullierung zusammengetragen.6 Cranmer verkündete das Urteil, dass die Ehe von Heinrich und Katharina ungültig sei, da Katharina vorher Heinrichs verstorbenen Bruder geheiratet hatte und die Heilige Schrift solche Ehen verbot. Cranmer hatte dann den Vorsitz auf der Krönung von Anna Boleyn (1533), die aus einer protestantischen Familie stammte. Anna wurde die Mutter von Elisabeth, der ersten protestantischen Königin von England. Die Suprematsakte erklärte Heinrich zum alleinigen irdischen Oberhaupt der Kirche von England, der Ecclesia Anglicana und wurde im folgenden Jahr (1534) erlassen.7 Heinrich selbst blieb ein unruhiger Katholik. In seiner persönlichen Frömmigkeit folgte er den katholischen Praktiken, mit denen er aufgewachsen war. Auch wenn er den römischen Glauben an das Fegefeuer aufgegeben hatte, nahm er nie eine lutherische Position der Rechtfertigung aus Glauben an. Seine Reformen waren vorsichtig und unberechenbar. Er unterstützte jedoch 1539 die Veröffentlichung der „Great Bible“. Dies war ein Projekt von Thomas Cranmer und Thomas Cromwell, dem Ministerpräsidenten des Königs seit 1534. Cromwell war ein weiterer Sympathisant des Protestantismus. Er hatte als junger Mann das ganze griechische Neue Testament von Erasmus auswendig gelernt. Die neue Bibel war eine autorisierte Revision von Tyndales vorher veröffentlichtem englischen Text und wurde in jeder Pfarrkirche eingesetzt. Von nun an konnte das englische Volk die Heilige Schrift in Worten hören, die es verstand. Heinrich forderte Cromwell in den Jahren 1536–1540 auch auf, die Klöster zu schließen. Der große Reichtum der Klöster wurde von der Krone für königlichen Gebrauch und eine nationale Marine übernommen. Cromwell setzte eine politische Reform in Gang, bei welcher der Monarch die oberste Autorität von Kirche und Staat wurde. Dies wurde durch eine Reihe von Erlassen des Parlaments erreicht. Damit war die Macht des Monarchen nicht absolut: Die Souveränität ruhte mit „dem König im Parlament“ – ein etwas vages Konzept, das im Bürgerkrieg des 17. Jahrhunderts unter Druck geriet bis hin zu seiner Zerstörung. Unter Heinrich 6 Vgl. MacCulloch, Thomas Cranmer, 55ff. 7 Vgl. Sykes, Study of Anglicanism, 26.
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wurde die Kirche von England äußerlich kaum verändert. Als eine echte Nationalkirche wurde sie durch Gesetz etabliert. Dies war die Errungenschaft von Heinrichs Reformation. Überraschenderweise vertraute Heinrich seinen Sohn Eduard protestantischen Lehrern an. Als Heinrich 1547 starb, war Eduard 9 Jahre alt. Er wurde weithin als neuer Josia dargestellt, ein Kind als König, der die weitere Reformation energisch vorantreiben würde. Eduard war schon ein überzeugter Evangelischer, der wollte, dass die Kirche von England eine wahre Kirche der Reformation werden sollte. Am Hof gab es eine dominante protestantische Elite, die vom Herzog von Somerset angeführt wurde, dem Onkel von Eduard. Er arbeitete eng mit Cranmer und anderen protestantischen Bischöfen wie Nicholas Ridley und Hugh Latimer zusammen, um die Anglikanische Kirche in eine evangelische Richtung zu reformieren. Schon wenige Monate nach Eduards Amtsantritt wurde ein Book of Homilies (Predigtbuch) veröffentlicht. Es war eine Sammlung von zwölf zugelassenen Predigten, die vor allem von Cranmer geschrieben worden waren. Die erste Predigt ist „Eine fruchtbare Ermunterung zum Lesen und Kennen der Heiligen Schrift“. Die dritte, „Eine Predigt der ewigen Erlösung der Menschheit von Sünde und Tod allein durch Christus, unseren Erlöser“, enthält eine deutliche Erklärung der Rechtfertigung aus Glauben und schließt mit folgenden Worten: „Nun hast Du von Gottes Amt zu unserer Erlösung gehört und wie wir es von ihm frei, durch seine Gnade, ohne Verdienste, durch wahren und lebendigen Glauben empfangen.“8 Die Reform des öffentlichen Gottesdienstes ging langsamer vonstatten. 1549 erschien das erste vollständig englische Book of Common Prayer. Das Vorwort betont die Bedeutung des Gottesdienstes in verständlicher Sprache, von fortlaufendem Bibellesen, damit in einem Jahr das ganze Neue Testament dreimal und das Alte Testament einmal durchgelesen werden, und außerdem, dass „von nun an das ganze Reich“ nur einen Ritus („use“) haben sollte. Die Struktur der lateinischen Messe wurde beibehalten, die englische Version wurde jedoch als „Das Abendmahl des Herrn und die Heilige Kommunion, gemeinhin als die Messe bekannt“ bezeichnet. Das Sakrament wird mit den folgenden Worten gereicht: „The body of our Lord Jesus Christ which was given for thee, preserve thy body and soul unto everlasting life.“
„Der Leib unseres Herrn Jesu Christi, für dich dahingegeben, bewahre dir Leib und Seele zum ewigen Leben.“
„The blood of our Lord Jesus Christ which „Das Blut unseres Herrn Jesu Christi, für was shed for thee, preserve thy body and soul dich vergossen, bewahre dir Leib und Seele unto everlasting life.“ zum ewigen Leben.“
8 The third part of the Sermon of Salvation in: Certain Sermons or Homilies, 28.
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Konservative wie Stephen Gardiner, Bischof von Winchester, empfanden eine solche reformierte Abendmahlsliturgie als akzeptabel, die das Tragen der Abendmahlgewänder erlaubte. Evangelische wie Cranmer waren entschlossen, weitere liturgische Reformen durchzusetzen. Das Book of Common Prayer von 1549 mit seinem weiterhin katholischen Akzent beeinflusste das schottische Gebetbuch (1637), das wiederum das Gebetbuch der amerikanischen Episkopalkirche (1790) beeinflusste. Hochkirchliche Anglikaner der Kirche von England verloren nie ihren Bezug zu ihm. Bei der Überarbeitung des Book of Common Prayer berücksichtigte Cranmer Kritik an der Version von 1549 von kontinentalen Gelehrten mit Erfahrung in den reformierten Kirchen, von Männern wie Martin Bucer aus Straßburg, nun Professor in Cambridge. Cranmer wurde auch durch Gardiners unerwünschte Bestätigung des Buches von 1549 zu weiteren Änderungen angetrieben. Die Version von 1552 ist ein Gottesdienstbuch für eine Kirche, die ihren Platz unter den evangelischen Kirchen der Reformation einnimmt. Die Eucharistie heißt nun einfach „Das Abendmahl oder die Heilige Kommunion“. Es soll an einem mit einem weißen Tuch bedeckten Tisch gefeiert werden, der im Kirchenschiff oder im Chorraum steht. Der Pfarrer steht an der Nordseite. Genauer heißt es, dass „um allen Aberglauben zu beseitigen […] es genügen soll, dass das Brot von solcher Art ist, das gewöhnlich gegessen wird [keine Oblate!] […]. Und wenn etwas Brot oder Wein übrig bleibt, soll es der Pfarrer für seinen eigenen Gebrauch nehmen“. Cranmer folgt dem Vorbild von Luther und Zwingli und durchbricht den Kanon der Messe. Die Einsetzungsworte enden mit den Worten: „Dies tut zu meinem Gedächtnis“, und es folgt unmittelbar die Kommunion ausschließlich mit den Worten „Nimm und iss dies in der Erinnerung, dass Christus für dich starb und nähre dich von ihm in deinem Herzen durch Glauben mit Danksagung“.9 In welchem Bezug die beim Abendmahl gereichten Elemente Brot und Wein zum Leib und Blut Christi stehen, ist theologisch nicht definiert. Es gab Debatten über Cranmers persönliche Überzeugung zur Gegenwart Christi im Abendmahl. Am Ende seines Lebens und vor Gericht behauptete er, dass er schon lange nicht mehr an die Transsubstantiation glaubte. In den 1540er Jahren 9 In letzter Minute wurde auf Drängen von John Knox die „Black Rubric“ hinzugefügt. Sie sollte Missverständnissen wegen des Kniens bei der Kommunion vorbeugen: „Damit nicht das Knien anderweitig gedacht oder genommen werden möge, erklären wir, dass es nicht in jener Weise gemeint ist, dass irgendeine Form der Anbetung dargebracht wird oder werden sollte, entweder dem sakramentalen Brot oder Wein gegenüber, die körperlich empfangen werden, noch einer realen und wesenhaften Präsenz von Christi natürlichem Fleisch und Blut gegenüber. Betreffs des sakramentalen Brotes und Weines, sie verbleiben in ihrer ganz natürlichen Substanz, daher dürfen sie nicht angebetet werden, denn das wäre ein Götzendienst, der von allen treuen Christen verabscheut werden muss. Und betreffs des natürlichen Leibes und Blutes unseres Erlösers Christus, diese sind im Himmel und nicht hier. Denn es ist gegen die Wahrheit des natürlichen Leibes von Christus, dass er an mehreren Orten gleichzeitig sei.“
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gelangte er zum Glauben an die „wahre“ Gegenwart Christi in Brot und Wein – weil der Gläubige durch das Wirken des Heiligen Geistes durch Brot und Wein im Abendmahl wahrhaft Anteil an Leib und Blut des Herrn nimmt. Auch wenn Cranmers persönlicher Glaube rätselhaft blieb, wurde der veränderte Glaube der Kirche von England zunehmend klarer. Auf die 13 Artikel aus dem Ende von Heinrichs Herrschaft bauten die 42 „Articles of Religion“ auf, die 1553 erschienen und zu den umstrittensten Fragen der Reformation Position bezogen. Der Einfluss kontinentaler Bekenntnisse wie der Confessio Augustana war eindeutig. Zum Beispiel lautet Artikel 19 „Von der Kirche“ wie folgt:„Die sichtbare Kirche Christi ist eine Versammlung gläubiger Männer, in welcher das Wort Gottes rein gelehrt wird und die Sakramente in allem, was notwendig dazu gehört, der Einsetzung Christi gemäß recht verwaltet werden.“10 Kurz nach der Veröffentlichung des Book of Common Prayer und den 42 Artikeln verstarb König Eduard im Jahre 1553, der sich nie bester Gesundheit erfreute. Die Thronfolge fiel auf seine ältere Halbschwester Maria, die es als ihre göttliche Mission ansah, England zur Akzeptanz der römischen Autorität zurückzuführen. Die Reformation Eduards, in der die Kirche von England zu einer protestantischen Kirche nach europäischem Modell reformiert wurde, kam abrupt zum Stillstand. Marias Herrschaft dauerte mit 5 Jahren nur kurz, war jedoch aus anglikanischer Perspektive traumatisch. Mittels der Wiederherstellung der Anti-HäresieGesetze 1555 wurden Protestanten vor Gericht gestellt und zum Tode verurteilt. Foxe spricht von „der schrecklichen und blutigen Zeit der Königin Maria“.11 Durch die lebendigen Beschreibungen der Martyrien von Ridley, Latimer, Cranmer und anderer Protestanten, die auf dem Scheiterhaufen starben, stellte Foxe sicher, dass die papistischen Verfolgungen in das Volksgedächtnis der Kirche von England eingebrannt wurden. Marias Versuch, England zum Gehorsam gegenüber Rom zurückzuführen, wurde von der öffentlichen Meinung als politische Unterwürfigkeit gegenüber ausländischen Mächten aufgefasst. Ihre Ehe mit Philip II. von Spanien war unpopulär – aber hätte sie sich je dazu herablassen können, einen Engländer zu heiraten? Elisabeth lernte wahrscheinlich aus Marias Schwierigkeiten und löste später das Problem, indem sie überhaupt nicht heiratete. Ein wichtiger Faktor, der Menschen zurückhielt, Maria in ihrem Bemühen der Rekatholisierung zu unterstützen, war die Menge der Ländereien und Gebäude, die früher der Kirche gehört und die Engländer nun erworben hatten. Viele wohlhabende Leute hatten sich stark dafür einge10 Vgl. Confessio Augustana Art. VII: „Es wird auch gelehret, daß alle Zeit musse eine heilige christliche Kirche sein und bleiben, welche ist die Versammlung aller Glaubigen, bei welchen das Evangelium rein gepredigt und die heiligen Sakramente lauts des Evangelii gereicht werden“, BSLK 61. 11 1583 edition, Book 10.
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setzt, dass die Gegebenheiten so blieben, wie sie unter Eduard gewesen waren. Während der Herrschaft Marias wurden etwa 800 englische Protestanten durch Europa verstreut. Ein Teil von ihnen, wie z. B. John Knox, geriet unter den Einfluss von Calvin in Genf. Er kehrte 1558 zurück und versuchte, die Kirche von England weiter in Richtung eines kontinentalen Modells zu reformieren. Aus dieser Gruppe formierte sich eine extreme puritanische Partei, die für weitere liturgische Vereinfachungen und außerdem für presbyterianische statt bischöfliche Herrschaft innerhalb der Kirche kämpfte. Die Presbyterianer unter der Leitung von John Knox waren in Schottland erfolgreich. In England hatten sie weniger Erfolg, vor allem weil Elisabeth persönlich eine zunehmend starke Frontstellung gegen sie bezog. Seit ihrem Amtsantritt 1558 bewies Elisabeth angesichts der religiösen Spaltungen ihres Landes eine bemerkenswert sichere Hand. Sie blieb dem Protestantismus treu, in dem sie als Tochter von Anna Boleyn erzogen wurde. Aber sie trieb ihren Protestantismus nie in Extreme. Innerhalb eines Jahres verabschiedete das Parlament unter ihrer Leitung eine Gesetzgebung, die sie als „Supreme Governor“ (Oberster Herr, nicht Oberhaupt) der Kirche von England bezeichnete. Damit war klar, dass die Entscheidungsfindung in Lehrfragen von nun an so weit wie möglich den Bischöfen überlassen war. 1559 erschien eine neue Version des Book of Common Prayer, das auf die „Black Rubric“ verzichtete, die beleidigend für katholisch Geprägte wirkte. Es erlaubte dem Klerus, sich zu kleiden wie es im zweiten Jahr von Eduards Herrschaft Brauch war (1548), als Gewänder erlaubt waren. Und es vereinte die Abendmahlsworte von 1549 und 1552. Sie lauteten jetzt erweitert: „The body of our Lord Jesus Christ which was given for thee, preserve thy body and soul unto everlasting life: Take and eat this in remembrance that Christ died for thee, and feed on him in thy heart by faith with thanksgiving.“
„Der Leib unseres Herrn Jesu Christi, für dich dahingegeben, bewahre dir Leib und Seele zum ewigen Leben: Nimm und iss dies zum Gedächtnis, dass Christus für dich gestorben ist, und genieße seiner in deinem Herzen im Glauben mit Danksagung.“
„The blood of our Lord Jesus Christ which was shed for thee, preserve thy body and soul unto everlasting life: Drink this in remembrance that Christ’s Blood was shed for thee, and be thankful.“
„Das Blut unseres Herrn Jesu Christi, für dich vergossen, bewahre dir Leib und Seele zum ewigen Leben: Solches trinke zum Gedächtnis, dass Christi Blut für dich vergossen wurde, und sei dankbar.“
Auf diese Weise machte Elisabeth klar, dass sie weder für die progressiven Protestanten, die der Praxis von Calvins Genf folgen wollten, noch für die katholischen Konservativen, ob sie nun eine Wiedervereinigung mit Rom wollten oder nicht, Partei ergreifen würde. Ihre Priorität für die Kirche von England lag auf Frieden und Stabilität. Von diesem Kurs wich sie niemals ab. Diese ausbalancierte Position wird als „Elizabethan Settlement“ (Elisabethscher Ausgleich) bezeichnet. 1562 erstellte John Jewel seine „Apologia Ecclesiae
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Anglicanae“. Er tritt für die Kirche von England als Bischofskirche ein, die sich treu zur Heiligen Schrift und zu alten Traditionen hält, jedoch zu Recht unter die Kirchen der Reformation gerechnet wird. 1563 akzeptierte die Convocation, die Versammlung des Klerus, eine geänderte Version der 42 Articles of Religion, die vor allem auf 38 reduziert wurden. 1571 wurden sie nochmals überarbeitet und ergänzt auf die bis heute gültigen 39 Artikel. Eine bedeutende Änderung war, den Artikel XXII „Vom Fegefeuer“ mit den Worten „Die Lehre der römischen Kirche“ einzuleiten (vorher: „Die Lehre gelehrter Autoren“): „Die Lehre der römischen Kirche vom Fegefeuer, von den Ablässen, von der Verehrung und Anbetung der Bilder und Reliquien sowie auch von der Anrufung der Heiligen ist eine nichtige und eitel erdichtete Sache und gründet sich auf keine Zeugnisse der Schrift, sie widerstreitet vielmehr dem Worte Gottes.“
Dies war nur einer von einer Reihe Artikel, die die Kirche von England von der Lehre und Jurisdiktion der Kirche von Rom entfernte. 1571 wurde der Artikel XXIX „dass die Gottlosen beim heiligen Abendmahl den Leib Christi nicht essen“, der 1562 ausgearbeitet wurde, zu den Artikeln hinzugenommen: „Die Gottlosen und die, welche den lebendigen Glauben nicht haben, zerdrücken zwar fleischlich und sichtbar mit den Zähnen, wie Augustin sagt, das Sakrament des Leibes und Blutes Christi, werden aber in keiner Weise Christi teilhaftig, sondern essen und trinken vielmehr das Sakrament oder Sinnbild einer so großen Sache sich selber zum Gericht.“
Durch diesen Artikel wurden sowohl das römisch-katholische als auch das lutherische Verständnis der Präsenz Christi im Abendmahl ausgeschlossen. Artikel XXVIII. „Vom Heiligen Abendmahl“ drückte bereits 1553 aus, was im „Prayer Book“ die Auffassung von Christi Gegenwart im Abendmahl wurde: „Der Leib Christi wird im Abendmahl nur in himmlischer und geistlicher Weise gegeben, empfangen und gegessen. Das Mittel aber, wodurch der Leib Christi im Abendmahl empfangen und gegessen wird, ist der Glaube.“ Die Neuausgabe der Artikel 1571 kam kurz nach zwei Ereignissen zustande, die maßgeblich für die sich entwickelnde Kirche von England waren: eine gefährliche Rebellion im Norden Englands, angeführt von romtreuen Katholiken (1569), und die Verurteilung Elisabeths durch Papst Pius V. als Häretikerin in der Bulle „Regnans in Excelsis“ (1570). Als der Papst Katholiken von ihrem Treueeid auf die Königin entband, wurden diese eine klare politische Bedrohung für Elisabeth, insbesondere weil sie mit Maria, der Königin von Schottland, eine alternative Kandidatin für den Thron hatten. Dies war der Hintergrund für die Jesuitenmission zur Bekehrung Englands und für die öffentlichen Hinrichtungen katholischer Priester, zu denen Foxe als Protestant auffallend still bleibt.12 Im 12 Vgl. Duffy, Saints, Sacrilege and Sedition.
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Jahre 1571 erschien ein zweites Book of Homilies, das mit der Predigt „Gegen mutwillige Rebellion“ schließt. Diese Homilie endet mit einer langen Danksagung „für die Unterdrückung der letzten Rebellion“ von 1569. Die doppelte katholische Gefahr von innen und von außen wurde 1587–1588 erneut deutlich, zuerst mit der Babington-Verschwörung, nach der Maria Stuart hingerichtet wurde, sodann mit der Ankunft der spanischen Armada. Auf einer Gedenkmedaille hieß es: „Gott blies mit seinem Wind und sie wurden zerstreut“. Der andere bedeutende Unruheherd für Elisabeth waren die Puritaner, welche die 1553 abrupt beendete Reform der Kirche von England weiterführen wollten. Einige begnügten sich damit, für mehr Predigt und weniger Zeremoniell innerhalb der Kirche zu kämpfen. Andere arbeiteten heimlich an einer presbyterianischen Kirche von England. In den 1580er Jahren argumentierten die „Martin Marprelate“-Traktate energisch gegen das Episkopat. Der anonyme Autor wollte Bischöfe, Kindertaufe, Gewänder und kirchliches Zeremoniell abschaffen und das Book of Common Prayer so verändern, dass die Praktiken von Calvins Genf widergespiegelt würden. Insofern die Traktate Elisabeth betrafen, bedrohten sie ihre Stellung als Supreme Governor und die etablierte Ordnung. So erklärt sich Elisabeths unerschütterliche Entschlossenheit, den Forderungen zu widerstehen. In dieser Zeit der Polarisierung und Angst um die Zukunft veröffentlichte Richard Hooker die ersten vier Bücher seiner „Laws of Ecclesiastical Polity“ (Gesetze des kirchlichen Gemeinwesens). John Jewel trat als der erste große Apologet der anglikanischen Kirche auf, der zweite und größere jedoch war sein Schützling Hooker. Hookers Gesetze, von denen die ersten fünf Bücher zwischen 1594 und 1597 veröffentlicht wurden,13 erstatten theologisch Rechenschaft über die Kirche von England, indem sie diese in den rationalen Absichten Gottes verorten. Hooker legt dar, dass die Kirche von England eine wahre Kirche ist, obwohl sie von Rom getrennt ist und in Distanz zu den lutherischen sowie zu den calvinistischen Kirchen der Reformation steht. Für Hooker ist es unabdingbar, dass die Kirche von England auf dem klaren Zeugnis der Heiligen Schrift gegründet ist, wenn sie die Engländer auf dem Pfad der Erlösung führen soll. Er akzeptiert die Lehre der ersten vier Ökumenischen Konzile als maßgeblichen Leitfaden für den Glauben. Er erkennt jedoch an, dass ein Teil des biblischen Zeugnisses unklar oder unvollständig ist, so dass es Uneinigkeit über zweitrangige Fragen der kirchlichen Praxis geben kann. Diese nennt er Adiaphora. Hookers Lehre deckt sich mit dem Book of Common Prayer und den Predigtbüchern. Ihm zufolge ermöglichen sowohl Bibel als auch Sakramente zur „Teilhabe an Christus“. Er hat keine Schwierigkeiten mit der Kirche von England als Nationalkirche, mit der Verantwortung des Monarchen für das Wohlergehen der Kirche und mit ihren eigenen Entscheidungen über liturgische und strukturelle 13 Weitere Bücher wurden 1648 und 1662 veröffentlicht.
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Belange, die nicht entscheidend für die Errettung sind. Der Philosoph des 17. Jahrhunderts, John Locke, nennt Hooker „vernünftig“ (engl. „judicious“), weil er versucht, einem ausgewogenen Weg zwischen den Extremen des römischen Katholizismus und des Puritanismus zu folgen. Hooker ist bestrebt, klar die Fundamente des christlichen Glaubens zu identifizieren und dort keine Konformität zu erzwingen, wo es rechtmäßig Vielfalt geben darf. Mit der Veröffentlichung der ersten fünf Bücher von Hookers Gesetzen des kirchlichen Gemeinwesens lässt sich sagen, dass Elisabeths Reformation der Kirche von England vollständig durchgeführt war. Obwohl Elisabeths Hauptanliegen in der nationalen Einheit und Stabilität bestand, vollzog sich die Entwicklung der Kirche von England nicht rein pragmatisch. Hooker zeigte, dass wichtige theologische Prinzipien verwirklicht wurden. Der Elisabethsche Ausgleich bot sowohl strukturelle als auch lehrmäßige Sicherheit. Diese schuf die Bedingungen für eine außergewöhnliche Blüte spirituellen Schreibens in der ersten Hälfte des 17. Jahrhunderts. Das 16. Jahrhundert war eine Zeit von kraftvollem, kontroversen theologischen Schrifttum. Aber neben der Dichtung einiger wundervoller Gebete, von denen sich viele im Book of Common Prayer wiederfinden, war es keine Epoche großartiger spiritueller Schriftstellerei. Das 17. Jahrhundert zeigte ein ganz anderes Ausmaß.
3.
Anglikanische Spiritualität im 17. Jahrhundert
Als Elisabeth 1603 starb, wurde Jakob (engl. James) VI. ihr Nachfolger. Jakob regierte Schottland seit 1567. Bei Regierungsantritt war er noch Kind, da seine (katholische) Mutter nach England geflohen war, von Elisabeth für 20 Jahre gefangen gesetzt und schließlich 1587 exekutiert wurde. Jakob wuchs als Protestant auf. Als er seine Reise nach Süden unternahm, um den Thron zu besteigen, wurde ihm die Millenary Petition vorgelegt. Sie war angeblich von tausend puritanischen Pfarrern unterzeichnet, es waren aber wohl in Wirklichkeit weniger. Sie forderte von ihm, die Reformation der Kirche von England in calvinistischer Richtung fortzusetzen. Jakob reagierte, indem er die Hampton Court Conference 1604 einberief. Hier nahm er die Beschwerden der Puritaner gegen das Book of Common Prayer und ihre Forderung, das Episkopat abzuschaffen, entgegen. Am Ende hatte er genug: „Keine Bischöfe, keinen König!“, soll er gesagt haben. Vier klare Ergebnisse ergab die Konferenz: Das erste war die Bestätigung der Kirche von England als Bischofskirche nach dem Vorbild des Elisabethschen Ausgleichs. Das zweite war eine neue autorisierte Übersetzung der Bibel. Dies war eine Reaktion auf Beschwerden über calvinistische Anmerkungen in der weit verbreiteten „Genfer Bibel“ von 1560 und Ungenauigkeiten in der autorisierten „Bischofsbibel“ von 1568. Jakob unterstützte den Vorschlag für eine neue
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Übersetzung unter Verwendung der besten verfügbaren wissenschaftlichen Kapazitäten. Das Projekt dauerte sieben Jahre. 47 Wissenschaftler arbeiteten daran mit, gegliedert in sechs Teams in Oxford, Cambridge und Westminster. Das Projekt war ein großer Erfolg: Die „Authorised“ oder „King James Version“ der Bibel spielte eine einzigartige Rolle für die Ausbildung der anglikanischen Spiritualität und für die Entwicklung der englischen Sprache. Jakob war wie Elisabeth zutiefst um die nationale Einheit besorgt. Zwei weitere Ergebnisse der Hampton Court Conference waren die Verkündigung eines neuen Erlasses von Einheitlichkeit, der durch eine neue Auflage des Book of Common Prayer mit minimalen Änderungen unterstrichen wurde, sowie ein neuer Kodex der Kirchengesetze, der speziell die frommen Treffen („Konventikel“) mit Predigt und Gebet verbot, die von Puritanern neben ihrer Teilnahme an der Pfarrkirche favorisiert wurden. Jakob hatte das Glück, dass nach dem Tod von Elisabeth die puritanische Bewegung weniger militant wurde. Immer mehr Puritaner waren zumindest äußerlich bereit, der Forderung nach Gottesdienstteilnahme in ihrer Pfarrkirche zu entsprechen. Obwohl Jakob eine erhabene Ansicht auf sein eigenes Königtum von „Gottes Gnaden“ (iure divino) vertrat, sahen es einige Calvinisten als eine Frage des Gewissens an, sich seiner Herrschaft zu widersetzen. Diejenigen, die dies auch taten, waren im Stillen bereit, das Land zu verlassen. Der Ausbruch des Dreißigjährigen Krieges in Europa im Jahre 1618 warf die Frage auf, ob Jakobs England zur Unterstützung der protestantischen Sache intervenieren würde. Klugerweise tat er dies nicht, denn er konnte sich keine militärischen Abenteuer leisten. Die stärkste Herausforderung für Jakobs königliche Autorität erwuchs aus dem schlecht ausgeführten Gunpowder Plot im Jahre 1605. Dies war ein Versuch, das Parlament in die Luft zu sprengen, als der König und sein Hof bei einem Staatsempfang anwesend waren. Die Rädelsführer wurden schnell festgenommen und nach Folter, um Informationen von ihnen zu erpressen, auf furchtbare Weise öffentlich nach einem Schauprozess hingerichtet. Dies war die letzte ernstzunehmende katholische Verschwörung zum Sturz eines regierenden Monarchen in England. Als Reaktion wurde ein Treueeid eingeführt. Die Katholiken, die bereit waren, ihre Treue auf Jakob zu schwören, gerieten aber nicht ernsthaft in Schwierigkeiten. Wenn sie ihre zuständige anglikanische Pfarrkirche nicht besuchten, konnten sie mit einem Bußgeld belegt werden, aber es wurden keine weiteren Strafen verhängt. Unter Jakob I. entstand ein neues Selbstvertrauen innerhalb der Kirche von England als einer Institution, die versucht und geprüft worden und nun sicher war. Der dominierende Theologe und geistliche Schriftsteller dieser Zeit war Lancelot Andrewes (1555–1626). Andrewes hatte famose Kenntnisse mit einem umfangreichen Wissen über die griechisch-orthodoxe sowie die römisch-ka-
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tholische Tradition. Er war Master des Pembroke College in Cambridge und später Vorsitzender des Ausschusses, der den ersten Abschnitt des Alten Testaments (Gen–2Kön) für die Authorised Version der Bibel übersetzte. Er war oft Prediger am Hof, wo der König ein besonderes Interesse an der Qualität der Predigt zeigte. Andrewes Predigten können uns zu konstruiert und zu auswendig gelernt erscheinen, aber sie erschließen sensibel und tiefgehend die großen Wahrheiten des christlichen Glaubens. Andrewes ist heute am besten für seine „Preces Privatae“ (Private Gebete) 14 bekannt, die sowohl eine Freude an verbalem Feuerwerk als auch die Verpflichtung zur Tradition des Gebets (die sich sehr viel breiter als spezifisch anglikanisch darstellt) zeigt. John Donne (1572–1631) war ein jüngerer Zeitgenosse Andrewes, der ebenfalls für seine Predigten berühmt wurde. Donne wuchs römisch-katholisch auf, wandte sich dann aber dem Anglikanismus zu, um später mit der persönlichen Förderung von König Jakob Priester zu werden. Da war er bereits ein anerkannter Dichter und hatte ein umfangreiches Werk von Satiren, gedichteten Briefen und Liebeslyrik unter seinem Namen hervorgebracht. Als Priester jedoch und ab 1621 als Dekan der St.-Pauls-Cathedral in London wandte er sich zunehmend Predigten und religiöser Poesie zu. Ein Beispiel sind seine „Heiligen Sonette“. Im Jahre 1623 nach einer schweren Erkrankung schrieb er seine „Devotions upon Emergent Occasions“ (Andachten über besondere Anlässe), eine Meditation über Krankheit und Tod. Sie enthalten die berühmten Worte: „Der Tod eines jeden Mannes schlägt mich nieder. Frage nicht, wem die Totenglocke schlägt. Sie schlägt dir“15. Wie Andrewes erfreute sich Donne am Gebrauch Aufmerksamkeit erregender Metaphern, unerwarteter Vergleiche oder geschickter Wortspiele. Als älterer Mann wandte er sich zunehmend den zentralen Themen des christlichen Glaubens zu und verknüpfte sie mit der menschlichen Erfahrung von Krankheit und Tod. Eine dritter großer spiritueller Schriftsteller der jakobinischen Ära (Early Modern English) war George Herbert (1593–1633). Herbert war wie Andrewes ein brillanter klassizistischer Gelehrter und wie Donne ein feiner Dichter. Er war ebenso ein begnadeter Musiker, seine Gedichte weisen häufig einen ausgeprägten Rhythmus auf. Somit lassen sie sich leicht vertonen. Als junger Mann war Herbert Public Orator an der Universität von Cambridge. Er gab aber diese vielversprechende Karriere im akademischen und öffentlichen Leben auf, um Landpfarrer in einer Gemeinde außerhalb von Salisbury zu werden. Einige der beliebtesten 14 Die „Preces Privatae“ sind überwiegend auf Griechisch verfasst. Sie wurden nur über eine englische Übersetzung von F.E. Brightman weithin bekannt, die im Jahre 1903 veröffentlicht wurde. 15 „Any man’s death diminishes me, because I am involved in Mankind; And therefore never send to know for whom the bell tolls; It tolls for thee“, Devotions upon Emergent Occasions, XVII, first published 1624.
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anglikanischen Kirchenlieder wie „Teach me, my God and King / in all things thee to see“ und „Let all the world in every corner sing / My God and King“ sind Herberts Buch „The Temple“ entnommen, das nach seinem Tod im Jahre 1633 veröffentlicht wurde. Seine Dichtung ist von Freude an Gott und der Welt, von einem einfachen Vertrauen auf Christus und von großer Treue zum Weg der Kirche von England erfüllt. Herbert ist auch deshalb bemerkenswert, weil er in „A Priest to the Temple“ oder „Country Parson“ von 1652 aus eigener Erfahrung den Dienst eines anglikanischen Priesters beschreibt. Sein Leben und Werk erfassen das Beste der anglikanischen Frömmigkeit. Ein guter Freund von Herbert in Cambridge war Nicholas Ferrar (1592–1637), der ebenfalls die Universität verließ, um ein einfaches christliches Leben zu führen. Ferrar war ein Diakon, der seine Familienmitglieder in Little Gidding, etwa zwanzig Meilen von Cambridge, zusammenführte, um mit ihnen ein Leben in christlicher Jüngerschaft auf der Grundlage regelmäßiger Gebete zu führen. Eine besondere Rolle spielte die Lektüre der Psalmen bei Tag und bei Nacht. Zum ersten Mal seit der Reformation in England bildete sich so eine religiöse Kommunität. Ihr Ethos war insofern anglikanisch, als dass die Mitglieder, die kein Gelübde ablegten und heiraten konnten, den anglikanischen liturgischen Kalender beachteten, das Book of Common Prayer für ihren Gottesdienst verwendeten und aus der Authorised Version der Bibel lasen. Das Haupthaus von Little Gidding ist inzwischen verschwunden, aber die Kapelle steht noch heute. Sie ist ein anglikanischer Schatz, der als Ort des Gebets in T.S. Eliots Gedicht „Little Gidding“ (1942) besungen wird. Es fällt auf, dass in dieser Epoche kein Äquivalent zu Foxes Märtyrerbuch vorliegt, das Zeugnis von der Spiritualität der Kirche von England in der Zeit von Jakob I. gibt. Der nächstliegende Vergleich ist in viel kleinerem Umfang eine Sammlung von Kurzbiografien, die Izaac Walton verfasst hatte. Walton ist am meisten für „The Compleat Angler“ (1. Auflage 1653) bekannt, eine Meditation über die sanfte Kunst der Fischerei. Walton legt sein Augenmerk auf die zutiefst anglikanischen Biografien von Richard Hooker, John Donne, George Herbert und Nicholas Ferrar.16 Damit zeichnet er das Bild eines goldenen Zeitalters des Anglikanismus. In diesem Zeitalter wurden die Wurzeln in der christlichen Tradition von Ost und West vertieft und die liturgische Praxis weniger streng, bevor der zunehmende Streit unter Karl (engl. Charles) I. (reg. 1625–1649) und der Zerbruch der Beziehungen zum Parlament zum Bürgerkrieg führten. Der dominierende Kirchenmann in der Regierungszeit von Karl war William Laud (1573–1645), der von 1628 an Bischof von London und ab 1633 Erzbischof von Canterbury bis zu seiner Hinrichtung im Jahre 1645 war. Er war ein Hoch16 Sein Bericht über ihr Leben wurde zwischen 1640 und 1678 veröffentlicht. Eine kurze Beschreibung über Ferrar ist im Leben von Herbert enthalten.
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kirchler, der die Kirche von England zu mehr Zeremoniell im Gottesdienst bewegen wollte. Die Eucharistie wurde normalerweise mit einem einfachen Tisch in der Mitte der Kirche gefeiert. Laud wollte sie auf einem Altar mit Kerzen vor der Ostwand sehen, eingefasst von einer Umzäunung. Er setzte sich weiterhin für Disziplin ein und forcierte die Uniformität im Gottesdienst der Kirche von England. Im Jahre 1625 heiratete Karl die Katholikin Henrietta Maria. Für sie stattete er eine neue königliche Kapelle aus, in dem sie und die Mitglieder ihrer Entourage als Katholiken Gottesdienst feiern konnten. Karl und Laud wurden weithin als Sympathisanten des Katholizismus angesehen, weil sie die Kirche von England deutlich in eine katholische Richtung führen wollten. Mit der Einführung des neuen schottischen Gebetbuchs (1637), das mehr in einer Linie mit dem Gebetbuch von 1549 als mit dem von 1552 stand, wurde zusätzlich Öl ins Feuer gegossen. Es gab eine heftige Reaktion gegen dieses Buch. Kurz darauf formierte sich unter schottischen Presbyterianern ein Bündnis, das zum Sammelpunkt für die Opposition gegen Laud und König Karl wurde. Die ausgewogene Position der Kirche von England, die seit 1558 gehalten worden war, zerbrach. Der König und sein Erzbischof zeigten sich auf tragische Weise unflexibel. Aus einer Vielzahl von Gründen verschlechterten sich die Beziehungen zwischen König und Parlament sowie zwischen Kirche und Parlament immer mehr, bis der Bürgerkrieg 1642 ausbrach. In dieser Zeit wurden der evangelische Glaube der Reformation zunehmend mit dem Calvinismus der parlamentarischen Sache sowie die bischöfliche Identität des Anglikanismus mit der royalistischen Sache assoziiert, was durch den Treueeid aller Bischöfe auf Karl noch verstärkt wurde. Im Jahre 1645 wurde der Gebrauch des Book of Common Prayer für illegal erklärt. Die Leute vor Ort waren ihm aber verbunden, und so wurde es oft weiterhin in lokalen Kirchen verwendet. Viele Anglikaner, die sich loyal zu dem Book of Common Prayer hielten und weiterhin für den König beteten, folgten Karl und Laud aus der Überzeugung heraus, dass der Monarch „von Gottes Gnaden“ (engl. „divine right“) regierte. Die Hinrichtung des Königs 1649 wurde von vielen in der Kirche von England als ein Akt entsetzlichen Frevels angesehen. Für einige war Karl ein Märtyrer. Der Bürgerkrieg dauerte sieben Jahre und die Zeit des Commonwealth ohne Monarch weitere 11 Jahre. Während dieser Periode des Commonwealth wurden viele Kirchengebäude der Kirche von England für weltliche Zwecke genutzt, aber um das Fortbestehen der anglikanischen Gottesdienste an anderen Orten kümmerte sich kaum jemand. In dieser Zeit des religiösen Streites wirkte eine neue Generation von Theologen gegen den starken calvinistischen Glauben, der ihnen begegnete. An der Universität von Cambridge kritisierten Männer wie Benjamin Whichcote (1609–1683), Henry More (1614–1687) und Ralph Cudworth (1617–1688) calvinistischen Glauben im Allgemeinen als irrational und im
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Speziellen die Prädestinationslehre als ungerecht. Sie wandten sich dem Idealismus und platonischen Immanenz-Vorstellungen zu. Für sie besteht die Ursache (engl. „reason“) in „der Kerze des Herrn“, welche die Gedanken aller Menschen erleuchtet: Gottes moralisches Gesetz ist in das menschliche Herz geschrieben. Sie waren offen für die Entdeckungen der Naturwissenschaften, für Vielfalt in der liturgischen Praxis und für Rationalität im theologischen Diskurs. Diese mangelnde Bereitschaft, dogmatisch zu agieren, und ihre Offenheit für ein breites Spektrum von Ansichten führte dazu, dass sie als „Latitudinarian“ (Latitudinarier) und später als „Cambridge Platonists“ bezeichnet wurden. Ihre Werke sind heute kaum gelesen, aber sie repräsentieren eine Strömung innerhalb des Anglikanismus, die stark bleibt: Die Tradition derer, für die die verantwortungsvolle Ausübung der Vernunft zentral für das Verständnis des christlichen Glaubens ist. Die Ära des Commonwealth endete 1660 mit einer Einladung des Parlamentes an Karl (engl. Charles) II. König zu werden. Es wurde von allen Parteien eingesehen, dass es eines neuen Ausgleiches zwischen dem König, dem Parlament und der Kirche bedurfte. Als Karl den Thron annahm, bekräftigte er in der Erklärung von Breda: „Wir erklären eine Freiheit für zarte Gewissen“. Es stellte sich unmittelbar die Frage, wie stark diese Freiheit auf Puritaner und Katholiken ausgeweitet werden konnte. Die Antwort fiel gering aus. Im Jahre 1661 wurde die Savoy-Konferenz einberufen, um eine lange Liste an puritanischen Einwänden gegen das Book of Common Prayer zu erörtern. Auf der Konferenz wurden wenige Fortschritte erzielt. Die Convocation unter der Leitung von John Cosin nahm jedoch eine Reihe von kleinen Änderungen am Gebetbuch vor. Allerdings gab es gegenüber den Ausgaben von 1559 und 1604 keine wesentlichen Veränderungen. Deren Worte hatten sich inzwischen in das Leben vieler Menschen eingewebt. Eine Änderung war jedoch, dass alle Bibelstellen, die laut im Gottesdienst verlesen wurden (mit Ausnahme der Psalmen), der Authorised Version der Bibel von 1611 entnommen waren. Viele Menschen hatten diese inzwischen verinnerlicht. Das Book of Common Prayer von 1662 wurde mit einem neuen Erlass der Einheitlichkeit eingeführt. Die Veränderungen im Gebetbuch genügten bei weitem nicht den Anforderungen der Puritaner, von denen viele die Kirche von England verließen. Dieser Vorgang wurde „Der große Rauswurf“ (engl. „Great Ejection“) von 1662 genannt. Ab diesem Punkt erscheint es sinnvoll, von den Abgängern als „Nonkonformisten“ zu sprechen, weil sie mit den Anforderungen der Kirche von England nicht konform gingen. Das Book of Common Prayer versuchte gemäß seiner Einleitung „die Erhaltung des Friedens und der Einheit der Kirche“ zu erreichen. In Bezug auf die verbleibende Mehrheit gelang dies bemerkenswert erfolgreich.
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Fazit: Das Vermächtnis von 1662 für die anglikanische Spiritualität
Obwohl die Kirche von England in der Theorie eine Kirche für alle Engländer sein sollte, ging aus den Articles of Religion hervor, dass bestimmte theologische Positionen ausgeschlossen werden sollten. Puritaner mit starken calvinistischen Überzeugungen wollten niemals eine bischöflich geführte Kirche akzeptieren. Katholiken wurden bewusst durch Artikel XXVIII ausgeschlossen, der feststellt: „Transsubstantiation oder die Verwandlung der Substanz des Brotes und des Weines im Abendmahl […] ist den klaren Worten der Schrift entgegen, verkehrt die Natur des Sakraments und hat zu vielerlei Aberglauben Anlass gegeben“. Artikel XXXVII stellt unverblümt fest: „Der römische Papst hat keine Jurisdiktion in diesem Königreich England“. Es war jedoch möglich, das Book of Common Prayer und die Articles of Religion aus verschiedenen Blickwinkeln zu lesen. Moderate Puritaner, die das Episkopat akzeptierten, konnten ein Zuhause in der Kirche von England finden, die sie als eine der Kirchen der Reformation ansahen. Mit der evangelischen Erweckung des späten 18. Jahrhunderts wurden sie als „Evangelicals“ bekannt. Der restaurative Anglikanismus enthielt eine hochkirchliche Strömung, die den Laudianismus betonte. Gemäß dieser Tradition besetzt die Kirche von England eine unverwechselbare vermittelnde Position zwischen Katholizismus und Orthodoxie. Sie wurde von der Oxford-Bewegung (Tractarianer) der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts verstärkt und weiterentwickelt. Sie rief die Bischöfe auf, sich als aktive Kirchenleiter zu erweisen, die sich weigern würden, dem Staat unterwürfig zu sein. Eine weitere Strömung, die der Latitudinarier, setzte sich gegen den Dogmatismus der Puritaner und der Laudianer ein. Sie wollte eine Kirche so breit, inklusiv und undogmatisch wie möglich. Im Zeitalter der Aufklärung war dieser Ansatz stark. Als Reaktion darauf suchten Evangelikale und Tractarianer in unterschiedlicher Weise einen Ansatz des Christentums, der stärker auf die unverkennbare Lehre der Bibel und der Kirche vertraute. Die Ära zwischen der wegweisenden Ablehnung der Autorität des Papstes durch Heinrich VIII. im Jahr 1534 und der Veröffentlichung des Book of Common Prayer von 1662 war äußerst wichtig für die Herausbildung der anglikanischen Spiritualität. Es war die Zeit, in der die Identität der anglikanischen Kirche, die sich später zu einer weltweiten Gemeinschaft von Kirchen entwickelte, gebildet wurde. In vielerlei Hinsicht war dies ein „goldenes Zeitalter“ für die anglikanische Spiritualität. Ein Schatz hiervon ist „General Thanksgiving“, die „Allgemeine Danksagung“, eine der wenigen vollständig neuen Ergänzungen des Book of Common Prayer von 1662. In ihrem Geist der Dankbarkeit für alle Segnungen Gottes, ihrer Konzentration auf Christus über allem und ihrer
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großherzigen Selbsthingabe fasst es einen Großteil des Besten der anglikanischen Spiritualität zusammen: Almighty God, Father of all mercies, we thine unworthy servants do give thee most humble and hearty thanks for all thy goodness and loving-kindness to us and to all men. We bless thee for our creation, preservation, and all the blessings of this life; but above all for thine inestimable love in the redemption of the world by our Lord Jesus Christ, for the means of grace, and for the hope of glory. And we beseech thee, give us that due sense of all thy mercies, that our hearts may be unfeignedly thankful, and that we shew forth thy praise, not only with our lips, but in our lives; by giving up ourselves to thy service, and by walking before thee in holiness and righteousness all our days; through Jesus Christ our Lord, to whom, with thee and the Holy Ghost, be all honour and glory, world without end. Amen.
Allmächtiger Gott, Vater aller Barmherzigkeit, wir, Deine unwürdigen Diener, sagen Dir demütig und von ganzem Herzen Dank für alle Deine Güte und Freundlichkeit, die Du uns und allen Menschen erwiesen hast. Wir preisen Dich für unsere Erschaffung, Erhaltung und alle Wohltaten dieses Lebens, aber vor allem für Deine unermessliche Liebe in der Erlösung der Welt, durch unseren Herren Jesus Christus, für die Mittel der Gnade und für die Hoffnung der Herrlichkeit. Und wir bitten Dich: gib uns den rechten Sinn für alle Deine Segnungen, damit unsere Herzen aufrichtig dankbar sind und wir Dein Lob nicht nur mit unseren Lippen, sondern auch durch unser Leben verkünden. Wir wollen uns in Deinen Dienst stellen und all unsere Tage in Heiligkeit und Gerechtigkeit vor dir leben. Durch Jesus Christus unseren Herren, dem mit Dir und dem Heiligen Geist alle Ehre und Herrlichkeit von Ewigkeit zu Ewigkeit gebührt. Amen
Literatur Quellen Certain Sermons or Homilies appointed to be read in Churches, London 1938. The Unabridged Acts and Monuments (HRI Online Publications, Sheffield, 2011), in: http:// johnfoxe.org.
Forschungsliteratur Die Bekenntnisschriften der Evangelisch-Lutherischen Kirche, hg. im Gedenkjahr der Augsburgischen Konfession 1930, Berlin 21978 (kurz: BSLK).
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Duffy, Eamon, Saints, Sacrilege and Sedition. Religion and Conflict in the Tudor Reformations, London 2014. Haigh, Christopher, English Reformations. Religion, Politics and Society under the Tudors, Oxford 1993. MacCulloch, Diarmaid, Thomas Cranmer, New Haven/London 1996. Sykes, S.W., The Study of Anglicanism, London 1988. Wright, J. Robert, A Companion to Bede, Grand Rapids, MI 2008.
Markus Matthias
Die Spiritualität der altlutherischen Orthodoxie
1.
Einleitung
Unter Spiritualität der altprotestantischen (frühneuzeitlichen), lutherischen oder kurz der altlutherischen Orthodoxie1 sei hier in Unterscheidung von der Praxis gottesdienstlich gebundener Frömmigkeit2 sowie von den mannigfaltigen Gestalten religiöser Weltsicht3 die spezifische Weise verstanden, wie man auf dem Boden lutherisch-orthodoxer Theologie versuchte, geistliche Welten und innere Haltungen zu entwerfen und durch ihre Verbreitung zu standardisieren, in denen dem Verhältnis der eigenen Zeit und der eigenen Person zur biblischen Heilsverheißung auf adäquate Weise Form gegeben wurde oder dies Verhältnis symbolisiert4 wurde. Es geht mithin um Formen, in denen der Einzelne das kirchliche Angebot an gottesdienstlichen Handlungen durch darüber hinausgehende Betrachtungen oder Übungen erweitern und intensivieren konnte. Was man als Spiritualität der altlutherischen Orthodoxie bezeichnen kann, ist sozialgeschichtlich weitgehend das von geistlich-elitären, bürgerlichen und gelehrten Kreisen getragene erbauliche Angebot, die eigene religiöse Innerlichkeit zu reflektieren, zu bilden und zu pflegen.5 Wendet man seinen Blick auf die ländliche Bevölkerung oder auf das städtische Kleinbürgertum, gewinnt man den Eindruck, dass die allgemeine religiöse Bildung und damit auch die Bildung einer „lutherisch-orthodoxen“, ja überhaupt einer dezidiert protestantischen Spiritualität über den ganzen Zeitraum noch in den Kinderschuhen steckte.6 1 Als Gesamtdarstellungen sei auf die Schriften von Winfried Zeller (z. B. ders., Protestantismus) sowie auf einzelne neuere Handbuchbeiträge verwiesen: Lund, Spiritualität; Kolb (Hg.), Culture; Jaspert, Frömmigkeit. – Wegen der für ein Handbuch notwendigen Beschränkung des Umfangs mussten die Literatur- und Quellenangaben auf ein Minimum beschränkt und ein Kapitel über die Stellung der Spiritualität in der orthodoxen Enzyklopädie gestrichen werden. 2 Vgl. Koch, Das konfessionelle Zeitalter, 240–259, dort weitere Lit. 3 Vgl. Elert, Morphologie des Luthertums. 4 Vgl. Langer, Philosophie auf neuem Wege. 5 Vgl. Köpf, Spiritualität. 6 Vgl. Matthias, Religion und Stand.
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Dafür war der Dreißigjährige Krieg keineswegs allein verantwortlich. Vielmehr hat die protestantische Theologie überhaupt vornehmlich und zuerst das schulisch und akademisch gebildete Bürgertum angesprochen, während der sprichwörtlich „große Haufe“7 auf dem Land8 oder in der Stadt zum Teil in (unverschuldeter) Unkenntnis, zum Teil in Gleichgültigkeit oder in Ablehnung9 gegenüber dem spirituellen wie allgemein dem kirchlichen Angebot verharrte. Schon Martin Luther hatte ja den Kreis derer, „so mit ernst Christen wollen seyn“,10 als nicht so groß eingeschätzt. Neben einer orthodoxen Spiritualität bestanden daher in den lutherischen Ländern andere Formen der Spiritualität, die sich aus der Volksfrömmigkeit oder anderen, zum Beispiel naturphilosophischen Weltdeutungen nährten. Es bedurfte also ungeheurer Bildungsarbeit, die nur durch gut ausgebildete und möglichst auch religiös und literarisch kreative Personen vorgenommen werden konnte. Es liegt in dem Wesen solcher elementaren Bildungsarbeit begründet, dass sie über mehrere Generationen erfolgen muss, um dauerhaft Erfolg haben zu können. Erst am Ende des 17. Jahrhunderts, zur Zeit des aufkommenden Pietismus, dürfte ein großer Teil der Bevölkerung in den lutherischen Ländern in dieser Weise erreicht worden sein.11 Die Spiritualität der altlutherischen Orthodoxie begegnet uns originär sowohl in den die Spiritualität begründenden akademisch-theologischen Werken wie in der kirchlich anerkannten religiösen Gebrauchsliteratur (Erbauungsliteratur) des Luthertums in der Zeit zwischen 1550 und 1675, wird aber weit über diese Zeit hinaus rezipiert oder (wie im 20. Jahrhundert) unter veränderten Bedingungen neu aufgenommen. Es ist kaum möglich, diese umfangreiche, zeitlich und regional weit gestreute, dazu thematisch und methodisch vielfältige Literatur für diesen Beitrag als Ganzes historisch auszuwerten. Es können nur einige exemplarische Linien aufgezeigt werden, die einen allgemeinen Eindruck vermitteln sollen, wie diese Literatur gelesen werden kann.
2.
Glaube und Spiritualität
Abraham Calov (1612–1686) spricht wohl allgemein für die altlutherische Orthodoxie, wenn er die Frömmigkeit (pietas) nicht einfach als Praxis des Glaubens versteht, sondern sowohl für den Glauben als auch für die Frömmigkeit (eine 7 8 9 10 11
Z. B. Praetorius, Anleitung; vgl. DWB 10, 584f. Vgl. Vogler, Volksfrömmigkeit. Vgl. Matthias, Preußisches Beamtentum, 198. WA 19,75,5. Das ist etwas anderes als eine Frömmigkeitskrise, wie sie Winfried Zeller behauptet hat und Bernd Jaspert mit ganz unterschiedlichen chronologischen Einordnungen jüngst verteidigt hat, vgl. ders., Frömmigkeit, Bd. 2, 159–161.173f.208.
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Theorie [Lehre] und) eine Praxis unterstellt.12 Das Verhältnis von (praktischem) Glauben und (praktischer) Frömmigkeit lässt sich demzufolge so beschreiben, dass Frömmigkeit das dem tröstlichen (und insofern praktischen) Glauben an das Evangelium angemessene, äußere Verhalten (Lebensführung, Lebensstil, Früchte des Glaubens) ist, wie es sich vor allem in Ehrerbietung und Dienst gegenüber Gott, der Kirche und dem Mitmenschen, einschließlich dem Gemeinwesen und der Obrigkeit, zeigen muss. Insofern bewahrt dieses Verständnis von Frömmigkeit noch etwas von der alten, ethischen Bedeutung von „integer“ oder „gerecht“.13 Dabei ist die Abfolge von Glauben und Frömmigkeit entscheidend. Der wahre und echte Glaube führt notwendig zu einem bestimmten, frommen Verhalten; die (tätige) Frömmigkeit oder religiöse Erfahrung aber trägt als Praxis inhaltlich nichts zum Glauben bei.14 Dieser wird nach orthodoxer Lehrauffassung allein durch das gelesene, gepredigte oder gehörte Wort Gottes geweckt und erhalten. Auch für die Orthodoxie ist es dabei selbstverständlich, dass Glaube und Frömmigkeit unlösbar miteinander verbunden sind, und es bestand vermutlich auch ein Bewusstsein dafür, dass die Ausübung der Frömmigkeit zur Festigung des Glaubens beitrug. Einen Begriff aber für das, was man heute unter Spiritualität versteht, kennt die altlutherische Orthodoxie gerade nicht. Dieser moderne Begriff ist pietistisch-neuprotestantisch geprägt, insofern er – gegen das orthodoxe Verständnis des merè passive des Glaubens, der schlicht dem Wort Gottes trauen können muss – fokussiert ist auf die spirituelle Tätigkeit oder Kraft des Glaubens.15 Dieser sich in der Begriffsumbildung von „Frömmigkeit“ zu „Spiritualität“ vollziehende „Paradigmenwechsel“16 geschieht offenbar unter der Maßgabe, dass erst ein solcher aktiv gestalteter und geübter Glaube relevant und ein „lebendiger“ und insofern auch im Alltag, in der Natur oder auch in heiligen Räumen und zu heiligen Zeiten erfahrbarer oder erfahrbar gewirkter Glaube ( jenseits aller konfessionellen Beschränkungen) ist.17 Spiritualität (im neuprotestantischen Sinn) fragt nicht (allein) danach, ob das Wort Gottes glaubwürdig sei, sondern auch und in erster Linie, ob der eigene Glaube
12 Vgl. Calov, Systema 1, 53. 13 DWB 4, 241f. 14 Vgl. Hanneken, Hebdomas Disputationum, Widmungsvorrede vom 15. 3. 1678 an die darmstädtischen Landgrafen, Bl. )(1r - )()(3v. 15 Vgl. Jaspert, Spiritualität. 16 Vgl. die konzise Beschreibung des im Aufkommen des Begriffs der Spiritualität sich vollziehenden Paradigmenwechsels von Fahlbusch, Spiritualität, 403f; vgl. dazu die sprachliche Konkurrenz zwischen pietas (Gottseligkeit) einerseits (orthodox) und wahrem, tätigem Christentum andererseits (pietistisch), vgl. Wallmann, Pietas contra Pietismus. 17 Vgl. die Definitionen der EKD-Studie: Evangelische Spiritualität, 10–12, oder bei Zimmerling, Evangelische Spiritualität, 15.
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(als Glaube an Gott) glaubwürdig sei.18 Daher ist der hier zu behandelnde Gegenstand für die altlutherische Orthodoxie näher zu bestimmen.19
3.
Spiritualität und Literatur
Wenn die altlutherische Orthodoxie die Quellen des Trostes und damit ihrer „Spiritualität“ allein in den Verheißungen der Bibel erkennen will, dann besteht auch ihre Spiritualität ganz „im Wort“20, d. h. sie ist gerichtet auf das im Wort Gegenwärtige. Es kam darauf an, entweder in der exegetisch-homiletischen Meditation dem Bibeltext zu folgen oder in eigenen Worten das von der Bibel Verheißene poetisch zu symbolisieren. Diese altlutherische Spiritualität begegnet uns verdichtet und intensiv vornehmlich im geistlichen Lied oder allgemein in der geistlichen Poesie, in der Gebets- und Andachtsliteratur sowie in der Meditationsliteratur. Als sekundäre, nämlich auf das „Wort“ bezogene Quellen wären auch die Verarbeitungen in den bildenden Künsten und in der Musik zu nennen. Dabei ist zu beachten, dass die Spiritualität bis in die Mitte des 17. Jahrhunderts, abhängig von der Literaturgattung, in erheblichem Umfang zweisprachig (lateinisch und deutsch) ist, auch als private Spiritualität. Johann Gerhards „Meditationes sacrae“ (1606) sind selbstverständlich ursprünglich auf Lateinisch erschienen und haben in dieser Sprache mehrere Auflagen erlebt.21 Noch Philipp Jakob Spener (1635–1705) hat seine privaten erbaulichen Selbstgespräche (1653) 22 auf Lateinisch niedergeschrieben und hat auch lateinisch gebetet, auch wenn er bei dem freien Gebet in der Muttersprache offenbar mehr bei sich selbst war.23 Übersetzungen von Gebetbüchern aus dem Deutschen ins Lateinische (s. u. zu Johann Habermann) dürften auch in dieser Zweisprachigkeit ihren Grund haben. Was die deutsche erbauliche, insbesondere die poetische Literatur betrifft, muss man davon ausgehen, dass es enormer Anstrengungen bedurfte, um neben der Lutherbibel eine deutsche religiöse Sprache zu etablieren. Im Blick auf die Entwicklung einer volkssprachlichen Spiritualität muss daher die Zeit der altlutherischen Orthodoxie als eine Entwicklungszeit angesehen werden. Bei der Entwicklung einer eigenen Sprache spielt die Übersetzung von traditionellen 18 Vgl. Matthias, Rechtfertigung und Routine. 19 Auffälligerweise erwähnt Geoffrey Wainwright eine altlutherische Spiritualität überhaupt nicht, vgl. ders., Spiritualität, 409. 20 Vgl. Calov, Isagoges, a5r. 21 Vgl. Johann Anselm Steiger, Nachwort, in: Gerhard, Meditationes, 625–765. 22 Vgl. Spener, Soliloquia. 23 Vgl. Spener, Briefe, Nr. 190, Z. 286–291.
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lateinischen Texten eine wichtige Rolle. Aus diesem Sachverhalt erklärt sich unter anderem die – immer kritische – Rezeption (spät-) mittelalterlicher Texte und Motive, die im Übrigen durchaus als Teil der eigenen katholischen (nicht als Teil einer römisch-konfessionellen) Kirchentradition adaptiert werden konnten. Das gilt vor allem für die lateinischen Kirchenväter Ambrosius, Augustinus24 und Gregor den Großen, außerdem für Bernhard von Clairvaux sowie für Werke des 14. Jahrhunderts, die deren Namen untergeschoben wurden, zu denen an erster Stelle die Augustinus zugeschriebenen mittelalterlich-„mystischen“ Texte wie die „Meditationes“, das „Manuale“ und die „Soliloquia“ gehören, die sich auch im 16. und 17. Jahrhundert großer Beliebtheit erfreuten.25 Erst um die Mitte des 17. Jahrhunderts kommen Prosatexte und Lieder oder Gedichte auf, die dem protestantischen (lutherischen) Glauben auf eigene, freie Weise spirituelle Dimensionen eröffnen, die er allein durch die schulmäßige theologische Lehre oder Bibellektüre nicht erreicht hätte. Zu den Autoren sind zu zählen Catharina Regina von Greiffenberg (1633–1694), Andreas Gryphius (1616–1664), Georg Neumark (1621–1681), Paul Gerhardt (1607–1676), Johann Rist (1607–1667) und viele andere. Die zunehmend freie Meditation zeigt sich auch in der Verwendung von meditativ zu gebrauchenden Illustrationen (öffentliche [kirchliche] und private Andachtsbilder) und vor allem der zeitgenössischen Emblematik, die auf geistreiche Weise Parallelen zwischen der Bibel und der allgemeinen Erfahrungswelt schuf und zur Betrachtung darüber einlud.
3.1
Das geistliche Lied und die geistliche Poesie
Das geistliche Lied (und in etwas eingeschränktem Maße die geistliche Poesie26) als Medium der Spiritualität27 ist darum hervorzuheben, weil die den Text unterstützende Musik geeignet ist, die affektive Wirkung zu verstärken. Zudem ermöglicht das Lied sprachlich (lyrisches Ich) und liturgisch (Gemeindegesang) eine besondere Identifikation mit dem religiösen Inhalt, der auf diese Weise angeeignet wird. Ferner ermöglicht die dichterische Freiheit, die dem Rechtgläubigen seitens der Orthodoxie ohne weiteres zugestanden wird, eine besonders dichte und symbolische Ausdrucksweise, die gleichfalls eher berühren kann als eine begriffliche Auseinandersetzung. Zuletzt unterstützt die Melodie auch die Memorierbarkeit der gebundenen Sprache. 24 Vgl. Jensen, Reading Augustine. 25 Zu den Pseudaugustinischen Schriften s. Index Aureliensis, 396–445, und: Die deutsche Literatur des Mittelalters. Verfasserlexikon. Hg. von Kurt Ruh u. a., Berlin/New York 1, 1978, 531–543; 11, 2004, 188–189. 26 Vgl. Krummacher, Lyra; Kemper, Lyrik; Pfefferkorn, Übung der Gottseligkeit. 27 Vgl. Veit, Gesangbuch.
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Die Bedeutung des geistlichen Liedes für die Spiritualität der altlutherischen Orthodoxie lässt sich festmachen an der großen Zahl ihrer geistlichen Lieder, von denen nur ein Bruchteil dauerhaft in die Gesangbücher der evangelischen Kirche Eingang gefunden hat. Ja, man wird davon ausgehen dürfen, dass viele protestantische Christen schlicht für sich selbst Lieder gedichtet und gesammelt haben, die niemals gedruckt wurden,28 so wie man auch trostreiche Bibelstellen oder Predigtlesefrüchte als privates erbauliches Reservoir sammelte. Die poetische Ausbildung war ja fester Bestandteil der schulischen und akademischen Bildung. Christopher Brown hat berechnet, dass zwischen 1520 und 1600 beinahe 2000 Liederbücher (davon die Hälfte kirchliche Gesangbücher) erschienen sind, und vermutet eine Gesamtanzahl von zwei bis vier Millionen Exemplaren.29 Bei einer Bevölkerung in den deutschen Ländern um 1600 von vielleicht 15 Millionen30 dürfte durchschnittlich in jedem Haushalt ein Liederbuch gelegen haben bzw. sich vor allem bei den rund 4,5 Millionen Menschen in den Städten konzentriert haben. Die anhaltende Formung der lutherischen Spiritualität durch das geistliche Lied zeigt sich in der Rezeption vor allem des Liedgutes des nachreformatorischen Zeitalters in den evangelischen Gesangbüchern. Von den rund 260 namentlich bekannten Verfassern von Liedern und Weisen des Evangelischen Kirchengesangbuches von 1950 stammen 111 aus dem Zeitalter der Gegenreformation und des Dreißigjährigen Krieges. Entsprechend umfangreich und detailliert ist die Forschung zum geistlichen Lied und zur geistlichen Poesie dieses Zeitraumes.
3.2
Das Gebet
Die unmittelbare Antwort des Gläubigen auf die Anrede Gottes in der Heiligen Schrift oder in Predigt und Sakramenten erfolgt im Gebet. Das Gebet ist demzufolge auch der Ort, an dem sich der Gläubige selbst zur Sprache bringt. Schließlich geschieht seit alters auch die Meditation (s. u.) häufig in der Form des Gebetes. Es ist daher nicht zu verwundern, dass mit der ersten Konsolidierung der reformatorischen Kirchen auch das Bedürfnis nach Formen des reformatorischen Gebetes entstand.31 Übernahmen die reformatorischen Gebetbücher zunächst biblische Gebete und Psalmen oder Psalmenbearbeitungen sowie Texte 28 Vgl. Matthias, Religion und Stand, 59. 29 Vgl. Brown, Devotional Life, 233. 30 Vgl. die Schätzungen für 1600 bei Mathis, Wirtschaft im 16. Jahrhundert, 6f; Rabe, Reich und Glaubensspaltung, 408. 31 Vgl. Brown, Devotional Life, 237–258; Baumann-Koch, Gebetsliteratur; Althaus, Gebetsliteratur.
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von Luther oder anderen Reformatoren,32 so zeigte sich bald das Bedürfnis, insbesondere für die Begleitung von Kranken und Sterbenden, aber auch für Kinder und den Gottesdienst spezielle Gebete zur Verfügung zu stellen.33 Am Anfang der wirkungsmächtigen Einführung altkirchlicher34 und mittelalterlich-erbaulicher Texte in die evangelischen Gebetbücher steht der noch in die mittelalterliche Kirche hineingeborene, ganz und gar als lutherischer Reformator zu verstehende Andreas Musculus (1514–1581) mit seinen „Precationes ex veteribus orthodoxis doctoribus“ (1559) 35 und seinem „Betbüchlein“ (1559) 36, von denen in den folgenden zwei Generationen (65 Jahre) durchschnittlich jedes zweite Jahr eine Ausgabe erschien. Bei Musculus, für den selbstverständlich Kampf um die reine Lehre und innige Frömmigkeit keinen Widerspruch, vielmehr eine Einheit bildeten, wird deutlich, dass es allererst um die Formgebung und Sprachform eines christlichen Gebetes geht, an dem der einzelne Beter seine eigene Andacht, sein eigenes Anliegen und letztlich seine eigene Affektivität entzünden soll. So verteidigt Musculus seine deutsche Ausgabe mit folgenden Gründen: Unbenommen der Auffassung, dass Gebete gleichsam spontan als (dann auch sprachlich gefasste) Seufzer aus dem Herzen entspringen müssten, so können doch vorformulierte Gebete zunächst das Verlangen des Gebetes verstärken und in wirklicher Not eine sprachliche Hilfe gegenüber einer drohenden Sprachlosigkeit und geistlichen Unordnung sein. Für die Einfältigeren bieten sie überhaupt eine Möglichkeit der Artikulation eines Gebetsanliegens. Letztendlich diene ja das Gebet nicht dazu, Gott über die eigene Not aufzuklären, sondern sich selbst, „das wir bey uns / unnd in uns selber unser anligen als der [desto] besser verstehen und sehen / unnd darauß folgent / auch im Geist als der [desto] brünstiger zu GOTT ruffen unnd schreyen können. Und darumb solch Bethbüchlein sehr nützlich unnd dienstlich [ist] einfeltigen Christen / das sie sich als der [desto] besser jrer eigen noth wissen zu erinnern / unnd die selbige auch mit worten / neben des hertzen seufftzen / können Gott für tragen“.37
Für die konkrete Gestaltung der Gebete übernahm Musculus in gut humanistischer38 Weise (im Lateinischen sogar mit Angabe der Quellen) Texte aus der 32 33 34 35
Vgl. Althaus, Gebetsliteratur, 11–21. Vgl. a. a. O., 35–59. Vgl. Kolb, Lutheran Teaching. Weitere Ausgaben: 1561, 1562, 1571, 1573, 1575, 1577, 1581, 1586, 1592, 1596, 1599, 1601, 1610, 1613, 1624. 36 Weitere Ausgaben: 1560, 1561, 1567, 1569, 1574, 1575, 1576, 1579, 1584, 1585, 1589, 1591, 1593, 1601, 1605. 37 Betbüchlein, Widmungsvorrede A2a–A6a, bes. A4a. 38 Vgl. Betbüchlein, Widmungsvorrede, A4b; vgl. Althaus, Gebetsliteratur, 99.
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christlichen Tradition, sofern sie für rechtgläubig gehalten wurden. Das galt insbesondere für Pseudo-Augustinus, aber auch für Pseudo-Eusebius („De morte Hieronymi“) 39, Ambrosius, Origenes, Cyprian, Dionysius Areopagita und Bernhard von Clairvaux. Neu ist ferner bei Musculus der Versuch, ein umfassendes und zugleich geordnetes Gebetbuch herauszugeben, das erst als solches geeignet war, eine Spiritualität des Gebetes einzuüben.40 Das allgemeine christliche Gebet richtet sich danach einerseits meditativ auf den dreieinigen Gott, die göttlichen Personen und auf das in der Geschichte Jesu Christi aufscheinende Heil für die Menschen und andererseits als Bittgebet auf die Vergebung der Sünden, den rechten Empfang des Abendmahls, auf einen frommen Wandel, auf Bewahrung in Situationen der Anfechtung und schließlich auf das ewige Leben. Dankgebete – in der lateinischen Ausgabe außerdem Segensgebete – beschließen Musculus’ Sammlung. Erfolgreicher (selbst im Vergleich mit Johann Arndts „Paradiesgärtlein“) und nachhaltig wirksam war das „Betbüchlein“ von Johann Habermann41 (Avenarius) (1516–1590), das man als das lutherische Gebetbuch überhaupt bezeichnet hat.42 Es erschien zum ersten Mal 1567 in zwei verschiedenen Drucken (Nürnberg und Hof). Es trägt den Titel: „Christliche Gebet für alle Not vnd Stende der gantzen Christenheit ausgeteilet auff alle tag inn der Wochen zu sprechen: sampt gemeinen Dancksagungen, auch Morgen vnd Abendtsegen / Gestellet vnd auß heiliger Göttlicher Schrifft zusamen gelesen“. Habermann bietet für jeden Wochentag je ein Morgen- und Abendsegensgebet, ein Dank-, zwei Bitt- und zwei Fürbittgebete sowie ein Gebet um Schutz als Ergänzung zu den täglich zu wiederholenden Texten des Katechismus als dem Glaubensinhalt. Das Ziel besteht offenbar in der Heiligung des Alltages43 durch seinen durchgängigen Bezug zu Gott. Damit soll nicht nur ein spirituelles Leben als Gebetspraxis eingeübt werden, sondern sollen die Inhalte des Glaubens dauerhaft präsent werden. So behandeln die Dankgebete, nacheinander auf die Wochentage verteilt, die Themen Schöpfung, Erlösung, Heiligung, Erkenntnis Christi, Leibeserhaltung, Leiden Christi und Barmherzigkeit Gottes. Die erste Reihe der Bittgebete umfassen, eingerahmt von der Bitte um die Vergebung der Sünden und um ein seliges Ende, die Bitten um die christlichen Tugenden Glauben, Hoffnung Liebe sowie um Eintracht des Glaubens. Die zweite Reihe bittet für die Erhaltung der Kirche, das Kommen des Reiches Gottes, die christliche Demut, die Früchte des Landes, 39 Erika Bauer, Art. Hieronymusbriefe, in: Die deutsche Literatur des Mittelalters. Verfasserlexikon, hg. von Kurt Ruh u. a., Berlin/New York 3, 1989, [1233–1238] 1234. 40 Zu Musculus vgl. Althaus, Gebetsliteratur, 98–103. 41 Habermann, Gebet. Vgl Althaus, Gebetsliteratur, 119–126. 42 Vgl. Steiger, Johann Anselm, Nachwort, in: Habermann, Gebet, 399–420, hier 411. 43 Vgl. van Ingen (Hg.), Gebetsliteratur.
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zeitlichen Frieden, Geduld in Leidenszeit und das tägliche Brot. Die Fürbittengebete treten ein für die Prediger, die weltliche Obrigkeit, die Eheleute, die Sünder, die Ungläubigen oder Verführten, die Schwangeren und die Bekümmerten sowie für die Predigtzuhörer, die Untertanen, die christliche Jugend, die Kranken, die Wohltäter, die Gefangenen und die Witwen. Als Schutzgebete sind zu nennen diejenigen gegen die falschen Lehren oder Sekten, die Feinde der Christenheit, Satans Reich, die dreierlei Anfechtungen durch Teufel, Welt und Fleisch sowie gegen die Verzweiflung. Dabei zeigen Habermanns Gebete in Umfang und Gestalt eine große Nähe zu den liturgischen Gebeten des öffentlichen Gottesdienstes. Auffällig ist sein Versuch, statt der Rezeption altkirchlicher oder mittelalterlicher Texte in Sprache und Formulierungen sich möglichst eng an die Heilige Schrift und an den Katechismus anzuschließen. Auf der einen Seite bewirken die Gebete damit, dass der Beter zugleich mit der Heiligen Schrift vertrauter umgeht, zum anderen kann man sich darauf verlassen, dass diese Gebete Gott wohlgefällig sind (und erhört werden), weil sie selbst von Gott eingegeben sind.44 Neben diesen Tagesgebeten enthält Habermanns „Betbüchlein“ (gut lutherisch) auch noch Gebete für alle Stände und in allerlei Umständen.45 Produktiv, aber biografisch kaum bekannt war der als Lüneburger praeceptor in Erscheinung getretene Philipp Kegel (Lebensdaten unbekannt). Verbreitet waren seine: „Zwelff Geistlich Andacht / Darinnen gar schöne / Trostreiche Gebet begriffen / Welchs die recht bewerte heylsame Mittel / dadurch man ein Gnedigen Gott / Ein friedtsames frölichs Gewissen / vnd endtlichen die Kron des Ewigen Lebens erlangen vnd behalten kann“ (Hamburg 1593) 46, ein regelmäßig verkaufter Longseller des 17. Jahrhunderts, der bis 1695 durchschnittlich alle drei Jahre neu erschien. Wie beim Gebetbuch von Musculus erschien von diesem Gebetbuch auch eine lateinische Variante.47 Nach einem einleitenden Stück und Gebeten, die das Beten allgemein betreffen, versammelt Kegel unter den zwölf Andachten 1) Morgengebete, 2) Abendgebete, 3) Gebete in Verbindung mit dem Gottesdienst, 4) Betrachtungen des Leidens Christi, 5) Buß- und Klagegebete, 6) Beichtgebete, 7) Gebete nach der Beichte, 8) Abendmahlsgebete, 9) Gebete bei innerer und äußerer Anfechtung, 10) in Krankheit und Todesnöten, 11) Meditationen der Freude des ewigen Lebens und 12) Gebete für besondere Personen, Stände und Situationen. 44 Vgl. dazu WA 38,358–375. 45 Vgl. dazu Brown, Devotional Life, 252f gegen die von Althaus behauptete Abhängigkeit von Peter Michael (1542–1595): Serta honoris & exultationis, Köln 1589. 46 Die erste, kürzere Version erschien ebenfalls in Hamburg 1593 (schon 1592 nach Althaus, Gebetsliteratur, 136) unter dem Titel: Ein Newe CHristlich vnnd gar Nützlich Betbuch/ darinnen viel Heylsame vnnd Bewerte Mittel zubefinden/ dadurch man einen gnedigen GOTT […] bekommen kann, Hamburg 1593. 47 Vgl. Kegel, Thesaurus spiritualis.
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Besonders hervorzuheben ist hier neben der üblichen Rezeption altkirchlicher und mittelalterlicher Gebete die Ausschreibung jesuitischer Gebetbücher, nämlich derjenigen von Petrus Canisius (1521–1597) 48 und Petrus Michael(is) Brillmacher (1542–1595) 49 bzw. (in der lateinischen Ausgabe statt Michaelis) Simon Verepaeus (Verrypen) (1522?–1598) 50, während nur ein geringer Bruchteil auf die eigene protestantische Gebetstradition (Ludwig Rabe, Andreas Musculus und Johann Leon) zurückgeht.51 Die kulturgeschichtliche und frömmigkeitsgeschichtliche Bedeutung der wechselseitigen Rezeption fremdkonfessioneller Frömmigkeitstexte wie sie auch in der Erbauungsliteratur vor allem des 17. Jahrhunderts zu beobachten ist, verdient eine eigene Untersuchung. Man greift jedenfalls zu kurz, wenn man hier vor allem eine Verfremdung der lutherischen Spiritualität durch „das subjektive Element“, durch „augustinisch=bernhardinische Mystik des Mittelalters“ oder „römische Produkte“ erkennen will.52 Mit den drei hier genannten Autoren und ihren Werken, zu denen noch Johann Gerhards „Exercitium pietatis“ (1612) 53 zu zählen wäre, sind nur die am meisten verbreiteten Gebetbücher genannt, neben denen es eine große Zahl weiterer gab, die von Pfarrern, akademischen Theologen oder Privatleuten verfasst und gedruckt wurden.54 Christopher Brown zählt aufgrund einer freilich noch ungenügenden bibliografischen Erfassung von Gebetbüchern des 16. Jahrhunderts 373 Ausgaben.55 Aufgrund dieser Quellen lässt sich nicht erkennen, dass es den Frommen in dieser Zeit an geeigneten Mitteln gefehlt hätte, um sich privat innerlich und affektiv zu erbauen und auf diese Weise auch eine eigene religiöse Identität einzuüben.
3.3
Die evangelische Meditation
Erbauungsbücher als niedergeschriebene (und sekundär auch gedruckte) Meditationen gibt es in der altlutherischen Orthodoxie eine ganze Reihe, die freilich bislang weder formgeschichtlich noch bibliografisch noch literaturgeschichtlich
48 49 50 51 52
Canisius, Catechismus. Brillmacher, Catechismus. Verepaeus, Precationum piarum enchiridion. Vgl. Koch, Frömmigkeit; ders., Kegels Gebet- und Erbauungsbücher. Althaus, Gebetsliteratur, 59–66, bes. 60f.65, in Anlehnung an die Urteile von Albrecht Ritschl und Wilhelm Koepp. 53 Gerhard, Exercitium. 54 Vgl. die Übersicht bei Althaus, Gebetsliteratur, 98–142.145–162. 55 Vgl. Brown, Devotional Life, 253.
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noch lebensweltlich einigermaßen erschlossen sind.56 Die Meditation, das „Wiederkäuen“ (ruminatio) der biblischen Texte, um durch veränderte Perspektiven möglichst viel erfahrungsbezogene Selbst- und Gotteserkenntnis zu erreichen, ist von Anfang an in der lutherischen Spiritualität präsent, nicht zuletzt auf Grund Luthers57 bekannter Forderung nach einer Theologie, die auf der Trias von oratio, meditatio und tentatio aufbaut.58 Die Meditation ist in der Regel traditionell die Bußmeditation in der Spannung vom Lob der Güte Gottes und der Einsicht in die eigene Sündhaftigkeit und die Meditation der Passion Christi als soteriologisches sacramentum und ethisches exemplum, ergänzt um die umfassende Meditation der christlichen Existenz, wie sie im Katechismus verdichtet ist. Exemplarisch ließe sich hier auf Johann Gerhards Meditationstechnik verweisen.59 Ein wichtiges und als Fundgrube viel benutztes Beispiel für die späthumanistische Meditationsspiritualität der altlutherischen Orthodoxie am Ende des 16. Jahrhunderts bietet Martin Moller (1547–1606), der für seine erbaulichen Schriften, von denen an dieser Stelle als sein wirkungsgeschichtlich wohl einflussreichstes Werk die „Meditationes sanctorum Patrum“ genannt werden sollen (1584–1591), ebenfalls aus der älteren, christlichen, asketischen Frömmigkeitsliteratur schöpft.60 An dem Werk des schlesischen Pfarrers lässt sich die Entwicklung einer altlutherischen Meditationsspiritualität in unterschiedlicher Hinsicht studieren. Dazu gehört 1) die Methode der Übersetzung älterer „Väter“ im Glauben, seien es altkirchliche, seien es mittelalterliche Theologen, denen – unter den Schatten des Papsttums –evangeliumsgemäße Verkündigung attestiert wird. Übersetzung als Methode der Rezeption impliziert dreierlei: Zum einen entlastet sie den Autor von der „Erfindung“ eigener geistlicher Zusammenhänge und kann sich gut humanistisch auf das Vorbild des Alten und Anerkannten berufen. Zum anderen kann sie sich ganz der Adaption in die eigene Volkssprache widmen und trägt auf diese Weise selbst zur Etablierung einer religiösen Volkssprache bei. Schließlich ermöglicht die freie Übersetzung gegebenenfalls auch behutsame theologische oder mentalitätsgeschichtliche Korrekturen gegenüber der Vorlage. Die besondere Funktion 2) der von Martin Moller produzierten Erbauungsliteratur besteht darin, dass sie den Christen nicht als Adressaten der Predigt oder Unterweisung anspricht, sondern ihm gleichsam Worte in den Mund legt,61 56 Vgl. Sträter, Meditation und Kirchenreform; Johann Anselm Steiger, Nachwort, in: Gerhard, Meditationes, 625–765, hier 658–665; Nicol, Meditation, 345–347. 57 Vgl. Nicol, Meditation bei Luther. 58 Vgl. WA 50,659; dazu Bayer, Oratio, Meditatio, Tentatio. 59 S. den Beitrag zu ihm im vorliegenden Band. 60 Vgl. Axmacher, Praxis Evangeliorum. 61 Vgl. a. a. O., 138.
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in denen er seinen Glauben aussprechen kann, wiederum nicht als abstrakte Lehre, sondern in seinem Affiziert-Sein durch das Evangelium. Dadurch bekommen die Meditationen einen gebetsartigen Charakter. Damit hängt inhaltlich 3) zusammen, dass in dieser Erbauungsliteratur die Gegenwärtigkeit des Heils oder des Heilandes62 und seine ästhetische und emotionale Anziehungskraft herausgestellt wird, wozu insbesondere das alte (biblische) Bild der geistlichen Hochzeit, das Bild von Braut und Bräutigam, aber auch das Bild der neuen Stadt, des Himmlischen Jerusalems, als wahrer Heimat taugen. Insofern sich diese Bilderwelten weder spekulativ noch meditativ gegenüber ihrer Funktion der Symbolisierung der verkündeten Heilsgegenwart des Heilandes verselbständigen, ist es nicht angebracht, hier von „Mystik“ zu sprechen. „Mystisch“ ist diese Frömmigkeit nur darin, dass sie zum einen Bilder statt Begriffe aufruft und zum anderen Affekte anspricht und hervorbringt, die auch für Luther religiös unverzichtbar waren. Vielmehr bewährt sich diese Erbauungsliteratur darin, dass sie die Rechtfertigungslehre, die in ihrer begrifflichen Abstraktion zu falschen Alternativen und Rationalisierungen führen kann, einheitlich symbolisiert. Schließlich zeigen die späthumanistischen Erbauungsschriften mentalitätsgeschichtlich 4), dass das sich darin aussprechende „Ich“ weder individualistisch noch subjektivistisch gemeint ist. Es geht ja nicht darum, besondere eigene Erfahrungen darzustellen, sondern in die vorgegebenen Erfahrungsformen einzustimmen.63 Und das Subjekt des Beters oder Betrachters wird noch nicht als Garant der Wahrheit der Erfahrung problematisiert. Die Bedeutung von Mollers Erbauungsliteratur erweist sich neben der Auflagenhöhe und dem verbreiteten Lob seiner Schriften vor allem in der anhaltenden Benutzung als Vorlage für Gedichte und Lieder von Johann Arndt (1555– 1613),64 Valerius Herberger (1562–1627), Johann Heermann (1585–1647), Paul Gerhardt (1607–1676) und Andreas Gryphius (1616–1664) oder Heinrich Schütz (1585–1672).65
62 63 64 65
Vgl. a. a. O., 316. Vgl. a. a. O., 253. S. den Beitrag zu ihm im vorliegenden Band. Vgl. a. a. O., 16.
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4.
Die Meditation der Heilsgegenwart
4.1
Grundlegung
Die orthodoxe lutherische Lehre hat sich seit der Mitte des 16. Jahrhunderts in besonderem Maße christologisch profiliert. Das „neue“ christologische Dogma66 des Luthertums, das in wiederum unterschiedlicher Intensität oder Stringenz die Weltgegenwart Jesu Christi in seinen beiden Naturen betonte, ist auch Grundlage und Maßstab der altlutherischen Spiritualität geworden. Gegenüber anderen konfessionellen Entscheidungen liegt das Besondere der lutherischen Christologie darin, dass sie theologische Gründe und Argumentationszusammenhänge bereitstellt, die die Erwartung der Gläubigen wecken können, dass sie dem inkarnierten Christus und dem in ihm erschienenen Heil geistlich auf eine vergleichbare Art begegnen können, wie die Jünger während seines irdischen Wandelns. Das bedeutet zweierlei: Zum einen wird in der Person Jesus Christus die Gegenwart des (zukünftig offenbaren) Heils gesucht, zum anderen ist dieses Heil gegenwärtig in einer noch unerlösten Welt, so dass auch der in beiden Naturen gegenwärtige Jesus Christus in seinem geistlichen Leib noch immer an dieser unerlösten Welt leidet.67 Aufgabe der tröstlichen Erbauungsliteratur muss es sein, diese geglaubte Heilsgegenwart meditativ vor Augen zu stellen. Dazu eignen sich unterschiedliche Themenbereiche. Im Mittelpunkt steht zunächst der Heiland selbst.
4.2
Die Person Christi
Eine besondere Bedeutung kommt dabei dem Nachweis der Einheit von Altem und Neuem Testament zu, also den Auslegungen der (evangelischen) Tröstungen des Alten Testaments, unter denen die Erklärung des Protevangeliums (Gen 3,15) einen prominenten Platz einnimmt. Es muss deutlich sein, dass die Menschen vor der Inkarnation des Gottessohnes nicht ohne evangelische Zusage waren, und dass sich in Jesus Christus eben diese im Alten Testament (und der Urreligion) von Anfang an geltende Verheißung erfüllt hat. Zu denken ist an Michael Walthers „Quadraginta Miscellanea Theologica“ (Ulm 1648) und „Officina Biblia“ (Leipzig und Rostock 1636; 21668; 31703), Daniel Cramers „Schola Prophetica“ (Hamburg 1607–1612), Salomon Glassius’ „Prophetische Spruch-Postill“ 66 Vgl. Mahlmann, Das neue Dogma; Wiedernroth, Krypsis und Kenosis. 67 „Vnd ist ohn zweiffel noch viel zu rück in der Passionshistorien / welches vor dem Ende der Welt an dem geistlichen Leib Christi wird erfüllet werden,“ Gerhard, Erklährung der Historien, 32.
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(Nürnberg 1643, 1647, 1655), Michael Walthers „Postilla Prophetica“ (Nürnberg 1646) und Johann Gerhards „Postilla Salomonaea“ (Jena 1631; 1644; 1652; 1665f). Grundlage für die Spiritualität ist hier immer die Bibel, und Gegenstand ist vornehmlich das in der Person Jesu Christi und seiner Geschichte begründete Heil. Es ist die Spiritualität der Meditation des extra nos des Heils. Die Meditation richtet sich auf das von außen zukommende Heil und in der Meditation soll der Glauben geweckt oder gestärkt werden, der mit dem Objekt der Meditation verbindet und darin heilsam und rettend ist. An erster Stelle ist es für die orthodoxe Spiritualität wichtig, dass sie die Person Jesus Christi möglichst umfassend ins Bild bekommt, weil sich aus den verschiedenen Perspektiven auch die unterschiedlichen Dimensionen und die Totalität seiner Heilsbedeutung ergeben.68 Ein biblisch gut begründetes und zugleich geeignetes Mittel ist die Meditation der verschiedenen Namen, unter denen Christus in der Bibel zu finden ist. So hat Salomon Glassius (1593–1656) eine „Onomatologia Messiae Prophetica: Qua Orthodoxa de Jesu Christo θεανθρώπῳ doctrina ex nominibus, quae in Scriptura Veteris Test. ei attribuuntur, methodice dispositis & succincte explicatis, eruitur ac proponitur“ (Jena 1624 mit weiteren Auflagen 1678, 1700) herausgegeben. Zu nennen wären aber auch Johannes Schütz’ Betrachtungen der Namen und Bezeichnungen Christi („Appellationes Et ΕΠΙΘΕΤΑ Filii Dei“, Eisleben 1572), Josua Stegmanns (1588–1632) „Christognosia“ (Marburg 1630; Leipzig 21689), Franz Balduins (1575–1627) „Adventus Christi Typicus“ (Wittenberg 1621) oder Lukas Bacmeisters (1530–1608) alttestamentliche Typologie („SIMPLEX ET DILUCIDA EXPLICATIO TYPORVM VETERIS Testamenti“, Rostock 1603). Als weiterer Aspekt dieser auf die Person Jesu Christi gerichteten Frömmigkeit lässt sich (gegen Martin Luthers eigentümliche, anti-allegorische, politische Interpretation dieses Bibelbuches) 69 die aus der Hohelied-Interpretation70 des Bernhard von Clairvaux gewonnene Brautmystik oder Jesusfrömmigkeit nennen, welche die Neigung hat, sich von der biblischen Vorlage in freier bildreicher Meditation zu entfernen. Beide Formen kommen – nach gelegentlicher Rezeption – thematisch erst seit 1630 bzw. 1670 auf. Das Verständnis des Hohenliedes als Gespräch der glaubenden Seele (oder der Kirche) mit Christus bot sprachliches Material, um die emotionale Bindung in der Sprache geistlicher Liebe auszudrücken und sich an dieser Emotionalität selbst zu erbauen.71 Hier ist ab dem Beginn des 17. Jahrhunderts ein starkes Interesse an der Wahrnehmung der eigenen Emotionalität oder Affiziertheit des glaubenden Subjekts zu spüren, das 68 69 70 71
Vgl. Walther, Christliebende Handleitung. Vgl. WA 31 II,586–769. Vgl. Köpf, Hoheslied. Zur Bedeutung des Petrarkismus für die sprachliche Gestaltung der Hoheliedmystik (am Beispiel Friedrich von Spees) vgl. Bassermann-Jordan, Übertragung ins Geistliche?
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so im Späthumanismus nicht zu finden ist. Es handelt sich hier um einen allgemeinen kulturellen Wandel, den die kirchengeschichtliche Forschung zum 17. Jahrhundert bislang zu wenig im Blick hat.72 Gleichwohl übernimmt die altlutherische Spiritualität für den Glauben auf Erden nicht den spezifisch mystischen Gedanken einer unio, wo „dasselbe wollen und dasselbe nicht wollen aus zweien einen Geist macht“.73 Die protestantische Brautmystik betont zwar mit Luther74 das unum von Bräutigam (Christus) und Braut (Kirche), redet aber nicht von einer unio als wirklicher Einung, sondern wahrt die Differenz, die sich in dem simul iustus et peccator wiederfindet. Auch die aufkommende Jesusfrömmigkeit mit ihrer Betonung der Menschheit Jesu ist nun nicht mehr so sehr an der Person Jesu Christi selbst interessiert als vielmehr an den eigenen möglichen Gefühlen zu dieser Person. Eine Auswirkung dieser Brautmystik und der meditativen Jesusfrömmigkeit findet sich in der Kirchenlieddichtung seit der Mitte des 17. Jahrhunderts. Hingegen handelt es sich bei der Lehre von der unio mystica75 nicht um eine erbauliche, sondern um eine streng theologisch konstruierte Lehre.
4.3
Passionsfrömmigkeit
In der zweiten Hälfte des 16. Jahrhunderts gewinnt im Luthertum die traditionelle Passionsfrömmigkeit an Bedeutung. Anlass dürften die sich häufenden (eigenen und publizistisch vermittelten) Erfahrungen von konfessionell bestimmter Vertreibung oder Krieg, von durch die sogenannte kleine Eiszeit hervorgerufenem Mangel und Depression sowie regionalen Epidemien gewesen sein. Die lutherische Theologie bot die Möglichkeit, den Glauben an Gottes Heil und Liebe auch sub contrario nicht aufgeben zu müssen. Zudem bot die „neue“ lutherische Christologie mit ihrer Betonung der Präsenz der menschlichen Natur Jesu Christi die Möglichkeit, Leiden, Sterben und Auferstehung Jesu Christi auch als Deutungsrahmen für die eigene christliche Existenz zu verstehen. So sah Johann Gerhard Gottes Handeln mit dem Menschen in Christus nicht als abgeschlossen an, sondern deutete das leidvolle Leben des Christen in der Welt als Fortsetzung (Nachfolge) und Vollendung der gleichwohl unvergleichlichen Passion Christi.76 72 Insofern ist es historisch auch irreführend, dieses Interesse an der eigenen Emotionalität als (vor-) pietistisch zu beschreiben. 73 Bernhard von Clairvaux, Sermones super Cantica Canticorum, 613; vgl. lateinisch 612: „Complexus plane, ubi idem velle, et nolle idem, unum facit spiritum de duobus“. 74 Vgl. WA 2,145–152, bes. 146,15. 75 Vgl. dazu Mahlmann, Die Stellung der unio cum Christo. 76 S. Anm. 67.
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Hierbei wurde insbesondere die vierzigtägige Passionszeit intensiver gestaltet, am markantesten zu beobachten an der exzeptionellen Stellung, die dem Karfreitag im Laufe der Zeit zukam.77 Dabei war es nötig, die Leiderfahrungen in der Ambivalenz von Deutung als Zorn Gottes und Aufruf zur Buße auf der einen Seite und Glaubensvertrauen in Christus und seine Verheißung gegen alle Erfahrung auf der anderen Seite auszuhalten. Passionsspiritualität thematisiert nicht mehr das nachempfindende, auf Reue zielende Mitleiden des Christen mit dem leidenden und sterbenden Christus, sondern das tröstliche Mitleiden Christi mit dem sündigen Menschen. Dazu gehört auch die im mitteldeutschen Raum entstandene, deutschsprachige, gesungene Passionsgeschichte. Viele Passionslieder sind Meditationen der Passion Christi auf der Grundlage der Theologie Luthers, meist sehr kunstfertig gestaltet und mit tiefer theologischer Ladung versehen. Als Beispiel kann etwa Johann Heermanns Lied „Herzliebster Jesu, was hast du verbrochen“ herangezogen werden. Als wirkungsmächtiger Beginn einer eigenen Passionsbetrachtung kann Nikolaus Selneckers (1530–1592) „Passio. Das Leiden vnd Sterben vnsers Herrn Iesu Christi, aus den Vier Euangelisten. Frõmen Christen zur Lehre vnd zum Trost zusammen gezogen vnd kürtzlich erkleret“ (Wolfenbüttel 1572, 1577, 1580, 1587) gelten. Selnecker hat auch in weiteren biblisch-erbaulichen Auslegungen seine dichterische und musikalische Begabung sehen lassen (Auslegung der Psalmen und der Propheten). Aus dem Vorwort wird deutlich, welche Rolle die Passionsfrömmigkeit für den Lutherverehrer Selnecker und die ihm folgende Orthodoxie hatte. Neben dem formalen Grund, dass Gott von uns will, dass wir seine Wohltaten erkennen und ihm dafür danken, gibt das Paradox selbst Anlass zur Betrachtung, nämlich „die hocheit / wirdigkeit / Maiestet / und Dignitet dieser Person / die da am Galgen vnd Pfal des Creutzes hanget vnd leidet“, nämlich nicht ein großer Mensch, sondern „der Allmechtige / Ewige Gott / vnd Gottes Sohn / Iehova, Iesus, Schöpffer vnnd erhalter Himels vnnd der Erden / vnd aller Creaturen / des Leiden auch grösser ist / denn Himmel vnnd | Erden / vnd mechtiger / denn aller Welt Sünde“.
Diese Betrachtung müsse letztlich zu der Verwunderung führen: „Behüte Gott / lieber HErr Gott / was mus das sein / das der Son GOttes sich eussert seiner Gottheit / vnd nimpt Knechts gestalt an sich / vnd wird ein Fluch für vns / vnd opffert seinen Leib / vnd vergeust sein thewres / werdes / Rosenfarbenes Blut am stamme des Creutzes für | unsere Sünde?“
77 Zum Anwachsen der Gewichtung des Karfreitags als vollen kirchlichen Feiertag neben den Hauptfesten in den evangelischen Kirchen ab dem letzten Drittel des 16. Jahrhunderts vgl. Jakubowski-Thiessen, Leiden Christi, 202–207.
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Das führt zu der folgenden Überlegung, dass die Ursache für das Leiden (und sein Betrachten) „ist unsere eigene grosse noth / jammer vnd elend / mühe und arbeit / darinne wir alle samptlich vnd sonderlich stecken mit Seel vnd Leib“. Es ist interessant, wie Selnecker nun nicht einfach nur die Sünde nennt, sondern die Vergänglichkeit des Menschen insgesamt: „Wir werden in Sünden empfangen vnd geboren / vnd sind von Natur Kinder des zorns / auch arme / elende / blosse / nackende / zerrissene Bettler/ allem Creutz vnd vnglücke vnterworffen / vnd haben weder rechte lust n[o]ch frewde in dieser Welt / denn es ist alles vergenglich / vnnd zufleust / vermodert / verschwindet / vergehet / vnd versteubet alles […]. Da gilt / hafft vnd hilfft nichts / weder kunst / noch gunst / weder rath noch gnad / weder Gelt noch feldt / weder macht / noch pracht / weder sterck / noch werck / weder weisheit / noch frömmigkeit / weder dein noch mein verdienst / noch aller Welt krafft / wort / trost / oder was jemals kann genennet werden: sondern das mus es allein thun / vnnd ausrichten / vnd vns in vnserm elende vnd grosser noth erquicken / trösten / lebendig vnd selig machen / das wir wissen / das Jesus Christus sich vnser noth hat mit ernst angenommen“.
Dieses Wissen helfe dann auch gegen alle Anfechtungen. Einen vierten Grund sieht Selnecker in der Funktion der Passionsgeschichte als Anschauung für theologisch tiefsinnige Fragen, wie die nach der Ernsthaftigkeit der göttlichen Gerechtigkeit, dem Zorn Gottes, der Schwere der Sünde eines jeden Menschen („Vnsere Sünde haben den HErrn Christum in solch jammer vnd noth gebracht“) und der Liebe Christi.78 Als letzten Grund für die Passionsbetrachtung nennt Selnecker den sich daraus ergebenden Trost, den festen Halt für den Glauben an den gnädigen Gott und die Motivation zu einem gottgefälligen Leben.79 Aus dieser Anleitung Selneckers wird deutlich, welche überragende und umfassende Bedeutung der Passionsgeschichte und ihrer gottesdienstlichen und privaten Meditation oder gesungenen Präsentation zukam. Als weitere wichtige Betrachtungen über die Passion Christi, ausgehend von biblisch-exegetischen Erkenntnissen, wären zu nennen Salomo Gesners (1559– 1605) Passionspredigten („PASSIO Domini Nostri“, Wittenberg 1602, 1608, 1619), Balthasar Sartorius’ (1534–1609) Meditationen („De Meditatione Passionis Domini Nostri“, Leipzig 1602) und die zahlreichen thematischen Predigten zu Bibelstellen, Predigtsammlungen oder biblischen Kommentare wie die von Christoph Pelargus (1565–1633), Balthasar Meisner (1587–1626), Johann Himmel (1581–1642), Johannes Clüver (1593–1633) oder Johann Tarnov (1586–1629).
78 Selnecker, Passio, Leipzig 1580, B1vf, B2rf, B2vf. C2r–C3r. 79 Selnecker, Passio, Leipzig 1580, C4rf.
Die Spiritualität der altlutherischen Orthodoxie
4.4
203
Inkarnationsfrömmigkeit
In seinem Lied „Gelobet seist du, Jesu Christ“ von 1523 (EG 23) hat Martin Luther intoniert, wie das Wunder von Weihnachten angemessen zum Ausdruck gebracht wird: „Den aller Welt Kreis nie beschloss, / Der liegt in Marien Schoss; / Er ist ein Kindlein worden klein, / Der alle Ding’ erhält allein. / Kyrieleis!“
Über einhundert Jahre später dichtet Andreas Gryphius in demselben Geist sein Sonett „Über die Geburt Jesu“: „Nacht, mehr denn lichte Nacht! Nacht, lichter als der Tag, / Nacht, heller als die Sonn’, in der das Licht geboren, / Das Gott, der Licht, in Licht wohnhaftig, ihm erkoren!“
Und doch ist bislang zu wenig erforscht, wie das Weihnachtsfest im 16. und 17. Jahrhundert von den Lutheranern (sowohl im Gegenüber zur römisch-katholischen Frömmigkeit wie zur teils stark ablehnenden Haltung puritanischer und streng calvinistischer Kirchen) begangen und spirituell symbolisiert wurde.80 Es scheint so zu sein, dass die alte Thematik des (dreifachen) Adventes Christi (in der Inkarnation, in der Seele des Gläubigen und zum Gericht) noch bis ins 17. Jahrhundert den Oberton führte, wie er etwa beschrieben wird in Friedrich Balduins „Adventus Christi Typicus“, Wittenberg 1621, wobei wiederum die alttestamentliche Typologie eine wichtige Rolle spielte.
4.5
Himmlisches Jerusalem und Ewiges Leben81
Wer heute in der schlesischen Friedenskirche in Schweidnitz (S´widnica) 82 vor dem Altar himmelwärts nach der Kirchendecke schaut, der kann erahnen, welche Kraft des Trostes der Ausblick auf die letzten Dinge, hier das niederfahrende Himmlische Jerusalem (Off 21,9–27),83 entfalten konnte für die Menschen, die nicht nur den Dreißigjährigen Krieg überlebt hatten, sondern sich auch weiterhin in ihrem bürgerlichen Leben ihres Glaubens nicht freuen konnten. Gegen die eingängige moderne, liberale und marxistische Deutung bedeutete die überreiche Ausmalung des (individuellen oder kosmischen) Jenseits nicht an sich schon eine mentale Weltflucht oder trügerische Kompensation für ungerechte Ver80 Vgl. Perry, Christmas in Germany. 81 Vgl. Lorbeer, Sterbe- und Ewigkeitslieder. 82 Vgl. Langer, Kunst der schlesischen Territorien; Seidel-Grzesin´ska, Decke der Friedenskirche zu Schweidnitz. 83 Vgl. Bernet, „Gebaute Apokalypse“.
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hältnisse, sondern eine konkrete, weil sinnlich darstellbare Gegenwelt zu der konkreten, eigenen Welt voller Unglück, Leid und erfahrener Ausweglosigkeit. Die Bedeutung dieser sinnlichen, dabei keineswegs naiv geglaubten Gegenwelt liegt darin, dass mit ihr das Evangelium nicht auf eine (moralische) Lehre und sei es diejenige der Rechtfertigung allein im Glauben reduziert wird, sondern eben als geglaubtes und erwartetes Heil des ganzen Menschen, ja des ganzen Kosmos (vgl. Röm 8,31) symbolisiert wird. Literarisch hat dieses Motiv in herausragender Weise Johann Matthäus Meyfa(h)rt (1590–1642) in seiner eschatologischen Trilogie, nämlich den jeweils zweibändigen Schriften: „Das Himmlische Jerusalem“84 von 1627, „Das höllische Sodoma“85 von 1629 und „Das Jüngste Gericht“86 von 1632, bearbeitet.87 Alle Bände erfuhren mehrere Auflagen bis zur letzten Auflage 1710, als sich das pietistische und aufklärerische neue Zeitempfinden von dieser Form der Naherwartung und der Anschauung, in den letzten Tagen zu leben, abgewandt hatte. Was Meyfart so heraushebt, ist die Art, wie er im Rahmen der „Rechtgläubigkeit“ unter Aufnahme älterer Traditionen sprachlich eine Bilderwelt entstehen lässt, die sich durch Sprachfülle, Satzgefüge und Prosarhythmen88 auszeichnet. Seine Spiritualität lässt sich vielleicht – im Unterschied zum Späthumanismus und zum Pietismus – am besten mit Erich Trunz so ausdrücken: „Sein [Meyfarts] Inneres trieb ihn, ein Buch für Leser deutscher Sprache zu schreiben, voll religiöser Empfindung und möglichst voller Anschauung, soweit sich die Welt der Letzten Dinge anschaulich machen läßt. Er war mit dem Herzen dabei. Er wollte seine Begeisterung nicht als solche aussprechen – gelegentlich tut er es dennoch –, sondern die Dinge selbst schildern, Tod, Himmel, Hölle, Jüngstes Gericht“.89
Man könnte plakativ sagen: Die Fähigkeit, aus seiner individuellen Empfindung heraus zu schreiben, hebt ihn aus dem Späthumanismus heraus, zu dem er doch noch zu zählen ist, seine Konzentration auf die Dinge selbst statt auf die eigene Empfindung und Selbsterfahrung unterscheidet ihn vom Pietismus. Bereits eine Generation vorher und noch vor dem großen Krieg hatte Philipp Nicolai (1556–1606), ein Zeitgenosse Johann Arndts (1555–1614), anlässlich der Pest in Unna seinen „Freudenspiegel deß ewigen Lebens“ (Frankfurt a.M. 1599), veröffentlicht und darin auch die bis heute „gültigen“ Choräle (mit Melodie) abgedruckt: „Wie schön leuchtet der Morgenstern“ (EG 70) und „Wachet auf, ruft uns die Stimme“ (EG 147). Während die Lieder zu Recht die Zeiten überdauerten, 84 Coburg 1627 (1630, 1633, 1634, 1647, 1654, 1664, 1674, 1710), vgl. auch sein Lied: „Jerusalem du hochgebaute Stadt“. 85 Coburg 1630 (1640, 1650f, 1661, 1671, 1710). 86 Nürnberg 1632 (1637, 1652, 1662, 81672, 1710) 87 Vgl. Trunz, Meyfart; Dünnhaupt, Meyfart. 88 Vgl. Trunz, Meyfart, 155. 89 A. a. O., 158f.
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hat der „Freudenspiegel“ wegen seiner mangelnden Originalität oder Spiritualität keine langanhaltende Resonanz über die Zeit des Pietismus hinaus bekommen. Nicolai stellt weitgehend nur biblische Texte zusammen (Cento-Stil) und kommt bei der Formulierung eigener Texte über Luthers Sprach- und Gedankenwelt nicht hinaus. Ähnliches gilt noch für die mit Meyfart gleichzeitigen Versuche deutscher Erbauungsliteratur durch Valerius Herberger (1562–1627), Paul Egard (ca. 1580–1655), Johann Valentin Andreae (1586–1654), Andreas Kesler (1595–1643) oder Arnold Mengering (1596–1647). Anders als in den Liedern der (spät-) reformatorischen Zeit (z. B. „Ihr lieben Christen, freut euch nun“ [EG 6] von Erasmus Alber [ca. 1500–1553]), in denen vor allem die bedrohlichen apokalyptischen Gewalten in der Endzeit beschrieben werden, liegt der Fokus in der späteren Zeit auf der erwarteten Offenbarung der göttlichen Herrlichkeit, die dann auch individuell erreicht werden kann. Und anders als in der spätmittelalterlichen Kirche ist die Erwartung des Jüngsten Tages eine freudige Erwartung des Heilandes, nicht des Richters. Entsprechend verschiebt sich die Auferstehungshoffnung nach und nach von der alten apokalyptischen Vorstellung der Auferweckung der Leiber zu der der Wanderschaft oder Versetzung der Seele in das Himmlische Jerusalem (z. B. Meyfart: „Jerusalem, du hoch gebaute Stadt“ [EG 150]). Neben den zahlreichen schulmäßigen90 oder monografischen Darstellungen zur Eschatologie91 und zum Ewigen Leben gibt es auch eine ganze Reihe erbaulicher Werke wie – neben den bereits genannten – von Johann Matthäus Meyfart („DISPUTATIO De Vita Aeterna“, Coburg 1626), die Homilien („Vom EWigen Leben der Kinder Gottes“, Leipzig [1583] 1585 [1590, 1591, 15921596, 1597, 1599, 1603, 1604, 1607, 1608, 1612, 1738]) von Lucas Pollios (1536–1583), Daniel Cramers „Speculum futurae gloriae“ (Frankfurt a.M. 1604) und Andreas Frantz’ „Meditatio de vita aeterna“. Hier sei insbesondere auf Philipp Nicolais „Frewden Spiegel deß ewigen Lebens“ (Frankfurt a.M. 1599) näher eingegangen. Der Freudenspiegel umfasst zwei Teile: „Erstlich / was das ewige Leben / aller Außerwehlten Kinder Gottes / droben im himmlischen Paradeiß / für ein edel vnd frewdenreiches Leben sey: Darnach fürs andere / von wem diß heylsam Gut herkomme / vnd wie die heylige Dreyfaltigkeit / Gott der Vatter / Gott der Sohn / vnd Gott der heylige Geist / auß vnaußsprechlicher süsser Liebe vnd Leutseligkeit / vns elende Adams Kinder / zum ewigen Leben bereite vnd dazu kommen lasse“.92
Im ersten Teil beschreibt Nicolai nach der Beantwortung der grundsätzlichen Fragen, ob es überhaupt ein ewiges Leben gebe, der Art dieses ewigen Lebens und 90 Vgl. Johann Gerhard, Loci Communes, Locus XXXIII: De vita aeterna. 91 Vgl. Hjelde, Das Eschaton und die Eschata. 92 Nicolai, Frewden Spiegel, 8.
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möglicher Einwürfe gegen seine Erkennbarkeit sechs Eigenschaften oder Formen des ewigen Lebens,93 nämlich 1) Liebe und Gegenliebe zwischen Gott und den „Außerwehlten“, 2) die Herrlichkeit dieser Liebe, 3) Gottes liebliche Einwohnung in seinen Auserwählten, 4) dass Gottes alles in allen sei, 5) die Nächstenliebe, 6) die vollkommene Einigkeit durch das Band der Liebe, gewissermaßen eine mystische unio im ewigen Leben. Schon diese Charakterisierung zeigt, dass es Nicolai nicht einfach um die Aussicht auf eine irdisches Leid kompensierende Jenseitshoffnung geht, sondern um das ewige Leben als die letztendliche Herstellung der idealen Bindungen zwischen Gott, Mensch und Mitmensch. Der Sinn der Meditation dieser christlichen Hoffnung besteht darin, dass man sich nach diesem himmlischen Vaterland, dem himmlischen Jerusalem sehnt, statt über den Verlust des Lebens durch den irdischen Tod zu klagen.94 Hat Nicolai auf diese Weise die eschatologische Existenz des Christen als die zu erstrebende Form evangelischer Spiritualität beschrieben, wendet er sich im zweiten Teil der theologischen Grundlegung in der Gotteslehre zu. Nicolai beschließt konsequent sein Buch mit einem „Geistlich Braut=Lied der gläubigen Seelen / von Jesu Christo irem himmlischen Bräutgam“ („Wie schön leuchtet der Morgenstern“), dem Lied „von der Stimm zu Mitternacht / vnd von den klugen Jungfrauwen / die jhrem himmlischen Bräutigam begegnen“ („Wachet auf, ruft uns die Stimme“), einem „WeltAbdanck / für eine himmeldürstige Seele“ („So wündsch ich nun eine gute Nacht / Der Welt / vnd laß sie fahren“) sowie mit einem Lied seines Bruders Jeremias („Heer Christ thue mir verleihen / Zu singen deinem Geist“).95
4.6
Ars moriendi
Daneben haben die Lutheraner auch das alte Genre der Sterbekunst (ars moriendi) weitergeführt, etwa Simon Gedi(c)k(e)s (1551–1631) (und anderer) „Güldene Sterbekunst“ (Frankfurt a.O. 1601), Wilhelm Alardus’ (1572–1645) „Athanasia“ (Hamburg 1607, 1625), Barthold von Krakewitz’ (1582–1642) Sterbekunst („Des Alten Simeonis Friedfart“, Greifswald 1617), Martin Mollers (1547–1606) Manuale „DE PRAEPARATIONE AD MORTEM“ (Görlitz 1596) 96, Nathan Chytraeus’ (1543–1598) „Viaticum itinieris“ (Herborn 1601, 1602, 1608, 1610, 1613, 1623), Wilhelm Perkins’ (1558–1602) Lebens- und Sterbekunst („A salve for a sicke man“, Cambridge 1595, 1597, 1611, 1616, 1638 bzw. „Rechte Lebens= und 93 94 95 96
Vgl. a. a. O., 24–110. Vgl. a. a. O., 115–167. Vgl. a. a. O., 409–420. Weitere Auflagen: 1601, 1605, 1612, 1617, 1619, 1625, 1630, 1631, 1641, 1662, 1665, 1673, 1674, 1688, 1690, 1693, 1712, 1713, 1723, 1727, 1730, 1741, 1746,1753, 1756, 1763 u. ö.
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Sterbens=Kunst“, Helmstedt 1680), Otto Casmanns (1562–1607) „Thanatoboulia“ (Frankfurt a.M. 1606) und sein „DESIDERIVM ET VIVENDI ET MORIENDI SANCTVM“ ([Frankfurt a.M.] 1606), Johann Gerhards (1582–1637) lateinisch und deutsch erschienenes „Enchiridion“ („Enchiridion CONSOLATORIUM MORTI“ bzw. „Handbüchlein / Zu Trost gestellet denen / so mit dem Tode ringen“, Jena 1611) und Michael Walthers (1593–1662) Anthologie („HOROLOGIUM MORTIS Oder Todesseyger“, Wolfenbüttel 1622, Nürnberg 1646). Diese Sterbekunst bietet im Wesentlichen biblisch begründete Tröstungen gegen die Anfechtungen, die in einem vom Tode bedrohten Menschen aufsteigen können.
5.
Problematisierung der altlutherischen Spiritualität
Es ist bemerkenswert, dass in der zweiten Hälfte des 17. Jahrhunderts in der Erbauungsliteratur der lutherisch-orthodoxen Theologen (oder sogenannten Reformtheologen) die Tendenz aufkommt, dass sie sich nicht so sehr auf die biblisch geleitete Meditation des extra nos fokussiert als vielmehr auf die Möglichkeit, Bedingungen und Reflexionen des Aktes des Glaubens, also auf die subjektive Seite. Es geht mithin um die Frage, inwieweit der kirchlich verkündete Glaubensinhalt auch für den Einzelnen glaubwürdig angezeigt werden kann. Hier ist etwa an Christian Scrivers (1629–1693) Erbauungsschrifttum zu denken.97 Als bekanntes Beispiel sei hier das große Erbauungsbuch „Himmlischer Liebeskuß“ von Heinrich Müller (1631–1675) genannt. Müller beginnt seine Meditationen mit folgenden Überlegungen: „GOTT hat die Liebe gleichfals in die Natur gepflantzet / und mit sehr tieffen Wurtzeln eingesencket. Dann von Natur liebet der Mensch / und gleichwie es unmöglich ist / daß der Leib lebt ohne Seele / so ist es unmöglich / daß die Seele lebe ohne Liebe / daher spricht ein alter Lehrer recht: Die Seele ist mehr da sie liebet / als da sie wohnet. Nun erfordert aber die Ordnung der Natur / daß der Mensch Gott seinen Schöpffer mehr liebe als sich selbst / und alles andere / und solches thäten wir auch / wenn die Natur nicht aus ihrer anerschaffenen Ordnung gefallen wäre“.98
Als Ziel seines Werkes beschreibt er dann: „Nun aus der Liebe Gottes muß unsere Liebe angezündet werden / wanns nur der Mensch bedächte / dann | gleich wie aus vielen Kolen und Holtz ein groß Feuer wird / welches Flamme gar hoch in die Höhe fährt; so wird aus der Betrachtung der göttlichen Liebe in unsern Hertzen eine Gegen=Liebe angezündet. Darumb solten wir offt und fleissig bedencken die Wolthaten GOttes / so wol die allgemeine / welche Er dem gantzen 97 Vgl. Serkova, Spielräume der Subjektivität. 98 Müller, Himmlischer Liebes=Kuß, 1.
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menschlichen Geschlecht erwiesen / als auch die sonderbare / die unsere Person angehen: So wol die Liebe / die da leuchtet im Reich der Natur / als die im Reich der Gnaden leuchtet / und leuchten wird im Reich der Herrlichkeit. Und dazu wollen wir durch des Geistes Gnade kurtze Anleitung geben in folgenden Capiteln“.99
Entsprechend stellt Müller in den einzelnen Kapiteln dar, worin Gottes vielfältige Liebe zu erkennen ist und wie diese Erkenntnis zur „Gegen=Liebe“ „reitzen“ muss, und zwar als innerliche Haltung (z. B. Dankbarkeit) und äußeres Verhalten (frommes Leben). Immer wieder geht es Müller um die Frage, wie die Wohltaten Gottes sich individuell erfahren und zeigen lassen: „Es soll mit Christi Aufferstehung nicht bleiben bey den Worten / sondern es sol im Hertzen empfunden / und im gantzen Leben erwiesen werden. Dann was hilffts einem Todten / ob man ihm viel prediget vom Leben / so er nicht auch davon lebendig wird? Hat iemand die Aufferstehung CHristi mit dem Glauben gefasset / und derselben Krafft und Trost empfunden / so spüret man bald / wie es in ihm angefangen hat zu wircken / und nun nicht mehr | lauter Wort / sondern auch Warheit und Leben sey. Die es dergestalt nicht beweisen / denen ist Christus auch nicht aufferstanden / ob er gleich für seine Person aufferstanden ist“.100
Die Klage über das Erfahrungsdefizit, seitens der betroffenen Gläubigen oder seitens der Pfarrer, erklärt sich zunächst einmal aus dem zu Beginn des 17. Jahrhunderts aufkommenden Bedürfnis nach einer individuellen Erfahrbarkeit und Verortung geistlicher Inhalte. Wahrheit wird auf ihre Wirklichkeit hin überprüft und muss daher individuell sichergestellt werden, eben durch Erfahrung. Damit setzt sich auch in der lutherisch-orthodoxen Kultur ein Verständnis des wechselseitigen Zusammenhanges von Lehre und Leben und von religiöser Innerlichkeit durch, wie es unter anderem theologischen Vorzeichen von den Spiritualisten des 16. Jahrhunderts (Valentin Weigel [1533–1588]) und von Johann Arndt gefordert worden war. Hält man dieses Verständnis von Spiritualität oder Frömmigkeit für zeitlos maßgebend, kann man in der Tat mit wenigen Ausnahmen von einer Frömmigkeitskrise der altlutherischen Orthodoxie sprechen. Man legt ihr dann aber fremde Maßstäbe an und muss sich fragen lassen, ob denn die „altlutherisch-orthodoxen“ Gläubigen damals dieses Defizit auch so erlebt haben.
99 A. a. O., 9f. 100 A. a. O., 775f.
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Wolfgang Sommer
Die Spiritualität zwischen lutherischer Orthodoxie, Mystik und Pietismus am Beispiel von Johann Arndt (1555–1621)
Johann Arndts Leben fällt in die Zeit zwischen dem Augsburger Religionsfrieden und der Anfangszeit des Dreißigjährigen Krieges. Im Folgenden sei zunächst auf einige theologie- und frömmigkeitsgeschichtliche Grundzüge in dieser Zeit hingewiesen, um sodann anhand des Lebens, der Art und der Wirkung der Schriften Johann Arndts seine herausragende Stellung in der Geschichte der evangelischen Spiritualität aufzuzeigen. Der Augsburger Religionsfriede von 1555 leitete als eine „politisch-säkulare Friedensordnung“ (Martin Heckel) eine jahrzehntelange Friedenszeit im Deutschen Reich ein, aber die schweren Konflikte zwischen den Konfessionen bestanden fort.1 Die Lehrdifferenzen zwischen Katholizismus und Protestantismus sowie die innerprotestantischen Auseinandersetzungen hatten in einem Zeitalter intensiver Kirchlichkeit erhebliche Auswirkungen auf das kirchliche Leben und die territorialstaatliche Politik. Sie führten zu Konfessionalisierungsprozessen in Kirche, Staat und Gesellschaft sowohl im Bereich des römischen Katholizismus wie des lutherischen und reformierten Protestantismus.2 Der nachreformatorische Protestantismus ist in diesem Zeitalter des Konfessionalismus durch reichhaltige, vielgestaltige und intensive Ausprägungsformen von Theologie und Frömmigkeit gekennzeichnet. In theologie- und frömmigkeitsgeschichtlicher Hinsicht kann man mit Recht von einer zweiten klassischen Periode des Protestantismus nach der Reformation sprechen. Theologische Orthodoxie und Frömmigkeit sind im konfessionellen Zeitalter eng benachbarte Phänomene, wie im persönlichen Leben und Wirken vieler orthodoxer Theologen, allen voran bei dem Hauptvertreter der lutherischen Orthodoxie, dem Schüler und Freund Johann Arndts, Johann Gerhard (1582– 1637), besonders ersichtlich ist.3 Aber die gegenseitige Vermittlung der gelehrten 1 Vgl. Heckel, Deutschland im konfessionellen Zeitalter, passim. 2 Vgl. Reinhard/Schilling (Hg.), Die katholische Konfessionalisierung; Rublack, (Hg.), Die lutherische Konfessionalisierung; Schilling (Hg.), Die reformierte Konfessionalisierung. 3 Vgl. Gerhard, Meditationes Sacrae, Stuttgart-Bad Cannstatt 2000.
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Theologie und des gelebten Glaubens stellt ein Grundproblem des nachreformatorischen Protestantismus dar und hat zu vielfältigen Reformbemühungen innerhalb und am Rande der orthodoxen Theologie und Kirchlichkeit geführt. Schon zu Lebzeiten Luthers und in der zweiten Hälfte des 16. Jahrhunderts bestand in den Städten und Ländern, in denen die evangelische Predigt einzog, das Bedürfnis nach Vertiefung und Verinnerlichung des christlichen Glaubens. Die besonders von Melanchthon betonte Lehre von der zugerechneten Gerechtigkeit Gottes hat bei den Christen die Fragen nach der inneren Aneignung und der ethischen Verwirklichung der evangelischen Botschaft immer stärker als unbeantwortet bzw. in den kirchlichen sittlichen Anweisungen als unbefriedigt erscheinen lassen, was zu einer Empfänglichkeit für das Einströmen von kirchenkritischen Traditionen aus Mystik und Spiritualismus führte. Das intensive Bedürfnis nach geistlicher Andacht und das Verlangen nach Stärkung in Trost und Erbauung führte in der zweiten Hälfte des 16. Jahrhunderts zu einer reichhaltigen Literaturproduktion von Postillenbänden, Katechismen, Erbauungsbüchern, Gebetbüchern, Anleitungsschriften zur Bibellektüre, Meditationen und in das kirchliche Lied eingehender geistlicher Dichtung, die mit der Vielzahl ihrer Verfasser und der Auflagenhöhe ihrer Werke von dem Geist der Zeit beeindruckend Zeugnis ablegt. In den sechziger Jahren des 16. Jahrhunderts zieht in die evangelischen Gebet- und Erbauungsbücher Traditionsgut nicht nur aus der Alten Kirche und der spätmittelalterlichen Mystik ein, sondern auch aus der zeitgenössischen katholischen und besonders jesuitischen Gebetsliteratur. Das ist ein Vorgang, der immer wieder Erstaunen ausgelöst und zu vielfältigen Reflexionen über die „Renaissance der Mystik im Luthertum“ geführt hat.4 Auch die unerbittliche konfessionelle Selbstbehauptung im Zeitalter der Orthodoxie und die enge Bindung der evangelischen Landeskirchen an den jeweiligen Territorialstaat nach dem Augsburger Religionsfrieden standen einerseits dem Bedürfnis nach einer wirklich gelebten Frömmigkeit oft im Weg, wie sich andererseits das Handeln der Kirche aus Sicht der Bürger kaum von dem des Fürstenstaates unterschied, mit der Folge, dass sich Gleichgültigkeit und Selbstgenügsamkeit ausbreiteten und die Kritik an der Kirche als verlängerter Arm der verschiedenen fürstlichen Polizeiordnungen wuchs. Besonders die Konflikte um das Berufungsrecht der Pfarrer und die Freiheit der kirchlichen Verkündigung führten zu einer Obrigkeitskritik in Form der Klagen wegen eines drohenden Caesaropapismus, einer Vorherrschaft der weltlichen Gewalt über die Kirche, die über das ganze 17. Jahrhundert bis zum Pietismus Speners anhielten. Ein besonders wirkungskräftiger Neugestalter der lutherischen Frömmigkeit um 1600 ist Johann Arndt (1555–1621).
4 Vgl. Althaus, Gebetsliteratur, 61f; Zeller, Luthertum und Mystik.
Spiritualität zwischen lutherischer Orthodoxie, Mystik und Pietismus bei Johann Arndt 215
In den letzten Jahrzehnten ist eine sehr lebendige, kontroverse und interdisziplinär ausgerichtete Arndt-Forschung entstanden, die zwar noch viele offene Fragen bereithält und für die das Urteil von Johannes Wallmann aus dem Jahr 1980 auch gegenwärtig noch gilt: „Nun stehen wir in der Arndtforschung noch immer in den Anfängen.“5 Aber an der Wahrnehmung und Deutung seiner Schriften und ihrer immensen Wirkungsgeschichte, die in zahlreichen Arbeiten untersucht wurden, sowie dem Versuch einer historisch plausiblen Verständigung über seine Intentionen entscheiden sich in der gegenwärtigen Forschungslage die Akzentsetzungen in der Erforschung des gesamten frühneuzeitlichen Luthertums.6 Auch über die Kirchen-, Theologie- und Frömmigkeitsgeschichte hinaus kommt der Stellung Johann Arndts in der gesamten Kulturgeschichte der Frühen Neuzeit heute erhebliche Bedeutung zu.7 Die besondere Struktur seiner verschiedenen Schriften, mit denen er in seiner Zeit und durch das ganze 17. Jahrhundert hindurch in der Geschichte des Pietismus8 und im 18. und 19. Jahrhundert gewirkt hat, kann nur im Zusammenhang ihrer historischen Entstehungssituation im Leben Johann Arndts dargestellt werden.
1.
Das Leben Johann Arndts, seine Schriften und die Aufnahme mystischer Traditionen
Neun Jahre nach Luthers Tod wurde Johann Arndt am 27. Dezember 1555 wahrscheinlich in Ballenstedt im Fürstentum Anhalt als Sohn des lutherischen Pfarrers Jakob Arndt und seiner Ehefrau Anna, geb. Söchtings, geboren.9 Schon mit 10 Jahren verlor er seinen Vater, doch mit Hilfe von Verwandten konnte die Mutter den begabten Sohn auf die Lateinschulen von Aschersleben, Halberstadt und Magdeburg schicken. Das anschließende Universitätsstudium begann er an 5 Wallmann, Herzog August zu Braunschweig-Lüneburg, 29. 6 Vgl. ders., Der Pietismus; ders., Johann Arndt; Brecht, Frömmigkeitsbewegung; Sommer, Gottesfurcht und Fürstenherrschaft; ders., Luthertum; ders., Frömmigkeit und Weltoffenheit; Schneider, Der fremde Arndt; Geyer, Verborgene Weisheit. 7 Es sei nur auf den Tagungsband verwiesen: Breuer (Hg.), Religion und Religiosität im Zeitalter des Barock. 8 In seiner Spener-Monographie sagt Wallmann über Arndt, dass „sein Einfluss auf Frömmigkeit und Gedankenbildung des protestantischen Deutschlands […] größer gewesen sein dürfte als der Einfluss irgendeines Theologen seit Martin Luther“, ders., Spener, 13. 9 Über Kindheit und Jugend Arndts ist nur sehr wenig bekannt. Sogar über seinen Geburtsort ist die Forschung nicht einig. Johannes Wallmann nimmt Edderitz bei Köthen an, während Hans Schneider Ballenstedt angibt, beide im Fürstentum Anhalt, vgl. Wallmann, Johann Arndt, 69; Schneider, Arndt, 14. Nach der ältesten Quelle der Zeit, der Leichenpredigt auf Arndt, ist Ballenstedt anzunehmen, vgl. Sommer, Gottesfurcht und Fürstenherrschaft, 167, Anm. 144.
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der damals im Aufbau befindlichen Universität Helmstedt 1575, danach studierte er in Wittenberg, Straßburg und Basel. Seine Neigung galt den Naturwissenschaften seiner Zeit und der Medizin. Doch durch die Errettung aus einer schweren Krankheit gelobte er, sich der Theologie zuzuwenden, um Geistlicher zu werden. Sein Schüler und Freund Johann Gerhard berichtet, dass Arndt sich während seiner Studienzeit vor allem mit Medizin beschäftigt habe. Das wird auch durch einen Brief Arndts aus Basel bestätigt, in dem er mit „stud. med.“ unterschrieb. Was Arndt auf seinen Universitäten genau studiert hat, bleibt aber weitgehend im Dunkeln. Sicher jedoch ist, dass er in Basel durch den Mediziner Theodor Zwinger in den Bannkreis des Naturphilosophen und Mediziners Paracelsus (um 1493–1541) kam, dessen Schriften er lebenslang hoch schätzte.10 Arndt hatte zeitlebens naturphilosophische, medizinische und alchemistische Interessen und unterhielt an seinen verschiedenen Wirkungsstätten neben seiner Studierstube stets ein chemisches Laboratorium. Das klingt heute sehr ungewöhnlich, gehörte aber in der damaligen Zeit zu dem vielfältig zu beobachtenden Streben, geistige Grundkräfte auch in der sog. materiellen Welt in einem Geist und Materie zusammendenkenden Weltbild näher zu erforschen. Aus der Studienzeit Arndts ist aber auch ein Ereignis nicht unwichtig, das in älteren Quellen auftaucht, und das für sein weiteres Leben bedeutungsvoll werden sollte. In Basel sei er bei einem Spaziergang an den Ufern des Rheins in den Fluss gefallen, und nur durch die beherzte Hilfe eines polnischen Mitstudenten sei er vor dem Ertrinken gerettet worden. Diese zweimalige Errettung aus Todesnot wird in Arndt die Dankbarkeit für Gottes Eingreifen in sein Leben und die Verpflichtung wachgerufen haben, auch anderen Menschen leibliche und seelische Hilfe zukommen zu lassen. Das bleibt freilich nur eine anzunehmende Vermutung, von eigenen religiösen Erfahrungen gibt Arndt nur sehr wenig zu erkennen. Neben der Begegnung mit der paracelsischen Naturphilosophie in Basel, die in den Schriften Arndts nachwirkte, hat er während seines Studiums in Straßburg einen heftigen Streit zwischen den Theologen Johann Sturm (1507–1589) und Johann Pappus (1549–1610) miterlebt, der seine tiefe Abneigung gegenüber der Streitsucht der akademischen Theologen seiner Zeit mit beeinflusst haben wird.11 Nach seinen Studien kehrte Arndt 1581 in das Fürstentum Anhalt zurück, wurde zunächst Schullehrer in Ballenstedt und nach seiner Ordination 1583 in Bernburg im Jahr 1584 Pfarrer der anhaltinischen Landeskirche in dem benachbarten Ort Badeborn. Mit Anna Wagner, der Tochter eines Amtmannes und Richters, schloss er die Ehe, die kinderlos blieb. 10 In der Forschung hat vor allem Hans Schneider die Studienzeit Arndts untersucht, vgl. ders., Arndts Studienzeit. 11 Vgl. Wallmann, Johann Arndt, 70.
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Während seiner Zeit als Pfarrer in Badeborn erlebte Arndt die sich verschärfenden Gegensätze zwischen dem Luthertum der Konkordienformel und dem von Westeuropa aus expandierenden Calvinismus. Der regierende Fürst Johann Georg von Anhalt (1586–1618) neigte dem Calvinismus zu und verlangte von seinen Pfarrern die Abschaffung des sog. Taufexorzismus, eines Rituals in der Taufliturgie, das dem Täufling die Befreiung aus der Macht des Bösen in die Obhut Christi zusprach. Luther hatte diesen Ritus in seinem Taufbüchlein von 1523 beibehalten, der aber jetzt als „papistischer Rest“ in den zum Calvinismus tendierenden Gebieten abgeschafft werden sollte. Der Protest der Pfarrer gegen den Eingriff des Fürsten in die Angelegenheiten der Kirche ging schließlich in ein allgemeines Nachgeben über, nur bei Arndt nicht, dessen Opposition gegen die fürstlichen Maßnahmen zunächst mit Kanzelverbot und schließlich mit der Entlassung aus dem Dienst und der Ausweisung aus seiner Heimat endete. Dieses Geschick, das Arndt in dieser Zeit mit vielen seiner Pfarrkollegen in anderen Gebieten teilte, lässt auf eine Haltung schließen, die für seine Überzeugung auch schwerwiegende persönliche Opfer auf sich nimmt. In dem nahe gelegenen Reichsstift Quedlinburg, doch jenseits der Grenze des Fürstentums Anhalt, fand er 1590 an der Nikolaikirche eine neue Anstellung als Pfarrer, wo er bis 1599 wirkte. In dieser Zeit begann, verhältnismäßig spät, seine schriftstellerische Arbeit, soweit sie uns erhalten geblieben ist.12 Aber vor allem durch seine Predigten wirkte Arndt in Quedlinburg, die mit Ernst und Strenge auf die Heiligung des Lebens abhoben und auf das Vermeiden der verbreiteten Unsitten seiner Gemeindeglieder drängten. Schon hier wie später in Braunschweig zeigen seine Predigten den von einem apokalyptischen Endzeitbewusstsein geprägten Bußernst, der auf viele seiner Hörer in ihrem leichtfertig gesinnten Leben auf Ablehnung stieß. Doch Arndt bewährte sich auch in seiner Gemeinde als tatkräftiger Helfer in der Not einer Pestepidemie, die in Quedlinburg grassierte. Er scheute nicht die Ansteckungsgefahr in seinen Krankenbesuchen und versuchte, die Kranken und Sterbenden mit Gebeten und Trostsprüchen und die Hinterbliebenen mit Leichenpredigten zu trösten. Seine erste veröffentliche Schrift „Ikonographia. Gründlicher und Christlicher Bericht von den Bildern“ (Halberstadt 1596) war sein zweiter Protest gegen den sich ausbreitenden Calvinismus. Im Gegensatz zu Luther und die ihm folgenden Theologen, die die Bilder in den Kirchen aus vorreformatorischer Zeit duldeten, so lange sie nicht Gegenstand religiöser Verehrung waren, lehnte der reformierte Protestantismus in der Nachfolge von Zwingli und Calvin die Bilder in den Kirchen radikal ab, da er dem alttestamentlichen Bilderverbot (Ex 20,4–6) in 12 Über die sog. Frühschriften Arndts als Publikationsprojekte, die nicht gedruckt wurden, vgl. Schneider, Frühschriften.
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gesetzlicher Weise folgte. Das Luthertum hat den Bildern dagegen eine pädagogische Hilfe zum Glauben zugesprochen, während der Calvinismus in ihnen nur Götzendienst sah. So war die Bilderfrage zu einem unterscheidenden konfessionellen Gegensatz geworden, und Arndt kämpfte mit deutlichen Worten gegen das Zerbrechen der Bilder: „Es ist zumal ein verdrießlicher und unnützer Handel, daß man wider äußerliche Dinge so hart disputiert, als wenn der ganzen Christenheit daran alles gelegen wäre […]. Was hilft es dir, daß du ein Bild zerbrichst und behältst die Welt- und Geldgötzen in deinem Herzen?“13 Man wird in dieser scharfen Ablehnung der Zerstörung der Bilder nicht nur eine, der Zeit entsprechende konfessionelle Polemik gegen den Calvinismus zu verstehen haben, sondern auch eine religiöse Haltung, die der Symbolsprache der Bilder eine eigene Bedeutung zuspricht. Denn die Offenbarung Gottes zeigt ihre Geheimnisse im Alten und Neuen Testament und in der Natur oft in Zeichen und Bildern, aus denen der Mensch lernen kann, wohin ihn Gott führen will.14 Die in der „Ikonographia“ mehrfach betonte Abwendung des Menschen von allem nur Theoretisch-Äußerlichen zum Inneren der Gesinnung kommt gerade auch mit der von Arndt bevorzugten religiösen Bildsprache zum Ausdruck, womit das gehörte Wort der Bibel durch die Formen- und Symbolsprache der Bilder in das Innere des Menschen eindringen kann, wo sie allein Frucht zu bringen vermag. Die Kommentierung der Zeitereignisse inmitten einer starken apokalyptischen Endzeiterwartung findet in den Predigten „Von den zehn ägyptischen Plagen“ ihren drastischen, oft auch sozialkritischen Ausdruck. Arndt geißelt den Luxus und den Geiz der Reichen sowie die Aussaugung der Armen und die Verachtung der Bauern als Leibeigene. Die Predigten brachten ihm viel Missgunst ein und wurden zunächst nur handschriftlich verbreitet, erst nach Arndts Tod wurden sie in der Mitte des 17. Jahrhunderts gedruckt.15 Das Vorrücken der Türken auf dem Balkan verstärkte die Vorstellung vom nahen Weltende, und in diesen und anderen düsteren Ereignissen der Zeit sah Arndt eine symbolische Wiederholung der im Alten Testament geschilderten ägyptischen Plagen, die sich vor der Endzeit ankündigen. Mit dem Beginn der schriftstellerischen Tätigkeit Arndts in Quedlinburg ist eine wichtige, in der Forschung viel verhandelte Frage verbunden: die Beziehung Arndts zur vorreformatorischen Mystik.16 Kurze Zeit nach der Veröffentlichung 13 Zit. nach Koepp, Johann Arndt, 42. 14 Hans Schneider hat die „Ikonographia“ Arndts quellenkritisch untersucht und in ihr neben Anleihen (ohne Namensnennung) von dem lutherisch-orthodoxen Theologen Martin Chemnitz auch Beeinflussung durch Paracelsus nachgewiesen. Vgl. ders., Arndts „Ikonographia“, 43–60. 15 Frankfurt a. M. 1657. 16 Vgl. Dazu vor allem: Schneider, Arndt und die Mystik; Wallmann, Arndt und die protestantische Frömmigkeit; Braw, Bücher im Staube; Geyer, Verborgene Weisheit.
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seiner „Ikonographia“ stieß Arndt auf ein, wie er meinte, lange Zeit vergessenes Büchlein, das „im Staube lag“ und das er nun neu herausgab: die „Theologia Deutsch.“17 Auf welche Weise er diese für ihn faszinierende Entdeckung gemacht hat, wissen wir leider nicht. Es ist der Anfang einer Reihe weiterer mystischer Schriften, die Arndt herausgab, so die „Nachfolge Christi“ des Thomas von Kempen und zwei kleinere Traktate von Johann von Staupitz.18 Am Ende seines Lebens gab er auch noch eine Tauler-Postille heraus (1621). Arndts Ausgaben der deutschen Mystik wurden unter anderem von Philipp Jakob Spener (1635–1705) und bis ins 19. Jahrhundert hinein immer wieder nachgedruckt und sind in andere europäische Sprachen übersetzt worden. Sie haben erheblich zur Hochschätzung der Mystik im Pietismus beigetragen. Diese Herausgebertätigkeit Arndts lässt darauf schließen, dass er in den mystischen Schriften einen kostbaren Schatz gefunden hat, den er seinen Lesern auf keinen Fall vorenthalten wollte. Schon in der Vorrede zu seiner Ausgabe der „Theologia Deutsch“ begegnen zwei mystische Kardinalstellen, die in seinen weiteren Schriften, vor allem in seinen „Vier Büchern vom wahren Christentum“, immer wieder eine wichtige Rolle spielen: „Luc. 17. Das Reich Gottes kömt nicht mit eusserlichen Geberden / denn sehet / das Reich ist inwendig in euch. 1. Corin. 4. Das Reich Gottes stehet nicht in worten / sondern in der Krafft“.19 In der „Theologia Deutsch“ gehe es vor allem um die Vereinigung des Menschen mit Gott, sagt Arndt, und das sei gleichbedeutend mit der neuen Geburt und dem Reich Gottes in uns. Darin aber sah er sein Hauptanliegen, das er mit Hilfe der mystischen Schriften zum Ausdruck bringen wollte. Das uneingeschränkte Lob auf die mystischen Autoren geht einher mit einer scharfen Kritik an der Streitlust der zeitgenössischen Theologie und ihrer Bücherproduktion. In einem Brief an Johann Gerhard von 1603 gibt Arndt seinem Freund, der gerade sein Theologiestudium begann, Empfehlungen für Buchautoren, die nicht aus dem Fleisch, sondern aus dem Geist schreiben. Er weist auf mystische Autoren hin wie Bernhard von Clairvaux, Thomas von Kempen, den Mönchsvater Makarios und Luis de Granada. Die meisten anderen schrieben nur aus Hochmut, Habsucht und Ehrgeiz.20 Der weitere Briefkontakt mit Johann Gerhard führt schon in die Entstehungszeit und Herausgabe des ersten Buches vom wahren Christentum 1605 und damit in die Braunschweiger Zeit Johann Arndts, in der sein Hauptwerk „Vier Bücher vom wahren Christentum“ entstand, in dem er viele spätmittelalterliche und aus dem 16. Jahrhundert stammende
17 Arndt (Hg.), Die teutsche Theologia. Sie wurde von Luther 1516 und 1518 herausgegeben und ist in vielen Drucken des 16. Jh. nachgewiesen. 18 Sie wurden erstmals in Magdeburg 1605 gedruckt. 19 Vorrede in: Arndt (Hg.), Die teutsche Theologia, 11. 20 Vgl. Schneider, Arndt und die Mystik, 222f.
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mystische Quellen, u. a. Thomas von Kempen, Paracelsus, Valentin Weigel, Angela da Foligno und Johann Tauler aufnahm und verarbeitete. Was hat Arndt an den mystischen Autoren so stark angezogen? Es war die innere Übereinstimmung seines Programms der Abkehr von der Weltliebe zu einer wahren Christusliebe, die nicht im Schreiben und Disputieren der reinen Lehre, sondern in Buße, Herzenseinkehr, in Glaube und Liebe aus dem Heiligen Geist besteht. Die Verinnerlichung und Verlebendigung des christlichen Glaubens war sein Hauptanliegen, und darin wurde er von den mystischen Autoren in besonderer Weise bestätigt. Ob Arndt auch selbst mystische Erfahrungen erlebt hat, wird in der Forschung meist negativ beantwortet, wenn auch positive Stimmen nicht fehlen. So hat Johannes Wallmann die Anleihen Arndts aus der komplexen mystischen Tradition folgendermaßen beschrieben: „Hier redet kein Mystiker aus eigenem Erleben, sondern hier gräbt nach langen Jahren ermüdender und zur Resignation treibender seelsorgerlicher Wirksamkeit ein lutherischer Pfarrer in der literarischen Tradition nach Quellwasser, um einem von der Lebendigkeit der reformatorischen Anfänge in der dritten und vierten Generation weit entfernten Kirchenchristentum neue Lebenskräfte zuzuführen.“21 Ähnlich urteilt Martin Brecht: „Das Ziel der Meditation des mystischen Textes ist für Arndt nicht so sehr die innere Erhebung, sondern die ethische Konsequenz, aus der dann die Vereinigung mit Gott folgt. Insofern war ihm die Mystik nicht Selbstzweck, sondern Mittel zur Intensivierung der Christusbeziehung.“22 Einen etwas anderen Standpunkt vertritt Hans Schneider, der auf einen Brief Arndts an Johann Gerhard aus dem Jahr 1608 hinweist, in dem Arndt einige wenige autobiographische Angaben macht, besonders bezüglich des dritten Buches vom wahren Christentum, das vom inneren Menschen handelt, und in dem Ansätze einer eigenen mystischen Erfahrung Arndts angeblich sichtbar werden.23 Um zu einer weiteren inhaltlichen Klärung des Phänomens Arndt und die Mystik zu gelangen, wird man nicht nur auf dem begonnenen Weg der Nachforschung nach der Art der von Arndt rezipierten Quellen fortschreiten, sondern in verstärktem Maße auch auf die theologische Bearbeitung achten müssen, die Arndt an seinen Quellen vornahm. Den historischen Entstehungshintergrund für das, was man die Arndtsche Mystik nennt, hat m. E. Wallmann zutreffend umschrieben. Kein Zweifel besteht in der gegenwärtigen Arndtforschung auch darüber, dass Arndt ein betontes und ernstzunehmendes Bemühen zeigt, seine 21 Wallmann, Arndt und die protestantische Frömmigkeit, 9. 22 Brecht, Frömmigkeitsbewegung, 132f. 23 Vgl. Schneider, Arndt und die Mystik, 240f. Hermann Geyer geht in seiner Arbeit über Arndts Programm einer spiritualistisch-hermetischen Theologie wie selbstverständlich von eigenen mystischen Erfahrungen Arndts aus, vgl. ders., Verborgene Weisheit.
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mystischen Vorlagen lutherisch-orthodox zu filtern und zu modifizieren, wie es sich besonders im Verhältnis Arndts zur Mystik Johann Taulers zeigt, das inmitten gleichgerichteter Interessen und Affinitäten auch erhebliche theologische Spannungen aufweist.24 Die fast zehnjährige Wirksamkeit Arndts in Quedlinburg endete mit seiner Berufung an die Martini-Kirche in Braunschweig. Seine Predigten in Quedlinburg hatten ihm neben viel Zuspruch auch mancherlei Missgunst eingebracht, so dass er diesem Ruf gern folgte. Die Berufung an die zentrale Pfarrkirche der bedeutenden Handelsstadt Braunschweig war für Arndt ehrenvoll, aber während seiner Braunschweiger Zeit hatte er besonders schwer unter den Anfeindungen in der Stadt zu leiden. Sein dortiges Wirken fiel in eine Zeit schwerster politischer und sozialer Konflikte. Der hauptsächliche Streit um seine Person entwickelte sich jedoch nicht aus diesen politischen und sozialen Kämpfen, sondern aus seiner Predigttätigkeit, die freilich auf dem Hintergrund der Turbulenzen in der Stadt die sittliche Verwahrlosung der Bürger hart geißelte. Vor allem aber rief Arndt in seinen Predigten zu einem wahren, christlichen Glauben auf und kritisierte nicht nur die falsche Sicherheit und Bequemlichkeit vieler Christen scharf, sondern auch diejenige vieler Pfarrer.
2.
Die „Vier Bücher vom wahren Christentum“ und ihre Wirkung im Pietismus
Im Frühjahr 1605 erschien das erste Buch vom wahren Christentum in Frankfurt a.M., das aus seinen Predigten erwachsen ist.25 Es erregte sofort erhebliches Aufsehen. Schon der Titel zeigt das Programm Arndts an, das er in weiteren Folgen zu verwirklichen hoffte: „Von wahrem Christenthumb / heilsamer Busse / wahrem Glauben / heyligem Leben und Wandel der rechten wahren Christen.“26 In der Vorrede heißt es: „Zu diesem Büchlein hat mir Ursach geben der grosse und schändtliche Missbrauch deß lieben heyligen Euangelii / die grosse Unbußfertigkeit / unnd Sicherheit der Leuthe / die sich Christi und seines heyligen Euangelii mit vollem Munde rühmen / unnd doch mit jhren Wercken wider das Euangelium thun und handeln / gleich als hetten sie dem Euangelio abgesagt.“27
Es geht also um das brennende Problem der Bewahrheitung des christlichen Glaubens. Die Theologen werden direkt angesprochen: 24 Vgl. dazu Sommer, Johann Arndt und Joachim Lütkemann, 275ff. 25 Seit 2005 gibt es eine kritische Edition des ersten Buches des wahren Christentums: Arndt, Vom wahren Christenthumb. 26 A.a.O, 3. 27 A. a. O.
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„Bitte demnach männiglich umb Christi willen / sonderlich die studierende Jugend / mit welcher Kirchen / Schulen unnd Rahthäuser bestellet werden müssen / sie wöllen doch jhr Christenthum besser studieren / unnd es nit allein bey der Wissenschafft der heyligen Schrifft bleiben lassen / sondern auch die Practicam unnd lebendige Ubung deß heyligen götlichen Worts studiren unnd lernen. Jederman studiret jetzo / wie er hoch unnd berühmpt in der Welt werden müge […] aber von unserm einigen Doctore Jesu Christo will Niemandt lernen […]. Bedencket doch was einen wahren Christen machet / nemlich / thun wz Christus lehret / unnd nit allein darvon reden und schwätzen / die Worte beweisen keinen Christen / sondern das Leben“.28
In immer neuen Wendungen wird der Vorrang des christlichen Lebens vor dem bloßen theoretischen Wissen hervorgehoben. Die Klagen über die Bosheit der Welt nehmen ständig zu, aber die Ursache der bösen Zeit will niemand verstehen. Sie liegt in der Sünde der Menschen, die zum Himmel schreit, sie kann nur durch wahre Buße abgewendet werden. Die sich aber von der Finsternis und dem Gott dieser Welt zu dem wahrhaftigen Licht Christus bekehren, die sind unter dem Schirm des Höchsten geborgen vor dem kommenden Gericht. Deswegen solle jeder acht geben, wie er lebe, wozu ihm dies Büchlein Anleitung geben wird. Arndt setzt hinzu: „so wirstu gewiß ein ander Mensch werden.“29 Es ist verständlich, dass schon dieses erste Buch vom wahren Christentum Anstoß erregte. Arndt ließ die erste und zweite revidierte Neuauflage in Braunschweig und schließlich die dritte Auflage in Jena drucken.30 Die zu anstößig empfundenen Partien hatte er getilgt, aber die Kritik und die Anfeindungen gegen Arndt nahmen dennoch weiter zu, so dass er seinem Freund Johann Gerhard klagte, dass er aus diesem „Zuchthaus“ zu entkommen wünsche. Sein direkter Kollege an der Martini-Kirche beschimpfte von der Kanzel dieses Werk und seinen Verfasser und bezichtigte Arndt der Schwärmerei, weil er verschiedene Wendungen aus den mystischen Schriften gebraucht hatte, um sein Programm des wahren Christentums zu erläutern. Arndt ließ sich nicht beirren, das gesamte Werk stand ihm schon anfangs vor Augen, so dass zwischen 1606 und 1608 das zweite bis vierte Buch entstand und die „Vier Bücher vom wahren Christentum“ 1610 erstmals in Magdeburg erschienen sind. Dieses epochemachende Werk gilt als ein sog. Erbauungsbuch, d. h. die Leser sollten in den einzelnen Kapiteln jeweils eine Grundaussage des wahren Christentums mit der dazu passenden Bibelstelle in sich aufnehmen und meditieren, 28 A. a. O., 6ff. In späteren Ausgaben heißt es in der Vorrede zum ersten Buch: „Viel meinen, die Theologia sey nur eine bloße Wissenschaft und Wort-Kunst, da sie doch eine lebendige Erfahrung und Übung ist. Jedermann studiret jetzo, wie er hoch und berühmt in der Welt werden möge, aber fromm seyn, will niemand lernen […]. Jedermann wollte gern Christi Diener seyn; aber Christi Nachfolger will niemand seyn“, Arndt, Vier Bücher, 6. 29 Arndt, Vom wahren Christenthumb, 15. Vgl. Illg, Ein anderer Mensch werden. 30 Im Frühsommer und Herbst 1606 und 1607. Zu den Vorreden zum ersten Buch vgl. Mager, Arndts Vorreden.
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wobei Wiederholungen und Querverbindungen der Intensivierung des Gelesenen dienen. Nach einer alten Tradition hat Arndt den vier Büchern einen lateinischen Titel entsprechend dem folgenden Inhalt beigegeben. So heißt das erste Buch „Liber Scripturae. Wie in einem wahren Christen Adam täglich sterben, Christus aber in ihm leben soll; und wie er nach dem Bilde Gottes täglich erneuert werden und in der neuen Geburt leben müsse“.31 Die inhaltliche Nähe zur „Theologia Deutsch“, die Arndt während der Entstehungszeit des ersten Buches zum zweiten Mal herausgab, ist offensichtlich. Vom Bild Gottes im Menschen, seinem Ebenbild, geht auch Arndt aus, in dem wie in einem Spiegel das klare Bild Gottes in der reinen Seele des Menschen leuchtet. Aber durch den Fall Adams ist der Mensch dem Satan gleich geworden in seinem Herzen. Durch Christus aber wird er in einer neuen Geburt zum ewigen Leben erweckt. Diese Erneuerung geschieht allein durch wahre Buße, die durch Gottes Wort bewirkt wird. Das aber heißt Verleugnung der Welt, was nicht eine nur äußerliche Abkehr, sondern eine innere Bereitschaft meint, in der Welt der Stimme Christi zu folgen und nicht den Versuchungen nach Ehre, Ruhm und Macht zu erliegen. In immer neuen Wendungen umschreibt Arndt die Notwendigkeit des Bleibens in der durch Christus bewirkten Erneuerung des Menschen, womit Buße und der Glaube, der in der Liebe tätig ist, hervorgehoben werden, was in den Pietismus nachhaltig einwirkt. Am Schluss des ersten Buches wird die Front gegen eine nur theoretische Theologie noch einmal betont: „Daß die lauterkeit der Lehre / und deß Göttlichen Worts nicht allein mit disputiren und vielen Büchern erhalten werden / sondern auch mit wahrer Busse und Heiligem Leben.“32 Das zweite Buch, der „Liber Vitae Christi“, beginnt mit dem seit der Alten Kirche und in der christlichen Kunst vielfach verwendeten Bild Christi als dem Arzt und Heilbrunnen unserer tödlichen Erbsünde, und zeigt sodann die Früchte des seligmachenden Glaubens in der Nachfolge Christi an: Liebe, Demut, Sanftmut, Geduld und Hoffnung. Nicht Wissenschaft und nur Hören des göttlichen Wortes machen einen wahren Christen, sondern Gottes Wort muss ins Leben verwandelt und lebendig werden als Gottes Same. Das Bleiben bei Christus geschieht vor allem im Gebet. Arndt nimmt in seiner Gebetsfrömmigkeit Anleihen aus Valentin Weigels Gebetbüchlein auf, die er seinen Lesern wörtlich mitteilt. Die Schriften Weigels waren bis 1609 noch nicht gedruckt, der Text Weigels muss ihm handschriftlich zugekommen sein. Der starke Zug zur Verinnerlichung von Buße und Rechtfertigung bei Weigel durch die Mystik Taulers und der „Theologia Deutsch“ kam dem Bemühen Arndts entgegen, „wie ein 31 So schon in der Erstveröffentlichung von Magdeburg 1610. Zu der metaphorischen Programmatik der „Vier Bücher vom wahren Christentum“, deren theologischer Interpretation „als Programm einer spiritualistisch-hermetischen Buchmetaphorik“ ich jedoch nicht folge, vgl. Geyer, Verborgene Weisheit, Teil II: libri dei. 32 Arndt, Vom wahren Christenthumb, 445ff.
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Mensch durchs Gebet die Weisheit Gottes suchen soll“33. Anleitungen zu dem Gespräch der Seele mit Gott auf der Grundlage der Psalmen, biblische Hinweise für Geduld und Trost und wie man sich in geistlichen Anfechtungen schicken soll mit ausgeführten Gebetformulierungen, beenden das zweite Buch. Der Zug zur Verinnerlichung des christlichen Glaubens kommt besonders im dritten Buch zum Ausdruck, dem „Liber Conscientiae“. Arndt vergleicht das geistliche Leben eines Christen mit den natürlichen Lebensstufen: den Anfang macht die Buße, dadurch der Mensch sich täglich bessert. Im mittleren Alter werden die Gaben Gottes durch Gebet, in Kreuz und Anfechtung vermehrt. Im Alter kommt es zur Vereinigung der Seele mit Gott. Alle drei Bücher sind somit im Zusammenhang zu verstehen, entsprechend dem Dreischritt der Stufenmystik: Reinigung, Erleuchtung, Vereinigung der Seele mit Gott (via purgativa, via illuminativa, unio mystica). Das Reich Gottes ist der höchste, innere Schatz in der Seele des Menschen, in den es einzukehren gilt. Arndt umschreibt die Beziehung Gottes zu der gläubigen Seele in geradezu hymnischer Weise: ihre Schönheit erstrahlt durch die Einwohnung Gottes in ihr. Es ist der innere Herzenssabbat der Seele, das geistliche Gespräch und die Salbung des Geistes, das Schmecken der Süßigkeit der Gnade, die freilich das notwendige Absterben alles Eigenen in der Seele als Voraussetzung für das rechte Wirken Gottes in ihr haben. Das natürliche Licht in uns muss untergehen und das Gnadenlicht aufgehen. Wenn die Liebe zu den Kreaturen und zu allem Äußerlichen in der Welt zurückgeht, kann sich der Mensch in die Liebe zu Gott einüben. In bild- und variationsreichen Worten bringt Arndt das Loblied auf die gläubige Seele zum Ausdruck, wobei er wiederum verschiedene Anleihen aus altkirchlichen und spätmittelalterlichen Autoren macht, vor allem aus der Mystik Johann Taulers. Aber Arndt wahrt die Grenze zwischen Gott und der Seele, bei der Vereinigung bleibt Gott der Wirkende, die verschiedenen Ausdrucksformen einer Stufen- und Werdensmystik, eines Aufstiegs der Seele zu Gott mit dem Ziel der völligen Einswerdung in der unio mystica ist nicht die Absicht Arndts. Er schreibt für christliche Leser, denen Gott schon durch die Taufe nahe gekommen ist. „Da die meisten Menschen das ihnen in der Taufe geschenkte Heil missachten, will Arndt ihnen den Weg zur vollen Aneignung des ihnen bereits zugeeigneten Heils zeigen […]. Aus dem mystischen Weg zur Gotteserkenntnis wird bei Arndt eine den Rechtfertigungsglauben voraussetzende, ihn aber überbietende Heiligungsfrömmigkeit.“34
Nachdem es Arndt in den ersten drei Büchern um die Wiederherstellung des Ebenbildes Gottes in der menschlichen Seele geht, um den Mikrokosmos des 33 Das 34. Kapitel des 2. Buches, dem 12 Kapitel aus Weigels Gebetbüchlein folgen. Das wurde bald bekannt und zog Arndt in die Kritik an Weigel hinein. Vgl. Schneider, „Vier Bücher vom wahren Christentum“, 198ff. 34 Wallmann, Johann Arndt, 81.
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Menschen, hat das vierte Buch, der „Liber Naturae“, die Kosmologie, den Makrokosmos, zum Inhalt. Beides gehört in der neuplatonisch-paracelsischen Tradition zusammen, der Arndt folgt. Der Erkenntnis Gottes in der Seele tritt die Erkenntnis Gottes aus der Natur zur Seite. Im ersten Teil des vierten Buches erfolgt eine Auslegung des Sechstagewerkes der Schöpfung, in der Arndt wiederholt aus dem Naturbild des Paracelsus schöpft. Im zweiten Teil wird wieder auf den Menschen zurückgelenkt. Schon früh stand Arndt das Gesamtbild der vier Bücher vom wahren Christentum entsprechend der vier Offenbarungsweisen Gottes vor Augen. An den Leser des vierten Buches gewandt, heißt es: „wird dich die ganze Natur überzeugen, was du Gott und deinem Nächsten schuldig bist, wie auch das große Weltbuch der Natur zeuget von dem Schöpfer und zu ihm führet“.35 Die Bewegung geht vom Schöpfer über die Schöpfung des Mikro- und Makrokosmos zum Lobpreis der Werke Gottes, wobei der Mensch als Spiegelbild Gottes im Mittelpunkt der Betrachtung steht. „Alle Kreaturen sind nur Gottes Spur und Fußstapfen; der Mensch aber ist Gottes Bild, welcher den Schöpfer sollte vor Augen stellen.“36 Dieser Innenaspekt ist von Anfang an mit dem Außenaspekt von Gottes Gegenwart in seiner gesamten Schöpfung als Grundkonzeption der vier Bücher vom wahren Christentum verbunden. Das „Wahre Christentum“ Johann Arndts ist ein Höhepunkt der evangelischen Spiritualität sowohl in Bezug auf die ihm vorausgehende Geschichte der evangelischen Frömmigkeit wie auch der ihm nachfolgenden Zeit. Arndt wollte die Christen seiner Zeit zur wahren Gottseligkeit (pietas) führen, zu einem christlichen Glauben, der Christus nicht nur mit dem Munde bekennt, sondern mit dem Herzen. Zu einem Glauben, der in der Liebe tätig ist, weil die lebendige, gläubige Seele die Liebe Gottes widerspiegelt. Dazu aber bedarf es der Reinigung der Seele von den Verlockungen der Welt, die Arndt mit Hilfe der Mystik bildreich und mit einer Fülle von Bibelzitaten zu umschreiben versucht, so dass die Wirklichkeit des neuen Menschen im Gebet und in der Nachfolge Christi anschaulich wird. Er hat damit eine Frömmigkeitsform geprägt, in der die persönliche Erfahrung und die Anleitung zu einem Leben aus einem lebendigen Glauben im Zentrum stehen und nicht die kirchliche Heilsvermittlung durch Predigt und Sakrament. Aber eine Kritik an der eigenen lutherischen Kirche als „Babel“ oder „Mauerkirche“, wie sie bei den Spiritualisten des 17. Jahrhunderts erscheint,37 hat bei Arndt keinen Rückhalt. Die Art seiner Frömmigkeit reicht weit in die Geschichte des Pietismus hinein, zu allen ihren Haupt- und Nebengestalten, in der die Frömmigkeit eine größere Unabhängigkeit von den kirch35 Vorrede zum ersten Buch, Braunschweig 1606, zit. nach Koepp, Johann Arndt, 41. 36 Arndt, Vier Bücher, IV/I, 6,24. Arndt lehnt sich hier an den „Liber creaturarum“ des Raimund von Sabunde an (gest. 1436). 37 Z. B. Christian Hoburg (1607–1675), Friedrich Breckling (1629–1711) oder Johann Georg Gichtel (1638–1710), vgl. Brecht, Die deutschen Spiritualisten.
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lichen Amtsträgern erlangte. In der gegenwärtigen Pietismusforschung ist man sich weithin darin einig, dass die Frage nach den Anfängen des Pietismus nicht ohne eine Definition des Pietismus gegeben werden kann. In dieser Hinsicht meint vor allem Johannes Wallmann, dass von einer doppelten Definition des Pietismus gesprochen werden müsse: „Pietismus einmal verstanden als Frömmigkeitsrichtung, die sich primär in literarischen Texten niedergeschlagen hat, sodann Pietismus als eine sozial greifbare Bewegung, die sich in Gegensatz zur Orthodoxie gesetzt hat und neue Formen kirchlichen und religiösen Gemeinschaftslebens hervorgebracht hat.“38
In der ersten Weise ist auf Johann Arndt zu verweisen und in der zweiten auf Philipp Jakob Spener (1635–1705). Was Spener von Arndt unterscheidet, ist nicht seine Frömmigkeit, sondern sein Gedanke der ecclesiola in ecclesia, der Förderung und Sammlung der Frommen, und seine Hoffnung besserer Zeiten, womit er sich sowohl von Luther wie von Arndt als seinen maßgebenden Lehrern abgesetzt hat. Die zur Programmschrift des Pietismus erklärte Vorrede Speners zu einer Neuausgabe von Johann Arndts Evangelienpostille, die „Pia Desideria“, ist nicht nur äußerlich mit Johann Arndt verbunden, sondern durch Speners dezidiertes Bekenntnis zu Arndt am Schluss der „Pia Desideria“ als vortrefflicher Lehrer und Nachfolger Luthers wird das innere Band zwischen Arndt und Spener unmissverständlich deutlich.39 Kurz zuvor hatte Spener eine Neuausgabe des „Wahren Christentums“ angeregt und selbst Anmerkungen hinzugefügt, die sich auf eine schon bald nach Arndts Tod entstandene Verteidigungstradition Arndts gegenüber seinen Kritikern stützten und damit die Übereinstimmung der eigenen Intentionen hinsichtlich einer Erneuerung und Intensivierung des Glaubens der Christen mit denen Arndts dokumentierten.40 Am Ende seines Lebens hat Spener Wochenpredigten über das „Wahre Christentum“ gehalten, und zwar über die den einzelnen Kapiteln vorgesetzten biblischen Sprüche, die besonders deutlich Speners Zustimmung zu Arndts Bemühen zeigen, die Christen seiner Zeit auf den Weg nach Innen zu lenken, um sie für die Wirkungen Gottes in der Seele, fern äußerlich-weltlicher Selbstbemächtigung, zu sensibilisieren. Allerdings hat Spener nur über die drei ersten Bücher vom wahren Christentum Predigten gehalten, nicht über das vierte Buch, das Buch der Natur, das auch sonst im Pietismus nicht rezipiert wurde.41 Die Verbreitungsgeschichte des „Wahren Christentums“ ist geradezu sensationell. Abgesehen von der Bibel und Luthers Kleinem Katechismus ist es „das bei 38 39 40 41
Wallmann, Anfänge des Pietismus, 65; ders., Johann Arndt, 85–87. Vgl. Spener, Pia Desideria, 20.35–81. Vgl. Brecht, Spener. Vgl. Sommer, Arndt und Spener; Wallmann, Spener und die ‚Vier Bücher vom wahren Christentum‘, 4.
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weitem verbreitetste und meistgelesene Werk des deutschen Protestantismus“.42 Ein schwedischer Forscher hat Arndt zu Recht als „die einflussreichste Gestalt der lutherischen Christenheit seit den Tagen der Reformation“ bezeichnet.43 Seit der Veröffentlichung des „Wahren Christentums“ war der Ruf Arndts weit in deutschen Landen und darüber hinaus erklungen, war er schon zu seinen Lebzeiten ein bekannter Schriftsteller, dem viele Leser und anerkannte Autoritäten der Zeit beipflichteten. Aber unumstritten war sein wirkungskräftigstes Werk von Anfang an nicht.44 In der Frömmigkeitsgeschichte des deutschen Protestantismus hat es kaum ein anderer vermocht, eine so breite und nachhaltige Wirkung zu entfalten wie Johann Arndt, aber auch kein Schriftsteller in der Zeit nach der Reformation ist mit dieser seiner immensen Wirkungsgeschichte so umkämpft gewesen wie Johann Arndt.45 Der Hauptkritikpunkt gegenüber Arndt war der gleiche zu seiner Zeit wie auch heute. Er besteht – allgemein gesagt – im Verhältnis des Äußeren zum Inneren, d. h. in der Frage, wie das äußere Wort der Bibel sich zu dem von Arndt geforderten, lebendigen Glauben verhält. In meiner Wahrnehmung der Texte Arndts kann ich nicht nachvollziehen, dass das äußere Wort der Schrift nur eine sekundäre Bedeutung für das eigentliche, unvermittelte Geistwirken in der menschlichen Seele hat.46 Vielmehr ist das Hören und Meditieren des biblischen Wortes im kirchlichen Gottesdienst und im Haus sowie die Antwort im Gebet und in der Lebensgestaltung nicht die bloße Voraussetzung eines über diese „äußeren Vollzüge“ hinausführenden, eigentlichen, inneren Geschehens, sondern nur im Vollzug dieser äußeren Handlungen können die Früchte des Glaubens reifen, was nach Arndt freilich eine intensive Umsetzungs- und Applikationsarbeit an die Hörer und Leser erforderlich macht. Gerade in dieser Einsicht der Notwendigkeit eines mit biblischer Sprache voll gefüllten, sprachlich vermittelten Verinnerlichungs- und Verlebendigungsprozesses des Wortes Gottes und der erfolgreichen Praktizierung dieser Erkenntnis sehe ich die Bedeutung Arndts in der lutherischen Kirche seiner Zeit und weit darüber hinaus. Keines42 Schneider, „Vier Bücher vom wahren Christentum“, 197. Nach einer von Schneider vorgenommenen vorläufigen Zusammenstellung der Ausgaben sind bis 1670 bereits 64 Drucke erschienen, bis zum Ende des 18. Jahrhunderts stieg die Zahl auf 240, bis zum Ende des 19. Jahrhunderts lassen sich insgesamt 300 Ausgaben nachweisen. 43 Pleijel, Bedeutung Johann Arndts, 394. 44 Vgl. Brecht, Aufnahme; Steiger, ‚Wahres Christentum‘. 45 Die sehr facettenreiche Wirkung der Bücher vom wahren Christentum sowohl innerhalb der lutherischen Kirche wie auch außerhalb von ihr in separatistischen und mystisch-spiritualistischen Kreisen war schon zu Lebzeiten Arndts im Gange, sodass sich die kirchlich-orthodoxe und die heterodoxe Wirkungsgeschichte Arndts in den unterschiedlichen Richtungen der gegenwärtigen Arndtforschung widerspiegelt. 46 Ich stimme hier der Position von Inge Mager zu in ihren Aufsätzen: dies., Arndts Schriftverständnis; dies., Spiritualität und Rationalität; dies., Arndts Bildfrömmigkeit.
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wegs ist Arndt der einzige, der um 1600 diese Notwendigkeit der eigentlichen Arbeit erkannte, nachdem die theologischen Grundlagen in der reformatorischen Rechtfertigungslehre und in der Christologie gelegt waren. Aber mit seinem eigengeprägten Sprachstil, der auf die emotionale Empfänglichkeit seiner Hörer und Leser einzugehen verstand, war er überaus erfolgreich.
3.
Die letzten Lebensstationen Arndts, das „Paradiesgärtlein“ und die großen Predigtwerke
Nach den turbulenten Braunschweiger Jahren, in denen die Bücher vom wahren Christentum und die ersten Streitigkeiten um sie entstanden, war es eine Erlösung für Arndt, dass er im Herbst 1608 eine Berufung an die Andreaskirche nach Eisleben erhielt, die er am Beginn des Jahres 1609 antrat. Auch hier musste er, wie in Quedlinburg, eine Pestepidemie erleben, auch der Streit um das „Wahre Christentum“ ging weiter, aber die Atmosphäre unter den Pfarrkollegen und in der Gemeinde war insgesamt für Arndt befriedigend. Seine Eislebener Zeit währte jedoch nur kurz, denn im Frühjahr 1611 erhielt er einen sehr ehrenvollen Ruf von Herzog Ernst von Braunschweig-Lüneburg auf die Generalsuperintendentur seines Fürstentums nach Celle. Diese Berufung stellt eine besondere Zäsur im Leben und Wirken Johann Arndts dar. Mit der Übernahme des kirchenleitenden Amtes in Celle kam der literarisch schon weit bekannte und durch viele Kämpfe hindurchgegangene Pfarrer auf den Höhepunkt seines Lebens.47 Eine für beide Seiten glückliche und fruchtbare Zusammenarbeit zwischen Herzog Christian, dem Nachfolger von Herzog Ernst, und seinem Generalsuperintendenten Arndt sollte nun ihren Anfang nehmen. Wie hoch es Arndt schätzte, unter dieser seinen theologischen und kirchlichen Überzeugungen wohlgesonnenen Obrigkeit wirken zu können, geht aus einem Brief an seinen Freund Johann Gerhard aus dem Anfang seiner Celler Zeit hervor. Arndt beglückwünscht sich darin selbst für des Fürsten gütige Gesinnung, so dass er nun unter Gottes und des Fürsten Obhut ein ruhiges Leben genießen könne.48 Dass diese Ruhe, die Arndt nun zu genießen vorgibt, nichts mit quietistischer Innerlichkeit und Abschließung von der Welt zu tun hat, zeigen die von pfarramtlicher, kirchenregimentlicher und schriftstellerischer Arbeit reich angefüllten Celler Jahre Arndts. In dem Bestallungsdekret wurde ihm die Oberaufsicht über die Kirchen des gesamten Fürstentums und beider dazugehörender Grafschaften sowie über die Schulen übertragen.49 47 Vgl. Sommer, Arndts Wirken in Celle. 48 Am 13. Juli 1612. Vgl. Winter, Johann Arndt, 51, Anm. 65. 49 Die Herzöge von Braunschweig-Lüneburg haben sich in den am Ende von Arndts Leben und
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Johann Arndt starb in Celle am 11. Mai 1621. Bekannt aus seiner Celler Zeit ist vor allem sein literarisches Wirken, das sich mit dem „Paradiesgärtlein“ an seine Bücher vom wahren Christentum anschließt, mit der Herausgabe seiner drei großen Predigtwerke jedoch noch einmal auf einen besonderen Höhepunkt kommt. Im Jahr 1612 erschien das „Paradiesgärtlein voller christlicher Tugenden, wie solche zur Übung wahren Christentums durch geistreiche Gebete in die Seele zu pflanzen“, das mit und neben den Büchern vom wahren Christentum eine überaus weite Verbreitung fand, später auch häufig zusammen mit dem „Wahren Christentum“ gedruckt wurde.50 Das entspricht dem inhaltlichen Zusammenhang dieses Gebetbuches mit den Büchern vom wahren Christentum, sind doch die Gebete der Weg bzw. die Übung zum wahren Christentum. Arndt wollte mit seinem Gebetbuch zum Herzstück des wahren Christentums, zum rechten Gebet eine praktische Anleitung geben. Wie die Bücher vom wahren Christentum den Irrtum strafen wollen, dass der Glaube ohne Glaubensfrucht bleiben könne, so streitet dieses Gebetbuch gegen die Trennung von Beten und Leben, von Worten und Taten. Gegen das nur äußerliche, gewohnheitsmäßige Gebet stellt Arndt das wahre, innere, den ganzen Menschen ergreifende und bewegende Gebet, mit dem sich der Mensch gegenüber Gott öffnet in der Erkenntnis seiner Schuld und in der Gewissheit von Gottes Vergebung mit dem Ziel des gottseligen Lebens. Der Titel ist spätmittelalterlichen Gebetbüchern nachempfunden als hortulus animae und versteht die Seele als Garten, in den „christliche Tugenden“ als Früchte des Glaubens gepflanzt werden sollen. Diese sind Gaben Gottes, die die Seele durch das Gebet erbittet, so dass die Seele in der Hinwendung zu Gott wie in einem blühenden Garten sich an der Schönheit von Gottes Schöpfung erfreuen kann.51 In fünf Teile hat Arndt diese Mustergebete eingeteilt: erstens Tugendgebete nach den Zehn Geboten, zweitens Dankgebete für die Wohltaten Gottes, unseres Herrn Jesu Christi und des Heiligen Geistes mit einem Morgen- und Abendsegen und dem Dank für Wort und Sakrament im Gottesdienst, für Taufe und Abendmahl und für die heilige christliche Kirche, drittens die Kreuz- und Trostgebete (unter anderem Auslegung der Bitten des Vaterunsers) und die „geistliche Seelenarznei wider die abscheuliche Seuche der Pestilenz und anderer nach seinem Tod mit Heftigkeit geführten sog. Arndtschen Streitigkeiten als „Schirmherren des wahren Christentums“ erwiesen und damit nicht wenig dazu beigetragen, dass die sich an Arndt anschließende Frömmigkeit ihren Platz innerhalb des lutherischen Landeskirchentums wie in der Theologie der lutherischen Orthodoxie des 17. Jh. behaupten konnte. Vgl. Sommer, Arndts Nachwirkungen. 50 Das „Paradiesgärtlein / Voller christlicher Tugenden …“ kam zuerst in Magdeburg und Leipzig 1612 heraus. Schon bei seiner zweiten Auflage wurde es an das dritte und vierte Buch vom wahren Christentum angebunden (Magdeburg 1615). Es ist das bis heute am wenigsten untersuchte Werk Arndts. 51 Vgl. Steiger, „Geh’ aus, mein Herz, und suche Freud’“, 89–97.
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Strafen“, die wohl aus Arndts Seelsorge an den Pestkranken stammt, viertens die Amtsgebete und fünftens die Lob- und Freudengebete zu Ehre und Preis des Namens Gottes. Arndt steht in der Tradition der evangelischen Gebetbücher seit Luther. Aber er hat auch vorreformatorisches Traditionsgut aufgenommen, so z. B. Bernhard von Clairvaux und die pseudoaugustinischen „Meditationes“, zu denen die ebenfalls Augustin zugeschriebenen Schriften „Manuale“ und „Soliloquia“ gehören, die oft zusammen gedruckt und übersetzt wurden. Diese mittelalterlichmystischen Texte waren außerordentlich beliebt und haben auch die Gebet- und Andachtbücher der nachreformatorischen Frömmigkeit nachhaltig beeinflusst.52 Quellenkritisch ist das „Paradiesgärtlein“ noch keineswegs genügend untersucht, aber Elke Axmacher hat in ihrer Arbeit „Johann Arndt und Paul Gerhardt“ wichtige Schritte in dieser Richtung unternommen, die Arndt nicht nur als Kompilator, sondern vor allem als theologischen Bearbeiter seiner Vorlagen hervorgehoben hat.53 Das „Paradiesgärtlein“ wurde zum erfolgreichsten evangelischen Gebetbuch in Deutschland und hat überaus stark auf andere Gebetbücher, vor allem auf die Kirchenlieddichtung, eingewirkt. So hat der bekannteste Kirchenlieddichter des 17. Jahrhunderts, Paul Gerhardt (1607–1676), in seinem Liedschaffen aus dem „Paradiesgärtlein“ Arndts geschöpft.54 Wenn wir heute die verhältnismäßig langen Gebete Arndts lesen und laut meditieren, dann wirkt der ständig erhöhte Ton auf das rhetorisch ungeschulte Ohr weithin befremdlich. Arndt setzt alle Stilmittel der Rhetorik ganz bewusst ein, um mit den Mitteln sprachlicher Intensivierung mit einem drängenden, dringlichen Ton einen affektiv gesteigerten Ausdruck zu erreichen und somit die Wirkung bei den Menschen erfahrbar zu machen. Arndt sieht den Menschen als einen Widerspenstigen, der nur durch Erschütterung, Überwältigung dazu gebracht werden kann, sich Gott mit seinem eigenen, schuldbeladenen Leben ganz auszusetzen. Wir sind heute schnell geneigt, negative Urteile über die „Unechtheit“ rhetorisch erzeugter Affekte abzugeben. Wir erwarten vom sprachlichen Kunstwerk die Gestaltung des seelischen Erlebnisses und werten deshalb das 52 Vgl. Althaus, Gebetsliteratur, 99.134f. So z. B. die Gebetssammlungen von Andreas Musculus (1514–1581), Philipp Nicolais „Freudenspiegel des ewigen Lebens“ (1599) und vor allem Martin Mollers „Mediationes sanctorum patrum“ von 1584 und 1591. Vgl. Axmacher, Praxis Evangeliorum. 53 Axmacher, Johann Arndt und Paul Gerhardt. Das zeigt sie sehr aufschlussreich z. B. anhand des ersten Passionsgebetes im „Paradiesgärtlein“ (II, 13), a. a. O., 52–71. Die theologische Konzeption der Passionsgebete im „Paradiesgärtlein“ insgesamt sieht Axmacher mit überraschender Klarheit und Konsequenz mit der lutherisch-orthodoxen Passionsdeutung im Einklang, die Arndt gebetsweise zum Ausdruck zu bringen versucht. 54 Darauf geht Axmacher in der übereinstimmenden und unterschiedenen Beziehung beider Schriftsteller ausführlich ein.
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nach Kunstregeln „Gemachte“ schnell ab. Diese Entgegensetzung von Rhetorik und Poetik kennt aber das 17. Jahrhundert nicht.55 Der Poet war auf die Regeln der Rhetorik, die auf Affektbeeinflussung zielten, ebenso angewiesen wie der Redner. Arndt folgt dem rhetorischen Grundzug der Zeit, wenn er alle stilistischen Mittel für die von ihm beabsichtigte Wirkung auf den Hörer bzw. Leser und Beter einsetzt. Das „Paradiesgärtlein“ Arndts hat auf die Gestaltung des Gebetslebens im Pietismus und auch noch in der Aufklärungszeit beträchtlich eingewirkt. Seit der Leipziger Ausgabe von 1631 sind dem Gebetbuch zunehmend „Wunderbare Geschichten (wie nämlich Gott der Herr das Paradiesgärtlein sowohl im Feuer als auch im Wasser ganz wunderbarlich erhalten hat)“ beigegeben. Das ist einer der relativ seltenen Fälle, „in denen auch im Protestantismus das Wunder zur Legitimation neuer Religiosität begegnet“.56 Den reichen Ertrag seines langjährigen Berufslebens als Pfarrer hat Arndt in drei großen Predigtwerken zusammengefasst und einem breiten Leserkreis erschlossen. Kurz hintereinander erscheinen während seiner Celler Zeit die Evangelienpostille, die Katechismuspredigten und die Psalterpredigten, nicht nur äußerlich umfangreiche Werke, die man zusammen mit den Büchern vom wahren Christentum und dem Paradiesgärtlein als seine Hauptwerke bezeichnen muss.57 Nach Wilhelm Beste kommt den Predigten Arndts eine epochemachende Bedeutung zu. Für ihn gehört Arndt an die Spitze der gesamten Entwicklungsgeschichte der Predigt im 17. Jahrhundert.58 Diese hohe Einschätzung der Predigten Arndts findet ihre Bestätigung in den zahlreichen Auflagen, die seine Postille, aber auch die Psalterpredigten im 17. Jahrhundert und auch noch in der ersten Hälfte des 18. Jahrhunderts und im 19. Jahrhundert gefunden haben.59 In der Arndtforschung haben seine Predigtwerke jedoch bisher nur eine sehr geringe Beachtung erfahren.60 Über seine Predigtweise und theologischen Leitsätze in den Postillenpredigten gibt Arndt in seiner Vorrede an den christlichen Leser ausführlich Auskunft. In diesen homiletischen Grundlinien Arndts kommt die eigentümliche, auf die 55 Vgl. a. a. O., 265–270. 56 Brecht, Frömmigkeitsbewegung, 141. 57 Vgl. Postilla; Catechismus; Außlegung des gantzen Psalters. Die Predigten Arndts stammen im Wesentlichen aus seiner Braunschweiger, Eislebener und Celler Zeit. 58 Vgl. Beste, Kanzelredner, 23f. 59 Vgl. Sommer, Gottesfurcht und Fürstenherrschaft, 172, Anm. 167. Innere Übereinstimmung und äußere Verbreitung der Postille Arndts haben Philipp Jakob Spener veranlasst, sein Vorwort zu der Ausgabe von Arndts Postille, Frankfurt 1675, zu verfassen, die Pia Desideria, die als Programmschrift des Pietismus gilt. 60 Eine Ausnahme macht die Neuendettelsauer Dissertation Anetsberger, Tröstende Lehre; vgl. Sommer, Arndts Predigtwerke.
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individuelle Erfahrung und Frömmigkeit von Prediger und Predigthörer gerichtete Predigtweise zum Ausdruck, die Johann Gerhard in seinem Vorwort als Predigtstil des „Modus docendi mysticus“ bezeichnet hat.61 Er meint damit einen Predigtstil nicht in der Tradition der spätmittelalterlichen Mystiker, sondern eine Methode, die im Kern auf die Erbauung des inneren Menschen gerichtet ist. Weitere Kennzeichen dieses Stiles sind die allegorische Deutung des Alten Testamentes, der Bezug der Lehre auf den verderbten Zustand des Menschen, auf seinen wahren, lebendigen Glauben an Christus und die Gottesliebe sowie auf die Erweckung der Nächstenliebe. Ferner ziele dieser Stil auf die Entsagung von allem Weltlichen, auf Gottesfurcht, innere Gelassenheit, Demut und die Pflanzung christlicher Tugenden bei den Predigthörern. Auch Gerhard selbst bediene sich dieses Stils. Zudem werde die Postille den Missverständnissen der Rechtfertigungslehre vorbeugen: Im Hinblick auf Gott ist alles Gnade, aber Rechtfertigung bedinge den wahren, lebendigen Glauben, der mehr ist als „blosse Wissenschaft / viel weniger ein eusserlicher Ruhm ohne alle Änderung und Verneuerung des Hertzens.“ Da bei den meisten Menschen der Glaube erloschen und die Liebe erkaltet sei, habe er des öfteren Arndt schriftlich daran erinnert, „daß er der lieben Kirchen zum Besten diese Mühewaltung auff sich nehmen / und eine solche Postill verfertigen wolle“.62 Gerhard sah in den Predigten Arndts das Hauptzeugnis seines Glaubens und Wirkens für seine Zeit, wie seine Vorworte zur Postille und zu den Psalterpredigten deutlich zeigen. Dass es Arndt vor allem um eine neue, eindringlichere Form der Applikation des christlichen Glaubens ging, geht auch daraus hervor, dass er die Herausgabe seiner Postille inmitten der vielen anderen durch die individuelle Art eines jeden Predigers zu rechtfertigen versucht. Es geht darum, dass das gepredigte Wort Gottes möglichst viele erreicht, nicht nur äußerlich, sondern als Anklage und Trost der Gewissen. Für dieses Ziel aber können nie genug im persönlichen Ton unterschiedene Prediger wirken, entsprechend der mannigfaltigen Gegebenheiten aufseiten der Hörer, wenn sie nur in den Grundlagen des wahren Glaubens übereinstimmen. Die Predigten Arndts sind auf das Gewissen aller Menschen gerichtet, aber sie sind keine Missionspredigten, sondern sie wenden sich an die schon im christlichen Glauben erfahrenen Christen, wie auch seine Bücher vom wahren Christentum nicht den Ungläubigen, sondern den schon Gläubigen gelten. Arndt hofft, dass seine Predigten „erbauen“ werden, weil sie auf Fundamenten gründen, die für alle Schrifterklärungen gelten. Erbauung im Sinne Arndts ist streng auf den biblischen Text bezogen, in seiner vorfindlichen Gestalt wie in der logischen Folgerichtigkeit des aus ihm ermittelten gedanklichen Inhalts. Die 61 Vorrede Johann Gerhards vom 17. September 1615, Postilla … , Jena 1616, Bl. b (4) v. 62 A. a. O.
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Konkordanz des ganzheitlich verstandenen Schriftzeugnisses führt zum Gewissenszeugnis des inneren Menschen, und das Ziel der Schrift liegt im Heil des Menschen und in der Ehre Gottes. In der ganzheitlichen Ausrichtung der Schrift auf Christus in wesentlich soteriologischer Akzentuierung kann somit die charakteristische Predigtweise Johann Arndts gesehen werden, wie er es selbst in seinen Vorreden zur Evangelienpostille zum Ausdruck gebracht hat. Das große Interesse Arndts an katechetischen Aufgaben der Kirche, wie es sich im Rahmen seines Wirkens während der Generalvisitation zeigt, kommt auch in seinen Katechismuspredigten zum Ausdruck. Auch sie fanden weite Verbreitung. Die Betonung liegt bei Arndt auf dem gemeindepädagogischen Aspekt, nicht in der Förderung der Hauskirche oder einer familiären Frömmigkeitspflege. So sehr Arndt den inneren, lebendigen Glauben betont, so verflüchtigt er sich für ihn nicht in die Dimension der Innerlichkeit, sondern steht in notwendiger Verbindung mit Prozessen des Weitergebens und des Aneignens, mit Kategorien von Wissen, Anerkennen und Kenntnisnahme: Prozessen also, die von außen auf das Subjekt wirken, und wiederum nach außen dringen in Bekenntnis und mitteilbarem Glaubenswissen. Es genügt freilich nicht, dass der Katechismus als gedrucktes Buch vorliegt, sondern im Herzen der Gläubigen muss er lebendig werden. Der Prozess der Aneignung des Katechismus vollzieht sich im Kontext lebendiger Sprache, ist im Kern ein Sprach- und Sprechgeschehen. Wie das Evangelium vermittelt sich der Katechismus über das Medium der viva vox der Predigt. Nirgends als in der mündlichen und lebendigen Sprachgestalt der Predigt gewinnt Katechese ihren sinnvollen Resonanzboden. Für Arndt ist der Katechismus das Synonym schlechthin für den christlichen Lehrstand, der Auszug einerseits sowie der Kern andererseits der ganzen Heiligen Schrift, eine kleine Bibel. Der Katechismus, sowohl seine Kenntnis wie seine „Umwandlung ins Leben“, ist für Arndt Ausgangspunkt für ein wahres Christentum. Arndt beginnt sein „Wahres Christentum“ mit der Darstellung des Bildes Gottes nach Gen 1,26 und der Bitte um Erneuerung dieses göttlichen Ebenbildes. Auch die Katechismuspredigten sind von diesem Anfangs- und Zielpunkt umfasst. Die Erneuerung des Ebenbildes Gottes verwirklicht sich in einem wahren christlichen Leben. Dieses Leben meint nicht nur die Erbauung des inneren Menschen, sondern die Praxis eines in der Gemeinschaft des Glaubens, der Kirche, gelebten Lebens, das heißt Pflege des Gebetes, Taufe und Abendmahl. Der Mensch wird durch alle fünf Teile des Katechismus zum Ebenbild Gottes erneuert, eine nur innere Dimension des Glaubens bleibt ausgeschlossen. Die über 450 Predigten Arndts über den Psalter stellen eine der größten Predigtsammlungen des Protestantismus überhaupt dar. Johann Gerhard sagt in seinem Vorwort, Arndt, „mein sonderbahrer vielgeliebter Herr und in Christo Vater“, habe gute Anleitung für die Suche nach verborgener, göttlicher und
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vielfältiger Weisheit im Psalter gegeben.63 Dabei meint Gerhard nicht eine Art Geheimwissen, sondern die Erschließung der vielfältigen Auslegungstradition des Psalters durch die Kirche, die er dem Leser dann kurz darlegt. Arndt sei mit seiner Psalterauslegung ein großer Wurf gelungen, der auf die ganz individuellpraktische Aneignung und Einübung des Psalters in seinen Implikationen als „unser Hand- und Betbuch“ zielt.64 Arndt hat den Psalter durchgängig auf die christliche Kirche bezogen. Wort und Sakrament verbürgen die äußerliche Gestalt der Kirche, doch beide verweisen gleichzeitig auf ihre innerliche, tief verborgene Gestalt, die aus den vielen gläubigen Seelen besteht und dessen Haupt Christus ist. Diese inwendige Gestalt der Kirche als Braut Christi sieht Arndt im Psalter vor allem abgebildet. Aber die am Psalter sich erbauende, innerliche Frömmigkeit bleibt nicht abgekapselt von der Welt und selbstgenügsam bei sich selber, sondern drängt nach außen, zur Gestaltung der äußeren Verhältnisse im Zusammenleben der Menschen im Geist Christi. Deshalb hat Arndt seine Psalterpredigten auch den Bürgermeistern und Räten der norddeutschen Handelsstädte gewidmet.65 Grundsätzlich ist die Psalterauslegung Arndts zwischen zwei Auslegungspole gespannt: Der Psalter ist einerseits eine lebendige Abbildung der Kirche Gottes, andererseits eine Weissagung vom Zustand der jetzigen streitenden Kirche und ihrer Verfolgung „unter dem Antichristischen Hauffen“.66 Damit sind ziemlich genau die zwei zentralen Themen der Psalterpredigten anvisiert. Die Gestalt des Psalters als Abbildung der Kirche in ihren äußeren, vor allem aber inneren Bezügen, und die Angefochtenheit und Bedrohtheit der Kirche wie der einzelnen Christen kommen in fast allen Predigten zum Ausdruck. Noch stärker als in den Postillenpredigten sind die Psalterpredigten auf die Erbauung des inneren Menschen gerichtet, auf die geistliche Andacht jedes Einzelnen im Reiche Christi. Der Psalter rührt wie ein liebliches Saitenspiel die Herzen der Christen an, weil er den Kern der Heiligen Schrift darstellt, und weil die Psalmen den Christen die Heilsgeschichte und den Heilswillen Gottes in Jesus Christus zeigen. Der Psalter ist das Meisterwerk des Heiligen Geistes. In dem voluminösen Werk der Psalterpredigten ist das Agieren des Heiligen Geistes stets an die äußere Form des Textes gebunden. Freilich bedarf das äußere Wort der meditativen Aneignung und Anverwandlung. Arndt gibt der Wortaneignung, der Adaption in den Psalterpredigten weiten Raum. Dazu benutzt er viele Bilder und Metaphern, ganz ähnlich wie in seinen Büchern vom wahren Christentum, die er einmal in der Sprache der Psalmen selbst findet, zum anderen aus der kirchlichen 63 64 65 66
Vorrede Johann Gerhards vom 1. April 1617, Psalterpredigten, Lüneburg 1643, Bl. a IV b. A. a. O. Vgl. Sommer, Gottesfurcht und Fürstenherrschaft, 175. Vorrede Johann Arndts vom 1. Januar 1617, Psalterpredigten, Lüneburg 1643, Bl. a (6) r.
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Tradition entnimmt, besonders Augustin, Bernhard von Clairvaux und Johann Tauler. Die gelungene Wortapplikation drängt den hörenden Menschen weiter zu einem Empfinden und Schmecken des gehörten Wortes, so dass es ganzheitlich im Menschen wirken kann. Das ist das Ziel der Predigtweise Arndts, das freilich in der gegenwärtigen Arndtforschung im Verhältnis des äußeren zum inneren Wort kontrovers diskutiert wird.67 Die inhaltliche Nähe der Bücher vom wahren Christentum zu den Predigtwerken Arndts68 zeigt sich vor allem in seinem Sprachstil, der das besonders charakteristische Merkmal des Schriftstellers Arndt ist. Kreisförmig bewegt sich Arndt in seinen Formulierungen vorwärts, die durch viele Redundanzen und Rückbezüge gekennzeichnet sind. Er dringt nicht schnell zum Entscheidenden vor, tastet sich in bildreicher Sprache und in Analogien langsam entlang, um bei dem Hörer und Leser ein Einverständnis zu erreichen, so dass sich die Tür zum Aufnehmen des Evangeliums für Kopf und Herz öffnen kann. Alles ist dem Geschehen der Wortaneignung unterworfen, sowohl seine Analogien, seine Bilder und auch seine Zitate. Das bestimmt auch das Verhältnis Arndts zu der christlichen Tradition vor der Reformation, besonders der mystischen. Sein Bemühen geht stets dahin, seine Quellen so zu gestalten bzw. abzuwandeln, dass sie mit dem sola gratia Dei der Reformation in Einklang stehen. Ob ihm das gelungen ist, wird unterschiedlich beurteilt. Die Bedeutung seiner Werke und ihre überaus große Verbreitung und intensive und lange Nachwirkung geben Johann Arndt in der Geschichte der evangelischen Spiritualität einen herausragenden Platz.
Literatur Quellen Arndt, Johann (Hg.), Vom wahren Christenthumb. Die Urausgabe des ersten Buches (1605). Kritisch herausgegeben und mit Bemerkungen versehen von Johann Anselm Steiger (Spener-Schriften, Sonderreihe Bd. IV, Johann Arndt-Archiv, Bd. I), Hildesheim 2005. –, Vier Bücher vom wahren Christentum, hg. vom Evangelischen Bücher-Verein, Berlin 6 1857. 67 Ich verweise nur auf den Aufsatz: Hamm, Arndts Wortverständnis. Das äußere Wort der Schrift hat bei Arndt für Hamm nur eine sekundäre Bedeutung für das eigentliche, unvermittelte Geistwirken in der menschlichen Seele. Dagegen meine ich mit Bengt Hägglund, dass das Wort der Schrift selbst den Weg zum Verstehen öffnet, dass der Text selbst beim Meditieren das rechte Textverständnis freisetzt, vgl. Hägglund, Arndts Auslegung des Psalters, 204. 68 Das wird z. B. bei den Naturbetrachtungen Arndts im vierten Buch des wahren Christentums und in seinen Psalterpredigten besonders deutlich. In den Predigten zum 19. und 104. Psalm begegnen ganz ähnliche Grundgedanken wie im Liber naturae.
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Wolfgang Sommer
–, Außlegung des gantzen Psalters Davids des Königlichen Propheten / Also daß über jeden Psalm gewisse Predigten und Meditationes gestellet seyn …, Jena 1617. –, Der gantze Catechismus, erstlich in sechtzig Predigten außgelegt und erkleret … Zuerst als Anhang zum vierten Teil der Postille in Jena 1616 erschienen. –, Postilla: Das ist: Außlegung und Erklärung der Evangelischen Text, so durchs gantze Jahr an den Sontagen und vornehmen Festen, auch der ApostelTagen gepredigt werden …, Jena 1616. –, Paradiesgärtlein / Voller christlicher Tugenden …, Magdeburg/Leipzig 1612. –, Die teutsche Theologia, Halberstadt 1597. Gerhard, Johann, Meditationes Sacrae (1606/7). Lateinisch-deutsch, kritisch hg., kommentiert und mit einem Nachwort versehen von Johann Anselm Steiger, Bd. 1–2 (Doctrina et pietas, I, 3), Stuttgart-Bad Cannstatt 2000. Spener, Philipp Jakob, Pia Desideria, hg. von Kurt Aland, Berlin 31964.
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Wolfgang Sommer
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Dietrich Meyer
Jakob Böhme (1575–1624) und seine Schüler Jakob Böhmes Leben und Schau
Will man Jakob Böhme als das Haupt einer geistlichen Bewegung in den Blick nehmen, so muss sich das Augenmerk zunächst auf seine Person und das Urerlebnis seiner geistlichen Schau richten. Der als Sohn eines Freibauern in AltSeidenberg/Stary Zawidów 1575 geborene Junge, das vierte Kind einer frommen, in der lutherischen Kirchengemeinde engagierten Familie, wurde wohl wegen seiner schwachen Konstitution für den Beruf des Schuhmachers bestimmt. Schulbesuch und Schuhmacherlehre vermutlich in Seidenberg, Wanderjahre, Gesellenzeit in Görlitz deuten keinerlei außergewöhnliche religiöse Begabung an, doch lässt sein erster Biograf, Abraham von Franckenberg, in einigen Anekdoten dessen wache Fantasie und christliche Haltung erkennen, die Hans Grunsky veranlasst, ihn als einen werdenden „homo religiosus“ zu charakterisieren.1 1599 kaufte Böhme auf dem Görlitzer Untermarkt eine Verkaufsstelle für Schuhwerk und heiratete die Tochter eines örtlichen Fleischermeisters. In demselben Jahr erwarb er ein Haus, in dem er für die nächsten 14 Jahre seinen Beruf treu ausübte. Der Familie wurden vier Kinder geschenkt. Dass Böhme von einem inneren Ringen um Gewissheit erfasst wurde, dass er neben seinem Handwerk „innerliche Übung“ betrieb, damit der „angeerbte“ natürliche Mensch absterbe,2 dass ihm die Ungerechtigkeit der Welt, in der es den Gottlosen ebenso gut oder besser als Frommen geht, sehr zu schaffen machte und er darüber „in eine harte Melancholey und Traurigkeit“ geriet,3 dass er sich „vor dem Ungewitter des Zornes Gottes und dem Gegensatz des Teufels“ in Christus zu verbergen suchte,4 und wie immer seine Beschreibungen dieses Zustands rückblickend heißen mögen, davon hören wir leider erst Jahre nach seiner innerlichen Erleuchtung im Jahre 1600. Jedenfalls ist diese nicht wie eine plötzliche Wende ohne sein Verlangen und Kämpfen über ihn gekommen. Er beschrieb die 1 2 3 4
Grunsky, Boehme, 17. Sendbrief 34,7. Aurora 19,15 Sendbrief 18,5.
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Phase als ein Ringen auf Leben und Tod, als einen inneren Kampf mit Gott, wie Jakob am Jabbok mit Gottes Engel rang: „Als sich aber in solcher Trübsal mein Geist […] ernstlich in Gott erhub, als mit einem grossen Sturme, und mein gantz Hertz und Gemüthe, samt allen andern Gedancken und Willen sich alles darein schlos, ohne nachlassen mit der Liebe und Barmhertzigkeit GOttes zu ringen, und nicht nachzulassen, Er segnete mich dann, das ist: Er erleuchtete mich dann mit seinem H. Geiste, damit ich seinen Willen möchte verstehen und meiner Traurigkeit los werden; so brach der Geist durch.“ „Als ich aber in meinem angesetzten Eifer also hart wieder GOtt und aller Höllen Pforten stürmete […], alsbald nach etlichen harten Stürmen ist mein Geist durch der Höllen Pforten durchgebrochen bis in die innerste Geburt der Gottheit, und allda mit Liebe umfangen worden, wie ein Bräutigam seine liebe Braut umfähet.“5
Die Erzählung, dass Böhme „durch einen gählichen Anblick eines zinnern Gefässes“ zu dem inneren Grund der geheimen Natur „eingeführt“ worden sei, stammt von seinem Biografen Franckenberg und dürfte auf Berichte von Böhme zurückgehen.6 Dieser informiert uns auch, dass Böhme mehrfach von Erleuchtungen heimgesucht wurde, zuerst auf seiner Wanderschaft, dann seine wichtigste im Jahr 1600 und eine weitere Berührung durch Gott im Jahr 1610. Erst danach 1612 schrieb Böhme sein Erstlingswerk, die „Aurora oder Morgenröthe im Aufgang“ nieder, als er sich in der Lage sah, seine Erfahrungen mit Gott zu seiner eigenen Erinnerung, zu einem „Memorial“ und nicht für andere in Worte zu fassen. Wie ist diese innere Schau des Göttlichen bei Böhme zu verstehen? Ist sie die Antwort auf „die Frage: Wo ist Gott – inmitten der Unendlichkeit des Kosmos“, wie Eberhard H. Pältz meint? 7 Seine eigenen Äußerungen lassen eher an die Theodizee- und Sinnfrage denken, die an Gottes Gerechtigkeit zweifelt und unter der Macht des Bösen leidet. In den kirchlichen Gottesdiensten und seiner christlichen Lektüre fand er darauf keine Antwort. Seine gute Bibelkenntnis und sein persönliches Gebet waren die äußeren Voraussetzungen, dass ihm in einer ihn jäh überfallenden geistigen „Offenbarung“ eine beglückende Gesamtschau des Kosmos und ihres Grundes in Gott zuteilwurde, die sein Leben trotz äußerlich unveränderter Situation innerlich völlig verwandelte. Er erlebt seine Erleuchtung als die Geburt der göttlichen Liebe in seinem Innersten und weiß sich nun von Gott umarmt wie eine Braut. Das ist freilich bei Böhme nicht so sehr eine Emotion oder äußerliche Begeisterung als eine innere 5 Aurora 19,12f. Vgl. dazu seine Schilderung in: Erste Schutzschrift wider B. Tilken: „Rang also in Gottes Beystand eine ziemliche Weile und Zeit ums Ritter-Kräntzlein: welches ich hernach mit Zersprengung der Thoren der Tieffe im Centro der Natur, mit sehr grossen Freuden erlangete“ (Vorrede 25). 6 Franckenberg, in: Neudruck der Ausgabe Leiden 1730 Bd. 2, Anhang 7. 7 Pältz, Jacob Böhme, 85.
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Erkenntnis, eine Schau Gottes, eine geistige und nicht sinnlich-physische Erleuchtung. Das wird im Folgenden deutlich: „In diesem Lichte hat mein Geist alsbald durch alles gesehen, und an allen Creaturen, so wol an Kraut und Gras GOtt erkant, wer der sey, und wie der sey, und was sein Wille sey: auch so ist alsbald in diesem Lichte mein Willen gewachsen mit grossem Trieb, das Wesen GOttes zu beschreiben.“8
Erleuchtung heißt für ihn also, durch alles Sichtbare dieser Welt, durch alles Geschaffene, Natur und Kreatur hindurchsehen und darin Gott wahrnehmen. Er gewinnt ein ganz neues Gottesverständnis, in dem die Natur mit ihren vier Elementen Erde, Feuer, Luft und Wasser unmittelbar einbegriffen ist und ebenso der gesamte Kosmos mit seinen Gestirnen Sonne, Mond, Planeten. Legt man die Beschreibung seiner Neugeburt in der Aurora und seinen Sendbriefen zugrunde, so lässt sich Böhmes geistliche Erkenntnis sehr vergröbernd etwa mit folgenden Sätzen charakterisieren: 1) Gottes Wesen und Geburt lassen sich für Böhme nur dialektisch in Gegensätzen beschreiben als Liebe und Zorn, so wie alle Natur immer ein doppeltes, ein grimmiges und ein helles Element besitzt, so dass „wo Gottes Liebe ist, auch sein Zorn ist“9. 2) Alles Äußere ist nur ein Hinweis, Gleichnis und Bild für das Eigentliche, das Innere, das Göttliche. 3) Nur wo der Mensch vom Äußeren zum Inneren durchbricht, kann er wiedergeboren, erneuert werden. 4) Der ursprünglich nach Gottes Bild vollkommen androgyn geschaffene Mensch ist, durch den Einfluss und Fall Lucifers verführt, abgefallen und sucht darum das Tierische, Fleischliche, Äußerliche. 5) Durch die Menschwerdung Christi kann der Mensch das Ebenbild Gottes wiedererlangen und den noch vorhandenen reinen Funken in ihm zu neuem Leben erwecken, wenn er nur dem Durst und Streben seines inneren Menschen Folge leistet. 6) Das christliche Leben ist darum ein heftiger „Streit“ im Menschen, damit der neue Mensch wiedergeboren werde. Der Einblick in die „innerste Geburt der Gottheit“ veränderte das Leben Böhmes dann auch äußerlich. 1613 gab er sein Geschäft mit Schuhwerk auf dem Untermarkt auf und begann einen Handel mit Garn, der ihm die Gelegenheit zu zahlreichen Reisen gab, auf denen er zugleich seinen sich nun um ihn sammelnden Freundeskreis besuchen konnte. 8 Aurora 19,13. 9 Sendbrief 19,21.
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Die ihn zutiefst erregende Gotteserfahrung gab ihm ein prophetisches Sendungsbewusstsein,10 das ihn zum Verkünder einer neuen inneren Reformation machte, deren Morgenröte er geschaut hatte und an deren Kommen er durch seine für seinen Freundeskreis bestimmten Schriften mit aller ihm zur Verfügung stehenden Zeit intensiv mitzuwirken half. Solches Selbstbewusstsein führte ihn freilich in eine scharfe Kritik an der Kirche und Theologie seiner Zeit, weil sich diese, so meinte er, nur an den Äußerlichkeiten des Glaubens, an der Historie und am bloßen Buchstaben der Schrift festhielt, ohne zu dem dahinter und darunter verborgenen Geisteswirken Gottes vorzudringen. Pfarrer Gregorius Richter an der Peterskirche ging, sobald er von der Erstlingsschrift Böhmes erfuhr, sofort zu einem Generalangriff über, ließ das Manuskript der „Aurora“ aus Böhmes Haus holen und erreichte ein Schreibverbot, an das sich Böhme sechs Jahre hielt. Hätte Böhme nicht schon vorher Kontakte zu gleichgesinnten Freunden gehabt, so wäre seine Erstlingsschrift untergegangen, ohne dass die Welt davon Kenntnis bekommen hätte, und man kann es Böhme nicht verdenken, dass er in der Görlitzer Pfarrerschaft nur das „Ministerium zu Babel“ sah.11
1.
Böhmes frühe Anhänger
Den frühen Freundeskreis müssen wir nun in den Blick nehmen.12 Die erste Abschrift der „Aurora“ fertigte der Gutsbesitzer von Leopoldshain/Łagów, wenige Kilometer östlich von Görlitz, Karl Ender von Sercha, an, der wie sein Bruder Michael dem schwenckfeldisch gesinnten Kreis des schlesischen Adels angehörte. Er war ein vielgereister und gebildeter Mann, der Böhme unterstützte und seine Schriften begierig las. Über die Frau von dessen Bruder lernte Böhme Johann Daniel Koschwitz in Striegau kennen, an den er zwei Briefe richtete. Zu dem Görlitzer Freundeskreis Böhmes gehörten der ihn umsorgende Arzt und Paracelsist Tobias Kober, der ihm auch die Grabstelle auf dem Nikolai-Friedhof besorgte; der Jurist und Alchemist Johann Rothe; Michael Curtius, der Böhme in den letzten Tagen seiner Krankheit pflegte und dessen Sohn ein Buchbinder war; der Bürgermeister Bartholomäus Scultetus (1540–1614), der als Astronom, Kalenderschreiber, Mathematiker und Geschichtsforscher einen Namen hatte und Handschriften des Paracelsius abschrieb, der damals freilich bereits ein hohes Alter besaß. Von besonderer Bedeutung für die Verbreitung von Böhmes Handschriften erwies sich der Arzt und Chemiker Dr. Balthasar Walther, der aus 10 Vgl. Benz, Prophet. 11 Sendbrief 10,25. 12 Vgl. dazu die Liste von Michael Le Blon bei Harmsen (Hg.), Böhmes Weg, 451–484 und Jecht, Lebensumstände, 229–236.
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Liegnitz oder Groß-Glogau stammte und in ganz Europa unterwegs war. Er pflegte seit 1617 intensive Gespräche mit Böhme und machte ihn mit dem Zolleinnehmer Christian Bernhard aus Sagan bekannt, der seinen Beruf aufgab, um sich ganz dem Abschreiben von Böhmes Manuskripten zu widmen und den man darum „als eine Art von Generalsekretär und Botschafter Böhmes“ bezeichnet hat.13 Zu den einflussreichen und begüterten Grundherren zählte Rudolf von Gersdorf auf Weicha(u), auf dessen Gut Böhme bei seinen Reisen regelmäßig einkehrte, sowie der Landesälteste des Görlitzer Kreises, Kaspar von Fürstenau (1572–1649), dessen Verwalter Augustin Cöppe in Lissa mit Böhme befreundet war. Es ist erstaunlich, wie viele Adlige und Ärzte zu den Freunden Böhmes gehörten, aber auch der Zolleinnehmer Caspar Lindner aus Beuthen, der Tuchmacher Bathasar Nitsche aus Troppau oder Martin Moser aus Goldberg. Sie alle verband das Streben und Suchen nach einem inneren, lebendigen Christentum, das in der Landeskirche keine Befriedigung fand. Zu den damals an spiritualistischem Gedankengut interessierten Kreisen gehörten auch die Brüder Hans Siegismund und David von Schweinichen auf Schweinhaus, denen es zu verdanken ist, dass zu Lebzeiten von Böhme ohne dessen Wissen und Durchsicht 1624 ein kleines Bändchen mit erbaulichen und eigentlich unverfänglichen Böhmeschriften erschien: „Der Weg zu Christo“.14 Die darin enthaltenen zunächst zwei, in neuer Auflage drei kleinen geistlichen Traktate zeigen Böhme als Erbauungsschriftsteller und frommen Christen, dessen bildreiche Sprache und ernsthaftes Drängen auf Wiedergeburt Menschen ansprach, weil sie ihnen einen schrittweisen Prozess, einen Stufenweg zur Erneuerung durch Christus aufzeigten. Die erste Schrift „Von wahrer Buße“ fordert den Menschen auf, seine Abkehr von Gott zu bedenken, wie er an die drei Ketten, 1. des göttlichen Zorns, 2. der Begierde des Teufels und 3. an das „eitele, irdische sterbliche Fleisch und Blut, voll böser Begierde und Neiglichkeit“ gebunden ist (3), was Böhme am Beispiel des verlorenen Sohnes verdeutlicht. Diese Betrachtung wird im Menschen einen „Hunger nach Reue“ verursachen, womit der „Prozeß der Buße“ beginnt (12). Nun soll er sich „gänzlich einbilden die große Liebe Gottes“ in Christus Jesus und sich „festiglich einbilden“, dass er vor dem Angesicht der Dreifaltigkeit stehe. Darauf soll er ein Beichtgebet sprechen, wofür Böhme einen Vorschlag anbietet. Darin bittet der Mensch, in Jesu Tod zu sterben und seine „Ichheit“ zu vernichten, ferner um das Anfachen des „kleinen Fünklein meines Lebens“: „O du Odem der großen Liebe Gottes, erquicke doch meinen schwachen Odem in mir, daß er anfahe, nach dir zu hungern und zu dürsten!“ 13 Grunsky, Boehme, 38. 14 Im Folgenden zitiere ich die Schrift nach der Ausgabe von Gerhard Wehr (Böhme, Christosophia) und gebe im Text in Klammern jeweils die in allen Ausgaben einheitlich nummerierten Abschnitte an.
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(19). Denn, so meint Böhme, wer die edle Jungfrau Sophia erlangen will, „muß in großer Liebesbegierde mit ihr darum buhlen“ (26). Darauf soll der Mensch in seinem Gemüte der Jungfrau Sophia ein Gelübde tun, und Böhme bietet auch dafür einen Gebetsvorschlag. Darin heißt es etwa: „O tiefe Liebe in dem allersüßesten Namen Jesu! Ergib dich in meiner Seelen Begierde ein.“ Oder: „O große Liebe Jesu Christi! Ich kann nichts mehr, als ich ersenke meine Begierde in dich“ (30). Doch das ist noch nicht die Wiederherstellung des verlorenen Bildes Gottes. Es beginnt eine Phase der Erprobung. „Christus ward in der Wüsten versuchet. Willst du ihn anziehen, so mußt du durch seinen ganzen Prozeß von seiner Menschwerdung an bis zu seiner Himmelfahrt gehen“ (34). Es ist dies ein Stadium des „Kämpfens, da Himmel und Hölle miteinander streiten“, um die Eitelkeit der Seele zu überwinden. Erst dann kommt es zum Kuß der Sophia, zur „Hochzeit des Lammes“ (38), in der ein Perlen-Bäumlein gesät wird, das nun stetig wachsen und zunehmen muss. Es folgen weitere Gebete an Christus, den „Durchbrecher des Zornes Gottes“, um Bewahrung in der Versuchung, um Auferweckung des verblichenen Gottesbildes in Adam, um Stärkung und Leitung des Seelenhungers. „Führe doch meinen Seelenhunger und Durst durch deinen Tod in deiner Auferstehung durch deinen Triumph aus“ (42). „Zünde doch du meiner Seelen Hunger mit deiner Liebe Begierde, durch den Durst Jesu Christi, den er am Kreuze nach uns Menschen hatte, an“ (43). Böhme beschließt seinen Aufsatz mit einem Hinweis auf sich selbst und was ihm die Heilige Schrift als das „Buch des Lebens Jesu Christi“ bedeutet hat. „Es ist sein (= des Verfassers) Prozeß gewesen. Er gibt dir das Beste, das er hat. Gott gebe das Gedeihen!“ (52). Diesen Prozeß, „den ich selber gegangen bin“ (11), darf man sicherlich auf seine Periode vor 1600 beziehen, auch wenn der Text erst 1623, eineinhalb Jahre vor seinem Tod, verfasst wurde, das heißt also, dass er im Rückblick seine Erfahrung systematisiert und als spirituellen Weg in Anlehnung an Christus deutet.15 In dem Büchlein von 1624 war ferner der Aufsatz „Von wahrer Gelassenheit“ vom Jahr 1622 enthalten, der Gelassenheit als den Gegensatz zur menschlichen Selbheit in eigener Vernunft, nämlich als „die Gelassenheit in Gottes Willen“ versteht. „In solchem demütigen Ganz-Einergeben fället der Funke der göttlichen Kraft gleich als ein Zunder ins Zentrum der Lebensgestaltnis“ (29). Die dritte Schrift „Vom übersinnlichen Leben“ vom Jahr 1622 ist ein Gespräch eines Jüngers mit seinem Meister darüber, wie man Gott im Innern des Menschen finden könne. Die Antwort, „so du magst eine Stunde schweigen von allem deinem Wollen und Sinnen“ (2), so „höret und siehet Gott durch dich“ (3), wird in einem dichten Frage- und Antwortspiel gleich einem Katechismus weiter ausgeführt. 15 Sehr eindrücklich wird der Prozess und Kampf im Menschen geschildert im 11. Sendbrief an Paul Kaym.
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Es ist hier nicht möglich, auf Böhmes größere theosophische Schriften einzugehen. Es waren wohl gerade diese kürzeren geistlichen Meditationen, die Böhme einen weiteren Kreis über die paracelsisch-alchemistischen Freunde hinaus erschlossen haben. Und hierzu muss man vor allem auch seine Aufsätze „Von der neuen Wiedergeburt“ (16), „Die hochteure Porte von göttlicher Beschaulichkeit“ (1620), seine „Trostschrift von vier Komplexionen“ (1621) und sein Gebetbuch von 1624 zählen. Über diese Schriften hinaus waren es vor allem seine theosophischen Sendschreiben, d. h. seine Briefe an Freunde, in denen er zu einzelnen Fragen Stellung nahm, Einblick in seine eigenen Erfahrungen gab und sich zu Geschehnissen der Zeit äußerte, die bald auch für andere abgeschrieben und verbreitet wurden. Was dann zu einem Charakteristikum der Böhme-Anhänger wurde, die unzähligen Abschriften und die Verbreitung solcher geistlich-seelsorgerlicher Briefe, fing schon zu Böhmes Lebenszeit an. Dass sie nur handschriftlich existierten, verstärkte den Charakter eines Geheimbundes. Andrerseits zeigte der Kampf der lutherischen Orthodoxie, wie es an der Gestalt von Gregor Richter ablesbar ist, wie scharf die Ansichten Böhmes als heterodox verurteilt wurden. Damit zwang die Amtskirche die Anhänger Böhmes geradezu, ihre Ansichten geheim zu halten und im Verborgenen zu pflegen. Die bildreiche Sprache Böhmes, die zwischen den Lilien- und den Distelkindern unter den Christen unterschied, die das Streben nach der Jungfrau Sophia und dem Perlbäumlein als Kennzeichen der Vervollkommnung beschrieb, die Ichheit, Selbheit, tierische Begierde aber als die Gefährdung des Menschen verurteilte, die über die Essentien, Matrix und Tinktur des Menschen reflektierte, diese alchemistisch, manchmal auch kabbalistisch geprägte Sprache wurde bald zur Geheimsprache der miteinander Vertrauten, die sie unter Verdacht brachte und andere ausschloss. Eben diese esoterische Frömmigkeit, die die Böhme-Literatur immer wieder zu Glossaren und Begriffslexika veranlasst hat, muss aber auch viele angezogen haben. Innerhalb von nur sechs Jahren, von 1618 bis 1624, entstand das gesamte literarische Werk von Böhme (außer der „Aurora“), wobei unter seinen theologisch-theosophischen Werken die Schriften „Von der Menschwerdung Jesu Christi“ (1620) und „Von der Gnadenwahl“ (1623) besonders hervorgehoben seien. Böhmes Theosophie wollte Auslegung der Heiligen Schrift sein. Das zeigt kein Werk deutlicher als seine umfangreichste Schrift „Mysterium Magnum, oder Erklärung über das 1. Buch Mosis“ (1623). Er starb, nach einer Reise nach Schlesien erkrankt, in der Nacht vom 16. auf den 17. November 1624.
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Dietrich Meyer
Der schlesische Freundeskreis
Im Folgenden möchte ich kurz die unterschiedlichen Anhängerkreise Böhmes im 17. und 18. Jahrhundert charakterisieren. Unter den schlesischen Freunden ist an erster Stelle Abraham Franckenberg (1593–1652) 16 zu nennen, dessen Biografie Böhmes den ersten Gesamtausgaben beigegeben wurde, der auch seinerseits schriftstellerisch tätig war. Er widmete sich seit 1617 ganz dem Studium mystischer und spiritualistischer Literatur und verzichtete auf ein öffentliches Amt. Auch nahm er nicht mehr an Abendmahl und Beichte teil, worüber er sich in einem Sendschreiben vom Kirchengehen ausließ, „wie weit, und wie weit nicht, das Kirchen-gehen einem Gott-suchenden Menschen nützlich und nöthig sey“.17 Seine zahlreichen, etwa bei Gottfried Arnold aufgeführten Schriften18 sind heute nur schwer und nicht mehr vollständig zugänglich. Einige Titel zeigen deutlich seine Abhängigkeit von Böhme an, etwa: „Metamorphosis Oder Von Verwandlung des Menschen Auß einem Himmlischen, Englischen, Paradiesischen, in einen Irdischen, Thierischen, Sterblichen Stern-Menschen, Welcher wieder in die Erste Bildnüs Gottes gebracht werden muß Durch die Wiedergebuhrt.“19 Oder: „Oculus Aeternitatis Das ist Geistliche Erkentnüs Gottes, Oder Schrifftmäßige Erklärung viel und grosser Gottseliger Geheimnüsse“.20 Franckenberg hatte Böhme bei einem Gespräch Weihnachten 1622 im Hause des Adligen Theodor von Tschesch (1595–1649) kennengelernt, der zwei Apologien für Böhme verfasste.21 Tschesch war seit 1621 Rat am Hofe des Brieger Piasten Johann Christian und der Verfasser des ersten Teils des „Briegischen Bedenkens“ von 1627, der Böhmes Anschauungen erst nach einer gründlichen Prüfung seiner Gedanken anhand der Heiligen Schrift annahm. Er gab „Vertrauliche Sendschreiben vom inneren ewigen Leben“ mit Abdruck von Böhmes Sendschreiben heraus und warb für die Lektüre von dessen Schriften. Er sah in Böhme eine Bestätigung der biblischen Zeugnisse als den Propheten der „einigen wahren Religion“, die er in einer Schrift mit deutlicher Kritik an aller orthodoxen Zanktheologie einleuchtend darstellte.22 Der begeistertste der schlesischen Böhme-Anhänger war zweifelsohne Quirinus Kuhlmann (1659–1681), der in Anknüpfung an Böhmes prophetisches Bewusstsein sich selbst zum Verkünder der Endzeit berufen sah. „O Teutschland, 16 17 18 19 20 21
Vgl. Benz, Prophet, 85; Franckenberg, Briefwechsel; Gilly, Franckenberg. Franckenberg, Send-Schreiben. Vgl. Arnold, Unpartheyische Kirchen- und Ketzer-Historie, Teil 3, 94. Amsterdam 1677. Amsterdam 1677. Zwiefache Apologia, 1676, und Einleitung in den Edlen Lielien-Zweig, 1679, s. Benz, Prophet, 78–85. 22 Kurtzer Bericht, 1646.
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Teutschland, mercke es wohl, was dein Kronprophet Böhme geweissaget!“, schrieb er in seiner Zusammenfassung von Böhmes eschatologischen Vorstellungen, in den 150 „Weissagungen und Offenbarungen der Güldenen Lilien- und Rosenzeit oder der Glorwürdigsten Jesus-Monarchi“.23 Dass solche öffentliche Begeisterung für Böhme Gegenmaßnahmen und Streitschriften hervorrief, wie die des Wittenberger Theologen Abraham Calov24 oder des Hamburger Hauptpastors Johann Friedrich Mayer, der 1690 von den Amtskollegen die Ableistung eines Religionseides verlangte, verwundert nicht und zeigt, dass sich BöhmeAnhänger an vielen Orten in Deutschland fanden.25
3.
Die Niederlande und die erste Gesamtedition durch Johann Georg Gichtel
Für die Überlieferung der Theosophie Böhmes wurden die niederländischen Freunde Böhmes wichtiger als die Schlesier, denn hier konnten dessen Schriften ungehindert gesammelt und sogar publiziert werden. Die Rezeptionsgeschichte Böhmes in den Niederlanden ist inzwischen gut erforscht und die Tätigkeit der ersten Sammler, Abraham Willemsz van Beyerland (1586/7–1648) und Michael le Blon (1587–1658), sorgfältig und detailliert beschrieben worden.26 1634 edierte Beyerland Böhmes Aurora zum ersten Mal in deutscher Sprache. Längst vor Erscheinen einer deutschen Gesamtausgabe der Böhme-Schriften übersetzte Beyerland fast das gesamte Werk von Böhme seit 1635 ins Niederländische, 1643 brachte er übrigens auch seine Übersetzung des Corpus Hermeticum, Hermes Trismegistus, heraus. Sein Spürsinn für theosophische Literatur befähigte ihn zu einer „der größten Rettungsaktionen in der Geschichte der hermetischen Gnosis“.27 Die zentrale Gestalt für die Edition der Werke Böhmes wurde seit 1668, mit seiner Übersiedlung nach Amsterdam, Johann Georg Gichtel (1638–1710). Dieser hatte sich durch den Einfluss Friedrich Brecklings, der Pfarrer in Zwolle war, um 1664 dem mystischen Spiritualismus zugewandt und gründete 1674 eine „Jesusliebende Gesellschaft“ mit etwa 30 Anhängern. Seit 1677 widmete er sich ausschließlich geistlichen Übungen, Gebet und Askese und dem erbaulichen Briefwechsel mit seinen Freunden. Dank deren Unterstützung gelang ihm die erste Gesamtausgabe der Schriften Jakob Böhmes in deutscher Sprache im Jahre 1682, 23 24 25 26 27
Abgedruckt in: Kuhlmann, Neubegeisterter Böhme; zit. nach Benz, Prophet, 145 Calov, Anti-Bohmius. Vgl. Mulsow, Hinkelmann. Vgl. Harmsen (Hg.), Böhmes Weg. Ritmann, Vision, 29.
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an der maßgeblich Professor Alhart de Raadt (1640–1716) beteiligt war. Es gehörte zu den schmerzlichsten Erfahrungen von Gichtel, dass ihn de Raadt 1685 mit anderen Mitgliedern, bis auf Johann Wilhelm Überfeld (1659–1731) verließ. Mit diesem zusammen konnte er ab etwa 1695 eine neue, weniger streng verpflichtende Gemeinschaft aufbauen, die nach seinem Tod unter der Leitung von Überfeld ein weites Netz von Freunden in ganz Europa umspannte. Zu diesem Netzwerk gehörten vorübergehend zahlreiche Persönlichkeiten des Pietismus wie Gottfried Arnold, der die beiden ersten Bände der Sendschreiben von Gichtel 1700 herausgab, das Ehepaar Johann Eleonore und Wilhelm Petersen und mehrere Mitarbeiter August Hermann Franckes.28 Nach Gichtels Tod übernahm Überfeld mit anderen eine siebenbändige Ausgabe von Gichtels Sendschreiben mit vorzüglichen Registern, in der er das Leben Gichtels auf 469 Seiten darstellte. Neben dieser Sammlung eines Kreises von Freunden, die man später nach Mt 22,30 Engelsbrüder nannte, wird man die geistliche Bedeutung Gichtels in einer bestimmten Popularisierung und Kanalisierung der Böhmeschen Gedanken sehen: 1) Gichtel hat zu allen Schriften Böhmes ausführliche und leicht verständliche Inhaltsangaben gemacht, die einen leichteren Zugang zu Böhme verschafften. Die schöpferische, funkelnde Sprache Böhmes wurde bei ihm weitgehend formalisiert und vereinfacht. In der von ihm und Überfeld in den Sendbriefen gebrauchten Stilistik prägte sie die zahlreichen kleinen Gruppen von Böhmefreunden, die sich im Untergrund hielten. 2) Gichtel schloss sich der Frömmigkeit Böhmes, auch seiner Lehre von den drei Prinzipien der Welt, seiner Kosmologie und Anthropologie sowie der Lehre vom androgynen Menschen an. Das heilsgeschichtliche Schema vom Fall Adams, der aus Fleischeslust wie die Tiere ein Weib begehrt, sein stetes Versuchtwerden vom Satan und dem Geist der Welt, seine Sehnsucht nach Rückkehr zu seinem Ursprung und seine mögliche Wiedergeburt, die das Ebenbild Gottes in ihm wiederherstellt, übernahm er von Böhme. Dabei ist der Streit Michaels mit dem Drachen, d. h. der geistliche Kampf innerhalb des Menschen zwischen dem spiritus mundi und dem Verlangen nach der himmlischen Jungfrau Sophia vielleicht noch stärker betont. Diesen Gegensatz zwischen Liebe und Zorn, Licht und Finsternis sieht er wie Böhme schon vor der Schöpfung in dem Abfall Luzifers von der ewigen Liebe Gottes „in ein eigenes Wollen, Wirken und Formen“ angelegt.29 Der innere geistliche Kampf wurde zum Kennzeichen des Christen. „Es darf auch keiner in Wahrheit den Namen eines rechtschaffenen, wahren Christen führen, der in diesem Streit
28 Vgl. Zaepernick, Briefwechsel, 88. 29 Gichtel, Theosophia Practica, 69.
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nicht vielmals unterlegen und wieder aufgestanden“ ist,30 und er verwies gern auf sein eigenes Leben, da er dieses innere Ringen „mit großem Ernst über 30 Jahre lang praktiziert“ habe.31 3) Was Gichtel nun aber von Böhme unterscheidet, ist sein Verständnis der Ehe. Da der wiedergeborene inwendige Mensch mit der himmlischen Sophia in einer geistlichen Ehe verbunden ist, ist jede irdische Ehe, jede unkeusche, fleischliche Beziehung von äußerster Gefahr. Und da Enthaltsamkeit in der Ehe schwierig zu verwirklichen ist, rät er überhaupt von der Ehe ab. Zum melchisedekschen Priesteramt des neuen Bundes ist nur befähigt, wer zur „völligen Verleugnung aller irdischen Liebe“ fähig ist.32 Solche Ehefeindlichkeit, nicht die bei Gichtel später zu beobachtende Ablehnung jeder Lohnarbeit als Zeichen des Vertrauens auf Gott, wurde zum Kennzeichen der Engelsbrüder.33 Das Melchisedeksche Priestertum war ihnen Kennzeichen des vollkommenen Menschen, der sich zugunsten seiner sündigen Mitmenschen für diese bei Gott einsetzt und Gottes Zorn im Gebet zu überwinden sucht. Darin unterschied Gichtel sich von Böhme, der verheiratet war und seiner Berufsarbeit nachging. Auch ist die Vorstellung der Jungfrau Sophia bei Gichtel geradezu personal gedacht als die geistliche Braut Adams bzw. des wiedergeborenen Menschen, wobei die Sophia nicht mit einer Person der Trinität zu verwechseln ist.34 4) Zwar legte Gichtel keinen besonderen Akzent auf eine Polemik gegen die Kirche seiner Zeit, aber für ihn war klar, dass der inwendige Christ „den allgemeinen Abfall der sogenannten Christenheit von dem Leben Jesu Christi, die Verwirrung der Sinne im äußerlichen Gottesdienst und den Babelstreit der vielerlei Religionen in der Welt um Gott und den wahren Gottesdienst“ durchschaut und sich von solchen Tendenzen distanziert.35 Die Ablehnung an der Teilnahme von Abendmahl und Taufe der Amtskirche, die die Sakramente allen Christen reicht, machte darum ein weiteres Charakteristikum der Engelsbrüder aus.
30 31 32 33 34
A. a. O. A. a. O., 65. A. a. O., 67. Vgl. dazu die „Kurze und einfältige Betrachtung des Ehestandes“ in: a. a. O., 93–103. Vgl. dazu Gichtels Brief an Anna Magdalena Francke, Zaepernick, Briefwechsel, 97. Das Bibelstellenverzeichnis zu Gichtels Theosophia Practica, 1722, zeigt die immer wieder zitierten Bibelstellen an: Gen 3,24; Ex 19,15; 1Sam, 21,45; Mt 11,12; Offb 9,8; 10,11f; 12,7–10. 35 Gichtel, Theosophia Practica, 74.
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4.
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Johann Wilhelm Überfeld und die Engelsbrüder
Als Gichtel 1710 starb, übernahm Johann Wilhelm Überfeld die geistliche Leitung und Seelenführung der Gichtelianer und vermochte den Kreis der Anhänger, da er offensichtlich organisatorische Gaben besaß, noch zu erweitern. Überfeld stammte aus Hattingen/Westfalen und wurde am 2. Februar 1659 als Sohn reformierter Eltern geboren.36 Er war das sechste von acht Kindern des Dietrich Überfeld und seiner Frau Maria geb. Biermann.37 1674 habe ihn sein Vater nach Frankfurt am Main gebracht, um ihn als Kaufmann ausbilden zu lassen. Dort habe er Tauler und andere mystische Schriften studiert, sich dann vor allem aber auf die Schriften Böhmes in der Gesamtausgabe von 1682 gestürzt und Kontakt zu Gichtel in Amsterdam geknüpft. Überfeld hat seinen geistigen Werdegang in einem Brief an Johann Gottfried Pronner (geb. 1667), einem engen Vertrauten von Gichtel, 1697 so beschrieben: „Ich war in meiner zarten Jugend inwendig von Gott ergriffen worden, sahe mich und alle Menschen neben mir von dem Zorn Gottes gefangen und fand niemand, dem ich meinen geistlichen Kampf eröfnen mögen.“38 1677, in seinem 18. Jahr, habe er sich mit Gott in einen festen Bund eingelassen, um ihm fortan zu dienen. „Allda hub sich der rechte göttliche Prozess in mir an: da musste ich 2 jahr in der allerschärfsten Feuerprobe und Gericht des Cherubs mit dem Feuerbrennenden Schwert stehen, da alles irdische in der Seelen abgefeget wurde.“39 Mitten im zweiten Jahr habe er „die allerfreundlichste Liebe Jesu“ erfahren, fand „die schwere Kaufmannschaft unerträglich“ und die Pflicht, zwei Herren zu dienen, als unmöglich. 1683 habe seine Erlösung genaht, als er sich ganz Gott hingab und sprach: „Mein Gott, ich wil mich lieber zu tod glauben, als durch unglauben in dieser miserie mich länger aufhalten. In dem augenblick erschien mir ein[e] überaus große Klarheit Gottes, die durch alle 3 principia in Geist, Seel und Leib in meinem Gemüt durchleuchtete“. „Nun war ich zwar durch gelegenheit des neugedruckten Böhmens mit diesem geliebten Bruder [Gichtel] etwan in Kundschaft gekommen, hatte aber doch noch kein wort von diesem geheimnis und wandel mit ihm gehabt; nun aber ward erst recht confirmiret, daß dieses der Mann in fremdem Land wäre, der mir vor wenig jahr auf mein ersuchen von Gott im gemüt gezeiget worden.“40
36 In den Görlitzer Mitglieder-Verzeichnissen wird häufig auch der 3. Februar genannt. Im Stammbaum Überfelds steht der 2. 2. 1659. Ich folge zunächst den Angaben von Reinhardt, Prüfungen, 320–338, wiedergegeben bei Bonheim, Überfeld, 365–381 und Wenzel, Schicksal, 93–95. 37 So der Stammbaum der Familie, Görlitz, Oberlausitzer Bibliothek: LA II 4e. 38 Theosophische Sendschreiben, Görlitz, Oberlausitzer Bibliothek: 5.00.13a, 1ff. 39 A. a. O., 3. 40 A. a. O., 5–7.
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Als seine verwitwete Schwester, mit der er „in gesellschaftlicher Kaufmannschaft stund, da der gantze Handel auf mich allein beruhete“, sich wieder verheiratete und seine Eltern ihren „Zorn“ über die Entscheidung des Sohnes überwanden, war er frei, im Mai 1684 von Frankfurt nach Holland zu ziehen, wo er engen Kontakt zu Alhart de Raad bekam und in dessen Nähe nach Leydersdorp bei Leyden zog. Da erschien ihm noch einmal „das sprechende Wort göttlicher Kraft“, „nun aber von Wort zu Wort sprechende, nicht mit bildlichen Worten, und doch vernehmlich, beßer als meine natürliche Muttersprache, auf art des ewig göttlichen Sprechens, wie Gott alle dinge durch sein Wort geschaffen oder ausgehallet hat, und war also: ‚Ich habe dich von allen Stricken und Banden los gemacht‘“.41 Am Ende dieses handschriftlichen Briefbandes wird diese Audition von dem Abschreiber als Erscheinung der „Sophia“ bezeichnet, wenn er schreibt: „1683 wurde die Weißheit Gottes ihme einvermählet und erschien ihm zum 2. Mal“. Überfeld kann die Beziehung zu Gichtel geradezu als ein eheliches Verhältnis bezeichnen, das er mit ihm am 20. Januar 1706 „als unser beyder Hochzeit“, „wo Gott Vater und Sohn in unser beyder Geist sich umhälset und in einem Spiegel seiner göttlichen Weißheit sich geschlossen“, vollzogen habe.42 Auch sei ihm die himmlische Jungfrau Sophia noch einmal 40 Tage vor dem Tod von Gichtel erschienen.43
Überfeld starb am 19. Juli 1731 in Leyden, wo er seit 1709 lebte. Sein geistiges Vermächtnis hinterließ er in seinen Briefen, die zunächst nur handschriftlich in Tausenden von Abschriften verbreitet wurden. Erst nach seinem Tod im Jahre 1740 brachten seine Anhänger einen Band „Auserlesene Extracten aus den gesalbten Briefens des Mannes Gottes Johann Wilhelm Überfeld“ heraus, einen stattlichen Band von 827 Seiten aus den Jahren 1685–1709; ein zweiter Band erschien nicht mehr. Die späteren Briefe, auch viele frühere, sind nur handschriftlich zugänglich, in denen uns häufig der Name der Adressaten erhalten ist. Sie sind schon deshalb unersetzlich, weil sich hier die persönlichen Beziehungen, Polemiken und Emotionen ausdrücken, die für den Druck gestrichen wurden. Das zentrale Thema des Auswahl-Bandes ist die Wiedergeburt oder die Beschreibung der „essentialen Transmutation, aus einem natürlichen ein himmlischer Mensch zu werden“.44 Überfeld fertigte Auszüge aus Böhmes Werk an, die er unter dem Titel „Der rechte Weg zum ewigen Leben“ 1683 herausgab. Diese Zitate aus Böhme zeigen sein ganz einseitiges Interesse an der soteriologischen Frage; die bildreiche, alchemistisch gefärbte Sprache Böhmes muss ihn fasziniert haben. Ein Beispiel möge dies belegen:
41 A. a. O., 8. 42 Brief an Theodor Schermer vom 25. 1. 1710 nach dem Tod von Gichtel am 21. 1. 1710 (Görlitz, Oberlausitzer Bibliothek: 5.00.13a, 161). 43 Vgl. Brief an Br. Pols vom 21. 3. 1710 (a. a. O., 61). 44 Überfeld, Extracten, 24.
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„Unsere arme Seele aber stehet in dem ringenden Feuer-Rad der Natur, in der Finsterniß, in lauter Unruhe, mit der irdischen Vernunft und der Creaturen befangen. Nun scheinet GOttes Licht in unsere natürliche Finsterniß; wodurch der Seelen Feuer geschwängert und begierig wird nach der Freyheit, GOtt und Himmelreich in sich auszugebären.“45
Diesen Prozess der Wiedergeburt dachte sich Überfeld nicht als mit dem Tode abgeschlossen, sondern erwartete, dass „halb erneuerte Seelen“ nach ihrem Tod „ein scharf Feuer der Läuterung“ bevorstehe, ehe sie Engel werden können.46 Wie Gichtel zitierte er gern das Wort Mt 11,12 in positivem Sinn, etwa wenn Überfeld einem Bruder schreibt: „Ich zweifle nicht, du werdest dem Reiche Gottes Gewalt anthun, und dasselbe durch ernstliches Gebet zu dir reissen“.47 Das melchisedekische Priestertum gewann bei ihm eine geradezu missionarische Dimension, was er in der Bibel und bei Böhme vorgegeben fand: „Ihr sehet, was das Priesterthum des neuen Bundes ist, nemlich, seine Seele als ein Fluch und Verbannung für alle Menschen aufzuopfern, und des Volks Sünde tragen: aus dieser rauhen wilden Natur GOtt viel Kinder in sein Reich ausgebären, Esaiae 54 [=53], dem Zorn GOttes immerdar entgegen stehen, daß er sich nicht entzündet, Aurora c.15, v. 19, nimmermehr vom Tempel kommen; sondern mit dem Oel der Liebe das göttliche Feuer auf dem Altar in der Seelen immer brennend unterhalten.“48
Überfeld korrespondierte mit Freunden in Berlin, Potsdam, Leipzig, Dresden, Halle, Magdeburg, Weimar, Glaucha, Merzien, Danzig, Königsberg, Bremen und Aurich, ja auch mit Freunden in England. Und weil er die Korrespondenz gar nicht bewältigte, traten andere wie Johann Gottfried Pronner (1667–1741) mit ein. Zu den Korrespondenten zählten nicht wenige Adlige, wie die Familien von Schlegel auf Zehringen und Merzien (Anhalt), von Henkel zu Donnersmarck, von Morawitzky, von Liedlau, von Hermsdorf, von Solms.49 Von diesen wurden Gichtel und Überfeld als „Parentes“ verehrt, freilich nicht ohne Kritik und keineswegs in sklavischer Abhängigkeit.50 Dennoch wird man feststellen müssen, dass Überfeld durch seine enorme Korrespondenz die Frömmigkeit der kleinen, im Verborgenen lebenden Gemeinschaften bis ins 20. Jahrhundert geprägt und ihnen sein Böhme-Verständnis vermittelt hat. Er konnte alle Böhme-Handschriften in seinen Besitz bringen, und sein größtes Verdienst war sicherlich, dass er die bis heute maßgebliche Böhme-Ausgabe von 1730 mit seinem Mitarbeiter Pronner und den Korrektoren Johann Caspar Tröger und Franz Michael Clinge 45 46 47 48 49 50
A. a. O., 30–35, hier 30. A. a. O., 20. A. a. O., 3. A. a. O., 13. Vgl. Daniel, Bedeutung, 279–281. Vgl. dazu a. a. O., 276f, wo u. a. auf die selbstständigen Gichtelianer in Altona hingewiesen wird, die zum Teil verheiratet waren und sich sozial engagierten.
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in Leipzig herausbrachte. Die Böhme-Manuskripte wurden fortan von seinen Nachfolgern, unbeachtet von der Öffentlichkeit, gehütet, zuletzt in Linz am Rhein, wo sie 1943 von der Gestapo beschlagnahmt wurden.51
5.
Die Anhänger Böhmes in der Schweiz, in England und in Württemberg
Die Gemeinschaft der Engelsbrüder verbreitete sich seit Mitte oder Ende des 18. Jahrhunderts auch in der Schweiz, wie Mitgliederlisten aus dem Berner Oberland zeigen.52 Am 3. Dezember 2000 verstarb in Fehraltorf (Kanton Zürich) das letzte Mitglied der dortigen Anhänger Gichtels, und damit wurde der Bestand an Drucken und Briefen dem Gemeindearchiv übergeben. Jürgen Seidel hat begonnen, die Geschichte der Gemeinschaft der „Neugläubigen“, wie man sie im Kanton Zürich nannte, aufzuarbeiten. Er hat ihre Anfänge auf Hans Jakob Rüegg von Widen zurückgeführt, der 1773 nach einem Aufenthalt in Holland in die Schweiz zurückkehrte und einen Freundeskreis um sich sammelte, der aus Amsterdam mit Schriften versorgt wurde. Wichtigste Gestalt dieser Gemeinschaft wurde Baron Carl Joseph von Campagne (1751–1833) aus Berlin, der nach seinem Dienst beim preußischen Militär in der Kirche keine Glaubensgewissheit mehr fand, 1780 auf Schriften Jakob Böhmes stieß und durch die Bekanntschaft mit einem Gichtelianer sich dessen Gemeinschaft anschloss. Der aus einer Hugenottenfamilie stammende Sohn eines Konsistorialrats lebte in größter Zurückgezogenheit und wendete alles Vermögen, das er besaß, zur Unterstützung von Armen und Bedürftigen auf. Er hatte guten Kontakt zum Ortspfarrer und vertrat ein überkonfessionelles Christentum im Geiste Gichtels und Überfelds. Die Briefauszüge Gichtels gab er neu in sechs Teilbänden als Lesetexte für jeden Tag des Jahres unter dem Titel: „Gesammelte Auszüge für Kinder guten Willens, die mit Ernst dahin streben, miteinander in Einem Liebe-Geist Jesu zu leben und zu sterben“ (1824–1826) heraus, und diese Auszüge wurden jeweils nach den Mahlzeiten gelesen. Doch sammelte man sich auch zum Bibelstudium, wie überhaupt die für die Engelbrüder typische Sprache bei ihm fehlt. Die von Seidel edierten Neujahrswünsche rufen in schlichter biblischer Sprache zu Selbstverleugnung und lebendiger Jesusliebe auf.53 Zu den frühesten Editionen der Werke Böhmes gehören die Übersetzungen ins Englische durch John Sparrow (1615–1665), die mit der Lebensbeschreibung 51 Vgl. Wenzel, Schicksal. 52 Vgl. Görlitz, Oberlausitzer Bibliothek, LA II 106b. 53 Vgl. besonders das „Denckmal auf das Jahr 1829“, Seidel, Gichtelianer in der Schweiz, 162– 186.
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Böhmes durch Durand Hotham 1644 eröffnet wurden.54 Einflussreicher Vertreter der englischen Behmenists wurde der Dissenter John Pordage (1607–1681), der sein Pfarramt aufgab und im Anschluss an Böhme in seinem Werk „Sophia, das ist die Holdseelige ewige Jungfrau der Göttlichen Weisheit“ (Amsterdam 1698) eine eigene Sophienlehre entwickelte.55 Zu seinem Freundeskreis in London zählte die Prophetin Jane Leade (1624–1704), mit der er nach dem Tode ihres Mannes 1670 zusammenlebte. Leade schaute in ihren Visionen die himmlische Jungfrau Sophia, die sie als ihre „natürliche Mutter“ verstand, betonte aber stärker als Pordage die prophetischen und endzeitlichen Traditionen Böhmes, so dass sie die Sophia geradezu als endzeitliche Heilsmittlerin verstand, deren Visionen sie in ihrem umfangreichen Tagebuch niederschrieb. Über Böhme hinaus vertrat sie die Lehre der Allversöhnung. Erst nach dem Tod von Pordage gründete sie eine philadelphische Gesellschaft, um die zerstreuten, verborgenen Glieder der wahren Kirche aus allen Konfessionen zu sammeln.56 Da ihre Schriften sehr bald nach Erscheinen durch den aus Nürnberg stammenden Mediziner Loth Fischer übersetzt und in Amsterdam gedruckt wurden, konnten ihre Anschauungen schnell in Deutschland und Holland rezipiert werden und übten einen starken Einfluss auf den deutschen radikalen Pietismus (Gottfried Arnold, Ehepaar Petersen, auch Nikolaus Ludwig von Zinzendorf u. a.) aus. Unter Philadelphia verstand man, nach Offb 3,7–13, die wahre Kirche der Wiedergeborenen, die Gemeinde der Endzeit.57 Im Unterschied zu den Gichtelianern zogen sich die englischen Philadelphier nicht von der Öffentlichkeit zurück, sondern warben um Anhänger und Einfluss ihrer Gedanken. Eine andere Traditionslinie führt von Böhme über Friedrich Christoph Oetinger in die Philosophie. Oetinger ist unter den Pietisten derjenige, der sich am weitesten Böhme angeschlossen hat, wenn auch in völlig selbstständiger Weise. Er fand bei Böhme im Unterschied zur Aufklärungsphilosophie ein dynamisches Gottesverständnis, eine umfassende Sicht Gottes als Schöpfer und Erlöser, eine unmittelbar-intuitive Art der Erkenntnis, der Zentralschau, die dann auf den schwäbischen Pietismus und philosophischen Idealismus weitergewirkt hat.58 Diese Linie führt zu Michael Hahn, der zweimal in einer Zentralschau eine
54 Vgl. Hotham, The Life of one Jacob Boehmen, London 1644. 55 Vgl. ferner: Pordage, Theologie Mystica, or the Mystic divine of the aeternal invisibiles, London 1683. 56 Siehe ihr Buch: Leade, The Revelation of Revelations, London 1683, vgl. Becker-Cantarino, Jerusalem. 57 Vgl. Vogt, Philadelphia, 842. 58 Vgl. Wehr, Aspekte, 182–186. Oetinger, Genealogie, passim.; ders., Irdische und himmlische Philosophie, Frankfurt und Leipzig 1765.
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Böhme verwandte Erleuchtung Gottes erfuhr und die für Schwaben so typischen Hahn’schen Gemeinschaften anregte.59 Trautwein kann urteilen: „Deshalb [wegen seiner Gotteserfahrung] steht Hahn Böhme letztlich näher als Oetinger. Auf diese engere Beziehung weisen das Erlebnis der Zentralschau, das Sendungsbewußtsein des ungelehrten Laien, der grüblerische Tiefsinn, die Begriffe der Gotteslehre und der Anthropologie, die Stellung zur Ehe und die bei beiden vorhandene empirische Metaphysik.“60
Das gilt auch für Hahns kritische Einstellung gegenüber der Kirche in seiner Forderung des Ausgangs aus Babel, und es zeigt sich in seiner Kritik an dem ihm zu gefühlsbetonten herrnhutischen Verständnis des Kreuzestodes Christi, das er durch die Erkenntnis von „Gottes Weisheitsfülle“ ergänzen möchte.61 Es sei ferner darauf hingewiesen, dass sich in Württemberg eine lebendige Auseinandersetzung mit dem Erbe Böhmes immer erhalten hat, die wohl weiß, dass Böhmes Erkenntnis nichts für die „Rechtgläubigen“ ist, die „auf eine von außen, ohne Umkehr des Willens, ohne Wiedergeburt zugerechnete Gerechtigkeit und Gnade sich verlassen“, und doch in ihrer Ichheit gefangen bleiben und „höchstens zu einer Scheinfreiheit gelangen“.62
6.
Abschließende Beurteilung
Böhme wird heute gern mit Hegel als erster Philosoph in Deutschland bezeichnet63, und es mag problematisch erscheinen, die Spiritualität Böhmes ohne Berücksichtigung seiner philosophischen Impulse auf seine geistlichen Schriften zu reduzieren. Aber wenn die orthodoxe lutherische Kirche Böhme im 17. und 18. Jahrhundert bekämpfte, so stritt sie gegen ihn als religiösen Schriftsteller und glaubte in seinen theosophischen Anschauungen eine Gefahr für die Amtskirche zu sehen. Böhme lehnte die „zugerechnete Gerechtigkeit“ Gottes als unzureichend ab und drängte auf die „eingeborne Gerechtigkeit aus Gottes Wesenheit“, was einen Angriff auf die reformatorische Rechtfertigungslehre bedeutete.64 Der Christ muss nach Böhme immer im Kampf mit der äußeren verderbten Welt, mit dem spiritus mundi und der Vernunft, mit Fleisch und Satan, wie Gichtel sagen würde, stehen:
59 60 61 62 63 64
Vgl. dazu Trautwein, Theosophie. A. a. O., 280. A. a. O., 254. Claassen, Böhme, Bd. 1, Vorwort, XIII. Vgl. Hegel, Vorlesungen, 300. So im Sendbrief 20,7.
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Denn „nur durch den Streit wird das große Arcanum eröffnet und die ewigen Wunder in Gottes Weisheit aus der seelischen Essenz offenbar“, „da Gottes Zorn und Liebe, gleichwie Feuer und Licht im Streite ist“.65 Überfeld konnte das auch so ausdrücken und richtete sich damit gegen eine voreilige Theologie der zuvorkommenden Gnade: „Das ist aber des Teufels falsche und hurische Liebe, daß die Creatur will von Gott geliebet seyn, und selber nicht lieben – das ganze Werk unserer Erneuerung und Heiligung kommt auf uns an; Böhm schreibt: Ist der Ernst bey dir groß, so ist er auch bey deinem Wiedergebärer groß“.66 Böhme konnte das auch so sagen: „Wie du bist, also ist auch die ewige Geburt in Gott“.67
Dass diese „christlich-existentielle ‚nachlutherische Gnosis‘“68 von der offiziellen Kirche als Verfälschung des Evangeliums angesehen werden musste, wird man ihr zugutehalten.
Literatur Quellen Arnold, Gottfried, Unpartheyische Kirchen- und Ketzer-Historie vom Anfang des Neuen Testaments biß auf das Jahr Christi 1688, Teil 1–4 in 2 Bänden, Frankfurt/Main 1729, Nachdruck Hildesheim 1967. Böhme, Jacob, Christosophia. Ein christlicher Einweihungsweg, hg. und kommentiert von Gerhard Wehr, Freiburg 1975, 31979. –, Theosophische Sendbriefe, hg. und kommentiert von Gerhard Wehr, Bd. 1–2, Freiburg 1979. –, Theosophia Revelata, Das ist: Alle Göttliche Schriften des Gottseligen und Hocherleuchteten Dt. Theosophi Jacob Böhmens, Leiden 1730, Neudruck von Will-Erich Peuckert, Bd. 1–11, Stuttgart 1955–1961. Bd. 1 enthält den Abdruck der Erstlingsschrift Aurora. Calov, Abraham, Anti-Bohmius in qvo docetur: Qvid habendum de secta Jacobi Boehmen sutoris Goerlicensis? et an qvis invariatae August. Confessioni addictus sine dispendio salutis ad eandem de conferre vel in eadem perseverare possit, Wittenberg 1684. Claassen, Johannes, Jakob Böhme. Sein Leben und seine theosophischen Werke, Bd. 1–3, Stuttgart 1885. Franckenberg, Abraham von, Briefwechsel, eingeleitet und hg. von Joachim Telle, StuttgartBad Cannstadt 1995. –, Theologische Send-Schreiben Von dem rechten Kirchen-gehen, An Magr. G. S. einen Hoff-Prediger, Darinnen auß wahrem Grunde und Verstand der Heyl. Schrifft, wie auch nach der fürnehmsten alten und neuen Theologen ihren Zeugnissen, kurtzlich darge65 66 67 68
A. a. O., 20,12f. Der rechte Weg zum ewigen Leben, 209. De Triplici Via Hominis IV,25. Pältz, Böhme, 749.
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Thomas Illg
Lutherisch-orthodoxe Spiritualität – Johann Gerhard (1582–1637)
Johann Gerhard ist bekannt geworden als Dogmatiker der lutherischen Orthodoxie. Er wird als dritter Mann der Reformation bezeichnet neben Martin Luther und Martin Chemnitz. Sein dogmatisches Hauptwerk, die zwischen 1610 und 1622 entstandenen Loci Theologici, wurden schon einmal die „Summa theologica der lutherischen Orthodoxie“ genannt und Gerhard der „Thomas von Aquin des Luthertums“ oder auch der „Kirchenvater der lutherischen Orthodoxie“.1 Aufgewachsen in Quedlinburg, studierte er ab 1599 in Wittenberg Theologie, wechselte 1601 vorübergehend in die medizinische Fakultät und setzte 1603 sein Studium in Jena fort. Im Sommer 1603, nachdem Gerhard in Jena der philosophische Magistergrad verliehen worden war, nahm er dort eine akademische Lehrtätigkeit auf und widmete sich zunächst Fragestellungen der aristotelischen Philosophie. Da Georg Mylius von Jena nach Wittenberg wechselte, vertrat ihn Gerhard ab Oktober in der theologischen Fakultät. Im Mai 1604 wandte sich Gerhard nach Marburg, dort studierte er hauptsächlich bei Johannes Winckelmann und Balthasar Mentzer. Als Begleiter Mentzers nahm er im Frühjahr 1605 an einer Studienreise nach Stuttgart, Tübingen und Straßburg teil. Im August desselben Jahres verließ Gerhard Marburg, nachdem er das militärische Eingreifen des Kasseler Landgrafen gegen Marburger Bürger miterlebt hatte, die sich, gegen die zwangsweise verordnete Übernahme des reformierten Bekenntnisses opponierend, zum lutherischen Glauben gehalten hatten. Nach einem weiteren kurzen Aufenthalt in Jena, wo im November 1606 Gerhards Promotion erfolgte, wurde er vom Coburger Herzog Johann Casimir gedrängt, die Superintendentur in Heldburg zu übernehmen. Zu den Aufgabenbereichen des 23jährigen Gerhard gehörten neben den gottesdienstlichen und seelsorglichen Pflichten die Entwicklung einer neuen Kirchenordnung, die Durchführung von Visitationen und die Aufsicht über die Disputationen am Coburger Gymnasium. 1615 wurde Gerhard zum Generalsuperintendenten in Coburg berufen. 1616 nahm er den Ruf auf eine theologische Professur in Jena an. Zuvor hatte Gerhard 1 Vgl. Steiger, Kirchenvater, 61.
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Angebote aus Wittenberg und Jena ablehnen müssen, da Johann Casimir den Wechsel untersagt hatte. Bis zu seinem Tod am 17. August 1637 blieb Gerhard in Jena.2 Gerhards akademische Vita ist beeindruckend. Im Blick ist schnell der kirchenleitende Theologe, der Dogmatiker und der Hochschullehrer, dessen Produktivität bereits von Zeitgenossen bestaunt wurde.3 Gerhards Spiritualität und seine Frömmigkeitsliteratur fanden dagegen über längere Zeit weniger Beachtung.4 Ähnlich gewichtete die Orthodoxieforschung ihre Interessen, denn die Frömmigkeit dieser Epoche und ihre Meditations- und Erbauungsliteratur wird erst in jüngerer Zeit intensiver wahrgenommen. Und noch ein weiterer Umstand verengte das Blickfeld der Forschung: Die lutherische Orthodoxie stand unter dem Verdacht, die Förderung der Frömmigkeit in ihrem Ringen um dogmatische Themen vernachlässigt zu haben.5 Diese Einschätzung ist vergleichsweise alt, bereits Gottfried Arnold hatte dieses Vorurteil in seiner „Kirchen- und Ketzerhistorie“ (1699–1700) aufgebaut.6 Winfried Zeller kam in den 1950er-Jahren zu einem ähnlichen Ergebnis und formulierte die These, es habe im letzten Drittel des 16. Jahrhunderts eine tiefe Krise der Frömmigkeit gegeben.7 Die Zellersche These hat in der Forschung eine breite Wirkung entfaltet.8 Verschiedene Krisenszenarien, die das Lebensgefühl um die Wende zum 17. Jahrhundert mitgeprägt haben, werden in der Literatur genannt.9 Allerdings wurde zentralen Argumenten dieser Theorie mit guten Gründen widersprochen, sodass ein differenzierteres Bild der lutherisch-orthodoxen Frömmigkeit möglich geworden ist.10
2 Vgl. Baur, Leuchte Thüringens, 340–342; Steiger, Gerhard, 558–560; ders., Kirchenvater, 58– 60. 3 In seiner Leichenpredigt auf Gerhard urteilte Johann Major: „Er hat viel schoene, stattliche und nützliche bücher in lateinischer sprach geschrieben, wodurch Ihm Gott einen Nahmen gemacht, wie der grossen Nahme auf Erden, aber keines hat er zweymahl um oder abgeschrieben, noch schreiben lassen, sondern so geschwind die cogitata und der Kopf, so geschwind die Faust, kein brunn quillet so reichlich, als es bey ihm flosse, wenn er die Feder ansetzte“, Fischer, Vita Ioannis Gerhardi, 376, Anm. i. 4 Vgl. Steiger, Kirchenvater, 62. 5 Hoffmann weist auf die in der Forschung produzierten Zerrbilder der Orthodoxie hin, etwa die Reduzierung der Epoche auf die Schultheologie. Diese einseitige Wahrnehmung entstand, da die bestehenden Beziehungen zwischen Theologie, Kirche und Frömmigkeit nicht berücksichtigt wurden. Vgl. ders., Protestantischer Barock, 156–162. 6 Vgl. Leube, Reformideen, 4–21. 7 Vgl. Zeller, Protestantische Frömmigkeit, 87–92. 8 Vgl. die Übersicht in Sträter, Meditation, 1–33. 9 Vgl. Jakubowski-Tiessen, Einleitung, 7–11. 10 Vgl. Axmacher, Praxis Evangeliorum, 306–314; Baur, Lutherisches Christentum, 43–54; Leube, Reformideen, 140–162; Matthias, Frömmigkeitskrise, 27–36.
Lutherisch-orthodoxe Spiritualität – Johann Gerhard (1582–1637)
1.
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Spiritualität als Aufgabe der Theologie
Gerhard galten Spiritualität und akademische Theologie als Felder, die eng aufeinander bezogen sind. Die inhaltliche Verflechtung beider Bereiche verdeutlichte er im Vorwort zu seinen 1606 im Druck erschienenen Meditationes Sacrae11 (Gottselige Andachten) durch einen Vergleich der Theologie mit der Medizin: Wie es das Anliegen der Medizin ist, Gesundheit zu erhalten und von Krankheit zu heilen, so hat die Theologie zu zeigen, wie ein Mensch von Sünde befreit und in der Gnade Gottes erhalten werden kann.12 In seinem Vergleich der Disziplinen rezipiert Gerhard die Tradition der theologia medicinalis (medizinischen Theologie), die bis in die Alte Kirche zurückreicht und im Kontext reformatorischer Theologie, nicht zuletzt bei Luther und Melanchthon, breit zu belegen ist.13 Die Überzeugung, dass die Theologie die Aufgabe einer Heilkunst habe, schlägt sich in den Meditationes Sacrae an vielen Stellen nieder.14 Laut Gerhard lässt sich die Theologie auch deshalb mit der Medizin vergleichen, weil sie eine praktische Wissenschaft ist. Bereits Luther hatte sie als eine solche klassifiziert.15 Eine praktische Wissenschaft (scientia practica) erarbeitet und verwaltet theoretisches Wissen, um es in praktischer Hinsicht und um einer theoretisch reflektierten Praxis willen anzuwenden.16 Das Ziel theologischer Arbeit sah Gerhard daher in der Anleitung zu einer rechten praxis pietatis, einem gelebten, praktizierten Glauben. Sein Argument stützt Gerhard nicht allein biblisch mit Joh 13,17 und 1Kor 13,2; er zitiert auch Ignatius, (Pseudo-) Justin, (Pseudo-) Basilius und Augustin, die ihm die zentrale Bedeutung der Nächstenliebe und der Nachfolge Christi für die christliche Existenz vorgesprochen haben.17 Zudem nennt Gerhard die mittelalterlich-mystische Schrift De imitatione Christi (Von der Nachfolge Christi), die er als ein wertvolles geistliches Werk empfiehlt, und zitiert daraus die These, die imitatio Christi sei
11 Gerhards Meditationes sind neben Johann Arndts Büchern von wahrem Christentum (1605– 1610) das erfolgreichste lutherische Erbauungsbuch. Sie wurden in 242 Auflagen produziert und in fast alle europäischen Sprachen übersetzt, vgl. Steiger, Gerhard, 560f. 12 Vgl. Gerhard, Meditationes (1606), 13f. 13 Vgl. a. a. O., 16, Kommentar zur Stelle. Zur theologia medicinalis im Luthertum vgl. Steiger, Medizinische Theologie, 3–136. 14 Vgl. Koch, Therapeutische Theologie, 33f. 15 Vgl. Luther: „Vera theologia est practica, et fundamentum eius est Christus, cuius mors fide apprehenditur. […] Speculativa igitur theologia, die gehort in die hell zum Teuffel,“ WA TR, 1, Nr. 153,16–21. Zur lutherischen Bestimmung der Theologie vgl. Schwöbel, Theologie, 261f. 16 „Denn die leibliche Artzeney–Kunst hat auch mit der Erkenntniß verschiedener Dinge zu thun, deswegen aber ist sie nicht eine blos theoretische Wissenschaft zu nennen; weil sie sich eben um diese Erkenntniß wegen der künftigen Ausübung, und daß sie ordentlich zu derselben gelangen möge, bekümmert“, Gerhard, Meditationes (1607), 353. 17 Vgl. Gerhard, Meditationes (1606), 19f.
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die Voraussetzung rechter Christuserkenntnis.18 Bereits an dieser Stelle wird deutlich, dass Gerhard nicht allein lutherische Schriftsteller in sein Denken einbezieht, sondern auch altkirchliche, mittelalterliche und mittelalterlichmystische Quellen. Bei Gerhard befindet sich die Theologie also in einem intensiven Gespräch mit der Spiritualität; dies entspricht bereits ihrer wissenschaftstheoretischen Bestimmung. Gerhard unterstreicht diese Auffassung mit dem Hinweis, dass die Theologie ihr Ziel verfehle, wenn die erkannte und in Disputationen erörterte Gotteserkenntnis nicht das Leben präge.19 Auf der Suche nach einer Gerhardschen Spiritualität entsteht die Frage, welche Termini dem modernen Begriff der Spiritualität in Gerhards Werk und in der lutherisch-orthodoxen Frömmigkeitsliteratur entsprechen könnten. Mögliche Äquivalente wären der Begriff der Frömmigkeit, der als Übersetzung der lateinischen Lexeme pietas und devotio fungiert, und speziell der Begriff der praxis pietatis, der die vielfältigen Ausdrucksweisen des gelebten Glaubens in den Blick nimmt. Zu denken wäre aber auch an den Glauben, die fides, die laut Art. 20 des Augsburgischen Bekenntnisses als Zutrauen zu Gott (fiducia) aufzufassen ist und so zu einem Beziehungsbegriff wird.20 Nicht zuletzt kommt das Wirken Gottes am inneren Menschen in Betracht oder am Herzen, wie Gerhard schreiben kann,21 das sich durch das Werk des Heiligen Geistes, also spiritualiter vollzieht.
2.
Einsichten in Gerhards spirituelle Lebensbewältigung
Aus dem privaten Nachlass Gerhards stammen zwei Schriften, die Einblicke in seine spirituelle Lebensbewältigung während einer ernsten Krise ermöglichen. Es handelt sich um ein Bändchen mit 20 meditativen Texten, die Gerhard für den eigenen Gebrauch verfasste, und um ein auf den 29. Dezember 1603 datiertes Testament, das ein ausführliches Glaubensbekenntnis enthält.22
18 „Asscribam huc locum ex egregio quodam libello. Qui vult plene & sapide verba Christi intelligere oportet ut totam vitam suam studeat illi conformare“, a. a. O., 20. 19 „Quod si Christianae religionis finis ac perfectio non est nuda γνῶσις sed πρᾶξις, quam paucos hodie invenies vere Christianos! Multum vbique scientiae, conscientiae parum: Rectißime quidem fit, quod ὀρθοδοξία libris, Disputationibus, concionibus & modis omnibus defenditur, sed & vita profeßioni Christianae ut respondeat, opera danda“, a. a. O., 19f. 20 „Dann also wird vom Glauben gelehret ad Hebraeos am 11., daß Glauben sei nicht allein die Historien wissen, sonder Zuversicht haben zu Gott, seine Zusag zu empfahen“ BSLK, 80,2–6. 21 „Wenn also Christus ins Hertz geprediget/ vnnd der jnnerliche Mensch recht erbawet wird/ so folgen die eusserlichen Werck von jhnen selber“, Gerhard, Postilla, Vorrede, 9. 22 Vgl. Gerhard, Meditationes (1603/1604). Gerhards Testament liegt als kommentierte Edition vor, in: Steiger, Studien zu Theologie und Frömmigkeit, 159–227; vgl. auch Baur, Leuchte Thüringens, 340f.
Lutherisch-orthodoxe Spiritualität – Johann Gerhard (1582–1637)
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Mit der Niederschrift der Meditationstexte hatte der 21-jährige Gerhard im Winter 1603/04 in Jena begonnen.23 In der Zeit um den Jahreswechsel war Gerhard erkrankt, wie eine Randnotiz in seinen Meditationes anzeigt, die Gerhard mit dem Datum des 1. Januar 1604 versehen hat.24 Vermutlich wurde seine Krankheit durch seine anstrengende berufliche Situation mitverursacht, da er als junger Akademiker in Jena stark gefordert war.25 Aus seinem Testament wissen wir, dass Gerhard sich auf sein Sterben vorbereitete.26 Er erwähnt darin auch sein Meditationsbuch, das er zu diesem Zeitpunkt bereits begonnen hatte und das wahrscheinlich schon recht weit gediehen war. Wie er selbst sagt, waren die Betrachtungen für ihn ein wichtiger Teil seiner Vorbereitung auf das Sterben. „Aber ich tröste mich der vberschwenglichen Barmhertzigkeit Gottes vndt des vberthewren verdiensts Christi, weill auch dieses alles weitleuftig außzufuhren mier itzo zulang wurde, referier ich mich auff meine lateinische Meditationes welche ich in ein pergamenbuchlein in 8tavo zusammengeschrieben, vndt soll der Trost welcher darinnen verfaßet vndt auffgezeichnet mitten im Tode mich erhalten.“27
2.1
Meditation als Aufstand gegen Krankheit und Tod
Seine Meditationes Sacrae contra mortis terrorem profuturae (Gottselige Betrachtungen, nützlich gegen den Schrecken des Todes) bestehen aus 20 Texten, die als Homilia (Andacht), Exercitium (Übung) oder Meditatio (Meditation) betitelt sind; der letzte Text blieb unabgeschlossen. Gerhard fasste sie in lateinischer Sprache ab und notierte sie in ein Oktavbüchlein.28 Der Titel nennt bereits die Absicht, eine nützliche Hilfe gegen die Schrecken des Todes zu gewinnen. Auch die thematische Anlage des Buches spiegelt das Anliegen des Selbsttrostes wider.29 Den Rat, ein solches Trostbuch anzulegen, hatte Gerhard wahrscheinlich von Johann Arndt erhalten, der ihn bereits in seiner Schulzeit begleitete und später brieflich mit ihm in Kontakt blieb.30 Im Kontext lutherischer Frömmigkeit war diese Form der Selbstseelsorge durchaus verbreitet, sie gilt als ein „festgeprägter Topos lutherischer Frömmigkeit“.31 Neben gedruckten 23 Vgl. Koch, Therapeutische Theologie, 26f; Steiger, Nachwort, in: Gerhard, Meditationes (1606/1607), 635f. 24 Marginal notiert Gerhard: „In morbo Anno 1604. 1. Ianuar“, ders., Meditationes (1603/1604), 143, Anm. a. 25 Vgl. Steiger, Nachwort, in: Gerhard, Meditationes (1606/1607), 635. 26 Vgl. a. a. O.; Baur, Leuchte Thüringens, 340; Koch, Therapeutische Theologie, 26f. 27 Gerhard, Testament, in: Steiger, Studien zu Theologie und Frömmigkeit, 166. 28 Vgl. Steiger, Nachwort, in: Gerhard, Meditationes (1606/1607), 645. 29 Vgl. a. a. O.; Koch, Therapeutische Theologie, 28. 30 Vgl. Baur, Leuchte Thüringens, 338. 31 Vgl. Steiger, Nachwort, in: Gerhard, Meditationes (1606/1607), 636.
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Spruchsammlungen, die zu diesem Zweck produziert wurden, sind auch handschriftliche Zeugnisse bekannt geworden, etwa ein Büchlein aus dem Nachlass der Magdalena Meisner, der Ehefrau des lutherischen Theologen und in Wittenberg als Professor lehrenden Balthasar Meisner.32 Ihr Gebetbuch wirkt durch die Themen der darin notierten Gebete und Bibelworte wie ein Spiegel verschiedener Lebenssituationen.33 Gerhard eröffnet sein Meditationsbuch mit der Homilia „De Nostra cum Deo reconciliatione“ (Über unsere Versöhnung mit Gott). Ein Zitat aus Jes 53,4 bildet den ersten Satz; es steht dem folgenden Text als Kerngedanke voran und wird nachfolgend tröstlich ausgeführt sowie mithilfe weiterer alt- und neutestamentlicher Bibeltexte ausgelegt.34 Im zweiten Satz wendet sich das meditierende Ich mit einer Anrede in der zweiten Person an Christus und zieht den angesprochenen tröstlichen Inhalt in das beginnende Zwiegespräch hinein, indem es Jes 53,5f gesprächsweise umbildet und sich aneignet. „O Herr Jesus, was in uns ewige Strafen auf sich zieht, das hast du auf dich übertragen; die Last, die uns bis in die Hölle hinabgedrückt hat, hast du auf dich genommen: Verwundet bist du wegen unserer Ungerechtigkeit, geschunden wegen unseres Frevels; durch dein Blut sind wir heil; der Herr hat alle unsere Ungerechtigkeit auf dich gelegt.“35
In seiner christologischen Deutung des jesajanischen Gottesknechtliedes nimmt Gerhard die Aussage des Textes als eine an ihn gerichtete göttliche Verheißung auf, in der ihm zugesprochen wird, dass Christus seine Sünde auf sich genommen hat. Bereits Luther hatte empfohlen, biblische Texte auf diese Weise zu lesen und sich so das Evangelium anzueignen.36 Den Jesaja-Text interpretiert Gerhard zudem mithilfe der lutherischen Rechtfertigungslehre. Er wendet das Luthersche Konzept des Tausches und Wechsels an, demzufolge Christus die fremde, 32 Vgl. Meisner, Gebetbuch. Balthasar Meisner, Professor der Theologie in Wittenberg, und seine Frau Magdalena waren Zeitgenossen Gerhards. 33 Vgl. Steiger, Nachwort, in: Meisner, Gebetbuch, 111–124. 34 Der Beginn mit einem Bibelzitat erweist sich im Vergleich mit den weiteren Homilien des Bändchens als ein Strukturmerkmal. Anders ging Gerhard offensichtlich bei der Komposition der Meditationes und Exercitia vor. Auch wenn diese sehr eng an biblischen Texten orientiert sind, stellen sie häufiger einen Gedanken aus der geistlichen Tradition des Mittelalters, etwa (Pseudo-) Bernhards oder Gersons voran, der meditativ entfaltet wird. 35 „O Domine Jesu, quod in nobis meretur aeternas poenas, illud in te transtulisti; onus quod ad infernum usque nos depressurum erat, in te recepisti: Uulneratus es propter iniquitates nostras, attritus propter scelera nostra; Tuo livore sanati sumus; posuit Dominus in te iniquitatem omnium nostrum“, Gerhard, Meditationes (1603/1604), 88. 36 Vgl. Luthers Vorrede zur Kirchenpostille (1522): „Das hewbtstuck und grund des Euangelij ist, das du Christum tzuuor, ehe du yhn tzum exempel fassist, auffnehmist unnd erkennist alß eyn gabe und geschenck, das dyr von gott geben und deyn eygen sey, alßo das, wenn du yhm tzusihest odder hörist, das er ettwas thutt odder leydet, das du nit tzweyffellst, er selb Christus mit solchem thun und leyden sey deyn, darauff du dich nit weniger mügist vorlassen, denn alß hettistu es than, ia alß werist du der selbige Christus“, WA 10.1.1, 11,12–18.
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menschliche Schuld und den Tod auf sich nahm, um dem Glaubenden im Tausch das Leben und die eigene Gerechtigkeit als eine fremde Gerechtigkeit zuzueignen.37 Diesen Wechsel beschreibt Gerhard im Sinne eines Transfers zwischen Christus und dem Meditierenden: „Mirabilis omnino commutatio, transfers in te peccata nostra & donas tuam iustitiam, mortem nobis debitam tibi irrogas, & donas nobis vitam“ (Was für ein ganz und gar wunderbarer Wechsel: du nimmst auf dich unsere Sünde und gibst uns deine Gerechtigkeit, den Tod, der uns gebührt, legst du dir auf und gibst uns das Leben).38 In einem Schluss a minore ad maius hält sich das meditierende Ich schließlich vor Augen, dass Christus, der schon so bereitwillig die Sünde und alles Böse auf sich genommen hat, nun auch den Leib und die Seele des Menschen aufnehmen wird. „Darum kann ich“, Gerhard wählt nun die erste Person Singular, „nicht weiter an deiner Gnade zweifeln oder wegen meiner Sünde verzweifeln“.39 Der Angst des meditierenden Ichs vor dem göttlichen Gericht setzt Gerhard mit einem Verweis auf 2Kor 5,21 den tröstlichen Umstand entgegen, dass an Christus bereits das Gericht vollzogen wurde.40 So gelangt der angefochtene Betrachter zu einer neuen Perspektive. Er kann die Sünde als eine endliche, zeitliche Größe betrachten, der die ewig währende Gnade Gottes gegenübersteht, wie er mit einem Hinweis auf Ps 103,17 bekräftigt.41 Zu dieser ewigen, durch Christus erworbenen Gnade nimmt das meditierende Ich seine Zuflucht. Auf dem Weg zu dieser Gewissheit, die im meditativen Zwiegespräch mit Christus neu gefunden wurde, ermutigt sich das daniederliegende Ich in einem Soliloquium, aufzustehen und die eigene Sünde zu vergessen, da Gott sie auch vergessen habe: „Erige te anima mea et peccatorum tuorum obliviscere, quia oblitus eorum Dominus“ (Erhebe dich, meine Seele, und vergiss deine Sünden, denn Gott hat sie vergessen).42 „Erhebe dich, meine Seele!“ Diese Selbstaufforderung, aufzustehen und im Glauben den Aufstand zu wagen gegen den Tod, die Sünde und die Angst, kehrt in den ersten vier Homilien von Gerhards privatem Meditationsbuch wieder. Sie begegnet jeweils im Rahmen einer zusammenfassenden Aussage, in der sich das meditierende Ich den tröstlichen Inhalt der betrachteten Zusagen Gottes vor Augen führt, die es in den meditierten Bibelworten vernommen hat. Meditation ist bei Gerhard daher mehr als eine Strategie zur Selbstmotivation. Denn im Zwiegespräch mit Christus gewinnt der Meditierende neue Zuversicht, und diese 37 Vgl. Lienhard, Luthers christologisches Zeugnis, 103–108. 38 Gerhard, Meditationes (1603/1604), 88. 39 „Non igitur iam possum ullo modo dubitare de tua gratia, aut desperare propter mea peccata“, a. a. O., 88. 40 Vgl. a. a. O., 89. 41 Vgl. a. a. O., 91. 42 A. a. O., 89.
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wächst ihm von Gott her zu. Auf diese Weise eröffnet sich die Möglichkeit, eine neue Perspektive einzunehmen und in einen geistlichen Denk- und Erfahrungsraum einzutreten, in dem sich der Meditierende neu sehen lernen kann, nämlich im Lichte des Evangeliums. Gott selbst erhebt die Seele, so notierte es Gerhard in der fünften Homilia: Der gerechte Richter hilft der angefochtenen Seele, aufrecht zu gehen, während sie von allen denkbaren Verfehlungen angeklagt wird.43
2.2
Bibelauslegung und Dogmatik als Weg zur Gottesbegegnung
In der Homilia „De Beata Dei Nobiscum in caelis consociatione“ (Über die selige Vereinigung Gottes mit uns im Himmel) betrachtet Gerhard die endzeitlich verheißene Gottesschau der Erlösten, die visio beata.44 Auch hier wird seine Strategie der Selbstseelsorge deutlich. Das Zwiegespräch mit Christus geht von der Zusage aus, Wohnungen zu bereiten (Joh 14,2). Wiederholt wirft der Betrachter die Frage auf, wann die ungetrübte Gemeinschaft mit Gott endlich eintreten werde. Die Intensität des Verlangens entspricht dem Durst, der inmitten von Dürre quälend werden kann, wie es bereits der Beter in Ps 42,3 ausdrückte. Diesen Vers leiht sich Gerhard, um im Gespräch mit Christus Worte zu finden. Insgesamt ermöglicht es die Sprache der Homilia, den Wunsch, zur visio beata und zur Vereinigung mit Gott zu gelangen, mit einer starken affektiven Beteiligung auszusprechen.45 Im Verlauf der Homilia inszeniert Gerhard die visio beata mit biblischen Aussagen und Bildern wie auch mit Stoffen der Tradition. Auf diese Weise wird die an sich unbeschreibliche Gottesschau doch anschaulich und begreifbar und kann eine tröstliche Wirkung entfalten. Zunächst zeichnet Gerhard die visio beata ein in die biblische Tradition der Heimholung der Braut durch den geschmückten Bräutigam, wie sie etwa in Offb 19,7 vorgebildet ist. Die wartende Seele spricht Christus in zärtlichen Worten an als ihren liebenswürdigsten Bräutigam.46 Dann beschreibt Gerhard Sinnesempfindungen, die sich in der Gegenwart Gottes einstellen werden: Das Schauen Gottes wird nicht nur alle 43 „Accusatores illi omnes terrent me, sed tu iudex erigis me, tibi pater tradidit omne iudicium, omnia in manus tuas dedit“ („Alle jene Ankläger erschrecken mich, aber du, der Richter, richtest mich auf, dir hat der Vater das Gericht ganz übergeben, alles hat er in deine Hand gelegt“), a. a. O., 108. 44 Vgl. a. a. O., 96–99. 45 „O verum, & perfectum & plenum gaudium!“, a. a. O., 96; „O desideratam vitam!“, a. a. O., 97. 46 „O Iesu Christe sponse animae meae suavissime quando sponsam tuam in regium adduces palatium?“ („O Jesus Christus, süßester Bräutigam meiner Seele, wann wirst du deine Braut in deinen königlichen Palast hineinführen?“), a. a. O., 97.
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Freude übertreffen; es wird dem Gesichtssinn auch Schönheit sein, dem Geschmack wie Honig, dem akustischen Sinn wie der Klang einer Harfe, dem Geruchssinn wie ein Balsam und dem Tastsinn wie eine Blume. Gerhard bedient sich hier eines Gedankens, der in mittelalterlichen Quellen zu finden ist, etwa bei dem Carmeliter Johannes Carthenius (gest. 1580).47 Doch Gerhard nimmt auch seine Lust am Erkenntnisgewinn ernst, wenn er sich der visio beata widmet; er ist sich gewiss, dass Gott auch diesem Streben einmal entsprechen wird. Christus selbst wird in seiner menschlichen Natur gegenwärtig sein und über die verborgenen Geheimnisse des Heils sprechen. So werden in Gottes neuer Welt bereits den Kindern Geheimnisse offenbar sein, die den Lehrern der Kirche noch bis zum Ende der Zeit verborgen bleiben. Gerhard schöpft diesen Gedanken aus der Dogmatik, denn der christologischen Lehre zufolge legte Christus seine menschliche Natur nicht ab, als er zum Vater auffuhr.48 Das meditativ ausgestaltete Bild des predigenden Christus koloriert Gerhard mithilfe des Hoheliedes. So kann er den Klang der Stimme Christi als süß beschreiben und die Gestalt Christi als einen lieblichen Anblick. Marginal nennt Gerhard dazu Hld 2,14 als Bezugstext.49 Zu sehen ist hier, wie Gerhard die christologische Hohelied-Allegorese nutzt, um die im Glauben bestehende Christusbeziehung auch in affektiver Hinsicht auszugestalten.50 Diese Rezeption des Hoheliedes ist kein Spezifikum Gerhardscher Meditationspraxis, Motive aus dem Hohelied sind in der lutherischen Meditationsliteratur des 17. Jahrhunderts insgesamt stark verbreitet.51 Insbesondere die Hoheliedauslegung Bernhards wurde häufig rezipiert, was auch daran lag, dass sie von Luther und Chemnitz geschätzt wurde.52 In seiner Homilia sucht Gerhard nach Möglichkeiten, sich in das Unaussagbare einzufühlen. Er orientiert sich dabei an Bibeltexten, an der Dogmatik sowie an Autoren der Tradition und macht sie letztlich für die Seelsorge fruchtbar. Im Hohelied findet er Bilder, die ihm Christus als zugewandten liebevollen Heiland näherbringen. Die christologisch ausgerichtete allegorische Auslegungsweise 47 Vgl. a. a. O., 97f, Anm. 20. 48 Vgl. die christologische Aussage der Konkordienformel: „Wir gläuben, lehren und bekennen, daß nunmehr in derselbigen einigen, unzertrennten Person Christi zwo unterschiedliche Naturen sein, die göttliche, so von Ewigkeit, und die menschliche, so in der Zeit in Einigkeit der Person des Sohns Gottes angenommen, welche zwo Naturen nimmermehr in der Person Christi weder getrennet, noch mit einander vormischet, oder eine in die andere vorwandelt, sonder ein jde in ihrer Natur und Wesen in der Person Christi in alle Ewigkeit bleibet“, BSLK, 1019,36–1020,3. 49 Vgl. Gerhard, Meditationes (1603/1604), 98. 50 Zu Gerhards typologischer und allegorischer Schriftauslegung vgl. Steiger, Studien zu Theologie und Frömmigkeit, 123–134. Zur Rezeption des Hoheliedes im Luthertum vgl. Koch, Umgang mit dem Hohenlied, 286. 51 Vgl. Koch, Umgang mit dem Hohenlied, 296–301. 52 Vgl. Koch, Bernhard-Rezeption, 323f.
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hilft ihm, diese Farben des Hoheliedes freizulegen. Gerhard wendet seine theologische Bildung letztlich an, um seiner Anfechtung die göttliche Verheißung des Lebens entgegenzustellen. Seine konkrete Aussage über die endzeitlich verheißene ungebrochene Gemeinschaft mit Christus (consociatio) ist deshalb mehr als der Versuch, die Grenze des Unaussagbaren durch exegetische Klimmzüge doch noch zu überwinden. In seiner Homilia sucht er nach Antworten auf seine Frage nach Heilung und Leben und letztlich nach Gott selbst. Die Ausgestaltung dieser inneren Bilder der Gottesschau zeigt daher auch die große Intensität der Sehnsucht des Angefochtenen an.
3.
Gesetz und Evangelium, Regeln für ein gottseliges Leben
Für die 1606 im Druck erschienene Fassung der Meditationes Sacrae nahm Gerhard Veränderungen vor.53 Er überarbeitete die bereits vorhandenen Texte, fügte weitere hinzu und ordnete sie neu an. Die 51 Meditationen orientieren sich nun vermutlich an den Wegmarken des göttlichen Heilshandelns, indem sie den Weg des Menschen von der Sündenerkenntnis bis zur Auferstehung abschreiten.54 Anlage und Inhalt der handschriftlich verfassten Meditationen hatten deren seelsorgliche Zielsetzung zu erkennen gegeben; sie waren „auf Vergewisserung und Tröstung ausgerichtet, nicht auf Verunsicherung und Hinterfragung“.55 In der Druckfassung thematisiert Gerhard weitaus deutlicher als zuvor das Gesetz und befleißigt sich der admonitio (Zurechtweisung). Wie Gerhard erklärt, beabsichtigt er, ermahnend und tröstend die Frömmigkeit der Glaubenden zu erwärmen oder, wenn nötig, neu zu entflammen.56 Dementsprechend stellt er im Hinblick auf eine lebendige christliche Spiritualität fest: „Man lebet übel, wo man von Gott nicht recht glaubet. Aber wiederum glaubet man auch vergeblich, wo man nicht zugleich recht lebet. Der wahre Glaube ist nicht innerlich zu finden, wo die guten Wercke nicht äusserlich hervor leuchten“.57
53 Die lateinische Fassung wurde 1606 in Jena gedruckt, 1607 erschien in Magdeburg eine deutsche Übersetzung des Osterweddinger Pfarrers Johann Sommer. Die folgenden Hinweise beziehen sich auf diese Übersetzung. 54 Vgl. Steiger, Nachwort, in: Gerhard, Meditationes (1606/1607), 645. Anders Koch, der eine Ausrichtung des Aufbaus am Kirchenjahr annimmt, ders., Therapeutische Theologie, 29. 55 Koch, Therapeutische Theologie, 28. 56 „Damit ich also die in diesem sehr kaltsinnigen Alter der Welt fast erloschene Frömmigkeit wieder anzünden, diejenigen, welche auf dem Wege des Herrn sehr nachläßig und langsam wandeln, antreiben und ermuntern, auch mich selbst und andre ihrer Pflicht erinnern möchte, so habe bey abgebrochner Musse gegenwärtige heilige Betrachtungen aufgesetzt“, Gerhard, Meditationes (1607), Vorrede, 356. 57 A. a. O.
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In der 28. Meditation versammelt Gerhard Regeln eines gottseligen Lebens. Zu den Grundregeln zählt für ihn, das eigene Leben von seinem Ende her zu betrachten und die Bedeutung des göttlichen Gerichtes zu bedenken wie auch die Endlichkeit irdischen Reichtums oder zeitlicher Ehre.58 Gerhard nimmt hier die Tradition der Sterbekunst (ars moriendi) auf, die er gemeinsam mit anderen lutherischen Theologen im Sinne der reformatorischen Theologie interpretiert.59 Wirkungsgeschichtlich wichtig wurde diesbezüglich Luthers Sterbesermon. Darin riet der Reformator, bereits im Leben die Schreckensbilder des Todes zu betrachten, nämlich die Sünde, den Tod und die Hölle. Laut Luther besteht die Sterbekunst darin, die Schreckensbilder loszulassen und im Vertrauen auf Christus den Tod im Leben zu betrachten, die Sünde in der Gnade und die Hölle im Himmel. Vor einer Betrachtung des Todes auf eigene Rechnung warnt Luther hingegen, da der Betrachter sich in seinem Schrecken verlieren werde.60 Gerhard gemahnt den Meditierenden mit einiger Strenge an die Betrachtung des Todes. Sein Ansinnen ist es in diesem Falle nicht, einen Sterbenden zu trösten, vielmehr will er den Betrachter zur Buße und zur Demut rufen und ihn dazu anleiten, in der Gottseligkeit zu wachsen. „Auff dem Wege des HErrn nehmen wir entweder zu/ oder nehmen ab/ darumb prüfe vnd erforsche alle tage dein Leben/ ob du in der Gottesfurcht zu oder abnehmest.“61 Zu diesem spirituellen Weg gehört laut Gerhard auch die tägliche geistliche Übung, sich der Laster zu entschlagen, um Gott im Sterben leben zu können.62 Einerseits warnt Gerhard vor dem Stolz, wenn er dazu rät, nicht nach Bekanntheit zu streben oder durch aufwendige Kleidung und einen luxuriösen Lebensstil aufzufallen. Stattdessen nennt er Bescheidenheit und den aufrichtigen Umgang mit Freund und Feind als Regel des gottseligen Lebens. Auf der anderen Seite redet Gerhard nicht einer missverstandenen Selbstverleugnung das Wort, die dem Glaubenden dessen Gaben verdeckt. Stattdessen ermutigt Gerhard ihn dazu, die von Gott empfangenen Gaben zu gebrauchen: „Bistu mechtig/ so beweise deine Macht mit helffen: Bistu weiß vnd klug/ so laß deine Weißheit hören mit vnterweisen vnd
58 „Gedencke allezeit an drey vergangene ding: An das vbel/ so du begangen/ an das gute/ so du vnterlassen/ an die zeit/ die du verlohren hast: Gedencke allezeit an drey gegenwertige dinge: An die kurtze zeit dieses Lebens/ an die beschwerligkeit selig zu werden/ vnd wie wenig derer sein/ die da sollen selig werden. Gedencke allezeit an drey künfftige dinge: An den Todt/ da nichts grewlichers ist/ an dz Gericht/ da nichts erschrecklichers ist/ an die straffe der Hellen/ da nichts vnleidlichers ist“, a. a. O., 477f. 59 Einflussreich war an der Wende zum 17. Jahrhundert Martin Mollers Werk „Manuale De Praeparationem Ad Mortem“, Görlitz 1539, das beispielhaft für diese Gattung genannt sei. Zu Moller vgl. Axmacher, Praxis Evangeliorum, 199–211. 60 Vgl. WA 2, 688,23–689,2. 61 Gerhard, Meditationes (1607), 477. 62 Vgl. a. a. O.
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lehren: Bist du reich/ so brauche deine Güter also/ daß du andern dauon gutes erzeigest“.63 In seiner pointierten Rede über die Demut stellt Gerhard dem meditierenden Ich die Gegenwart Gottes vor Augen und die Verantwortung für das eigene geistliche Leben. Insofern erinnert er den Leser an seine Mündigkeit, die er vor Gott und vor der Welt besitzt. Diese geistliche Profilierung des demütigen Menschen kommt zum Ausdruck in der Regel: „Du solt keinem Menschen zu gefallen etwas böses fürnehmen/ Denn nicht derselbige Mensch/ sondern Gott wird dermal eins dein Leben richten/ Darumb soltu keines Menschen gunst noch hulde der Gnade GOttes vorziehen“.64 Sie wird ergänzt durch die Aussage: „Du solt niemand begeren zu gefallen/ denn nur allein dem HErrn Christo/ noch jemands mißfallen ohne Christo“.65
Gegenüber dem postmodernen Zwang, sich selbst neu zu erschaffen und sich beständig zu optimieren, schaffen Gerhards Lebensregeln Freiräume, die dem Glaubenden ermöglichen, das eigene Leben vor Gott zu gestalten und solche Abhängigkeiten zu identifizieren, die demütigend sind. Augenscheinlich will Gerhard zudem einer einseitig ausgerichteten Spiritualität entgegenwirken, die bei der Meditation der Gnade Gottes stehen bleibt und sich in einer falschen Sicherheit einrichtet. Dem Betrachter bringt er Gott nahe als Vater und als Herrn, indem er ihn gleichermaßen auf die Milde und Gnade (clementia) des Vaters hinweist sowie auf die Zucht (disciplina) des Herrn. Gerhard thematisiert so das Gesetz und das Evangelium und bezieht beide Kategorien aufeinander. Dieser Ansatz zeigt sich auch darin, dass Gerhard nicht allein rät, der eigenen Sünde und des nahenden Todes eingedenk zu werden, um sich gegen die Sünde zu wenden. Vielmehr ergänzt er dieses memento mori um die Regel, ebenfalls die Gerechtigkeit Gottes zu meditieren, die gerecht spricht, um nicht zu verzweifeln.66 Diese zweifache Sicht auf die praxis pietatis unterstreicht er mit der aus Phil 2,13 entnommenen Bitte: „O Gott/ der du hast das wollen gegeben/ gib vnd verleyhe auch das vollbringen“.67 Auf diese Weise rezipiert Gerhard den Rat Luthers, die Schreckensbilder des Todes aus der Sicht des von Gott geschenkten Lebens zu betrachten, und lässt wie Luther aus der ars moriendi eine Lebenskunst werden. In die genannte Meditation arbeitete Gerhard einige Quellen ein. Der Kommentar weist an erster Stelle die Bernhardinische und pseudo-bernhardinisiche Tradition aus. Zu Bernhard von Clairvaux (1090–1153) treten Cyprian (200/201– 63 64 65 66 67
A. a. O., 480. A. a. O., 477. A. a. O., 478f. Vgl. a. a. O., 478. A. a. O., 480.
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258) und Francesco Petrarca (1304–1374), aber auch Thomas von Kempen (1379– 1471) und Henricus Harphius (1410–1477), ein flämischer Franziskaner, der mit seinen Werken der devotio moderna zugerechnet wird.68 Zu finden ist gleichfalls ein Mischna-Zitat, auf das Gerhard mit der Marginalie „Veteres Hebraej“ (die alten Hebräer) hinwies.69 Der Quellenbefund weist nicht nur die Belesenheit Gerhards aus, es wird vielmehr deutlich, dass Gerhards Lektürepraxis konfessionelle Grenzen überwindet, um von der Spiritualität und dem geistlichen Erfahrungsreichtum anderer zu lernen.70
4.
Als Getrösteter zum Tröster werden. Gerhards Enchiridion Consolatorium
Auch das „Enchiridion Consolatorium“ (Trostbüchlein), das 1611 in Jena gedruckt wurde, entstand nicht ohne Bezug zu Gerhards Lebenslage und kann als Teil seiner spirituellen Lebensbewältigung angesehen werden. Seit 1606 wirkte Gerhard als Superintendent in Heldburg, im September 1608 hatte er Barbara Neumeier geheiratet, beide erwarteten 1610 ihr erstes Kind. Am Heiligen Abend kam nach einer problematischen Geburt Johann Georg zur Welt. Er verstarb bereits am 10. Januar 1611. Nach der Niederkunft verschlechterte sich der Gesundheitszustand von Gerhards Ehefrau. Sie begab sich seit dem Osterfest in die Obhut ihrer Mutter und blieb dort, bis sie am 30. Mai desselben Jahres starb.71 Wie Gerhard in der Vorrede schreibt, hatte er schon vorher an die Drucklegung einer seelsorglichen Schrift gedacht, in der er die Sterbekunst thematisieren wollte. Der Tod des eigenen Kindes und die schwache eigene Gesundheit, eine Erfahrung, die anscheinend Gerhards Lebensgefühl bestimmte, begleiteten das Entstehen der Schrift. Gerhard hatte also nicht nur Lebenslagen von Menschen vor Augen, die ihm als Seelsorger anvertraut waren, vielmehr schrieb er das Enchiridion auch sich „selbst zum besten“.72 Durch die Drucklegung beabsichtigte Gerhard, den empfangenen Trost an andere weiterzugeben. „Zu solchem Ende habe ich nun dieses tröstliche Handbüchlein/ dem schrecken des Todes/ vnd andern Anfechtungen/ so in Todesnöthen sich ereignen/ entgegen setzen/ vnd also mir selbst zum besten auffzeichnen wollen/ Sintemal ich schwaches Leibes fast teglich bin/ vnnd leichtlichen möchte dahin gerissen werden: Zu dem hat der Tod mir vnlangst ein grossen Riß aus meinem Hause gethan/ so mir hefftig zu Hertzen gehet/ 68 69 70 71
Zu Harphius vgl. Troeyer, Herp. Zu Gerhards Rezeption der jüdischen Exegese vgl. Back, Die alten Hebreer. Vgl. dazu Bitzel, Die geistlichen Schätze, 181–199. Vgl. Richter, Nachwort, in: Gerhard, Enchiridion, 355–360. Vgl. Fischer, Vita Ioannis Gerhardi, 251–255. 72 Gerhard, Enchiridion, Vorrede, 150.
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vber das seind auch andere vielmehr Vrsachen/ derentwegen ich langes Leben nicht kühnlichen hoffen kan. Damit ich mich nu zu dem letzten Kampff desto gefaster machen/ vnd mich zeitlichen wolverwahren möge/ so hab ich bey so vielen Anstössen vnd Vnglück/ so mich besonders in meinem Hause betroffen/ etliche Tage auff solche gottselige Gedancken des Todes wenden/ vnnd ob vielleicht solche meine geringschätzige Außführung andern mehr frommen Christen neben mir könte ersprießlichen seyn/ offentlich in Druck verfertigen wollen.“73
Mit seinem Enchiridion gab Gerhard angefochtenen Glaubenden ein Trostbuch in die Hand, das zu vielen konkreten Ängsten und Nöten geistliche Orientierung bot. Darin finden sich mit zahlreichen Bibeltexten untermauerte tröstende und den Glauben vergewissernde Antworten zu 46 Anfechtungen, die als Frage des tentatus (Angefochtenen) formuliert sind. Auch hier schöpfte er aus einer Vielzahl von Quellen, die von der Alten Kirche bis in seine Zeit reichen.74 Sein Handbuch endet mit einem Gebet in Krankheit, dessen Inhalt die Erwartung des Todes einschließt. Als Seelsorger nimmt Gerhard die Bitterkeit der Anfechtung und die damit verbundene Verzweiflung ernst. Der Ernst seines Anliegens wird auch darin ersichtlich, dass Gerhard vor einem möglichen Missbrauch seines Buches warnt, der darin besteht, die tröstende Predigt des Evangeliums als Rechtfertigung eines sündhaften Lebensstiles misszuverstehen. Denn die geistliche Voraussetzung, um getröstet zu werden, ist laut Gerhard eine bußfertige Haltung. „Darbey ich gleichwol stracks anfangs bedinge/ daß ich dieses Büchlein nicht habe geschrieben vor rohe vnbußfertige sichere Hertzen/ Sondern denen zu gut/ so einen zerschlagenen Geist vnd beschwertes Gewissen haben. Denn die Ermahnungen zu einem gottseligen Christenleben/ gehören auff ein andere Zeit: Diese nur ist allein gerichtet auff warhafftigen Trost.“75
Deutlich wird hier, wie Gerhard die theologischen Kategorien des Gesetzes und des Evangeliums in unterschiedlicher Pointierung zur Anwendung bringen kann, je nachdem, welche seelsorgliche Zielsetzung er im Blick hat.
73 A. a. O. 74 Besonders häufig zitiert er aus Schriften (Pseudo-) Augustins und Tertullians sowie aus Texten Bernhards. Vgl. Richter, Nachwort, in: Gerhard, Enchiridion, 358, Anm. 319. 75 Gerhard, Enchiridion, Vorrede, 150.
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5.
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Anleitung zur Übung des Gebets, Gerhards Exercitium Pietatis
Gerhards „Exercitium Pietatis Quotidianum Quadripartitum“ („Tägliche Übung der Gottseligkeit, in vier Teile abgeteilt“),76 das ebenfalls während seiner Heldburger Zeit entstand und 1612 in Coburg erstmals gedruckt wurde, steht in Beziehung zu den „Meditationes Sacrae“ (1606/1607) und dem „Enchiridion Consolatorium“. Gerhard verfasste es bewusst als Ergänzung zu den bisher veröffentlichten Frömmigkeitsschriften, um darin eine Anleitung zum Gebet zu geben. „Demnach weil ich vor diesem etliche Meditationes oder Geistliche Andachten in öffentlichen Truck gegeben/ welche dahin gerichtet/ daß wir zur wahren Gottseligkeit bewogen/ vnd am innerlichen Menschen seligklich zunemen mögen/ auch hierüber vnlangsten ein TrostBüchlein wider allerhand anfechtungen zusammen getragen/ als war noch diß einige übrig/ daß auch ein GebetBüchlein verfertiget vnnd den einfältigen auch in diesem stück von mir gedienet würde/ welches ich dann jetziger zeit desto williger vnd fleissiger gethan/ weil mir allerhand vielfältige widerwertigkeiten bißher vnter Augen gestossen.“77
Wie Gerhard andeutungsweise zu erkennen gibt, wurde auch die Abfassung dieses Werkes von seiner Trauer um den ersten Sohn und um seine Ehefrau Barbara begleitet. Auch durch diesen Umstand ergibt sich eine innere Verbindung zu den bereits genannten geistlichen Schriften Gerhards. Das „Exercitium“ ist in vier Hauptteile gegliedert: die Betrachtung der Sünden, die Betrachtung göttlicher Wohltaten, die Betrachtung der eigenen Bedürftigkeit und die Betrachtung der Bedürfnisse des Nächsten. Gerhard ordnete diesen Oberthemen zwischen sieben und 19 thematisch ausgerichtete Gebete zu, die jeweils einzelne Anliegen verhandeln. Jedem Teil stellte er einen kurzen einführenden Text voran, in dem er theologische Grundgedanken des betreffenden Kapitels erläutert. In seiner Einführung zum ersten Teil, „De Meditatione peccatorum“ („Über die Meditation der Sünden“), entfaltet Gerhard knapp die theologische Sündenlehre (Hamartiologie). Die geistliche Übung fußt also auf einer theologischen Grundlegung. Gerhard unterscheidet in seiner theologischen Hinführung die Erbsünde von den Aktualsünden, die in Gedanken, Worten und Werken begangen werden können und die die Beziehungen des Menschen zu Gott, zum Nächsten und zu sich selbst betreffen.78 In den dann folgenden Gebeten werden nicht allein die Erbsünde, die Sünde der Jugend oder Vergehen gegen die Zehn 76 Zur Druck- und Wirkungsgeschichte vgl. Richter, Nachwort, in: Gerhard, Enchiridion, 489– 509. 77 Gerhard, Exercitium, Vorrede, 25. 78 Vgl. a. a. O., 38f.
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Gebote vor Gott gebracht, Gerhard nimmt auch die innere Erfahrung von Reue (contritio) auf, die den Betenden von der Schwere seiner Sünde überzeugt. Das letzte der zehn Gebete dieses Hauptteils orientiert sich an Kernpunkten der lutherischen Passionstheologie. Es hält dem Beter den Gekreuzigten vor Augen, um ihm mit diesem Schreckensbild zunächst die Strenge (severitas) des göttlichen Zornes über die Sünde zu verdeutlichen, ihm aber dann zu bedenken zu geben, dass Christus die Sünde des Betenden am Kreuz büßte. „Wie mit grossen Blutrohten Buchstaben sehe ich meine Sünde an dem Leibe deß HErrn Christi geschriben/ wie offenbar ist/ O du aller gerechtester Gott/ dein Zorn wider meine Verbrechung/ Wie muß mein Gefengknüß so hart vnd schwer gewesen seyn/ weil ein so thewres Lösegeldt zu meiner erledigung wirdt erleget/ Wie vilfältig vnd schrecklich müssen die mackel meiner Sünden gewesen seyn/ weil Ströme deß Bluts auß deß HErrn Christi Leibe fliessen/ dieselbe abzuwaschen.“79
Martin Luther hatte diese Betrachtungsweise als ersten Teil der rechten Passionsmeditation verstanden, denn sie evoziert beim Betrachter das Erschrecken vor der eigenen Sünde. Beide Gedanken, die Gerhard im Hinblick auf die Passionsbetrachtung äußert, hatte Luther in seinem Passionssermon von 1519 verdeutlicht. „Die bedenckenn das leyden Christi recht, die yhn alßo ansehn, das sie hertzlich darfur erschrecken und yhr gewissen gleych sincket yn eyn vorzagen. Das erschrecken sol da her kummen, das du sihest den gestrengen zorn und unwanckelbarn ernst gottis uber die sund und sundere, das er auch seynem eynigen allerliebsten sun hat nit wollen die sunder loß geben, er thette dan fur sie eynn solche schwere puß.“80 Weiter schreibt Luther: „das du dir tieff eyn bildest und gar nicht zweyffelst, du seyest der, der Christum alßo marteret, dan deyn sund habens gewißlich than“.81
Auch in seinem Umgang mit der Sündenlehre und als Prediger des Gesetzes erweist sich Gerhard als ein verantwortungsbewusster Seelsorger. Er folgt Luthers Anleitung zur rechten Passionsbetrachtung auch darin, dem bußfertigen Beter das Evangelium zu verkündigen, um ihn vor der Verzweiflung zu schützen.82 Daher beschließt er das passionstheologisch orientierte Gebet mit einem österlichen Ausblick: „O aller gerechtester Gott/ vnd gnedigster Vatter/ sihe wie schwere Pein dein Sohn für mich gelitten hat/ vnnd vergesse was dein böser 79 80 81 82
A. a. O., 79. WA 2, 137,10–15. A. a. O., 137,22f. „biß her seyn wir yhn der marter wochen geweßen und den karfreytag recht begangen. Nu kummen wir zu dem Ostertag und aufferstehung Christi. Wan der mensch alßo seyner sund gewar worden und gantz erschreckt yhn yhm selber ist, muß man acht haben, das die sunde nit alßo yhm gewissen bleyben, es wurde gewiß eyn lauter vorzweyffelnn drauß. Sundernn gleych wie sie auß Christo geflossen und erkand worden seynd, ßo muß man sie widder auff yhn schutten und das gewissen ledig machen“, a. a. O., 139,32–38.
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Knecht vngeschickts gethan hat/ Siehe an seine tieffe Wunden/ vnd versencke meine Sünde in das allertieffste Meer deiner Barmhertzigkeit/ Amen“.83 Gerhard stellt diesen Hinweis auf die Barmherzigkeit Gottes, der eine Anspielung auf Mi 7,19 enthält, an das Ende des ersten, der Sündenthematik gewidmeten Hauptteils des „Exercitium Pietatis“. Diese Art der Passionsbetrachtung, die Gerhard bei Luther gelernt hat und die darauf aus ist, den Betrachter auf seine Sünde hin anzusprechen, ihn aber ebenso des tröstlichen Umstandes zu vergewissern, dass Christus seine Schuld gesühnt hat, findet sich in allen Teilen des Gerhardschen Werkes. Sie wird ausgeführt in den handschriftlich notierten Meditationes und ebenso in der erweiterten Druckfassung dieses Erbauungsbuches. Wir finden sie, tröstlich gewendet, auch in Gerhards Enchiridion und natürlich in Gerhards Passionspredigten.
6.
Spiritualität bei Johann Gerhard
Gerhard kannte den modernen Begriff der Spiritualität nicht, aber die Frömmigkeit ist eines der Zentralthemen in Gerhards Leben und Werk, das zeigen seine Frömmigkeitsschriften, in denen er Bezüge zu eigenen Lebenslagen herstellte. Darüber hinaus kann die pietas (Gottesliebe, Frömmigkeit) als ein Zentralbegriff der lutherischen Orthodoxie gelten.84 An Gerhards Werk wird exemplarisch deutlich, dass Theologie und Spiritualität aufeinander bezogen sind. Als praktische Wissenschaft stellt die Theologie ihre Arbeit in den Dienst einer rechten praxis pietatis, dazu sollen laut Gerhard letztlich Disputationen und orthodoxe Lehrbücher dienen. Gerhard zufolge ist die rechte Frömmigkeit auf die Bibel gegründet. Schaut man dem Schriftausleger Gerhard über die Schulter, so ist zu entdecken, dass er seine Gelehrsamkeit in den Dienst der Exegese stellt. Besonders durch die typologische und allegorische Hoheliedauslegung, die Gerhard unter anderem von Bernhard von Clairvaux lernt,85 gelingt es ihm, den meditierenden Leser in eine fast intime Christusbegegnung zu führen, die auch die Affekte des Betrachters anrührt. Gerhards Gelehrsamkeit reicht weit über die Kenntnis der lutherischen Dogmatik hinaus. Er schöpft aus einem großen Quellenreichtum, der die jüdische Schriftauslegung einschließt, dabei treten konfessionelle Grenzen in den Hintergrund. Aus diesem Reichtum speist sich die Vielfalt der Gerhardschen Spiritualität und auch deren ökumenische Weite. Dabei geht Gerhard jedoch
83 Gerhard, Exercitium, 79. Marginal nennt Gerhard Mi 7,19. 84 Vgl. Wallmann, Pietas contra Pietismus, 107–114. 85 Zu Gerhards Bernhard-Rezeption vgl. Koch, Bernhard-Rezeption, 323f.
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nicht unkritisch kompilierend vor, vielmehr rezipiert er nach lutherisch-orthodoxen Maßstäben. Seine profunde theologische Bildung und seine geistliche Erfahrung nutzte Gerhard nicht allein für seine eigene spirituelle Lebensbewältigung. Er stellte sie im kirchlichen Amt und dann als Professor auch anderen zur Verfügung, um als Getrösteter diejenigen zu stützen, die des Trostes bedürfen. Theologisch reflektiert ist Gerhards Anleitung zum geistlichen Leben auch deshalb, weil er einseitige Ausprägungen der Spiritualität durch theologische Unterweisung zu verhindern sucht. Dies zeigt sich in seinem differenzierten Umgang mit den theologischen Kategorien des Gesetzes und des Evangeliums, die er je nach Redesituation verschieden pointieren kann, um zu trösten oder zu ermahnen. Aus dem Briefwechsel mit Johann Arndt ist bekannt, dass Gerhard als Student auf der Suche nach Fachliteratur war, die auch einem geistlichen Anspruch genügt.86 In Gerhards Schriften findet sich beides: Theologie und Spiritualität.
Literatur Quellen D. Martin Luthers Werke. Weimarer Ausgabe. Kritische Gesamtausgabe, 135 Bde: I. Abt.: Werke, 60 Bde., Weimar 1883ff (kurz: WA); II. Abt.: Tischreden, 6 Bde. Weimar 1912ff (kurz: WA TR). Die Bekenntnisschriften der evangelisch-lutherischen Kirche, hg. im Gedenkjahr der Augsburgischen Konfession 1930, Göttingen 21952 [kurz: BSLK]. Fischer, Erdmann Rudolph, Vita Ioannis Gerhardi […], Leipzig 1723. Gerhard, Johann, Postilla, Teil 1, 1: Advent bis Judica, kritisch hg., kommentiert und mit einem Nachwort versehen von Johann Anselm Steiger unter Mitwirkung von Franziska May (Doctrina et Pietas I, 7,1), Stuttgart-Bad Cannstatt 2014. –, Exercitium Pietatis Quotidianum Quadripartitum, Lateinisch-deutsch, kritisch hg., kommentiert und mit einem Nachwort versehen von Johann Anselm Steiger, mit einem Textanhang: Sämtliche Choräle aus Friedrich Fabricius’ Praxis Pietatis melica (Doctrina et Pietas I, 12), Stuttgart Bad-Cannstatt 2008. –, Enchiridion Consolatorium, Lateinisch-deutsch, kritisch hg., kommentiert und mit einem Nachwort versehen von Matthias Richter, Teilbd. 1–2 (Doctrina et Pietas I, 5) Stuttgart-Bad Cannstatt 2002. –, Meditationes Sacrae 1606/1607, Lateinisch-deutsch, kritisch hg., kommentiert und mit einem Nachwort versehen von Johann Anselm Steiger, Teilbd. 1–2 (Doctrina et Pietas I, 3), Stuttgart-Bad Cannstatt 2000.
86 Vgl. Steiger, Nachwort, in: Gerhard, Meditationes (1606/1607), 639f.
Lutherisch-orthodoxe Spiritualität – Johann Gerhard (1582–1637)
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–, Meditationes Sacrae (1603/1604), mit einem Faksimile des Autographs, Kritisch hg. und kommentiert von Johann Anselm Steiger (Doctrina et Pietas I, 2), Stuttgart-Bad Cannstatt 1998. Meisner, Magdalena, Gebetbuch, kritisch hg. und kommentiert von Johann Anselm Steiger, Passau 2013.
Forschungsliteratur Axmacher, Elke, Praxis Evangeliorum. Theologie und Frömmigkeit bei Martin Moller (1547–1606) (FKDG 43), Göttingen 1989. Back, Niels, „Die alten Hebreer haben recht wol gesagt …“. Johann Gerhard und die jüdische Schriftauslegung, in: Renate Steiger (Hg.), Von Luther zu Bach. Bericht über die Tagung 22.–25. September 1996 in Eisenach, Sinzig 1999, 196–186. Baur, Jörg, Lutherisches Christentum im konfessionellen Zeitalter – ein Vorschlag zur Orientierung und Verständigung, in: Dieter Breuer (Hg.), Religion und Religiosität im Zeitalter des Barock, Teil 1 (Wolfenbütteler Arbeiten zur Barockforschung 25), Wiesbaden 1995, 43–62. –, Die Leuchte Thüringens. Johann Gerhard (1582–1637). Zeitgerechte Rechtgläubigkeit im Schatten des Dreißigjährigen Krieges, in: ders. (Hg.), Luther und seine klassischen Erben. Theologische Aufsätze und Forschungen, Tübingen 1993, 335–356. Bitzel, Alexander, Die geistlichen Schätze der anderen. Anmerkungen zur Rezeption römisch-katholischer Erbauungsbücher in Johann Gerhards „Meditationes Sacrae“ (1606), in: ZKG 114/2003, 181–199. Hoffmann, Georg, Protestantischer Barock. Erwägungen zur geschichtlichen und theologischen Einordnung der lutherischen Orthodoxie, in: KuD 36/1990, 156–178. Jakubowski-Tiessen, Manfred, Einleitung, in: ders. (Hg.), Krisen des 17. Jahrhunderts. Interdisziplinäre Perspektiven, Göttingen 1999, 7–11. Koch, Ernst, Beobachtungen zum Umgang mit dem Hohenlied in Theologie und Frömmigkeit des Luthertums im 16. bis 18. Jahrhundert, in: Matthias Richter/Johann Anselm Steiger (Hg.), Studien zur Theologie- und Frömmigkeitsgeschichte des Luthertums im 16. bis 18. Jahrhundert, Waltrop 2005, 285–306. –, Die Bernhard-Rezeption im Luthertum des 16. und 17. Jahrhunderts, in: Richter/ Steiger (Hg.), Studien, Waltrop 2005, 307–328. –, Therapeutische Theologie. Die Meditationes Sacrae von Johann Gerhard (1606), in: PuN 13/1987, 25–46; wieder abgedruckt in: Richter/Steiger (Hg.), Studien, Waltrop 2005, 145– 174. Leube, Hans, Die Reformideen in der deutschen Lutherischen Kirche zur Zeit der Orthodoxie, Leipzig 1924. Lienhard, Marc, Luthers christologisches Zeugnis, Göttingen 1980. Matthias, Markus, Gab es eine Frömmigkeitskrise um 1600? in: Hans Otte/Hans Schneider (Hg.), Frömmigkeit oder Theologie. Johann Arndt und die „Vier Bücher vom wahren Christentum“ (Studien zur Kirchengeschichte Niedersachsens 40), Göttingen 2007, 27– 43.
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Die Spiritualität Paul Gerhardts (1607–1676)
Paul Gerhardt ist gemeinhin einer derjenigen, die genannt werden, wenn nach einer „evangelischen Spiritualität“ gefragt wird. Seine Lieder sind mindestens ebenso bekannt wie die Lieder Martin Luthers. Sie sind nicht nur im offiziellen „Evangelischen Gesangbuch“ der deutschen evangelischen Landeskirchen von 1993, sondern auch in Liederbüchern, die eher von jüngeren Generationen benutzt werden, vertreten. Eine konfessionelle Eingrenzung haben sie längst hinter sich gelassen.1 Durch die Aufnahme einzelner Strophen in die großen Werke der Kirchenmusik, etwa die Passionsmusiken und das Weihnachtsoratorium Johann Sebastian Bachs, ist Paul Gerhardt auch über die Grenzen des christlichen Glaubens hinaus einem gebildeten Publikum bekannt. Man kann sagen, dass die durch die lutherische Reformation bestimmte und ursprünglich in deutschsprachigen Texten sich ausdrückende Frömmigkeit nirgendwo eine weitere Verbreitung, verbunden mit einer so häufigen Übung – im Singen –, gefunden hat als durch die Lieder Paul Gerhardts. Die Spiritualität der geistlichen Lieder Paul Gerhardts ist ein Beispiel der Spiritualität der altlutherischen Orthodoxie. Das 17. Jahrhundert ist die klassische Zeit der Produktion des evangelischen – konkreter: lutherischen – Kirchenliedes, wie es heute noch das deutsche evangelische Kirchengesangbuch prägt. Der Gehalt der Lieder Paul Gerhardts und ihre Form unterscheiden sich nur graduell von den Liedern anderer dieser Zeit – seien es Johannes Heermann (1585–1647) 2, Martin Rinckart (1586–1649), Johann Rist (1607–67) 3, Johann Frank (1618–77) usw. – Gerhardts geistliche Poesie muss sodann betrachtet werden im größeren Zusammenhang mit der lutherischen geistlichen Poesie, welche nicht im einschlägigen Sinne Kirchenlied ist, so etwa zum größten Teil die 1 Siehe die Übersicht bei Bunners, Paul Gerhardt, 4. Aufl., 213–216 (Paul Gerhardt im deutschen Gesangbuch). 2 Zu Heermann vgl. Liess, Johann Heermann. 3 Zu Rist siehe: Johann Rist (1607–1667). Profil und Netzwerke eines Pastors, Dichters und Gelehrten, hg. von Johann Anselm Steiger und Bernhard Jahn in Zusammenarbeit mit Axel E. Walter, Berlin / Boston 2015 (Frühe Neuzeit 195).
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Lyrik des Andreas Gryphius, im Zusammenhang mit der römisch-katholischen geistlichen Dichtung der Zeit in deutscher Sprache4 – beispielsweise Friedrich Spee – oder der lateinischsprachigen Dichtung der Zeit5 und der geistlichen Dichtung in anderen Sprachen Europas, so auch der Dichtung der „metaphysical poets“ Englands wie John Donne und George Herbert. Als Beispiel der Spiritualität der lutherischen Orthodoxie haben die Lieder Paul Gerhardts mit dieser die Spiritualität Martin Luthers und Philipp Melanchthons zur Voraussetzung, und sie greifen – mit offener Selbstverständlichkeit – zurück auf vorreformatorische Spiritualität, inbesondere in den Nachdichtungen der zisterziensischen Passionssalven des frühen 13. Jahrhunderts. Eine besondere Beziehung besteht innerhalb der altlutherischen Spiritualität zu Johann Arndt: Paul Gerhardt trug das „Paradiesgärtlein“, das Gebetbuch, das Arndt als praktische Anwendung zu seinen „Vier Büchern vom wahren Christentum“ verfasst hatte, stets bei sich6 und gestaltete sechs dieser Gebete zu Liedern um.7 Paul Gerhardt steht damit parallel zu dem etwas älteren Johann Gerhard, der gleichfalls ein klassisches Beispiel lutherisch-orthodoxer Spiritualität ist und sich in einem – bei ihm sogar persönlichen – Schülerverhältnis zu Arndt befand. Mit dieser ersten Feststellung ist einem noch immer zähen Vorurteil widersprochen, die altprotestantische Orthodoxie – sei es die lutherische, sei es die reformierte – habe keine Spiritualität gekannt, ja, sie sei ausgesprochen spiritualitätsfeindlich. Der Begriff „Spiritualität“ in diesem Satz kann im Sinne von „gelebter Herzensfrömmigkeit“ verstanden werden. Das Vorurteil kam in radikaleren Kreisen des Pietismus auf und hat zu einem äußerst zwiespältigen Verhältnis des späteren Protestantismus zu seiner eigenen Vergangenheit geführt, zu einer bestürzenden Geschichtsvergessenheit und zu einer Verstümmelung dessen, was überhaupt evangelische, d. h. durch die Bibel und die Reformation bestimmte Frömmigkeit zu sein hat. Hinzu kam das Verdikt Albrecht Ritschls, das viele in den Bann zog – nicht nur solche, die man der Ritschl-Schule zurechnen muss: dass mit der Rezeption 4 Vgl. Scheitler, Das katholische Kirchenlied. 5 Vgl. Kühlmann, Dichtung. Ein Beispiel für die Wechselwirkungen zwischen der evangelischen und der katholischen geistlichen Lyrik ist das Sonett des Gryphius „An den gecreuzigten Jesum“, eine deutschsprachige Übertragung eines lateinischen Gedichts des polnischen Jesuiten Sarbievius, Ad pedes CHRISTI in cruce morientis, vgl. Gryphius, Gedichte, 4f. Im Grunde ist dies die erste Stufe der zisterziensischen Passionssalven, die an die Füße Jesu gerichtet ist; die Passionssalven sind wiederum auch von Gerhardt im Deutschen nachgedichtet worden, vgl. CS 18–24. 6 So erwähnt in dem Vorbericht Johann Heinrich Feustkings zu seiner Ausgabe von Paul Gerhardts Liedern von 1707, vgl. Grosse, Geistliche Poesie, 319, im Text der Ausgabe von 1723 auf S. )( )( 3v. 7 Vgl. CS 59; 60; 64; 65; 78; 79; zu CS 65 und dem diesem vorliegenden Gebet Arndts vgl. Axmacher, Studien, 233–313.
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mittelalterlicher Frömmigkeit, insbesondere mittelalterlicher Mystik im Protestantismus seit dem 17. Jahrhundert die reformatorische Frömmigkeit verdorben worden sei. Schließlich kam etwa seit der Sturm-und-Drang-Zeit eine Poetik auf, der zufolge gute Dichtung nichts Lehrhaftes enthalten dürfe. Nun ist aber der Horizont der geistlichen Poesie Gerhardts durchaus ein mystischer und seine Dichtung ist durchaus, und zwar zu einem wesentlichen Teil, Lehre. Man versteht den wirkungsmächtigsten Vertreter evangelischer Spiritualität falsch, wenn man meint, seine geistliche Dichtung sei nicht bestimmt von der lutherischen Orthodoxie, sie sei nicht mystisch in ihrer Zielsetzung und sie sei nicht wesentlich lehrhaft.
1.
Leben und Werk Paul Gerhardts
Die These, Paul Gerhardt sei ein regulärer Vertreter der lutherischen Orthodoxie, lässt sich bereits durch die Fakten seines Lebens stützen. 1607 in Gräfenhainichen im Kurfürstentum Sachsen geboren, war er 1622–27 Schüler einer der kursächsischen Eliteschulen (sogenannten „Fürstenschulen“), des Gymnasiums zu Grimma. 1628 immatrikulierte er sich als Student der Theologie an der Universität Wittenberg. Aus dieser Zeit stammt eine logische Disputation.8 Nach einer Zeit, in welcher er vermutlich Hauslehrer war, kam er 1643 nach Berlin, wurde 1651 Pfarrer in Mittenwalde bei Berlin, 1657 an der Hauptkirche St. Nikolai in Berlin. Dort gehörte er zu einem Kreis von Dichtern, die auch am Gymnasium des Grauen Klosters in Berlin tätig waren.9 Gerhardt beteiligte sich an dem Religionsstreit zwischen dem reformierten Kurfürsten von Brandenburg, Friedrich Wilhelm, und den lutherischen Geistlichen der Stadt als besonders unnachgiebiger Verfechter des lutherischen Standpunktes. In dieser Zeit korrespondierte er auch mit dem kämpferisch lutherischen Theologen Abraham Calov in Wittenberg.10 1666 verlor er, weil er ein Kompromissangebot des Kurfürsten nicht akzeptieren wollte, sein Amt. Gerhardt verließ 1669 das Kurfürstentum Brandenburg und nahm eine Pfarrstelle in Lübben an, das zu dem lutherischen Herzogtum 8 DISPUTATIO LOGICA DE CONVERSIONE PROPOSITIONUM … M. JOHANNES Brunneman … Praeses. & PAULUS GERHARDUS … RESP. …, gedr. Wittenberg 1630, vgl. dazu: Krummacher, Gedicht, 60f. 9 Als Glieder des „Gerhardtschen Dichterkreises“ in Berlin zwischen 1648 und 1680 außer Gerhardt selbst werden aufgeführt: Burkhard Wiesenmeyer, Johann Berkow, Georg Lilius, Martin Heinsius, Michael Schirmer, Valentin Fromm, Christoph Runge, Johann Bödiker, Joachim Pauli, Gottfried Wegener und Gotthilf Treuer, vgl. Das deutsche evangelische Kirchenlied, Bd. 3. 10 Vgl. Petrich, Paul Gerhardt, 134.
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Sachsen-Merseburg gehörte. 1676 starb er dort. Die lutherische theologische Fakultät von Greifswald rühmt die theologische Zuverlässigkeit Gerhardts in einem Gutachten aus dem Jahre 1669.11 In Paul Gerhardts Lebenszeit fällt der Dreißigjährige Krieg. In manchen seiner Gedichte finden sich auch Bezugnahmen auf diesen,12 man geht jedoch irre in der Annahme, Gerhardts Theologie oder Spiritualität seien geprägt von der Erfahrung dieses Krieges. Dass es in der gefallenen Welt Leid gibt und dass es einen von Christus gespendeten Trost für die Leidenden gibt, gehört vielmehr zu den Einsichten, welche unabhängig von Kriegszeiten in einer christlichen Kultur durch Erziehung vermittelt werden. Paul Gerhardt hat diese Einsichten in seinen Liedern weitergegeben. Desgleichen sind seine Lieder auch nicht durch persönliche Erfahrungen wie den Tod fast aller seiner Kinder oder seiner Ehefrau geprägt worden.13 Überliefert sind von Paul Gerhardt überwiegend Gedichte, 137 deutsche und 15 lateinische. Die deutschen Gedichte sind meistens geistliche Gedichte, und wiederum unter diesen sind die meisten, nämlich 123, als Lied, zum Gesang bestimmt, gedichtet worden und wurden mit Notentext oder Angabe einer Melodie veröffentlicht.14 Der Ort der Erstveröffentlichung war meistens ein Gesangbuch mit Liedern einer Vielzahl von Autoren, reformatorischer und späterer lutherischer Dichter, nämlich die „Praxis pietatis melica“, herausgegeben von Johann Crüger. Dieser, Kantor von St. Nikolai in Berlin, der Kirche, an der Gerhardt später Prediger war, unterlegte teils die neu erschienenen Lieder mit einer alten Melodie, teils komponierte er eine neue hinzu. Crüger brachte in Abständen von wenigen Jahren neue Ausgaben mit zusätzlichen neuen Liedern heraus. Gerhardt veröffentlichte die meisten seiner Lieder in der Ausgabe von 1653. Erst 1666–67 gab es eine eigene Ausgabe der Lieder Paul Gerhardts, herausgegeben von Johann Georg Ebeling, dem Nachfolger Crügers als Kantor von St. Nikolai: „Pauli Gerhardi Geistliche Andachten“. Die Auffassung von Frömmigkeit, an der Paul Gerhardt partizipiert, geht schon aus dem Titel des Crügerschen Gesangbuches hervor. In der Fortsetzung des Titels wird dies noch genauer bestimmt: diese Lieder dienen der Förderung 11 Vgl. Bunners, Paul Gerhardt, 2. Aufl., 360f. 12 Thematisch wird dies nur in CS 97 und 98. 13 Paul Gerhardt heiratete erst 1655. Zu diesem Zeitpunkt waren die meisten Lieder Paul Gerhardts – und unter ihnen die meisten wichtigsten – bereits veröffentlicht. Vgl. Grosse, Gott und das Leid, 17–19. 14 Eine fast vollständige Ausgabe ist: Paul Gerhardt, Dichtungen und Schriften, hg. und textkritisch durchg. von Eberhard von Cranach-Sichart, München 1957. Die unter Anm. 5 genannte Auflage (CS) lässt die Schriften weg. Hinzu kommen drei Gedichte, die Christian Bunners ediert hat: Bunners, Paul Gerhardt, 2. Aufl., 361–364, vgl. Grosse, Gott und das Leid, 18f, mit Anm. 34 und 35.
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„so wol Kirchen- als Privat-Gottesdienstes“, will sagen, des Gottesdienstes der Hausgemeinde, für die Luther seinen Kleinen Katechismus geschrieben hatte. Als erste Eigenschaft evangelischer Spiritualität, wie sie sich bei Paul Gerhardt zeigt, kann also festgehalten werden: Der Autor spiritueller Texte tritt in Zusammenarbeit mit dem Musiker auf, der seinen Texten eine Melodie unterlegt. Er veröffentlicht in einem Gemeinschaftswerk mit anderen Autoren. Die Spiritualität seiner Texte wird gelebt in einem kirchlichen Zusammenhang, für den sie von vornherein geschaffen wurden, nämlich in der öffentlichen Kirchengemeinde oder der Hausgemeinde.
2.
Die Spiritualität der Lieder Paul Gerhardts
2.1
Der Heilige Geist
Welche weiteren Eigenschaften dieser Spiritualität lassen sich nennen? Wird der oft sehr nebelhafte Begriff „Spiritualität“ von seinem sprachlichen Ursprung her definiert, so hat man nach der Geistigkeit, konkreter: nach der Präsenz des Heiligen Geistes in den Liedern Gerhardts zu fragen.15 Gerhardt spricht vom Heiligen Geist immer in Verbindung mit Gott dem Vater und Gott dem Sohn. Keine der drei Personen der Trinität wird überbetont oder von den anderen isoliert.16. Dem Heiligen Geist sind, wie es naheliegt, die Pfingstlieder eigens gewidmet, und dort heißt es zur Charakterisierung des Heiligen Geistes: „Du bist ein Geist, der lehret, / Wie man recht beten soll, / Dein Beten wird erhöret, / Dein Singen klinget wohl.“ (CS 29, 5,1–4) Der Heilige Geist macht sich also gegenwärtig in dem Singen des geisterfüllten Christen. Indem dieser singt, singt der Heilige Geist selbst. Das Beiwort „geistlich“ oder „geistreich“ in Titeln früher Ausgaben von Gerhardts Liedern ist also genau so zu verstehen, dass dies Lieder oder Andachten sind, die der Heilige Geist selbst wirkt. Der Heilige Geist spricht aber auch, indem er singt. Der Geist hat sich also selbst an das Wort gebunden. Die eigentümliche lutherische Zuordnung von Wort und Geist, die Luther von Zwingli und, wenngleich weniger stark, von Calvin unterscheidet, wird hier deutlich.17 Das Sprechen des Heiligen Geistes wird in den zitierten Strophen näher als ein „Lehren“ bestimmt, die Zielbestimmung dieses Lehrens als das Beten. 15 Vgl. zu diesen Überlegungen: Grosse, Spiritualität, insbes. 546f. 16 Zur trinitarischen Struktur der Dichtung Gerhardts vgl. Grosse, Gott und das Leid, 169f. 17 Zum Wort bei Luther als dem Medium des Heiligen Geistes vgl. u. a. Grosse, Fundamentalkommunikation.
286 2.2
Sven Grosse
Lehre, Bibel, Trost
Gerhardt hat, wie in seiner Zeit üblich, seine Poetik der geistlichen Poesie am ausdrücklichsten in einer Vorrede, und zwar einem Widmungsgedicht entwickelt,18 dem Gedicht „Weltskribenten und Poeten“, das er dem Werk „Biblische Lieder und Lehrsprüche“ seines Berliner Dichterkollegen Michael Schirmer, Berlin 1650, beigesteuert hat.19 In diesem Gedicht geht es um eine Stellungnahme darum, ob der Mensch allein aus der Bibel oder vielleicht noch aus der weltlichen, heidnischen Poesie Trost empfangen kann. Das Wort, das der Heilige Geist lehrt, ist Gerhardt zufolge substanziell das Bibelwort. Das Bibelwort hat gegenüber der weltlichen Literatur den Vorzug, angesichts der stärksten Herausforderungen der menschlichen Existenz alleine einen wirksamen Trost, d. h. wirkliche Hilfe zu bringen. Diese Herausforderungen sind: erstens die Frage nach dem Sinn menschlichen Lebens angesichts des Scheiterns menschlicher Lebensentwürfe. Gerhardt verweist auf Cato Uticensis, der Selbstmord beging, weil er die Freiheit der römischen Republik nicht zu retten vermochte (Str. 2). Diese Fehlentscheidung kam zustande, weil er auf ein falsches Trostwort hörte, nämlich auf Platons „Phaidon“. Die zweite Herausforderung ist der eigene Tod (Str. 3), die dritte der Zweifel, ob man zu Christus gehört, also von Gott erwählt sei (Str. 5). Immer wieder ist es das Wort der Bibel, das allein die notwendige Klarheit bringt, weil es die Autorität Gottes selbst hat: „Und du sprichst nur: So spricht Gott!“ – so weichen alle Dämonen zurück, die den Menschen in die Verzweiflung stürzen wollen (Str. 5,5). Die orthodox lutherische, auf Luther selbst fußende Lehre von der auctoritas der Schrift ist also die Grundlage der Spiritualität Gerhardts. Paul Gerhardt empfiehlt damit Dichtungen, die auf der Bibel beruhen, und nicht nur die Lektüre der Bibel selbst. Geistliche Poesie ist also Dichtung, welche an der Substanz der Bibel partizipiert, indem sie die Bibel nachdichtet oder paraphrasiert. Besonders greifbar ist das bei Gerhardts Psalmennachdichtungen, etwa „Sei wohlgemut, o Christenseel“ (CS 89) als Nachdichtung von Ps 73, oder „Befiehl du deine Wege“ (CS 84) als Nachdichtung eines einzelnen Verses, nämlich Ps. 37,5, doch tun alle geistlichen Lieder Paul Gerhardts das in irgendeiner Weise. Während die reformierte Lieddichtung der Zeit nur aus Nachdichtungen der Psalmen bestand, ist der Begriff der biblischen Dichtung für den Lutheraner Gerhardt weiter gefasst. Das Wort, in dem der Heilige Geist wirkt, ist ein im Wort der Bibel wurzelndes Trostwort, das in den heftigsten existenziellen Herausforderungen hilft, und es ist zugleich ein Wort der Lehre. Gerhardts Spiritualität ist eine durchaus worthafte und lehrhafte, und dazu gehört auch, dass seine Lieder ziemlich lang sind. Auch die modernen Ausgaben 18 Man spricht darum von Vorreden-Poetik, vgl. Grosse, Geistliche Poesie, 295–298. 19 CS 57.
Die Spiritualität Paul Gerhardts (1607–1676)
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der Lieder Gerhardts in den landeskirchlichen Gesangbüchern, die noch sehr viele Strophen abdrucken, sind oft gekürzt. So hat „Ich hab in Gottes Herz und Sinn“ im Evangelischen Kirchengesangbuch von 1953 neun Strophen, im Original sind es zwölf (CS 73). Diese Länge ergibt sich oft durch den argumentativen Charakter von Gerhardts Liedern. Sie folgen zwar nicht der Disputationskunst der theologischen oder philosophischen Werke der protestantischen Scholastik, in denen Gerhardt geübt war, auf vollem intellektuellen Niveau mit all ihren Distinktionen; sie haben aber doch einen dialogischen Charakter, indem zwei Positionen miteinander streiten, Argumente heranziehen und Gegenargumente entkräftet werden. Auch „Befiehl du deine Wege“ vollzieht einen argumentativen Weg, bis schließlich die Conclusio auf eine praktische Weise erfolgt: in dem Gebet des Nachdenkenden, „Mach End, o Herr, mach Ende …“ (CS 84, 12,1). Es gehört dabei zu Gerhardts Kunst, diesen intellektuellen und argumentativen Charakter nicht zu stark hervorzukehren, sondern eingängig zu machen. Er soll aber nicht übersehen werden und durch Kürzungen sollte nicht der Gedankengang verstellt werden, der in seinen Liedern sich entwickelt.
2.3
Gemütsbewegung und Schönheit
Das Lehren ist dabei eine von drei Aufgaben, welche gemäß der Poetik, die von der Antike an bis zu Gerhardt und darüber hinaus gelehrt wurde, Dichtung haben solle. Die beiden anderen sind die Bewegung des Gemüts und das Erfreuen durch die Schönheit der Sprache.20 Das Bewegen des Gemüts drückt sich in Metaphern der Bewegung aus, besonders beliebt ist das Springen:21 „Fröhlich soll meine Herze springen“ (CS 5, 1,1), oder auch der Tanz: „Da geht’s mit dir gleich als zum Tanz, / Da lobt es deines Hauses Glanz …“ (CS 23, 7,1f). Dieses Springen und Tanzen ist in der Gerhardtschen Spiritualität stets ein verinnerlichtes, das durch die Sprache sich Ausdruck verleiht. Diese Gefühlsbetonung geht dabei nie auf Kosten der Intellektualität. Natürlich wird in dem einen Lied mehr das eine, in dem anderen mehr das andere vorherrschen, aber es handelt sich nie grundsätzlich darum, dass das eine Moment dem anderen sein Recht streitig macht. Der Gefühlsausdruck ist dabei in Gerhardts Liedern sprachlich durchaus gemäßigt. Gerhardts Zeit ist der Barock. Mit „Barock“ verbindet man aber die sprachliche Form, die zu der höchsten Stufe, dem genus grande, gehört. Gerhardts Dichtung gehört hingegen zumeist der mittleren Stufe an, gelegentlich 20 Aufschlussreich ist hier die Poetik August Buchners, der zu Gerhardts Studienzeit in Wittenberg lehrte. Die dreifache Bestimmung der Aufgaben der Dichtung ist seit der Antike überliefertes Gemeingut, vgl. Grosse, Gott und das Leid, 194–197.228f. 21 Vgl. a. a. O., 175–179, mit Stellenangaben
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sogar der untersten, in welcher von den sprachlichen Mitteln der sparsamste Gebrauch gemacht wird.22 Den Unterschied kann man wahrnehmen, wenn man beispielsweise Gerhardts Passionssalve an die Füße des Gekreuzigten mit dem entsprechenden Sonett des Gryphius vergleicht. Paul Gerhardt schreibt: „Diese Füße will ich halten Auf das best ich immer kann; Schaue meiner Hände Falten Und mich selbsten freundlich an“ (CS 18, 5,1–4).
Bei Gryphius heißt es hingegen: „HIR wil ich gantz nicht weg! Laßt alle Schwerdter klingen Greiff Spiß und Sebel an! Brauch aller Waffen Macht Vnd Flamm‘ / und was die Welt für unerträglich acht. Mich sol von diesem Creutz kein Tod / kein Teufel dringen.“23
Beides sind Möglichkeiten des dichterischen Ausdrucks innerhalb der lutherischen Orthodoxie. Die dritte Aufgabe der Dichtung ist das Erfreuen durch sprachliche Schönheit, im Lied verbunden mit der Schönheit der Musik, wie es in dem Pfingstlied an den Heiligen Geist heißt: „Dein Singen klinget wohl.“ (CS 29, 5,4) oder „Du meine Seele, singe, / Wohlauf und singe schön“ (CS 108, 1,1f).24 Der Begriff der Schönheit hat in Gerhardts Dichtung als solcher einen platonischen Ursprung, der allerdings in einer besonderen Weise christlich, man darf ruhig sagen: evangelisch-lutherisch, abgewandelt ist. Johann Arndt und Johann Hülsemann, zu Gerhardts Studienzeit der bedeutendste Theologe in Wittenberg, haben die Stellen in Platons Symposium aufgegriffen, in welcher Diotima von dem „göttlichen Schönen“ spricht.25 Der Zusammenhang bei Platon ist nun dieser, dass der vom Eros getriebene Mensch einen Aufstieg vollzieht bis hin zu der höchsten Stufe, wo er das „göttlich Schöne“ anschaut.26 Arndt, Hülsemann und Gerhardt identifizieren das Schöne mit Gott: Er ist schön, in demselben Sinne ist der menschgewordene Gott, ist Jesus Christus schön. Dessen Schönheit überträgt sich auf sein Wort. An diesem Punkt unterscheidet sich der Christ und Lutheraner Paul Gerhardt von Platon, für den das sinnlich hörbare Wort nur eine Durchgangsstufe nach oben sein kann. Paul Gerhardt, bei dem das Süße ein dem Schönen verwandter Begriff ist, 22 Vgl. a. a. O., 232f. 23 Gryphius, Gedichte, 4. Dies wird auch noch im folgenden Quartett und im ersten Terzett in der gleichen Weise weiter geführt. 24 Zur Bedeutung der Musik vgl. Grosse, Gott und das Leid, 235–240. 25 Vgl. Hülsemann, Methodus concionandi, 198; Arndt, Johann, Wahres Christentum, Buch II, 30 (Ausgabe Sondershausen 1708, 333f), vgl. II, 26,10 (321). 26 Vgl. Plato, Symposion, 211d–e.
Die Spiritualität Paul Gerhardts (1607–1676)
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sagt von Jesus in einem Gespräch der christlichen Seele mit sich selbst: „Hörst du, wie er dich ergötzet / Mit dem zuckersüßen Mund?“ (CS 2, 8,3f). Der Mund Christi ist darum süß und schön, weil aus ihm das Wort des Heils und des Trostes kommt, das der Mensch hört; das Wort des Menschen, der von Christi Heil und seinem Geist erfüllt ist und auf Christi Wort antwortet, hat an dieser Schönheit teil. Eben darum singt dieser Mensch schön.27
2.4
Wort, Musik und die sichtbare Welt
Für Gerhardts Dichtung und Spiritualität ist es also in gleicher Weise bedeutsam, dass sie auf das Wahre ausgerichtet ist, dass sie die Emotionen des Menschen erfüllt und dass sie Schönheit anstrebt. Diese Schönheit ist grundlegend die des Wortes. Damit verbunden ist sie die Schönheit der Musik, eben weil das Wort sich singen lässt. Doch auch das Sehen wird eingeschlossen. Paul Gerhardts Gedichte entwerfen, wenn sie von den Stationen der Geschichte Christi sprechen, die sichtbare Gestalt vor sich: „O Welt, sieh hier dein Leben / Am Stamm des Kreuzes schweben!“ (CS 13, 1,1f). Häufig verwendet Gerhardt das sprachliche Emblem. Das heißt, er beschreibt mit Worten einen sichtbaren Vorgang oder ein Ding – was ansonsten in einem Bild gezeigt würde. Dieses Bild steht für eine geistige Wahrheit. Die ganze sichtbare Welt kann auf diese Weise beobachtet, gezeigt und als Sinnbild, als Emblem für die Wahrheiten des Glaubens gedeutet werden. Arndts Auffassung vom liber naturae im vierten seiner „Vier Bücher vom wahren Christentum“ wird hier fortgesetzt. So heißt es in der Schlussstrophe des Morgenliedes „Nach Meeresbrausen und Windessausen / Leuchtet der Sonnen erwünschtes Gesicht“ (CS 37, 12,3f). Das steht als Bild für die Aussage „Kreuz und Elende, / Das nimmt ein Ende.“ (Str. 12,1f), die in den folgenden, abschließenden Versen noch weiter entfaltet wird. Solche sprachlichen Embleme, welche die Imagination des Sichtbaren hervorrufen, durchziehen Gerhardts Werk.
3.
Themen von Paul Gerhardts geistlicher Dichtung
Die Themen, zu denen Paul Gerhardt seine Lieder geschrieben hat, lassen sich ablesen an den Benennungen der Rubriken, in denen sie in Johann Crügers „Praxis pietatis melica“ angeordnet wurden. Die größten Gruppen von GerhardtLiedern finden sich in der Rubrik „Hohe Fest- und Danklieder. Lob- und Danklieder“ und in der Rubrik „Vom Christlichen Leben und Wandel“ / „Vom 27 Vgl. Grosse, Theologie und Schönheit, insbes. 299–303.
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Creutz und Anfechtung“.28 Daraus ergibt sich für die Spiritualität Gerhardts erstens ihre Verwurzelung im Kirchenjahr – viele Lieder sind für die besonderen Zeiten und Feste des Kirchenjahres geschrieben, vom Advent bis Trinitatis – , und zweitens eine Zuordnung zu den theologischen Lehrstücken „De providentia“ und „De cruce et consolationibus“.29
3.1
Rechtfertigung und Providenz
Dass von Paul Gerhardt sich kein Lied in der Rubrik „Von der Rechtfertigung“ findet, hat die Meinung verstärkt, bei ihm finde eine Verlagerung des Schwergewichts statt, von der Rechtfertigung des Sünders hin zu der Bewältigung von Problemen im diesseitigen Leben, wie sie theologisch in den genannten Loci und im Gesangbuch in dieser Rubrik thematisch wird.30 Ein etwas tieferer Blick zeigt indes, dass die Problematik der Rechtfertigung in den Liedern „Vom Christlichen Leben und Wandel“ und „Vom Creutz und Anfechtung“ notwendige Voraussetzung ist. Erst dadurch, dass der Mensch von Gott Vergebung der Sünden und Gerechtigkeit empfängt, ist er imstande, Gott um Beistand in schwierigen Lebenslagen bitten zu dürfen. In einigen dieser Lieder schimmert diese Voraussetzung durch – so in „Befiehl du deine Wege“ (CS 84, 9), in manchem wird sie sogar thematisch, wie in den Nachdichtungen von Gebeten Johann Arndts, „Ach treuer Gott, barmherzigs Herz“ und „Barmherzger Vater, höchster Gott“ (CS 78 und 79). Man kann also sagen, dass der thematische Schwerpunkt sich in der Tat verschoben hat, dass aber das Gesamtgefüge der Themen und Lehraussagen im Vergleich zur Reformation gleich geblieben ist.31
3.2
Providenz, Bittgebet und die Frage des Quietismus
In den Liedern „Vom Christlichen Leben und Wandel“ ist Gerhardt das wichtigste Anliegen, dass der Mensch sich der Führung Gottes überlässt. Dazu gehört auch ein Bittgebet, mit welchem er in Gott dringt, den Lauf der Dinge so auszurichten, dass es für ihn, den Betenden, gut ist. In dieser Weise wird auch gegen Kreuz und Anfechtung angegangen. Paul Gerhardt setzt dabei genau um, was in den Loci „De providentia“ und „De cruce et consolationibus“ gelehrt wurde.32 Die Posi28 29 30 31
Vgl. Grosse, Gott und das Leid, 90–93. Vgl. a. a. O., 29f.151–156. Vgl. Grosse, Anfechtung, zu dieser Diskussion dort insbes. 14. Vgl. a. a. O., 28f; Axmacher, Studien, 143–163 (Lutherische Rechtfertigungslehre in dichterischer Gestalt. Ist Gott für mich, so trete gleich alles wider mich). 32 Vgl. dazu Grosse, Gott und das Leid, 94–161; ders., Theodizee.
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tion, die er argumentativ bekämpft, ist dabei nicht eine, die Gott anklagt, weil er das Leid zulasse oder sogar schicke, sondern eine, die de facto eine Autonomie des Menschen in Anspruch nimmt. Den Menschen, der sich von der These seiner Autonomie leiten lässt, spricht er so an: „Bist du doch nicht Regente, / Der alles führen soll“ (CS 84, 7,5f). Im Gegensatz dazu: „Gott sitzt im Regimente / Und führet alles wohl.“ (CS 84, 7,7f) Gerhardts Haltung ist indes nicht als Quietismus zu verstehen, in dem der Mensch sich ganz einer Eigentätigkeit enthalten soll und sich höchstens, wenn überhaupt, zum Bittgebet aufschwingt. Die Behandlung der Providenz Gottes in der lutherisch-orthodoxen Theologie ließ beide Schlüsse zu: Der Mensch soll sich Gottes Führung überlassen – der Mensch soll sich in der Verantwortung wissen; Gott handelt auch durch ihn und erwartet von ihm ein Tun seiner Gebote, auch zur Erhaltung seiner selbst.33 Bei Paul Gerhardt heißt es in demselben Lied schließlich auch „Stärk unsre Füß und Hände“ (CS 84, 12,3); er bittet Gott also darum, gestärkt zu werden, damit er auch seine eigenen Kräfte einsetzen kann.34
3.3
Vanitas
Das Vorherrschen eines für das 17. Jahrhundert, aber nicht schon für die Reformation typischen Elements oder Motivs, ohne dass die reformatorischen Grundlagen verlassen werden, kann man auch an anderen Stellen in Gerhardts Lieddichtung beobachten. Man kann es als durchaus barock bezeichnen, dass er oft das Vanitas-Motiv zur Sprache bringt: „Menschliches Wesen / Was ist‘s! Gewesen. / In einer Stunde / Geht es zu Grunde, / Sobald das Lüftlein des Todes drein bläst.“ (CS 37, 7,1–5). Dieses Motiv hat in der geistlichen Barock-Dichtung indes eine andere Funktion als in der Liebesdichtung, wo es zu einem „Carpe diem“ hinleiten soll.35 Die Absicht ist auch kein invertiertes Sich-Erbauen an der menschlichen Vergänglichkeit, sie ist auch keine Anleitung zu einer stoischen Unerschütterlichkeit, sondern sie dient einer Entscheidung: zwischen dem zeitlichen und dem ewigen Gut: „Alles vergehet. / Gott aber stehet …“ (CS 37, 8,1f). Der nachsinnende, in dem Gedicht sich aussprechende Mensch macht sich dadurch klar, dass er sich nach dem orientieren soll, was Bestand hat und nicht nach dem Vergänglichen. Daraus resultiert seine Hinwendung an Gott, wie sie in Str. 9 zum Ausdruck gegeben wird: „Gott meine Krone, / … Ich hab gestellet / 33 Johann Gerhard sieht die Anwendung, den usus, der Providenzlehre in dem ersten, Leonhard Hutter (Hütter) in dem zweiten, vgl. Grosse, Gott und das Leid, 48f. Das eine schließt indes das andere nicht aus. 34 Vgl. auch Axmacher, Studien, 103–142 (Ein Lied von der göttlichen Providenz. Befiehl du deine Wege). 35 Vgl. Grosse, Theologie und Schönheit (wie Anm. 26), 304–306.
292
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Alles in deine Beliebung und Hand“ (CS 9, 1.9f). Das Motiv hat selbst einen biblischen Ursprung (z. B. Jes 40,6–8; Jak 4,14).
3.4
Mystik
Auch wegen des „Mystischen“ an Paul Gerhardt hat es Befremden oder Kritik gegeben: Er und überhaupt die gesamte Spiritualität des lutherischen 17. Jahrhunderts seien damit vom Wege der Reformation abgekommen und in die mittelalterlich mönchische Frömmigkeit zurückgefallen. Dies ist auch noch wahrzunehmen in der Bemerkung, die Dietrich Bonhoeffer in einem Brief aus dem Gefängnis Tegel an Eberhardt Bethge vom Vierten Advent, dem 19. Dezember 1943, über Paul Gerhardts Weihnachtslied „Ich steh an Deiner Krippen hier“ macht: Er habe viel Trost von diesem Lied empfangen, aber: „Ein klein wenig mönchisch-mystisch ist es …“.36 Was Bonhoeffer meint, ist wohl eine Wendung wie „O daß mein Sinn ein Abgrund wär / Und meine Seel ein weites Meer, / daß ich dich könnte fassen!“ (CS 6, 5,5–8). Um zu beurteilen, was es mit dem Mystischen bei Gerhardt auf sich hat und wie es zur reformatorischen Theologie und Spiritualität steht, muss zuerst geklärt werden, wie der Begriff „Mystik“ zu definieren ist.37 Um es in Kürze zu sagen: Spezifisch christliche Mystik – und Mystik ist schließlich ein christlich geprägter Begriff – ergibt sich auf folgerichtige Weise durch das, was etwa in 2Kor 8,9 ausgedrückt wird: Besteht der Reichtum Christi darin, Gott gleich zu sein (Phil 2,6), dann hat seine Menschwerdung zur Folge, dass der Mensch, der ihn im Glauben annimmt, selber Gott gleich wird (vgl. 1Joh 3,2). Mystik ist dann aber nicht einfach ein Lehrstück, in dem diese Aussage erörtert wird, sondern der Vollzug eines Gott-Gleichwerdens, das als solches ein Gott-Erkennen einschließt (vgl. nochmals 1Joh 3,2), das im gegenwärtigen Stand des Glaubens aber noch nicht gegeben ist, auch wenn es bestimmte Ereignisse einer Vorwegnahme geben mag. Diese gegenwärtige Unmöglichkeit des jetzt schon Zugesprochenen, aber noch nicht Verwirklichten drängt zu einer eigentümlichen sprachlichen Fassung, die über das bloß Lehrhafte-Erörternde hinausgeht, etwa zu diesem Ausruf Paul Gerhardts „O daß mein Sinn ein Abgrund wär, … daß ich dich könnte fassen!“ Zugleich ist das Verheißene aber auch schon gegenwärtig, und dies ist die Stelle, an welcher Martin Luther seinen eigentümlichen Beitrag zur christlichen Mystik machte. Die Einheit mit Gott wird durch das Wort, das äußere, sinnlich 36 Bonhoeffer, Widerstand und Ergebung, 246; vgl. auch Bunners, Paul Gerhardt, 253. Im Hintergrund steht die Kritik Albrecht Ritschls, sowie Wilhelm Koepps, vgl. Grosse, Gott und das Leid, 162, Anm. 233. 37 Dazu Grosse, Wendepunkte, insbes. 283–285.
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wahrnehmbare Wort, dem Sünder zugesprochen und schließt eben damit die Vergebung der Sünden und die Rechtfertigung mit ein. In Luthers Traktat „Von der Freiheit eines Christenmenschen“ ist dies deutlich ablesbar. Luthers Rechtfertigunglehre betrifft damit die Einstiegsbedingungen in den mystischen Prozess, an dessen Ende die bleibende und nicht nur zugesprochene oder vorweggenommene Einheit mit Gott, die unio mystica, steht. Luthers Beharren auf Wort und Glaube stellt zwar eine charakteristische Akzentsetzung, aber keine Sprengung oder Verkürzung des Gesamtzusammenhangs dar, in dem vorreformatorische Mystik sich bewegt.38 Es war also kein Bruch mit der lutherischen Reformation, sondern nur konsequent, dass die lutherische Orthodoxie an der Mystik festhielt, dass vor allem durch Arndts „Vier Bücher vom wahren Christentum“ vorreformatorische Mystik in großem Maße vermittelt wurde und dass der Wittenberger Theologe Johann Hülsemann den Begriff der unio mystica in die lehrhafte Theologie aufnahm: „De unione iustificatorum cum Christo, eorumque perseverantia“39. Die durch die Rechtfertigung durch das Wort erzeugte Gemeinschaft des Menschen ist bereits zugesprochene unio mystica. Paul Gerhardt drückt sie so aus (CS 83, 11f): „Herr, mein Hirt, Brunn aller Freuden, Du bist mein, Ich bin dein, Niemand kann uns scheiden: Ich bin dein, weil du dein Leben Und dein Blut Mir zugut In den Tod gegeben. Du bist mein, weil ich dich fasse Und dich nicht, O mein Licht, Aus dem Herzen lasse. Laß mich, laß mich hingelangen, Da du mich Und ich dich Lieblich werd umfangen.“
38 Vgl. Grosse, Luther und die Mystik, 187–235. 39 Vgl. Hülsemann, Extensio, 208–228; vgl. auch Grosse, Gott und das Leid, 162–165.
294 3.5
Sven Grosse
Blut- und Wundenverehrung
Die mystische Spiritualität, welche im orthodoxen Luthertum rezipiert wurde, kam zugleich aus dem mönchischen Milieu. Das ist auch etwas, was Bonhoeffer gespürt hat. Greifbar wird dies gerade in dem Fall der sogenannten sieben „Passionssalven“, die Anfang des 13. Jahrhunderts von dem Zisterzienser Arnulf von Löwen, dem Prämonstratenser Hermann Joseph von Steinfeld und einem Anonymus verfasst worden sind, lange aber – auf jeden Fall noch im 17. Jahrhundert – als Werke des Bernhard von Clairvaux überliefert worden sind.40 Diese sind Jesus grüßende Anreden – darum der Name „Salve“ –, welche konkret an bestimmte Teile des Körpers Jesu gerichtet sind, der als am Kreuz hängend vorgestellt und als gegenwärtig erfahren wird. Es handelt sich um Jesu Füße, seine Knie, die Hände, die Seitenwunde, die Brust und das Antlitz Jesu. Bernhard von Clairvaux kann als der Vater der spirituellen Literatur des orthodoxen Luthertums bezeichnet werden, und die Salven sind von mehreren Dichtern meist lutherischer Konfession (von Johann Scheffler, Angelus Silesius genannt, erst nach seinem Übertritt in die römisch-katholische Kirche) ins Deutsche übertragen worden, so von Johann Rist, Andreas Heinrich Bucholtz, Georg Philipp Harsdörffer. Gedichtete Betrachtungen des Gekreuzigten durch Daniel Caspar von Lohenstein und Andreas Gryphius – dieses Gedicht wurde hier schon zitiert – lehnen sich ebenfalls an die Passionssalven an; Dietrich Buxtehude schuf mit den „Membra Jesu nostri patientis sanctissima“ eine Vertonung des lateinischen Textes.41 Paul Gerhardt beteiligte sich auch an den Übertragungen. „O Haupt voll Blut und Wunden“ ist nur das letzte, an das Antlitz Jesu gerichtete Stück einer Folge von sieben Liedern. Das an das Herz gerichtete Salve (CS 23) 42 ist ein Beispiel für die lutherische Herz-Jesu-Frömmigkeit des 17. Jahrhunderts. In diesen Salven geschieht eine Betrachtung und Beschreibung des Körpers Jesu, seines leidenden, geschundenen, hässlich entstellten Körpers, verbunden mit einer äußerst intensiven seelischen – mystischen – Beziehung zu Jesus, dem vor allem gedankt wird dafür, dass er sich für den Betrachtenden hingegeben hat und dem der Betrachtende wiederum seine Hingabe versichert.43 Die Nähe, in die der Kontemplierende in dieser imaginierten, zugleich aber auch realen Begegnung mit dem Gekreuzigten zu dessen Körper kommt, ist für den modernen Leser (des 20. oder frühen 21. Jahrhunderts) befremdend, und, wie oft genug 40 Vgl. Grosse, Gott und das Leid, 241. 41 Vgl. Grosse, Johann Rists Übertragung, 80–82. 42 „O Herz des Königs aller Welt“. Noch erhalten, wenngleich stark gekürzt und geglättet, im neuen katholischen Gesangbuch Gotteslob (2013) unter der Nr. 369, nicht aber in den aktuellen evangelischen Gesangbüchern. 43 Vgl. Grosse, Gott und das Leid, 240–274.
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gesagt wurde, abstoßend. So heißt es in dem Salve an die Seitenwunde Jesu (CS 21, 4,6): „Mein Mund streckt sich mit aller Kraft, Damit er dich berühre Und ich den teuren Lebenssaft In Mark und Beinen spüre. Ach wie so süße bist du doch, Herr Jesu, meinem Herzen!“
Der Betrachtende streckt sich also empor, um die Seitenwunde Jesu zu küssen und das aus ihr strömende Blut zu trinken. Das Blut Jesu wird auch in einem anderen Passionslied Gerhardts, in „Ein Lämmlein geht und trägt die Schuld“ Gegenstand der Verehrung: „Mein großer Schatz, Herr Jesu Christ, / Ist dieses, was geflossen ist / Aus deines Leibes Wunden.“ (CS 12, 7,8–10). Dieses wird dann in den drei noch folgenden Strophen bis zum Schluss hin besungen.44 Es liegt auf der Hand, dass dies und vor allem die im Seitenwunden-Salve beschriebene Szene Metaphern sind. Das, was den Menschen stärkt, ist nicht eine – unmittelbar – physische Stärkung, sondern die Stärkung durch den Kreuzestod, den Jesus Christus uns zugut gestorben ist. Darum ist das Blut, das Jesus dabei vergossen hat, dem Herzen des Menschen süß. Die Erlösung wird aber von Jesus Christus als Gott und als Mensch vollzogen. Sie ist ein gott-menschliches und darum auch ein geistig-körperliches Geschehen, in dem sich GöttlichGeistiges und Menschlich-Körperliches unlösbar miteinander verbinden. Das Blut oder die geöffnete Seitenwunde sind darum nicht nur Metapher für die Erlösung, sondern auch Metonymie: reale Teile des Erlösungsgeschehens, die für das Ganze der Erlösung stehen.45 Die Blut-und-Wunden-Verehrung, bis mindestens zu Zinzendorf ein wesentliches Stück evangelischer Spiritualität, gehört also zu einer besonderen Sprache der Frömmigkeit. Die Menschen des 17. oder auch noch 18. Jahrhunderts haben gemerkt, wann diese Sprache gesprochen wurde, und sie verstanden; sie verstanden den metaphorischen bzw. metonymischen Sinn dieser Worte und Sätze; sie wussten, dass es sich hier um eine solche Sprache handelt und darum waren diese Aussagen für sie keineswegs abstoßend, sondern im äußersten Maße herzbewegend: „daß sie der Mensch ohne innerliche Bewegung und Rührung seiner Seelen nicht kan lesen oder absingen“46. 44 Dies wird durch die Wegkürzung Str. 7 und 9 im aktuellen Evangelischen Gesangbuch (Nr. 83) verunklart. Dazu auch Axmacher, Studien, 209–232 („Lamm“ und „Blut“ im Gedächtnis der Liebe. Ein Lämmlein geht und trägt die Schuld). 45 Dazu im Einzelnen Grosse, Gott und das Leid, 255–258. 46 So der Paul Gerhardt-Herausgeber Johann Heinrich Feustking 1707 im „Vorbericht“ zu seiner Ausgabe von Gerhardts Liedern über die Passionssalven, vgl. die Edition bei Grosse, Geistliche Poesie, 313. Im Text der Ausgabe von 1723 steht die Stelle auf S. )( 11r.
296
4.
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Zusammenfassung
Fassen wir die Merkmale zusammen, die hier für Paul Gerhardts Spiritualität herausgegriffen wurden: Evangelische Spiritualität ist bei Gerhardt Frömmigkeit, die durch den Heiligen Geist genährt wird, der in der Bindung an das biblische Wort und in biblisch begründeter Lehre sich mitteilt. Diese Spiritualität ist eine poetische. Poesie umfasst dabei Lehre, Bewegung des Gemüts und sprachliche Schönheit. Die Poesie vereinigt sich im Lied mit der Musik und schließt die sichtbare Welt im sprachlichen Emblem in sich ein. Reformatorisch und darum evangelisch ist diese poetische Spiritualität deshalb, weil die Rechtfertigung des Menschen ihre Voraussetzung ist. In dieser Spiritualität geht es wesentlich um Trost, d. h. um wirksame Hilfe für den angefochtenen Menschen. Dieser Trost wird durch das Vertrauen des gerechtfertigten Menschen auf Gottes Providenz auch in den schwierigsten Lebenslagen in Anspruch genommen. Rechtfertigung führt zur unio mystica. Die Vereinigung des Glaubenden mit Christus wird am konkretesten in der Verehrung des Gekreuzigten.
Literatur Quellen Gerhardt, Paul, Dichtungen und Schriften, hg. und textkritisch durchg. von Eberhard von Cranach-Sichart, München 1957 –, Wach auf mein Herz und Singe. Gesamtausgabe seiner Lieder und Gedichte, hg. von Eberhard von Cranach-Sichart, Wuppertal/Kassel 21991 [kurz: CS]. Gryphius, Andreas, Gedichte. Eine Auswahl, hg. von Adalbert Elschenbroich, Stuttgart, 1968. Hülsemann, Johann, Methodus concionandi, Wittenberg 1671 (Erstausgabe 1638). –, Extensio breviarii theologici, Leipzig 1648.
Forschungsliteratur Axmacher, Elke, Johann Arndt und Paul Gerhardt. Studien zur Theologie, Frömmigkeit und geistlichen Dichtung des 17. Jahrhunderts (Mainzer Hymnologische Studien 3), Tübingen 2001. Bonhoeffer, Dietrich, Widerstand und Ergebung. Briefe und Aufzeichnungen aus der Haft, hg. von Eberhard Bethge u. a. (DBW 8), München 1998. Bunners, Christian, Paul Gerhardt. Weg – Werk – Wirkung, Göttingen 42007. Das deutsche evangelische Kirchenlied des siebzehnten Jahrhunderts, Bd. 3, hg. von Albert Fischer/Wilhelm Tümpel, Gütersloh 1905
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Grosse, Sven, Fundamentalkommunikation – Luther, Karlstadt und Sebastian Franck im Disput über die Medialität der Bibel, in: Medialität, Unmittelbarkeit, Präsenz. Die Nähe des Heils im Verständnis der Reformatoren, hg. von Johanna Haberer/Berndt Hamm (Spätmittelalter, Humanismus, Reformation 70), Tübingen 2012, 99–116. –, Johann Rists Übertragung der lateinischen Passionssalven als Beispiel für die lutherische geistliche Dichtung des 17. Jahrhunderts, in: Hamburg. Eine Metropolregion zwischen früher Neuzeit und Aufklärung, hg. von Johann Anselm Steiger/Sandra Richter (Metropolis: Texte und Studien zu Zentren der Kultur in der europäischen Neuzeit), Berlin 2012, 77–89. –, Anfechtung und Verborgenheit Gottes bei Luther und bei Paul Gerhardt, in: „Unverzagt und ohne Grauen“ – Paul Gerhardt, der ,andere‘ Luther, hg. von Albrecht Beutel/ Winfried Böttler (Beiträge der Paul Gerhardt-Gesellschaft 4), Berlin 2008, 13–32. –, Der junge Luther und die Mystik. Ein Beitrag zur Frage nach dem Werden der reformatorischen Theologie, in: Gottes Nähe unmittelbar erfahren. Mystik im Mittelalter und bei Luther, hg. von Berndt Hamm/Volker Leppin (Spätmittelalter und Reformation. Neue Reihe 36), Tübingen 2007, 187–235. –, Die Spiritualität der Lieder Paul Gerhardts. Zum 400. Geburtstag des Dichters und Theologen, in: Stimmen der Zeit, Heft 8, August 2007, 543–555. –, Geistliche Poesie und geistliche Poetik zwischen Poesie und Theologie. Zu Johann Heinrich Feustkings‚ Vorbericht seiner Ausgabe von Paul Gerhardts Liedern von 1707 mitsamt einem kommentierten Abdruck des Vorberichts, in: Daphnis. Zeitschrift für Mittlere Deutsche Literatur und Kultur der Frühen Neuzeit (1400–1750), 36/2007, 295– 322. –, Wendepunkte der Mystik. Bernhard – Seuse – Luther, in: Frömmigkeit – Theologie – Frömmigkeitstheologie. Contributions to European Church History. Festschrift für Berndt Hamm zum 60. Geburtstag, hg. von Gudrun Litz/Heidrun Munzert/Roland Liebenberg (Studies in the History of Christian Traditions 124), Leiden/Boston 2005, 281–295. –, Theodizee im Bittgebet. Melanchthons Position zum Theodizeeproblem, in: Neue Zeitschrift für Systematische Theologie, 46/2004, 149–167. –, Gott und das Leid in den Liedern Paul Gerhardts, Göttingen 2001 (Forschungen zur Kirchen- und Dogmengeschichte 83). –, Theologie und Schönheit, Überlegungen zur geistlichen Poetik in den Liedern Paul Gerhardts, in: ThBeitr 31/2000, 294–309. Krummacher, Hans-Henrik, Ein unbekanntes Gedicht von Paul Gerhardt [Weigels Schwarm und schnöde Rotte], in: Frömmigkeit unter den Bedingungen der Neuzeit, FS Gustav Adolf Benrath, hg. von Reiner Braun / Wolf-Friedrich Schäufele, Darmstadt 2001, 60f. Kühlmann, Wilhelm, Zur lateinischen geistlichen Dichtung in der Zeit Paul Gerhardts, in: Wendebourg (Hg.), Paul Gerhardt, 91–114. Liess, Bernhard, Johann Heermann (1585–1647). Prediger in Schlesien zur Zeit des Dreißigjährigen Krieges (Arbeiten zur historischen und systematischen Theologie 4), Münster 2003. Petrich, Hermann, Paul Gerhardt. Ein Beitrag zur Geschichte des deutschen Geistes, Gütersloh 1914
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Scheitler, Irmgard, Das katholische Kirchenlied zur Zeit Paul Gerhardts, in: Wendebourg, (Hg.), Paul Gerhardt, 117–140. Wendebourg, Dorothea (Hg.), Paul Gerhardt – Dichtung, Theologie, Musik. Wissenschaftliche Beiträge zum 400. Geburtstag, Tübingen 2008.
Jan van de Kamp
Bevorzugte Formen der evangelischen Spiritualität im deutschen Sprachraum im 17. Jahrhundert
1.
Einleitung1
Das deutschsprachige Luthertum des 17. Jahrhunderts kennzeichnet sich Winfried Zeller zufolge durch eine „neue[n] Frömmigkeit“.2 Zeller betrachtete diese als Ergebnis einer „Frömmigkeitskrise in der dritten nachreformatorischen Generation“. Ein Fokus auf die Lehre und deren Systematisierung, Konservierung und Verteidigung habe zu einer Vernachlässigung der praxis pietatis geführt. Um 1600 sei mit Philipp Nicolai und Johann Arndt eine neue Frömmigkeit aufgekommen, welche die Krise überwunden habe. Zellers Postulat einer Frömmigkeitskrise wurde in der Forschung zu einer umfassenden Krise des 17. Jahrhunderts ausgeweitet, zu der Pest, Krieg und Tod gerechnet wurden. Die neuere Forschung hat die Existenz einer solchen Krise hingegen angezweifelt. Die zeitgenössischen Beschreibungen des kirchlichen Lebens erweckten keineswegs den Eindruck einer Krise. Außerdem habe es unter den damaligen Theologen manchmal eine enge Verbindung von Theologie und Frömmigkeit gegeben. Man müsse deshalb die in großer Zahl gedruckte Meditationsliteratur nicht als Antwort auf eine „geistlich tote“ lutherische Orthodoxie, sondern als ihre Leistung betrachten.3 Unabhängig davon, ob und in welchem Ausmaß es im deutschsprachigen Luthertum des 17. Jahrhunderts eine Frömmigkeitskrise gegeben hat, entstand eine neue Form der Frömmigkeit. Diese äußerte sich durch ein Aufblühen spi-
1 Ich bedanke mich bei meinen Hilfskräften Matthias Loeber und Jannik Sachweh, welche Hilfe geleistet haben bei der Angleichung der Literaturverweise an die Formalien und die ein Literaturverzeichnis erstellt haben. 2 Zeller, Protestantische Frömmigkeit im 17. Jahrhundert. Einen Beitrag zur Begriffsbestimmung von „Frömmigkeit“ oder „Spiritualität“ hat Bernd Jaspert geliefert, vgl. Jaspert, Spiritualität oder Frömmigkeit. Dieser Beitrag schließt sich an die Konzeption der Reihe über Evangelische Spiritualität an. 3 Vgl. Matthias, Frömmigkeitskrise um 1600; Illg, Ein anderer Mensch werden, 44–52.
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ritueller Konzepte, Formen und Medien sowie durch Schwerpunktverschiebungen unter diesen Formen. In diesem Beitrag wird ein Überblick über diese Konzepte, Formen und Medien sowie deren Anwendung und Entwicklung gegeben, sowohl innerhalb der lutherischen als auch der reformierten Konfession.4 Einige Überlegungen zur Vorgehensweise seien hier vorangestellt. Erstens bilden bei der Auswahl der spirituellen Formen zwei Bestseller der deutschsprachigen Erbauungsliteratur des 17. Jahrhunderts den Ausgangspunkt. Es handelt sich dabei um Johann Arndts „Vier Bücher vom wahren Christentum“ (1610) und Lewis Baylys „Praxis Pietatis: das ist, Ubung der Gottseligkeit“ (1628).5 Stichwort bei Arndt ist die Nachfolge Christi,6 bei Bayly die praxis pietatis.7 Letztere wird bei Bayly theologisch fundiert in der Gotteslehre, welche zur Meditation über das Elend von Unbekehrten und den gesegneten Stand der Bekehrten sowie zu einer Menge spiritueller Formen, unter anderen Gebet, Meditation, Hausandacht, Psalmgesang, Sonntagsheiligung, Abendmahl und Sterbensvorbereitung anleitet. Diese Themen werden in weiteren Büchern zur praxis pietatis behandelt, wie in Johann Gerhards „Meditationes sacrae“ (1606) und dessen „Schola Pietatis“ (1622/23). Im Folgenden werden diese Themen erstens in einer logischen Reihenfolge besprochen. Am Anfang stehen die Themen Bekehrung und Wiedergeburt, da diese Ereignisse als der Beginn eines wahren christlichen Lebens betrachtet wurden. Den Abschluss bilden das Thema der Sterbensvorbereitung und die Betrachtung der sogenannten vier letzten Dinge. Dazwischen werden einige Medien und Formen der Spiritualität besprochen, darunter Christusnachfolge; Bibel, Katechismus und Erbauungsliteratur; Meditation; Gebet; Hausandacht; Lied; Gottesdienst und Sonntagsheiligung sowie Abendmahl. Zweitens muss berücksichtigt werden, dass die erwähnten Medien Vorschriften von Pfarrern und Theologen sind, die oft von der Obrigkeit im Rahmen von Konfessionalisierung und Sozialdisziplinierung unterstützt wurden. Die Medien sind also präskriptiver Art. Daran schließt sich die Frage an, inwiefern die Leser bzw. Hörer diesen Vorschriften gefolgt sind. Aus diesem Grund erfolgt jeweils nicht nur eine knappe Darstellung der Inhalte der Medien, sondern es wird auch auf die Benutzung der Medien durch die Rezipienten eingegangen, soweit sich angesichts der geringen Quellenlage darüber etwas aussagen lässt.
4 Es wäre interessant, auch die mennonitische Spiritualität im deutschen Sprachraum einzubeziehen, aber darauf habe ich wegen mangelnder Forschungslage verzichtet. 5 Arndts Vier Bücher erschienen 1605 bis 1740 auf Deutsch 95mal; Bayly erschien 1628 bis 1750 auf Deutsch 69mal; vgl. Lehmann, Das Zeitalter des Absolutismus, 115f; McKenzie, devotional and religious books, 70–82. 6 Vgl. Illg, Ein anderer Mensch werden. 7 Vgl. Hof/Hollander/Huisman (Hg.), De praktijk der godzaligheid.
Formen der evangelischen Spiritualität im deutschen Sprachraum im 17. Jh.
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Drittens gebe ich in meinem Beitrag zunächst eine Gesamtschau,8 bevor ich mich in der Schlussfolgerung spezifischen Akzentsetzungen zuwende, indem ich der Frage nachgehe, welche Akzente kirchenkritische, reformbestrebte und pietistische Kreise im Hinblick auf Formen und Medien der Spiritualität setzten. Schließlich werde ich mich in diesem Beitrag des Umfangs und praktischer Gründe wegen auf die Forschungsliteratur stützen.
2.
Wiedergeburt und Bekehrung
Ab der zweiten Hälfte des 17. Jahrhunderts gewann sowohl in der lutherischen als auch in der reformierten Konfession die Lehre von der Wiedergeburt (regeneratio) an Bedeutung.9 Die neue Geburt wurde als Anfang des lebendigen Glaubens oder als Prozess der geistlichen Umwandlung des Menschen nach Gottes Bild verstanden. Bis dahin war in der lutherischen Lehre die Wiedergeburt nach Tit 3,5 unmittelbar mit der Taufe verbunden. Der reformbestrebte Pfarrer Theophil Großgebauer (1627–1661) löste diese Verbindung auf und verband stattdessen die Bekehrung (conversio) mit einem mehr oder weniger datierbaren, existenziellen und schmerzhaften Wiedergeburtserlebnis. Der Initiator des Pietismus, Philipp Jacob Spener (1635–1705), hat die Lehre der Taufwiedergeburt zwar beibehalten, lehrte aber, dass die meisten Täuflinge nicht in ihrer Taufwiedergeburt verharrten und einer zweiten Wiedergeburt, jetzt durch das Wort, bedurften. In der reformierten Konfession hatte Peter Streithagen mit seinem „Homo novus. Das ist: ein new, gelehrt vnd gottseliges Tractätlein, von deß Menschen Wider-Geburt“ (1658) zum ersten Mal eine deutschsprachige Abhandlung über die Wiedergeburt vorgelegt. Streithagen stellte diese Schrift aus englischen Quellen zusammen.10 Dass Wiedergeburt und Bekehrung im lutherischen Pietismus an Bedeutung gewannen, ist den Einflüssen von Lutheranern,11 mystischen Spiritualisten, 8 Die Darstellung beruht vor allem auf folgenden Überblicken, die aus verschiedenen Forschungsrichtungen stammen, der Kultur-, Religions-, Frömmigkeits-, Kirchen- und Pietismusgeschichte: Koch, Das konfessionelle Zeitalter, 242–259.291–300; Benedict, Christ’s Churches Purely Reformed, 490–532; Lehmann (Hg.), Glaubenswelt und Lebenswelten; Hölscher, protestantische Frömmigkeit in Deutschland; Kolb (Hg.), Ecclesiastical Culture; Greyerz/Conrad (Hg.), Handbuch der Religionsgeschichte; Shantz (Hg.), German Pietism. 9 Vgl. im Folgenden: Matthias, Bekehrung und Wiedergeburt, 49–58; ders., Protestant Orthodoxy, 26–32. 10 Vgl. Goeters, Der reformierte Pietismus, 243f; Kamp, reformiert-pietistisches Netzwerk in der Kurpfalz, 191–196. 11 Beispiele sind der Rostocker Theologieprofessor Johann Fecht (1636–1716) und sein Jenaer Kollege Johannes Musäus (1613–1681), welche die conversio auch im psychologisierenden Sinne definierten, vgl. Matthias, Protestant Orthodoxy, 26–30.
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Böhmisten, Theosophen und englischen Puritanern zu verdanken. Vor allem im Puritanismus wurde die Wiedergeburt in Predigten und Abhandlungen häufig thematisiert, wobei Ansätze früherer reformierter Theologen ausgearbeitet wurden. Zu seelsorgerlichen Zwecken stellte man Kennzeichen der Erwählung (experimental predestinarianism) auf und entwarf Darstellungen des Wiedergeburtsprozesses. Die Wiedergeburt wurde als ein Umbruchsprozess geschildert, in dem man zunächst durch die Wirkung des Gesetzes zerschlagen und dann durch das Evangelium getröstet wurde. So erlangte man nach vielen Konflikten, Zweifeln und Versuchungen Glaubensgewissheit. In der Regel stellte sich die Erlangung dieser Gewissheit nicht als punktuelles Erlebnis, sondern als gradueller Weg dar. Mithilfe solcher Erkennungsmerkmale konnte der Hörer bzw. der Leser prüfen, ob er fähig zur Wiedergeburt sei. Außerdem blühte im Puritanismus das Bekehrungsnarrativ auf. Eine Auswahl von englischen Bekehrungsgeschichten hat der reformierte Pietist Theodor Undereyck 1670 in seiner Publikation „Christi Braut unter den Töchtern zu Laodicaea“ übernommen. Ab Ende des 17. Jahrhunderts hat Johann Heinrich Reitz diese in seine „Historie der Wiedergebohrnen“ (7 Teile, 1698– 1745) übernommen und damit dem Bekehrungsnarrativ im deutschsprachigen Protestantismus zum Durchbruch verholfen.12 Im lutherischen Pietismus wurden Bekehrungsgeschichten erst nach 1720 gängiger, als man in bestimmten Kreisen das Bekehrungserlebnis August Hermann Franckes, den „Bußkampf“, als normativ darstellte. Doch auch infolgedessen gab es noch eine große Diversität der Bekehrungsgeschichten. Man hatte Scheu, Bekehrungen zu einfach nachzuahmenden Narrativen umzuschreiben.13 Im Hinblick auf die Aufforderung zur Bekehrung wurden unterschiedliche Methoden benutzt: Entweder eine disziplinierende Bußpredigt oder eine Predigt von der Liebe Gottes, die zum lebendigen Glauben erwecken sollte. Jene hatte vor allem in der reformierten Lehre ihre Wurzeln, diese in der lutherischen Lehre, obwohl es Überschneidungen gab.
3.
Christusnachfolge
Wiedergeburt konnte auch in einem weiteren Sinn als geistliche Transformation des Menschen nach Gottes Bild verstanden werden. In dieser Bedeutung ist sie Begriffen wie sanctificatio oder imitatio Christi ähnlich. Letzteres Thema wurde durch Johann Arndt intensiv behandelt. Arndts Wahrnehmung der lutherischen Kirche seiner Tage war sehr negativ: Ihm zufolge entsprachen das offizielle Be12 Vgl. Schrader, Literaturproduktion und Büchermarkt, 77–82. 13 Vgl. Strom, Pietist Experiences.
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kenntnis und der gelebte Glaube sich in den meisten Fällen nicht.14 Man war nicht bereit, Buße zu tun, es gab eine falsche Sicherheit des Glaubens und, die Früchte des Glaubens blieben aus. Vor diesem Hintergrund hat Arndt dringend zu einem „wahren Christentum“ aufgefordert, das im Kern aus der Nachahmung (imitatio) Christi besteht. Diese Nachfolge ist laut ihm der Weg, auf dem der Glaubende einer Erneuerung des Ebenbildes Gottes (imago Dei) entgegenstrebt. Dieses Ebenbild sei infolge des Sündenfalls ganz zerstört worden. Um Christus nachfolgen zu können, soll man das äußerlich sichtbare Beispiel seines Lebens sowie das lebendige Exempel des inkarnierten Jesus betrachten. Jenes zeigt Demut und Niedrigkeit als Lebensregel (regula vitae), diesem zufolge teilt der fleischgewordene Christus sich dem Glaubenden mit, es entsteht eine unio cum Christo: Christus schenkt dem Glaubenden eine rechte Erkenntnis von ihm und bringt sich im Glaubenden zur Erfahrung. Die Nachfolge ist erstens von wahrhafter Buße geprägt: Der Glaubende kämpft täglich gegen seine ständig zur Sünde geneigte menschliche Natur an und erstrebt die Selbstverleugnung (abnegatio sui). Zweitens zeichnet sich die Nachfolge durch eine völlige Hingabe an Gottes Willen aus. Der Weg der Nachfolge enthält zwei Stufen: Erstens eine Reinigung (via purgativa): Die fleischliche Natur wird gekreuzigt (mortificatio carnis), der innere geistliche Mensch wird aufgerichtet. Die zweite Stufe ist eine Erleuchtung: der Glaubende erlangt eine vertiefte Einsicht in die göttliche Weisheit. Die neuere Forschung hat gezeigt, dass Arndt in seinem „Wahren Christentum“ mittelalterlich-mystische, paracelsische, spiritualistische und lutherische Ansätze auf eigenständige Art und Weise miteinander verbunden hat.
4.
Bibel, Katechismus und Erbauungsliteratur
Unter evangelischen Gläubigen galt die Bibel als Quelle der besonderen Offenbarung Gottes und als die exklusive Norm des Glaubens.15 Bibeltexte wurden im Gottesdienst erklärt und appliziert, doch las man sie auch in der Schule und zu Hause. Allerdings besaßen vermutlich relativ wenige evangelische Haushalte eine Bibel. Innerhalb der lutherischen Konfession wurde die Lutherübersetzung gebraucht. Innerhalb der reformierten Konfession galt meistens auch die Lutherübersetzung, zuweilen die Übersetzung Johannes Piscators aus den Jahren 1602–
14 Vgl. im Folgenden: Illg, Ein anderer Mensch werden. 15 Vgl. im Folgenden: Hölscher, protestantische Frömmigkeit in Deutschland, 60f; Holtz, Das Luthertum, 157f; Greyerz, Das Reformiertentum, 330.
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1604. In der Schweiz wurde in der Regel die Zürcher Bibel verwendet, die auf die Froschauer-Bibel (1524–1529) zurückging. Im Pietismus war die Hochschätzung für die Bibel höher als in der Reformation und der lutherischen Orthodoxie. Dies hat zu einem vermehrten und vertieften Umgang mit der Bibel in breiten Kreisen der Bevölkerung geführt. Die Priorität der Bibel gegenüber den Katechismen wurde noch stärker betont. In der Schule und an der Universität wurde die Beschäftigung mit der Bibel zum zentralen Punkt des Unterrichtes. Pietisten bemühten sich um die Verbreitung der Bibel in preiswerten Ausgaben. Der hohe Stellenwert, den die Wiedergeburt unter Pietisten hatte, führte zur hermeneutischen Auffassung, dass die Bibel nur von geistbegabten, wiedergeborenen Christen richtig verstanden werden könne. Die Bibel wurde zum sozialen Kristallisationspunkt von pietistischen Theologiestudenten und Laien, nämlich in den collegia pietatis. Ihre Sprache war von biblischen Begriffen und Ausdrücken durchtränkt: die „Sprache Canaans“.16 Damit Kinder einen ersten Einstieg in die Bibel bekamen, wurden verschiedene Medien verwendet: Illustrierte biblische Geschichten, Büchlein über das Leben und die Passion Christi und Kommentare über die Perikopen des Kirchenjahres. Ein weiteres Medium waren die Spruchbüchlein, aus denen man Bibelverse auswendig lernen konnte und denen oft Katechismusfragen und Gebete beigegeben waren.17 Katechismen waren gedacht als Einstieg in die biblische Lehre und als Anleitung zu einem christlichen Leben, besonders für die Jugend.18 Oft waren sie in Frage- und Antwortform gehalten. Unter Lutheranern gewann Luthers Kleiner Katechismus (1529) den Status einer „Laienbibel“, unter Reformierten war der Heidelberger Katechismus (1563) der am häufigsten gebrauchte Katechismus. Als Idealzustand wurde eine gleichzeitige Unterrichtung im Katechismus durch Kirche (Katechismuspredigt), Schule und Zuhause gesehen.19 Schon bald nach dem Erscheinen von Luthers Katechismus folgten Bearbeitungen, in denen die Antworten kommentiert wurden und Fragen, Themen, Bibelstellen, Lieder und sogar Predigten hinzugefügt wurden. Gegen Ende des 16. Jahrhunderts sind hinsichtlich dieser Bearbeitungen zwei Entwicklungen auszumachen. Zum einen waren sie oft zu dogmatischen Textbüchern angewachsen, geordnet nach den Prinzipien der Logik und Rhetorik, wie Conrad Dieterichs „Institutiones catecheticae“ (1613). Den Pfarrern war nämlich an einer Vertiefung des katechetischen Unterrichts gelegen – unter anderem wegen der internen und externen Lehrstreitigkeiten – und die neuen Ordnungsprinzipien 16 17 18 19
Vgl. Brecht, Bibel im deutschen Pietismus, 102–111. Vgl. Bode, Instruction of the Christian Faith, 185–187. Vgl. a. a. O.; Greyerz, Das Reformiertentum, 331f. Vgl. Christman, Shaping Popular Piety, 275f.
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erfüllten die zeitgenössischen pädagogischen Bedürfnisse und Ziele. Zum anderen war den Pfarrern an dem Auswendiglernen des Katechismus gelegen. Mit diesen Entwicklungen ging nicht unbedingt eine Trennung von Theologie und Spiritualität einher. Luthers Katechismus diente beiden Dimensionen: Er wurde auch im Rahmen der Meditation oder der Beichte benutzt. Einen besonderen Akzent auf die Lebensheiligung legte der Bearbeiter Justus Gesenius mit seiner „Kleinen Katechismus-Schule“ (1631) und deren Kurzfassungen. Zu diversen Anlässen, zum Beispiel in der Fastenzeit, vor dem ersten Abendmahlsgang oder vor der Hochzeit, wurden die Kenntnisse im Katechismus geprüft. Diese Prüfungen wurden, oft im Rahmen der Beichte, regelmäßig wiederholt. Ob der Katechismus aber wirklich verstanden wurde, unterschied sich von Gegend zu Gegend stark.20 In der dem Kleinen Katechismus hinzugefügten „Haustafel“ hat Luther die Lehre auf die Praxis des Alltags angewandt. Er hat darin die Pflichten der drei Stände zu Gott und zum Nächsten beschrieben, nämlich die Verantwortlichkeiten des Lehrstandes (Geistliche), des Wehrstandes (Herrscher) und des Nährstandes (Bürger, Hausväter). Die Stände waren Luther zufolge von Gott verordnet. Die Haustafel wurde im 16. und 17. Jahrhundert Gegenstand vieler Bearbeitungen, zum Beispiel in Gedichten, Liedern, Kommentaren, in mündlicher und schriftlicher Form. Wer seiner Berufung gemäß lebte, durfte den zeitlichen und ewigen Segen Gottes erwarten; wer im Widerspruch zu seiner Berufung lebte, Gottes Strafe. Zu Bibel und Katechismus trat eine große Zahl von Erbauungsbüchern.21 Am verbreitetesten waren die anfangs erwähnten Schriften: Arndts „Vier Bücher vom wahren Christentum“ und Baylys „Praxis pietatis“. Erfolgreich waren auch Johann Gerhards „Meditationes sacrae“ und die Schriften über Einzelthemen, wie das ewige Leben (Philipp Nicolai, „Freuden-Spiegel des Ewigen Lebens“, 1599), Gottes Güte (Joachim Lütkemann, „Vorgeschmack der göttlicher Güte“, 1653) und seine Liebe (Heinrich Müllers „Himmlischer Liebes-Kuß“, 1659). Ebenso wie Baylys Schrift waren weitere englische puritanische Schriften sehr populär. Darin wurden die Wiedergeburt und ihre Kennzeichen thematisiert, es wurde dazu aufgefordert, sein Gewissen daran zu prüfen und es wurden detaillierte Präskriptionen für die tägliche Lebensheiligung (godly living handbooks) geliefert. Mit dieser bis ins Detail gehenden Regulierung der täglichen Heiligung scheinen die puritanischen Schriften ein neues Element in die evangelische Spiritualität im
20 Vgl. a. a. O., 273–275. 21 Vgl. Beck, Erbauungsliteratur der evangelischen Kirche; ders., religiöse Volksliteratur der evangelischen Kirche; Grosse, Wegweiser in die Erbauungsliteratur; Leube, Die Reformideen in der deutschen lutherischen Kirche; Mohr, Erbauungsliteratur; Weismayer/Beutel, Erbauungsliteratur.
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deutschen Sprachraum im 17. Jahrhundert eingeführt zu haben.22 Sowohl Reformierte als auch Lutheraner übersetzten, verlegten, druckten und lasen die englische Erbauungsliteratur. Ab etwa 1660 gab es lutherische Bearbeitungen dieser Texte.23 Lutheraner lasen die mystischen Schriften eines Arndt oft in Kombination mit den asketischen Schriften der Engländer.24 Umgekehrt scheinen die Reformierten bis Ende des 17. Jahrhunderts neben englischen auch lutherische Schriften gelesen zu haben. Erst mit Theodor Undereycks „Christi Braut“ kam eine einheimische reformierte Erbauungsliteratur auf, die stark vom englischen Puritanismus und der niederländischen Nadere Reformatie geprägt war.25
5.
Meditation
Meditation als intensive Betrachtung von Bibeltexten diente der persönlichen Aneignung der evangelischen Wahrheit.26 Luther hatte die Meditation als monastisches Erbe weiter tradiert. Im 17. Jahrhundert erfuhr das Luthertum einen starken Aufschwung der Meditationsliteratur. Meditation wurde vor allem von kirchenkritischen und reformbestrebten Theologen wie Johann Michael Dilherr (1604–1669), Johann Schmidt (1594–1658) und Philipp Jacob Spener als ein Mittel betrachtet, die Botschaft der Predigt in das Herz der Zuhörer dringen zu lassen, damit diese ihr Leben erneuern würden. Dies hatte zur Folge, dass sie den Schwerpunkt von der Predigt auf die Meditation verlegten. In der Meditationsliteratur sind zwei Traditionslinien zu unterscheiden. Erstens eine lutherische, in der wie bei Luther Meditation im Dienst der Schriftauslegung steht. Die bekanntesten Vertreter waren Martin Moller („Soliloquia de passione Jesu Christi“, 1587; „Praxis Evangeliorum“, 1601) und Johann Gerhard („Meditationes sacrae“, 1606). Gerhard und Moller übernahmen aus den patristischen und mittelalterlichen Quellen unter anderem das Soliloquium (Selbstgespräch), mit dem man sich meditierend eine vorgegebene Interpretation eines Bibelwortes aneignen konnte. Die beiden Autoren setzten im Sinne Luthers auf die Wirkkraft des Wortes, dem sie das Subjekt passiv gegenüber22 Vgl. Kamp, christliche Disziplinierung des Alltags. 23 Vgl. McKenzie, British devotional literature; Sträter, Rezeption der englischen Erbauungsliteratur in Deutschland, 116; Damrau, Reception of English Puritan Literature in Germany; Kamp, Deutsche Übersetzungen englischer und niederländischer reformierter Erbauungsbücher. 24 Vgl. Holtz, Das Luthertum, 159–161.212–214. 25 Vgl. Mohr, Erbauungsliteratur, 62f. 26 Vgl. im Folgenden: Sträter, Meditation und Kirchenreform; Täubner, Meditationspraktiken, 3–79.
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stellten. Meditation hing bei ihnen eng mit der Anfechtung zusammen: Die Meditation floss aus der Anfechtung fort und bildete die angemessene Vorbereitung darauf. Übrigens wurden die Meditationsanleitungen von Gerhard und weiteren Autoren im 17. Jahrhundert auch ins Englische übersetzt und erlangten dort eine gewisse Breitenwirkung.27 Eine Variante der ersten Linie war das stärker durch Mystik und Spiritualismus geprägte Meditationsverständnis Johann Arndts, das zu Recht als „eine neue ,Sprachschule‘ forcierter Innerlichkeit“ bezeichnet werden kann.28 Durch Buße, die in ihrem Ausmaß der Überlegenheit Gottes entgegenkommen sollte, konnte man zu einer entscheidenden Erfahrung der Liebe Gottes im Inneren gelangen. Mit dieser Meditationsform war eine tägliche Gewissensprüfung verbunden, ob man Gott aus Liebe und nicht aus Zwang gehorche. Die zweite Traditionslinie war die der englischen puritanischen Erbauungsliteratur, wie Baylys „Practise of piety“ und Joseph Halls „The arte of divine meditation“ (1606). Sie war, wie bei Bayly, oft in eine Gesamtanleitung zum christlichen Leben eingebettet. War das Subjekt in der ersten Traditionslinie passiv, so wurde es in der zweiten zur Aktivität aufgefordert: Es sollte sich bekehren und sein ganzes Leben heiligen. Dazu wurde es Schritt für Schritt angeleitet. Die puritanische Meditationsliteratur hat viele Meditationspraktiken der Jesuiten und spanischen Katholiken rezipiert. Dies lässt sich daraus erklären, dass die puritanische Meditationsliteratur vor dem Hintergrund der Gegenreformation entstand, nämlich als deren Alternative. Tanja Täubner zufolge war die pietistische Bewegung, in der Meditationsliteratur intensiv rezipiert wurde, das Ergebnis praktizierter Meditation. Diese habe fromme Subjekte befähigt, sich selbst eine pietistische Identität zuzuschreiben und ihr sprachlich Ausdruck zu verleihen.
6.
Gebet
Auf das Gebet wurde großer Wert gelegt.29 Es sei der „edelste und beste Schatz der lieben Christenheit, der höchste Trost in allen Nöten, die stärckste Wehr in Gefährlichkeit, die gewisse Arznei in Krankheit“, so der Augsburger lutherische Pfarrer Bernhard Albrecht (1596–1636).30 Sowohl in der Gemeinde als auch in der Hausandacht wurde meistens das Vaterunser gebetet. Ab Ende des 16. Jahrhunderts öffneten sich die Kirchenge27 28 29 30
Vgl. Flügge, Erbauungsliteratur im frühneuzeitlichen England. Täubner, Meditationspraktiken, 63. Vgl. im Folgenden: Boyd Brown, Devotional Life, 245–254; Holtz, Das Luthertum, 214f. Albrecht, Haus- und Kirchenschatz, Hamburg 51652; Vorrede zit. nach Holtz, Das Luthertum, 214.
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bete für konkrete gesellschaftliche Anliegen und für die Staatstreue: Man fing an, den Landesherrn mit Familienangehörigen sowie Amtsleute mit Rang und Titel zu nennen. Als Anleitung für das Beten erschienen Sammlungen von Modellgebeten, die Gebetbücher. Sie wurden sowohl in der Kirche als auch zuhause benutzt. Die Kompilatoren der Gebetbücher griffen auf Luther oder auf mittelalterliche Mystiker zurück. Als Beispiel für die erste Kategorie steht Johann Habermanns „Christliche Gebette für allerley Not und Stende der gantzen Christenheit“ (1567), das im 17. Jahrhundert noch sehr populär war. Das Buch war eine Ausarbeitung der Haustafel aus Luthers Kleinem Katechismus. Im Unterschied zu Luther hat Habermann für die Gebete Bibelstellen frei umformuliert. Er verfasste Gebete für jeden Tag, die er nach den Ständen und Berufen anordnete. Zentrales Anliegen der Gebete war die Bewahrung der reinen Lehre, sowohl im Herzen der Christen wie in der Kirche. Die zweite Kategorie der Gebetbücher, die zurückgriff auf mittelalterliche Quellen, entstand um 1600. Das bekannteste Beispiel ist Arndts „Paradies-Gärtlein“ (1612). Arndt wollte mit Gottes Wort die gläubige Seele, welche das beste Gebetbuch sei, eröffnen und bewegen. Arndts Gebetbuch war von hoher literarischer Qualität. Das Anliegen, alle Bereiche des Lebens seelsorgerlich zu begleiten, führte dazu, dass Gebetbücher zu enzyklopädischen Sammlungen anwuchsen. In den meisten Büchern finden sich Gebete für 1. Abend und Morgen; 2. Buße, Beichte und Abendmahl; 3. das Kirchenjahr; 4. Krankheit und Sterben; 5. Anfechtung und Trübsal; 6. Gefahren (Krieg, Seuchen, Unwetter und Gefahren unterwegs); 7. Kirche; 8. Obrigkeit; 9. Familie und 10. Beruf. Die Gebete wollten für das oft von Elend und Not geprägte Dasein Trost bieten und zu Demut und Geduld anleiten. Das wohl vollständigste und erfolgreichste Gebetbuch war Michael Cubachs „Einer gläubigen und andächtigen Seelen tägliches Bet-, Buß-, Lob- und DankOpffer“ (1654). Es wurde ständig erweitert und rezipierte orthodox-lutherische, pietistische und englische puritanische Gebete. Beliebt waren auch Sammlungen von Luthers Gebeten, wie Johann Jakob Becks „Himmelsleiter“ (1648). Sowohl das Gebetbuch Arndts als auch dasjenige Habermanns wurden ebenfalls von Reformierten gelesen. Im reformierten Bereich in der Schweiz war das „Christliche Bätt-Büchlein“ (1661) von Felix Wyss sehr erfolgreich.31 Im Pietismus erhielt das freie Gebet, das „Herzensgebet“, einen höheren Stellenwert als das vorformulierte Gebet. Anleitungen zum Beten wurden wichtiger als Sammlungen von Gebeten.32
31 Vgl. Greyerz, Das Reformiertentum, 357f. 32 Vgl. Wallmann, protestantische deutsche Gebetsliteratur, 13–46.
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7.
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Hausandacht und collegium pietatis
Dem Hausvater wurde die Aufgabe zugeteilt, seinen Kindern und seinem Gesinde religiöse Unterweisung zu vermitteln. In diesen Andachten las man aus der Bibel und aus Erbauungsbüchern vor und sang Lieder. Pfarrer empfahlen mindestens eine Andacht pro Tag, morgens oder abends. Dies wurde vermutlich nur in geringem Ausmaß praktiziert.33 Im Luthertum waren die grundlegenden Hilfsmittel der Hausandacht das Gesangbuch, die Postille und der Katechismus. Weil diese Medien auch im Gottesdienst benutzt wurden bzw. nach dem Kirchenjahr gegliedert waren, gab es eine enge Verbindung zwischen dem öffentlichen Gottesdienst und der Hausandacht: Letztere war komplementär zu Ersterem. In Zeiten, in denen die Ausübung des lutherischen Gottesdienstes verboten war, meistens wegen Konfessionswechsel der Landesherrschaft, lebten die Hausandacht und damit auch die lutherische Spiritualität im Allgemeinen fort. Dies scheint eher auf spontane Initiativen des Volkes als auf den vorhergehenden Unterricht durch die Pfarrer zurückzuführen zu sein.34 Eine Ausweitung über die familiäre Sphäre hinaus sowie eine Intensivierung erfuhr die Hausandacht in den collegia pietatis des Pietismus, die 1670 von Spener in Frankfurt am Main initiiert wurden. Dort trafen sich die „wiedergeborenen“ Christen und pflegten untereinander Gemeinschaft, indem sie Bibelverse miteinander besprachen, beteten und sangen. Über diesen Weg der Sammlung der Frommen wollte man auf eine Reform der Kirche hinarbeiten. Den Konventikelchristen zufolge befähigte nicht eine akademische Ausbildung zur Bibelauslegung, sondern die Wiedergeburt. Dies gab den Laien eine Legitimation, die Bibel im Kreis des Konventikels auszulegen. In Speners Erbauungsversammlungen sollten anfänglich teilnehmende Frauen schweigen, die Geschlechtsunterschiede – ebenso wie die des Standes – lösten sich in den Konventikeln aber immer mehr auf. Waren die Versammlungen anfangs als Ergänzung zum Kirchgang gedacht, so wurden sie mitunter zur Alternative zur Kirche, was auf die zum Teil ausgesprochen kritische Haltung der Konventikelbesucher gegenüber der Kirche zurückzuführen ist.35 Innerhalb der reformierten Konfession waren private Versammlungen zum Studium der Bibel üblich. Erbauungsversammlungen, die ab der zweiten Hälfte des 17. Jahrhunderts unter deutschen reformierten Christen gehalten wurden,
33 Vgl. Christman, Shaping Popular Piety, 276–278. 34 Vgl. Boyd Brown, Devotional Life, 253–258. 35 Vgl. Mori, Piety of the Radicals.
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konnten daran anknüpfen.36 Bei der Entstehung der Frankfurter collegia haben vermutlich unter anderem reformierte Impulse eine Rolle gespielt.37
8.
Lied
Im Hinblick auf Lieder im Gottesdienst wurde in Gottesdienstordnungen streng auf die Einhaltung der reinen Lehre geachtet.38 Vermutlich war man eher restriktiv in der Aufnahme neuer Lieder. Im Gottesdienst sang die Gemeinde deutsche Lieder, aber es gab, meistens in städtischen Gottesdiensten, auch Schülerchöre, die auf Latein sangen. In Visitationsakten tauchen regelmäßig Klagen über das mangelhafte Singen der Gemeinde auf. Aber diese sollten nicht überbewertet werden. Es gibt nämlich auch Indizien für die Bereitschaft zur Beteiligung am Gemeindegesang. Durch Hilfsmittel wie Gesangbücher und Liedertafeln scheint diese sich im Laufe des 17. Jahrhunderts gesteigert zu haben. Lieder wurden in Gesangbüchern gebündelt.39 Aus Dedikationen und Vorreden lassen sich das intendierte Publikum sowie die Aufgaben dieser Bücher ableiten. Sie zielten auf einfache Christen, denen man das Evangelium vermitteln, die man im Glauben stärken, zur Besserung des Lebens anleiten und denen man Trost in Todesnot spenden wollte. Anfänglich gab es eine Trennung zwischen Gesangbüchern für den häuslichen und solchen für den kirchlichen Gebrauch. Diese Trennung begann sich um die Mitte des 17. Jahrhunderts aufzulösen. Gesangbücher waren durch eine große Schrift und oft durch das kleinere Oktavformat auf den Gebrauch in der Kirche oder unterwegs angelegt. Gesangbücher wurden ständig erweitert und die Lieder wurden unter verschiedenen Aspekten des Lebens rubriziert. Das am weitesten verbreitete Gesangbuch war Johannes Crügers „Praxis pietatis melica“ (1647). Den Übergang zum Pietismus markierte Heinrich Müllers „Geistliche Seelen Musik“ (1659). In pietistischen Kreisen galt das „Geist-reiche[s] Gesangbuch“ (2 Bände: 1704f; 1714) Johann Anastasius Freylinghausens als Standardwerk. Das wohl wirkungsreichste Beispiel von lebensnahen Liedern sind die Dichtungen Paul Gerhardts. Bei ihm sind die dunklen Seiten des Lebens nicht dichterisch überdeckt, sondern durch „fröhliche[s] Vertrauen“ auf Gottes unendliche Güte überwunden. Das markanteste Beispiel ist das Lied „Befiehl du deine Wege“.40 36 37 38 39 40
Vgl. Lieburg, Dutch Factor in German Pietism, 66–68. Vgl. Deppermann, Johann Jakob Schütz, 93–98. Vgl. Im Folgenden: Boyd Brown, Devotional Life; Holtz, Das Luthertum, 162f. Vgl. Veit, Gesangbuch. Vgl. Holtz, Das Luthertum, 216.
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Innerhalb der reformierten Konfession wurden die Psalmen in Liedform gesungen, weil diese die Worte des Heiligen Geistes selbst seien. Der populärste deutschsprachige Psalter war die Übersetzung des Genfer Psalters durch Ambrosius Lobwasser, dessen erste Auflage 1573 erschien.41 Am Ende des 17. Jahrhunderts begann sich der Liederschatz für den Gottesdienst auszuweiten. Verstärkt wurde diese Entwicklung unter dem Einfluss des Pietismus im 18. Jahrhundert durch den zunehmenden Gebrauch von geistlichen Liedern in der Hausmusik. Die zu Hause gesungenen Lieder Luthers, Joachim Neanders und aus dem Freylinghausenschen Gesangbuch gingen auch in die offiziellen Gesangbücher ein. Gesungen wurde im lutherischen Gottesdienst mehrstimmig, mit Orgelbegleitung und oft in konzertanten Musikaufführungen. Der Pietismus hat eine reine Instrumentalmusik ohne Worte abgelehnt und förderte deshalb den Choral.42 In der zwinglianischen Tradition wurde der Gesang im Gottesdienst erst im Laufe des 16. Jahrhunderts eingeführt. Orgelbegleitung setzte sich in den deutschsprachigen reformierten Gemeinden meist erst im 18. Jahrhundert allmählich durch.43
9.
Gottesdienst und Sonntagsheiligung
Vom Gebot zur Heiligung des Feiertages wurde die Pflicht abgeleitet, am Sonntag und auch einige Male in der Woche den Gottesdienst zu besuchen und die Predigt zu hören.44 War der Gottesdienst im 16. Jahrhundert vor allem auf dem Land im Allgemeinen noch schlecht besucht, so stieg die Teilnahme Anfang des 17. Jahrhunderts wohl ein wenig.45 Neben der Predigt gab es die Liturgie, die sich aus Lied, Bekenntnis, Gebet und Kollekte für die Armen oder andere diakonische Zwecke zusammensetzte. Das Verhältnis zwischen Predigt und Liturgie entwickelte sich in den einzelnen Landeskirchen auf unterschiedliche Art und Weise.46 Neben den regulären Predigten an Sonntagen, an Feiertagen und in der Woche – auch den Frühpredigten für das Gesinde – gab es Kasualpredigten (Taufe, Hochzeit, Leichenpredigt), Lehr (oder Katechismus-)- bzw. Propagandapredigten47 und Predigten zu außergewöhnlichen Anlässen, wie politische Ereignisse 41 42 43 44 45 46 47
Vgl. Grunewald (Hg.), Der Genfer Psalter. Vgl. Holtz, Das Luthertum, 175–177. Vgl. Greyerz, Das Reformiertentum, 333f. Vgl. im Folgenden: Holtz, Das Luthertum, 156f; Greyerz, Das Reformiertentum, 328f. Vgl. Christman, Shaping Popular Piety, 272f. Vgl. Holtz, Das Luthertum, 210f. Predigten, mit denen man Leute von politischen Auffassungen überzeugen bzw. zu politischer Agitation bewegen wollte.
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(z. B. Friedenspredigten) und Krisensituationen, bei denen die Prediger zur Buße aufforderten.48 Lutherische Pfarrer predigten gemäß der Perikopenordnung, allerdings zogen sie auch oft andere als die vorgeschriebenen Bibelstellen heran oder hielten eine Predigtreihe über ein Bibelbuch. In der reformierten Tradition wurden oft ganze Bibelbücher nacheinander ausgelegt.49 Es erschienen gedruckte Sammlungen von Predigten zur Handreichung für die Prediger und die Kirchgänger: Postillen. Manche Prediger, die sogenannten „Postillenreiter“ machten Missbrauch davon, indem sie Predigten aus einer Postille vortrugen. Viele Predigten waren nach dem Schema Gesetz und Evangelium strukturiert. Die Prediger proklamierten die Verurteilung des Menschen als Sünder vor Gottes Angesicht sowie die Vergebung der Sünden durch Jesus Christus. Sie wandten beide Bereiche auch auf das konkrete Leben an, indem sie ihre Zuhörer zur Umkehr von konkreten Sünden aufforderten und inmitten der Sorgen und Nöte des irdischen Lebens Hoffnung und Trost spendeten. Um ihre Zuhörer zur Bekehrung zu bewegen, wiesen sie auch auf zeitgenössische Krisen, wie Flut, Pest und Krieg hin, die sie als Zeichen von Gottes Gericht bzw. als Gottes Aufforderungen, Buße zu tun, verstanden. Viel Aufmerksamkeit widmeten die Prediger der Normierung aller Bereiche des Lebens, wie den sozialen Ordnungen (Ehe, Beruf, Reichtum und Armut, Obrigkeit und Untertan) und den menschlichen Lebensstationen. Dies trifft auch für die orthodox-lutherischen Pfarrer zu, deren Predigten lebensnäher waren als man in der Forschung lange Zeit gedacht hat. Polemik hatte einen hohen Stellenwert in den Predigten, war aber nie ein Ziel in sich selbst, sondern diente den geistlichen Interessen der Hörer. Der Gottesdienst fand in einem Kirchengebäude mit einer gewissen Form und Einrichtung statt, die sowohl symbolisch wie auch praktisch begründet waren. Umgeben war man im Kirchenraum von Kunstwerken mit biblischen Bildprogrammen, etwa auf Altar, Kanzel, Taufstein, Emporen oder Epitaphien.50 In der reformierten Tradition galten Altar und Kunstpracht als römische Überreste, die man für den Gottesdienst ablehnte. Im Zentrum der reformierten Kirche stand die Kanzel.51 In der zweiten Hälfte des 17. Jahrhunderts gab es innerhalb des Luthertums eine Debatte über die Sonntagsheiligung. Reformbestrebte und pietistische Lutheraner forderten im Sinne des Puritanismus und der Nadere Reformatie zum cultus privatus als Ergänzung zum cultus publicus auf: Christen sollten am Sonntag nicht nur die öffentlichen Gottesdienste besuchen, sondern zu Hause als 48 Vgl. Rublack, Lutherische Predigt und soziale Wirklichkeiten, 344–395; Holtz, Theologie und Alltag; Haemig/Kolb, Preaching in Lutheran Pulpits, 117–157. 49 Vgl. Greyerz, Das Reformiertentum, 356. 50 Vgl. Holtz, Das Luthertum, 164–175. 51 Vgl. Greyerz, Das Reformiertentum, 332f.
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Vor- und Nachbereitung darauf individuell und mit dem Hausgesinde geistliche Übungen wie Beten, Bibellesen, Meditieren oder Singen ausführen. Die Frage führte um 1670 zu einer Debatte zwischen Spener und seinen pietistischen Gesinnungsgenossen auf der einen und Speners orthodoxem Lehrer Sebastian Schmidt und anderen orthodoxen Theologen auf der anderen Seite. Schmidt teilte Speners Bestrebungen zu einer Beförderung der Sonntagsheiligung, meinte aber, dass man die ganztägige Heiligung des Sonntags nicht aus dem Sabbatgebot herleiten könne.52
10.
Abendmahl
Das Abendmahl diente ebenso wie die Taufe dem Bekennen der Lehre, der Stärkung des Glaubens und der Erinnerung an die Einheit der Gemeinde in Christus.53 Es sollte in der Kirche gefeiert werden. Eine Abendmahlsfeier zuhause wurde ebenso wie die Hochzeitspredigt und die Taufe im privaten Raum von den Geistlichen abgelehnt. Die Art der Austeilung von Brot und Wein sowie Zeitpunkt und Frequenz konnten von Region zu Region variieren. Johann Gerhard empfahl, morgens das Abendmahl zu feiern, weil man dann am empfänglichsten und konzentriertesten sei.54 Vor der Abendmahlsfeier sollte man sein Gewissen befragen, ob man seine Sünden bereue, an Gottes Barmherzigkeit glaube und sein Leben bessern wolle. In den lutherischen Gemeinden konnte man hierfür am Samstag seine Sünden beichten und so Absolution erlangen. In reformierten Gemeinden besuchten Pfarrer und Älteste oft vor der Abendmahlsfeier ihre Gemeindemitglieder, um sie zu prüfen und gegebenenfalls zur Teilnahme zu bewegen.55 Denjenigen, die zu wenig Glaubenskenntnisse hatten oder in öffentlicher Sünde lebten, wurde von einer Teilnahme abgeraten bzw. sie wurde ihnen untersagt. Dennoch wurde oft beklagt, dass viele von ihnen trotzdem am Abendmahl teilnahmen.56 Während die Lutheraner die Realpräsenz Christi in Brot und Wein lehrten, verneinten Zwinglianer und Calvinisten dies. Den Anhängern Zwinglis zufolge war das Abendmahl lediglich ein Gedächtnis an den Tod Christi und war Christus im Abendmahl nur geistlich präsent. Die Calvinisten besaßen eine Mittelposition: Sie lehrten, dass die gläubigen Kommunikanten auf geistliche Art und Weise Teil an der menschlichen Natur Christi haben, der zur Rechten Gottes sitzt. Diese Unterschiede wirkten sich auch auf die Praxis aus: In reformierten Gemeinden 52 53 54 55 56
Vgl. Sträter, Meditation und Kirchenreform, 129–144. Vgl. Wandel (Hg.), the Eucharist in the Reformation. Vgl. für diesen Abschnitt: Holtz, Das Luthertum, 220–222. Vgl. Greyerz, Das Reformiertentum, 364. Vgl. Christman, Shaping Popular Piety, 282–284.
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wurde das Brot gebrochen, in lutherischen Gemeinden nicht. Calvins ursprüngliche Intention, jeden Sonntag das Abendmahl zu halten, scheint sich kaum durchgesetzt zu haben. Unter Einfluss der Bundestheologie wurde die Abendmahlsfeier auch als eine erneute Besiegelung des Bundes zwischen Gott und Mensch verstanden.
11.
Sterbensvorbereitung, die vier letzten Dinge
Wegen der geringen durchschnittlichen Lebenserwartung bis ins 19. Jahrhundert war eine Sterbensvorbereitung ohne Aufschub geboten.57 Dazu benutzte man während des Lebens wie auch in der Todesstunde Lieder, Gebete und Bibelsprüche, die man zum Beispiel in handgeschriebenen Büchlein notierte. Auch die Bitte um Vergebung für das anderen zugefügte und das Angebot von Verzeihung für selbst erlittenes Unrecht gehörte zur Todesvorbereitung. Wurde man nicht plötzlich vom Tod überfallen, dann konnte man sich auf das Sterben vorbereiten. Hierfür unterrichtete der Pfarrer die Sterbenden über die biblische Bedeutung des Todes und über das Opfer Christi, nahm die Beichte ab, reichte das Abendmahl und tröstete Verwandte und Freunde. Der Kreis der Familie und Freunde begleitete den Sterbenden mit Gebet und Gesang. Der Tod, auf den man vorbereitet war, galt als „schöner“ oder „guter“ Tod, ein Tod der Sünde und Beginn des neuen Lebens für die Seele. Das Begräbnis wurde nach einem festen Ritus durchgeführt, wozu unter anderem die Leichenpredigt gehörte.58 Darin erteilte der Pfarrer eine allgemeine Unterrichtung über Tod, Gericht, Christi Verdienst, Glaube, Auferstehung und ewiges Leben, erklärte, wie man sich auf den Tod vorbereiten könne und tröstete die Verwandten. Oft wurde das Leben des Verstorbenen als exemplarisch dargestellt. Es gab Versuche, den Wildwuchs der Leichenreden einzudämmen, aber die Tradition der gedruckten Leichenpredigt dauerte bis in das 18. Jahrhundert, weil sie als Erbauungsliteratur und gesellschaftliche Repräsentation funktionierte. Das Begräbnis war von zahlreichen volkstümlichen Glaubensvorstellungen begleitet. Nicht nur über den Tod sollte man meditieren, sondern über alle vier letzten Dinge (quatuor novissima): Tod, Gericht, Himmel und Hölle.59 In Predigten, Liedern und Erbauungsliteratur wurden die Herrlichkeit des Himmels und die ewige Qual der Hölle eindringlich geschildert. Auch Epitaphien, Bibelsprüche 57 Vgl. im Folgenden: Rudolf, Ars moriendi; Krusenstjern, Seliges Sterben und böser Tod; Christman, Shaping Popular Piety, 284–286; Holtz, Das Luthertum, 241–243; Greyerz, Das Reformiertentum, 370.373f. 58 Vgl. zur Leichenpredigt: Niekus Moore, Patterned lives. 59 Vgl. Hölscher (Hg.), Das Jenseits.
Formen der evangelischen Spiritualität im deutschen Sprachraum im 17. Jh.
315
und bildliche Darstellungen im Kirchenraum oder auf dem Friedhof sollten zur Betrachtung des Jenseits anleiten.60
12.
Schlussfolgerung
Das 17. Jahrhundert sah das Aufblühen von verschiedenen spirituellen Medien und Formen, sowohl im europäischen Christentum wie im deutschsprachigen Protestantismus. Beispiele sind die Meditationsliteratur und in pietistischen Kreisen die Erbauungsversammlung. Außerdem fanden in kirchenkritischen, reformbestrebten und pietistischen Kreisen Verschiebungen statt. So verlegte man den Schwerpunkt von der Predigt auf die Meditation. Dies konnte einhergehen mit einem neuen Verständnis von Meditation als eine existenzielle innerliche Erfahrung von Gottes Liebe (Arndt) oder als adhortatio zur Bekehrung und Lebensheiligung (Puritaner). In beiden Fällen war Meditation eng verbunden mit täglicher Gewissensprüfung. In diesen Kreisen konnte die Verbindung zwischen Taufe und Wiedergeburt auch unter Spannung geraten. Man thematisierte intensiv den Prozess der Wiedergeburt, ohne ihren Verlauf normativ zu fixieren. Die Bedeutung, welche man der Wiedergeburt zuschrieb, führte zu der Ansicht, dass nur wiedergeborene Christen imstande wären, die Bibel auszulegen. Diese versammelten sich in erbaulichen Zusammenkünften, die eine Alternative zur Kirche werden konnten. Formen und Medien der Spiritualität waren im hohem Maß untereinander verknüpft: Dem Katechismus wurden Lieder und Predigten beigegeben und Luthers Haustafel wurde zu Gebeten umgearbeitet. Auch hinsichtlich der Anwendung gab es Verknüpfungen: Katechismus, Gebet- und Gesangbuch wurden oft in Kombination benutzt. Außerdem kamen sie sowohl in der Kirche, der Schule wie auch zuhause zur Anwendung, wobei die einzelnen Bereiche komplementär zueinander standen. Viele spirituelle Medien zeichneten sich durch eine große Alltagsnähe aus, indem alltägliche Erfahrungen aufgegriffen wurden und mit einer Aufforderung zur Bekehrung bzw. einer Trostspendung angesichts allerhand Krisen61 verbunden wurden. Diese Nähe zum Alltag findet sich nicht nur in Gebet- und Liederbüchern, sondern auch in eher belehrenden Medien wie dem Katechismus und der Predigt auch unter Autoren, die zur Orthodoxie gezählt werden. In einigen spirituellen Formen und Medien wie dem Katechismus hat man vor allem aus reformatorischen Quellen geschöpft. In anderen wie dem Gebetbuch 60 Vgl. Holtz, Das Luthertum, 196–199.235. 61 Vgl. Kaufmann, Dreißigjähriger Krieg und Westfälischer Friede; Lehmann/Trepp (Hg.), Religiosität im Europa des 17. Jahrhunderts; Ingen, Deutungsmuster.
316
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ist die Quellenlage weniger einheitlich: Manche Autoren wie Habermann haben reformatorische, andere wie Arndt haben vorreformatorische Quellen benutzt und verarbeitet. Deutschsprachige Protestanten im 17. Jahrhundert haben nicht nur vorreformatorische Quellen herangezogen, sondern auch Quellen aus einer anderen evangelischen Konfession. Lutheraner haben reformierte Erbauungsliteratur, vor allem von englischen Puritanern, übersetzt, gedruckt, verlegt und gelesen. Umgekehrt haben die Reformierten Schriften lutherischer Autoren wie Arndt und Habermann gelesen. Die Konzepte der Wiedergeburt, die detaillierte Regulierung der täglichen Lebensheiligung, die religiöse (Auto-) Biografie, die Erbauungsversammlung und die Sonntagsheiligung sind vermutlich zum Teil durch reformierte Quellen bzw. Vorläufer angeregt, die vor allem aus England stammten. Damit besaß die deutschsprachige evangelische Spiritualität internationale Dimensionen, die sich auch darin äußerten, dass Schriften von Gerhard und anderen ins Englische übersetzt wurden. Obwohl die vorgeschriebenen spirituellen Formen vermutlich in geringem Umfang praktiziert wurden, scheint es in bestimmten Gegenden doch eine spontane und blühende Spiritualität gegeben zu haben, in der Gesangbuch, Postille und Katechismus die Grundpfeiler bildeten. Diese Spiritualität trat insbesondere nach Verboten des öffentlichen Gottesdienstes zutage und trug dazu bei, die Konfession in einer bestimmten Gegend zu bewahren. Andererseits stellte die vorhandene Spiritualität oft das Ergebnis eines Verhandlungsprozesses zwischen den Vorschriften der Theologen und der popular religion (Robert W. Scribner) der Bevölkerung dar.62 Evangelische spirituelle Formen verbanden sich mit traditionellen Bräuchen in der Bevölkerung. Diese glaubte an heilige Zeiten, Orte und magische Kräfte von Bibeln, Gebeten und Zeichen zum Schutz vor Gefahren oder zur Genesung von Krankheit. Abschließend lässt sich die Frage stellen, ob im Pietismus eine spezifische Spiritualität vorliegt. Überblickt man die Spiritualität des Pietismus, so werden dort erstens neue Konzepte und Formen wie die Wiedergeburt, das Bekehrungsnarrativ und die Erbauungsversammlung eingeführt. Zweitens gewinnen bestimmte Formen wie der Umgang mit der Bibel sowie die Sonntagsheiligung an Intensität. Drittens erhalten Formen eine spezifische Ausprägung, nämlich die Meditation und das Gebet. Innerhalb des Protestantismus hatte die pietistische Spiritualität also eine eigene Ausprägung.
62 Vgl. Scribner, Religion and culture.
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317
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Formen der evangelischen Spiritualität im deutschen Sprachraum im 17. Jh.
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Klaus vom Orde
Die Spiritualität Philipp Jakob Speners (1635–1705)
1.
Einführende Überlegungen
Definiert man den modernen und schillernden Begriff der Spiritualität vorläufig als die Frage nach der religiösen Dimension1 im menschlichen Leben, dann bezieht sich dies auf die Gesamtheit der persönlichen Lebensgestaltung, also auch auf die sozialen Beziehungen. Spiritualität lässt sich in ihrer „vordiskursiven“ Weise erkennen, nämlich wie sich der religiöse Habitus im ganz praktischen Leben unwillkürlich zeigt, und schließlich auch in der theologischen Reflexion darüber, welche Bedeutung die Religiosität für das Menschsein hat und wie die Spiritualität im konkreten Leben appliziert wird. Immer scheint es jedoch um die Frage zu gehen, wie sich das Bewusstsein des Menschen als religiöser Existenz ausgestaltet. Die traditionelle – und angesichts des geradezu inflationären Gebrauchs von „Spiritualität“ – offenbar als verbraucht angesehene Begriffsfamilie von „Frömmigkeit“2 drängt sich nachgerade als Synonym für „Spiritualität“ auf. Ob dies zutrifft, sei zunächst dahingestellt. Jedenfalls scheint bei der Beschäftigung mit evangelischer Spiritualität – oder wenigstens Spiritualität in der evangelischen Kirche – der Pietismus ins Spiel zu kommen, als dessen „Vater“ Philipp Jakob Spener häufig betrachtet wird. „Pietismus“ ist eine pejorative Verballhornung des lateinischen Begriffs pietas für Frömmigkeit und die „Pietisten“3 sind solche, die die Frömmigkeit (in einer bestimmten Gestalt) für Theologie und Leben besonders betonen. Die Schlussfolgerung liegt also nahe, die Frage nach der Spiritualität bei Spener sei gleichzusetzen mit seinem gesamten theologischen und kirchlichen Wirken.4 Um seine Spiritualität zu fokussieren, ist ihre 1 Ich lasse hierbei die Bedeutungsvarianz beiseite, nach der ganz allgemein eine Sinnrelevanz von Personen, Gruppen, Institutionen oder Handlungsweisen gemeint ist (dazu s. Rotzetter, Lexikon, 7) 2 Vgl. Köpf, Spiritualität. 3 Diese Form der Begriffsfamilie ist zeitlich vorgängig. 4 Inwieweit die Beschreibung seiner Spiritualität auf die des Pietismus – hier auf den Pietismus in der Barockzeit eingeschränkt – insgesamt zutrifft, sei hier ausgeklammert.
Die Spiritualität Philipp Jakob Speners (1635–1705)
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diskursive Einordnung in seine Theologie und die sich daraus ergebenden Handlungsstrategien, die Formen seines eigenen spirituellen Lebens und schließlich seine Haltung zu einigen speziellen Formen spirituellen Lebens zu behandeln.
2.
Biografische Skizze
Philipp Jakob Spener wurde am 13. Januar 1635 als ältester Sohn des Rappoltsweiler Hofjuristen Johann Philipp Spener geboren. Dort erhielt er schon als Kind und Jugendlicher Anregungen für eine Frömmigkeit, die eine „eigentümliche Verbindung lutherischer Orthodoxie mit Arndtscher und puritanischer Frömmigkeit“ darstellte.5 Gerade die Lektüre englischer Erbauungsliteratur, auf die er von verschiedenen Seiten hingewiesen wurde, ließ ihn schon früh die Bedeutung der „Übung der Gottseligkeit“ erkennen.6 Schon mit sechzehn Jahren begab er sich im Jahr 1651 nach Straßburg, um zunächst die philosophischen Grundstudien zu absolvieren, die er am 17. Mai 1653 mit einer Disputation über die Naturrechtslehre abschloss.7 Während seines danach begonnenen Theologiestudiums beschäftigte er sich auch intensiv mit geschichtlichen Studien. Am 23. Juni 1659 schloss er es mit einer Disputation über den Bindeschlüssel bei dem Straßburger Theologen Johann Conrad Dannhauer ab,8 um anschließend seine Studien in Basel fortzusetzen und sich auf eine Studienreise durch die Schweiz bis nach Genf zu begeben. In Basel konzentrierte er sich vor allem auf die jüdischen Lehren von Talmud und den Rabbinen, während er von seinem Genfer Aufenthalt in seinem Lebenslauf vor allem über seine Kenntnisse zur Geschichte der Waldenser berichtet. Nach Straßburg zurückgekehrt, führte ihn die Aufgabe als Reisebegleiter seines Landesherrn Johann Jakob von Rappoltstein nach Stuttgart und Tübingen. Dort war ihm eine Professur für Geschichte in Aussicht gestellt worden, vorher wurde er jedoch nach Straßburg zurückberufen, um die zweite Freipredigerstelle zu übernehmen und gleichzeitig die Möglichkeit zu haben, seine Doktorpromotion vorzubereiten und historische Kollegs an der Universität zu halten. Zu den Prüfungsaufgaben zur Promotion gehörten eine Vorlesungsreihe über Gal 4,19 und die Inauguraldisputation, in der er sich mit der sechsten Posaune aus 5 Vgl. Wallmann, Anfänge, 42. 6 Vgl. A. a. O., 48–51, 53–55. Weiteres zur Bedeutung dieser Schriften in: Sträter, Studien, 54f, 114f. 7 Vgl. Spener, Eigenhändiger Lebenslauf, StA, Bd. I/1, 28. 8 Vgl. Ph.J. Spener, Idea clavis ligantis … praeside … Dn. Johanne Conrado Dannnawero [sic!], Straßburg 1659.
322
Klaus vom Orde
Offb 9 beschäftigte.9 Weil er sich Hoffnung auf eine Geschichtsprofessur in Straßburg machte, traf ihn völlig unerwartet im Jahr 1666 der Ruf zum Senior des Predigerministeriums der Freien Reichsstadt Frankfurt am Main, Nur weil sich die Verantwortlichen der beiden Städte einigen konnten, folgte er ihm. Im Rückblick schreibt er: „[Es] war eine meiner Haupt-Sorgen, daß ich die rechte Art des wahren seligmachenden Glaubens den Leuten recht einpredigte, und das schädliche Monstrum der äusserlichen sichern Einbildung, dadurch ihrer so viele, weil sie es vor den Göttlichen Glauben halten, sich sonderlich betriegen, und um die Seligkeit bringen, bestraffen, und die Leute davon abbringen möchte.“10
Zwei Predigten, die er später auf den Wunsch anderer publizierte, lassen Weg und Ziel dieser Aufgabenstellung erkennen. In ihnen thematisierte er die Gerechtigkeit der Pharisäer, die sich mit einer äußerlichen Einhaltung des Gesetzes begnügte, aber keine wahre Gottseligkeit und wirkliche auf Gott bezogene Lebenshaltung zeigte.11 Die Folgen dieser Predigten zeigten sich im Sommer 1670, als einige Frankfurter Patrizier zu Spener kamen, um mit ihm die Möglichkeit eines regelmäßigen Treffens zur gemeinsamen Lektüre erbaulicher Bücher zu beraten. Spener lud sie dazu in sein Pfarrhaus ein.12 Dies war die Geburtsstunde der collegia pietatis, der für den Pietismus typischen Form wechselseitiger Erbauung in kleinen Gruppen. Dass die Erbauung nicht auf das individuelle Leben beschränkt bleibt, verdeutlichte Spener fünf Jahre später, als er die Vorrede zu einem Neudruck von Johann Arndts Postille13 schrieb, die wenige Monate später separat unter dem Titel „Pia Desideria Oder Hertzliches Verlangen Nach Gottgefälliger Besserung der wahren Evangelischen Kirche“ erschien.14 Kirche als eine von Gott gestiftete „Heilsanstalt“ und das Individuum stehen in einem untrennbaren wechselseitigen Verhältnis. Speners Klage über den „Schaden“ der evangelischen (= lutherischen) Kirche seiner Zeit mit allen seinen Auswirkungen auf die ganze Gesellschaft begründet sich durch die Diagnose, bei vielen habe der Glaube
9 Vgl. Spener, Eigenhändiger Lebenslauf, StA, Bd. I/1, 37f. 10 Spener, Eigenhändiger Lebenslauf, StA, Bd. I/1, 44, 5–9. 11 Vgl. Spener, Von der Phariseer ungültigen/ und frommer Kinder GOttes Wahren Gerechtigkeit/ zwo Predigten/ über Matth 5/20, Frankfurt a.M. 1672 (Wiederabdruck in: Spener, Erste Geistliche Schrifften, Frankfurt a.M. 1699, Bd. 1, 103–193 = Spener, Schriften, Bd. VIII.1.1). 12 S. den ältesten Bericht darüber in: Spener, Frankfurter Briefe, Bd. 1, Brief Nr. 83, Z. 29–51; dazu Wallmann, Anfänge, 264–290. 13 Arndt, Johann, Postilla, Erster Theil, Franckfurt am Mayn 1675. 14 Zur Zeit liegen einige Ausgaben vor, die sich in der Kommentierung fast nicht unterscheiden: PD; StA, Bd. I/1, 55–407; Spener, Pia Desideria.
Die Spiritualität Philipp Jakob Speners (1635–1705)
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keinen Bezug (mehr) zu allen Bereichen des Lebens, obwohl die Theologie doch (hier im allgemeinen Sinne als „Rede von und Wissen über Gott“) ein „habitus practicus“ sei.15 Dabei steht diese Lebenshaltung des einzelnen Menschen in einem funktional dienenden Verhältnis zu dem im Titel der Schrift genannten Wunsch nach der „Besserung der wahren Evangelischen Kirche“, die dann in der Folge einen wohltuenden Einfluss auf die gesamte Gesellschaft und Lebenswirklichkeit haben sollte. Für einige von Speners Frankfurter Freunden schien das Ziel einer grundlegenden Verbesserung der kirchlichen Zustände jedoch nicht mehr erreichbar, so dass sie das seit der Reformationszeit bekannte Verdikt, die römisch-katholische Kirche sei die in der Johannesapokalypse beschriebene antichristliche „Hure Babel“, nun auch auf die lutherische Kirche anwendeten. Dieser Entwicklung, die wohl als die größte Enttäuschung in Speners Frankfurter Wirksamkeit bezeichnet werden muss, konnte seine Schrift „Der Klagen Mißbrauch“16 keine andere Richtung verleihen. Allerdings wird durch sie klar, dass bei aller Bedeutung, die er dem christlichen Individuum beilegt, für ihn die Kirche Christi mit ihrer Aufgabe in der Welt der Zielpunkt der Überlegungen und Bemühungen ist. Die persönliche Karriere Speners schien jedoch auf einen Höhepunkt zuzulaufen, als er 1686 zum Oberhofprediger des sächsischen Kurfürsten nach Dresden berufen wurde und damit das höchste geistliche Amt im Alten Reich erhielt.17 Seine Wirksamkeit im Kurfürstentum war jedoch weniger durch kirchenpolitische Aktivitäten bestimmt, als vielmehr durch das seelsorgerliche Bemühen um die dortige Geistlichkeit, aber auch durch die Begleitung der Theologiestudenten. Immerhin gehörten, nimmt man Jena hinzu, mit Leipzig und Wittenberg drei der damals acht lutherischen Universitäten in seinen Verantwortungsbereich; zudem hatte er die künftigen Theologen Kursachsens zu examinieren. Die Dresdner Amtsperiode Speners endete in gewisser Weise tragisch. Als Beichtvater hatte er seinem Landesherrn einen sehr eindringlichen seelsorgerlichen Brief geschrieben, dessen Inhalt trotz entsprechender Vorkehrungen – angeblich – in den Hofkreisen bekannt geworden war. Beim Kurfürsten in Ungnade gefallen, wollte dieser seinen obersten Geistlichen dazu bewegen, seinen Dienst zu quittieren, ohne freilich zu bedenken, dass Spener, in der Gewissheit, von Gott nach Dresden berufen worden zu sein, sein Amt nicht freiwillig niederlegen konnte. Es dauerte schließlich etwa zwei Jahre, bis Spener im Frühjahr 1691 dem Ruf des brandenburgischen Kurfürsten, als Propst an die Berliner Nikolaikirche zu kommen, folgte. 15 PD 69.8; 76.17f; weiter dazu s. unten im Abschnitt „Spiritualität und Pietismus“. 16 Spener, Der Klagen über das verdorbene Christenthum mißbrauch und rechter gebrauch, Frankfurt a.M. 1685 (Nachdruck: Spener, Schriften, Bd. IV; Neudruck: StA, Bd. I/2, 375–521). 17 Der sächsische Kurfürst war Direktor des corpus evangelicorum, vgl. Aretin, Das Alte Reich, 51.
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Noch mitten in seiner Dresdner Amtsperiode und wenige Monate nach dem Zerwürfnis zwischen Spener und dem Kurfürsten Johann Georg III. war es in Leipzig im Sommer 1689 zu heftigen Auseinandersetzungen zwischen etlichen jungen Magistern der Theologie und den dortigen Theologieprofessoren gekommen. Die jungen Theologen, darunter maßgeblich der spätere Hallenser Theologe und Gründer des dortigen Waisenhauses, August Hermann Francke, hatten in eigenen Lehrveranstaltungen zu biblischen Büchern neben der theologischen Auslegung auch auf die lebenspraktische Relevanz der Texte hingewiesen. Das Interesse an diesen Veranstaltungen begrenzte sich nicht nur auf Theologiestudenten, sondern griff auch auf Studenten anderer Fakultäten und zum Schluss auch auf (nichtakademische) Bürger über. Den Anhängern der Bewegung wurde der (Spott-) Name „Pietisten“ beigelegt, aus dem sich später der Name für die ganze Frömmigkeitsrichtung entwickelte: Pietismus. Der Vorwurf gegen die Pietisten bestand darin, ihnen reiche die Kenntnis der rechten evangelischen Lehre nicht aus, sondern sie drängten auf einen bestimmten Habitus, der einerseits die erkenntnistheoretische Voraussetzung für die rechte Deutung des biblischen Textes biete, andererseits ein sichtbares Zeichen des rechten Glaubens sei. Jenseits verschiedener burlesker Beschreibungen der Lebensweise dieser Pietisten durch ihre Gegner ging es also um die Frage nach der Lebensrelevanz des christlichen Bekenntnisses, mit biblischem Terminus „Heiligung“ genannt. Die aus den Pia Desideria Speners bekannte Beschreibung der Theologie als ein „habitus practicus“ wurde somit ins Zentrum der Aufmerksamkeit gerückt.18 Die Bestimmung des Verhältnisses von Rechtfertigung und Heiligung wird für die gesamte Theologie und Frömmigkeit, die sich im und aus dem Pietismus entwickelt, zu einer der wichtigsten Fragen. Die letzten vierzehn Jahre, die Spener in Berlin verbrachte, waren, sieht man einmal von dem in seiner Gemeinde entstandenen Streit um die Privatbeichte („Beichtstuhlstreit“) und einigen kleineren Auseinandersetzungen ab, geprägt von der literarischen Auseinandersetzung um den Pietismus, der sich inzwischen zu einer vitalen Bewegung entwickelt hatte. Dabei ging es einerseits um die Verteidigung seiner Rechtgläubigkeit gegenüber den Gegnern aus der lutherischen Orthodoxie und andererseits darum, heterodoxen Einflüssen auf die Pietisten entgegenzuwirken. Neben der – schon aus Frankfurt bekannten – Kirchenkritik wurde in den ersten Jahren um enthusiastische Erfahrungen und um die Bedeutung einer chiliastischen Eschatologie gestritten. Neben der Publikation einiger Predigtreihen, die Spener in Frankfurt und Dresden gehalten hatte und in denen er umfassend seine Lehre öffentlich darstellte, griff er in verschiedene Auseinandersetzungen in der Form von Streitschriften ein. Erst 18 Der Begriff nimmt auch in den späteren Publikationen der pietistischen Theologen jeweils eine argumentative Schlüsselfunktion ein, vgl. vom Orde, Texte zum Theologiestudium.
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nach einigen Jahren sah er sich in der Lage und auch genötigt, auf diese Art der Lehrvergewisserung zu verzichten und konzentrierte sich darauf, in vier dickleibigen Quartbänden seine „Theologischen Bedencken und andere Brieffliche Antworten“19, die in den letzten Jahrzehnten entstandenen Stellungnahmen zu ihm wichtigen Themen zu publizieren und seine Sicht über die Entwicklung des Pietismus und seinen Beitrag dazu zu beschreiben.20 Kurz vor seinem Tod am 5. Februar 1705 konnte er noch eine Schrift gegen die Sozinianer, die „Vertheidigung des Zeugnüsses von der Ewigen Gottheit Unsers HErrn JESU CHRISTI“21, fertigstellen, ein Thema, das ihn über die ganze Zeit seiner Berliner Wirksamkeit hin beschäftigte.
3.
Spritualität und Pietismus
3.1
Ekklesiale Dimension von Speners Spiritualität
Die Einsicht des Pietismus, der an der Schwelle zur Neuzeit gemeinsam mit der Frühaufklärung die Bedeutung des Individuums und der sich daraus bedingenden Selbstverantwortung, zusammen mit der Möglichkeit der Selbstgestaltung des Lebens, betont, ist freilich – wenigstens nach Speners Ansicht – von der Wahrnehmung der christlichen Kirche, die mehr ist als lediglich die Gesamtheit ihrer Glieder, nicht zu trennen. Die Spiritualität Speners ist nicht individualistisch, allerdings ohne dabei die Bedeutung des Individuums für das Ganze zu vernachlässigen. An dieser bipolaren oder komplementären Denkfigur rieben sich schon seine Zeitgenossen. Der Widerspruch erwuchs aus zwei Richtungen. Für die einen war Speners Ekklesiologie, die sich deutlich an den Artikeln 6 und 7 der Augsburgischen Konfession orientierte, zu sehr an äußerlichen Kennzeichen orientiert. Für sie war die „wahre Kirche“ verbunden mit einem bestimmten Bekenntnis des einzelnen Glaubenden, das Wort und Tat umfasste. Die Kirche, selbst wenn sie das Evangelium rein verkünde, qualifiziere sich als wahre Kirche nur durch die Lebensäußerungen der einzelnen Christen. Für sie konnte die Separation nur der konsequente Schritt dieser Auffassung sein. Für die anderen war keinerlei weitere Reform der evangelischen Kirche nötig, weil und solange in ihr das Evangelium rein verkündigt wurde, auch wenn bei dieser Ansicht keineswegs ausgeschlossen wurde, dass die Lebensweise vieler 19 Theologische Bedencken und andere Brieffliche Antworten (Bed. 1–4). 20 Sie wurden später posthum ergänzt durch: Letzte Theologischen Bedencken (LBed. 1–3) und Consilia et Iudicia Theologica Latina (Cons. 1–3). 21 Spener, Vertheidigung des Zeugnüsses von der Ewigen Gottheit Unsers HErrn JESU CHRISTI, Franckfurt a.M. 1706.
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Christen sich nicht mit dem Evangelium deckte, und deshalb auch Verbesserungen vonnöten waren.22 Ausgangspunkt von Speners Argumentation zwischen diesen beiden Positionen war die Kirche des Evangeliums, nicht das Individuum mit seiner aus der Religion gewonnenen Lebenshaltung. Die Pia Desideria als „Programm des Pietismus“ fragen zuerst nach der „Gottgefälligen Besserung der wahren Evangelischen Kirchen“23. Dadurch wird freilich impliziert, dass es auch in der evangelischen Kirche – für Spener ist damit immer die lutherische gemeint – trotz der reinen Lehre einen Verbesserungsspielraum gibt. Für ihn scheint es nicht auszureichen, sie zu bekennen und dafür zu sorgen, dass sich keine Heterodoxien einschleichen. Schon allein diese Diagnose konnte für seine Kritiker alarmierend wirken. Mit Speners Mahnung, das lediglich mit Worten vollzogene Bekenntnis zum evangelischen Glauben bleibe ein „toter Glaube“, wenn nicht die Erleuchtung durch den Heiligen Geist dieses zu einer persönlichen Erkenntnis mache, aus der dann ein am Evangelium orientiertes Leben erwachse, erschien manchen Theologen das Gespenst der „Irrlehren“ aus der Reformationszeit wieder hervorgerufen: Spiritualismus auf der einen und katholische Werkgerechtigkeit auf der anderen Seite. Mit beiden Vorwürfen hatte sich Spener sehr schnell auseinanderzusetzen. Beide rücken nicht nur das Individuum, sondern auch eine durch die Lebensgestaltung erkennbare Perfektibilität in den Fokus des Interesses. Letztere bezieht Spener jedoch nicht nur auf den einzelnen Christen, sondern durch den noch zu erwartenden besseren Zustand der Kirche – einen grundlegenden Gedanken in den Pia Desideria – wird sie auch auf die Kirche übertragen. Damit wird der theologische Topos der Heiligung als gelebte evangelische Spiritualität nicht nur auf das Individuum bezogen, sondern hängt auf engste zusammen mit der Frage nach der „Verbesserung der wahren evangelischen Kirche“. Als Frucht des von Gott geschenkten Glaubens ist die Heiligung dabei ebensowenig ein menschliches Werk wie der „seligere und herrlichere Zustand“ der wahren Kirche, den die „gesamte wahre Kirche“ auf Grund der göttlichen Verheißung erwarten kann.24 Dem Vorwurf der Gegner, dem individualistischen spirituellen Erleben den Vorzug vor dem „objektiven“ Heil, wie es durch Wort und Sakrament der Kirche gegeben ist, zu geben, entgeht Speners evangelisch orientierte Spiritualität, die auf dem Handeln und Reden Gottes25 basiert, den einzelnen Christen einbezieht, aber die Kirche als Ganzes im Blick behält. 22 Spener beruft sich immer wieder auf frühere und zeitgenössische Theologen, um deutlich zu machen, dass er mit seinem Anliegen nicht allein steht: Christoph Scheibler (PD 20.14f), David Chytraeus (PD 23.3f), Paul Tarnov (Spener, Frankfurter Briefe, Bd. 4, Brief Nr. 100, Z. 671–682) u. a. 23 So im Titel des Werks. 24 PD 44.25f. 25 Hier sind immer die Sakramente eingeschlossen.
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Betrachtet man von hier aus die (christliche) Spiritualität als ein Zusammenspiel von geistlicher Einkehr und daraus entstehender Aktivität, so kann Speners Spiritualität, die die Verbesserung der wahren evangelischen Kirche zum Ziel hat, am besten mit seinen eigenen Worten zusammengefasst werden, wenn er über das Predigen nachdenkt: „Das vornehmste aber achte ich dieses zu seyn, weil ja unser gantzes Christenthum bestehet in dem innern oder neuen menschen, dessen Seele der Glaube und seine würckungen die früchten deß lebens sind: Daß dann die Predigten insgesampt dahin gerichtet solten werden […] auf die theure[n] Wolthaten Gottes, wie sie auff den innern Menschen zielen, […] und daher die leute gewehnen, erstlich an solchem innerlichen zu arbeiten, die Liebe GOttes und deß Nechsten bey sich durch gehörige mittel zu erwecken, und nachmahl auß solchem erst zu würcken.“26
Ausgehend von den „gehörigen Mitteln“, nämlich Wort und Sakrament, mit denen Gott in dem „neuen Menschen“ den Glauben und die daraus erwachsenden Früchte schafft, entsteht nicht nur die Liebe zu Gott, sondern auch zum Nächsten, die nicht nur den frommen Gleichgesinnten, sondern die gesamte Gesellschaft mit ihren Herausforderungen im Blick hat,27 mithin die beiden auf die Kontemplation und auf die Aktion bezogenen Pole der Spiritualität.
3.2
Praxis des spirituellen Lebens
Wie hat Spener nun diese Erkenntnis als persönliches Handlungsmuster organisiert? Ausgangspunkt sind erneut Wort und Sakrament als die Heilsgaben Gottes. Weder in den Pia Desideria noch in anderen Texten, in denen Spener vom „inneren Menschen“, aus dem die Konkretionen der christlichen Lebensgestaltung erwachsen, spricht, versäumt er es, auf die konstitutive Bedeutung von Wortverkündigung, Taufe, Beichte und Abendmahl zu verweisen. Vor aller persönlichen Lebensgestaltung geht es um die objektiven Heilsgüter Gottes, die freilich immer einen persönlichen Aspekt implizieren. Für Beichte und Abendmahl ist dies selbsterschließend, weil beide eng mit einer Selbstprüfung und -vergegenwärtigung vor Gott zusammenhängen. Bei der Behandlung der Taufe betont Spener die Erinnerung an die durch sie von Gott geschenkte Wiedergeburt, die sich lebenskräftig entfalten will. Erst danach geht es um persönliche Übungen des geistlichen Lebens.
26 PD 79.34 – 80.11. 27 Vgl. ähnlich Gräb-Schmidt, Spiritualität; dies., Spiritualität. VI. Ethisch.
328 3.3
Klaus vom Orde
Spiritualität in Speners Alltag
Die Strukturierung seines Alltags und die eigene Form, geistliche Übungen zu praktizieren, lassen sich für Spener ausschließlich anhand von Ratschlägen für andere oder durch Aussagen von Zeitgenossen erschließen. Nur auf ein eigenes Dokument soll besonders hingewiesen werden. Es ist eine Jugendschrift, die erst posthum von Johann Georg Pritius (1662–1732), einem seiner Nachfolger im Frankfurter Seniorat, ediert wurde: „Soliloquia et Meditationes sacrae“.28 Darin spiegeln sich typische Merkmale eines mit seiner Frömmigkeit kämpfenden jungen Menschen.29 In einem ersten sehr ausführlichen Teil verwendet der junge Student gewissermaßen die Glaubensartikel und den Dekalog als Beichtspiegel, um in unterschiedlich langen Beschreibungen seines Empfindens sich der Gnade Gottes anzuempfehlen. Einen Einblick in Speners Gewohnheiten der spirituellen Praxis gibt August Hermann Francke, der in den ersten Monaten des Jahres 1689 den Dresdner Oberhofprediger zuhause besucht hatte und diesen in allernächster Nähe beobachten konnte. In der Vorrede des zweiten Teils von Speners „Lauterkeit des evangelischen Christenthums“30 beschreibt er sie.31 Eine weitere Quelle bilden schließlich Briefe an seine Söhne und vor allem an seine zweite Tochter Elisabeth Sybille (1670–1722), als diese den Colditzer Superintendenten Christian Gotthilf Birnbaum (1651–1723) geheiratet hatte.32 In ihnen empfiehlt er seinen Kindern, sich an dem Vorbild auszurichten, was sie im Elternhaus erlebt hatten. Seine persönliche Gebetszeit hatte Spener schon vor Sonnenaufgang. Darüber hinaus wurde morgens und abends mit allen Familienangehörigen und Hausbewohnern ein Fürbittgebet gesprochen. Das von Francke überlieferte Gebet33 ist in trinitarischer Gottesanrede gegliedert und umfasst Dank, Sündenbekenntnis und Bitte in den einzelnen Gebetsteilen.
28 Spener, Soliloquia et Meditationes sacrae, hg. J.G. Pritius, Frankfurt/Main 1716. 29 Johannes Wallmann datiert seine Entstehung mit guten Gründen in die Zeit seines philosophischen Studiums. Er macht darin deutliche Einflüsse bernhardinischer Mystik aus (ders., Anfänge, 91f). Bislang ist in der Spenerforschung das Verhältnis dieses Textes zu Speners späteren Werken und Äußerungen nicht untersucht worden. Er selbst qualifiziert diese Schrift in einem Brief vom Sommer 1687 als ein Dokument eines „vor 34 jahren“ durchlebten „unglaubens=kampff“ (Spener, Dresdner Briefe 1, Brief Nr. 122, Z. 61f). 30 Vorrede von August Hermann Francke am 20. 3. 1709, in: Spener, Lauterkeit, 4–11. 31 C.H. von Canstein zitiert ausführlich daraus in der Lebensbeschreibung Speners in der Vorrede zu LBed. 1, 44–51. 32 Vgl. Spener, Dresdner Briefe 3, Brief Nr. 8. 33 Vgl. Spener, Lauterkeit, 4f.
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Die Schlussbitte schließt die gesamte Menschheit ein: „Dreyeiniger GOtt ich empfehle dir mich selbsten, die lieben Meinigen, meine Gemeinde, alle deine gläubige Kinder, alle Menschen34. Amen.“ Diese, die umgebende Welt untergliedernde Reihenfolge der Fürbitte findet sich auch in dem genannten Brief an seine Tochter wieder: „Gedencke ferner daran fleißig, daß du nicht nur vor dich selbst und diejenige, die dich absonderlich angehen, eyfrig betest, sondern eben so hertzlich vor andere, vor die gesamte Christenheit, vor alle absonderlich dero Stände; und wo du einige ursach zu bitten (wie du denn deßwegen auch deines Vaterlandes, der Stadt Franckfurth35 nie zu vergeßen hast) findest, dein Gebet vor Gott bringest.“36
Im persönlichen Gebet ging Spener noch systematischer vor. Auf Grund seiner vielzähligen Kontakte und der Gewohnheit, Menschen, von denen er je gehört hatte, in sein Fürbittgebet einzuschließen, sortierte er seine Gebetsliste „nach der Situation der Länder und Provincien“37, um dann einzelne Gebiete in die Fürbitte aufzunehmen. Damit war es ihm möglich, auch über lange Zeiträume hinweg, Personen zu nennen, ohne freilich immer ihre aktuelle Lage genau zu kennen. Abgesehen von diesen gesonderten Gebetszeiten ergaben sich im normalen Arbeitsalltag immer wieder die Gelegenheiten zum Gebet. An seine Tochter formuliert er dies so: „Des Gebets befleißige dich hertzlich, sowohl des Tages zu gewißen zeiten alß auch immerfort in aller deiner Arbeit, daß du offtmahls deine Seele mit einem inniglichen Seuffzer und Stoß= Gebetlein zu Gott erhebst, welches die Arbeit nicht hindert, sondern die freudigkeit dazu vermehret und viel Seegen giebet.“38
Schließlich sei darauf hingewiesen, dass Spener dem persönlich formulierten Gebet gegenüber demjenigen aus dem „Buch“39 den Vorrang gibt, weil es authentischer sein könne, ohne freilich das vorformulierte Gebet grundsätzlich abzulehnen.40 Dieser Gebetspraxis zugeordnet ist die Bedeutung der Bibellektüre, die in Speners erstem Vorschlag zur Verbesserung der Kirche dem Hinweis auf Kol 3,16 entspricht, nämlich das Wort Gottes auf verschiedene Art und Weise unter die Leute zu bringen.41 Die Bibellese kann in persönlicher Form geschehen, wie er sie 34 35 36 37 38
Canstein in LBed. 1, 45, ergänzt an dieser Stelle: „alle creaturen“. Elisabeth Sibylle war in Frankfurt geboren. Spener, Dresdner Briefe 3, Brief Nr. 8, Z. 61–66. Spener, Lauterkeit, 6. Spener, Dresdner Briefe, 3, Brief Nr. 8, Z. 49–53; vgl. ähnlich an Philipp Reinhard im Jahr 1688 (Spener, Dresdner Briefe 2, Brief Nr. 8, Z. 49–51). 39 Vgl. Spener, Dresdner Briefe 3, Brief Nr. 8, Z. 56. 40 Vgl. Brief an Johann Hirsch vom 29. 9. 1690, Spener, Dresdner Briefe 4, Nr. 92, Z. 282–326, hier: Z. 288. 41 Vgl. PD 53.31f.
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seinen Kindern anempfiehlt, für die ein bestimmter Zeitraum zu reservieren ist. Sie lässt sich ergänzen durch die Lektüre erbaulicher Literatur, wobei Arndts „Wahres Christenthum“ besonders erwähnt wird. In den Pia Desideria werden auch die Familienandachten („Hauskirche“42) genannt. Francke beschreibt, wie dies im Hause Speners geschah. Abends wurde ein Kapitel aus der Bibel laut vorgelesen, sonntags wurde zusätzlich gesungen.43 Unabhängig von der Form der Andachtsübung verweist Spener auf die Notwendigkeit des applizierenden Gebrauchs des Gelesenen. Zwei Fragestellungen hebt er in den Empfehlungen an seine Tochter besonders hervor: Zum einen müsse immer wieder nach den „Lebens=Pflichten“44 gefragt werden, also danach, wie sich das Gelesene im Alltag des christlichen Lebens realisieren lasse. Zum anderen gehe es um die Meditation der „göttl[ichen] Wohlthaten und Schätze der Seeligkeit, damit durch deren fleißige Betrachtung der Glaube in deiner Seele kräfftig gestärcket und vermehret werde.“45 Aus diesen Beobachtungen lassen sich einige Charakteristika für die Frömmigkeit, die Spener selbst lebt und für andere als hilfreich beschreibt, erheben. Das Selbstbewusstsein, in der Gegenwart Gottes zu leben, ist weder auf den Sonntag noch auf besondere Andachtszeiten reduziert, so sehr beide in hervorragender Weise dafür geeignet sind und auch genutzt werden sollen. Der Alltag mit seinen Herausforderungen ist mit Gott zu bewältigen. Die Zusammengehörigkeit von Gottesdienst und Leben bestimmt auch die Gestalt der persönlichen Devotion. Aus der Erfahrung des Alltäglichen erwachsen sowohl Gotteslob als auch Bitte und Fürbitte. Die „Theologie“ als Reden von und mit Gott wird somit in der Tat zu einem „habitus practicus“. Die Gefahr, durch einzuübende Lebensgewohnheiten in eine äußere Gesetzlichkeit oder auch in eine nach innen gerichtete hyperkritische Selbstüberprüfungspose zu geraten, ist dabei freilich groß. Spener versucht ihr zu entgehen, indem er immer wieder auf den in den Wohltaten Gottes beruhenden Ausgangspunkt der Gottesbeziehung verweist. Die Meditation über Gott als Schöpfer und Erlöser ist dabei ebenso wichtig wie die Tauferinnerung. Zudem beschreibt er den Weg, der von der Liebe Gottes (als Genitivus subjecticus) über die dadurch wachsende Liebe zu Gott hinführt zur Nächstenliebe, so dass auch die ganz persönliche Andacht die gesamte Gesellschaft (und Welt) in den Blick nimmt. Dies zeigt sich sowohl in der Fürbitte als auch durch die in der aus der Andacht erwachsenden Frage nach Möglichkeiten, das Erkannte dem Nächsten zugute umzusetzen.
42 43 44 45
Spener, Dresdner Briefe, 3, Brief Nr. 8, Z. 73. Vgl. Spener, Lauterkeit, 5f. Spener, Dresdner Briefe 3, Z. 40. A.a.O, Z. 42–44.
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3.4
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Speners seelsorgerliche Beratung
Speners Korrespondenz ist – soweit sie uns überliefert ist – zu großen Teilen ein seelsorgerlicher Briefwechsel. Menschen aus allen Gesellschaftsschichten werden in persönlichen Lebenssituationen beraten. Eine unter Depressionen leidende junge Frau aus der Handwerkerschicht46 gehört ebenso dazu wie Angehörige des Adelsstandes.47 Die besondere Herausforderung, der sich die letzteren stellen müssen, ist die von außen an sie herangetragene, scheinbare Notwendigkeit der repräsentativen Darstellung ihres Standes, die Spener ziemlich direkt als „Eitelkeit der Welt“ qualifiziert. Dabei rät er keineswegs, sich von den gesellschaftlichen Verpflichtungen zurückzuziehen, um damit die geistliche Lebenshaltung zu bewahren oder zu demonstrieren, vielmehr rät er dazu, die Verantwortung, die dem Adelsstand in der damaligen – von Spener als gottgegeben akzeptierten – Ständeordnung gegeben war, wahrzunehmen und gerade hier zu zeigen, wie man den „habitus practicus“ zur Ehre Gottes und zum Wohl des Nächsten gestalten kann.48 Johannes Wallmann bezeichnet Spener als „pastor pastorum“.49 Dieser Einschätzung entspricht eine große Anzahl von Briefen an Geistliche, die sich in persönlichen oder amtlichen Nöten von Spener beraten lassen. Viele davon hat Spener in den „Theologischen Bedencken“, die eine Art von Vademecum für Pfarrer darstellen sollten, veröffentlicht. Eine Zusammenfassung seiner pastoralen Ratschläge bietet der Anhang zu Speners Schrift „Von Natur und Gnade“50, die eine Art „Antrittsgeschenk“ und eine Selbstvorstellung für die sächsischen Geistlichen war. In der Vorrede werden diese direkt angesprochen und seine eigene theologische Position skizziert. Er macht deutlich, was für ihn der Hauptinhalt seiner Verkündigung ist und wie er diese durch sein persönliches Leben und Arbeiten, aber auch das seiner Familie mit Leben füllt. Im Anhang veröffentlicht er neben einem Beichtspiegel für die fürstliche Obrigkeit und die Angehörigen des politischen Standes einen zweiten für die Geistlichen.
46 Vgl. Wallmann, Spener als Seelsorger. Der hier von Wallmann besprochene Brief ist vollständig ediert in: Spener, Dresdner Briefe 1, Nr. 122. 47 Exemplarisch sei auf den intensiven Briefwechsel mit Herzogin Elisabeth von Sachsen-Zeitz verwiesen, der von 1680 bis zu ihrem Tod im Jahr 1684 andauerte. 48 Vgl. Spener, Die von dem H. Johanne 1. Epist. II / 15.16.17 Den Kindern Gottes verleidete Liebe der Welt, Franckfurt a.M. 1690 (Nachdruck: Spener, Schriften IX.2.3, 1–90), 47. 49 Wallmann, Spener als Seelsorger, 316. 50 Spener, Natur und Gnade, Franckfurt am Mayn 1687 (Nachdruck: Spener, Schriften IV).
332 3.5
Klaus vom Orde
Mystik und extraordinäre Erfahrungen
Da im Kontext der Rede über „Spiritualität“ häufig der Begriff der „Mystik“ begegnet, weil diese eher als andere Formen von Frömmigkeit und Theologie auf das geistliche Leben von Menschen hinziele, soll deswegen kurz Speners Haltung zur mystischen Tradition in der Kirche skizziert werden. Schon in den Pia Desideria fordert er, dass „die gantze Theologia wieder zu der Apostolischen einfalt gebracht werden möchte.“51 Ausdrücklich nennt Spener die Schriften Johann Taulers52 und die „Theologia Teutsch“53 als Beispiele. Beide sind, wie er nachdrücklich betont, auch von Luther zur Lektüre empfohlen worden.54 In der Vorrede zu einer Neuedition der Schriften Taulers55 im Jahr 1681 bespricht Spener die Bedeutung der mystischen Tradition für die vorreformatorische katholische Kirche. Sie sei das Salz gewesen, das „der fast überhandnehmenden Fäule meistens gewehret“56 habe. Im Gegensatz zu der Betonung von Äußerlichkeiten wie „menschen=satzungen und Traditiones“57 usw. sei von ihr zu lernen, „daß wir allezeit auf unser hertz und dessen grund, was wir in demselben finden, fühlen oder antreffen, und ob und was GOtt durch sein Wort darinnen gewircket habe, fleissig achtung geben, als wissende, daß solches die werckstatt Gottes, und auch das jenige seye, nachdem uns GOtt richten will.“58
In einer weiteren Vorrede, in der Spener die Hindernisse des Theologiestudiums darstellt, widmet er erneut einen ganzen Abschnitt der Bedeutung der mystischen Theologie. Beklagenswerterweise seien platonische Irrtümer in sie eingedrungen. Dennoch schreibt Spener, „bin ich aber versichert, daß man zu den finstern Zeiten des Papstthums in der mystischen Gottesgelahrtheit, ob sie gleich nicht allzurein gewesen, dennoch mehr Kraft und Saft angetroffen als in der scholastischen, die da dornicht und zänckisch ist und wenig Hertz=rührendes enthält“.59 Unter dem, was das „Herz rührt“, versteht Spener die „wahre Gott-
51 PD 74.5f. 52 Johann Tauler, Dominikaner in Straßburg (ca. 1300–1361); seine bekanntesten Schriften sind in die Ausgabe von 1681, zu der Spener eine Vorrede verfasste, aufgenommen wurden. 53 Eine mystische Schrift eines nicht näher bekannten Priester des Deutschordens in Sachsenhausen, vgl. Peters, Theologia deutsch. 54 Vgl. PD 74.9–75.20. 55 Neben dessen Schriften werden im Anhang die Theologia Teutsch und das weitverbreitete Erbauungsbuch von Thomas à Kempis Imitatio Christi veröffentlicht: EGS 2, 156. 56 A. a. O., 153. 57 A. a. O. 58 A. a. O., 155. 59 KGS, 1, 1063f.
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seligkeit“60, also den „habitus practicus“, der das persönliche Leben wie die Verantwortung als Christ für die gesamte Gesellschaft betrifft. Trotz alledem ist Spener sich bewusst, dass die Art und Weise, wie Tauler und andere Mystiker ihre Theologie darstellen, nicht genügt, um die christliche Lehre in ihrer Vollständigkeit der Gemeinde darzulegen.61 Neben den anklebenden „papistischen Irrtümern“62, die sich in den vorreformatorischen mystischen Schriften befinden,63 darf auch nicht das Nachsinnen darüber vernachlässigt werden, was die Kritik vieler orthodoxer Theologen an ihr hervorruft: „[Ich] will auch nicht widersprechen, wenn iemand erwiese (denn ich habe davon keine hinlängliche Nachricht), daß sie, da sie ihrem Nachsinnen und Grübeln nachgegangen, bisweilen in einigen sogenannten Enthusiasmus (da sie sich unmittelbarer göttlicher Offenbarungen gerühmet) haben verfallen können, welches denn die Fanatischen Leute (die solche Offenbarungen vorgeben) zu Bestärckung ihrer Meynungen mißbrauchen.“64 Seine Antwort lautet: „Wie man aber Gold, Silber und Edelgesteine, wenn sie mit Koth besudelt sind, nicht pfleget zu verachten, sondern zu reinigen, noch nach dem Sprichwort, das Kind mit dem Bade ausschüttet, so wäre auch nichts billiger, als daß man sich eben so gegen die mystische Gottesgelahrtheit erwiese.“65
Nur kurze Zeit später musste Spener sich mit einem ganz konkreten Fall extraordinärer Offenbarungen auseinandersetzen. Im Jahr 1692 war die junge Adlige Rosamunde Juliane von der Asseburg durch außerordentliche Offenbarungen aufgefallen.66 Zunächst scheint Spener mit einer gewissen Offenheit auf diese Phänomene zu reagieren, was einerseits daran lag, dass ihm die Frömmigkeit der Familie von der Asseburg gelobt worden war,67 aber andererseits fühlte er sich zu diesem Zeitpunkt besonders niedergeschlagen angesichts der nicht erkennbaren Verbesserung der kirchlichen Wirklichkeit, weswegen er auf ein besonderes Eingreifen Gottes hoffte.68 Trotzdem äußert er sich öffentlich und in vielen 60 61 62 63 64 65 66 67 68
Zur Bedeutung der Lektüre mystischer Schriften für die „wahre Gottseligkeit“ s. PD 76.6. Vgl. Spener, Dresdner Briefe 2, Nr. 96, Z. 28–31. EGS 2, 155; Spener, Dresdner Briefe 1, Nr. 148, Z. 120–123. Vgl. KGS 1, 1063. KGS 1, 1064. A. a. O. Näheres dazu: Matthias, Petersen, 254–301. Vgl. Spener, Dresdner Briefe 4, Nr. 47, Z. 1–7. Vgl. dazu die Bemerkung Speners an seine Frankfurter Briefpartnerin Anna Elisabeth Kißner am 30. 12. 1690: „Seine güte, weißheit und Krafft ist unaussprechlich und wird sich mehr und mehr hervorthun: auch vielleicht in gantz außerordentlichen dingen: Wie dann vor einiger zeit durch mehrere zeugen, die so gotselig alß nicht alber sind, von einem gewißen ort offtere nachricht bekommen von einem Adelichen hauß, da eine witwe und 3 töchter in großer Stille und Einsamkeit leben, da die eine verwunderungswürdige offenbahrungen hat“ (Spener, Dresdner Briefe 4, Nr. 111, Z. 90–95); ähnliche Überlegungen deutet Spener an in: ders., Theologisches Bedencken.
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Briefen zurückhaltend.69 Zwar lehnt er die Meinung ab, extraordinäre Offenbarungen Gottes seien nach der Zeit des Neuen Testamentes nicht mehr möglich,70 aber er warnt deutlich vor der Gefahr von unbewussten oder bewussten Täuschungen, eine Überprüfung derartiger Offenbarungen mit dem Evangelium sei unerlässlich.71 Zudem weist Spener auf mögliche physische oder psychische Ursachen solcher Erfahrungen hin. Spener zählt vier denkbare Ursachen auf: 1) Bloßer Betrug, 2) teuflische Verführung, 3) Wirkungen menschlicher Phantasie und 4) wahrhaftige göttliche Offenbarung. Sowohl im Traum als auch im wachen Zustand könne es zu Erfahrungen kommen, die ein Mensch nach eigener Einschätzung und bei vollem Gebrauch seiner Fähigkeiten nie zustande gebracht hätte. Nicht zuletzt sei es möglich, dass man durch Krankheit zu einem falschen Propheten werden könne.72 Im konkreten Fall der Juliane Rosamunde von der Asseburg neigte er zunächst dazu, Betrug und teufliche Verführung auszuschließen, weil sich dies mit ihrem Leben und dem ihrer Familie nicht vereinbaren lasse. Inwieweit jedoch menschliche Phantasie hinter den Offenbarungen steht, müsse eine „allergenaueste Untersuchung“ erweisen, obwohl Spener glaubt, dass bei ihr kein „melancholicum temperamentum“73 zu erkennen sei. Spener rät in dieser Phase, noch kein Urteil über die göttliche oder nichtgöttliche Herkunft der Erscheinungen zu fällen.74 Er hält es für eine seiner schwierigsten Aufgaben, in diesem Falle zu urteilen. Erst an den Früchten lasse sich der Ursprung der Offenbarungen erkennen. Nachdem sich jedoch einige von Asseburgs Prophezeiungen als falsch erwiesen, war dies für Spener Grund genug, sich davon zu distanzieren. Dieser konkrete Fall zeigt, wie schwer es Spener fällt, ein Urteil zu fällen, weil er mit einer Dimension religiöser Erfahrung rechnet, die sich durch bloße theologische Kenntnis nicht wahrnehmen lässt.75 Er hält es für möglich, dass Gott sich 69 Vgl. Spener, Theologisches Bedencken; die folgende Darstellung folgt diesem unpaginierten Text. Wenn auf briefliche Äußerungen zurückgegriffen wird, wird dies genau belegt. 70 So schon in einem Brief an Johann Jacob Zimmermann im Dezember 1677, Spener, Frankfurter Briefe 3, Nr. 95, Z. 373–392. 71 Vgl. LBed. 3, 608 (31. 3. 1692). 72 Vgl. Bed. 3, 904 (9. 1. 1692). 73 LBed. 3, 610 (31. 3. 1692). 74 Vgl. Spener, Theologisches Bedencken; Bed. 3, 905 (9. 1. 1692). 75 Vgl. dazu seine Bemerkungen im Brief vom 30. 11. 1692: „Indessen bleibe noch dabey, daß mich gleichwol auch der sache nicht theilhafftig machen kan, bey gegenwärtigem meines eigenen gemüths zweifel, sondern ich muß es noch so lange göttlicher regierung überlassen, bis sie uns auf eine oder andere seite die warheit zu gewissem urtheil offenbare. Diese meine forcht weiß ich wol, daß sie vielen gantz seltsam vorkomme, daß ein Theologus, so auch nicht mehr von den jüngsten seye, sein urtheil nicht gewiß zu geben getraue, sonderlich weil es bey einigen vor ausgemacht, vielleicht das gegentheil auch vor die grösseste schande gehalten wird, daß ein Doctor in seiner profession nicht alles wissen und verstehen solte. Aber ich erkenne gern, daß ich nicht allein diese sache, sondern auch andere dinge, aus dem grunde
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an die Vorstellung der Menschen akkommodiert,76 die sich mit Hilfe der – im Grundsatz nötigen – theologischen Beschreibung der göttlichen Offenbarung nicht erfassen läßt. Geradezu erleichtert stimmt er Luther zu, der über sich sagte: „Ich bin nicht geschickt träume zu haben oder auch dieselbige zu deuten, begehre mir auch solche geschicklichkeit und kunst nicht, und habe mit GOtt meinem HErrn einen bund gemacht, daß er mir nur kein gesicht oder träume und darzu auch keine engel senden wolle, denn ich bin mit dieser gabe wol zufrieden und lasse mir daran genügen, daß ich die heil. schrifft hab, die mich reichlich lehret und berichtet alles deß, so beydes zu diesem und auch zum künfftigen leben zu wissen von nöthen ist.“77 Und ebenso zustimmend zitiert er den Reformator: „Wiewol die weissager und träumer nicht zu verachten sind, wo ihre weissagung und träume dem worte GOttes ähnlich seyn, so soll man aber gleichwol darauf fürnemlich tringen, daß man ja zuvor Mosen und die propheten wol studiere und die auch verstehen lerne, das ist, daß wir für allen dingen das wort rein haben, und dasselbige auch recht verstehen mögen.“78
Auch der denkbare Fall einer extraordinären Offenbarung Gottes hebt „die göttliche ordnung, so uns an die schrift weiset, an dero wir auch gnug haben“79 nicht auf.
3.6
Miguel de Molinos und die quietistische Mystik
In einer anderen Situation musste Spener sich mit einer besonderen Form der Mystik beschäftigen. Spätestens seit dem Sommer 1687 wurde die quietistische Mystik des spanischen Priesters und Seelenführers Miguel de Molinos80 unter den Theologen Deutschlands diskutiert. Dieser genoss in der römisch-katholischen Kurie ziemlichen Einfluss, wurde aber von italienischen und französischen Jesuiten angefeindet, was schließlich zur Verurteilung seiner Lehre durch die Inquisition führte (1685). Im Frühjahr 1687 war an der Theologischen Fakultät Leipzig über die Lehre von Molinos eine Disputation durchgeführt worden, ohne dass einer der Beteiligten je seine Schriften gelesen hätte. Dies war für Spener Anlass genug, dessen Hauptschrift „Guía espritual“ von August Hermann
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nicht verstehe, die vielleicht manche meinen völlig zu verstehen, da zuweilen müglich seyn kan, daß ihr wissen mehr in einer starcken einbildung als warhafftigem liecht bestehe, und der daraus folgende Theologische eifer mehr hitze als grund habe“, LBed. 3, 481. Vgl. Bed. 3, 609 (31. 3. 1692). LBed. 3, 698 (18. 8. 1692). – Spener belegt dieses Lutherzitat, das im Zusammenhang mit Gen 37, formuliert ist, mit der Altenburger Lutherausgabe, Bd. 9, 1136b und der Wittenberger Ausgabe, Bd. 12, 10b. LBed. 3, 699 (18. 8. 1692) (Luther, Altenburger Ausgabe, Bd. 9, 1141a). LBed. 3, 608f (18. 8. 1692). Vom Orde, Molinos, 107 f.
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Francke ins Lateinische übertragen zu lassen.81 Dabei wird freilich deutlich, dass Speners erstes Interesse am Quietismus nur indirekter Art war. Es ist im Kontext seiner Kritik am römischen Katholizismus zu verorten. Einerseits gehörte er in die mystische Tradition, die für Spener in der römisch-katholischen Kirche wie ein Funke unter der Asche hervorbrechen und ein loderndes Feuer entfachen könne, andererseits war die Verfolgung des Quietismus für ihn ein Zeichen dafür, dass die römische Kirche keineswegs eine solche Einheit bildete, wie sie es in der Auseinandersetzung mit dem Protestantismus immer betonte. Das Interesse am Quietismus lag weniger in deren Mystik, die einen Weg aufzeichnete, an deren Ende die unio mystica des Menschen mit Gott stand, auch nicht an der Spiritualität der quietistischen Seelenführer, sondern es ist verortet in Speners „Hoffnung künftig besserer Zeiten der Kirche“. Ein dieser hoffnungsvollen Zeit vorausgehendes Zeichen ist für Spener der „Fall des römischen Babel“. Die innerkatholische Auseinandersetzung um den Quietismus war für ihn ein Zeichen des beginnenden Verfalls der römischen Kirche.
4.
Abschließende Gedanken
Speners Spiritualität ist davon geprägt, dass die bloße Zugehörigkeit zur wahren evangelischen Kirche, die das Evangelium rein verkündigt und die Sakramente recht verwaltet, nicht ausreicht, wenn es nur beim rein äußerlichen Bekenntnis und dem Gebrauch der Sakramente bleibt. Darüber hinaus hält er auch ein ehrbares Leben, das den Herausforderungen einer christlichen Ethik zu entsprechen scheint, nicht für den aus der „wahren Gottseligkeit“ entwachsenden „habitus practicus“ eines Christen. Die Herausforderung kommt von zwei Seiten: Einerseits kann die Betonung der Rechtfertigungslehre als imputativ verstandenes Heil ohne Auswirkung auf die Lebensgestaltung bleiben, andererseits kann der Hinweis auf ein moralisches Leben einen Rechtfertigungsversuch darstellen, der nicht mit dem Evangelium vereinbar ist. Beiden Herausforderungen entgeht er durch den Hinweis auf die durch das Stichwort „Liebe“ gekennzeichnete Beziehung des Christen zu Gott und zum Mitmenschen. Auf die spontane Liebe Gottes, die sich in den bedingungslos gegebenen Heilsgütern zeigt, antwortet der Christ mit seiner Liebe zu diesem, die dann zur Anleitung und zur Motivation für die Liebe zum Mitmenschen und der gesamten Kreatur wird. Dies umfasst sowohl die nach innen, auf die persönliche Devotion gerichtete Spiritualität als auch die aktive, die sich in der Verantwortung für die Mitmenschen und die Welt umher äußert. Letzteres zeigt sich wiederum in zwei Weisen: einmal in der Form der Fürbitte und andererseits im Bemühen um die konkrete Verbesserung der 81 Zum Ganzen s. vom Orde, Quietismus.
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Verhältnisse – für Spener freilich in dem gesellschaftlichen Rahmen einer dreigliedrigen Ständegesellschaft, der ihm als von Gott gegeben erschien. Individuum und Kirche, Innerlichkeit und äußere Aktion, Gottesbegegnung und aktive Menschenliebe bilden die bipolare Spiritualität Speners.
Literatur Quellen Aland, Kurt (Hg.), Werke Philipp Jakob Speners. Studienausgabe, Bd. I/1–2, Gießen 1996.2000.2006 [kurz: Spener, StA]. Spener, Philipp Jakob, Briefe aus der Dresdner Zeit, Bd. 1–4, hg. von Johannes Wallmann u. Udo Sträter, Tübingen 2003–2016 [kurz: Spener, Dresdner Briefe]. –, Pia Desideria. Deutsch-lateinische Studienausgabe, Gießen 2005. –, Briefe aus der Frankfurter Zeit, Bd. 1–5, hg. von Johannes Wallmann, Tübingen 1992ff [kurz: Spener, Frankfurter Briefe]. –, Pia Desideria, hg. von Kurt Aland (Kleine Texte 170), Berlin 1990, Nachdruck der Ausgabe von 1964 [kurz: PD]. –, Schriften, hg. von Erich Beyreuther/Dietrich Blaufuß, Hildesheim u. a. 1979–2015. –, Kleine Geistliche Schriften, hg. von J.A. Steinmetz, Magdeburg/Leipzig 1741/42 (Nachdruck: Spener, Schriften IX) [kurz: KGS]. –, Soliloquia et Meditationes sacrae, hg. J.G. Pritius, Frankfurt/Main 1716. –, Letzte Theologischen Bedencken, Bd. 1–3, Halle/Saale 1711 [kurz: LBed.]. –, Consilia et Iudicia Theologica Latina, Bd. 1–3, Frankfurt/Main 1709 (Nachdruck: Spener, Schriften XVI) [kurz: Cons.]. –, Lauterkeit Des Evangelischen Christenthums, Zweiter Theil, Halle/Saale 1709. –, Vertheidigung des Zeugnüsses von der Ewigen Gottheit Unsers HErrn JESU CHRISTI, Franckfurt a.M. 1706. –, Theologische Bedencken und andere Brieffliche Antworten, Bd. 1–4, Halle/Saale 1700– 1702 (Nachdruck: Spener, Schriften XI–XIV) [kurz: Bed.]. –, Erste Geistliche Schriften, Bd. 1–2, Frankfurt/Main 1699 (Nachdruck: Spener, Schriften VIII) [kurz: EGS]. –, Theologisches Bedencken über einige Puncten, o.O. 1692. –, Die von dem H. Johanne 1. Epist. II / 15.16.17 Den Kindern Gottes verleidete Liebe der Welt, Franckfurt a.M. 1690 (Nachdruck: Spener, Schriften IX.2.3, 1–90). –, Der Klagen über das verdorbene Christenthum mißbrauch und rechter gebrauch, Frankfurt/Main 1685 (Nachdruck: Spener, Schriften, Bd. IV; Neudruck: Spener, StA, Bd. I/2, 375–521).
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Klaus vom Orde
Forschungsliteratur Aretin, Karl Otmar von, Das Alte Reich 1648–1806, Bd. 1, Stuttgart 1993. Gräb-Schmidt, Elisabeth, Art. Spiritualität. III. Religionsphilosophisch, in: RGG4 Bd. 7, Tübingen 2004, 1593f. –, Art. Spiritualität. VI. Ethisch, in: RGG4 Bd. 7, Tübingen 2004, 1595f. Köpf, Ulrich Art. Spiritualität. I. Zum Begriff, in: RGG4 Bd. 7, Tübingen 2004, 1590f. Matthias, Markus, Johann Wilhelm und Johanna Eleonora Petersen. Eine Biographie bis zur Amtsenthebung Petersens im Jahre 1692 (Arbeiten zur Geschichte des Pietismus 30), Göttingen 1993. vom Orde, Klaus, Der Quietismus Miguel de Molinos bei Philipp Jakob Spener, in: Hartmut Lehmann (Hg.), Jansenismus, Quietismus, Pietismus (Arbeiten zur Geschichte des Pietismus 42), Göttingen 2002. –, Art. Molinos, Miguel de, in: Metzler-Lexikon Christlicher Denker. 700 Autorinnen und Autoren von den Anfängen des Christentums bis zur Gegenwart, hg. von Markus Vinzent, Stuttgart/Weimar 2000, 481. –, [Hg.], Pietas et Eruditio. Pietistische Texte zum Theologiestudium (Edition Pietismustexte, Bd. 8), Leipzig 2016. Peters, Christian, Art. Theologia deutsch in: TRE Bd. 33, Berlin/New York 2002, 258–262. Rotzetter, Anton, Lexikon christlicher Spiritualität, Darmstadt 2008. Sträter, Udo, Sonthom, Bayly, Dyke und Hall. Studien zur Rezeption der englischen Erbauungsliteratur in Deutschland im 17. Jahrhundert, Tübingen 1987. Wallmann, Johannes, Spener als Seelsorger. Zum Neueinsatz pietistischer Seelsorgepraxis, in: ders., Pietismus-Studien. Gesammelte Aufsätze II, Tübingen 2008, 318–322. –, Philipp Jakob Spener und die Anfänge des Pietismus, Tübingen, Tübingen 21986.
Sebastian Türk
Die Spiritualität des radikalen Pietismus
1.
Einleitung
Ein Beitrag über die Spiritualität des radikalen Pietismus muss sich zunächst einmal den nicht unproblematischen Begriffen zuwenden. Der Begriff Spiritualität artikuliert sich um die beiden Pole des Glaubens und des Lebens. Als „äußere Gestalt gewinnender, gelebter Glaube“ definierte ihn daher 1979 die EKDStudie „Evangelische Spiritualität“, an die auch Peter Zimmerling in seiner gleichnamigen Monografie anknüpft.1 Im Hinblick auf diese Definition kann man den gesamten Pietismus als dezidiert spirituelle Erneuerungsbewegung charakterisieren, denn seine Einheit besteht – wie es Rudolf Dellsperger auf den Punkt bringt – in der „individuellen religiösen Erfahrung einer ‚Wiedergeburt‘ und dem daraus entspringenden Willen, das private, kirchliche und soziale Leben nach biblischen, evangelischen Prinzipien zu gestalten“.2 Angesichts dieser übergeordneten religiösen Zielsetzung erscheint die Absonderung einer genuin radikalpietistischen Spiritualität als problematisch. Wir müssen uns daher die Frage stellen, auf welche Definitions- und Distinktionsmerkmale zurückgegriffen wird, um die Existenz eines radikalen Pietismus in Abgrenzung zu seiner kirchlichen Variante zu rechtfertigen. In der Forschung breit rezipiert wurden die von Hans Schneider vorgeschlagenen Kriterien: „Abweichung von der orthodoxen Lehre (Heterodoxie), sowie kirchliches – und gesellschaftliches – Fehlverhalten (Separation, Nonkonformismus) haben sich als Unterscheidungshilfe bewährt, auch wenn sie eine differenzierte Handhabung erfordern“.3 Die von der zeitgenössischen Orthodoxie als „Schwärmer“ oder „Fanatiker“ bezeichneten radikalen Individuen und Gruppen verdienten sich diese wenig schmeichelhaften At1 Zimmerling, Evangelische Spiritualität, 15f. 2 Dellsperger, Frühzeit, 21f. 3 Schneider, Der radikale Pietismus im 17. Jahrhundert, 391f; zur Rechtfertigung des Begriffes vgl. auch seinen Forschungsbericht von 1982/1983 in PuN 8/1982, 15–42; 9/1983, 117–151; vgl. auch Schrader, Literaturproduktion, 58–63. Eine Ablehnung des Begriffes formulierte hingegen zuletzt Brecht, Der radikale Pietismus.
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tribute also durch ihre devianten religiösen Anschauungen, aber auch durch ihren gelebten Glauben, der kirchliche und gesellschaftliche Konformitäten herausforderte. Es schält sich damit vor allem eine Leitfrage hinaus: Wo und wie lebten radikale Pietistinnen und Pietisten ihren Glauben? Was sind die Konsequenzen im Hinblick auf das Verhältnis zur Kirche und auf Formen des religiösen und sozialen Zusammenlebens? Es ist dies eine Problematik des Raumes, der Erfahrung und der Praxis. Zuerst möchte ich aber den Bezug zu den ideen- und frömmigkeitsgeschichtlichen Grundlagen der radikalpietistischen Spiritualität herstellen.
2.
Die ideen- und frömmigkeitsgeschichtlichen Grundlagen
Präzisieren wir zunächst in aller Kürze das historisch (halbwegs) fassbare Phänomen des radikalen Pietismus: Im Zuge der innerkirchlichen Reformbewegungen Theodor Undereycks (1635–1693) und Philipp Jakob Speners (1635–1705) kam es schon bald zu Separationen an ihren Wirkungsstätten Mülheim an der Ruhr bzw. Frankfurt am Main. Bedeutsam ist die Abspaltung der Frankfurter „Saalhofpietisten“ um den zuvor mit Spener befreundeten Johann Jakob Schütz (1640–1690) im Jahre 1682. Eng mit Schütz verbunden war das Ehepaar Johanna Eleonora geb. von Merlau (1644–1724) und Johann Wilhelm Petersen (1649–1727), die als theologische Schriftsteller und Ideenvermittler eine beträchtliche Wirkung im radikalpietistischen Spektrum entfalteten. In den 1690er Jahren multiplizierten sich die Anzeichen einer veritablen Krise (Konflikte mit Kirche und Obrigkeit, Auftreten von ekstatischen Phänomenen) vor dem Hintergrund der mit eschatologischen Erwartungen besetzten Jahrhundertwende. In dieser Periode erschienen zentrale Schriften wie die „Unparteiische Kirchen- und Ketzerhistorie“ (1699/1700) des wohl wirkmächtigsten Radikalpietisten, Gottfried Arnold (1666–1714). Am Anfang des 18. Jahrhunderts konsolidierten sich einige geografische Zentren (die religiös toleranten Grafschaften Wittgensteins und der Wetterau, das dänische Altona, aber auch die reformierte Schweiz), in denen es zu diversen Gruppenbildungen (Philadelphier, Sozietät der Eva von Buttlar, Inspirierte etc.) kam. Der radikale Pietismus blieb aber immer auch die Sache von Individuen und religiösen Einzelgängern, wie dem Theologen und Alchemisten Johann Konrad Dippel (1673–1734). Ab den 1740er Jahren verflüchtigte sich die historische Erscheinung schließlich zusehends.4
4 Vgl. Schneider, Der radikale Pietismus im 17. Jahrhundert; ders., Der radikale Pietismus im 18. Jahrhundert; Wallmann, Pietismus, 136–180.
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Die ideen- und frömmigkeitsgeschichtliche Genese des radikalen Pietismus ist komplex. Wir beschränken uns auf die für unsere Thematik wesentlichen Aspekte. Unter dem „doppelten Vorzeichen von Kontinuität und Neubeginn“ sieht Hans Schneider den radikalen Pietismus. So ist er einerseits in Beziehung zu setzen mit der Erneuerung protestantischer Frömmigkeit im Zuge der pietistischen Bewegung, die kirchenreformerischen und kirchenkritischen Positionen zu einer neuen Qualität verhalf. Andererseits steht er in Kontinuität zu verschiedenen Traditionssträngen, deren Ideen radikale Pietisten in ihren Schriften aufnahmen und verbreiteten.5 In der Forschung wurde der radikale Pietismus auf unterschiedliche Weise in Verbindung zu vorhergehenden Strömungen gesetzt. Während Emanuel Hirsch die Kontinuität zum sogenannten „mystischen Spiritualismus“ des 16. und 17. Jahrhunderts hervorhob6, plädierte Hans Schneider in Anknüpfung an die Arbeiten des amerikanischen Theologen Fred Ernst Stoeffler7 für Differenzierungen und Ausweitungen: Auch von Johann Arndt (1555– 1621) und der mystischen Frömmigkeit im Luthertum, der frühneuzeitlichen katholischen Mystik (insbesondere dem Quietismus), dem Labadismus sowie dem englischen Puritanismus gingen geistliche Anregungen aus.8 Letztlich basiert die radikalpietistische Rezeption von Texten und Ideen auf der Dynamik von Sehnsucht und Suche: Sehnsucht nach wahrer und lebendiger Gotteserfahrung sowie Suche nach Zeugnissen dieser Erfahrung. Ausgangspunkt ist ein pessimistischer Befund: Die zeitgenössische orthodoxe „Schultheologie“ gefällt sich in einem toten Buchstabenglauben. Kirche und Gesellschaft sind spirituell verwahrlost. Die Heuchelei ist omnipräsent: Bei den orthodoxen Kirchenlehrern, aber auch bei den sogenannten „Maulchristen“, die ihren Glauben nur rein äußerlich leben.„Unparteiisch“ hat Gottfried Arnold seine monumentale „Kirchen- und Ketzerhistorie“ (2 Bände, 1699/1700) 9 genannt – das wirkmächtigste Beispiel einer Suche nach „Wahrheitszeugen“ jenseits und unter dem Blickwinkel der konfessionellen Religionsparteien. „Prüfet alles, das Gute behaltet!“ (1Thess 5,21) – Diese Eklektik stellte sich im radikalen Pietismus als Verflechtung von Ideen und Traditionen dar. Zeitliche, konfessionelle und dogmatische Kategorien verschwammen. Radikale Pietisten bezogen sich in ihren Texten auf frühchristlich-patristische Literatur wie auf unterschiedliche Traditionen mystischer Frömmigkeit. Die „Vier Bücher vom
5 6 7 8 9
Vgl. Schneider, Der radikale Pietismus im 18. Jahrhundert, 392. Vgl. Hirsch, Geschichte, 209. Vgl. Stoeffler, The rise of evangelical pietism. Vgl. Schneider, Der radikale Pietismus im 18. Jahrhundert, 167. Arnold, Unparteyische Kirchen- und Ketzer-Historie.
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wahren Christentum“ (1610) Arndts10 sowie die Schriften spätmittelalterlicher Mystiker wie Johannes Tauler (ca. 1300–1361) waren privilegierte Lektüren. Insbesondere die „Imitatio Christi“ (ca. 1400) Thomas von Kempens (ca. 1380– 1471) blieb als Erbauungsbuch von größter Bedeutung. Dieser frühneuzeitliche „Bestseller“ formte das Muster eines ständig aktualisierten Diskurses, der Christusnachfolge als Selbstverleugnung und Weltverachtung verstand.11 Aber auch das heterodoxe Schrifttum der „mystischen Spiritualisten“, Panund Theosophen des 16. und 17. Jahrhunderts wie Paracelsus (1493–1541), Valentin Weigel (1533–1588), Jakob Böhme (1575–1624) oder Christian Hoburg (1607–1675) wurde breit rezipiert. Über die frühneuzeitlichen Spiritualisten wurden auch Anregungen aus dem (Neu-) Platonismus, der hermetischen Literatur sowie der Alchemie an den radikalen Pietismus vermittelt.12 Vor allem aus der Böhme-Rezeption kam die im radikalen Pietismus oft auftretende Sophienmystik (Gottfried Arnold: „Das Geheimnis der göttlichen Sophia“, 170013) und der Mythos vom androgynen Urmenschen mit seinen anthropologischen Implikationen.14 In Anknüpfung an die theologischen Positionen von Spiritualisten wie Weigel und Böhme15 vollzog sich ferner eine Abkehr von der lutherischen Rechtfertigungslehre, deren forensischer Charakter weitestgehend gegenüber den Gedanken der individuellen Heiligung und Wiedergeburt zurücktrat.16 Daneben ist die Genese des radikalen Pietismus undenkbar ohne den europäischen Bezugsrahmen. Bereits die ersten Separationen in der reformierten Gemeinde Undereycks geschahen unter labadistischem Einfluss. „Wandersmann“ im geografischen wie geistlichen Sinn hat Michel de Certeau den französischen Mystiker Jean de Labadie (1610–1674) 17 genannt, der nacheinander „Jesuit, Jansenist, Calvinist, Pietist, Chiliast oder Millieniarist und schließlich ‚Labadist‘“18 war und sein Leben als Anführer einer separatistischen Gemeinschaft in Altona beendete. Wie Labadie waren auch viele radikale Pietisten geistliche „Wandersleute“, deren Spiritualität stets im Werden begriffen war und sich aus keiner geschlossenen Doktrin speiste. In der separatistischen Gemeindegründung der Labadisten, die ihre eigenen Riten und Lebensweisen definierte,
10 Zu Arndt als „mystischen Spiritualisten“ innerhalb der lutherischen Kirche vgl. Schneider, Arndt und die Mystik. 11 Vgl. Delumeau, Le péché et la peur, 31. 12 Vgl. Schrader, Literaturproduktion, 61. 13 Arnold, Geheimniß / Der / Göttlichen / SOHIA. 14 Vgl. Faivre, L’ésotérisme au XVIIIe siècle, 35–40; Martin, Böhmes göttliche Sophia. 15 Vgl. Rohls, Protestantische Theologie, 63. 16 Vgl. Schneider, Der radikale Pietismus im 18. Jahrhundert, 167, spricht von einem „distanzierten Umgang mit dem reformatorischen Erbe“. 17 Zur Spiritualität Labadies vgl. Certeau, La fable mystique, 374–405. 18 A. a. O., 374.
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erscheint ferner das Auftreten derartiger Phänomene im radikalen Pietismus als präformiert. Ein Bündel geistlicher Affinitäten verband radikale Pietisten außerdem mit englischen Puritanern sowie katholischen Quietisten.19 Intensiv rezipiert wurden die prophetisch-apokalyptischen Schriften der englischen Böhme-Schüler und „Philadelphier“ um John Pordage (1607–1681) und Jane Leade (1623–1704). Besonders Johanna Eleonora und Johann Wilhelm Petersen, die Eschatologen und „Netzwerker“ des frühen Pietismus,20 verbreiteten chiliastische Ideen21 wie die „Wiederbringung aller“22 und prophezeiten die baldige Ankunft des Tausendjährigen Reiches Christi. Das Ehepaar Petersen vermittelte ebenfalls besonders wirkmächtig die Idee von der Errichtung einer universell-überkonfessionellen Kirche der Endzeit („Philadelphia“, nach Offb 3,7–13), die im radikalen Pietismus auf fruchtbaren Boden fiel.23 Nach dem französischen Mystik-Experten Jacques Le Brun seien die „wahren Erben“ der katholischen Quietisten unter den deutschen Pietisten zu finden.24 Vermittelt insbesondere über den hugenottischen Mystik-Apologeten Pierre Poiret (1649–1719) 25 wirkte die kontemplativ-inwendige, mit introspektiven Praktiken der „Seelenschau“ verknüpfte Spiritualität des Quietismus26 fort. Wichtige Rezipienten im radikalen Pietismus waren Arnold, der 1699 den „Guìa espiritual“ (1675) des spanischen Quietisten Miguel de Molinos (1628–1698) edierte,27 aber auch Charles-Hector de Saint-Georges de Marsay (1688–1753),28 der ab den 1730er Jahren mit einer Reihe quietistisch inspirierter Schriften in Erscheinung trat und sich insbesondere von der französischen Mystikerin Jeanne-Marie Bouvier de la Mothe-Guyon genannt Madame Guyon (1648–1717) 29 beeinflusst zeigte. Doch ist die Spiritualität des radikalen Pietismus nicht mehr als das eklektische Zusammenfließen von „Einflüssen“? Entwickelt sich nicht gerade Spiritualität aus individuellen religiösen Erfahrungen, die wir ernstnehmen müssen? Schließlich haben radikale Pietisten in einer Vielzahl von Autobiografien und 19 20 21 22 23 24 25 26 27 28 29
Vgl. dazu Gusdorf, Les sciences humaines, Bd. 5, 55–86. Zu ihnen vgl. Matthias, Petersen; Albrecht, Petersen. Vgl. dazu Schneider, Die unerfüllte Zukunft. Vgl. Albrecht, Petersen, 271–301. Vgl. Schrader, Literaturproduktion, 63–74. Vgl. Le Brun, La jouissance et le trouble, 491. Zum Fortwirken des Quietismus vgl. auch Minder, Glaube, Skepsis, Rationalismus; Gusdorf, Les sciences humaines, Bd. 7, 244–284. Zu ihm vgl. Wieser, Peter Poiret; Chevallier, Pierre Poiret. Zur Spiritualität des Quietismus vgl. die Definition Leszek Kolakowkis in: ders., Chrétiens sans Église, 495. Vgl. Arnold (Hg.), Der / Geistliche / Wegweiser. Zu ihm vgl. insbes. Goebel, Geschichte, 193–234; Knieriem/Burkardt, Die Gesellschaft der Kindheit Jesu-Genossen, 78–97. Zu ihrer Rezeption im radikalen Pietismus vgl. Schrader, Madame Guyon.
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Erbauungsbüchern ihre eigenen spirituellen Erlebnisse verbreitet. Doch sind diese Erlebnisse für uns nie als solche analysierbar, es sei denn, wir könnten in die Seele der Menschen blicken. Laut Jacques Le Brun kann daher niemals eine „spirituelle Erfahrung“ als solche existieren, sondern immer nur ihre Wiedergabe in den Mitteln der Sprache, das Resultat einer „literarischen“ bzw. „poetischen“ Erfahrung – ein Text.30 Erfahrung und deren Phänomene konstruieren sich so als Text sowie aus Texten. In der Lektüre, Rezeption und Interpretation von „Wahrheitszeugen“ unterschiedlichster Provenienz – sowie natürlich der Bibel – konstruierten und legitimierten radikale Pietisten ihre Erfahrung und fanden sprachliche Mittel, um sie auszudrücken. Gerade in der „literarischen“ Analyse radikalpietistischer Textzeugnisse (Theologische Schriften, Erbauungsbücher, geistliche Lyrik, Biografien etc.) unter Berücksichtigung ihrer Sprache und ihrer spezifischen Traditionen31 kann man daher zu interessanten Ergebnissen im Hinblick auf die Erfahrbarkeit von Spiritualität in Glauben und Leben gelangen. Wir wenden uns zunächst beispielhaft der geistlichen Literatur Gottfried Arnolds zu. Hier lassen sich einige grundsätzliche Orientierungen im Hinblick auf Raum, Erfahrung und Praxis radikalpietistischer Spiritualität problematisieren.
3.
Das Problem der spirituellen Erfahrung im Werk Gottfried Arnolds
Zahlreiche Arbeiten haben Leben und Werk Gottfried Arnolds eingehend beleuchtet.32 Nach seinem Theologiestudium in Wittenberg geriet Arnold unter den Einfluss Speners, der ihm Stellen als Hauslehrer in Dresden (1689–1691) und Quedlinburg (1693–1697) vermittelte, wo er spiritualistisch-philadelphische Kreise frequentierte und seine religiösen Anschauungen radikalisierte. Bereits während seines Studiums in Wittenberg hatte sich Arnold intensiv mit frühchristlich-patristischer Literatur beschäftigt. Aus diesen prägenden Lektüreerfahrungen schöpfend, veröffentlichte er 1696 die „Erste Liebe der Gemeinden Jesu Christi“ – eine kirchengeschichtliche Studie des frühen Christentums, die ihn in pietistischen Kreisen weithin bekannt machte. Die „Erste Liebe“ bezieht sich explizit auf das gleichartig angelegte Werk „Primitive Christianity or the 30 Vgl. dazu Le Brun, La jouissance et le trouble, 43–66. 31 Zur Literatur und Sprache des Pietismus vgl. bes. Schrader, Literatur des Pietismus; ders., „Die Sprache Canaan“. 32 Zur Biografie Arnolds vgl. u. a. Seeberg, Gottfried Arnold; Büchsel, Gottfried Arnold; ders., Vom Wort zur Tat; Schneider, Arnold in Gießen.
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Religion of the ancient Christians“ (1673) des anglikanischen Geistlichen William Cave (1637–1713), das 1694 in deutscher Übersetzung herauskam.33 Doch während es Cave darum ging, die Riten der anglikanischen Kirche auf die urchristliche Gemeinde zurückzuführen, kam Arnold zu einem anderen Schluss. In der apostolischen Gemeinschaft waren Riten und Zeremonien nicht nötig: „Es waren weniger Ceremonien / hingegen desto mehr Gottesfurcht / weniger äußerliches / hingegen desto mehr innerliches / weniger eingebildete Weißheit / hingegen aber ein größerer thätiger Glaube.“34
In der „Ersten Liebe“ sieht Arnold die urchristliche Gemeinde als eine von naiver Herzensfrömmigkeit getragene Liebesgemeinschaft der wiedergeborenen Christen, die mit Gott im Geiste verbunden waren. Er definiert damit die universell-zeitlose Norm eines verinnerlichten Laienchristentums, das keiner Riten und Zeremonien, keiner Institutionen, ja letztlich gar keiner Objektivierung des Glaubens bedarf. Die Geschichte der verfassten Kirche präsentiert sich hingegen als Geschichte von Verweltlichung, von „verderbten Lehrern“ und moralischem Verfall. In diesem Sinne ist die „Erste Liebe“ auch eine radikale Kirchenkritik.35 Bereits die „Zuschrift“ zu diesem Werk verweist auf den für Arnolds Kirchenverständnis jener Zeit so zentralen Begriff der „unsichtbaren Kirche“, denn sie richtet sich an: „Alle und jede lebendigen Gliedmassen der unsichtbaren heiligen Gemeine JESu Christi“.36 Die einige Jahre später erschienene „Kirchen- und Ketzerhistorie“, das berühmteste Werk Arnolds, geht den in der „Ersten Liebe“ vorgezeichneten Weg weiter. Die „unsichtbare Kirche“ lebt nur im Innern ihrer individuell betrachteten Glieder. Arnold assoziiert diese Glieder mit den Mystikern, den „Stillen im Lande“ (Ps 35,20), und etabliert eine „unparteiische“ Tradition von Wahrheitszeugen, die auch verfolgte Ketzer mit einschließt. Sie entlarven durch ihr Zeugnis die Kirchen als Stätten des institutionalisierten Bekenntnis- und Gewissenszwanges. Arnold geht es nicht im Sinne moderner Geschichtswissenschaftler um eine Historisierung seiner Quellen. Von der urchristlichen Gemeinde bis hin zu den frühneuzeitlichen Mystikern und Spiritualisten wie Jakob Böhme sind die Glieder der „unsichtbaren Kirche“ das Sprachrohr einer zeitlos gültigen Wahrheit: Das wahre Christentum wird nach Innen („inwendig“) gelebt. Infolgedessen werden alle Kirchen als dekadente „Sekten“ verworfen. Sie sind der unmögliche Raum authentischer christlicher Spiritualität. Damit einher geht die Rechtfertigung der Separation. An die Stelle der Kirchen und ihrer Liturgie treten die von
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Zur Genese des Werks vgl. Schneider, Arnolds „Erste Liebe“. Arnold, Die Erste Liebe, Vorrede, 3. Vgl. Schneider, Arnolds „Erste Liebe“, 192–204. Arnold, Die erste Liebe, Zuschrift.
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mystischer Frömmigkeit getragenen Praktiken eines „inneren Gottesdienstes“, in denen das Individuum sich einen unmittelbaren Zugang zu Gott sucht.37 Vor allem in seinen Gedichten hat Arnold versucht, derartige mystische Erfahrungen zu verarbeiten. Die ersten lyrischen Veröffentlichungen Arnolds fallen, wie die „Kirchen- und Ketzerhistorie“, in die letztlich nur dreieinhalb Jahre (1698–1702) andauernde radikal-separatistische Phase. 1697 wurde Arnold eine Geschichtsprofessur in Gießen angetragen, die er nur ein Jahr später – den akademischen Betrieb scharf kritisierend – niederlegte.38 Er kehrte daraufhin nach Quedlinburg zurück, wo er zurückgezogen lebte. In dieser Periode erschienen seine kirchenkritischsten Werke. Neben der „Kirchen- und Ketzerhistorie“ gehört dazu auch die geistliche Lyrik. Die Gedichte jener Jahre wurden in den Sammlungen „Göttliche Liebesfunken“ (1698) 39 sowie den „Poetischen Lobund Liebessprüchen“ und den „Neuen Göttlichen Liebesfunken“ veröffentlicht. Letztere bilden den Anhang zu der Schrift „Das Geheimnis der göttlichen Sophia“.40 Um mystische Erfahrung poetisch auszudrücken, musste sich Arnold zwangsläufig sprachlicher und literarischer Mittel bedienen und benutzte Bilder, Tropen und Figuren, die undenkbar sind ohne Bezug zur Bibel, sich aber auch aus Traditionen geistlicher Literatur wie der Barockmystik speisen.41 Die zwischen 1698 und 1700 veröffentlichten Lieder bewegen sich in den Themenkreisen der Christus- und Sophienmystik. Arnold griff dabei insbesondere auf die Bildlichkeit des Hoheliedes zurück. Bedeutsam ist die Tatsache, dass in Arnolds Lyrik die biblischen Bilder nur noch auf die innere Erfahrung des Subjekts verweisen. Damit ging er in seiner Bibelauslegung sowohl über den reinen Wortsinn als auch über die traditionelle Allegorese hinaus.42 An ihre Stelle tritt bei Arnold – so Volker Meid – „das Programm eines ungezwungenen, einfältigen pietistischen Sprechens, das seiner Unmittelbarkeit göttlicher Inspiration verdanke.“ Es ist dies der Topos der „inneren Erleuchtung“, die Arnold in ausgiebiger Lichtmetaphorik lyrisch darstellt.43 In der „Vorrede“ zu den „Göttlichen Liebesfunken“ verteidigt Arnold das unmittelbar-inspirierte Sprechen: „Ich halte alles Dichten 37 Vgl. Büchsel, Gottfried Arnold, 76–106; Schneider, Der radikale Pietismus im 17. Jahrhundert, 413f; Wallmann, Pietismus, 156–159. 38 Vgl. dazu Schneider, Arnold in Gießen. 39 Arnold, Göttliche / Liebes= / funcken. 40 Arnold, Poetische / Lob= und Liebes=Sprüche; ders., Neue / Göttliche / Liebes=funcken / und / Ausbrechende / Liebes=Flammen […]; beide angebunden an: ders., Geheimniß / Der / Göttlichen / SOHIA. 41 Zu Arnolds Lyrik vgl. die Studien Hanspeter Martis in: Missfeldt (Hg.), Gottfried Arnold, 15– 129; bes. Marti, Rhetorik; Kemper, Lyrik, 117–141; Dohm, Poetische Alchimie; ders., „Götter der Erden“; Meid, Literatur, 243–245. 42 Vgl. Kemper, Lyrik, 125–129; Dohm, Poetische Alchimie, 199–215. 43 Meid, Literatur, 244.
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und Singen vor unnütze / das nicht aus dem Geist Gottes fleusset“.44 Wenn Arnold auch – dies wollen wir nicht verhehlen – in der Praxis poetischen und rhetorischen Konventionen verhaftet blieb, so verweist seine Problematisierung dieser Konventionen doch auf den Wunsch, innere Gefühlserfahrungen „unmittelbar“ sprachlich auszudrücken. Im Zentrum von Arnolds christusmystischen Hohelied-Gedichten steht die Liebesvereinigung mit dem Gottessohn. Sie wird auf die Szene eines subjektivinneren Raumes („Herz“, „Seele“, „Grund“) projiziert und dort zur sinnlichen Poesie. Die erotische Bildlichkeit des Hoheliedes mit seinen Küssen und Liebesspielen symbolisiert einen intimen Umgang mit Christus, der durch dessen Einwohnung im Subjekt verewigt werden soll. „Du ziehst nur bei denen ein / Die dir im Grund gelassen seyn“, dichtet Arnold.45 „Gelassenheit“ – diese mystische Meistervokabel bezeichnet den Verzicht auf jeden Eigenwillen und die völlige Übergabe an die göttliche Gnadenwirkung, die zur Bedingung für die inhabitatio (Einwohnung) wird. Am Ende dieses Prozesses steht die innere Vervollkommnung des mit Christus vereinten und dadurch geistlich wiedergeborenen Menschen.46 Auch in seinen sophiologischen Gedichten entwirft Arnold die Erfahrung der Wiedergeburt als tiefgreifende Umformung des Subjekts. Die mystische Vermählung mit der himmlischen Sophia, der Personifikation der göttlichen Weisheit, wird in ausgeprägter Feuer- und Flammenmetaphorik als „alchemistischer“ Transformationsprozess imaginiert, in dessen Folge sich der pervertierte Mensch in eine „neue Kreatur“ androgyner Geistleiblichkeit verwandelt.47 In Rückgriff auf Böhme verbindet Arnold die Sophienlehre mit der Vorstellung einer ursprünglichen Androgynität des Menschen. Sophia war die himmlische Braut Adams und verband sich mit ihm zu der mann-weiblichen Ganzheit der imago Dei (Gottesebenbildlichkeit). Durch seinen Fall verlor der Mensch seine Gottesebenbildlichkeit, die er in der Wiedergeburt als „neue Kreatur“ zurückgewinnen kann. Fall und Wiedergeburt werden so zu den beiden Polen einer mythischen Erlösungsvision.48 Die Themenkreise der Christus- und Sophienmystik lassen sich in Arnolds Gedichten aber nicht auseinanderhalten, vielmehr verschmelzen sie. Christus und Sophia erscheinen, wie Burkhard Dohm schreibt, „in ihrer soteriologischen Funktion als austauschbare Figuration des Göttlichen“.49 Sie sind das Medium 44 Arnold, Göttliche / Liebes= / funcken, Vorrede; zit. nach Meid, Literatur, 244. 45 Arnold, Göttliche / Liebes= / funcken, XVII, 20. 46 Vgl. Kemper, Lyrik, 129–132. Zum pietistischen Sprechen über die Einwohnung Christi vgl. auch Schrader, Christologie. 47 Vgl. Dohm, „Götter der Erden“, 191–194. 48 Vgl. Benz, Vision, 582. 49 Dohm, „Götter der Erden“, 191f.
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der Wiedergeburt, welche die „Transzendierung jenseitigen Daseins im Diesseits“50 verheißt. So formuliert Arnold selbst: „Ich lebe noch in dieser Welt / Ich bin doch schon zum Himmel auffgehoben“.51 Arnolds Lyrik hat damit eine nach innen und eine nach außen gewandte Seite. Wiedergeburt und unio mystica werden als Abschottung und Autonomisierung gegenüber Kirche, Welt und (Mit-) Menschen verstanden.52 Nicht zufällig erreicht Arnolds Kirchenkritik gerade in seinen Gedichten ihre höchste Radikalität, wie das bekannte „Babels Grablied“ bezeugt. Die Kirche wird hier mit dem „Babel“ der Apokalypse identifiziert und zum Sturm auf das „Schlangennest“ aufgerufen.53 Die Liebe zu Christus bzw. zur Sophia wiederum bedeutet für Arnold das notwendige Abtöten der Liebe zur Welt und ihren verderbten Kreaturen. In den anthropologischen Implikationen seiner Sophiologie knüpft er an den BöhmeSchüler Johann Georg Gichtel (1638–1710) an, mit dem er in dieser Zeit in schriftlichem Kontakt stand. Gichtel propagierte aus seiner Sophienlehre heraus den Verzicht auf Ehe und Sexualität, da sich die Liebe zur irdischen Eva und zur Sophia ausschließen. Auch Arnold lehnte die Ehe resolut ab und befürwortete die Praxis der sexuellen Askese.54 Als doppelter Einschnitt in Arnolds Lebenslauf muss daher empfunden werden, dass er 1701 Anna Maria Sprögel heiratete und ein Jahr später ein Pfarramt als Hofprediger in Allstedt annahm. Arnolds Wirken innerhalb der Kirche war nicht konfliktfrei, aber er blieb doch bis zu seinem Tod 1714 in verschiedenen Kirchenämtern. Während die ältere Forschung (Seeberg) hier einen tiefen Bruch ausmachte, betonen neuere Studien die Kontinuität in Arnolds Denken.55 Fest steht, dass Arnolds imposante literarische Produktion auch nach seiner Rückkehr in die Kirche nicht abriss. Bis zu seinem Tod erschienen noch fast 40 neue Titel. Auf den ersten Blick bieten diese Schriften ein gemischtes Bild. In der Abhandlung „Das eheliche und unverehelichte Leben der ersten Christen“ (1702) 56 rechtfertigt Arnold indirekt seine eigene Heirat und mäßigt die Radikalität seiner Ehe- und Sexualfeindlichkeit, hält allerdings im Grundsatz daran fest.57 Seine pastoraltheologische Schrift „Geistliche Gestalt eines evangelischen 50 51 52 53 54
Marti, Rhetorik, 128. Arnold, Göttliche / Liebes= / funcken, XIII, 15. Vgl. Kemper, Lyrik, 136–140. A. a. O., CXXVI, 160–165. Vgl. Vosa, Gichtels Verhältnis zum anderen Geschlecht; Breul, Ehe und Sexualität; ders./ Salvadori (Hg.), Geschlechtlichkeit und Ehe, 245–250. 55 Vgl. Schneider, Der radikale Pietismus im 18. Jahrhundert, 117–119; Büchsel, Vom Wort zur Tat, 162; Keding, Theologia experimentalis, 8–10 und Anm. 79. 56 Vgl. Arnold, Das / Eheliche / und / Unverehelichte / Leben. 57 Vgl. Breul/Salvadori (Hg.), Geschlechtlichkeit und Ehe, 254–256.
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Lehrers“ (1704) 58 mag ein neues Vertrauen ausdrücken, gegen die Veräußerlichung der Kirche auch innerhalb der Institution wirken zu können.59 Grundsätzlich lässt sich aber kein inhaltlicher Bruch in den nach der Rückkehr in die Kirche veröffentlichten Schriften verorten. 1702 erschien die Studie „Historia et descriptio theologiae mysticae“ (dt. Neubearbeitung 1703: „Historie und Beschreibung der mystischen Theologie“).60 Hier subsumiert Arnold die überkonfessionelle mystische Tradition zu einer „geheimen Gottes=Gelehrtheit“, die der orthodoxen „Schul=Theologie“ diametral entgegensteht. Denn die theologia mystica basiert nicht auf Spekulationen, sondern auf göttlicher Erleuchtung, ist kein theoretischer Buchstabenglauben, sondern theologia practica.61 Indem Arnold mystische Praktiken des intimen Umgangs mit Gott in Form eines gelehrten Traktates systematisiert, zeigt sich die Ambiguität seines Erfahrungsbegriffes. „Unmittelbare“ mystische Erfahrung erweist und rückversichert sich doch stets in Bezug zu einer Tradition von „Wahrheitszeugen“. In der „Mystischen Theologie“ zitiert Arnold vermehrt katholische Mystikerinnen und Mystiker als „Wahrheitszeugen“, wobei die Einwirkung Pierre Poirets hier eine wichtige Rolle spielt.62 Bereits 1699 hatte Arnold den „Guìa espiritual“ ediert. Er beschäftigte sich ebenfalls vermehrt mit der karmelitischen Mystik des 16. Jahrhunderts.63 Gerade der Rezeption dieser kontemplativen, auf Seelenruhe und inneren Gleichmut abzielenden katholischen Frömmigkeitstraditionen könnte Arnold – so Hanspeter Marti – die Rückkehr in die äußere Institution der Kirche erleichtert haben.64 Im Zentrum von Arnolds Spiritualität bleibt daher das Beschreiten der „inneren Wege“. Noch in der posthum erschienenen „Theologia experimentalis“ (1714) 65 entwickelt Arnold die verschiedenen Etappen eines mystischen Weges als Wiedergeburtsprozess, der zur inneren Vervollkommnung und Rückgewinnung der Gottesebenbildlichkeit führt. Auch in den späten Werken Arnolds wird spirituelle Erfahrung daher zuvorderst in einen Raum subjektiver „Innerlichkeit“ verlegt und mit mystischen Frömmigkeitspraktiken verknüpft. Die Kongruenz von Glauben und Leben, Innerlichkeit und Äußerlichkeit, individueller Spiritualität und Kirche bleibt dabei problematisch und wird stets problematisiert. Hier lässt sich eine grund58 59 60 61 62 63
Vgl. Arnold, Gestalt / Eines / Evangelischen / Lehrers. Vgl. Keding, Theologia experimentalis, 10. Vgl. Arnold, Historie und beschreibung. Vgl. A. a. O., 7–13. Vgl. Marti, Jesuiten, 125–129. Vgl. Arnold, Das Leben / Der / Gläubigen. Arnold beschrieb in dieser Sammlung von Exempelbiographien „vorbildlicher Seelen“ u. a. das Leben Theresa von Avilas und Johannes vom Kreuz’. 64 Vgl. Marti, Seelenfrieden, 101. 65 Vgl. Arnold, Theologia experimentalis.
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sätzliche Orientierung radikalpietistischer Spiritualität festmachen. Aus den genannten Spannungsfeldern erwachsen problematische Verhältnisse zur Kirche, aber auch zur Gesellschaft und ihren Normen.
4.
Spannungsfelder radikalpietistischer Spiritualität
Individuelle Spiritualität, Kirche und soziales Zusammenleben – in diesem Spannungsfeld haben radikale Pietistinnen und Pietisten auf unterschiedliche Weise versucht, eine Kongruenz von Glauben und Leben zu erreichen. Den Typus eines religiösen Individualisten mag beispielhaft Johann Konrad Dippel repräsentieren.66 In seiner Schrift „Christenstadt auf Erden“ (1700) verwirft der unermüdliche Pamphletist jede Besserung der verderbten Kirche, attackiert daher scharf die kirchlichen Pietisten um Spener und distanziert sich in Gänze von der Reformation und der lutherischen „Sekte“.67 Stattdessen entwirft Dippel die Utopie einer Christenstadt ganz ohne Kirche und Obrigkeit.68 In Dippels Spiritualität ist es der einzelne Mensch, der – nur vom inneren Wort geleitet –69 auf einem individuellen Weg zur Versöhnung mit Gott schreitet. Auch in seinem bewegten Leben, das geprägt war von forcierten Ortswechseln und Inhaftierungen, ging Dippel, anders als Arnold, bis zuletzt seine eigenen Wege. Er lehnte selbst die diversen radikalen Gruppenbildungen scharf ab. Denn der radikale Pietismus war auch von sehr unterschiedlichen Versuchen geprägt, den Glauben in Gemeinschaft zu leben. Kennzeichnend für alle radikalpietistischen Gruppen und Gemeinden war – wie schon bei den Labadisten – ihr elitäres Selbstbewusstsein als „Gemeinschaft der Wiedergeborenen“. Hinzu traten apokalyptisch-chiliastische Vorstellungen. Wir haben eingangs auf die Bedeutung philadelphischen Gedankenguts verwiesen, deren wichtigste Vermittler im radikalen Pietismus Johanna Eleonora und Johann Wilhelm Petersen waren. Allerdings ist zu präzisieren, dass sie im Gegensatz zu ihren englischen Glaubensschwestern und -brüdern „Philadelphia“ als reine Gemeinschaft im Geiste verstanden und jeden konkreten Versuch ablehnten, eine solche Endzeitkirche zu errichten.70 Dies verweist auf das grundlegende Dilemma der philadelphischen Bewegung. Sie manifestierte sich im radikalen Pietismus in der Gründung diverser separatistischer Gemeinschaften. Diese erwiesen sich aber zumeist als kurzlebig und 66 Zu ihm vgl. u. a. Goldschmidt, Dippel; Hannak, Geist=reiche Critik, 333–501. 67 Vgl. Christianus Democritus [Johann Konrad Dippel], Christen=Statt auf Erden. 68 Goldschmidt, Dippel, 252–258. Vgl. auch Hoffmann, Utopien im Radikalen Pietismus, 108– 115. 69 Vgl. Goldschmidt, Dippel, 179f. 70 Vgl. Albrecht, Petersen, 111–114.
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instabil. Denn jeder Versuch, die Philadelphia-Idee als formellen Zusammenschluss zu verwirklichen, bedeutete zwangsläufig die Etablierung von Hierarchien und die Harmonisierung von religiösen Anschauungen und Praktiken. Doch hatten die meisten Separatisten die Kirche gerade deshalb verlassen, um ihre individuelle Spiritualität frei von Dogmen und Bekenntniszwängen ausleben zu können. Hans-Jürgen Schrader hat diesen inneren Widerspruch in seiner intensiven Beschäftigung mit der philadelphischen Bewegung in Berleburg herausgearbeitet, die dort Anfang des 18. Jahrhunderts eine Blüte erlebte. Befördert durch die Toleranzpolitik Casimirs von Sayn-Wittgenstein-Berleburg (1712– 1741) wurde die Wittgensteiner Grafschaft zu einem Zentrum des radikalen Pietismus und der philadelphischen Bewegung. In der Praxis scheiterte die Utopie einer universellen Kirche schwesterlich-brüderlicher Liebe an inneren Zerwürfnissen und der Unvereinbarkeit individuell höchst unterschiedlicher religiöser Positionen.71 Wo es gelang, radikalpietistische Zusammenschlüsse in festen Organisationsformen zu konstituieren, zeigten diese daher die klassischen Merkmale einer „Sekte“.72 Relativ kleine und charismatisch geführte Gruppen lebten in apokalyptischer Naherwartung („Endzeitgemeinde“), schotteten sich gegenüber Kirche und Welt ab und definierten ihre eigenen religiösen Anschauungen und Praktiken, deren Verbindlichkeit sie durchzusetzen versuchten. Ein aufsehenerregendes Beispiel findet sich in der Sozietät der Eva von Buttlar („Buttlarsche Rotte“).73 Die aus hessischem Adel stammende Eva Margaretha von Buttlar (1670–1721) gründete 1700 in der kleinen Stadt Allendorf an der Werra eine philadelphische Sozietät, die bald etwa 70 Personen umfasste. In der separatistischen Gruppierung entwickelten sich dezidiert sexuelle Glaubenspraktiken, die mit Sophienspekulationen und vor dem Hintergrund chiliastischer Erwartungen gerechtfertigt wurden. Eva von Buttlar sah sich selbst als „himmlische Sophia“ und „Mutter“ der Sekte, die ihre männlichen Anhänger im Sexualakt reinigt und für die baldige Wiederkehr Christi entsühnt. Der von Böhme und Gichtel formulierte Gedanke einer mystischen Vermählung mit der Sophia wurde so von der Sekte auf ganz eigene Weise uminterpretiert und zur Legitimierung von sexueller Promiskuität benutzt.74 Durch außergewöhnliche Formen von Spiritualität machten auch die „Inspirierten“ von sich reden.75 Über nach England vertriebene Camisarden 71 Vgl. Schrader, Zores in Zion. Vgl. auch ders., Literaturproduktion, 178–238. 72 Die Unterscheidung von „Kirche“, individualistischer „Mystik“ und „Sekte“ geht zurück auf Troeltsch, Soziallehren. 73 Vgl. dazu Temme, Krise der Leiblichkeit. 74 Vgl. Hoffmann, Utopien im Radikalen Pietismus, 119f. Ausführlich zu den Anschauungen der Sozietät vgl. Temme, Krise der Leiblichkeit, 299–453. 75 Vgl. zu ihnen v. a. Schneider, Propheten der Goethezeit; Noth, Ekstatischer Pietismus.
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schwappte die Bewegung zu Beginn des 18. Jahrhunderts nach Deutschland über. Das hervorstechendste Merkmal dieser Gruppe waren die körperlichen Offenbarungspraktiken. Die „Aussprachen“ ihrer als „Werkzeuge“ bezeichneten Propheten wurden von ekstatisch-krampfhaften Bewegungen sowie Trancezuständen begleitet und als unmittelbare Ausgießungen des Heiligen Geistes betrachtet.76 Diese „inspirierten“ Reden wurden von Schreibern akribisch aufgezeichnet und in Sammeldrucken veröffentlicht – von einer „Schriftprophetie“ spricht daher Hans Schneider.77 Regionale Verankerung besaßen die Inspirierten vor allem in den toleranten Grafschaften Wittgensteins und der hessischen Wetterau (Isenburg-Büdingen). Hier formierte im Jahre 1716 der amtsenthobene Pfarrer Eberhard Ludwig Gruber (1665–1728) die Wahren Inspirationsgemeinden, zu deren wichtigstem „Werkzeug“ der Sattler Johann Friedrich Rock (1678–1749) wurde. Ulf Michael Schneider hat sich literaturgeschichtlich mit den Inspirationsreden Rocks beschäftigt und die stilistischen und rhetorischen Mittel dieses „unmittelbar“-affektiven Sprechens untersucht.78 Sowohl die Sozietät der Eva von Buttlar als auch die Inspirierten wurden von der Mehrzahl der radikalen Pietisten abgelehnt und zum Teil in polemischen Schriften offen attackiert. Im Hinblick auf unsere Thematik wäre es dennoch falsch, hier nur die „extravagante“ Spiritualität marginaler Sekten zu sehen. Die Sozietät der „Mutter Eva“ etwa verweist, wenn auch in zugespitzter Form, auf die für den radikalen Pietismus charakteristischen Experimente mit Sexualität, Formen des Zusammenlebens und Genderkonzeptionen.79 Wo Spiritualität in soziale Praxis transponiert wurde, konnte dies zumindest partiell zu einer Nivellierung von Standesunterschieden (siehe das Mesalliance genannte Phänomen der Eheschließung zwischen Partnern aus unterschiedlichen Gesellschaftssichten) 80 und der Infragestellung der traditionellen Geschlechterrollen führen. Viele separatistische Gemeinschaften wurden von Frauen geführt. Gerade der Pietismus ist daher zum fruchtbaren Forschungsfeld für gendergeschichtlich orientierte Forschungen geworden.81 In einem breiteren Kontext verweisen diese Phänomene auf jene „Krise der Leiblichkeit“, mit der Willi Temme seine Studie über die „Buttlarsche Rotte“ betitelt hat. Im Pietismus um 1700 herrschte, so Temme, ein „kollektives Erleben einer Not im Umgang mit dem eigenen Körper und seinen Empfindungen“,
76 77 78 79 80 81
Vgl. zur Geschichte der Inspirierten Schneider, Propheten der Goethezeit, 23–37. Vgl. Schneider, Der radikale Pietismus im 18. Jahrhundert, 147. Vgl. Schneider, Propheten der Goethezeit, 95–108. Vgl. Martin, Böhmes göttliche Sophia, 7–11. Vgl. dazu Breul, Mesalliancen im Pietismus. Vgl. dazu u. a. Gleixner/Hebeisen (Hg.), Gendering Tradition; Albrecht/Bühler-Dietrich/ Strzelcyk (Hg.), Glaube und Geschlecht; Schmid (Hg.), Gender im Pietismus.
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wobei Körperlichkeit und Sexualität höchst problematisch wurden.82 In Arnolds Idealisierung der Ehelosigkeit und der „extravaganten“ Spiritualität der Buttlarschen Sozietät finden sich somit Lösungsversuche, die zwar graduell sehr unterschiedlich sind, sich aber doch beide vor dem Hintergrund dieser „Krise der Leiblichkeit“ analysieren lassen. Auch das aufsehenerregende Auftauchen von körperlichen Offenbarungen und ekstatischen Phänomenen seit den 1690er Jahren83 sowie bei den Inspirierten könnte in Verbindung zu veränderten Körperwahrnehmungen stehen. Dies hat kürzlich Wolfgang Breul hervorgehoben und grundsätzliche Evolutionen des frühneuzeitlichen Körperbildes durch anatomische Entdeckungen, aber auch durch den „Verlust“ der Leib-SeeleEinheit im Zuge des Cartesianismus als mögliche Erklärungsmuster in Erwägung gezogen. Laut Breul könnte durch die Reduktion des Leibes auf mechanistisch gedeutete Prozesse dessen religiöse Rolle und Dignität fraglich geworden sein. Die daraus resultierende „Krise der Leiblichkeit“ habe sich dann gerade im erfahrungsbezogenen Pietismus besonders intensiv geäußert.84 Auch wenn diese Frage noch offen bleibt, so bleibt eines festzuhalten: Die Problematik von Raum, Erfahrung und Praxis radikalpietistischer Spiritualität ist immer zugleich eine Problematik des Körpers und seiner Empfindungen.
5.
Fazit
Jeder Versuch, eine Essenz der Spiritualität des radikalen Pietismus zu definieren, stößt sich an unüberwindbaren Schwierigkeiten. Ideen- und frömmigkeitsgeschichtlich präsentiert sich diese Spiritualität als ein eklektisches Zusammenfließen von verschiedensten Traditionen, die radikale Pietistinnen und Pietisten auf unterschiedliche Weise rezipierten und sich aneigneten. Man denke nur an die diversen Interpretationen der Sophienlehre und des Mythos vom androgynen Urmenschen sowie die praktischen Lehren, welche daraus gezogen wurden. Die Spiritualität des radikalen Pietismus präsentiert sich somit nicht als geschlossene Doktrin. Radikale Pietistinnen und Pietisten lebten ihren Glauben vielmehr auf höchst unterschiedliche Weise. In dieser bunten Vielfalt von Formen und Praktiken lässt sich kaum die Spiritualität des radikalen Pietismus definieren. Gemeinsame Nenner lassen sich gleichwohl in einer steten Sorge um sich und sein Seelenheil finden, in einer Sehnsucht nach einem intimen Zugang zu Gott sowie in einer Privilegierung des „inneren Lebens“ gegenüber dem Leben 82 Vgl. Temme, Krise der Leiblichkeit, 452f. 83 Vgl. Mori, Begeisterung und Ernüchterung. 84 Vgl. Breul, Ehe und Sexualität, 415–418.
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in der verderbten Welt. Hieraus resultierten problematische Verhältnisse zum eigenen Körper und seinen Empfindungen und darüber hinaus auch zur Kirche sowie zur Gesellschaft der „Weltkinder“. Die Reaktionen hierauf reichten von Abschottung in mystischer Versenkung über unterschiedlichste soziale und religiöse Experimente bis hin zu dem Versuch, Glauben und Dienst an der Kirche zu versöhnen. Die persönlichen Erfahrungen radikaler Pietistinnen und Pietisten drückten sich in einer imposanten und variantenreichen Produktion geistlicher Literatur aus. In Arnolds Reflexionen über sein Seelenleben und seiner Lyrik der „inneren Erleuchtung“ ebenso wie im unmittelbar-affektiven Sprechen der Inspirierten vollzieht sich die Morgendämmerung des Jahrhunderts der Genies und der empfindsamen Seelen.
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Eberhard Winkler
Die Spiritualität August Hermann Franckes (1663–1727)
Dem modernen Begriff „Spiritualität“ entspricht bei Francke das Wort „Christentum“. Er versteht darunter im Unterschied zum heutigen Sprachgebrauch die individuelle Frömmigkeit, die er von bestimmten Kriterien aus beurteilt. Als Pfarrer will Francke seinen Gemeindegliedern und als Professor seinen Studenten helfen, „in ihrem Christentum“ die notwendigen Schritte zu tun.1 Sein Denken und Handeln zielt auf „wahres Christentum“, womit er eine Formulierung von Johann Arndt (1555–1621) übernimmt, dessen „Vier Bücher vom Wahren Christentum“ ihn persönlich und die ganze pietistische Bewegung stark beeinflussten. Was Francke konkret unter „wahrem Christentum“ versteht, hängt maßgeblich von seinen ihn selber prägenden Erfahrungen ab. Er setzt darauf, dass die Kraft des Glaubens das Leben der Einzelnen und der Gemeinschaft verändert. Spiritualität ist die ganzheitliche Praxis des Glaubens und lässt sich am besten als Entfaltung des Glaubensbegriffs beschreiben.
1.
Vom Wahnglauben zum wahren Glauben
Francke beurteilt seine eigene geistliche Entwicklung nach dem Schema des Lebens vor und nach der Bekehrung. Im Lebenslauf von 1690/912 behauptet er, vor der Bekehrung innerlich und äußerlich ein Weltmensch gewesen zu sein, bei dem Gottes Wort noch nicht ins Leben verwandelt war.3 Zwar erlebte er schon als 1 Vgl. Francke, Predigten I, 317, 48–51, wo Francke davor warnt, dass Kinder Gottes „im Lauf ihres Christenthums“ durch bestimmte Ärgernisse aufgehalten werden. 2 Vgl. Matthias (Hg.), Lebensläufe, 73: „Wahrscheinlich ist der Lebenslauff spätestens im 1. Quartal des Jahres 1691 geschrieben“. 3 Vgl. Francke, Werke in Auswahl, 24; de Boor, Erfahrung gegen Vernunft. Täubner, „Zum andern soltu meditirn“, 82, interpretiert den Lebenslauf als „Vollzug meditativer Selbsterniedrigung und Selbstdeutung“ und erklärt a. a. O., 102: „Der Lebenslauff bezeugt deshalb nicht die Bekehrung, sondern eine meditative Selbstbearbeitung auf dieses Ziel hin, die letztendlich der religiösen Selbstformung dient.“
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Kind eine Erweckung im Sinne der von Johann Arndt beeinflussten Frömmigkeit, doch ist er nach eigenem Urteil „von dem ehemaligen guten anfang eines wahren Christenthums, den ich in der kindheit gehabt, weit abgewichen“.4 Bei der Vorbereitung einer Predigt 1687 in Lüneburg geriet Francke in einen schweren inneren Konflikt, in dem er seine Glaubwürdigkeit als Prediger infrage gestellt sah und unter Zweifeln bis hin zur atheistischen Anfechtung litt. Nicht das in einem langen Theologiestudium angeeignete Wissen trug durch diese Krise, sondern das Gebet und damit das gnädige Handeln Gottes. Glauben wurde zu einer Erfahrung, die das Gefühl bewegt und sich in bestimmten, zeitlich und räumlich einzuordnenden Erlebnissen als real erweist. Häufig kritisiert Francke, dass die Menschen ihre Einbildung für den rechten Glauben halten.5 Sie sollen den „alten Wahn- und Maul-Glauben“ fahren lassen6 und den neuen Glauben annehmen, der in Wahrheit der rechte alte Glaube ist. Deutlich richtet sich diese Spitze gegen die lutherisch-orthodoxen Gegner, denen Francke vorwirft, Lehre und Leben zu trennen. Die Glaubenserfahrung erstreckt sich auf das innere und äußere Leben, sie verändert beides. Wahrer Glaube dient Gott „nicht mit äusserlichem Dienst allein, sondern von Hertzens-Grunde, nicht dem äusserlichen Schein nach, sondern in der Wahrheit“.7 Francke beklagt in Glaucha, dass die meisten Gemeindeglieder zwar christliche Rituale vollziehen, im übrigen jedoch ganz auf das Irdische gerichtet seien.8 Als Beispiele für das abgöttische Wesen nennt er Tanzen, Springen, Fechten, Spielen.9 Was eigentlich zu den „Mitteldingen“ gehört, die an sich weder gut noch böse sind, könne zum Ärgernis werden, das der Seele schadet.10 Ein äußerlich ehrbares Leben genügt ebenso wenig wie ein äußerlicher Vollzug der Religion, „sondern das Hertz muß recht umgegraben werden“.11 Die meisten derer, die sich lutherisch nennen, halten nach Franckes Meinung „einen menschlichen Wahn und Traum“ für Glauben.12 Der „große Haufen“ lebe in Pracht und Üppigkeit, 4 Matthias (Hg.), Lebensläufe, 10, 6; Francke, Werke in Auswahl, 10. Vgl. de Boor, Erfahrung gegen Vernunft, 122. Die negative Selbstbeurteilung ergibt sich aus dem Bedürfnis, das neue Leben im Glauben als Kontrast zum alten Leben darzustellen. 5 Vgl. Francke, Predigten I, 186, 37: „Das soll ein Mensch wohl mercken, damit er nicht so frech sey, zu trotzen auf seine Einbildung, die er für den rechten Glauben hält. Denn es rühmen sich viel tausend des Glaubens, die doch den Glauben nicht haben, sondern einen blossen Wahnund historischen Glauben“. 6 A. a. O., 72, 13 (Hervorhebung im Original). 7 A. a. O., 209, 87. 8 Vgl. a. a. O., 343, 96: „Ihr Christenthum bestehet darinnen, dass man etwan den Morgen- und Abend-Segen lieset, in die Kirche, und wenn’s hoch kömmt, auch zum heiligen Abendmahl gehet; Das andere Tichten und Trachten ist nur auf das Irdische gerichtet“. 9 Vgl. a. a. O., 343, 73. 10 Vgl. a. a. O.,304–327 („Die Lehre von dem Aergerniß“). 11 A. a. O., 366, 76. 12 A. a. O., 55, 31.
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Fressen und Saufen, Geiz und sündlicher Bauchsorge, in Hadern und Zanken oder sonst in einem ungöttlichen Wesen.13 Es ist aber zu fragen, ob die Mehrheit der Einwohner Glauchas in der Lage war, in Pracht und Üppigkeit zu leben. Was der Prediger als „sündliche Bauchsorge“ anprangerte, dürfte oft der Kampf um das tägliche Brot gewesen sein. Alkoholmissbrauch kritisiert Francke häufig, und besonders erboste es ihn, wenn sonntags Schenken öffneten. Einen Gastwirt schloss er deshalb vom Abendmahl aus. Francke zeichnete ein düsteres Bild von den sittlichen Zuständen in Glaucha, das durch neue Untersuchungen modifiziert wird.14 Die lutherisch-orthodoxen Pfarrer von Halle beurteilten die „Mitteldinge“ (Adiaphora) liberaler als Francke. Deshalb ließen sie manche Glauchaer Gemeindeglieder, die Francke und sein Adjunkt Freylinghausen der Kirchenzucht unterworfen hatten, zur Beichte und zum Abendmahl zu. Es kam zu Auseinandersetzungen, in denen das Magdeburger Konsistorium vermitteln musste. Francke praktizierte Kirchenzucht in seelsorgerlicher Absicht und im Bemühen um Gemeindeaufbau, aber bei einem Teil der betroffenen Gemeindeglieder führte sie zur Entfremdung von ihrem Seelsorger statt zu dem wahren Christentum, zu dem dieser sie anleiten wollte. Eine Ursache für diesen Konflikt liegt darin, dass der Mensch nur sehen kann, was vor Augen ist, während allein Gott ins Herz zu schauen vermag (vgl. 1Sam 16,7). Glauben bringt zwar sichtbare Früchte hervor und Franckes Lebenswerk ist bis heute ein eindrucksvolles Beispiel dafür, aber primär besteht der wahre Glaube im Empfangen der Gnade. Das betont auch Francke, der sich als Lutheraner versteht und gern Luther zitiert. Aus der Tatsache, dass jemand sündigt, lässt sich nicht schließen, dass er oder sie sich nur einem eingebildeten Glauben hingibt. Francke weiß von sich selber, dass er von der Vergebung lebt. Das Denken in Gegensätzen gehört zu den Triebkräften seines Handelns. Franckes Vision heißt Weltveränderung durch Menschenveränderung.15 Dass Gott den Sünder nicht nur aus Gnaden annimmt, sondern ihn auch erneuert und heiligt, kam nach Franckes Meinung in der lutherischen Orthodoxie ungenügend zur Geltung. Sie machte ihm zu viele Zugeständnisse an die Welt, die er unter dem Einfluss spiritualistisch-mystischer Ideen als Gegensatz zur Ordnung Gottes verstand: „Gott und die Welt können nicht in einem Hertzen herrschen“.16 Hier kommt nicht die Mehrdeutigkeit des Begriffs „Welt“, sondern allein der negative 13 Vgl. a. a. O., 62, 94. 14 Vgl. Beyreuther, Francke, 134: „Glaucha ist zum Amüsierort der Hallenser geworden. In zahllosen Kneipen und Spelunken wird bis in die Nacht hinein gezecht, getanzt, gespielt und gerauft. Sogar an den Sonn- und Feiertagen sieht man in allen Gassen Betrunkene wanken“. Dagegen Albrecht-Birkner, Francke in Glaucha, 10–17. 15 Vgl. Obst, Francke und sein Werk, Kap.1. 16 Francke, Der rechte Gebrauch der Zeit, 21; vgl. Peschke, Studien Bd. 1, 155f.
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Aspekt zur Geltung. Entsprechend exklusiv stellt Francke Weltmenschen und Kinder Gottes gegenüber: Weltmenschen suchen ihre Glückseligkeit im Wohlstand, in Gesundheit und in äußeren Ehren.17 Gotteskinder dagegen „leben ihrem Nächsten zu Nutz und Dienst, und demselben opfern sie sich auf“. Der für Francke typische Wille zur Veränderung der Realität gerät in die Gefahr, diese Wirklichkeit nicht mit der notwendigen Differenzierung wahrzunehmen.
2.
Glauben gemäß der Ordnung Gottes
Nach Erhard Peschke erschließt sich die Struktur der Theologie Franckes und damit auch seiner Spiritualität von seinem Verständnis der Ordnung Gottes her.18 Eine Heilsordnung (ordo salutis) kannte auch die lutherische Orthodoxie, indem sie Stationen des Glaubensweges von der Berufung über die Bekehrung und Wiedergeburt zur Rechtfertigung und mystischen Vereinigung beschrieb.19 Darunter verstehen die meisten Theologen nicht biografische Stufen, sondern Aspekte der Rechtfertigung. Francke legt Wert auf die Erkennbarkeit des wahren Glaubens, der in der von Gott vorgegebenen Ordnung zu erlangen ist und bestimmte Schritte auf dem Lebensweg erfordert. Die in mehreren Auflagen erschienene „Schriftmässige und gründliche Anleitung zum wahren Christenthum“ (Halle 1706) stellt die Aufforderung zur Sündenerkenntnis an den Anfang, denn: „Es ist nicht ein jeder ein Christ, der sich einen Christen nennet“.20 Unglauben ist die Wurzel aller Sünden. Wer seine Sünden erkennt und ernstlich bereut, darf zum Kreuz fliehen und dort Trost finden. Auch die „Schrifftmäßige Anweisung recht und Gott wohlgefällig zu beten“ (Halle 1703) beginnt mit der Aufforderung, den eigenen Zustand zu prüfen und das eigene Herz ohne Heuchelei zu untersuchen. Täglich soll der Beter alle Winkel seines Herzens durchsuchen, um allem Selbstbetrug zu entgehen.21 Die Wiedergeburt beseitigt jede Wurzel der Heuchelei.22 Wer jedoch noch zweifelt, ob er Gott gehört, prüfe sich weiter. Er wird den nagenden Wurm des Gewissens spüren,23 und die Gewissensangst erweist sich als Lehrmeister, der das ABC des rechten Gebetes lehrt. „Busse und Bekehrung must du in dir wircken lassen/ so wird dich GOtt selbst beten lehren“.24 Nun ist der Glaube nicht mehr 17 18 19 20 21 22 23 24
Vgl. Francke, Predigten I, 371, 49–58. Vgl. Peschke, Studien Bd. 1, 18–65. Vgl. Steiger, Ordo salutis, 371.376. Francke, Anleitung zum wahren Christenthum, 3. Vgl. a. a. O., 121. Vgl. a. a. O., 124. Vgl. a. a. O., 128. A. a. O., 136.
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bloße Einbildung, sondern eine das Leben verändernde Wahrheit. Ströme der Liebe fließen durch den Heiligen Geist ins Herz. Das neue Leben wird nicht mehr vom irdischen, sondern vom himmlischen Sinn geleitet. Weil Christus durch den Glauben im Herzen wohnt, wächst der Christ in der Heiligung. Durch denselben Glauben gewinnt er Freude an den Gnadenmitteln und findet geistliche Heimat in der Gemeinde, von der er sich nicht trennt, wenn er ihre Mängel erkennt. Im Glauben setzt er sein Vertrauen in allen Dingen des Lebens auf Gott. Francke weiß zwar, dass auch die Wiedergeborenen in Anfechtungen geraten, Sünder bleiben, auf Vergebung und den Beistand des Heiligen Geistes angewiesen sind, aber dadurch verliert Gottes Ordnung nicht ihre Verbindlichkeit. Immer wieder betont er, wie unerlässlich die grundlegenden Schritte der Buße und Bekehrung sind. Wenn es nach der Ordnung Gottes geht, kommt niemand darum herum, im Herzen wahre Reue und Leid über seine Sünden zu erfahren und zu fühlen.25 Glauchaer Gemeindeglieder beschwerten sich beim Konsistorium, ihr Pfarrer verlange von ihnen, melancholisch und traurig zu werden.26 Francke hält dagegen, dass die göttliche Traurigkeit nach 2Kor 7,9 eine Reue zur Seligkeit bewirkt und eher tausend Menschen wegen ihrer fleischlichen Sicherheit sterben als ein einziger wegen der göttlichen Traurigkeit.27 Dem wahren, lebendigen Glauben ist Wachstum verheißen, wie der junge Francke in einer programmatischen Predigt ausführt, indem er unter Bezug auf 1Petr 5,10 die Gründung, Kräftigung, Stärkung und Vollbereitung des Glaubens am Beispiel des „Königischen“ (Joh 4,47–54) erläutert. Am Anfang steht das Leiden. Der Glauben wird „im Creutz empfangen, geboren, erhalten und vollendet“.28 Durch äußeres Leiden will Gott die „Zerschlagung des Hertzens, welche vor dem wahren lebendigen Glauben hergehen muß“ bewirken.29 Der Mensch muss das Elend seiner Seele, nämlich seine Verwicklung in die Welt- und Kreaturliebe erkennen „und eine wahre Zerknirschung und Reue des Hertzens, Verdruß über sich selbst“ und Ekel vor allem Weltwesen erfahren.30 Der Glaube wird gegründet, indem „man durchs Creutz äusserlich oder innerlich gezogen wird, seiner Seelen Kranckheit erkennet, das Wort Gottes mit Lust und Liebe
25 Vgl. Francke, Predigten I, 368, 43–45: „Ja wol die beste Busse, wenn es recht verstanden wird, wenn es in der Ordnung Gottes zugehet, dass das Hertz erst wahre Reu und Leid über seine Sünden erfähret und fühlet. Also dencke nicht, du könnest die Busse so vorbey gehen, dürftest das nicht eben bereuen, was du von Jugend an sündliches geredet und gethan“. Es folgt ein Beichtspiegel. 26 Vgl. Albrecht-Birkner, Francke in Glaucha, 21.117ff. 27 Vgl. Francke, Predigten I, 369, 92. 28 A. a. O., 11, 75 (Hervorhebung im Original). 29 A. a. O., 12, 17 (Hervorhebung im Original). 30 A. a. O., 12, 20.
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höret und annimmet, und hindurch zu Christo dringet, ihn bittet und im Bitten anhält“.31 Auf die Gründung folgt die Kräftigung des Glaubens. Der „Königische“ ergreift Christi Hilfe mit der Hand des Glaubens. Der Mensch wird der Gnade Gottes gewiss, er erfährt die Rechtfertigung. Sie ist eine wirkliche Erfahrung, die den „Fortgang des Christentums“, den Prozess des Wachstums, bestimmt. „Vollbereitet“ wird der Glaube, wenn er nicht nur „alle Kräfte der Seele ergreifet, und Gott zu einem Opfer bringet“,32 sondern auch anderen zum Segen wird. Da das Wachstum des Glaubens für Francke eine empirische Realität darstellt, kann er die Menschen in drei Arten oder Klassen einteilen:33 Der größte Teil, die erste Klasse, lebt in fleischlicher Sicherheit, praktiziert ein äußerliches Christentum und sorgt sich wenig um den inneren Menschen. Von ihnen leben einige „in rohen offenbaren Wercken des Fleisches“ und kümmern sich weder um Gott noch um sein Wort.34 Andere leben in bürgerlicher Ehrbarkeit, verfolgen aber jene, die als lebendige Glieder am Leib Christi über ihr äußerliches Christentum hinausgehen. Ein dritter Teil dieser ersten Klasse macht den Eindruck eifriger Christen, „indessen bleiben sie im Grunde ihres Hertzens unverändert, und thun nicht wahre rechtschaffene Buße, verleugnen nicht die Liebe dieser Welt, und nehmen das Joch Christi, nemlich sein Creutz, nicht auf sich“.35 Sie alle sind für Francke „noch außer Christo“, weil sie seinen Geist nicht haben. Das entscheidende Kriterium ist die wahre Buße, wie er sie versteht. Die genannten drei Gruppen gehören gleichermaßen zur Klasse derer, „die keinen Glauben haben, ausser Christo und seiner Gnade, unter dem Zorn und Fluch Gottes seind, so lange bis die durch wahre Busse in einen gantz andern Zustand gesetzet werden“.36 Die zweite Klasse wird durch den Hammer des göttlichen Wortes gerührt.37 Die Menschen empfinden die Kraft des Gesetzes, erschrecken von Herzen über den tiefen Abgrund ihres Elends, verlangen danach, dem göttlichen Willen zu folgen und geraten in einen Kampf, in dem sie ihre Schwachheit erfahren. Es fällt auf, wie sehr Francke emotionale Begriffe gebraucht, aber auch wie negativ er diesen Status beurteilt: Zwar beginnt der Glaube bei diesen Menschen, aber sie sind noch unbekehrt. Francke unterscheidet zwei Teilgruppen dieser zweiten Klasse. Zur ersten gehören jene, die von Gottes Wort kräftig gerührt wurden, aber
31 32 33 34 35 36 37
A. a. O., 16, 53. A. a. O., 23, 31. Vgl. Francke, Predigten I, 24–33. Vgl. a. a. O., 24, 82–84. A. a. O., 25, 8. A. a. O., 26, 58 (Hervorhebung im Original). Vgl. a. a. O. 26, 62. Zur „göttlichen Rührung“ vgl. Peschke, Studien Bd. 1, 43f.
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„immer im Wollen bestehen bleiben, und nichts als Klagen führen“,38 statt sich von Jesus, dem Anfänger und Vollender des Glaubens, helfen zu lassen. Andere erbitten Hilfe, werden aber nicht gewahr, dass ihnen geholfen wird. Sie sind mit dem Zuspruch zu trösten, dass in ihrer Anfechtung der Grund zum wahren und lebendigen Glauben gelegt wird. Zur dritten Klasse gehören diejenigen, die durch Buße und Bekehrung hindurch zu einem wahren und lebendigen Glauben gelangt sind, den himmlischen Trost und die Vergebung ihrer Sünden im Herzen empfinden und vom Heiligen Geist das Zeugnis erhalten, dass sie Gottes Kinder sind. Dieser Glaube kann schwach sein, doch schwacher Glaube darf nicht mit Unglauben verwechselt werden. Wenn er „wahrhaftiger Glaube und rechter Art ist“,39 wird er nicht schwach bleiben. Vielmehr wird er wachsen und sich als in der Liebe tätig erweisen.
3.
Glauben bewährt sich in der Liebe
„So weit beweiset sich einer als einen Christen, so weit er ein rechter Beter ist vor Gott, und so weit er Liebe übet gegen seinen Nächsten“.40 Francke fordert deshalb die Prediger auf, „daß sie von dem heuchlerischen Mund-Glauben die Zuhörer ab, und zu einem in der Liebe thätigen Glauben sie anweisen“.41 Wer wie der Reiche von Lk 16,19–31 die Pflicht gegen die Armen ignoriert, endet wie dieser in der Hölle. Francke bezieht die ganze Gemeinde in diese Pflicht ein. Wer nicht über materielle Mittel verfügt, kann doch „ein innigliches Mitleiden mit seinem Nächsten zeigen“,42 ihm raten und nicht zuletzt für ihn beten. Die „Pflicht gegen die Armen“ fordert Änderungen im individuellen und gesellschaftlichen Verhalten. Francke kritisiert, dass wie bei dem Reichen von Lk 16 viel Geld für teure Kleidung ausgegeben wird, „aber wenn man hernach den Armen einen Groschen geben soll, da ist niemand zu Hause“.43 Die Obrigkeit soll darauf sehen, „daß allen Armen möge so nachdrücklich gedienet werden, daß dieselben, die in einer Stadt sind, versorget, und auch die Gaben recht angewendet werden möchten; indem die, so arbeiten können, zur Arbeit angehalten würden, die aber darzu unvermögend sind, der Gaben zu geniessen hätten, und zwar so viel, als ihnen möchte nöthig seyn“.44 Missbrauch und Betrug sind auszuschließen und dürfen nicht als 38 39 40 41 42 43 44
Francke, Predigten I, 28, 30 (Hervorhebung im Original). A. a. O., 31, 49. A. a. O., 210,57 (Hervorhebungen im Original). A. a. O., 211, 79. A. a. O., 218, 95. A. a. O., 223, 91. A. a. O., 220, 92.
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Vorwand dienen, nötige Hilfen zu verweigern. Vielmehr sollen Gelder, die hier und da verschwendet werden, zur Versorgung der Armen Verwendung finden. Francke wehrt den Gedanken ab, er betone die Pflicht zur Nächstenliebe, um Spenden für seine Armen einzuwerben. Er habe alles im Glauben angefangen, und bisher fehle es an nichts. Gott werde es auch künftig nicht an einer Mahlzeit mangeln lassen.45Tätige Nächstenliebe erwächst aus der dankbaren Beziehung zu Gott, sie ist der Beweis dafür, dass Gott mit seiner himmlischen Liebe im Menschen wohnt. Theologisch war die Priorität des göttlichen Tuns für Francke wesentlich, zugleich lag ihm angesichts der Spannungen in der Gemeinde Glaucha daran, seine Unabhängigkeit zu demonstrieren. Andererseits litt er darunter, wegen mangelnder Mittel oft die nötige Hilfe nicht leisten zu können. In der Programmschrift, die „Der Große Aufsatz“ genannt wird, beklagt er, dass er oft arme Studenten abweisen muss, die um einen Platz an den Freitischen im Waisenhaus bitten.46 Ehe die Freitische mit 64 Plätzen eingerichtet wurden, ist ein Student fast verhungert. Ähnlich bedrückende Erfahrungen machte Francke beim Waisenhaus, wo er viele Kinder nicht aufnehmen konnte. Die Armen glaubten es ihm oft nicht, dass er selber kein Geld hatte. Die Diskrepanz zwischen dem Ausmaß der Not und den verfügbaren Mitteln hat Francke „manchmal am Leibe und Gemüthe nieder geworffen“.47 Diese Erfahrung führte Francke zu der Einsicht, dass die allgemeine Not Maßnahmen erfordert, die „zu einer rechtschaffenen gründlichen Verbeßerung des verfallenen Wesens in allen Ständen den Weg bahne[n]“.48 Von grundlegender Bedeutung sind dafür Erziehung und Bildung. Francke nutzt die vor allem in seiner Person, aber auch durch andere Mitarbeiter gegebene Verbindung von Waisenhaus und Universität, um eine pietistische Pädagogik nicht nur zu entwerfen, sondern zu praktizieren.49 Nach seinem Urteil weiß fast niemand mehr, was zu einer christlichen und für die Allgemeinheit nützlichen Erziehung gehört.50 Um arme Witwen und Waisen sowie generell um Notleidende kümmere sich kaum jemand. Notwendig sei deshalb sowohl eine Reform des Erziehungsund Bildungswesens allgemein als auch die Sorge um arme Kinder und Familien im Besonderen. Drei Tugenden soll die Erziehung den Kindern einpflanzen: Liebe zur Wahrheit, Gehorsam und Fleiß.51 Wichtigstes Erziehungsmittel ist das vorbildhafte 45 Vgl. a. a. O., 232, 56. 46 Vgl. Der Große Aufsatz, 44, 21. 47 A. a. O., 47, 32 und 48, 13 spricht Francke vom Seelenkampf, den er wegen der übergroßen Not empfunden habe. 48 A. a. O., 48, 2 (Hervorhebung im Original). 49 Vgl. Menck, Erziehung der Jugend; Obst, Francke und sein Werk, 114–120. 50 Vgl. Der Große Aufsatz, 76, 3. 51 Vgl. Francke, Werke in Auswahl, 137; Obst, Francke und sein Werk, 115.
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Leben der Erzieher. Liebe zur Wahrheit heißt nicht nur das Vermeiden von Lügen und Heucheln, sondern auch das Einweisen in die Heilige Schrift als Quelle der Wahrheit. Gehorsam schließt ein, dass der Eigenwille gebrochen wird, damit Gottes Wille Raum gewinnt. Das soll zwar ohne Zwang geschehen, aber an dieser Stelle droht doch eine Manipulation, die der Erziehung zur Wahrheit nicht dient. Pädagogisch problematisch wird auch die Forderung von Fleiß, sofern den Kindern kaum Zeit für das Spiel blieb. Franckes Pädagogik ist jedoch nicht an heutigen Maßstäben zu messen. Für ihre Zeit brachte sie wesentliche Fortschritte, sofern sie ein vertrauensvolles Verhältnis zwischen Erziehern und Zöglingen voraussetzte, Realien und damit das Prinzip der Anschaulichkeit in den Unterricht einführte und einen Ausgleich von Strenge einschließlich maßvoller Strafen mit positiver Motivation suchte. Was heute befremdlich eng wirkt, erwuchs aus der globalen Zielstellung, durch Menschenveränderung die Welt zum Besseren zu ändern. Erziehung und Bildung der Kinder und Studenten sollten die einzelnen Persönlichkeiten zur wahren, gottgefälligen Klugheit und Gottseligkeit führen und so Gottes Ehre und des Nächsten Nutzen derartig befördern, dass eine grundlegende Verbesserung in allen Ständen erfolgt. Bereits 1704 konstatiert Francke, die Arbeit in den Anstalten habe ihm unzählige Gelegenheiten gegeben, „Gottes Ehre und des Nächsten Nutzen zu befördern“.52 Er staunt darüber, wie viel Gutes in kurzer Zeit ausgerichtet wurde, und er verweist zugleich auf die Begrenztheit der Zeit, in der das Notwendige getan werden kann. Wie verhält sich der Vorrang des göttlichen Tuns zu dem Werben um menschliches Handeln? Francke erwartet wie die Reformatoren, dass die Liebe als Frucht des Glaubens tätig wird, und der Glauben ist Gottes Werk. Er erklärt: Weil ich zu Gott das Vertrauen habe, dass er sein Werk ausführen werde, kann ich umso getroster meinem Nächsten zeigen, wie er sich dabei als Werkzeug gebrauchen lassen kann.53 Deshalb wirbt er um Sponsoren und Sympathisanten, die das diakonische Werk geistlich und materiell unterstützen. An Sendungsund Selbstbewusstsein fehlt es ihm dabei nicht. Seinen Mitarbeitern und damit auch sich selber bescheinigt er: „Hier weiß man, daß treue Arbeiter bey dem Wercke sind, die nicht das ihrige dabey suchen, und dieselbigen sind in so großer Anzahl und in solcher vereinigten Liebe, daß, wenn einer abgehet, zehen, zwölffe und mehrere da stehen, die die Last des Wercks von Anfang mit getragen haben, und es mit aller Treue fortsetzen werden; das findet man an keinem andern Orte, es sey auch wo es wolle“.54
52 Der große Aufsatz, 50, 13. Das Motiv „Gottes Ehre und des Nächsten Nutzen“ begegnet im „Großen Aufsatz“ häufig. 53 Vgl. a. a. O., 58, 12. 54 A. a. O., 64, 11.
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Potentielle Spender sollen wissen, dass ihr Geld in Franckes Anstalt gute Früchte bringt „wie an keinem andern Orte“ und solche sich bereits nach kurzer Zeit zeigen. Zwar steht es keineswegs in menschlichen Kräften, die Welt zu bessern, aber Gott will das Bemühen darum segnen und wir dürfen eigene Trägheit nicht mit dem Argument rechtfertigen, dass wir es doch nicht zur Vollkommenheit bringen.55 Obwohl in wenigen Jahren schon viel erreicht wurde, ist das Ziel „einer recht durchdringenden Verbesserung des allgemeinen Verderbens“56 nicht in kurzer Zeit erreichbar. Es bedarf kleiner praktikabler Schritte, mit denen beharrlich Fortschritte erzielt werden, zum Beispiel neue Planstellen an der Theologischen Fakultät und in den Anstalten. In der Gewissheit, einen Gott wohlgefälligen Dienst zu tun, verbindet Francke sein Gottvertrauen mit strategischem Denken und rationalem Handeln. Dafür pflegt er die Beziehungen zum Hof in Berlin und vertritt die Interessen der Anstalt notfalls auch zu Lasten von Mitbürgern.57
4.
Glauben gründet in der Heiligen Schrift
Franckes wissenschaftliche Arbeit war ursprünglich stark von der biblischen Philologie bestimmt. Schon als Student unterrichtete er in Leipzig privat Hebräisch. Zweiundzwanzigjährig habilitierte er sich mit einer Arbeit über die hebräische Grammatik und hielt biblisch-philologische Vorlesungen an der Philosophischen Fakultät. 1686 beteiligte er sich am Collegium Philobiblicum an der Leipziger Theologischen Fakultät, das unter Speners Einfluss dazu diente, philologische Kenntnisse für die erbauliche Aneignung der Heiligen Schrift fruchtbar zu machen. Im Lebenslauf behauptet Francke, sein Christentum sei damals „gar schlecht und laulicht gewesen“.58 Er habe ein vornehmer, gelehrter und reicher Mann werden wollen, mehr bemüht, Menschen zu gefallen als dem lebendigen Gott. Dieses negative Urteil ergibt sich aus dem Bedürfnis, die postulierte Ordnung Gottes in der eigenen Biografie wiederzufinden. Zugleich entspricht die Kontroverse von altem und neuem Leben dem Gegensatz zwischen einem bloßen äußerlichen und einem der wahren Erbauung dienenden Schriftgebrauch.
55 Vgl. a. a. O., 131, 31–41. 56 A. a. O., 139, 21. 57 Vgl. Albrecht-Birkner, Francke in Glaucha, 47–58, wo gezeigt wird, wie Francke das Grundstück für den Bau des Waisenhauses erstritt. Für die Beziehungen zum preußischen Hof vgl. Hinrichs, Preußentum und Pietismus. 58 Matthias (Hg.), Lebensläufe, 21, 24.
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Äußerliches Wissen von der Schrift bleibt bei deren Schale stehen, ohne zu ihrem Kern vorzudringen.59 Schale und Kern, Wissen und Frömmigkeit bilden an sich keine Gegensätze, sondern philologische Kenntnisse können helfen, „zur Erkäntniß des Innerlichen zu gelangen“.60 Inhaltlich kann Francke wie Luther Christus als den Kern bezeichnen. In der ganzen Heiligen Schrift ist der Gott zu finden, der sich in Christus offenbart. Alles Studium der Schrift soll darauf zielen, diesem Gott persönlich zu begegnen. Die Begegnung der Person mit Gott geschieht aber vor allem im Gebet. Francke wertet nicht die wissenschaftliche Arbeit mit der Bibel ab, sondern er warnt davor, aus Eigenliebe oder Ehrsucht schriftgelehrt sein zu wollen, was seiner Meinung nach für viele Gelehrte seiner Zeit zutrifft.61 Rechter Umgang mit der Heiligen Schrift erfordert eine demütige Haltung, ein aufrichtiges Verlangen, durch sie zur Seligkeit unterwiesen zu werden. „Das Gebet und die Betrachtung müssen einander stets die Hand bieten“.62 Wie Luther sieht Francke in der Trias von Gebet, Meditation und Anfechtung die Stücke, die einen rechten Theologen ausmachen. In der theologischen Ausbildung und in der Gemeindepraxis arbeitet Francke daran, dass die Menschen mit der Bibel leben. Das Theologiestudium versteht er hauptsächlich als Studium der Heiligen Schrift, die sich selbst auslegt. Den Wert wissenschaftlicher Literatur misst er daran, wie sie „zum bessern Verstande der Schrift leitet“.63 Mit der lutherischen Orthodoxie teilt Francke die Lehre von der Verbalinspiration. Ihr Sinn liegt nicht darin, abstrakt die göttliche Herkunft und damit Verbindlichkeit jedes Wortes der Bibel zu behaupten, sondern sich dem Wirken des Heiligen Geistes in den jeweiligen Texten zu öffnen. Ergeben sich Schwierigkeiten für das Verstehen, so werden sie durch die Annahme einer symphonischen Harmonie relativiert. Die Heilige Schrift legt sich in der Weise selbst aus, dass Unklarheiten an bestimmten Stellen durch das Heranziehen anderer Aussagen behoben werden. Außerdem können dunkel erscheinende Stellen dadurch erhellt werden, dass ihr verborgener Inhalt ans Licht kommt. Die bis in die Alte Kirche zurückgehende hermeneutische Unterscheidung von Schale und Kern führt dann dazu, dass unter der Schale des Literalsinnes die allegorische oder mystische Bedeutung (sensus mysticus) entdeckt wird.
59 Zum Unterschied von Schale und Kern in Franckes Hermeneutik vgl. Peschke, Studien Bd. 2, 54–56. Im Lebenslauf erklärt Francke, er selber sei vor seiner Beteiligung am Collegium Philobiblicum in Leipzig „mehr um die Schale als um den kern und die Sache selbst“ bekümmert gewesen, Matthias (Hg.), Lebensläufe 18,19. 60 Peschke, Studien Bd. 2, 55 A.7. 61 Vgl. Francke, Einfältiger Unterricht, 1. 62 A. a. O., 4. 63 Zit. bei Peschke, Studien Bd. 2, 59 A.32. Zu Franckes Konzept des Theologiestudiums vgl. a. a. O., 127–224.
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Für die praktische Auslegung legt Francke Wert darauf, den Skopus des konkreten Textes zu ermitteln.64 Die Skopus-Methode entspricht seinem Bedürfnis, dass jede Schriftauslegung die am Vorgang der Auslegung beteiligten Personen bewegt. Der biblische Text zielt immer auf einen bestimmten Zweck und damit auf eine Veränderung des Lebens. Francke legt Wert auf die empirischpsychologischen Lebensäußerungen, die der Heilige Geist auslöst. Gottes Geist habe bei den biblischen Autoren bestimmte Affekte erregt, die bei der Auslegung zu berücksichtigen sind, damit sie entsprechende Gemütsbewegungen wie Freude, Liebe, Hoffnung bewirkt. Nur die Wiedergeborenen verstehen die Affekte, weil nur sie über die notwendige Erfahrung verfügen.65 Nur sie können von der Schale zum Kern der Schrift gelangen. Obwohl Franckes Hermeneutik weitgehend mit der seiner lutherisch-orthodoxen Gegner übereinstimmt, spricht er ihnen das rechte Schriftverständnis ab, weil er sie für nicht wiedergeboren hält.
5.
Der Kampf des Glaubens
Im Lebenslauf beurteilt Francke sein Leben vor der Bekehrung so, dass er damals die Welt geliebt habe wie die Welt ihn.66 Daher sei er frei von Verfolgung gewesen, weil er den Mantel nach dem Wind gehängt habe. Der Frieden mit der Welt habe jedoch seinem Herzen keinen Frieden gebracht. Die Bekehrung führte ihn zum wahren, lebendigen Glauben, damit aber auch zur Auseinandersetzung mit den Kindern der Welt, die ihn anfeindeten. 1689 musste Francke seine Lehrtätigkeit an der Leipziger Theologischen Fakultät aufgeben, weil ursprünglich wohlwollende Professoren wie Johann Benedict Carpzov die neue pietistische Bewegung bekämpften. 1690 übernahm der junge Magister seine erste Pfarrstelle in Erfurt, verbunden mit Vorlesungen an der dortigen Theologischen Fakultät. Schon nach einem Jahr endete diese Tätigkeit mit der Amtsenthebung und Ausweisung aus Erfurt. Ende 1691 erfolgte der Ruf an die Pfarrstelle Glaucha bei Halle und die Professur für griechische und orientalische Sprachen in Halle. Es lagen somit bewegte Jahre und heftige Auseinandersetzungen mit Vertretern der lutherischen Orthodoxie hinter Francke, als seine langjährige Tätigkeit an diesen Orten begann. Francke besaß zwar die Unterstützung des preußischen Hofes, nicht aber das Wohlwollen der Hallenser Pfarrerschaft. Schon vor seiner Ankunft in Halle erschien anonym die antipietistische Streitschrift „Imago pietismi oder Ebenbild 64 Vgl. a. a. O., 77. 65 Vgl. a. a. O., 105. 66 Vgl. Matthias (Hg.), Lebensläufe, 22, 18.
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der Pietisterei“, die vermutlich der Hallenser Pfarrer Albrecht Christian Roth (1651–1701) verfasste.67 Francke wird eine neue Lehre vorgeworfen, die verborgenes Gift enthalte. Kritisiert wird seine Beicht- und Abendmahlspraxis, seine angebliche Forderung einer unlutherischen Vollkommenheit und die Veranstaltung heimlicher Zusammenkünfte, also verbotene Aktivitäten. Francke setzte sich am 3. Juli 1692 in einer bald darauf gedruckten und der Glauchaer Gemeinde gewidmeten Predigt zur Wehr. Er ruft die Gemeinde als Zeugen an, dass er in allen Predigten und Reden erstens auf keinen anderen Grund „gewiesen habe als auf das geschriebene Prophetische und Apostolische Wort“.68 Zweitens habe er nur Jesus Christus als Grund und Eckstein der Seligkeit vorgetragen. Damit weist er den Vorwurf der Werkgerechtigkeit zurück. Drittens habe er beständig gelehrt, dass der Glaube an Jesus Christus nicht mit einem gottlosen Leben vereinbar sei,69 sondern dass ein beständiges Wachstum des Glaubens, der Liebe und der Hoffnung bis ans Ende notwendig sei. Die durch Christus wieder aufgerichtete und von der Reformation erneuerte Gerechtigkeit ist im Lauf der Kirchengeschichte einem Verfallsprozess erlegen. Francke kritisiert die Behauptung, es bestehe „ein recht blühender Zustand der Kirchen“.70 Er konstatiert dagegen bei den meisten „so genannten“ evangelischen Christen eine grobe Unwissenheit in grundlegenden Glaubensfragen und ein Missverständnis der lutherischen Rechtfertigungs- wie auch der Sakramentenlehre. Die meisten leben nach seinem Urteil in wissentlichen und vorsätzlichen Sünden.71 Im Leben der Menschen sei schwerlich ein Unterschied zwischen Heiden, Juden, Türken und Christen zu bemerken.72 Immer wieder betont Francke die Verfallserscheinungen bei der Mehrheit der Menschen und beklagt, wie wenige auf ein ernstes und wahres Christentum dringen.73 Er kritisiert den „großen Haufen“ der nicht bekehrten Menschen so penetrant, dass seine Gegner sich bestätigt fühlen konnten. Der gegen Francke erhobene Vorwurf des Enthusiasmus, einer dem kirchlichen Bekenntnis widersprechenden Schwärmerei, erhielt 1692, also im ersten Amtsjahr in Glaucha, dadurch Nahrung, dass im Sommer dieses Jahres die Prophetinnen Adelheit Sibylla Schwartz und Anna Maria Schuchardt ihn auf67 Vgl. Francke, Predigten I, 35 und die Predigt „Der Fall und die Wiederaufrichtung der wahren Gerechtigkeit“ in: a. a. O., 38–77.Zu Franckes Kontroversen mit Gegnern in der Halleschen Stadtgeistlichkeit und in der Gemeinde Glaucha vgl. Albrecht-Birkner, Francke in Glaucha; Obst, Francke und sein Werk, 24–39. 68 Francke, Predigten I, 40, 88 (Hervorhebung im Original). 69 Vgl. a. a. O., 41, 22. 70 A. a. O., 53, 12: „es sey ietzo florentissimus status ecclesiae“. 71 Vgl. a. a. O., 56, 43. 72 Vgl. a. a. O., 59, 79–82. Francke sieht dieses Urteil in den Städten bestätigt, in denen Christen und Juden beisammen wohnen! 73 Vgl. Winkler, Christen als Minderheit.
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suchten und ein gewisses Entgegenkommen bei ihm fanden. Im Kern ging es um die Frage, ob Gottes Geist außerhalb der Heiligen Schrift in Offenbarungen spricht. Von seinem den lutherischen Bekenntnisschriften gemäßen Schriftverständnis her konnte Francke bei aller Sympathie für die Dynamik des Geistes sich nicht mit den Inspirationsgemeinden identifizieren.74 Speners Einfluss ist es mit zu verdanken, dass Francke trotz seiner Offenheit für spiritualistische Gedanken in kirchlichen Bahnen blieb.75 Im Streit mit den lutherisch-orthodoxen Gegnern konnte Francke sich auf die Schriftgemäßheit seiner Lehre berufen. Dass es seinen Kontrahenten nicht gelang, ihn wie in Leipzig und Erfurt nach kurzer Zeit zu vertreiben, hatte er den in Halle anders gearteten Machtverhältnissen zu verdanken. Der ihm wohlgesinnte Gründungskanzler der Universität Ludwig Veit von Seckendorf (1626–1692) sorgte für die Einsetzung einer Untersuchungskommission, die noch 1692 einen Vergleich herstellte.76 Der Gegensatz zwischen den Fronten wurde jedoch nicht überwunden. Er lag weniger in theologischen Differenzen als vielmehr in den Konzepten der Frömmigkeit bei Theologen und Gemeindegliedern. Wenn die anachronistische Begrifflichkeit erlaubt ist, folgte Francke dem freikirchlichen Leitbild, während seine Gegner den volkskirchlichen Frömmigkeitstyp vertraten. Diese Typisierung galt nicht für das Staat-Kirche-Verhältnis. Francke verstand es, notfalls durch geschicktes Taktieren die staatliche Unterstützung zu sichern.77 Er war nüchtern genug zu wissen, dass das Ziel der Weltveränderung durch Menschenveränderung nur zusammen mit der Obrigkeit, nicht gegen sie zu erreichen war. Dieses globale Ziel erforderte realistische Teilziele und praktikable Schritte, wie sie ab 1695 mit der Armenschule und dem Pädagogium angefangen wurden. Der Reformprozess sollte aber schon vorher einsetzen, nämlich mit dem Beginn der Gemeindearbeit 1692 in Glaucha. Davon zeugt das bereits 1693 erschienene „Glauchische Gedenkbüchlein“, das Francke seinen Gemeindegliedern schenkte und in dem er sein Konzept erläuterte. Dem Gottesdienst wies er zentrale Bedeutung für den Gemeindeaufbau und für das ganze Leben der Christenmenschen zu. Was Francke von den Leuten erwartet, ist schon quantitativ anspruchsvoll, aber der äußerlich vollzogene Kultus ist seiner Meinung nach wertlos, ja unverantwortlicher Missbrauch, wenn ihm nicht eine innere Beteiligung entspricht, die wiederum das Leben erkennbar dem Willen Gottes gemäß formt. Den Gegnern in der Pfarrerschaft spricht Francke ab, das
74 Vgl. Noth, Ekstatischer Pietismus, 96–99, wo vom Besuch Meyers in Halle 1713 und Franckes distanzierter Haltung berichtet wird; vgl. Wallmann, Pietismus, 114–116. 75 Vgl. Albrecht-Birkner, Francke und der hallische Pietismus, 52: Ohne Speners Einfluss „wäre Francke kein kirchenkonformer Pietist geworden“. 76 Vgl. Albrecht-Birkner, Francke in Glaucha, 26f. 77 Vgl. Sträter, Spener und Francke, bes. 93.
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Abendmahl würdig zu genießen, da sie nicht bekehrt seien.78 Die in der allgemeinen Frömmigkeit geübte Sakramentspraxis ist für ihn Heuchelei, die er scharf bekämpft. Besonders spitzt sich der Kampf um die Beichte zu. Francke begründet die Verweigerung der Absolution und damit die Abweisung vom Abendmahl bei denjenigen, „deren Unwürdigkeit offenbar und am Tage ist“.79 Er beklagt das mit dem Beichtpfennig verbundene Problem: Manche Pfarrer sind darauf als Teil ihres Gehaltes angewiesen, aber die Gefahr des Missbrauchs ist so groß, dass Francke darauf verzichtet, nachdem er es zuerst für sich selber und dann für die Armen angenommen hatte. Ob Franckes Urteil über die Würdigkeit konkreter Gemeindeglieder theologisch gut begründet und seelsorgerlich hilfreich war, ist zu fragen. Kirchenzucht bedeutete soziale Ausgrenzung und tangierte damit die Menschenwürde. Dagegen wehrten sich die sozial Starken wie die Ortsrichter und auch die als unbekehrt kritisierten Pfarrer sahen sich in ihrer Ablehnung der Pietisten bestätigt. Dass Francke den größten Teil der Einwohner nicht als Christen akzeptierte, dürften viele als Provokation empfunden haben. Sein kompromissloses Eintreten für ein bestimmtes Frömmigkeitsprofil kritisierten die Gegner als eng. In der Tat steht das exklusive spirituelle Leitbild, das sich in der Kirchenzucht auswirkt, im Widerspruch zur Weite des geistigen Horizontes, die Franckes Werk insgesamt auszeichnet.
6.
Glauben im ökumenischen Horizont
„Denken und Handeln August Hermann Franckes sind ökumenisch, auf die ganze Welt und alle christlichen Kirchen ausgerichtet“.80 Der selbstkritische Blick auf die lutherische Kirche, der sich Francke durchaus verbunden fühlte, relativierte die konfessionellen Differenzen, zumal er schon in jungen Jahren puritanische Erbauungsschriften englischer Reformierter las81 und Werke des katholischen Priesters Miguel de Molinos aus dem Italienischen ins Lateinische übersetzte.82 Mit Leibniz korrespondierte er über Unionspläne und eine ChinaMission.83 Wichtig wurde für die internationalen Beziehungen die Zusammen78 Vgl. Francke, Predigten I, 513–555, bes. 521, 46 („Der unverantwortliche Mißbrauch des heiligen Abendmahls“). 79 A. a. O., 537, 10. 80 Obst, Francke und sein Werk, 111. Vgl. Beyreuther, Francke und die Anfänge der ökumenischen Bewegung. 81 Das erwähnt er im Lebenslauf, vgl. Matthias (Hg.), Lebensläufe, 21, 4–8. 82 Vgl. a. a. O., 18, 30–20, 33, wo Francke erklärt, wie er zur Beschäftigung mit Molinos kam und betont, dass er nur teilweise diesem quietistischen Mystiker zustimmt. Damit lehnt er pauschale konfessionalistische Urteile ab. 83 Vgl. Beyreuther, Francke und die Anfänge der ökumenischen Bewegung, 84–103.
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arbeit mit dem Gelehrten und Diplomaten Heinrich Wilhelm Ludolf (1655– 1712), der nach einer langen Russlandreise 1695 Francke besuchte. Auf Ludolfs Bitte schickte er Mitarbeiter nach Russland und lernte selber Russisch. Russische Studenten studierten in Halle, die Waisenhausdruckerei druckte kyrillische Texte. Verbindungen entstanden in mehrere Länder Südosteuropas, besonders nach Ungarn. 1702 entstand das Collegium orientale theologicum. Zwei Jahre später freute sich Francke im „Großen Aufsatz“, dass fünf Griechen nach Halle gekommen sind, und er sah darin den Anfang einer Sache, „mit welcher auff die Errettung vieler tausend Seelen, ja ich sage nicht unbillich, vieler tausend mal tausend Seelen gezielet wird“.84 Das Ziel ist die Rettung von Seelen in der ganzen Welt, nicht aber die Stärkung von Konfessionskirchen. Francke verstand es, Mitarbeiter für dieses Werk zu begeistern und Verbindungen zu pflegen, was einen enormen Zeit- und Kraftaufwand erforderte. In London wurde Anton Wilhelm Böhme sein Verbindungsmann.85 Er übersetzte Franckes Bericht über die Entstehung der Anstalten „Die Fußstapfen des noch lebenden und waltenden liebreichen und getreuen Gottes“ (1701) ins Englische und gewann damit Unterstützer in England und junge Engländer für die Ausbildung in Halle. So entstand das bis heute vorhandene „Englische Haus“. Ein völlig neues Arbeitsgebiet erschloss sich für den Protestantismus, als auf Anregung des dänischen Königs Friedrich IV. 1706 die Missionare Bartholomäus Ziegenbalg (1682–1719) und Heinrich Plütschau (1677–1746) nach Tranquebar gingen, aus deren Arbeit die heutige Evangelisch-Lutherische Tamilenkirche erwuchs.86 Francke begleitete die dort unter widrigen Bedingungen geleistete Arbeit intensiv. In beeindruckend kurzer Zeit erlernten die Missionare die schwierige Tamilsprache und erforschten die malabarische Kultur so gründlich, dass Francke fürchtete, die eigentliche missionarische Aufgabe könne darunter leiden. Die Missionare folgten aber den Impulsen ihres Lehrers, für den die Philologie ein unentbehrliches Werkzeug der Verkündigung war. Franckes hermeneutisches Interesse wirkte bei seinen Schülern: Jede Sprache ist in einen kulturellen Lebenszusammenhang eingebettet. Missionarische Verkündigung setzt voraus, dass die Missionare dieses Leben teilen. Wie in Halle gehörte in der Dänisch-Halleschen Mission von Anfang an die Diakonie zu den elementaren Lebensäußerungen und wie in Franckes Anstalten war Bildung ein unverzichtbarer Dienst. Der häufig erhobene Vorwurf, Mission sei eine Form des Kolonialismus, trifft hier in keiner Weise zu. Vielmehr wurde die Arbeit der Missionare durch die Kolonialbehörden so krass behindert, dass man Ziegenbalg
84 Der Große Aufsatz, 50, 24. 85 Vgl. Sames, Anton Wilhelm Böhme. 86 Vgl. Lehmann, Es begann in Tranquebar.
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zeitweise ins Gefängnis sperrte, weil er sich für die einheimische Bevölkerung einsetzte. Verbindungen pflegte Francke auch zu lutherischen Emigranten in Nordamerika. Seine Bereitschaft, sich weltweit für das Reich Gottes einzusetzen, entsprach dem universalen Aspekt seiner Spiritualität. Dieser eignet allerdings eine doppelte Polarität der Innen- und Außenperspektive. Positiv entwickelt der das Herz ergreifende und bewegende Glauben eine Dynamik, die das Leben von innen her nach außen hin sichtbar verändert und den Horizont weitet. Negativ wird die Spiritualität einengenden Kriterien unterworfen, die im Kontrast zum universalen Projekt stehen.
Literatur Quellen August Hermann Franckes Schrift über eine Reform des Erziehungs- und Bildungswesens als Ausgangspunkt einer geistlichen und sozialen Neuordnung der Evangelischen Kirche des 18. Jahrhunderts. Der Große Aufsatz. Mit einer quellenkundlichen Einführung, hg. von Otto Podczeck, Berlin 1962. Francke, August Hermann, Einfältiger Unterricht. Wie man die H. Schrifft zu seiner wahren Erbauung lesen solle, hg. von Helmut Obst, Halle 2013. –, Der rechte Gebrauch der Zeit so fern dieselben gut, und sofern sie böse ist; aus 2. Cor. 6/ 2. und Eph. 5/16., vorgestellet und auf die Beschaffenheit der jetzigen Zeiten appliciret; den 4. Jan. als zum Anfang des 1713ten Jahrs, im Waysenhause zu Glaucha vor Halle, von August Hermann Francken (Kleine Texte der Franckeschen Stiftungen 12), Halle 2008. –, Predigten I, hg. von Erhard Peschke, Berlin/New York 1987. –, Werke in Auswahl, hg. von Erhard Peschke, Berlin 1969. –, Schriftmässige und gründliche Anleitung zum wahren Christenthum, Halle 1706.
Forschungsliteratur Albrecht-Birkner, Veronika, August Hermann Francke und der hallische Pietismus, in: dies. (Hg.), Hoffnung besserer Zeiten. Philipp Jakob Spener und die Geschichte des Pietismus (Kataloge der Franckeschen Stiftungen 15), Halle 2005. –, Francke in Glaucha. Kehrseiten eines Klischees (1692–1704), Halle/Tübingen 2004. Beyreuther, Erich, August Hermann Francke. Zeuge des lebendigen Gottes, Berlin 1958. –, August Hermann Francke und die Anfänge der ökumenischen Bewegung, Leipzig 1957. Boor, Friedrich de, Erfahrung gegen Vernunft. Das Bekehrungserlebnis August Hermann Franckes, in: Der Pietismus in Gestalten und Wirkungen, Martin Schmidt zum 65. Geburtstag, hg. von Heinrich Bornkamm (AGP 14), Bielefeld 1975, 120–138.
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–, „Geistliche Trunkenheit“ und „göttliche Wollust“. August Hermann Franckes Beitrag zur Auslegungsgeschichte von Psalm 36,8–10 (PuN 28), 118–146. Brecht, Martin, August Hermann Francke und der Hallische Pietismus, in: ders. (Hg.), Geschichte des Pietismus Bd.1, Göttingen 1993. Deppermann, Klaus, Der Hallische Pietismus und der preußische Staat unter Friedrich III. (I.), Göttingen 1961. Hinrichs, Carl, Preußentum und Pietismus. Der Pietismus in Brandenburg-Preußen als religiös-soziale Reformbewegung, Göttingen 1971. Lehmann, Arno, Es begann in Tranquebar. Die Geschichte der ersten evangelischen Kirche in Indien, Berlin 1955. Matthias, Markus (Hg.), Lebensläufe August Hermann Franckes, Leipzig 1999. Menck, Peter, Die Erziehung der Jugend zur Ehre Gottes und zum Nutzen des Nächsten. Die Pädagogik August Hermann Franckes, Tübingen/Halle 2001. Noth, Isabelle, Ekstatischer Pietismus. Die Inspirationsgemeinden und ihre Prophetin Ursula Meyer (1682–1743), Göttingen 2005. Obst, Helmut, August Hermann Francke und sein Werk, Halle 2013. Peschke, Erhard, Studien zur Theologie August Hermann Franckes, Bd. 2, Berlin 1966. –, Studien zur Theologie August Hermann Franckes, Bd. 1, Berlin 1964. Sames, Arno, Anton Wilhelm Böhme (1673–1722). Studien zum ökumenischen Denken und Handeln eines Halleschen Pietisten, Göttingen 1990. Steiger, Johann Anselm, Art. Ordo salutis, in: TRE Bd. 26, Berlin/New York 1996, 371–376. Sträter, Udo, Spener und August Hermann Francke, in: Dorothea Wendebourg (Hg.), Philipp Jakob Spener – Leben, Werk, Bedeutung. Bilanz der Forschung nach 300 Jahren, Halle/Tübingen 2007, 89–104. –, Der hallische Pietismus zwischen Utopie und Weltgestaltung, in: ders. in Verbindung mit Hartmut Lehmann/Thomas Müller-Bahlke (Hg.), Interdisziplinäre Pietismusforschungen, Halle/Tübingen 2005, 19–36. Täubner, Tanja, „Zum andern solltu meditirn“: die Meditationspraktiken in der Pädagogik August Hermann Franckes, Halle 2014. Wallmann, Johannes, Der Pietismus, Göttingen 2005. Winkler, Eberhard, Christen als Minderheit – bei August Hermann Francke und heute, in: Udo Schnelle (Hg.), Reformation und Neuzeit. 300 Jahre Theologie in Halle, Berlin/New York 1994, 399–418.
Andreas Lindner
Spiritualität zwischen Orthodoxie und Pietismus am Beispiel Johann Martin Schamelius (1668–1742)
1.
Einleitung
Johann Martin Schamelius, Spross einer lutherischen Pfarrfamilie in fünfter Generation, gehört mit seinen biographischen Daten in die zentrale Zeit der Auseinandersetzungen zwischen lutherischer Orthodoxie, Pietismus und der aufkommenden Aufklärung1. Er ist keine übermäßig profilierte historische Persönlichkeit, sondern bietet im Rückblick das, was man das durchschnittliche Amtsleben eines Pfarrers in der Zeit zwischen abgeschlossener Reformation und beginnender Aufklärung nennen kann. Dies ist keineswegs abwertend zu verstehen. Schamelius drängte nur an einem Punkt in die große Öffentlichkeit, und das war im damals noch recht jungen Gebiet der gelehrten Hymnologie (Liederkunde). Hier besaß er Name und Gewicht. Ansonsten hatte er ein eher zurückgezogenes Naturell. Schon als Student unangenehm von dem Konflikt um den jungen August Hermann Francke an der Leipziger Universität berührt, hielt er sich lieber an die altgewohnten Autoritäten in Person seiner Lehrer, statt selbst Stellung zu beziehen. Sein Leben lang amtierte er an einer einzigen Kirche in seiner Heimatstadt Naumburg, zunächst als Diakon, dann als Oberpfarrer. Auch hier von einem theologischen Konflikt eingeholt, isolierte er sich weitgehend über fast 20 Jahre. Er erfüllte seine Amtspflichten, lebte aber ansonsten in einer selbstgewählten Zurückgezogenheit,2 die nicht so recht zu dem Bild eines Sympathisanten Franckes und des auf aktive Weltgestaltung orientierten Halleschen Pietismus passt, der er laut seiner autobiographischen Aufzeichnungen geworden sein will. Das dazu erforderliche Bekehrungserlebnis hat innerhalb seiner Autobiographie den Charakter einer Erweckung durch Lektüre ohne jegliche Dynamik oder gar die Dramatik eines geistlichen Bußkampfes. Möglicherweise hat er diesen nur nicht geschildert. Insgesamt erscheint er aber als Provinzpfarrer, der in einer 1 Zum Ganzen vgl. Lindner, Schamelius. 2 Vgl. Stemler (Hg.), Historie, 19f.
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Zeit, in der sich die frühe Aufklärung formiert, zwischen Orthodoxie und Pietismus „sitzt“, ohne sich klar zu entscheiden. Diese Unentschiedenheit macht ihn interessant für die Frage nach der Gestalt seiner persönlichen Spiritualität, soweit man diese erheben kann. Die Materialbasis ist breit, denn er hat insgesamt 71 publizierte Titel hinterlassen. Deren Palette reicht von Apologetik über kompilatorische Philologie, Hymnologie und Predigten bis zur Kirchengeschichte. Das meiste davon ist zufälligen Charakters, fragmentarisch und ohne Systematik, mit Ausnahme der Hymnologie, die er sehr zielstrebig betrieb und zu einem souveränen Werk ausbaute. Er verantwortete das Naumburgische Gesangbuch mit fünf verbesserten Auflagen in 22 Jahren und einen zweibändigen Liederkommentar als gelehrten Ableger dieses Gesangbuches. Zusammen mit seinen bereits erwähnten autobiographischen Aufzeichnungen, die sein Schwiegersohn, der Weißenfelser Oberhofprediger und nachmalige Leipziger Theologieprofessor Johann Christian Stemler (1701–1773) herausgab, bieten diese Publikationen die Grundlage, um den Versuch zu unternehmen, die Spiritualität eines Mannes unterhalb der Kategorie der historisch auffälligen Akteure in der Kirchengeschichte dieser Zeit darzustellen. Es handelt sich dabei um eine Gruppe von Amtsträgern, der ein erheblicher Teil der Geistlichen zuzuordnen ist. In diesem Sinne ist hier von der alltäglichen Spiritualität eines Pfarrers in der ersten Hälfte des 18. Jahrhunderts zu sprechen. Fragt man, wie sich die geistliche Prägung eines Menschen herausbildet und wie sie sich im Falle einer Biographie wie der von Johann Martin Schamelius äußert – in dem buchstäblichen Sinne von „ihrer Außenwelt erfahrbar werden“ –, ergeben sich drei Ebenen: 1) die des persönlichen Habitus, 2) die der engeren Öffentlichkeit der Gemeinde, wie sie sich in den Predigten spiegelt, und 3) die der größeren Öffentlichkeit einer gelehrten Community von Standesgenossen, die er mit seinen weiteren Veröffentlichungen erreichte. Alle drei Ebenen sind zugleich miteinander verzahnt, denn der persönliche Habitus ist gewissermaßen der Resonanzboden, vor dem die Predigten zu hören sind, und diese, da sie gedruckt wurden, überschritten wiederum den Kreis seiner eigenen Gemeinde hin zu einer an erbaulicher Literatur interessierten Öffentlichkeit.
2.
Die Ebene des persönlichen Habitus
Johann Christian Stemlers „Historie des Lebens Johann Martin Schamelii“ von 1743 ist ein Porträt des Leipziger Kupferstechers Johann Friedrich Rosbach vorangestellt, das zugleich das einzige heute zugängliche Bildnis des Naumbur-
Spiritualität zwischen Orthodoxie und Pietismus bei J. M. Schamelius (1668–1742)
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ger Oberpfarrers darstellt.3 Vor der Kulisse eines mit Folianten gefüllten Regals als Zeichen seiner Gelehrsamkeit erblickt der Betrachter im ovalen Rahmen einen bereits älteren Mann in Amtstracht mit prägnant geformten Augen, großer Nase und hoher Stirn, zu der die flachgedrückte Perücke in einem seltsamen Kontrast steht. Damals beschönigte man Porträts im Allgemeinen nicht, so dass der Kupferstich einen lebensnahen Eindruck vermittelt. Die Gesamtwirkung des Gesichts, um dessen Mundwinkel ein ganz leichtes Lächeln spielt, ist das eines Menschen von mildem Charakter, der in sich ruht. Auf jeden Fall ist hier keine energische Kämpfernatur zu sehen. Dem widerspricht sein literarisches Selbstbild, in dem er sich als ungeduldig, eifernd, manchmal unbeherrscht und jähzornig darstellt.4 Diese Selbstbeschreibung steigert natürlich den Wert des Bußkampfes um einen bewusst demütigen Charakter und ein ebensolches Auftreten in der Öffentlichkeit. Das Bestreben, als ein bewusst demütiger Charakter zu erscheinen, lässt sich an einer Reihe von Details aus seinem Leben festmachen. Stemler berichtet, Schamelius habe sich trotz des Drängens begüterter Glieder seiner Gemeinde und Angeboten seitens der Universitäten Wittenberg, Leipzig und Jena zeitlebens geweigert, zu promovieren.5 Zur lehrhaften Theologie der Hochschulen ging er auf Distanz. Wie einige Äußerungen vermuten lassen, wegen ihres Anspruchs als Wahrerin der „Orthodoxie“. In jahrelangen heftigen Auseinandersetzungen haben seine ihm an der Naumburger St. Wenzelskirche unterstellten Kollegen versucht, ihn der Heterodoxie zu bezichtigen. Er reagierte darauf primär nicht mit dem Reklamieren des Begriffs für seine Position, was eigentlich zu erwarten gewesen wäre, sondern mit kritischer Reflexion: „[…] die Pharisaeer, die auch auf cathedra Mosis saßen wolten den Herrn Christum nicht vor orthodox halten, daher gedachten sie, wann er sich mit einem Worte oder Redensart vergehen und anders reden würde als sie aus ihren Systematibus oder ihren alten Lehren gelernet, so wolten sie ihn gleich zum Ketzer machen.“6
3 Es existiert noch ein Ölgemälde unter den Pfarrerporträts seiner Wirkungsstätte, der Naumburger St. Wenzelskirche, in sehr schlechtem Zustand. Der gesamte Bestand befindet sich mangels Mitteln ohne Aussicht auf Restaurierung in der Wenzelskirche notgesichert (Stand Dezember 2014). 4 Vgl. a. a. O., 50f. Auch Stemler selbst bescheinigt ihm, er sei von einem „heftigen Temperamente“ gewesen, a. a. O., 67. 5 Vgl. a. a. O., 58. 6 Brief von Johann Martin Schamelius an das Konsistorium in Zeitz vom 21. 11. 1718, in: Consistorial Acta, Bl. 3. Bereits 1716 hatte er angemerkt: „siehet man doch, daß sich ein Warheit liebender Christe nicht allemahl durch die vorgeschützte Orthodoxie darf blenden lassen, dieweil wir nur gesehen haben, daß vielmahl auch bloß menschliche Meinungen und Satzungen dafür geachtet und ausgegeben werden“, ders., Lateinische Sprichwörter und Maximen, 195.
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Sein Kriterium zur Beurteilung von „Orthodoxie“ hatte er schon im vierten Stück seiner Lateinischen Sprichwörter und Maximen 1716 entwickelt: „So ists bekant, und in vielen öffentlichen Schrifften erinnert worden, daß es mit manchen Lehrern dahin kömmt, daß sie Orthodoxiam die Warheit und rechte Lehre besitzen wollen, da sie es doch nur vermeinen, und die wahre Lehre wohl noch niemahls rechtschaffen erkannt haben. Denn ein anders ist veritas ipsa, die lautere richtige Warheit, ein anders aber veritates opinio, die Einbildung, als habe man die Warheit. In solcher Einbildung stacken ehemals die Jüden zu des lieben Heylandes Zeiten und bey seinen sichtbarem Umgange mit denenselbigen. Denn er sagte deswegen in Joh.XVI.2. Wer euch tödtet der wird meinen, er thue GOtt einen Dienst daran.“7
Diese Argumentation entspricht vom Ansatz her dem Geschichtsbild Gottfried Arnolds, der mit seiner in den Jahren 1699 und 1700 erschienenen „Unparteyischen Kirchen- und Ketzerhistorie“8 für Aufregung gesorgt hatte. Arnold dekonstruierte die bis dahin gültige Geschichtsschreibung, indem er häufiger bei den Verketzerten und Verfolgten der Kirchengeschichte den Besitz der Wahrheit ausmachte als bei den offiziellen Hütern von Glauben und Lehre.9 Die Umkehrung der Fronten von Orthodoxie und Heterodoxie bedeutete eine radikale Umwertung des Geschichtsbildes, dem sich öffentlich anzuschließen nicht ungefährlich war. Schamelius blieb auch vorsichtig und berief sich nicht direkt auf Arnold. War er in der Lehre bereits der Nähe zum Pietismus mehr als verdächtig, so schien sich das in der Applikation der Lehre auf die Praxis endgültig zu bestätigen. In seinen 1713 erschienenen „Sprüche[n] des Evangelien=Buchs“ sucht er in breit ausladender Wortexegese eine Berufung der Freunde des Tanzes und des Trunkes auf die Perikope von der Hochzeit zu Kana (Joh 2,2–12) unmöglich zu machen. Bezüglich des Tanzens muss er sich dazu auch noch mit Luther auseinandersetzen, der „[…] in seiner Kirchen=Post[ille] […] selbst dafür hält: daß es hie lustig und reichlich zugegangen sey/ insonderheit auch mit zugiebt: Man lasse der Hochzeit ihr Recht und Gebrauch und tantze immerhin: […] Was aber […] die citirte Stelle betrifft, haben schon fromme Lehrer und nur neulich Joach[im] Langius zu Halle P. 2. Anti-Barb[arus] […] geantwortet. Wie nemlich I.) Lutherus dißfals ein Mensch gewesen sey sibi in omnes horas non satis cavens, der sich nicht zu genau vorgesehen, und die ἀταξίαν, die den
7 Schamelius, Lateinische Sprichwörter und Maximen, 293f. 8 Vgl. Gottfried Arnolds „Unpartheyische Kirchen= und Ketzer=Historie, Vom Anfang des Neuen Testaments Biß auf das Jahr Christi 1688“ erschien in vier Bänden: Bd. 1–2 Frankfurt/ Main 1699, Bd. 3–4 Frankfurt/Main 1700. Zur Rezeption vgl. Berneburg, Wirkung der Unparteiischen Kirchen- und Ketzerhistorie. 9 Der Ansatz war nicht neu, aber nicht legitim. Der Hallesche Pietismus entschied sich für einen anderen Ansatz, indem er den Orthodoxie-Begriff in inhaltlicher pietistischer Adaption für sich reklamierte. Vgl. Lindner, Breithaupt als Pastoraltheologe, bes. 162–167.
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Täntzen anklebet/ nicht wohl müsse geprüffet/ auch so fort so ein concretum, Art und Bild der Täntze gemeinet habe/ die man schwerlich antreffen wird. Wenn nun sein Ansehen zur Vertheidigung einer Eitelkeit wolte angezogen werden, so hat 2.) Das argumentum ab autoritate humana gar eine geringe Krafft. Doch kans 3.) seyn/ daß weil Lutherus zu seiner Zeit die von dem Pabstthum verschriene Ehen und Hochzeiten wiederum retten und ihre Billigkeit und Ehrligkeit ausführen muste/ daß er etwa in seinem Urtheil zu frey und milde gesprochen hat.“10
Schamelius teilte also hinsichtlich der Weltaskese in bewusstem Bruch zur lutherischen Tradition die Position des Halleschen Pietismus. Dieses Bekenntnis floss ihm nicht nur aus der Feder, sondern er lebte es. Sein Schwiegersohn Stemler vermerkt in der Lebensbeschreibung: „Er machte sich über manches ein Gewissen, darüber ein anderer kein Bedenken hat. Er war in jüngern Jahren bey einer Hochzeit in Gesellschaft vieler Prediger und sollte auf des Königs Gesundheit einen Pocal austrinken. Er sagte aber auch dismal wie sonst: Ich bete vor meinen König.“11
Da der hier gemeinte König, August II., der Starke, zum Katholizismus konvertiert war, entbehrte eine Verweigerung solcher Art nicht einer gewissen Pikanterie. Die seit 1701 durch Valentin Ernst Löscher (1673–1749) herausgegebenen „Unschuldigen Nachrichten von alten und neuen theologischen Sachen“, die als Rezensionsorgan und Sprachrohr der späten lutherischen Orthodoxie fungierten, griffen ihn noch 1713 hier an. Sie sahen sich veranlasst, zu wünschen, „daß er […] die Hällische Parthey wider Lutherum nicht möchte genommen haben“. Man könne ja „wider den Mißbrauch des Tantzens eyffern/ ohne dasselbe an sich zur Sünde zu machen“.12 Das eigentliche „Markenzeichen“ Schamelius’ in Naumburg war aber das, was er seine selbst gewählte „Singularität“ nennt. Permanente Anfeindungen hätten „ihn vor geraumen Jahren veranlasst, sich inne zu halten, mit wenig Menschen Umgang zu pflegen, so weit das ihm anvertraute ruhige Amt zuließ, vor sich zu
10 Schamelius, Sprüche des Heiligen Evangelien=Buchs, 46f; die Stelle in der Kirchenpostille zitiert er nach einer Berliner Ausgabe von 1700. Der Titel des Werkes von Lange, auf das er sich hier ebenfalls bezieht, lautet „Antibarbarus orthodoxiae dogmatico-hermeneuticus“. Es erschien 1709–11 in mehreren Teilen und fasste die pietistischen Angriffe auf die als „Pseudoorthodoxe“ angesprochenen Orthodoxen zusammen. 1719 erscheint als Einzeldruck: Die Entschuldigung der weltüblichen Tänze aus Matth. 11,16.17. Diese Predigt ist leider bisher nicht auffindbar. Sie würde das Bild seiner Haltung an diesem Punkt sicherlich noch abrunden, da Stemler mitteilt: „Am Ende der Predigt ist eine kurze Erörterung etlicher Scrupel wider die vorstehende Predigt; ingleichen einige Gründe vor die Gegenmeinung mit deren Prüfung“, Stemler (Hg.), Historie, 103. 11 Stemler (Hg.), Historie, 54f. 12 Beide Zitate aus der sehr kurzen Rezension der Unschuldigen Nachrichten, Sechste Ordnung, Auff das Jahr 1713, 1033.
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bleiben, und mehr in der Gesellschaft der Todten, als Lebendigen zu seyn“13 – gewiss eine problematische Haltung für den Oberpfarrer einer Stadt, die auf Grund ihrer damals noch bestehenden Messe durchaus Weltläufigkeit beanspruchte.14 Sie setzte ihn auch dem Verdacht aus, ein affektierter Sonderling15 zu sein. Dem Vorwurf arrogant bzw. hochmütig zu sein, begegnete er mit der Definition dieser Singularität als einer, „welche sein Heyland von denen fordere, die er als seine Zeugen von der Welt erwehlet, und von deren Unart unbefleckt halten wolle“.16 Schamelius zog das Gelehrtendasein den Mühen des Pfarramts vor. So war er froh, qua Amt nicht Beichte hören, also sich nicht im seelsorgerlichen Alltagsgeschäft mit seinen Pfarrkindern auseinandersetzen zu müssen – das hatten die ihm als Archidiakon und Diakon nachgeordneten Pfarrer an St. Wenzel zu tun – und abgesehen vom städtischen Gymnasium keine Inspektionsaufgaben wahrnehmen zu müssen. Auch das Feld der Inspektionen war höchst konfliktträchtig. Trotz dieser Versuche, Konfliktfelder von vornherein zu meiden, war Schamelius über ein Jahrzehnt in heftige Streitigkeiten verwickelt, deren Ursachen im Verhältnis zu seinen Kollegen lagen und die sowohl in der inneren Öffentlichkeit der Gemeinde als auch in der äußeren Öffentlichkeit der damaligen großen theologischen Lager zutage traten.
3.
Innere Öffentlichkeit der Gemeinde
Die eigentliche und intensive Schnittstelle zwischen seiner persönlichen Spiritualität und der seiner Gemeinde war sein Wirken von der Kanzel. Sein Schwiegersohn schildert ihn als skrupulösen Prediger: „Er war gewohnt sehr früh aufzustehen, daß er sein Gebet in der Stille allein verrichten konte, worzu er eine gewisse Zeit und einen besondern Ort auserlesen hatte. Insonderheit gieng er mit großer Inbrunst des Gebets an das Predigen. Viele Concepte hat er mit Thränen genetzt; davon man an manchen die Spuren noch wahrnehmen kann.“17
Seit 1708 ließ Schamelius ganze Jahrgänge seiner Predigten als sogenannte Predigtsummarien bzw. auch im vollständigen Wortlaut erscheinen.18 Darin erweist er sich wiederum im Anschluss an den Halleschen Pietismus tief geprägt von der Frömmigkeit Johann Arndts. Das Hauptgewicht seiner Predigten möchte er nicht 13 14 15 16 17 18
Stemler (Hg.), Historie, 19. Vgl. Heydenreich, Naumburger Peter=Paulsmesse. Vgl. Stemler (Hg.), Historie, 19. A. a. O., 20. A. a. O., 53. Vgl. Schamelius, Summarien und Auszug; ders., Geistliche Aus dem Munde des H. Geistes gesamlete Lehren des inwendigen Christenthums; ders., Christianvs Oder ein wahrer Christe.
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auf gelehrte Exegese legen, sondern auf die Erbauung, da dies nützlicher sei. Das Wort Gottes erscheint ihm als „ein bleiern Schwerdt“, wenn es von Unwiedergeborenen gepredigt würde.19 Die Worte der Schrift bleiben wie ein totes Bild, wo zum äußerlichen Predigen nicht das inwendige, mit dem äußerlichen verknüpfte Gehör hinzukommt. Die Wiedergeborenen und ihr Gegensatz zu den Unwiedergeborenen sind das eine grundsätzliche Paradigma seiner Predigten: „Und zwar nach dem innerlichen Gottesdienste ist Glaube/ Liebe/ Hoffnung/ Andacht u.s.f. alles richtig/ es geht aus einem frommen/ GOtt wahrhafftig liebenden Hertzen. […] Bethen sie: so reden sie nicht Worte/ davon das Hertz nichts weiß/ sondern Hertz und Mund stehen in einer richtigen Harmonie, es ist wahr und trifft ein/ was sie reden etc. […] Ferner nach dem äuserlichen Gottes=Dienste. Denn wenn die Wiedergebohrnen in die Kirche gehen/ so suchen sie nicht das Ansehen vor den Leuten/ daß sie nur wollen fleißige Kirchen=Gänger heissen/ sondern sie stellen dem lieben GOtt Leib und Seele dar/ und sind selbst ein geistliches Opffer; wenn sie die Predigt hören/ so hören sie nicht nur auf das/ was dem fleischlichen Hertzen gefällt/ sondern sie lassen alles ins Hertze gehen/ und bewahren das Wort GOttes; wenn sie niederknien/ so kniet auch ihr Hertz/ und leget sich zu den Füssen des gecreutzigten JEsu […] Summa: Ihr Gottes=Dienst ist keine Heucheley“.20
Das andere, damit zusammenhängende ist der Gegensatz von „innen“ und „außen“. Schamelius setzt die innere Erleuchtung gegen den Buchstaben und das äußere Wissen: „Was ist Erleuchtung? Ein Gnaden=Werck des H. Geistes/ dadurch wir aus dem Worte GOttes zu der heilsamen Erkäntniß der Warheit kommen. […] Diese Erkäntniß ist nicht buchstäblich/ Matth. VII, 22. sondern sie ist lebendig/ geistlich/ da wir in der Uberzeugung des H. Geistes erkennen GOtt/ die Welt/ uns selbst. Christus wird in den Hertzen verkläret mit seinem Verdienst und heiligen Exempel. […]. Die Erleuchteten sehen offt was in der H.Schrifft/ das niemand sonst siehet. Himmel und Hölle/ alles ist ihnen offenbar. […]. Prüff. […] Glaubest du? warum lebest du denn nicht also? Du Buchstäbler/ woher kömmt deine euserliche Wissenschaft? […] In der Wiedergeburt und Erneuerung wird nicht alleine der Verstand/ sondern auch der Wille geändert.“21
19 Predigt am 20. Sonntag nach Trinitatis 1710 über „Die Beruffenen zu dem Reiche Gottes“, in: Schamelius, Christianvs Oder ein wahrer Christe, 225: „Dahero geschiehet es denn/ daß es [das Wort Gottes] bey manchem ehe ein bleyernes als zweyschneidiges scharffes Schwerdt zu seyn scheinet“. 20 Predigt am 8. Sonntag nach Trinitatis 1710 über „Recti corde, fromme Hertzen, d.i. die richtigen rechtschaffene Christen.“, in: a. a. O., 152f. 21 Predigt am Fest Purificatio Mariae 1709 über „Die innerliche Erleuchtung“, in: Schamelius, Geistliche Aus dem Munde des H. Geistes gesamlete Lehren des inwendigen Christenthums, 19f. Schamelius bleibt seine Quelle mit Speners Consilia et iudicia theologica (Theologische Ratschläge und Urteile), die gerade 1709 in zwei Bänden erschienen waren, nicht schuldig. Die Berufung auf Spener gehörte zu den Grundzügen seiner Strategie in der öffentlichen Kommunikation. Spener war unleugbar der Mentor des lutherischen Pietismus in seinen An-
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Das innere Christentum steht gegen das äußere Christentum: „Was ists? Das Reich der Gnade/ das Christus in einer jeden gläubigen Seele absonderlich führet. […] Wie kommen wir dazu/ daß Christus sein Reich in uns anrichtet? […] Bete darum/ bekehre dich. Christus ist der König: das glaube: So hast du es. […] Prüff. Ists auch in dir! Wo die Wercke des Teuffels angetroffen werden/ da ist Christus verlohren. […] Hange nicht an Ceremonien/ an deinem Opere [Werke], an etlichen euserlichen Pflichten: Siehe! daß Christi Sinn/ Bild/ Leben/ Geist und Krafft in dir sey.“22
Der innere Jesus steht gegen den äußeren Jesus. Wie Christus auf dem Berg Tabor verklärt wird (Mt 17), so wird er auch im Gläubigen verklärt, „so fern ihn die Seele in allen ihren Kräfften mit seinem Verdienst/ Licht/ Geist/ Krafft/ Leben/ Gnade und süssen Würckungen schmecket/ kennet/ empfindet. […] Dein lebendiger Wandel in Christo ist das Zeichen/ daß diese Verklärung kein Gedancke/ sondern Warheit und Krafft sey. Denn der Glaube mit seinen Früchten offenbahret die Krafft Christi gegen jedermann. Exempel: Das Wort Christi ist in dir verklärt/ wenn du darnach lebest: Die Paßion/ wenn du auch dein Fleisch creutzigest; die Aufferstehung/ wenn du geistlich aufstehest/ in der täglichen Busse und neuem Leben wandelst.“23
Im Sinne Johann Arndts wollte Schamelius den inneren Menschen bauen. Die Wirkungskraft der Arndtschen Schriften hatte Anfang des 18. Jahrhunderts alle ihre Gegner überlebt. Die Berufung auf Arndt dominiert denn auch auf den 142 Seiten der Predigtsummarien von 1709 mit 33 Stellen alle anderen Theologen. Dabei sind es vor allem die Bücher vom „Wahren Christentum“, die Schamelius immer wieder heranzieht. Seine Hauptgewährsleute in beiden Predigtjahrgängen neben und mit Arndt sind Luther, Scriver und Spener. Wie Arndt konnte Schamelius in den Spuren der Mystik wandeln. Die Karfreitagspredigt 1709 hielt er über das Thema: „Passio Mystica [Mystisches Leiden]. Christus in den wahren Christen gecreutziget“24 und am 2. Sonntag nach Trinitatis pflegte er reine Brautmystik unter der Überschrift „Die geistliche Ehe zwischen Christo und der gläubigen Seele“25. Dabei ist die irdische Ehe mit all ihren Akzidentien von der Brautwerbung bis zum Hochzeitsbett das Bild für die Vereinigung Christi mit der Seele. Bezeichnenderweise taucht der Gewährsmann Arndt auch an dieser Stelle
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fängen und dann später insbesondere der Hallenser um Francke gewesen und doch hatte man ihm nie seine Orthodoxie absprechen können. Predigt zum 1. Advent 1708 über „Das Reich GOttes in der Seele.“, in: Schamelius, Summarien und Auszug, 4f. Ebenso im Anhang zu den Predigten von 1709 über „Die Sympathie und Gemeinschafft der Heiligen“, in: ders., Geistliche Aus dem Munde des H. Geistes gesamlete Lehren, 140: „Wer gehört dazu? Nicht alle/ die in die Kirche gehen/ beten/ singen/ das Abendmahl mit brauchen/ c. sondern die wahrhafftig aus dem Tode ins geistliche Leben kommen/ und durch den Geist GOttes geheiliget seyn“. Predigt am Sonntag Kantate 1709 über „Die Verklärung Christi in der gläubigen Seele.“, in: Schamelius, Geistliche Aus dem Munde des H. Geistes gesamlete Lehren, 51f. A. a. O., 38f. A. a. O., 72–75.
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auf. Ausführlich zitiert wird hierbei zudem der spanische Mystiker Johannes vom Kreuz: „Wohl sagt […] der tieffsinnige Mysticus Joh.a Cruce […] GOtt [Christus] muß entweder klar gesehen oder nur geglaubet werden. Je grössern Glauben die Seele hat/ je mehr ist sie mit ihm vereiniget“.26 In seinen Zusammenfassungen fordert Schamelius seine Hörer immer wieder auf, konkrete christliche Existenz zu leben und zu bauen: „Summa: Du must GOtt vor allen Dingen Ein lebendig Opffer bringen. […] Dieser Name wirfft den gantzen Grund über einen Hauffen/ darauff sich die Schein=Christen verlassen: Als wäre alles mit Ceremonien/ Kirchengehen/ Knien/ Beten u.s.f. auswendig wohl ausgerichtet. Nein. Der GOttes=Dienst N.T. fordert den gantzen inwendigen und auswendigen Menschen zu einem geistlichen Gottgewidmeten Opffer.“27 „Summa: Im Christenthum machts gar nicht aus Der grosse Hauff/ das GOttes Hauß. […] Heute thut GOtt bey euch Hauß=Suchung/ Jer.XI,15. Was wird er antreffen? vielleicht nach 2.Cor.XII,20. Hütet euch! verdrießliche Mieth=leute will der Hauß=Wirth nicht lange leiden/ […]. Hauß/ Kirche/ Geburt und solche äuserliche Vorrechte werden dir nicht helffen/ wenn dein Glaube und Gehorsam nicht dabey ist. Lerne 2.Tim.II,19. Ja/ frage dich vor allen Dingen: Wie folgest du dem Beruff in dieses Hauß? du hörest/ wie du dich ändern und bekehren müssest: verhönest du das Wort; was nutzets/ daß du beruffen bist?“28
Den solcherart zu Bewusstsein gekommenen Christen scheut sich Schamelius nicht, als Pietisten zu bezeichnen. In seinem Predigtjahrgang von 1710 unter dem Titel „Christianus, Oder Ein Wahrer Christe“ widmet er eine ganze Predigt der Konnexion, dass gerade ein rechtschaffener Christ den Namen eines Pietisten verdiene.29 Auf dem allseits bekannten Hintergrund, dass die Bezeichnung „Pietist“ ursprünglich als Schimpf- und Spottname aufgekommen war, im kursächsischen Raum ein nicht unerhebliches Wagnis und eine für orthodoxe Ohren nicht hinnehmbare Provokation. Dem Naumburger Oberpfarrer selbst ging es mit dieser Predigt vor allem um eine begriffsgeschichtliche Richtigstellung, nicht
26 A. a. O., 74; Johann vom Kreuz (*1542 Fontiveros/Kastilien; † 1591 Ubeda) reformierte zusammen mit Teresa von Avila den Karmeliterorden, was 1593 zu einer Trennung in die Zweige der sogenannten Beschuhten und Unbeschuhten Karmeliter führte. Letztere standen im Vermächtnis der beiden späteren Heiligen von strengster Observanz des geistlichen Lebens. Johann vom Kreuz erinnert mit seiner äußeren Abkehr von allem Irdischen, obwohl er Ordensämter bekleidete, und seiner Konzentration auf das Leiden Christi an Franz von Assisi. Er gehört mit Teresa von Avila zu den großen Mystikern des 16. Jh. Seine Kanonisation erfolgte 1726. 27 Predigt am Fest Purificatio Mariae 1710 über „Ein lebendiges Opffer.“, in: Schamelius, Christianvs Oder ein wahrer Christe, 44. 28 Predigt am 3. Pfingstfeiertag 1710 über „GOttes Hauß=Genossen.“, in: a. a. O., 134f. 29 „Pietisten oder fromme Gottsfürchtige Leute“, Predigt am 11. Sonntag nach Trinitatis über Lk 18,9–14, in: a. a. O., 160–182.
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aber, wie er ausdrücklich betont, um eine Einmischung in die pietistischen Streitigkeiten. Da 1727 noch einmal ein Jahrgang seiner Amtspredigten in voller Länge erschien,30 lässt sich gut nachvollziehen, dass sich seine Frömmigkeit auch fast 20 Jahre später nicht geändert, sondern eher noch radikalisiert hatte. Die Themen, mit denen er auf seine Gemeinde einzuwirken suchte, waren dieselben, nur noch intensiver entfaltet. Zentral bleibt ihm die Auseinandersetzung mit dem Wiedergeboren-Sein, das sich aus Bekehrung und Heiligung zusammensetzt. Das biblische Schlüsselwort ist ihm 2Kor 5,17: „Darum ist jemand in Christo, so ist er eine neue Kreatur; das Alte ist vergangen, siehe, es ist alles neu worden“. Bekehrung muss konkret benennbar und beschreibbar sein: „Diejenigen, die da wahre Christen sind, muß ich ein Wort fragen: Haben sie sich bekehret, so müssen sie auch sagen können, was bey ihrer Bekehrung vorgegangen ist: Sie werden sich besinnen, wenn und wie und auf was Art und Weyse es geschehen sey? Ursach: denn der heilige Geist hat ja in der Seele sein Werck, er hat es auf eine kräfftige, starcke durchdringende Art und Weise: darum muß man es inne werden. Hingegen ist mir einer bey nahe etwas verdächtig, der nichts weiß, was bey ihm vorgegangen ist, und wie seine Veränderung geschehen sey. Allein daran liegets: Die meisten setzen dieses als ein Praesumposition, als eine gewisse Sache voraus, als wären sie längst bekehret, sie können sich das nicht einbilden, daß sie noch erst müssen bekehret werden, das soll schon geschehen seyn, daran soll man keinen Zweiffel haben. Wenn man auch keinen Scrupel haben soll, ey so muß man doch das, was anietzo ist angeführet worden, würcklich gespühret haben.“31
Wahres Christ-Sein kommt also nicht schon durch die Taufe, einen Bund, den nur sehr wenige halten, während die Masse der Getauften zu Meineidigen wird.32 Deshalb kann er vom getauften Christen als dem getauften Heiden sprechen. Von der Taufe bleibt dann nur, dass der Christ im Gegensatz zum Heiden „gente &
30 Vgl. Schamelius, Die Pflicht am Sabbath und Feyertage; umfasst die Zeit vom 1. Advent 1726 bis zum letzten Sonntag, dem 24. nach Trinitatis des Jahres 1727. Allerdings hat er diese Predigten nicht mehr selbst herausgegeben, sondern die Witwe des Jenaer Verlegers Meyer hatte sich wahrscheinlich über Studenten Nachschriften anfertigen lassen und diese dann gedruckt. Immerhin spricht der Vorgang für einen positiven öffentlichen Ruf von Schamelius als Prediger über die Grenzen seiner unmittelbaren Gemeinde hinaus. 31 Predigt am Pfingstsonntag über „Die lebendige Erfahrung der innerlichen Gnaden=Würckungen des heiligen Geistes“, in: a. a. O., 582f. 32 „Ich habe bey diesem heiligen Tauff=Bunde und Gelübde nichts mehr zu erinnern, als dieses, daß wenn etwa einer in weltlichen Gerichten einen falschen Eyd geschworen hat, man denselben beynahe für infam und unrichtig achtet, es wird ihm vorgeworffen, er sey ein Meineydiger, er habe einen falschen Eyd geschworen, das verursachet ein groß Geschrey: Ich kan mich aber nicht erinnern, daß man so ein Wesen daraus mache, wenn einer seinen Eyd bricht, welcher ist in der heiligen Tauffe geschworen worden“, Predigt am Tag Johannes des Täuffers, in: a. a. O., 663.
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mente“ (von Geburt & Gesinnung) ein Heide per mente (durch Gesinnung) ist.33 Eine extrem gewagte Behauptung, da sie als Infragestellung der Heilswirkung der Taufe verstanden werden konnte.34 Hier bricht wieder der ganze Gegensatz zwischen innerem und äußerem Christentum auf. Ja radikaler noch: „Ihr aber, die ihr vielleicht auch das noch nicht einmahl recht beobachtet, was auch nur das äusserliche Christenthum erfordert, die ihr wohl noch nicht einmahl den Morgen= und Abend=Segen betet, und manchen Tag so lasset hingehen, da ihr wohl nicht daran gedencket; die ihr auch wohl gar selten das liebe Gottes=Hauß zu eurer Erbauung zu besuchen pfleget, zum Abendmahl wollet ihr auch nicht gehen, je was soll ich denn mit euch reden? […] Wenn man mit euch reden soll, so seyd ihr nur mit dem Christen=Nahmen äusserlich übertünchet: Aber in der That und in dem Leben selbst seyd ihr getauffte Heyden“.35
Wahres Christsein kommt erst durch Bekehrung, die gut lutherisch als ein das ganze Leben lang andauernder Prozess verstanden wird. Sie beginnt mit einem Bußkampf, der als schwere Seelenqual beschrieben wird,36 ist doch solch eine Bekehrung nichts weniger als die Austreibung des Teufels. Diesen Vorgang kennzeichnet Schamelius mit einem „aut, aut“: „Aut, aut, non datur tertium [entweder oder, ein Drittes ist nicht gegeben]! Man muß in Christo seyn oder man ist kein Christe.“37 „Man muß nothwendig entweder seyn ein Christ, oder ein Wider=Christ, man ist entweder der Parthey des HErrn Christi zugethan, oder der Parthey des Anti=Christen, aut, aut, da ist keine Mittel=Stelle.“38
Dabei ist Vorsicht geboten, denn eine rein vordergründige Änderung von Verhaltensweisen ist noch kein Kriterium für eine Bekehrung: „Z. E., einer der gesoffen hat, der kan aufhören zu sauffen; einer der […] gehuret hat, kan aufhören zu huren; einer der gestohlen hat, kan aufhören zu stehlen; er kan sich des Bösen enthalten, und geschiehet doch nur aus menschlichen Ursachen. Es wird mir so einer das alles auch lassen, wenn etwa eine Straffe drauf gesetzt wäre, nur damit er die Straffe nicht erlegen dürffte. Das hat nun zwar den Schein der Bekehrung, ist aber nur so eine äusserliche Veränderung, welche der Mensch aus der Natur vornimmt, und keine
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Vgl. Predigt am Fest der heiligen drei Könige, in: a. a. O., 152f. Dieser Vorwurf ist zeitweilig von seinen Kollegen gegen Schamelius erhoben worden. Predigt am 6. Sonntag nach Trinitatis, in: a. a. O., 734f. „Wie ich äusserlich mit meinem Leib und allen Gliedern kan eine schwere Arbeit ausrichten, daß gleichsam der Schweiß über das Angesicht fliesset, also auch in dem Buß=Kampff gehet ebenso eine Angst, Furcht und Schmertzen in der Seele und Gewissen vor, daß es einer Arbeit kann verglichen werden“, Predigt am 11. Sonntag nach Trinitatis über „Das Werck einer hertzlichen rechtschaffenen Busse“, in: a. a. O., 811. 37 Predigt am Fest der heiligen drei Könige, in: a. a. O., 155. 38 Predigt am 3. Sonntag in der Fastenzeit über „Die Unmöglichkeit eines partheyischen Wesens in der Übung des wahren Chistenthums“, in: a. a. O., 328.
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wahre Bekehrung. Denn wo diese vorgehet, da muß eine gantz neue Creatur entstehen 2. Cor. V. 17.“39
Die wahre Bekehrung dagegen ist Gottes Gnadenwerk, und ihre drei wichtigsten Kriterien sind zum einen das rechte begierige Verlangen im Herzen nach geistlicher Besserung, das zur Annahme Jesu führt, der in seinen verschiedenen Ämtern im Leben des Gläubigen sichtbar werden muss,40 zum anderen der Dienst und die Anbetung Jesu und drittens die Selbstverleugnung in der Nachfolge. Hier predigte Schamelius sein Selbstbild, da er seine Zurückgezogenheit als Selbstverleugnung in der Nachfolge Jesu interpretierte. Der Entscheidungscharakter der Bekehrung duldet keinen Aufschub. Eine frühzeitige Bekehrung ist deshalb gut, weil sie eine frühzeitige Heiligung nach sich zieht, und für diese wiederum spricht eine ganze Reihe lebenspraktischer Punkte. Schamelius kann hier ganz weltlich argumentieren. Mit ihrer Mäßigkeit ist sie der Gesundheit förderlich, schafft sie Ansehen bei den Frommen und schützt sie vor späteren Lästerungen über Jugendsünden. Zudem sichert sie ein seliges Ende, auch wenn es früh kommt und gehört somit zur ars moriendi (Sterbekunst). Lohn des Bekehrten sind Jesus als die Gnade Gottes sowie Trost und Freude des Heiligen Geistes. Die überragende Stellung der Bekehrung macht sie zum überkonfessionellen Kriterium für wahre Christen. „Weil demnach die Gläubigen gar wohl von der Bekehrung urtheilen können [..] nun so können sie sich darüber freuen, wenn sie dieselbige an andern Menschen gewahr werden, und zwar ohne Ansehen ihres Alters, ihres Zustandes und was wir auch besonders mercken, ohne Ansehung ihrer Religion.“41
Auch Calvinisten können wahre Buße tun. Als ausdrücklicher Spiegel aber dient ihm die katholische Spiritualität: „Wir Lutheraner meinen Wunder! wie wir so seelig vor jenen sind. […] Allein wenn man nun in eine Papistische Kirche hinein kommt, und wird gewahr, was da noch vor eine Devotion, vor ein Eyffer und Andacht, ja was vor eine Sorge vor die Seele da werden, daß man nicht weiß, wie man sich darauf erklären soll. Doch wir wollen die Antwort auf das jüngste Gericht spahren, da wird der grosse Tag JEsu Christi zeigen, ob nicht etwa viele Catholische, von welchen wir gemeinet haben: O diese sind verdammt und verlohren, sie leben in einer abgöttischen Kirche! uns ins Angesicht beschämen und zeigen werden, daß bey der wenigen übrigen Wahrheit und geringen Erkänntniß des Heyls in ihrer Kirche sie dennoch nach dem Himmel gerungen und getrachtet haben, da wir Luthe39 Predigt am 8. Sonntag nach Trinitatis über „Die Gräntzen des natürlichen Vermögens in den Übungen der Gottseeligkeit“, in: a. a. O., 761. 40 Als Hoherpriester muss das Opfer seines Lebens angenommen werden, als Prophet ist seine Lehre und Prophetie im Evangelium gegen Vernunft, Welt, Fleisch und Blut anzunehmen und als König soll er im Herzen regieren zum Glaubensgehorsam. 41 Predigt am 3. Sonntag nach Trinitatis über „Die Pflicht der Gläubigen bey Bekehrung der Sünder“, in: a. a. O., 671.
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raner bey dem grossen Licht uns nicht einmahl eine rechte Sorge jemahls gemacht, ja beynahe gar keinen Eyffer gbrauchet haben […] also seelig zu werden.“42
Diesen hohen Anspruch übertrug Schamelius nun auch auf die aus der Bekehrung erwachsende Heiligung, zu der er ausdrücklich ermahnt. Ein heiliges Leben ist nichts anderes als eine fortgesetzte tägliche Buße. Die Heiligung ist das eigentliche Feld der Bewährung im Stand und im Verhalten der Wiedergeborenen. Ihr Exempel und Muster ist Christus, dessen Sinn sie haben.43 Ihre erste Grundregel lautet Selbstverleugnung. Daraus entspringt das, was Schamelius „Die Singularität oder das sonderliche Wesen und Leben der Wiedergebohrnen“ nennt. Sie sondern sich von der Welt ab als Narren um Christi willen nach 1Kor 4,10. Diese Abgrenzung darf allerdings nicht zu einer elitären Gruppenbildung in der Gemeinde führen, wie sie für ihn die Irrlehrer in Kol 2 oder auch die Pharisäer darstellen.44 Sie gilt vielmehr den Gottlosen, die „ein Alamoden Christenthum […] so ein Christenthum […] das man nur pro more [zum Anstand] zu führen pflegt, wie es etwa andere gewohnt seyn, und wie es hergebracht ist“45 praktizieren. Der Wiedergeborene besitzt die Fähigkeit, Licht und Finsternis, Sünde und Nicht-Sünde zu unterscheiden. Von daher bekräftigt Schamelius seine grundsätzliche Ablehnung der Adiaphora-Lehre (Lehre von den Mitteldingen). „Denn es ist an dem, in Gottes Wort ist nicht alles ausdrücklich geboten oder verboten, was etwa von dem Menschen geschehen oder unterlassen werden solte. Daher nehmen sich eben die Christen dieser Welt eine Freyheit heraus, sie statuiren um deswillen einen Indifferentismum practicum [praktische Gleichgültigkeit], das ist, sie bilden sich ein, weil das oder jenes nicht in Gottes Wort mit so viel Worten entweder geboten oder verboten ist, so können sie es thun, sie können auch lassen, nachdem sie etwa ihr Wille oder ihre Willkühr treibet und veranlasset. […] Das ist wahr, daß nicht alles mit ausdrücklichen Worten vorgeschrieben ist, was ein Christ thun oder lassen soll, aber wir geben zur Antwort: Es giebt auch Analogiam Christianismi eine Aehnlichkeit und Zusammenstimmung in der Lehre von dem wahren Christenthum. […] Wenn man da fragt: Darff ich denn tantzen46 und spielen, alamodisiren, darff ich Comödien agiren
42 Predigt am 20. Sonntag nach Trinitatis. über „Das kleine Häuffgen“, in: a. a. O., 971. 43 „Ein jeglicher Wiedergebohrner ist ebenso gesinnet wie Christus Phil. II.5. Dahero sehen sie auf das, was JEsus gethan hat, und sehen den lieben Heyland hier nicht anders an, als ein Exempel und Muster ihrer eigenen Handlungen, ihrer Wercke und ihres Vornehmens, gleichwie geschrieben stehet I. Joh. IV.17“, Predigt am 17. Sonntag nach Trinitatis über „Die Wercke und Handlungen der Wiedergebohrnen“, in: a. a. O., 913. 44 Vgl. Predigt am 12. Sonntag nach Trinitatis über „Die Singularität oder das sonderliche Wesen und Leben der Wiedergebohrnen.“, in: a. a. O., 823. 45 A. a. O., 826. 46 Das Thema war aktuell und wirklich „a la mode“. Seit spätestens 1713 agierte ein Tanzmeister in den Nachbarstädten Weißenfels und Zeitz und 1729 kam das Tanzen mit der Anstellung eines Tanzlehrers in das Unterrichtsprogramm von Schulpforta. Vgl. Hoppe, Gelegenheitsfunde zur Naumburger Handwerksgeschichte.
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[aufführen] und besuchen47, und was dergleichen Vanitaeten [Eitelkeiten] mehr sind? wenn da einer will einwenden, es ist nichts davon geboten oder verboten in Gottes Wort; so ist die Antwort: Es ist wieder die Analogie und Gleichförmigkeit des Christenthums, die uns der heilige Geist sonst vorgeschrieben hat, diese Dinge schicken sich nicht wohl zusammen mit der Heiligkeit, mit der Majestät und mit anderen Tugenden eines wahren Christen. […] Wie könnte denn das zusammen stehen, tantzen, spielen, Comödien halten, und dennoch auch zugleich ein lebendiger Tempel seyn Gottes des heiligen Geistes? reime man diß zusammen! Ich kan keine Gleichheit darinne finden.“48
Dennoch geht es nicht um Perfektionismus. Die pessimistische Sicht der lutherischen Anthropologie behält ihr Recht, das hinsichtlich der Heiligung ein befreiendes Recht ist: „Da hingegen kan nicht geläugnet werden, daß auch an den besten Wercken eines Christen dennoch Unvollkommenheiten und Schwachheiten zu finden sind, so daß auch der heilige Geist saget Jes LXIII. Daß alle unsere Gerechtigkeit ist wie ein besudeltes, beflecktes Kleid, das sag ich hat alles seine Richtigkeit, wenn man von den Wercken der Wiedergebohrnen will legaliter, oder nach der Strenge des Gesetzes urtheilen. Aber darauf muß es nicht ankommen, um deswillen, weil ein Wiedergebohrner stehet in Christo, er stehet in der Gerechtigkeit JEsu Christi. Was nun an seinen Thaten und Handlungen unvollkommen ist, dasselbe bedeckt die Vollkommenheit JEsu Christi. […] Denn weil ein Wiedergebohrner eine mit GOtt durch Christum versöhnte Person ist, eine Person, die in Christo JEsu ihre Gerechtigkeit und Vollkommenheit
47 In den ersten beiden Jahrzehnten des 18. Jh. wurden 14 Opern in Naumburg aufgeführt. Sie waren mit zwei Ausnahmen Gestalten der griechischen und römischen Mythologie und Geschichte gewidmet (vgl. Borkowsky, Geschichte der Stadt Naumburg, 80). Unter die „Comödien“ rechnet Schamelius auch das weihnachtliche Krippenspiel: „Diejenigen, welche das Spiel agieren, als da sind I.) Lehr=Jungen. Knechte oder Schüler, Schulmeister, Studiosi u.d.g. Personen, diese begehen eine Abgötterey. Denn solche Menschen […] die soll man ansehen vor die heiligen Engel, vor den heiligen Christ, vor den HErrn JEsum, vor die lieben Apostel. Was ist denn das vor eine Abgötterey, welche wir an dem Papstthum pflegen zu verabscheuen? […] Und also wird noch ferner 2.) Christus mit seinen heiligen Aposteln geschmähet, wenn man auf solche Weise aus diesen Heiligen GOttes Comödianten macht: Der Apostel Petrus, der König David oder andere sollen Comödianten seyn; o was ist das vor eine Schande und Schmach, so man dem HErrn JEsu und seinen Heiligen antut. (Predigt am Sonntag nach der Geburt JEsu Christi über „Das gebenedeyete Jesulein“, in: Schamelius, Die Pflicht am Sabbath und Feyertage, 109). Das Krippenspiel ist ihm ein „Affenspiel“, das die Kinder in ihrem Glauben nur irritieren könne und gegen die ersten drei sowie das siebente Gebot – das für Kostüme ausgegebene Geld ist Missbrauch des von Gott geschenkten Besitzes – verstoße. Gleiches gilt für die „Bescherung“ durch den „heiligen Christ“ (a. a. O.). Autobiographisch vermerkt er, als Kind habe er in „Schulcomödien […] iederzeit zu etlichen malen die Hauptperson mit agiret(e), und zu ziemlichen Kützel des alten Adams gerühmet wurde, iedoch nach der Zeit nicht genung bewundern können, warum man doch vor Zeiten mit diesen Zeit= und Herzverderblichen Eitelkeiten die Jugend zu erbauen vermeinet“, Stemler (Hg.), Historie, 29. 48 Predigt am 17. Sonntag nach Trinitatis über „Die Wercke und Handlungen der Wiedergebohrnen.“ in: Schamelius, Die Pflicht am Sabbath und Feyertage, 916f.
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findet, ey so darff es auch darauf nicht ankommen, daß nemlich nach der Strenge des Gesetzes alle solche Wercke müsten vollkommen seyn.“49
Schamelius ermuntert intensiv zu guten Werken, die jedoch streng von der Rechtfertigung zu trennen sind.50 „Redet man aber von der Erneuerung und Heiligung, o so können die guten Wercke nicht groß genug gemacht werden.“51 Sie sind die Arbeit des Christentums, die Wiedergeborenen als ihre Träger der Glaubensadel, denn „sie sind ebenso geschäfftig, wie GOtt im Himmel“.52 Schamelius versteht es auch, die Forderung nach Heiligung in den bürgerlichen Alltag seiner Hörer zu transponieren und gegen Einwände in Schutz zu nehmen, deren verbreitetster schon damals lautete: „Zeit ist Geld“. Dagegen führt er an: „Sind nun so viel Stunden in einem Tage, so laß seyn, wenn man auch zwey biß drey derselben zu seiner Selbst=Prüfung, zu seinen geheiligten Umgang mit GOtt, zu Erforschung der heiligen Schift anwenden müste; bleiben denn nicht noch acht oder neun Stunden vom Tage übrig? Hat man denn da nicht Zeit genug, seine Beruffs=Wercke auszurichten, oder das, was man sonst thun will?“53
Schamelius predigte die bürgerlichen Tugenden Sparsamkeit, Mäßigkeit und Nüchternheit in pietistisch eingefärbter lutherischer Bedachtsamkeit. Wer mehr haben will, als er bedarf, ist geizig, d. h. profitgierig. Eigentum ist in christlicher Verantwortung zu handhaben und zwar in der Reihenfolge „zu Gottes Ehren, des Nechsten Nutzen, und seiner eigenen Nothdurfft“.54 Letztlich gilt unter Berufung auf 1Tim 4,4 und Tit 1,15, dass den Wiedergeborenen alle Handlungen heilig sind, sei es in Beruf, Ehe oder Haushalt, während den Unwiedergeborenen alle Werke bis hin zum Gottesdienst Sünde sind.55 Er spricht seine Gemeinde mehrheitlich nicht als Wiedergeborene an, sondern setzt in ihr immer nur „Das kleine Häuffgen“ wahrer Christen voraus.56 Bei den meisten klafft eine Lücke zwischen innerem und äußerem Christentum, die doch zusammenkommen müssen. 49 A. a. O., 921. 50 Vgl. Predigt am Sonntag Septuagesimä über „Der Adel der guten Wercke“, in: a. a. O., 242– 258, dort 242f: „Hierauf müssen wir auch einen Unterscheid machen: entweder man macht die guten Wercke groß in dem Articul der Rechtfertigung; weg damit GOtt im Himmel will allein die Ehre haben, daß er uns allein, allein! Durch Christi Verdienst ewig gerecht und seelig macht“. 51 A. a. O., 243. 52 A. a. O., 247. 53 A. a. O., 743. 54 A. a. O., 747. 55 Vgl. Predigt am 17. Sonntag nach Trinitatis über „Die Wercke und Handlungen der Wiedergebohrnen“, in: a. a. O., 922–924; wobei Schamelius unter der Angabe 1Tim 4,4 eine Zusammenfassung der Verse 4f zitiert. 56 Unter diesem Titel hatte er am 20. Sonntag nach Trinitatis 1726 eine eigene Predigt gehalten; vgl. Anm. 42.
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Versteht man Schamelius’ Predigten als Spiegel seiner Spiritualität, und dies ist legitim, wenn man dem Prediger Authentizität zusprechen will, so ergibt sich in dem Versuch, der Gemeinde seine eigene Spiritualität zu vermitteln, ein eigenartiges Bild von Enge und Weite. Zum einen muss sich seine Gemeinde häufig kritisiert gefühlt haben, manchmal bis zum Rande der geistlichen Beschimpfung. Aber der Predigtstil der damaligen Zeit war unendlich rigoroser, als wir es heute gewöhnt sind. Zum anderen hatten natürlich alle die Möglichkeit, dem zu entgehen, indem sie sich selbst für wiedergeboren hielten. Die Unwiedergeborenen konnten nur immer andere sein. Schamelius jedenfalls konnte nur so auftreten, weil er selbst beanspruchte, zu den Wiedergeborenen zu gehören. Dabei wurde er seinen eigenen Anforderungen nur bedingt gerecht. So hat er nirgendwo eine wirklich konkrete Auskunft über seine Bekehrung im Sinne August Hermann Franckes gegeben. In der Einleitung wurde bereits darauf verwiesen. Das Thema hat ihn immerhin umgetrieben. Eines der fünf von ihm selbst gedichteten Lieder, die sich in seinem Naumburgischen Gesangbuch finden, trägt den Titel „Danckbarkeit eines bekehrten Christen“.57 Ein weiteres heißt „Der bußfertige Schüler und Studente“.58 In beiden spricht er durch sein lyrisches Ich, und es ist ihm die tiefe Dankbarkeit über seinen Bekehrungsprozess anzumerken. Er verlässt dabei aber niemals die Ebene der theologisch-erbaulichen Metasprache und gibt irgendein konkretes biographisches Erfahrungselement zeugnishaft preis. Das größte Problem aber stellte sicherlich die von ihm geforderte „Singularität der Wiedergeborenen“ dar, denn so, wie er sie selbst vorlebte, beraubte er die Wiedergeborenen ihrer Weltwirkung. Genau das aber war es, was die Hallenser, an deren Spiritualität er sich doch so offensichtlich anschloss, programmatisch umsetzten.
4.
Äußere Öffentlichkeit
Die mystische Spiritualität des inwendigen Christus findet auch in seinen Publikationen ihre Fortsetzung, die schon von vornherein den Adressatenkreis seiner Predigten überschritten. Bereits in seinem „Formular=Büchlein“ von 1717 gibt er wortgenau eine Passage aus Luthers Kommentar zum Galaterbrief wieder, in der die geistliche Vereinigung mit Christus und die Formel „Ich bin Christus“ behandelt werden: „Darum soll man vom Glauben recht lehren / nemlich also / daß du durch denselben mit Christo also verbunden und vereiniget werdest / daß aus dir und ihm gleich als eine Person werde / welche sich voneinander gar nicht scheiden noch trennen lasse / sondern 57 Naumburgisches glossiretes Gesang=Buch, 524, unter der Rubrik „Christenthums=Lieder“. 58 A. a. O., 434, unter der Rubrik „Von der Busse“.
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Christo immerdar anhange / und mit aller Freudigkeit getrost sagen möge: Ich bin Christus / nicht persöhnlich / sondern Christi Gerechtigkeit / Sieg / Leben und alles was er hat / ist mein eigen; Und Christus wiederum auch sage: Ich bin dieser armer Sünder / das ist / alle seine Sünde und Todt sind meine Sünde und mein Todt / sintemahl er durch den Glauben an mir hanget / und ich an ihm / ja lebe in ihm.“59
Gleichzeitig merkt er an: „Jedoch sey es ferne, daß solches in einem dem Weigelio vorträglichen Verstande solle geschehen seyn, als ob etwa die Gläubigen und Christus gar ein Wesen oder Person ausmachten.“60 Die Spiritualität der Zeit blieb eingebunden in die alles beherrschende Dogmatik. Die Theologen waren nicht nur in ihrer Bibel zu Hause, sondern auch in Gerhards und Calovs Dogmatiken. Noch massiver betont Schamelius die pietistische Außenseite dieser Spiritualität. Allerdings geschah dies in einer sehr streitbaren Art und Weise in einer langen Auseinandersetzung wiederum mit den „Unschuldigen Nachrichten“. Schamelius hatte sich verbal zu der radikalen Alternative „aut Pietista, aut Satanista“61 (entweder Pietist oder Satanist) verstiegen. Das trug ihm die Kritik der „Unschuldigen Nachrichten“ ein, die mit dem paulinischen Argument der Rücksicht auf die schwachen Gewissen argumentierten. Mit Äußerungen wie „aut Pietista, aut Satanista“ mache er Sekten und nötige die Leute, Pietisten zu werden. Er leiste falschen Mystikern Vorschub und trage zur Geringschätzung der historischen Wissenschaft, insbesondere der Exegese bei. Schamelius entgegnet mit der praxis pietatis. Dass wahre Christen Pietisten genannt werden müssten, erweise die Praxis, denn: „Hierüber muß nicht die Feder sondern die tägliche augenscheinliche Erfahrung urtheilen. […] Aber dazu gehöret auch vornemlich die schädliche Occupatio [Behauptung], da die laulichte Maul=Christen […] einzuwenden pflegen: Wie? Soll ich also die Weltförmigkeit verläugnen? Soll der euserliche Gottesdienst nicht alleine gnug seyn? Das ist Pietistisch: das ist Pietisterey!“62
Bezüglich des ihm vorgeworfenen Mystizismus, besonders der Passion Christi in uns, beruft er sich diesmal mit Röm 8,29 auf die Schrift und expliziert diese Stelle,
59 Schamelius, Formular=Büchlein, 100. Er zitiert nach der sogenannten Altenburger Ausgabe „aller Deutschen Bücher und Schrifften / […] / Doct. Martini Lutheri“, da sie in der Fürstlich Sächsischen Offizin zu Altenburg als Standardausgabe für die kursächsischen Pfarrhäuser gedruckt wurde. Das galt offensichtlich auch für die kursächsischen Sekundogenituren. Sie diente mit ihren neun Bänden von 1661 bis 1664 der Vereinheitlichung der Lutherrezeption in der Pfarrerschaft. In diesem Fall zitiert Schamelius aus Luthers Kommentierung zum 2. Kapitel des Galaterbriefs von 1535, die von Justus Menius verdeutscht worden war, Bd. 4, 1662, 625. 60 Schamelius, Formular=Büchlein, 98f. 61 „Unschuldige Nachrichten“, Vierte Ordnung, Auff das Jahr 1712, 1013. 62 Anhang zu: Lateinische Sprichwörter und Maximen, 110f.
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in der es um das dem Bild des Sohnes Gleichwerden geht, ausführlich mit einem Zitat aus der großen Apologie des „Wahren Christentums“, die der braunschweig-lüneburgische Hofprediger Heinrich Varenius (1595–1635) gegen den Tübinger Theologieprofessor Lucas Osiander d.J. (1571–1638) verfasst hatte: „Weil wir in dieser Welt Christo müssen gleichförmig werden und sein Bild tragen/ und solches um der festen Vereinigung willen/ die wir mit Christo/ als unserm Haupt haben/ da denn was dem Haupt begegnet/ auch die anderen Glieder mit angehet/ und dessen entgelten müssen. Diß kan nun aber alle wege nicht leiblicher Weiße geschehen. Denn Christus ist leiblicher Weiße gegeißelt/ verspottet und an das Kreutz genagelt worden/ mit welcher euserlichen/ leiblichen Geisselung/ Verspeiung und Creutzigung die meisten Christen verschonet werden/ darum muß solches geistlicher Weiße in uns geschehen und erfüllet werden.“63
Vom „Christo in uns der Fanaticorum“ möchte er sich dabei geschieden wissen64. Auch zu der gesamten Problematik des Verhältnisses von Wissenschaft respektive Exegese zu Erbauung bzw. sensum literalem (Literalsinn) und sensum mysticum (mystischer Sinn) entwickelte er eine praxisbezogene Argumentation: „Aber ist denn die Kirchen=Versammlung, die gröstentheils aus Einfältigen bestehet, der Ort, da man secundum omnes regulas hermeneuticas [gemäß allen hermeneutischen Regeln] viele mühsame Erklärungen über eine Historia [Geschichte] zu machen hat? Ich habe immer gemeinet, das schicke sich besser in einen Commentarium oder zu praelectionibus publicis [öffentlichen Vorlesungen], da man seine Gaben sehen lassen könne, als in Predigten und Postillen.“65
5.
Schamelius in den Bewegungen seiner Zeit
Im Ganzen erschien Schamelius in der öffentlichen Wahrnehmung seiner Zeit als Parteigänger Halles, aber zugleich nicht als Pietist. Zweifellos gibt es in seinem Leben, nach der ersten noch abweisenden Begegnung mit dem Pietismus in den Leipziger Studententagen, eine deutliche Bewegung zu jenem hin. Nach seiner Hauslehrerzeit in Augsburg mit ihrer Erweckung im Hause seines Dienstherren 1692 kam er bei dem Freyburger Superintendenten Johann Georg Hoffmann 1694 in intensiven Kontakt mit der englischen Erbauungsliteratur.66 Gottfried 63 A. a. O., 115; das Zitat bei Varenius: Christliche/ Schrifftmässige/ wolgegründete Rettunge der Vier Bücher vom wahren Christenthumb/ des […] Lutherischen Evangelischen Theologi H. Johannis Arndten/, Lüneburg 1624, T.1, 319f. 64 A. a. O., 116., 65 A. a. O., 129. 66 Dass die Auseinandersetzung mit den Engländern intensiv war, zeigt Schamelius (Hg.), M. Johann Georg Hoffmanns / […] Geistlicher Engeländis. Redner; seine erste publizistische Aktivität überhaupt.
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Balthasar Scharff (1676–1744), Diakon an der Schweidnitzer Friedenskirche (Schlesien) und einer der Mitarbeiter Löschers, spricht 1719 in den „Unschuldigen Nachrichten“ von „der gar zu grossen Liebe zu lauter moralischen Predigten, an welcher Kranckheit Hr. S[chamelius] darnieder liegt“ und zu der er anmerkt: „Eben von den Engelländern kommt die grosse Moralien=Sucht und der Eckel vor exegetischen Erklärungen in Deutschland“.67 Beide Stationen führten Schamelius zu den Quellen, aus denen er seine theologische Prägung und mit dieser seine Spiritualität gewann: den Schriften Scrivers, der Hallenser und Speners.68 Je nach Perspektive kann man diese Theologie und diese Spiritualität als ambivalent oder als vermittelnd betrachten. Ein Studienaufenthalt in Halle 1702 in einer Phase großer persönlicher Unsicherheit zeigt an, wo er schon vor seiner Naumburger Amtstätigkeit Orientierung suchte und brachte ihn in dauerhaften Kontakt mit dem Zentrum des mitteldeutschen Pietismus. 1707 hätte man ihn gern zum Hauptpastor an St. Ulrich in Halle gehabt, aber er lehnte ab. Mit dem seit 1709 in Halle lehrenden Joachim Lange und mit Francke verbanden ihn Korrespondenzen. Als Schamelius beim Stadtbrand von 1716 sein Hab und Gut verloren hatte, schickte ihm Francke Bücher, um sich eine neue Bibliothek – sicher der schwerste Verlust – aufzubauen. Ein Jahr vor seinem Tod stattete Francke 1726 dem Naumburger Oberpfarrer schließlich einen Besuch ab. Hatten Schamelius und Francke ihre Kontakte über die Jahre mehr auf persönlicher Ebene gefunden, so wurde der Oberpfarrer auf publizistischer Ebene stark in die Nähe Langes69 gerückt. Dieser hatte sich in der theologischen Polemik schnell zum Vorkämpfer der Hallenser entwickelt. Die Qualität seiner Schriften entsprach aber längst nicht immer deren Umfang und Tonfall. Seit 1715 wollten die „Unschuldigen Nachrichten“ eine besondere inhaltliche und methodische Nähe des Naumburgers zu Lange ausmachen, so Löscher bei der Ablehnung der Adiaphora durch Schamelius, während Scharff klagte, „daß es scheine/ als habe sich der Hr. Primarius vorgesetzt/ 67 Beide Zit.: „Unschuldige Nachrichten“, Dritte Ordnung, Auff das Jahr 1719, 533. 68 Zu erwähnen sind auch hier wieder die Schriften Johann Arndts. Schamelius’ biographische Berührungspunkte zu diesen lassen sich leider nicht mehr erhellen. Dasselbe gilt für die reichlich benutzten Schriften Luthers, die er wohl in der Altenburger Ausgabe von 1661–1664 selbst besaß, denn von den 74 Luther-Bezügen in den Predigtjahrgängen 1709/10 entfallen allein 31 auf die Teile 1 bis 9 dieser insgesamt 10 Teile umfassenden Edition. 69 Joachim Lange (* 1670 Gardelegen; † 1744 Halle) hatte noch 1689 mit Schamelius zusammen in Leipzig studiert, aber bereits damals auf der Seite Franckes gestanden, dem er 1690 nach Erfurt und 1691 nach Halle folgte. Hier beendete er auch seine Studien und war danach von 1693 an als Hauslehrer in Berlin tätig. Nach einem kurzen Zwischenspiel als Schulrektor in Köslin/Hinterpommern 1696/97 kehrte er nach Berlin zurück und wirkte als Rektor des Friedrichwerderschen Gymnasiums und Prediger an der Friedrichstädter Kirche. 1709 wurde er als Ordinarius in die Theologische Fakultät Halle berufen, nachdem er sich bereits seit 1706 verstärkt im publizistischen Kampf um den Pietismus engagiert hatte. Seine Hauptgegner waren Löscher und dessen „Unschuldige Nachrichten“.
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die Langische Art zu disputiren rechtschaffen nachzuahmen/ daher das meiste in leeren Retorsionen [Verdrehungen]/ Parodien und solchen Kunst=Stückchen mehr bestehet“.70 Diese äußerlich unterstellte Übereinstimmung zwischen Schamelius und Lange ging aber auch inhaltlich weit über die Mitteldinge hinaus. Beide teilten sie den Grundsatz: „Nullus impius, seu non renatus, est vere a Spiritu Sancto illuminatus“ (kein Unfrommer oder nicht Wiedergeborener ist wirklich vom Heiligen Geist erleuchtet).71 Von hier aus war es klar, dass das Wort Gottes bei Unwiedergeborenen und Wiedergeborenen unterschiedlich wirken musste. Das veranlasste Löscher, sowohl Lange als auch Schamelius anzugreifen, weil sie das Wort seiner Funktion eines uneingeschränkten medium salutis beraubten, es als Gnadenmittel aufhöben. Lange und Schamelius statuierten den Willen zum Glauben als eine unbedingte Voraussetzung für die Wirkung des Wortes und damit letztlich für den gesamten Rechtfertigungsprozess. Ohne weitere Absicherungen war es von hier aus nicht mehr weit zum Synergismus. Das alles zusammen musste den entschiedenen Widerspruch orthodoxer Theologen wie Löscher hervorrufen.72 Bei aller prägnanten Predigt für die pietistische Gesinnung von der Kanzel in St. Wenzel oder aus streitbarer Feder blieb der Naumburger Oberpfarrer selbst doch sehr zurückhaltend. Wohl war der Pietismus den Freuden dieser Welt abgewandt, nicht aber ihren Kindern. Francke und seine Mitarbeiter in Halle bildeten Menschenfischer aus und suchten ihre Studenten dafür zu rüsten, dass sie auf ihre Weise dem seit Johann Arndt von allen großen und rechtschaffenen orthodoxen Theologen beklagten Schaden der lutherischen Kirche zu Leibe rückten. Von der Spätorthodoxie um Löscher trennte den Pietismus dabei nicht eigentlich das Ziel einer Besserung der kirchlichen Verhältnisse als vielmehr Mittel und Methoden, um dieses Ziel zu erreichen. So gesehen blieb Schamelius, bedingt durch das Konzept seiner spirituellen Singularität, im Hafen. Letztendlich war es ein zurückgezogenes Gelehrtendasein, das er schon ab 1715 zu führen begann. In der Öffentlichkeit erschien er dabei hauptsächlich zur Erledigung seiner Amtspflichten. Hier war viel Bitterkeit im Spiel, die aus seinen wohl auch ganz persönlich verstandenen Niederlagen in den Auseinandersetzungen mit seinen Kollegen seit 1710 resultierte. Ausschließlich Theorie blieb daher bezeichnenderweise auch die Anschauung, mit der er sich 1718 am weitesten in pietistische Richtung vorwagte, als er die Zusammenkunft von Laien, um sich an Gottes Wort zu erbauen, ausdrücklich verteidigte, wenn er anmerkte, „ohne daß 70 „Unschuldige Nachrichten“, Dritte Ordnung, Auff das Jahr 1715, 508. 71 Lange, Antibarbarus, Bd. 1, 33; zit. nach Greschat, Zwischen Tradition und neuem Anfang, 277. 72 Zum Kontext dieses Konflikts vgl. Greschat, Zwischen Tradition und neuem Anfang, 262–281 („Das Ringen mit dem halleschen Pietismus a) Doctrina und Pietas); und zum Ausgang dieses Konflikts a. a. O., 281–317 („b) Einigungsbestrebungen“ und „c) Der Bruch“).
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deßwegen verdächtige conventicula gelitten werden“.73 Sein Schwiegersohn Stemler bemerkt dazu: „Doch war er nicht darzu zu bringen, sich mit einem ieden ins Gebet einzulassen, oder besondere Erbauungsstunden in seinem Hause anzustellen: weil er eines Theils gestund, daß ihm die Gabe darzu von GOtt nicht verliehen sey, andern Theils auch, weil er immer besorgte, es möchte daraus mehr Hindernis als Förderung des Reiches GOttes erwachsen. Ich, sprach er, halte allenthalben über gute Ordnung, und habe Widerspruch genung: was würde vor Irrung und Mißverständnis entstehen, wenn ich dergleichen Erbauungsstunden halten wolte? Er bezog sich dabey auf Lutherum, welcher auch nicht darzu rathen wolte, aus Besorgnis, es möchte sich zwischen Pfarrer und Caplan ein Teufel einmengen, daß sie sich vor dem Volke zankten und bissen. Das aber that ihm doch wehe, wenn er erfuhr, daß man hier und da mit allzustrenger Schärfe hinter diejenigen her war, die etwa nach gehaltenem Gottesdienste zusammen giengen, öffentlich abgelegte Predigten wiederholten, und ein gut Lied sungen, da man doch den Kindern des Teufels am Tage des HErrn ihre Sauff= und Hurenlieder zur Schande des Christlichen Namens in öffentlicher Versammlung mit grossem Geschrey abzusingen freye Gewalt ließ, ohne sauer darzu zu sehen.“74
Das 1724 durch den pietistisch geprägten Weißgerber Daniel Kühling beim Naumburger Rat vorgetragene Projekt eines Waisenhauses unterstützte er in keinerlei Weise.75 Auch Löscher und seine Rezensenten sahen in Schamelius keinen Pietisten. Was sie ihm letztlich zum Vorwurf machten, ist, dass er zwischen den theologischen Welten wandle. Scharff hielt dem Naumburger Oberpfarrer 1715 vor: „Ferner glauben wir festiglich/ daß es in unsers HErrn GOttes Sachen/ wie unsre alten Theologi zu reden pflegen/ es sich nicht neutral seyn lasse/ stellen es aber in sein Gewissen/ wie weit er mit seiner gesuchten neutralite in der Evangelischen Kirche wegen des Pietistischen Streites kommen dürffte.“76
Schamelius selbst hatte seine eigene Auffassung von dieser „Neutralität“, bei der er sich zu Unrecht in die pietistische Ecke gestellt sah: Man habe „mit ihm, wider den Sinn des Geistes GOttes meistens über Worte gezankt, und ihn zu der Partey rechnen wollen, welche so verhaßt sey, da er nie einer Partey blindlings zugefallen, sondern alles vor Gott geprüfet, und das Gute, das er gefunden, mit Dank angenommen habe.“77
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Consistorial Acta, Bl. 15. Stemler (Hg.), Historie, 54. Vgl. Lindner, Gründung eines Waisenhauses zu Naumburg. „Unschuldige Nachrichten“, Dritte Ordnung, Auff das Jahr 1715, 500. Stemler (Hg.), Historie, 69.
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Im Sommer 1726 distanzierte er sich sogar ausdrücklich von dem Begriff „Pietist“ und vollzog damit eine Kehrtwende. Es sei ein Schimpf- und Spottname, den man seinen Mitchristen weder im Guten noch im Bösen zulegen solle.78 Der Pietismus hatte die Gewichtung von der communio sanctorum der Getauften hin zur communio sanctorum der Bekehrten verschoben. Schamelius nahm daran mit seinem Konzept der Singularität des Frommen öffentlichkeitswirksam teil. Unbewusst wurde er so mit seiner zwischen Spätorthodoxie und Pietismus mäandernden Spiritualiät zugleich Bestandteil des großen Stroms hin zur Individualisierung der gelebten Frömmigkeit und mithin auch der spirituellen Dimension des Luthertums, wie sie dann für die Aufklärung kennzeichnend sein sollte.
Literatur Quellen Consistorial Acta, den Oberpfarrer zu Naumburg Hrn. Mr. Johann Martin Schamelium, betr.; infragen verschiedenen Lehr-Sätzen, die ihm seine Collegen als irrig beygemeßen, Anno 1718, LHA Sachsen-Anhalt, Außenstelle Wernigerode, Sign. A29 dI Nr. 320. Naumburgisches glossiretes Gesang=Buch, Naumburg 1720. Schamelius, Johann Martin, Die Pflicht am Sabbath und Feyertage Oder Predigten über die ordentlichen Sonn= und Festtagsevangelien, Jena 1727. –, Formular=Büchlein, [Leipzig] 1717. –, Lateinische Sprichwörter und Maximen, welche zum Deckel der Sünde oder Gemeiner Irthümer vorgeschützet werden, Leipzig 1716. –, Sprüche des Heiligen Evangelien=Buchs/ Welche Von den Menschen verdrehet/ und zur Bedeckung der gemeinen Sünden können mißbrauchet werden/ Leipzig, 1713. –, Christianvs Oder ein wahrer Christe Wie denselbigen das Heil. Wort Gottes Mit Namen beschrieben und vorgestellet hat. Womit zugleich Die Eigenschafften, Pflichten und Herrlichkeiten Eines wahren Christen erkläret Und die in dem Kirchen=Jahre 1710. Durch GOttes Gnade darüber gehaltene Betrachtungen in einer kurtz gefassten Summa wiederholet Jo. Martinus Schamelius, Leipzig 1712. 78 Am 11. Sonntag nach Trinitatis 1727 bemerkt Schamelius zurückblickend: „Wir haben dazumahl als eine überaus schwere Sünde erkläret, wenn nemlich der Name und das Wort Pietist gebraucht, und ein Mit=Christ ein Pietiste genennet wird, wir haben erwiesen, daß das eine sehr schwere Sünde sey, und zwar aus der heiligen Schrifft […] wie nicht weniger aus dem unfehlbaren unabsonderlichen Schaden, der nothwendig aus diesem Zunahmen der Religion, der Übung des wahren rechtschaffenen Christenthums, und der rechtschaffenen Gottseeligkeit zuwächset. Wer sich nun dadurch nicht hat überzeugen lassen, und will dennoch seinen Mit=Christen mit diesem Spott= und Zu=Nahmen Pietist belegen, […], er wird am jüngsten Gericht müssen Rechenschafft geben von alle demjenigen Schaden, welchen die Religion, die Gottseeligkeit, und das Christenthum dadurch erlitten hat, es mag nun in guter oder böser Meinung geschehen seyn“, ders., Die Pflicht am Sabbath und Feyertage, 801f.
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– Geistliche Aus dem Munde des H. Geistes gesamlete Lehren des inwendigen Christenthums/ Welche aus denen Anno 1709. gehaltenen Sonn= und Fest=Tags=Andachten, hiemit Summarisch und kürtzlich wiederholet Jo. Martinus Schamelius, Leipzig 1711. –, Summarien und Auszug dererjenigen Predigten, welche im Kirchenjahre 1708. Über die ordentlichen Sonntags= und Fest=Evangelia gehalten. Naumburg 1708. –, (Hg.), M. Johann Georg Hoffmanns / […] Geistlicher Engeländis. Redner […] mit einer Vorrede und Catalogo über die geistl. Engeländischen Schrifften versehen von Joh. Martino Schamelio, Leipzig 1706 Stemler, Johann Christian (Hg.), Historie und Führung des Lebens Johann Martin Schamelii, weyland Oberpfarrers in Naumburg, und der Rathsschule Inspectoris, welche er zum Gedächtnis selbst aufgezeichnet, nebst einigen hinzugefügten Nachrichten von dessen Leben, Tode und Schriften, und einer Vorrede von unschuldigen Bemühungen, sein Gedächtnis zu erhalten, Leipzig 1743.
Forschungsliteratur Berneburg, Ernst, Einige Gesichtspunkte und Fragen zur Wirkung der Unparteiischen Kirchen- und Ketzerhistorie, in: Dietrich Blaufuß/Friedrich Niewöhner (Hg.), Gottfried Arnold (1666–1714) (Wolfenbütteler Forschungen 61), Wiesbaden 1995, 21–32. Borkowsky, Ernst, Die Geschichte der Stadt Naumburg an der Saale, Stuttgart 1897 Greschat, Martin, Zwischen Tradition und neuem Anfang. Valentin Ernst Löscher und der Ausgang der lutherischen Orthodoxie, Witten 1971. Heydenreich, Fritz, Die Geschichte der Naumburger Peter=Paulsmesse, Naumburg 1928. Hoppe, Friedrich, Gelegenheitsfunde zur Naumburger Handwerksgeschichte, in: Naumburger Heimat Nr. 4/1933, 1. Lindner, Andreas, Joachim Justus Breithaupt als Pastoraltheologe, in: Reimar LindauerHuber/ders. (Hg.), Joachim Justus Breithaupt 1658–1732. Aspekte von Leben, Wirken und Werk im Kontext (Friedenstein-Forschungen 8), Stuttgart 2011, 155–173. –, Die Bemühungen um die Gründung eines Waisenhauses zu Naumburg a. S. 1709–1743 in: Udo Sträter/Josef N. Neumann (Hg.), Waisenhäuser in der Frühen Neuzeit (Hallesche Forschungen 10), Tübingen 2003, 121–134. –, Leben im Spannungsfeld von Orthodoxie, Pietismus und Frühaufklärung. Johann Martin Schamelius, Oberpfarrer in Naumburg, Gießen 1998.
Dieter Ising
Spiritualität in der Seelsorge des württembergischen Pietisten Johann Albrecht Bengel (1687–1752)
1.
Vom traumatisierten Kind zum einfühlsamen Seelsorger. Bengels Stellung zu Gott im Wandel der Lebenssituationen
Johann Albrecht Bengel, 1687 im württembergischen Winnenden geboren, hat als Kind die Folgen der Reunionspolitik Ludwigs XIV. zu spüren bekommen. Ein erster Einfall französischer Heere in Württemberg berührt Winnenden im Jahr 1688. Nach dem frühen Tod des Vaters Johann Albrecht (I), der als Winnender Pfarrer sich 1693 den Opfern einer Seuche widmet und ihr selbst zum Opfer fällt, vertraut die Mutter den sechsjährigen Bengel dem Präzeptor David Wendelin Spindler an. Als Spindler nach Marbach am Neckar zieht, folgt Bengel seinem Pflegevater. 1693 sind sowohl Winnenden wie auch Marbach einem zweiten Franzoseneinfall schutzlos preisgegeben. Die Geschichte der deutsch-französischen Feindschaft ist lang, entsprechend auch die Liste der Greueltaten auf beiden Seiten. Aufrechnungen führen zu nichts. Wenn es aber um die Entwicklung des jungen Bengel geht, muss festgestellt werden, dass das brutale Vorgehen der französischen Truppen, der Versuch, durch eine Politik der verbrannten Erde den Forderungen Frankreichs Nachdruck zu verleihen,1 sich in seine Seele ein1 Zu den Vorgängen in Marbach und Umgebung am 28. 7. 1693 vgl. Landeskirchliches Archiv Stuttgart, Kirchenbücher Dekanat Marbach am Neckar: Totenbuch Bd. 14 (Abschrift), 1693– 1762. Unter anderem ist hier zu lesen: „Christoph Caspar, Leinenweber, ist von einem französischen Soldaten mit einer Axt in Backnang getötet worden; dessen Frau und 4 Kinder. Michael Häfner, Schreiner, ist von einem französ[ischen] Reiter durch etliche Hiebe in den Kopf entleibt worden.“ Vgl. Hermann, Bengel, 43: „Die Einwohner, soweit sie sich nicht schon in Sicherheit gebracht hatten, wurden hinausgejagt, ohne etwas von ihrer Habe mitnehmen zu dürfen. Wehrlose Greise und Kranke wurden umgebracht. […] Nach gründlicher Plünderung wurde die Stadt noch am gleichen Tage durch mehrere Reiter an allen vier Ecken angezündet.“ Die flüchtenden Einwohner wurden verfolgt, in Kirchberg eingeholt und wahllos beschossen. Als die Menschen Mitte August 1693 in ihre Heimatstadt zurückkehrten, fanden sie einen Trümmerhaufen vor. Vierhundert Gebäude waren eingeäschert, Kirchen und Schulen zerstört. – Karl Hermanns
Spiritualität in der Seelsorge des Pietisten Johann A. Bengel (1687–1752)
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geprägt haben. Er, der den Tod des Vaters und die Trennung von der Familie zu verarbeiten hat, erlebt, wie im gleichen Jahr kurz nacheinander das Haus der Mutter in Winnenden und das des Pflegevaters in Marbach in Flammen aufgehen. 1696 folgt er Spindler und dessen Familie nach Schorndorf, 1699 an das Stuttgarter Gymnasium. Die frühe Begegnung mit Tod und Zerstörung taucht in Bengels Erinnerungen nur indirekt auf als Sehnsucht nach der ewigen Heimat: „Ich kann bei meinen noch nicht gar hoch gestiegenen Jahren doch erachten, was die Heilige Schrift ‚Lebenssättigkeit‘ nennt, auch die Begierde nach der Heimat, die ich in meiner frühen Jugend mit gutem Grund gehabt.“2 Als indirekter Hinweis auf die erlebte Not ist es auch zu verstehen, wenn Bengel die göttliche Gnade als Frucht seiner Jugend hervorhebt. Als Sechsjähriger, sagt er, habe er „lautere, reine, zärtliche, göttliche Rührungen gehabt. Man hat mich fromm geheißen, aber weiter nicht nach mir gefragt: wie ein Gras, das auf niemand harret.“ Freude macht es ihm, in der Kirche angeschriebene Sprüche aus dem Römerbrief über Tod, Sünde, Gerechtigkeit, Wunden des Herrn zu betrachten. Seine Jugend sei ein „Mare misericordiae“, ein Meer des Erbarmens, gewesen, in welchem „hundert alte Adam […] hätten ersäuft werden mögen“.3 Der Lobpreis der Gnade durch den späteren Seelsorger ist verbunden mit einer immer gegenwärtigen Sehnsucht nach der Ewigkeit4 – offensichtlich kann er nur so die traumatischen Erfahrungen der Kindheit bewältigen. Unter den Adressaten seiner späteren Seelsorge sind Menschen, die einen radikalen Pietismus vertreten; einige hat Bengel im Spindlerschen Haus früh kennengelernt. Wie der Briefwechsel des Tübinger Stiftsstudenten zeigt, ist er dennoch ein kirchlicher Pietist geblieben. Die vergeistigte Hermeneutik der Bibel, die im radikalen Pietismus praktiziert wird und das innere Wort als Eingebung des Heiligen Geistes gleichgewichtig neben die Bibel stellt, teilt er nicht. Auch dem im radikalen Pietismus propagierten geistlichen Genießen des Abendmahls kann er nichts abgewinnen, allerdings auch nicht einer im kirchlichen Pietismus anzutreffenden Praxis, „Unwürdige“ vom Abendmahl auszuschließen. Bengel hat keine Berührungsängste gegenüber radikalpietistischen
Werk, in der Zeit des Nationalsozialismus entstanden, aber dem damaligen Zeitgeist nicht folgend (etwa S. 457), ist in seiner detaillierten und fundierten Darstellung von Bengels Jugend, Studium und Denkendorfer Präzeptorat auch heute unentbehrlich. Vgl. Mälzer, Bengel, 389f. 2 Zitiert nach Hermann, Bengel, 42. 3 Zitiert nach Wächter, Bengel, 3f. 4 Der kranke und erschöpfte Bengel schreibt an Jeremias Friedrich Reuß am 07. 09. 1734: „Per mundum, etiam sanctum, transire velim, ut sagitta vestigioru[m] nihil relinquens“ (in die Welt, allerdings in die heilige, will ich hinübergehen wie ein Pfeil, der keine Spur zurücklässt), Bengel, Briefwechsel, Bd. 3 (in Vorbereitung).
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Positionen. Oft ist er es, der die Initiative zum Gespräch ergreift, etwa mit Johann Tennhardt in Leipzig.5 Bengels frühe Erfahrungen haben ihm gezeigt, dass die Hinwendung zum radikalen Pietismus in immer größeres Leid hineinführt. Aus der Nähe erlebt er, wie sich der Prozess zunehmender Radikalisierung und immer starrer werdender subjektiver Überzeugung vollzieht. Inhaftierung, manchmal Ausweisung, auch der frühe Tod der Betroffenen sind die Folge. Bengel weiß um überzogene Entscheidungen der kirchlichen Behörden. Er weiß, dass stattdessen ein geduldiges Abwarten zum Ziel führen kann, etwa beim befreundeten Andreas Bardili, der aus radikalpietistischer Distanz wieder ins kirchliche Pfarramt findet.6 Bengels Spiritualität gewinnt Konturen. Die wissenschaftliche Reise 1713, bewilligt aufgrund guter Leistungen im Theologiestudium am Tübinger Stift, gibt ihm die Möglichkeit, sein Streben nach einem weiten Horizont in die Tat umzusetzen. Ein früher Lebenslauf von seiner Hand formuliert das so: „Er untersuchte die Methoden der Evangelischen und Reformierten, die Künste der Jesuiten und Scholastiker, ihre Pläne und Anliegen; er durchforschte den Haushalt der Schulen wie ihre Büchereien, lernte gelehrte und tüchtige Männer kennen auf Akademien und anderen Sitzen“, wobei die Begegnung mit August Hermann Francke in Halle besonders hervorgehoben wird.7 Bengels pädagogisches Bemühen als Klosterpräzeptor in Denkendorf, der in den Jahren von 1713 bis 1741 junge Menschen auf das Theologiestudium in Tübingen vorbereitet, steht somit auf einer breiten Grundlage. Auch der Seelsorger Bengel hat von der Reise profitiert. In Halle hat er „das väterliche Vorbild der theologischen Lehrer in Lehre und Leben“, das Ineinander von Bildung und Frömmigkeit kennengelernt. Da liegt es nahe, dass sein Beitrag zur feierlichen Wiedereröffnung der Denkendorfer Schule im Dezember 1713 sich mit diesem Thema beschäftigt. Es geht um den sichersten Weg zur wahren Bildung durch das Trachten nach Frömmigkeit (De certissima ad veram eruditionem perveniendi ratione per studium pietatis).8 In diesem Zusammenhang hat Frömmigkeit für Bengel nichts zu tun mit radikaler Abkehr von der Welt und Rückzug in die Innerlichkeit, sondern sie hat etwas zu tun mit der Freiheit des Evangeliums, mit der Bereitschaft, Neues zu denken und zu praktizieren. Dabei stellt eine recht 5 6 7 8
Vgl. Ising, Radikaler Pietismus, 152–195; ders., Einführung, Bd. 1, 21–27. Vgl. Bengel, Briefwechsel, Bd. 1, Brief Nr. 1, Anm. 1. Bengel, Leben Herrn Jo. Albrecht Bengels 1721, 17f. Ising, Die württembergischen Klosterschulen, 106–108. Rolf Noormanns eingehende Würdigung von Bengels Antrittsrede nennt die Quellen, aus denen Bengel schöpft, wobei der starke Anteil antiken Bildungsgutes betont wird: ders., Frömmigkeit und Bildung, darin Anhang 1: Kritische Edition des Textes der Antrittsrede Bengels (97–105), Anhang 2: Übersetzung der Antrittsrede (106–113).
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verstandene Frömmigkeit die ideologiekritische Frage, ob eine Schöpfung menschlicher Freiheit sich mit den von Gott gesetzten Grenzen der Freiheit verträgt. Wir sehen, schon Bengel geht es um die Frage, ob Wissenschaft alles darf, was sie kann.9 Nach seiner Heirat mit Johanna Regina geb. Seeger im Jahr 1714 hat Bengel nicht nur Seelsorger seiner Schüler zu sein. Die Rolle des Familienvaters kommt hinzu, der mit Freud und Leid der eigenen und dem Ergehen befreundeter Familien konfrontiert wird und sich bemüht, dies vor Gott zu bewältigen. Die hohe Kindersterblichkeit jener Zeit ist für ihn wie für andere eine Herausforderung, hinter dem Leid den gnädigen Gott zu erkennen, dessen harte Prüfungen letztlich nur Gutes bewirken. Eine bedeutende Veränderung bringt das Jahr 1741. Bengel wird zum Prälaten des Klosters Herbrechtingen ernannt. Zur Prälatenwürde gehört die Mitgliedschaft im württembergischen Landtag, der die Interessen der Stände gegenüber dem Herzog vertritt. Allerdings verhindert der Herzog die Einberufung von Plenarsitzungen, so dass diese Kontrollinstanz ihre Bedeutung verliert. Einfluss nehmen können nur der Große Landtagsausschuss sowie sein harter Kern, der Engere Ausschuss, die mehrmals jährlich in Stuttgart tagen. Aufgrund seines hohen Ansehens wird Bengel 1747 Mitglied des Großen und 1748 Mitglied des Engeren Ausschusses. Außerdem ernennt man ihn 1749 zum Prälaten von Alpirsbach; damit verbunden ist ein Sitz im Konsistorium, der Leitung der württembergischen Landeskirche in Stuttgart. Darauf verlegt Bengel seinen Wohnsitz nach Stuttgart, dem eigentlichen Arbeitsplatz. Aus dem Klosterpräzeptor ist ein Repräsentant kirchlicher und politischer Macht geworden, dem ein Einspruchsrecht bei wichtigen kirchlichen und politischen Entscheidungen zukommt. Zahlreiche Briefe aus den Jahren 1741 bis zu seinem Tod 1752 beweisen, dass er weiterhin sich und andere vor Gott und die Verheißungen des Evangeliums stellt. In Herbrechtingen hält er mit einfachen Leuten Erbauungsstunden. Ihr Inhalt findet sich in Bengels „Sechzig erbaulichen Reden über die Offenbarung Johannis“.10 Bengel hat viele Stationen durchlaufen, vom Tübinger Studenten über den Denkendorfer Lehrer und Familienvater bis hin zum Politiker. Themen und Anforderungen wechseln; der Kreis der Ansprechpartner verändert sich. Es ist ein Glücksfall, dass auch Dokumente einer Seelsorge Bengels an sich selbst erhalten sind. Sie zeigen, wie er versucht, sein eigenes Leben vor Gott zu ordnen als Voraussetzung einer Seelsorge an anderen.
9 Vgl. die übersichtliche Gliederung von Bengels Antrittsrede in a. a. O., 48f, Zeile 80–210. 10 Vgl. Mälzer, Bengel, 112f.
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Bengel hat Regeln für sein eigenes Leben aufgestellt, die als Abschriften fremder Hand ohne Angabe von Ort und Datum überliefert sind. Hier geht es um den Alltag christlichen Lebens, wissenschaftlichen Arbeitens und Unterrichtens:11 „§ 1. Gebet und Danksagung. Nachsinnen (meditatio). Sorgfalt. Ernster Eifer, die Schüler in ihrem Lernen voranzubringen. Rechte Sparsamkeit, besonders beim Bücherkauf. Nüchternheit. Übungen in der Mildtätigkeit. Ein Aufatmen mitten unter der Arbeit. Sorgfältiges Achthaben auf geheime Gedanken und Neigungen, die von selbst entstehen oder von außen geweckt werden. In Gegenwart aller ein gutes Vorbild geben (bonum odorem esse). Gegen törichte Furchtsamkeit ankämpfen. In der Bibel lesen. Geistliche Lieder schreiben. Seine Gesundheit in Acht nehmen, besonders die Augen.12 Aufmerksamkeit beim Beten. Bedacht sein, wo irgendein Betrug des Teufels zu befürchten ist. Die Ferien gut anwenden. Briefe sollen in der Erholungszeit geschrieben werden. Früh aufstehen; abends rechtzeitig zu Bett gehen. […] Viel nachsinnen, wenig schreiben. Kleinigkeiten nicht nachgehen. Gute Gedanken auf der Stelle notieren. Ein Buch zu diesem Zweck zur Hand haben. Überall bemüht sein, die Unterhaltung in ein gutes Fahrwasser zu bringen. Passagen, auf die ich in Büchern verwiesen werde, notieren und bei Gelegenheit exzerpieren. Die Gesundheit sorgfältig in Acht nehmen. Studieren, wie es sich gehört. Sorgfältig unterrichten. […] Sich mehr Mühe geben beim Predigen und beachten, was zu beachten ist. Plötzlicher Wissbegierde, die den Zusammenhang zerreißt, widerstehen. […]“.
Wächter zitiert in diesem Zusammenhang auch „Regeln für seinen Beruf“, in denen sich Bengel unter anderem zu einem vorsichtigen und freundlichen Umgang mit den Mitmenschen ermahnt.13 Außergewöhnliche Situationen, wie schwere Erkrankungen Bengels oder Krankheit und Tod in der Familie, lassen sich dagegen nicht in Regeln fassen. Hier sind wir auf Briefe oder mündliche Äußerungen Bengels angewiesen. Ende Juni 1725 hält er sich mit seiner Familie zu einer Badekur in Bad Boll auf. Der befreundete Philipp Heinrich Weissensee nutzt die Gunst der Stunde, um Bengel zu einem Besuch in Blaubeuren einzuladen. Dieser überschätzt seine Kräfte, unternimmt die Wanderung über die Schwäbische Alb bei starkem Wind und kehrt krank nach Bad Boll zurück. Einem Freund schreibt er, „Magen und Kopf [seien] so geschwächt worden, daß ich einem Schlagfluß und selbst dem
11 Regulae Vitae b[eati] Bengelii. Abschriften fremder Hand: WLB Stuttgart, cod. hist. fol. 1002,30, 144f; cod. theol. et philos. qt. 534 g, 6. Druck des lateinischen Textes bei Wächter, Bengel, 14f Anm. – Die hier gegebene Übertragung präzisiert und ergänzt Hermanns Übersetzung der Regulae Vitae, vgl. ders., Bengel, 265. 12 Seit seiner Kindheit kann er nur auf einem Auge sehen. Er hält dies geheim, auch gegenüber seiner Frau (Bengel an einen Freund 23. 4. 1748; vgl. Wächter, Bengel, 48). 13 Vgl. Wächter, Bengel, 15 Anm.
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Tode nahe war“.14 Ohne einen Arzt in seiner Nähe, dem er vertraut, wendet er sich in seiner Einsamkeit an Gott. „Gott erhörte aber mein Flehen.“15 An den Nachwirkungen hat er noch lange zu leiden, ist aber um eine Erfahrung reicher. Die Krankheit habe ihm gezeigt, wie gar nichts er sei und wie wenig schade es um ihn gewesen wäre, wenn er gestorben wäre. „Permisi me: recuperavi me“ – er habe sich (dem Willen Gottes) überlassen, und so habe er sich wiederbekommen.16 Ebenso versteht er eine schmerzhafte Nierenkolik im Januar 1727 als göttliches Lehrstück; in ihm sei das Verständnis für Mitmenschen gewachsen, die über starke Schmerzen klagen.17 Auch habe ihn, gesteht er seinem früheren Schüler Jeremias Friedrich Reuß, die Krankheit ein Stück weit von dem Verlangen befreit, sich selbst und anderen zu gefallen.18 Die hohe Kindersterblichkeit dieser Zeit verschont Bengels Familie nicht. 1715 stirbt der erstgeborene Sohn Albert Friedrich, 1719 die nach ihrer Mutter benannte Johanna Regina, 1722 die von Bengel besonders geliebte Anna Regina. Am 14. September 1723 kann Bengel dem Freund Matthias Marthius berichten, ihm sei ein Sohn mit dem Namen Joseph getauft worden, „das einzige Fünkchen meines väterlichen Hauses”.19 Aber auch Joseph stirbt bereits im Dezember 1723. Als die Familie Bengel im November 1724 zum fünften Mal den frühen Tod eines Kindes beklagen muss – Johann Wilhelm ist zwei Wochen nach seiner Geburt gestorben –, schreibt Bengel einem Verwandten: „Auch diß hat der HErr gethan! der wird uns trösten und es uns, wann es Zeit seyn wird, erfahren lassen, wie grosse Treue für grosse und kleine hierunter verborgen. O viel besser hingerückt als hernach in der arg[en] Welt verrückt.“20
Im Januar 1727 schließlich stirbt die kleine Augusta Sophia. Ihre Kindheit überlebt haben nur die 1717 geborene Sophia Elisabetha und die 1720 geborene Johanna Rosina. Auch die seit 1727 zur Welt gekommenen Kinder, die Töchter Maria Barbara (1727), Catharina Margaretha (1730) und die Söhne Viktor (1732) und Ernst (1735) erreichen das Erwachsenenalter. Die befreundete Christina Juditha Burckh, die ebenfalls ein Kind verloren hat, versucht das Ehepaar Bengel zu trösten: In dieser elenden Zeit sei es eine Wohltat Gottes, wenn er ein unschuldiges Kind „zu sich wie ein brand aus dem feuer reißet“.21Auch Bengel versucht, hinter all diesen Heimsuchungen die Liebe Gottes zu erkennen, etwa 1722 bei der Beerdigung der kleinen Anna Regina. Bengels 14 15 16 17 18 19 20 21
Bengel an Marthius 2. 11. 1725, in: Bengel, Briefwechsel, Bd. 2, Nr. 495, Z. 120f. Bengel an Jeremias Friedrich Reuß 27. 7. 1725, in: a. a. O., Nr. 473, Z. 18. A. a. O., Z. 19–22. Vgl. Bengel an Marthius 14. 2. 1727, in: a. a. O., Nr. 556, Z. 52f. Vgl. Bengel an Jeremias Friedrich Reuß 11. 1. 1727, in: a. a. O., Nr. 547, Z. 11f. Bengel an Marthius 31.8.–14. 9. 1723 , in: a. a. O., Nr. 350, Z. 273–275. Bengel an Georg Michael Seeger 30. 11. 1724, in: a. a. O., Brief Nr. 430, Z. 12–15. Christina Juditha Burckh an Bengel 9. 12. 1723, in: a. a. O., Nr. 368.
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Brief an die Eltern und Schwiegereltern22 spricht offen von seiner Trauer, seiner Todessehnsucht und der Hoffnung auf die Herrlichkeit der Auferstehung. Er habe, „als unser liebes Kind in seinen letzten Stunden so kläglich da gelegen, einen recht empfindlichen angriff an meinem Innwendigen gehabt; so daß ich noch vor seiner Auflösung mehr Traurens verspürt als über unsern 2 vorigen seel[igen] Kindern und bey anderen dergl. gelegenheiten miteinander. […] Nachdem das Kind verschieden und ich mich nachmittags in die Kammer, da es so fort hingebracht worden, neben dasselbe, ein wenig zu ruhen, geleget: gieng mir bey, wie eine erwünschte sache ein solcher wechsel seye. David mußte über seines elenden Absaloms Tode klagen: ach dörffte ich für dich sterben23: aber bey einem solchen Kinde, welches noch nicht in das weltwesen hingerissen worden, bedarf es keiner solchen bittern Trauer –, sondern nur einer süssen liebesKlage: ach! dörffte ich mit dir sterben! […] So bald der Todesstoß vorbey, so wird das Cörperlen, die Hand voll aschen, schon wieder mit reinem Leinwa[n]d, Blumen, Citronen, Kränzen und dergl. beehret; welches zwar alles mit demselben verweset und gar einen verwelklichen, dürfftigen augentrost giebt: aber wie schön muß der Schmuck seyn, womit die Seele in dem Himmel von und vor Gott, dem HErrn Christo und den Heil[igen] Engeln begabet wird? […] Auf dem Kirchhof wurde die Baar noch einmal geöffnet und die auf dem Tuch gehefftgewesene Sträusse zu den übrigen hineingethan: als ich nun des seel. Kindes gesicht noch einmal aufgedeckt sahe und die Sonne am hellen Himmel vor mir stund, mußte ich, auf beede deutend, zu denen, die mir nahe stunden, sagen: Talis erit.24So wird das liebe Kind, das iezo ihm selber nimmer gleich sieht, außsehen wie die Sonne. Und in solcher Hoffnung wäre mir ein leichtes gewesen, dem Todtengräber die Schaufel (die mir doch bey des seel. Alb[ert] Frid[rich] begräbniß gewaltig im herzen rumort hat) ab zu nehmen und das Ruhekämmerlein eigenhändig zu beschliessen. Ich kam getrost in die Kirch.“
Die bekannten endzeitlichen Berechnungen Bengels haben etwas mit der Bewältigung dieser Trauer zu tun. Bei der Vorbereitung der Predigt zum 1. Advent 1724 folgt er einer Eingebung, die in Offb 13,18 genannte Zahl 666, die „Zahl des Tiers“, könne als Jahresangabe verstanden werden. Dann könnte man sie mit den in Offb 13,5 genannten 42 Monaten, der Dauer der widergöttlichen Lästerungen des Tiers, vergleichen.25 Er nennt dies die Entdeckung des „apokalyptischen Schlüssels“.26
22 Bengel an die Eltern Glöckler und Seeger 7. 9. 1722, in: Bengel, Briefwechsel, Bd. 1, Nr. 312 (Hervorhebungen im Text). 23 2Sam 19,1. 24 So wird es sein, vgl. Mt 13,43. 25 Vgl. Bengel an Jeremias Friedrich Reuß 22. 12. 1724, in: Bengel, Briefwechsel, Bd. 2, Nr. 432 mit Anm. 16. 26 A. a. O., Z. 73f.
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Die anschließenden Berechnungen und willkürlichen Postulate Bengels sind im Einzelnen an anderer Stelle dokumentiert.27 Sie führen ihn zu der Behauptung, die Geschichte des Reiches Gottes sei an historischen Personen festzumachen, etwa an den römischen Päpsten, denen er eine unheilvolle Bedeutung zuschreibt. Außerdem könne man die Geschichte berechnen. Die gesamte Dauer der Welt von der Schöpfung bis zur Vollendung, welche die ganze Geschichte der erfüllten und noch zu erfüllenden biblischen Verheißungen umfasst, sei jetzt einsichtig geworden.28 Nun könnten sich die Liebhaber („amatores“) Gottes auf die künftigen Ereignisse einstellen.29 Bengel setzt das Jahr 1836 als Beginn des ersten Tausendjährigen Reiches Christi fest und löst damit bei vielen Menschen in den ersten Jahrzehnten des 19. Jahrhunderts eine gewaltige Bewegung der Erwartung und Sehnsucht aus, nicht nur in Württemberg. Das Scheitern seiner Berechnungen hat ebenso nachhaltig gewirkt.30 Zurück zum Seelsorger Bengel. Eine Bemerkung im Brief an Reuß vom 22. Dezember 1724 lässt aufhorchen. Bengel teilt Reuß die gottgewollte Entdeckung der Zahl des Tiers vertraulich mit,31 um dann fortzufahren: „Dieser apokalyptische Schlüssel ist von Wichtigkeit und tröstet mich namentlich bey den Trauer-Fällen meiner Familie; denn diejenigen, die jetzt geboren werden, kommen in wunderbare Zeiten hinein.“32 Bengel meint, allen Menschen und sich selbst ein baldiges Ende des irdischen Leids vor Augen stellen zu können, besonders im Blick auf die Kindersterblichkeit. Dass diese als liebende Absicht Gottes verstanden werden muss, wird für ihn jetzt begreiflich angesichts der letzten, besonders finsteren Periode der Herrschaft des Tiers, die er für die Jahre nach 1803 errechnet: „Hier zu Lande sterben sehr viele Kinder hinweg, und auch ich habe aufs neue in meiner Familie diesen Fall erlebt. Da erscheinen mir denn diese Betrachtungen als eine Quelle des Trostes; denn die schönste Lebenszeit, noch mehr aber das höhere Alter der Kinder, welche gegenwärtig sterben, wird in die allerbetrübteste Zeit hinein fallen.“33 27 28 29 30
Vgl. u. a. Mälzer, Bengel, 220–252; Ising, Einführung, Bd. 2, 20–27. Vgl. Bengel an Joachim Lange 27. 2. 1731, in: Bengel, Briefwechsel, Bd. 2, Nr. 648, Z. 94–96. Vgl. Bengel an Marthius 8.–9. 5. 1726, in: a. a. O., Nr. 525, Z. 125f. Vgl. Kannenberg, Verschleierte Uhrtafeln; Ising, Blumhardt, 100f., 207f. (2. Aufl. 114–116. 237–239). 31 „Inveni numeru[m] bestiae, Domino dante“, Bengel an Jeremias Friedrich Reuß 22. 12. 1724, in: Bengel, Briefwechsel, Bd. 2, Nr. 432, Z. 61. 32 „Est haec apocalyptica clavis magna: est etiam solatiu[m] luctuu[m] domesticoru[m]; nam qui nunc nascuntur, tempora mira sunt visuri”, a. a. O., Z. 73f.; Übersetzung nach Burk, Bengels Leben, 265. 33 „Frequentissimae in his terris sunt parvulor[um] mortes, mihiq[ue] ipsi novus obtigit luctus domesticus. Solatii autem loco datam esse mihi statuo observa[ti]onem hanc. Nam infantum nunc morientium flos aetatis ac multo magis senectus incurreret in tempora longe calamitosissima”, Bengel an Marthius 18. 4. 1725, in: a. a. O., Nr. 450, Z. 137–140; Übersetzung nach Burk, Bengels literarischer Briefwechsel, 9.
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Hat Bengel vor Entdeckung des „apokalyptischen Schlüssels“ nur seiner Sehnsucht nach dem ewigen Leben Ausdruck gegeben, so kommt für ihn jetzt auch die Gegenwart als Zeit der Bewährung und Freude auf die Vollendung in den Blick. Aber hat die Gegenwart nicht – über die Ausrichtung auf die Zukunft hinaus – noch einen eigenen Stellenwert? Wie der zum Apokalyptiker gewordene Seelsorger Bengel mit diesem Problem umgegangen ist, wird das Folgende zeigen.
3.
Spiritualität im Spiegel der Seelsorge an Verwandten und Freunden
Das früheste bekannte Beispiel dieser Art sind zwei Briefe aus dem Jahr 1708. Der Tübinger Student, kurz vor dem Repetentenexamen,34 schreibt dem Onkel Christoph Andreas Schmidlin in Neuenstadt, der nach dem Tod seiner Frau auch seinen erstgeborenen Sohn verloren hat. Dem Witwer gibt er zu bedenken, dass dessen verstorbene Frau ein ihm „anvertrautes Gut“ gewesen sei, das Gott jetzt zurückgefordert habe. Andererseits sei Schmidlin dadurch „mit seinem halben Theil schon im Himmel“.35 Dem trauernden Vater schreibt er, Gott habe Schmidlins Sohn den Verführungen dieser Welt entzogen und zu sich in die Sicherheit des Himmels genommen.36 Auch Bengels Trostbrief von 1721,37 geschrieben anlässlich des Todes von Schmidlins zweiter Frau, beschränkt sich auf das „Elend dieses Lebens“ und die Herrlichkeit der Ruhe bei Gott. In Anlehnung an die Strophen 5 und 6 des Liedes von Johann Jacob Schütz: „Sei Lob und Ehr dem höchsten Gut“(1675) 38 weist Bengel darauf hin, Gott werde mit „Mutterhänden“ und „Vateraugen“ für die hinterbliebenen Kinder sorgen. Dem befreundeten Pfarrer Georg Heinrich Hofholz, der sich von einer schweren Krankheit erholt, teilt Bengel 1723 seine Freude über die Genesung mit. Aber er kann es nicht unterlassen, Hofholz an die Todesnähe alles Sterblichen zu erinnern: „[…] daß wir einmal recht in das ienige Treffen müssen, dem wir schon so nahe gewesen seyn. Wir haben alle den Buzen [Eiterpfropfen] der Sterblichkeit in uns; und ich glaube, daß solcher auch in mir schon zu ziemlicher maturität [Reife] gekommen; indessen 34 Repetenten stammen aus dem Kreis der begabten Studenten am Tübinger Stift. Nach dem theologischen Examen legen sie das Repetentenexamen ab und unterrichten ihre früheren Kommilitonen. Auf diese Weise fungieren sie als Bindeglied zwischen Stiftsstudenten und am Stift unterrichtenden Professoren. 35 Bengel an Christoph Andreas Schmidlin 7. 7. 1708, in: Bengel, Briefwechsel, Bd. 1, Nr. 6. 36 Vgl. Bengel an Schmidlin 1. 11. 1708, in: a. a. O., Nr. 8. 37 Vgl. Bengel an Christoph Andreas Schmidlin 2. 7. 1721, in: a. a. O., Nr. 255. 38 EG, Nr. 326.
Spiritualität in der Seelsorge des Pietisten Johann A. Bengel (1687–1752)
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wollen wir die Güte Gottes für besser als unser leben erkennen und unter seiner guten Hand fortgehen, bis Er uns zu sich sammlet.“39
Jemanden, der gerade eine schwere Krankheit überlebt hat, an den Tod zu erinnern, heißt Eulen nach Athen tragen. Aber der Seelsorger Bengel kann hier offensichtlich nicht aus seiner Haut. Auch die Bedeutung der Gegenwart wird von Tod und Ewigkeit geradezu verschlungen: Sie sei eine „neu geschenkte Frist“, um Hofholz „die Kostbarkeit des gegenwärtigen Lebens in Absicht auf die künftige ewige Ernde [Ernte] um so viel klärer [zu] machen.“ Die Kostbarkeit der geschenkten Lebensfrist bringt Bengel hier in Verbindung mit einer „ewigen Ernte“, die offensichtlich als endzeitliche Generalabrechnung der geleisteten Lebensarbeit verstanden werden will. Sollte das Gleichnis von den anvertrauten Pfunden (Lk 19,11–26), auf das sich Bengel hier vermutlich stützt, in der Seelsorge an einem Menschen, dem noch einige wenige Lebensjahre geschenkt sind, tatsächlich am Platze sein? Hat Bengel die im Pietismus häufig anzutreffenden Schwierigkeiten mit dem reformatorischen sola gratia? Wo bleibt der Gedanke, dass Leben gelebt werden kann in der Freude darüber, dass wir von Gott bereits angenommen sind, weil Gottes Sohn für uns mit seinem Leben eingetreten ist? Wo bleibt die selbstkritische Einsicht, dass – bei allem Bemühen um eine Lebensführung, die eines Christen würdig ist – Gottes Erbarmen Priorität hat gegenüber allen menschlichen Versuchen, es besonders gut zu machen, bei denen nicht selten das genaue Gegenteil herauskommt? Das hat Bengel an anderer Stelle durchaus bedacht. Seinem Schwiegersohn Albrecht Reichart Reuß, der sich über die rechte Gnadenempfindung Gedanken macht, schreibt er: „Das gute Zeugniß von der Gnade muß aus dem Buch in unser Herz kommen. Doch ist es mir oben im Himmel, im rechten Archiv, noch besser verwahrt. Die beste Manier ist diese: wir sollen uns mit unserm Herzen recta (geradewegs) zum Herzen des Vaters wenden und das Wort des Evangelii weidlich betrachten […], aber bei solcher activität auch eine lautere passivität üben, daß unsere Freude nicht unser, sondern Gottes Werk seyn möge.“40
Der Akzent darauf, dass der Mensch ein Begnadigter ist, taucht in vielen Bengelschen Seelsorgebriefen auf. Bengel wagt es, die Anrede „Euer Gnaden“ zu hinterfragen und dies zu einem Lehrstück über göttliche und menschliche Gnade zu machen. Gegenüber dem jungen Wilhelm Friedrich Hermann von Francken, dem späteren Kommandanten der württembergischen Festung Hohentwiel, der standesgemäß mit „Euer Gnaden“ anzureden ist, erlaubt sich Bengel die für seine
39 Bengel an Georg Heinrich Hofholz 2. 6. 1723. In: Bengel, Briefwechsel, Bd. 1, Nr. 339. 40 Bengel an Albrecht Reichart Reuß 26. 1. 1739, zit. nach Wächter, Bengel, 276.
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Zeit bemerkenswerte Parenthese: „welcher Titul bei den Menschen viel trefflicher ist, wenn ein begnadigter, als wenn ein Gnaden erzeigender bedeutet wird“.41 Agnes Juliana Winter, eine Cousine Bengels, zitiert 172842 aus einem verlorenen Seelsorgebrief, in welchem Bengel sie, die zur Traurigkeit neigende Frau, „herzl. zum verTrauen auf GOTT aufgemuntert und gestärkt“ habe. Seinen Hinweis auf Röm 6,31 („Ist Gott für uns, wer mag wider uns sein?“) werde sie zeitlebens behalten, auch Strophe 4 des Lutherschen Weihnachtsliedes „Vom Himmel kam der Engel Schar“,43 von Frau Winter zitiert: „was kan uns dann thun die Sünd und tod, weil wir mit uns haben den Wahren GOTT, last zürnen teuffel und die höll, GOTTeß sohn ist worden unßer gesell.“ Bengel hat Frau Winter auf eine Liedstelle verwiesen, die Gottes Erbarmen thematisiert, allerdings – vielleicht aufgrund der speziellen Ängste Frau Winters, vielleicht aus eigener Neigung – nur in Bezug auf Tod, Teufel und Hölle. Wieder ist es Albrecht Reichart Reuß, bei dem es Bengel gelingt, Gottes Freundlichkeit auf eine fröhliche, nach vorn weisende Art zu verdeutlichen. Der 25jährige Reuß solle nicht so selbstkritisch auf sich sehen, sondern auf das, „was der Vater uns in dem heitern Angesicht Jesu Christi [hat] aufgehen lassen“. Er solle einfach dem gnädigen Gott vertrauen, denn: „Wann ein Kind über einem jeden Schritt und Tritt, den es mit seinen noch nicht erstarkten Füssen thut, sich selbst reprimendiren (tadeln) wollte, wem wäre damit gedienet; hielte es nicht sich selbsten nur auf ?“44 Die Hervorhebung göttlicher Gnade und Fürsorge geht bei Bengel einher mit einer Betonung der Buße. Buße geschieht dann, „wann ein Mensch entweder durch die Kraft des göttlichen Worts oder in der Stille, wenn er über seinen Zustand reflectirt, oder durch viele Trübsale, oder aus Gelegenheit der vielen Wohlthaten Gottes in seinem Herzen ergriffen wird und seine vielen und schweren Sünden erkennet“.45
Dabei lehnt Bengel die Festlegung von Stufen der Buße und Bekehrung ab: „Ein jeder muß sich freilich Jesu mit wahrhaftigem Herzen ganz ergeben; das muß bei allen geschehen, aber hiezu bringt Gott nicht Alle auf gleiche Weise; der eine kommt bälder oder später zu diesem oder jenem.“ Auch die im Pietismus verbreitete Ansicht, es müsse einen Bußkampf geben, teilt er nicht. Stattdessen weist er auf das besondere göttliche „Wohlgefallen und Belieben an einem bußfertigen Sünder“ hin.46 41 42 43 44 45 46
Bengel an Wilhelm Friedrich Hermann von Francken 24. 2. 1744, zit. nach a. a. O., 316. Vgl. Agnes Juliana Winter an Bengel 9. 1. 1728, in: Bengel, Briefwechsel, Bd. 2, Nr. 590. EG, Nr. 25. Bengel an Albrecht Reichart Reuß 25. 3. 1737, zit. nach Wächter, Bengel, 261. Äußerung Bengels, zit. nach a. a. O., 413f. Zit. nach a. a. O., 414.
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Mit der Zeit vergrößert sich der Kreis derer, die Bengels Rat wünschen. Hat er es anfangs vorwiegend mit Verwandten und Freunden zu tun – Bengel ist kein Gemeindepfarrer –, wenden sich jetzt auch andere an ihn, etwa eine Frau, die sich nicht näher bezeichneter, wohl sexueller Vergehen schuldig gemacht hat und Reue und quälende Unruhe empfindet. Bengels Antwort fordert eine radikale Erneuerung der Lebensführung, die allerdings nur durch einen Appell an das göttliche Erbarmen möglich sei: „Das ist an sich selbs gewiß, daß keine Sünde so gros, unnatürl., greulich und unmenschlich ist, daß solche nicht solte vertilget werden können. Alle noch so garstige Sündenflecken werden durch das Blut Jesu Christi des Sohns Gottes ausgewaschen bey denen, die sich recht zu diesem Arzt und Heiland halten: und wenn auch der Leib noch so schnöder weise verunehret und entheiliget ist, so ist er eben tod um der Sünde willen, und im Tode wird er recht geschmelzet, daß hernach alles neu wird. Also ist bitten, suchen, anklopfen, flehen, warthen das einzige Mittel, hülfe zu erlangen, und zwar nicht für diese oder jene drückende Sünde allein, sondern für den gantzen zustand des Baumes mit allen seinen Wurzeln, Stamm, Zweigen und Früchten. […] Gott beweise seine Treue und Erbarmung in diesem Anligen! […] Der Vorrath des finstern Unglaubens und der Wust der Unreinigkeit und Sünde kan in all weg viel zu schaffen geben: wie man es aber macht, wenn man im Haus oder Zimmer säubert, daß man alles unsaubere aufsucht, abraumet, auskehret, hernach aber den garstigen Zeug nimmerlang auseinander liset, sondern auf die Schaufel nimmt und wegwirft: so müssen wir es auch mit unserm inwendigen machen. Gottes wort muß alles heilen.“47
So kommt in Bengels bildreicher Sprache auch die schwäbische Kehrwoche zu Ehren. Ein Beispiel für Bengels Seelsorge in seiner späten Zeit, als er an den Schaltstellen kirchlicher und politischer Macht tätig ist, gibt der Briefwechsel von 1748 mit Johann Christian Storr, Hofkaplan in Stuttgart. Im Brief vom 5. September 174848 schildert Storr seine schwierige Situation. Er hat im Winter 1748 am württembergischen Hof eine Predigt gehalten, in denen er Vorfälle kritisiert hat, die sich bei einer Karnevalsveranstaltung des Hofes zugetragen haben. Daraufhin habe ihn Geheimrat Georg Bernhard Bilfinger um künftige Mäßigung gebeten. Storrs Kritik greife die Person des Herzogs an; er solle die Ausdrücke „Karneval“, „Lusthaus“ und „Maskerade“ nicht mehr in der Predigt erwähnen. Storr widerspricht: Christi Kreuz und nicht die Moral sei für Christen die Richtschnur, nach der sie beurteilen, was recht ist. Er bietet seine Versetzung an, worauf 47 Bengel an Unbekannt 23. 3. 1736, zit. nach der handschriftlichen Kopie in der Württembergischen Landesbibliothek cod. hist. fol. 1002,31,I,55r–v. Einen Abdruck bietet Wächter, Bengel, 404–406, einen auszugsweisen Abdruck Burk, Bengels literarischer Briefwechsel, 132– 134. 48 Vgl. Johann Christian Storr an Bengel 5. 9. 1748, zit. nach Extractus et copiae, 245r–247r. Auszugsweise zit. in Burk, Bengels Leben, 137–140.
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Bilfinger ausweichend antwortet. Daraufhin bittet Storr Bengel um Rat. Dieser antwortet am 9. September 1748.49 Storr werfe sich „in den heiligen, seligen willen Gottes hinein“; das habe auch schon dem David unter Saul geholfen. Dennoch solle Storr seine Worte sorgfältig überlegen. Auf die Ausdrücke „Lusthaus“, „Karneval“ usw. könne er künftig verzichten; das sei ja bereits gesagt und habe seine Wirkung entfaltet. Jedoch solle er seinen Vorgesetzten gegenüber betonen, dass er „durch keine vorläuffige Zusage sich verbinden könne“, wenn seine „etwa von der Kraft des Göttl[iche]n wortes durchdrungene Seele den so schröcklich davon abludirenden [abweichenden] Welt-Arten bey einem recenten [erneuten] Anblick abhorrire [davor zurückschrecke]“. Bengels abschließend gegebene eigene Auffassung vom Karneval ist eine Aufforderung zur Gelassenheit. Als Unbeteiligter sehe er unparteiisch „die thörichte WeltLust“ an. Man könne merken, dass die Eitelkeiten des Karnevals „zwar wider den Göttl[iche]n Sinn, aber wider kein besonder-ausgedrücktes Gebott lauffen, keine besondere Angst machen […], und in so fern soll ein Prediger andere nicht nach seinem Geschmack und Gefühl richten, und gleichwol der welt bezeugen, daß ihre werk böse seyn.“
Bengel als Apokalyptiker kommt zum Vorschein in einem seelsorgerlichen Schreiben an von Francken, der sich über die Bedeutung eines Kometen Gedanken macht. Kündigt dieser die letzten Weltzeiten an? Bengel, von der Richtigkeit seiner Berechnungen überzeugt, antwortet: „Der Glaube setzt die Kinder Gottes über die Cometen und alle Natur, darin der Schöpfer sich sonst so mächtig und prächtig beweiset, hinauf, und wenn wir zur Recreation [Erholung, Festigung] unsers Glaubens auf künftige Dinge sehen wollen, so ist an dem Schrift-Himmel, in den Weissagungen, die zuverlässigste Anzeige in die Ferne und Nähe der letzten Weltzeiten zu schauen.“50
Auch die Herbrechtinger Erbauungsstunden befassen sich mit diesem Thema. Bengel erklärt die Offenbarung Johannis in schlichter, verständlicher Weise; Nachschriften werden angefertigt, die er korrigiert.51 So entstehen die „Sechzig erbaulichen Reden über die Offenbarung Johannis“. An Sterbebetten hebt der Seelsorger Bengel die Notwendigkeit der Buße hervor, verkündet aber auch die Majestät der göttlichen Gnade, die Überwindung des Todes und die Freude auf das ewige Leben. Als der württembergische Hofprediger Johann Andreas Grammlich 1728 im Sterben liegt, ist Bengel zugegen.
49 Vgl. Bengel an Johann Christian Storr 9. 9. 1748, zit. nach Extractus et copiae, 247r–248r. Auszugsweise zitiert in Burk, Bengels Leben, 140–142 und Wächter, Bengel, 382f. 50 Bengel an von Francken 24. 2. 1744, zit. nach Wächter, Bengel, 316f. 51 Vgl. Bengel an Jeremias Friedrich Reuß 19. 4. 1745, zit. nach der handschriftlichen Abschrift Württembergische Landesbibliothek, cod. hist. fol. 1002,47,61–63; gedruckt in Burk, Bengels Leben, 388f (D, Auszug); Wächter, Bengel, 345–349.
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Ein Bericht „aus Bengel’s Munde“ wird von Johann Christian Friedrich Burk wiedergegeben:52 „Bengel befand sich mit einigen andern christlichen Freunden53 an dem Todten-Bette des Hof-Predigers Gramlich, und man sang nach dem Willen des Letzteren das Lied: ‚Ruhet wohl, ihr Todtenbeine,/In der stillen Einsamkeit,/Ruhet, bis das End’ erscheine,/ Da der HErr euch zu der Freud’/Rufen wird aus euren Grüften/In die freien HimmelsLüften’ usw.,54 da wiederholte er dem Kranken jeden besonders ergreifenden Ausdruck des Liedes. Am Ende redete er von der Herrlichkeit der Stadt Gottes. [….] Auf dieses drang dem Kranken die Majestät Gottes dergestalt in’s Gemüth, daß er äußerst über sein Elend gebeugt und beschämt wurde. Er winselte, wendete sich im Bette herum und bekannte sein Elend. Bengel sagte: ‚Der Knecht muß eben abbitten.’ Das that er dann mit vielem Winseln und Weinen. Bengel fuhr dann fort: ‚Wenn wir unsere Schuld und Armuth recht bekennen, so kleinmünzelt Gott auch nicht, es gehet königlich zu, Er schenket zehntausend Talente auf Einmal.‘ Endlich kam der Kranke wieder zu mehrerer Heiterkeit, welche dann bis auf sein Ende fortgewähret hat.“
4.
Spiritualität im Spiegel der Seelsorge an seinen Schülern
Wenn der Präzeptor Bengel die Einheit von Bildung und Frömmigkeit propagiert, muss er seinen Schülern ein Lehrer und zugleich Seelsorger gewesen sein. Die Korrespondenz mit ehemaligen Denkendorfer Schülern bestätigt dies. So schreibt etwa Ernst Gottfried Autenrieth aus dem Tübinger Stift, erst in Denkendorf habe er begonnen, Gott ernsthaft zu suchen. Bengels Mahnungen seien bei ihm lebendig geblieben.55 Matthäus Friedrich Beckh, Frankfurter Armenhausprediger und danach Waisenhauspfarrer in Ludwigsburg, erinnert sich 1735: „Wie offt, wie offt klingt mir nicht noch jezo Ihr Abschieds-Wort, das Sie nach dem Abend-Gebet Sambstags zum Adieu allemahl hinterliessen, Ihr: Colligite animas! [Sammelt eure Seelen!] in den Ohren. Damahls verstunde ich es nicht: jezt aber weiß ich, was es ist: […] wann ich meine Seele sammle[…], so ist mir wohl.“56
52 Vgl. Burk, Bengels Leben, 115–117. 53 Wächter, Bengel, 206 ergänzt: „in Gegenwart der Beata Sturmin und Frau v. M.“. – Beata Sturm (1682–1730), Tochter des Landschaftskonsulenten Johann Heinrich Sturm. Der selbstlose Einsatz der unverheirateten Frau für Arme, Kranke und Witwen, eine ausgedehnte Bibellektüre und Gebet haben ihr den Beinamen einer „württembergischen Tabea“ (Acta 9,36) eingebracht. Ihre Zeitgenossen sehen sie als evangelische Heilige, vgl. Rieger, Die würtembergische Tabea. 54 Vgl. Würtembergischer geistlicher Lieder-Schatz, 1045f. 55 Vgl. Ernst Gottfried Autenrieth an Bengel 5. 2. 1721, in: Bengel, Briefwechsel, Bd. 1, Nr. 241, Z. 52–57. 56 Matthäus Friedrich Beckh an Bengel 22. 11. 1735. Handschriftliches Original: Württembergische Landesbibliothek, cod. hist. qt. 689,I,8.
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Augustin Deschler, in Denkendorf der letzte in der Lokation, der Rangfolge der schulischen Leistungen, erinnert in seinem „affections-briefflein“ daran, wie sich Bengel „zu uns herunterlaßen“ habe; darum könne er ihm vertrauensvoll schreiben. Er dankt für Bengels „Treue und Fleiß“.57 Jeremias Friedrich Reuß, 1716–1719 Primus seines Denkendorfer Studienjahrgangs, sucht später als Tübinger Student Bengels wissenschaftliche Beratung. Er kann sich auf die Erfüllung dieses Wunsches auch gegenüber ehemaligen Schülern verlassen. Dabei achtet Bengel darauf, dass neben der Wissenschaft die Meditation über das rechte Verhältnis zu Gott nicht zu kurz kommt. Reuß solle bei allem wissenschaftlichen Eifer Acht geben, dass das Schifflein seiner Seele keinen Schaden nehme. Bengel erinnert ihn an das „Aufatmen mitten unter der Arbeit“ zum Gebet und zu stiller Selbstbetrachtung. Das Herz dürfe über den Studien nicht leer ausgehen.58 In der Schrift „Denckendorfisches Dic cur hic“ (Sag’, warum du hier bist) 59gibt Bengel seinen Schülern unter anderem acht Regeln an die Hand. Die letzte lautet: „Willst du gelehrt werden, so suche beharrlich den Umgang mit Gelehrten und Frommen. Gelehrten und Frommen höre bescheiden und ehrerbietig zu. Gelehrte lies eifrig; Gelehrte aber, die zugleich fromm sind, mache dir gründlich zu eigen. Endlich: halte dich selbst niemals für gelehrt und niemals für fromm!“60
Einige wenige Schüler, die mit der strengen Klosterordnung nicht zurechtkommen, häufig gegen sie verstoßen und schließlich aus der Schule fliehen und die vermeintliche Freiheit des Soldatenberufs suchen, haben Bengel und seinen Kollegen zu schaffen gemacht. Manchmal wird die anfängliche Nachsicht, die man übt, um den Verweigerern eine zweite Chance zu geben, enttäuscht.61 Andere, etwa der vaterlose und rebellische Philipp Conrad Burckh, der auch durch Visionen auffällt, finden schließlich doch noch den Weg ins Pfarramt. Burckhs verzweifelte Mutter Christina Juditha schreibt an Bengel, er möge doch mit ihrem Philipp Conrad verfahren wie mit seinem eigenen Sohn. Dies hat er offensichtlich getan; Frau Burckh dankt für seine treuen Bemühungen.62 Ein Fall ist dokumentiert, in dem Bengel es gewagt hat, einen hochrangigen Kollegen an dessen pädagogische Pflichten zu erinnern. Seinen Onkel Johann 57 Augustin Deschler an Bengel 15. 8. 1719, in: Bengel, Briefwechsel, Bd. 1, Nr. 204. 58 Bengel an Jeremias Friedrich Reuß, in: a. a. O., Nr. 265, Z. 98f. 59 Abschrift von Bengels Hand: Württembergische Landesbibliothek, cod. poet. et phil. 152a,5. Zusammenfassung und auszugsweise Übersetzung: Hermann, Bengel, 250–252. 60 Regulae alumno Denckendorfino tum vitae tum studiorum observandae in der Übersetzung von Hermann, Bengel, 252. 61 Etwa beim Klosterschüler Johann Georg Schimming. Vgl. Propst Johann Eberhard Knoll und Bengel an den Herzog von Württemberg 6. 3. 1726, in: Bengel, Briefwechsel, Bd. 2, Nr. 511. 62 Vgl. Christina Juditha Burckh an Bengel 28. 11. 1718, in: Bengel, Briefwechsel, Bd. 1, Nr. 175, Z. 22–25. Vgl. Nr. 182.
Spiritualität in der Seelsorge des Pietisten Johann A. Bengel (1687–1752)
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David Schmidlin, Abt der Klosterschule Maulbronn, informiert Bengel 172563 über den schlechten Ruf der Maulbronner Schüler, denen Unredlichkeit, Frechheit, Alkoholmissbrauch und Gewalttätigkeit vorgeworfen werden. Man sehe eine Ursache darin, dass Schmidlin keine Strafen dafür verhänge; seine Frau begünstige das Einschleppen von Wein in die Klosterschule. Schmidlin möge bedenken, dass sich seine Schüler in Seelengefahr befinden. Es gebe auch eine falsch verstandene Barmherzigkeit. Stattdessen sei Strenge angebracht; die Sorge für die Schüler müsse manchmal auch misstrauisch sein.64 Abschließend sei angemerkt, dass angesichts der bekannten theologischen Differenzen mit Zinzendorf und den Herrnhutern65 auch Bengels Spiritualität entsprechende Reibungspunkte aufweist. Gegenüber Albrecht Reichart Reuß, der den Herrnhutern nahesteht, kritisiert Bengel Zinzendorfs Blut- und Wundenlehre: „Die sämmtliche Pflanze der heilsamen Lehre [des Evangeliums] hat Hr. Graf [Zinzendorf] abgeblattet: vom Mark selbs hat er ein Stücklein, nemlich ein Gefühl oder Phantasie […] vom Blut und Wunden, herabgeschnitten; und das wächst bey ihm jetzt aus cum summa luxurie (mit höchster Üppigkeit). Das kann unmöglich gut thun. […] Unter dem Schein der höchsten und zärtlichsten Liebe wird eine höchst incivile (ungebührliche) Familiarität gegen den Gekreuzigten, und auch gegen den Vater und den heiligen Geist, eingeführet, und durch sothane [so beschaffene] Lieder wird bey solchen Seelen, die nicht bereits zu einer grossen Lauterkeit gekommen sind, auch der niederste Grad der Furcht und des Respects vor der ewigen Majestät gedämpfet.“66
5.
Zusammenfassung
Das Bild von Bengels Persönlichkeit trägt in der Literatur des 19. Jahrhunderts hagiographische Züge.67 Der neuere Versuch Gottfried Mälzers (1970), Bengel gerecht zu werden, ohne ihn als Vorbild zu überhöhen, nennt seinen Hang zum Individualismus, seine Neigung zum Abwarten, seine Strenge und Genauigkeit. Dabei werden auch gegenteilige Charakterzüge nicht vergessen: Großzügigkeit und Milde, heitere Gelassenheit, demütige Größe auf der Grundlage einer lebendigen Frömmigkeit. In den 1980er Jahren hat sich Martin Brecht dem Seelsorger Bengel gewidmet, unter anderem mit der Hoffnung, Bengels biblische 63 Vgl. Bengel an Johann David Schmidlin April(?) 1725, in: a. a. O., Nr. 454. 64 Vgl. a. a. O., Z. 45–49. 65 Vgl. Bengel, Abriß der sogenannten Brüdergemeine; Hermann, Bengel, 422–433; Mälzer, Bengel, 252–283; ders., Bengel und Zinzendorf, Witten 1968; Ising, Bengels Protest, Bd. 1, 55– 60. 66 Bengel an Albrecht Reichart Reuß 21. 2. 1746, zit. nach Wächter, Bengel, 309f. 67 So etwa Burk, Bengels Leben, 36–184; Wächter, Bengel, 155–207; kritisch dazu Mälzer, Bengel, 387.
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Sprachschule könne dazu helfen, „Aporien und Defizite heutiger Seelsorge an Kranken, Sterbenden und Trauernden zu beheben“.68 Auch diese Untersuchungen gründen auf dem umfangreichen Material, das Bengels Briefe und Schriften zum Thema bieten, und sind somit als Ergänzung zum vorliegenden Text zu lesen. Mein Versuch, die Person Bengels und damit auch den Bengel zu verstehen, der sein Verhältnis zu Gott bedenkt, beginnt in seiner Kindheit. Frühzeitig mit kriegerischer Gewalt konfrontiert, zieht sich die Antithese von der bösen Welt und der herrlichen Ewigkeit wie ein roter Faden durch sein Denken. Das beginnt bei den frühen Seelsorgebriefen, setzt sich fort in seinem Leid über den Verlust vieler Kinder und kulminiert in der apokalyptischen Sicht einer korrumpierten Vergangenheit und Gegenwart, die auf die Herrlichkeit Gottes zuläuft, deren erste Manifestation auf Erden das 1836 beginnende erste Tausendjährige Reich Christi sein soll. Noch beim alten Bengel lässt sich trotz größer werdender Gelassenheit der Grundton vernehmen: „der welt bezeugen, daß ihre werk böse seyn“.69 Dabei lässt er sich durchaus auf diese Welt ein. Als Student und wissbegieriger Reisender bemüht er sich um einen weiten Horizont, um das Kennenlernen anderer Überzeugungen, etwa des radikalen Pietismus. Der Denkendorfer Lehrer kann die Frömmigkeit, die er seinen Schülern vermitteln möchte, als auf Gott zentrierte Weite des Denkens verstehen. Bei allem wissenschaftlichen Fleiß, den er von ihnen erwartet, ermahnt er sie zu einem „Aufatmen mitten unter der Arbeit“, einer Reflexion der Glaubenswahrheiten, verbunden mit kritischer Selbstbesinnung. Der Hochschätzung eines fleißigen, geordneten, gottgefälligen Lebens entspricht die Betonung der Buße. Diese betrifft nicht nur Menschen, die aus dem gottgefälligen Leben herausgefallen sind, sondern auch Christen, die sich über ihr Leben Illusionen gemacht haben. In beiden Fällen wirkt die Kraft des göttlichen Worts, das die Herzen bewegt und verwandelt. Von Stufen der Buße und Bekehrung möchte Bengel, anders als manche Pietisten, nicht reden, auch nicht von angeblich notwendigen Bußkämpfen. Seine Rede von der Buße zielt nicht auf Menschen, die gar nicht selbstkritisch genug sein können. Auch wer sich Gedanken macht, ob er die göttliche Gnade bereits recht empfunden habe, bekommt Bengels „heitere Gelassenheit“ zu spüren. Gnade ist nicht Objekt skrupulöser Betrachtung, sondern eine Kraft, die das Leben verwandelt. Bengel ist davon überzeugt, dass bei einem bußfertigen Menschen „keine Sünde so gros, unnatürl[ich], greulich und unmenschlich ist,
68 Mälzer, Bengel, 390–399; Brecht, Bengels theozentrische Seelsorge, 364. 69 Siehe oben S. 412.
Spiritualität in der Seelsorge des Pietisten Johann A. Bengel (1687–1752)
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daß solche nicht solte vertilget werden können“.70 Die Traurigkeit der Welt wird von Gott triumphierend überwunden.
Literatur Quellen Bengel, Johann Albrecht, Briefwechsel, Bd. 2: Briefe 1723–1731, hg. von Dieter Ising (TGP VI,2), Göttingen 2012. –, Briefwechsel, Bd. 1: Briefe 1707–1722, hg. von Dieter Ising (TGP VI,1), Göttingen 2008. –, Leben Herrn Jo. Albrecht Bengels 1721, in: Wilhelm Keller, Von göttlichen Dingen. Drei Aufsätze über Bibel und Gebet von Johann Albrecht Bengel mit seinem selbstverfaßten Lebenslauf, Stuttgart/Basel 1937, 9–27. –, Abriß der sogenannten Brüdergemeine, in welchem die Lehre und die ganze Sache geprüfet …, Stuttgart 1751. –, Sechzig erbauliche Reden über die Offenbarung Johannis: oder vielmehr Jesu Christi; sammt einer Nachlese gleichen Inhalts; beedes also zusammengeflochten, daß es entweder als ein zweyter Theil der erklärten Offenbarung, oder für sich als ein bekräftigtes Zeugniß der Wahrheit anzusehen ist, Stuttgart 1748. –, Das Leben Herrn Jo. Albrecht Bengels, des Closters Denckendorff Ober-Praeceptoris und Predigers (Text von Bengel 1721), in: Johann Jacob Moser, Erläutertes Würtemberg Oder Sammlung allerhand Alt- und Neuer Schrifften, Observationen und Urkunden, wodurch die Civil- Kirchen- Gelehrte und Natürliche Historie, auch das Staats- und Land-Recht des Hertzogthums Würtemberg einiges Licht erhält … Teil 1, Tübingen 1729, 211–226. –, Denckendorfisches Dic cur hic oder Limites et Methodus studiorum Alumni Denckendorfini, handschriftlich Denkendorf 1713. Burk, Johann Christian Friedrich, Dr. Johann Albrecht Bengels literarischer Briefwechsel. Eine Zugabe zu dessen Leben und Wirken, Stuttgart 1836. –, Dr. Johann Albrecht Bengel’s Leben und Wirken, meist nach handschriftlichen Materialien bearbeitet, Stuttgart 1831. Extractus et copiae [Auszüge und Abschriften] einiger Briefe an den seeligen Bengel und von ihm an andere. Landeskirchliches Archiv Stuttgart, Nachlass Sigmar Zeller [Abschriften von Christian Gottlieb Williardts 1755ff]. Rieger, Georg Conrad, Die würtembergische Tabea oder das merckwürdige äussere und innere Leben und seelige Sterben der weyland gottseeligen Jungfrauen Beata Sturmin …, Stuttgart 1730, zahlreiche Nachdrucke. Wächter, Oscar, Johann Albrecht Bengel. Lebensabriß, Character, Briefe und Aussprüche, Stuttgart 1865.
70 Siehe oben S. 411.
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Dieter Ising
Würtembergischer geistlicher Lieder-Schatz: aus alten und neuen schrifftmässigen Liedern gesammlet, und zu Beförderung der Kirchen-, Schul- und Hauß-Andachten, Ludwigsburg/Stuttgart/Tübingen 1732.
Forschungsliteratur Brecht, Martin, Johann Albrecht Bengels theozentrische Seelsorge, in: ders., Ausgewählte Aufsätze, Bd. 2: Pietismus, Stuttgart 1997, 335–368; zuerst in: BWKG 89/1989, 152–187. Hermann, Karl, Johann Albrecht Bengel. Der Klosterpräzeptor von Denkendorf. Stuttgart: Calwer Vereinsbuchhandlung 1937. Ising, Dieter, „Es ist mir so.“ Johann Albrecht Bengels Protest gegen die Hermeneutik Nikolaus Ludwig Graf von Zinzendorfs, in: Beiträge zum III. Internationalen Kongress für Pietismusforschung 2009, hg. von Christian Soboth/Udo Sträter in Verbindung mit Hartmut Lehmann/Thomas Müller-Bahlke/Johannes Wallmann, Bd. 1–2 (Hallesche Forschungen, 33/1.2), Halle 2012. –, Die württembergischen Klosterschulen und Seminare zwischen Pietismus und Aufklärung. Der Klosterpräzeptor Johann Albrecht Bengel (1687–1752) und der Seminarist Johann Christoph Blumhardt (1805–1880), in: BWKG 107/2007, 105–119. –, Radikaler Pietismus in der frühen Korrespondenz Johann Albrecht Bengels, in: PuN 31, 2005, 152–195. –, Johann Christoph Blumhardt. Leben und Werk, Göttingen 2002, St. Goar 22017. –, Einführung zu: Bengel, Briefwechsel, Bd. 2, 9–31. –, Einführung zu: Bengel, Briefwechsel, Bd. 1, 17–47. –, Spiritualität in der Seelsorge des württembergischen Pietisten Johann Albrecht Bengel. Kannenberg, Michael, Verschleierte Uhrtafeln. Endzeiterwartungen im württembergischen Pietismus zwischen 1818 und 1848 (AGP 52), Göttingen 2007. Mälzer, Gottfried, Johann Albrecht Bengel. Leben und Werk, Stuttgart 1970. Mälzer, Gottfried, Bengel und Zinzendorf. Zur Biographie und Theologie Johann Albrecht Bengels (AGP 3), Witten 1968. Noormann, Rolf, Frömmigkeit und Bildung. Johann Albrecht Bengels Denkendorfer Antrittsrede, in: BWKG 112/2012, 45–113.
Dietrich Meyer
Die Spiritualität des reformierten Pietismus am Beispiel Gerhard Tersteegens (1697–1769)
1.
Historische Hinführung
Der reformierte Pietismus in Deutschland steht auf den Schultern der niederländischen Theologie und ihrer Reformbewegungen nach der Synode von Dordrecht 1619. Die Abhängigkeit von den Niederlanden war schon deshalb gegeben, weil die Mehrheit der deutschen Reformierten ihr Theologiestudium an den Universitäten in den Niederlanden absolvierte. Sie lernten dort auch die Häupter der beiden theologischen Schulen kennen: in Utrecht den Systematiker Gisbert Voetius (1589–1676) mit seiner Frömmigkeit des Präzisismus, dem Achten auf eine genaue Erfüllung der biblischen Gebote, und in Leiden den Exegeten Johannes Coccejus (1603–1669) und dessen Bundestheologie. Von beiden haben sie sich zugleich anregen und befruchten lassen. Ein Beispiel dafür ist der in Duisburg geborene Vater des reformierten Pietismus in Deutschland, Theodor Undereyck (1635–1693), der den Anstoß zu seiner Erweckung durch sein Studium 1654–1656 in Utrecht bei Voetius und durch die dortigen Prediger Justus van den Boggart (gest. 1663) und Jodocus van Lodenstein (1620–1677) erhielt. 1658 studierte er nach einem Besuch der heimatlichen Universität Duisburg in Leiden unter Coccejus und blieb ihm bleibend verpflichtet. Der reformierte Pietismus steht also „in unmittelbaren Zusammenhang mit den Vorgängen im Nachbarland“1, gleichzeitig brachte er auf deutschem Boden eine Reihe von profilierten Vertretern hervor. Undereyck2 wurde 1660 Pfarrer in Mülheim/Ruhr und verankerte hier den Pietismus trotz jahrelanger Widerstände von Seiten der beiden Grafen als Unterherren, der eine lutherisch, der andere katholisch, indem er nach niederländischem Vorbild Hausvisitationen durch den Pfarrer und die Ältesten und Katechesen der Jugend am Mittwoch und an Sonntagen durch Pfarrer und Lehrer einführte. Gegen Ende seines Mülheimer Dienstes regte der Lehrer Johann 1 Faulenbach, Anfänge, 233. 2 Vgl. Goeters, Pietismus, Bd. 1, 244–256; Mohr, Undereyck, 269.
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Backhaus ferner eine Predigtbesprechung nach dem Sonntagsgottesdienst anlässlich von Undereycks Predigten über die Wiedergeburt an, die wohl die „kleine Kirche“ von Willem Teellinck (1579–1629) zum Muster hatten. Nach einer kürzeren Tätigkeit als Hofprediger bei der Landgräfin Hedwig Sophie in Kassel nahm er 1670 die Pfarrstelle an St. Martini in Bremen an und konnte auch hier sein Ideal einer erweckten Gemeinde trotz Widerstände von Seiten der Pfarrerschaft heimisch machen, insbesondere dadurch, dass es ihm gelang, Schüler und Freunde in Nachbarpfarrstellen unterzubringen. Undereycks Gemeindearbeit richtete sich gegen ein Schein- oder Beinahchristentum, gegen die „lieb- und leblosen Töchter von Laodicea“ mit ihrem „Blumenschein der Gottseligkeit“. Er war auch literarisch tätig mit zwei Katechismen, Auslegungen und einer über 1.000 Seiten umfassenden Schrift gegen den „närrischen Atheismus“, zu dem er auch die Schwärmer und Scheinchristen rechnete. 1679 gelang es ihm, seinen Schüler Joachim Neander an seine Gemeinde in Bremen zu holen, der dort aber bereits 1680 mit 30 Jahren verstarb. Neander (1650–1680) wurde 1650 in Bremen geboren und erlebte bei einer Predigt von Undereyck eine jähe innere Wende. Auf dessen Empfehlung erhielt er 1671 eine Hauslehrerstelle in Frankfurt, konnte mit seinen Zöglingen nach Heidelberg gehen und sich dort zum Theologiestudium einschreiben. 1674 wurde er als Rektor an der Lateinschule in Düsseldorf angestellt, hielt gelegentlich auch Gottesdienst, wurde aber wegen heimlicher Zusammenkünfte 1677 vom Presbyterium der Gemeinde zur Rede gestellt und des Labadismus (s. u.) verdächtigt. Doch gewann er dank seiner poetischen und musikalischen Begabung mit der Veröffentlichung von 57 seiner Lieder in seinem Todesjahr eine überragende Bedeutung. Seine „Glaub- und Liebes-Übung, aufgemuntert durch einfältige Bundes-Lieder und Dank-Psalmen“ bedeutete eine Wende im reformierten Kirchengesang, einzelne Lieder eroberten in kurzer Zeit die Gesangbücher auch der lutherischen Landeskirchen und zeugen von seiner in der Bundestheologie von Coccejus verankerten Frömmigkeit. Am Beispiel von Neander lassen sich der Schock und die Krisis des reformierten Pietismus beobachten, die das Auftreten und Verhalten von Jean de Labadie verursacht haben. Labadie (1610–1674), geboren in Frankreich, trat in den Jesuitenorden ein und erhielt nach einem Studium der Philosophie und Theologie die Priesterweihe, verließ den Orden aber 1639 und trat 1650 in Montauban zur reformierten Kirche über. Da sein starkes prophetisches Selbstbewusstsein in Genf keine Erfolge sah, folgte er 1666 einer Einladung von Freunden in Middelburg/Niederlande. Seine beredten Aufrufe zu Buße und einer Reform des Lebens, seine Konventikel mit täglichen Bibelbesprechungen und häuslichen Erbauungsstunden, seine überzogene Frömmigkeit führten ihn auch hier schnell in Gegensatz zur reformierten Classis, die ihn 1669 auf einer Synode verurteilte. Seine Anleitung für diese Hauskreise, das „Manuel de Piété“, wurde
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ein in den mystisch-spiritualistischen Zirkeln begehrtes Andachtsbuch. Aus der Kirche ausgeschlossen, gründete er in Amsterdam eine lebendige und wachsende Hausgemeinde. Konflikte mit der Obrigkeit zwangen ihn aber zur Auswanderung, und er fand 1670 in Herford und 1672 in Altona eine neue Bleibe für seine Gemeinde. „Labadismus“ wurde fortan zum Symbol für Kirchentrennung und Kirchenspaltung, und wer immer von der reformierten Lehre abwich und fromme Hauskreise förderte, wurde des Labadismus verdächtigt. Damit wurde das kirchliche Reformanliegen des Pietismus unter einen Generalverdacht gestellt, gegen den sich seine Anhänger stets zu wehren hatten. Die Folgen dieser Krisis waren unterschiedlich. In Bremen erließ der Rat am 15. November 1705 ein Edikt gegen den separatistischen Pietismus. Und dennoch konnte er sich in Bremen behaupten, ja, er erlangte in dem Prediger Friedrich Adolf Lampe (1683–1729) einen Höhepunkt, denn Lampe war ein außerordentlich fruchtbarer und viel gelesener Schriftsteller und Erneuerer der Bundestheologie von Coccejus und von 1720 bis 1727 Professor in Utrecht. In Mülheim/Ruhr dagegen konnte der Pietismus, eingeengt durch Zensur- und Konventikeledikte, keine Unterstützung unter den dortigen Predigern finden und wanderte in Privatzusammenkünfte und Laienkreise aus, die neben den kirchlichen Gemeinden ihre Versammlungen hielten, wohingegen er in Duisburg – hier hatte Lampe von 1706 bis 1709 als Prediger gedient – und im Bergischen Land auch in den Gemeinden gefördert wurde. Wichtigster Beförderer dieses Laienchristentums in Mülheim war Wilhelm Hoffmann (1676–1746) 3, der sich 1694 in der theologischen Fakultät von Duisburg eingeschrieben hat, dann aber kein Examen ablegte. 1713 tauchte er in Mülheim auf und gewann mit seinen Erbauungsversammlungen und -schriften einen nicht unbedeutenden Einfluss. Sein Schüler und Gehilfe war Gerhard Tersteegen, die „wichtigste Gestalt des reformierten Pietismus auf deutschem Boden.“4 Der klevischen Provinzialsynode gelang es nicht, gegen Hoffmann und seine Konventikel vorzugehen, da sie keine Unterstützung durch die Regierung fand und sich Hoffmann der Zensur seiner Schriften dadurch entzog, dass er sie außerhalb in Frankfurt und Büdingen drucken ließ. Die Frömmigkeit Hoffmanns ist die der quietistischen Mystik, wie es der Titel seiner Schrift „Inwendige Glaubens- und Liebes-Übung einer Seelen gegen Gott und dessen Gegenwart“ (Büdingen 1724) verrät. Die Einübung der Gegenwart Gottes war für ihn ebenso zentral wie dann später bei Tersteegen. Durch Besuche in Elberfeld und Solingen stieß er auch im Bergischen Land eine Erweckung an, die er seit 1727 gemeinsam mit Tersteegen durch Sendschreiben begleitete und förderte. Nach seinem Tod
3 Vgl. Goeters, Pietismus, Bd. 2, 386–390. 4 A. a. O., 390.
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1746 in Mülheim übernahm Tersteegen sein Erbe und die Pflege seiner frommen Laienkreise.
2.
Tersteegens Leben und Werk
Der äußere Lebenslauf von Tersteegen ist denkbar einfach und wird hier nach Goeters wiedergegeben.5 Tersteegen wurde in der damals oranischen Stadt Moers am 26. November 1697 in einer frommen reformierten Familie geboren. Sein Vater Henricus ter Steegen, der 1703 starb, war Rentmeister der Stadt, sein Großvater Tuchhändler. Gerhard hatte acht Geschwister, unter denen einer Theologe wurde. Er besuchte das Gymnasium Adolphinum und erwarb sich eine gute Kenntnis des Griechischen und Lateinischen, in der Prima auch des Hebräischen und Französischen. Mit 18 Jahren beendete er die Schulzeit und legte 1715 das Glaubensbekenntnis vor der Gemeinde ab. Seine Begabung hätte ihn für ein Studium qualifiziert, doch aus finanziellen Gründen trat er bei seinem Schwager in Mülheim/Ruhr eine kaufmännische Lehre an, die ihm schwerfiel. In dieser Zeit kam es zu einem völligen Umbruch in seinem Leben, er übte sich in Fasten und Askese und suchte nach religiöser Selbstvergewisserung. In den beiden ersten erhalten gebliebenen Briefen von 1721 spricht er von seinen Gewissenskonflikten, wie sein von der „Sünde eingeschläfertes Gewissen erwecket“ den Forderungen Gottes nicht genug tun konnte und der Zugang zur Gnade durch „vorfallende Fehler“ gehindert war.6 In dieser Situation wurde ihm Wilhelm Hoffmann zu einem Vorbild und Halt, mit dem er seit 1721 verbunden war. Eine Befreiung aus seinem religiösen Ringen wurde ihm die Verschreibung an Jesus mit seinem eigenen Blut am Gründonnerstag 1724 (13. April), in der er sein Leben Jesus zum Eigentum übergab und Jesus nachsprach: „Von nun an biß in ewigkeit, Nicht mein, sondern dein wille geschehe!“7 Durch diesen mit seinem Blut geschriebenen Brief verlobte sich Tersteegen mit seinem „Blutbräutigam“ und „Goel“ [Erlöser] Jesus und blieb fortan ehelos. Dieser Akt ist das eindrücklichste Zeugnis seiner zukünftigen Jesus- und Passionsmystik. Nach dieser Verschreibung stellte Tersteegen sein Leben ganz in den Dienst Jesu durch seelsorgerliche Beratung und seine „Donnerstagsversammlungen“ in Erinnerung an seinen Gründonnerstag. Wohl auf den Rat von Hoffmann hin nahm er 1725 Heinrich Sommer in sein Haus auf und teilte sein Leben mit ihm. Hatte er sich nach Abschluss seiner Kaufmannslehre wohl 1719 zunächst für kurze Zeit in der Leineweberei und dann in der für ihn günstigeren und einträglicheren 5 Vgl. a. a. O., 381–393. 6 Tersteegen, Briefe, 47f (Brief vom 23. 9. 1721). 7 Abgedruckt in Tersteegen, Auswahl, 6f.
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Bandwirkerei betätigt, so widmete er sich seit 1728 nur noch der Übersetzung, Schriftstellerei und Dichtung. Bis zu seinem Tode lebte er in Mülheim, seit 1746 in einer Wohnung gegenüber der Petrikirche. Seine Tätigkeit unterbrach er durch Reisen in die Niederlande, um dortige Freunde zu besuchen,8 oder in die nähere Umgebung ins Bergische Land, nach Duisburg und nach Krefeld zu den Mennoniten sowie 1736 nach Berleburg. Als die Düsseldorfer Regierung auf Beschwerde der reformierten Generalsynode am 28. Juni 1740 ein Konventikelverbot erließ, stellte Tersteegen die Mülheimer Versammlungen ein. Letztlich aber scheiterten diese Behinderungen an der aufgeklärten Berliner Regierung, die die Druckerlaubnis für einzelne Schriften Tersteegens erteilte. Oberkonsistorialrat Julius Hecker, der Mülheim 1754 besuchte, fand an seiner Predigt nichts auszusetzen. Als um 1750 eine Erweckung in den Niederlanden ausbrach und der Duisburger Student Jacob Chevalier mit großem Erfolg auch in Mülheim und Umgebung evangelisierte, nahm Tersteegen seine Versammlungen wieder auf und begleitete die erweckten Kreise. Aus dieser Zeit stammen die Nachschriften seiner Geistlichen Reden bis 1756. Zu Pfarrer Peter Konrad Engels, der 1761 nach Mülheim kam, fand er ein persönliches Verhältnis. Im Siebenjährigen Krieg 1756–1763 geriet Mülheim zwischen die Fronten von Preußen und Frankreich. In seinen letzten Lebensjahren widmete er sich der Überarbeitung seiner Schriften und Gedichte. Aus dem Gesagten ergibt sich eine eigentümliche Disparatheit im Verhältnis Tersteegens zu seiner reformierten Kirche. Auch wenn er immer Mitglied dieser Kirche blieb, so ist andererseits deutlich, dass Tersteegen seiner Kirche Verweltlichung und Veräußerlichung vorwarf. Seine Kirche verhielt sich ihm und seinen Anhängern gegenüber kritisch und verurteilte seine Konventikel und seine Frömmigkeit als nicht rechtgläubig. Tersteegen lehnte aus Gewissensgründen den Besuch des kirchlichen Abendmahls ab, weil ihm eine Teilnahme zusammen mit Ungläubigen als Verunreinigung erschien.9 Er konnte sich auch nicht vorstellen, dass Judas am Abendmahl Jesu teilgenommen habe. Dennoch lehnte Tersteegen eine Separation von der Kirche ab und riet auch anderen nicht dazu, nicht, weil er die Separation grundsätzlich für verwerflich und für eine Sünde hielt, sondern weil er diese Frage als nebensächlich und zweitrangig im Blick auf eine lebendige Gottesbeziehung einstufte. In seinem Aufsatz „Vom Separatismus und der Herunterlassung“ geht er von dem Grundsatz aus: „Ein Mysticus (das ist einer, der die Anbetung Gottes im Geist und in der Wahrheit durch eine glückselige Erfahrung erkannt) hat als ein solcher mit der Separation nichts zu tun.“10 Mit dieser Frage hält er sich nicht auf und im Übrigen gebe es 8 Vgl. a. a. O., 9–34 mit dem Abdruck seines Tagebuchs dieser Reise. 9 Vgl. Tersteegen, Auswahl, 278–293. 10 A. a. O., 297.
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gute, schlechte und böse Separatisten. Für einen Mystiker ist die Frage der Kirchenzugehörigkeit von untergeordneter Bedeutung. So seien die Mystiker auch in der Zeit der Reformation den „damaligen Separatisten (wenn man die Reformatoren und ihre Anhänger so nennen darf)“ nur wenig gefolgt. Mit diesem Hinweis verdeutlicht er, wie wenig ihm die Zugehörigkeit zu Reformation und Protestantismus angesichts der entscheidenden Sorge um die lebendige Gottesbeziehung bedeutet. Er selbst verstand sich als ein „Mysticus“ und fand in den Schriften der Mystiker, die ihm durch den reformierten, in französischen Gemeinden der Pfalz wirkenden Theologen Pierre Poiret (1646–1719) und dessen Bibliotheca mysticorum selecta vermittelt wurden, die Nahrung für seine Seele. Zu diesen Mystikern rechnet er Jean de Labadie, dessen Manuel de piété er als erstes übersetzte (1727); ferner Johann de Bernières Louvigny und brachte Auszüge aus dessen Werk unter dem Titel „Das verborgene Leben mit Christo in Gott“ 1728 heraus. Es folgte 1730 die Imitatio von Thomas von Kempen. Sein umfangreichstes Werk „Außerlesene Lebensbeschreibungen Heiliger Seelen“ erschien in drei FolioBänden 1733, 1735, 1743 und ist eine Einführung mit Textauszügen aus den Biographien großer Mystiker der katholischen, vor allem karmelitischen Mystik. 1751 gab er schließlich noch Auszüge aus dem Werk von Madame de la Mothe Guyon heraus. Was er mit diesen Biographien bezweckte, beschreibt er in der Einleitung der Lebensbeschreibungen: „dass die Vorstellung der Exempel frommer und heiliger Menschen zur Auferbauung der Gemeinde Christi ein Großes beitrage, daß sie kräftiger und lieblicher eindringe als ein bloßer Lehrvortrag“.11 Darum will er Exempel von Menschen vorstellen, „welche alles Äußere nur zu seinem eigentlichen Ziel, nämlich zur Beförderung des inwendigen Lebens, angewandt; solcher Seelen, welche nur das einzig Nötige betrachtet, wie sie nämlich durch Absterbung alles eigenen Lebens, Gottes wesentliche Gemeinschaft wieder in ihnen finden mögen“.12 Tersteegen möchte die Quellen katholischer Mystik für evangelische Christen erschließen. Aus den geistlichen Erfahrungen dieser Christen schöpfte er in seinem seelsorgerlichen Briefwechsel und seinen Erbauungsreden. Tersteegen hatte nicht Theologie studiert und sprach nicht die Sprache theologischer Begrifflichkeit. Als Laie entdeckte er die Sprache der mystischen Innerlichkeit, die er von seinen Vorbildern entlehnte. In seinen Liedern und Sinnsprüchen erreichte er Tiefenschichten im Menschen, die einfache Handwerker und Hausfrauen ansprach und seine Botschaft unvergesslich machte. Er wusste um die Stärkung durch ein gemeinsames christliches Leben und beriet die Gemeinschaft seiner Anhänger auf der Pilgerhütte Otterbeck bei Heiligenhaus. 11 Zit. nach a. a. O., 337. 12 A. a. O., 340.
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Er schrieb ihnen „Verhaltensregeln“, nicht Mönchsgelübde oder eine klösterliche Ordnung auf, um die Gemeinschaft in der Gegenwart Gottes zu erhalten und das Miteinander als einen Raum fortschreitender Heiligung zu ermöglichen.13 In Barmen entstand nach Tersteegens Tod unter Johann Engelbert Evertsen eine weitere Pilgerhütte.
3.
Kennzeichen der Spiritualität Tersteegens
Die Frage, ob man Tersteegen als Mystiker bezeichnen darf, ist in der Forschung umstritten, denn die Frage ist abhängig davon, was man unter Mystik versteht. Wenn man für das wesentliche Kennzeichen der Mystik den Aufstieg des Menschen zu Gott in dem klassischen Schema von purificatio, illuminatio, unio mystica hält, wie es seit Dionysius dem Areopagiten beschrieben wurde, dann hat man bei Tersteegen Mühe, einen solchen Aufstieg zu Gott nachzuzeichnen. Benrath vermeidet es darum, bei Tersteegen von Mystik zu sprechen, so wichtig andrerseits das Symbol des Weges, etwa des christlichen Pilgerwegs bei ihm ist.14 Benrath kann darum das „gottinnige geistliche Leben“ als Ideal Terstegens, wie er es in seinen Geistlichen Reden entfaltet, als durchaus im Rahmen seiner reformierten Erziehung und Kirche schildern.15 Anders Hansgünter Ludewig: Er beschreibt keine Aufstiegsstufen bei Tersteegen, sondern „das Herabkommen Christi bis zu seiner völligen Einwohnung in der Seele des Menschen“ in verschiedenen Erfahrungsschritten des Gebets im Sinne reformatorischen Rechtfertigungsverständnisses.16 Zwar hüte sich Tersteegen vor jedem äußerlichen formalen Schema einer Stufenfolge, aber andrerseits spreche er von Stufen der Läuterung und Erleuchtung und leite Menschen zu einem Fortschritt in der Heiligung an. Darum wagt Ludewig dann doch einen Stufenweg nachzuzeichnen.17 Im Folgenden kann es nur darum gehen, einige wenige Kennzeichen der Spiritualität Tersteegens aufzuzeigen. Tersteegens Distanz zu seiner reformierten Kirche und seine Kritik an dem Scheinchristentum seiner Zeit ist so offensichtlich, dass man seinen leidenschaftlichen Anstrengungen um eine Erneuerung der Frömmigkeit nicht gerecht wird, wenn man nicht seine Kenntnisse der mystischen Traditionen zu verstehen sucht. Tersteegens Öffnung gegenüber der karmelitischen und quietistischen Mystik geht weit über das hinaus, was in der 13 Abgedruckt in. a. a. O., 35–43. 14 Zum Motiv der Pilgerschaft s. Benrath, Tersteegen, 17–19; ders., Predigten, 296–300. 15 Benrath, Tersteegen, 9.22; vgl. dazu: „Mystik meint bei Tersteegen ,Frömmigkeit des inwendigen Lebens‘ oder des ,inneren Weges‘“, ders., Begriff der Mystik, 306. 16 Ludewig, Spiritualität, 214. 17 A. a. O., 216, vorsichtiger in: ders., Mystiker.
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niederländischen Nadere Reformatie und etwa bei Lodensteijn zu beobachten ist. Aber es ist für Tersteegens Irenik genauso typisch, dass er nach 1750 keine Türen zur reformierten Kirche zuschlägt und von seiner Kenntnis geistlicher Erfahrungen immer mit der nötigen seelsorgerlichen Vorsicht und Einfühlung Gebrauch macht.
3.1
Gottes Gegenwart
Zentral für Tersteegens Spiritualität ist die Anbetung und Einübung der Gegenwart Gottes, ein „Grundbegriff der romanischen Mystik“.18 Das hat zuletzt mit vielen Belegen und Nachweis der Traditionsgeschichte die Arbeit von Ludewig über „Gebet und Gotteserfahrung bei Gerhard Tersteegen“ herausgestellt.19 Und er gestaltet demgemäß seine Schrift als eine Interpretation des Liedes „Gott ist gegenwärtig“. Tersteegen hat darüber in seinem Lied „Der selige Wandel in der Gegenwart Gottes“ in einer Art Lebensrückblick Auskunft gegeben:20 „Spät erkannt’ ich diese Lehre, diesen Adel, diese Ehre deiner Gottheit Gegenwart, unverrückt und innig zart“.
Diese lebendige Erfahrung der göttlichen Gegenwart wurde ihm vermittelt durch seine Beschäftigung mit den Gestalten der Mystik in unterschiedlicher Ausprägung, ganz besonders aber bei der Lebensbeschreibung des Bruder Lorenz von der Auferstehung. Er lernte sie hier als eine Form der Einübung christlicher Frömmigkeit kennen, die er als „die ganze Summa der Christlichen Pflichten“21 bezeichnen kann. Diese Übung beschreibt er in seinen Worten folgendermaßen: „Daß wir einfältig- und andächtiglich glauben, daß Gott überall, und auch in unsern Herzen gegenwärtig seye. Daß Er zu dem Ende bey uns und in uns gegenwärtig sey, damit wir ihn daselbst anbeten, lieben und dienen sollen, gleichwie Er sich uns daselbst gerne mittheilen, und seine Lust in uns haben will. … Daß wir uns auf eine liebreiche und stumme Weise mit GOtt unterreden in unserm Herzen; und uns mit Ihm gemeinsam machen, als mit unserm liebsten und besten Freunde. Und zwar zu aller Zeit, und bey allem was uns innerlich oder äusserlich vorkommt, es sey Gutes oder Böses.“
Für Tersteegen war die Gegenwart Gottes nun freilich viel mehr als nur eine christliche Pflicht oder Übung, sondern eine Grunderfahrung christlicher Spi18 19 20 21
Zeller, Bibel, 179. Vgl. Ludewig, Gebet, hier 73–76. Tersteegen, Blumengärtlein, 510–512 (Nr. 80). Ders., Lebensbeschreibungen, Bd. 2, 167f (auch das folgende Zit.).
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ritualität. Diese Grunderfahrung beschreibt sein Lied: „Gott ist gegenwärtig“.22 Dabei ist es charakteristisch, dass er das völlige Aufgeben des eigenen Willens mit dem Bild des „Entsinkens und Verschwindens“ beschreibt. „Meer ohn Grund und Ende, Wunder aller Wunder, ich senk mich in dich hinunter. Ich in dir, du in mir, Laß mich ganz verschwinden, dich nur sehn und finden“ (Str. 5).
Ist damit eine mystische annihilatio, die mors mystica gemeint? Ludewig hat gezeigt, dass dieses Bild bei Tersteegen nicht die Vernichtung der eigenen Existenz, sondern der Ichheit meint. Tersteegen kenne keine Praktik der Versenkung, sondern meine das „Entsinken von der Oberfläche des Ich-Bewußtseins und ein Eintauchen in den Grund der Seele“.23 Tersteegen sagt: „Gottes Wesen achtet sie [die Seele] fast allein vor ein Wesen, und alles andere, in seiner Gegenwart angesehen, vor ein Nicht-Wesen.“ Es geht ihm um die „gäntzliche Vernichtigung“ der begangenen Sünden und „anklebenden Schwachheiten und Eigenheiten“.24 Die zentrale Bedeutung der Gegenwart Gottes für die christliche Existenz wurde Tersteegen bereits durch seinen geistlichen Lehrer Hoffmann vermittelt. Sie war auch für Labadie eine der 12 Maximen christlichen Lebens, die er im Manuel de Piété entfaltet und die Tersteegen so zusammenfasst: 1. Erkenntnis seiner selbst, 2. Buße und Besserung, 3. Verleugnung der Welt, 4. Selbstverleugnung, 5. Losmachung von allem, 6. Vereinigung mit Gottes Willen, 7. Geheime Vereinigung mit Gott, 8. Gegenwart Gottes, 9. Absonderung und Einsammlung, 10. Demütigung, 11. Geistliche Kindheit, 12. Leiden und Dulden. Hier findet man die für Tersteegens Spiritualität entscheidenden Begriffe beieinander, und ihr Reiz besteht darin, dass diese Begriffe um die Vereinigung des Menschen mit Gott herum gruppiert werden, am Ende aber das Leiden und Dulden als ein letzter Akt der Reinigung des Menschen verzeichnet wird. Für Tersteegen ist als reformierten Christen die Erfahrung der Gegenwart Gottes insbesondere in Jesus Christus Wirklichkeit. Gottes Gegenwart wird dann identisch mit „Jesus, dem Leben in uns“, was er in einem weiteren Lied des Blumengärtleins ausführt. Die erste Strophe dieses Liedes lautet:
22 Tersteegen, Blumengärtlein, 340–342; vgl. EG 165. 23 Ludewig, Gebet, 144–150, hier 150. 24 Labadie, Handbüchlein, XXIf (Vorrede § 18). Vgl. dazu auch die durchaus evangelische Beschreibung der „heiligen Einersenckung und Verliehrung seiner selbst in GOtt“: „Dieses thut man durch den Glauben, indem man die Sinnen und Vernunfft übersteiget. Dieses thut man durch die Einsammlung, indem man sich in Gott versencket. Dieses thut man durch die Liebe, indem man sich verliert in GOtt“, a. a. O., 86.
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„Jesu, nimm mich dir, gib dich selber mir! Nicht nur Blicke, nein, im Wesen, mir zum gründlichen Genesen gib dich, weil ich dann Heilig leben kann!“25
Tersteegen kann darum die allgemeine Gegenwart Gottes von seiner „inwohnenden Gegenwart“ unterscheiden: „Nicht in blosser Einbildung und Gedanken; sondern wirklich und wesentlich schöpfet ihr [der inwendigen Christen] Geist, durchs immerwährende Gebet, oder Glaubenshungern und Nahen zu Gott, (als das geistliche Atemholen), göttliches Leben und Stärke aus ihm; so, daß durch diese unverrückte Liebes- und Glaubensgemeinschaft Gottes Leben in sie eingeflösset wird, und sie gar seiner göttlichen Natur theilhaftig werden“ (2Petr 1,4).26
Immerwährendes Gebet und das Hungern und Sich-Sehnen nach Gottes Gegenwart waren Tersteegen wesentliche Merkmale eines inwendigen, wahren Christen.
3.2
Gebet und Selbstverleugnung
Tersteegen hat wie alle Mystiker gern von Graden und Stufen des geistlichen Lebens gesprochen, aber sich doch nie dazu verführen lassen, ein festes Schema daraus zu machen. Freilich an einer Ordnung hat er immer festgehalten, dass Gott nur wirken kann, wenn sich der Mensch von allem Äußeren, von der Welt und seiner Selbstliebe trennt und sich selbst verleugnet. In der Einleitung zur Schrift über das verborgene Leben in Gott formuliert er es so: Die Mystici, die Mystiker sind die „wahre(n) inwendige(n) Christen, welche nicht am Aeusseren hangen bleiben, sondern Gott im Geist und in der Wahrheit dienen und anbethen. mit Abziehung ihrer Liebe und ihres Vertrauens von allen Kreaturen, und von ihnen selbst, und allem eigenen Thun, durch den wahren Glauben und Vereinigung mit Gott in Christo.“27
Abkehr vom Äußeren und Einkehr in Gott sind für Tersteegen zwei Seiten einer Medaille. Eins kann nicht ohne das andere sein. Diese mystische Entgegensetzung von Äußerlichem und Innerlichem beherrscht seine Sicht des geistlichen Lebens und auch seine Wahrnehmung der Gegenwart Gottes. Er kann das auch so sagen: „Verleugnung und Gebet sind Schwestern, die sich lieben. Wer eine von 25 Tersteegen, Blumengärtlein, 565f (Nr. 104). 26 Ders., Weg der Wahrheit, 300f (VI,16). 27 A. a. O., 311f (VI,24).
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sich stößt, hat beide schon vertrieben. Wer eine sucht, der mach‘ der andern sich gemein. Wer beide liebt, wird bald geheiligt sein.“28 Oder: „Mit einem Wort: Gebät, Selbstverläugnung, Wandel in der Gegenwart GOttes, das ist unsere Religion, worin wir unser Ziel können erreichen.“29 Diese Polarität, diese gottgewollte Verneinung alles Äußeren, um Raum zu schaffen für das Innere, beherrscht auch sein Schriftverständnis. „Denn alles, was äusserlich ist, ist nicht wesentlich, sondern hat alles seine Absicht und Grund in und aufs Geistliche.“30 Und es bedeutete auch, dass er in den Gnadenmitteln der Kirche, die er in einer Reihe mit bloßem buchstäblichem Wissen und Andachtsübungen nennt,31 nur äußere Stützen sah: „Die Gnadenmittel sind wie Adern an dem Leib, das äußre Fleisch und Haut sind Lehr und Werk und Pflichten, die auch ein toter Heid‘ kann von Natur verrichten; ich leb nicht wie ein Christ, solang ich so nur bleib; Geist ist es, der mir fehlt, sonst hilft mir nichts, fürwahr.“32
Über diese für ihn von Gott fest vorgegebene Ordnung hat sich Tersteegen am ausführlichsten in seinem gegen die Herrnhuter gerichteten „Warnungsschreiben wider die Leichtsinnigkeit“ geäußert.33 Darin wendet er sich gegen das in Holland auftretende „neue Evangelium, das von keiner Verleugnung, wirksamen Treue und notwendigen Fortgang in der Heiligung wissen will.“ Die holländischen Freunde hatten ihm geschrieben, „daß einige Seelen nichts hören wollen von den Zubereitungen, um zu der Göttlichen Vereinigung zu gelangen“ und dass das Drängen auf Verleugnung „nur Gesetz und kein Evangelium sei“.34 Demgegenüber argumentiert Tersteegen mit der heiligen Schrift, „daß zu dem Stande der Gnaden und Wiedergeburt Dispositionen und Zubereitungen Nota Bene [beachte es wohl, D.M.] von Gott gemacht werden“. Und als biblische Belege führt er die Seligpreisungen der Bergpredigt und Jesu Trostworte an alle „Hungrigen und Durstigen, die Mühseligen und Beladenen, die Armen und Kranken“, auch Jesu Ruf zur Buße und seine Aufforderung zur Verleugnung aller Dinge an seine Jünger an. Er folgert daraus: „Man mag nun dieses Vorhergehende nennen entweder einen Stand unter dem Gesetz, oder den Zug des Vaters, oder den Dienst Johannis, oder den Stand der Buße und Bekehrung, so kommt’s auf die Worte nicht an, wenn man nur über die Sache nicht zu leichtsinnig hinüberspringt oder mit unbescheidener Geringachtung davon redet.“35 Im Folgenden 28 29 30 31 32 33 34 35
Ders., Blumengärtlein, 78f. Ders., Briefe, Bd. 2, 517 (1766). Ders., Weg der Wahrheit, 63 (I,6). Vgl. Tersteegen, Auswahl, 197. Tersteegen, Blumengärtlein, 254. Abgedruckt bei Tersteegen, Auswahl, 224–251. A. a. O., 226f. A. a. O., 232.
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verdeutlicht Tersteegen, dass auch im Stand der Gnade die Gläubigen die Verleugnung üben müssen, ja, dass die Gnade sie darin anleite. Darum gelte das Gesetz im Sinne des tertius usus legis ganz wie in der reformierten Tradition üblich auch für die Gläubigen. Die Gnade „unterweise in der Verleugnung aller vergänglichen Lüste (Tit. 2,11.12). … Sie ermahnt sie zum Absondern, Ausgehen und das Unreine nicht anzurühren (2. Kor. 6,17), zum Kreuzigen, Töten und zum Reinigen von allen Befleckungen des Fleisches und des Geistes (Gal. 5,24; Röm. 6,8; Kol. 3,5; 2. Tim. 2,11; 2. Kor. 7,1; 1. Joh. 3,3).“36
Am Ende seines Briefes an die holländischen Freunde fasst er seine Ausführungen zusammen: „Außer der Welt, außer der Sünde, außer sich selbst in Christo sein, das ist unter dem Evangelium sein. Kehrt man sich außer dem Geist, aus Christo hinaus, geht man in oder durch sich selbst zu Werk, dann ist man nicht mehr rein Evangelisch. … Lebt ausgekehrt, so werdet ihr allerorten (auch im Evangelium) nichts als Gesetz und Verdammung finden. Lebt eingekehrt, so wird euch alles (auch selbst das Gesetz) das reinste Evangelium predigen.“37
Wichtiger als eine Stufenfolge der Heiligung und mystischen Innerlichkeit ist Tersteegen die Wahrung dieser grundsätzlichen Scheidung von äußerlich und innerlich, von ausgekehrt und eingekehrt, die Trennung von Ungöttlichem und Göttlichem, von amor sui und gratia Dei.
3.3
Entäußerung und Verinnerlichung
Diese Polarität war für ihn geradezu ein homiletischer Grundsatz. Seine Geistlichen Reden wollen dem Hörer verdeutlichen, wie sehr er sich an Äußeres, Vergängliches, eigene Wünsche und Sorgen hängt, und welcher Trost von der Kraft und Herrlichkeit der gnädigen Gegenwart Gottes ausgeht. Als Beispiel mag das Fragment seiner Ansprache über 2Petr 3,11 in Krefeld dienen.38 Tersteegen zeigt die Vergänglichkeit allen menschlichen Besitzes auf, so dass dem Zuhörer seine gänzliche Armut und Leere bewusst wird und er nachdrücklich auf die Herrlichkeit Gottes verwiesen wird. In der Rede über Ps 73,23–2439 schildert Tersteegen die Bedenklichkeiten und Versuchungen eines Pilgers zur Ewigkeit und begründet dies: Es geschieht zur „immer tieferen Bekanntmachung unseres eigenen Herzens, damit man nemlich seiner Verderbnissen, Unarten und Eigenheiten immer mehr und mehr gewahr werde“ und „seine gäntzliche Ohn36 37 38 39
A. a. O., 242. A. a. O., 249. Vgl. Tersteegen, Geistliche Reden, 1–4 Vgl. a. a. O., 94–120.
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macht“ erkenne. Und er fährt dann fort: „O Seele, werde doch nicht matt“ und kleinmütig bei der Erkenntnis dieses Elendes. „Gehe in das Heiligthum und dencke, es seye lauter Gnade, daß dir der HErr deinen Sünden-Schlamm so recht aufdecke.“40 Und am Schluss seiner Ansprache fasst er, den Predigttext aufnehmend, zusammen: „Du hast mich angefaßt bey der rechten Hand. Der HERR kann die Seele nicht so leicht recht zu fassen kriegen. Wir sind zu natürlich, wir sind zu sinnlich, wir sind gar zu sehr ausgeschweift in unserem Leben, Wesen und Wandel. […] laßt uns aber in einem steten Ankleben an JESU (dennoch bleibe ich stets bey dir) auf seine Leitung genau Acht geben. O da werden wir gewahr werden, wie uns der HERR aus einer Absterbung in die andere, aus einem Ausgang in den andern einführen werde“ zu einem neuen Eingang in seine Gemeinschaft.41
Die Polarität von Gesetz und Evangelium in der lutherischen Tradition wandelt sich bei Tersteegen zu der Dialektik vom Ausgang des Menschen aus sich selbst zum Eingang in die göttliche Gemeinschaft, vom Absterben des alten zu neuem Leben des eingekehrten Menschen. Es ist nun nicht mehr der Gegensatz von Gericht und Gnade, auch wenn Tersteegen diese Begriffe verwenden kann, sondern von Loslassen und göttlichem Zuspruch, Selbstverleugnung und verborgener Gemeinschaft mit Christus, Ausleerung und ewiger Fülle, Unruhe und innerem Frieden, Ausgang und Heimkehr, Sterben und neuem Leben. Nur gelegentlich spricht Tersteegen wie der hallesche Pietismus davon, dass der Wille des Menschen zu brechen sei, um zu einem Durchbruch und einer Bekehrung zu gelangen.42 Ihm liegt nicht an einem einmaligen Erlebnis des Bußkampfes und einem Datum der Bekehrung, sondern an der ständigen von Gott gewollten Doppelbewegung des Verlassens der Welt und Einkehrens in Gott.
3.4
Geistliche Lieddichtung
Tersteegen wäre möglicherweise immer als Außenseiter von der Kirche abgetan worden, wenn er nicht durch seine Lieder die Gesangbücher der Kirchen erobert hätte. Seine Denksprüche und Lieder ließ er schon früh (1729) in seinem „Geistlichen Blumengärtlein“ drucken. An der Ergänzung und Verbesserung dieses Buches hat er bis in sein Alter gearbeitet. Zugleich gab er für seine Freundeskreise eine Neuauflage des Gesangbuchs von Neander, den sog. ‚Großen Neander‘ unter dem Titel „Gott-geheiligtes Harfen-Spiel der Kinder Zion“43, 40 41 42 43
A. a. O., 108. A. a. O., 119f. Vgl. Tersteegen, Weg der Wahrheit, 295 (VI,13). 5. Auflage Kleve 1768.
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heraus, in dem er einen großen Teil seiner Lieder, aber auch von Luther und Paul Gerhardt unterbrachte. In dem ersten Teil des Blumengärtleins, den „Schlußreimen“ oder kurzen Sinnsprüchen kommt die typische Frömmigkeit Tersteegens besonders deutlich zum Ausdruck: „Klein und rein und abgeschieden, sanft, einfältig, still, im Frieden willenlos und innig froh: Ach wär mein Gemüte so!“44
Liest man diese Reime, ohne das Zentrum von Tersteegens Frömmigkeit zu kennen, so können sie sehr missverständlich sein und mit einer stoisch-quietistischen Lebensauffassung verwechselt werden. Ihr Geheimnis besteht gerade darin, dass sie das Eigentliche, das Wesentliche des christlichen Glaubens, Gottes Gegenwart in Christus, nur andeuten. Nur wenn man weiß, was er meint, nur wenn man ihr Geheimnis entschlüsseln kann, machen sie Sinn, sagen sie mehr, als da steht. Dass „Kleinsein“, „Abgeschiedensein“, „Willenlossein“ ist die Kehrseite, ist die von Gott gewollte Disposition des Gemüts, damit er zum Menschen reden, damit er gegenwärtig sein kann. Im zweiten Teil des Blumengärtleins fasst Tersteegen Sprüche aus den vier großen Propheten und aus dem Neuen Testament und den Psalmen in Reimen zusammen. Im dritten Teil, in seinen Liedern, tritt das Evangelium und biblische Fundament viel stärker in den Vordergrund und war darum auch besser geeignet für eine Rezeption in der Kirche. Die darin enthaltenen Natur- und Tageszeitlieder, in denen er vom Äußeren auf eine geistliche Deutung führt, gehören zu seinen eindrücklichsten Liedern. Zinzendorf hat als erster Lieder Tersteegens in ein Gemeindegesangbuch aufgenommen.45 Sein „Herrnhuter Gesangbuch“ von 1735 bietet neun seiner Lieder, andere Gesangbücher folgten ihm. Aber erst im 19. Jahrhundert gelangten durch den Einfluss der Erweckungsbewegung seine Lieder auch in die landeskirchlichen Gesangbücher. Die in diesen Liedern enthaltene Absage an Welt, Eigenheit, Zeit und Vergänglichkeit machen den eigentümlich Tersteegenschen Klang aus, der seine mystische Erbschaft ist und trotz seiner Weltabgewandtheit anspricht, weil er das Geheimnis und die Erfahrung der Gegenwart Gottes durchscheinen lässt. Man denke an Zeilen in seinen Abendliedern wie: „Nun kehr ich ein, Herr, rede du allein beim tiefsten Stillesein zu mir im Dunkeln.“46 Oder: „Man muß wie Pilger wandeln, frei, bloß und wahrlich leer; viel sammeln, halten,
44 Tersteegen, Blumengärtlein, 39 (Nr. 20). 45 Vgl. dazu und im Folgenden Bunners, Lieder, 82–92. 46 EG 480,3.
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handeln macht unsern Gang nur schwer. Wer will, der trag sich tot; wir reisen abgeschieden, mit wenigem zufrieden; wir brauchen’s nur zur Not.“47
3.5
Jesu versorgende Liebe
Nun könnte man vermuten, dass Tersteegen bei seiner Konzentration auf den inwendigen Menschen keinen Blick für seine Nächsten hatte. Tatsächlich stand aber sein gesamtes Wirken im Dienst der Freundeskreise, die er begleitete, und das betrifft insbesondere seinen regen Briefwechsel und seine Besuchsreisen. Er pflegte Kranke wie seinen geistlichen Lehrer Hoffmann, seine Haushälterin ließ er für Arme und Kranke eine Mahlzeit kochen. Seinen Anhängern wurde er zu einem geistlichen Führer, dessen Worte zählten. Jüngst hat Kick Bras Tersteegens Tätigkeit als Seelenführer (spiritual director, mystagogue) an dessen intensivem Briefwechsel mit seinem holländischen Freund Adriaan Pauw dargestellt. Er bezeichnet Tersteegens geistliche Führung als dreifach: „(1) clarifying his spiritual experience, and (2) discerning what benefits and what hinders spiritual growth“, (3) trying to „change Pauw’s view of himself with respect to God“.48 Dabei fällt das Hauptgewicht auf diesen letzten Aspekt, den er mit Waaijman als „transformation of perspective“ beschreibt.49 Pauw muss lernen, seine inneren und äußeren Befürchtungen anzunehmen, denn nur die annihilatio seines Selbst in kindlicher Übergabe an die göttliche Führung gibt ihm den inneren göttlichen Frieden. Es ist erstaunlich, dass Tersteegen über sehr gute medizinische Kenntnisse verfügte und in stetem Austausch mit den pietistischen Ärzten seiner Zeit stand, um sich zu informieren oder Rezepturen zu bekommen. Christa Habrich hat aus medizinhistorischer Sicht diese Seite Tersteegens untersucht und die Kontakte zu den Ärzten seiner Umgebung: Jacob Lauterbach, Samuel Collenbusch, dem Duisburger Professor Johann Gottlieb Leidenfrost, vor allem aber zu dem inspirierten Arzt Johann Samuel Carl in Berleburg und den Hallensern Christian Friedrich Richter und Georg Ernst Stahl aufgezeigt.50 Einige der Medikamente, die er mit seinem Freund Heinrich Sommer in Mülheim herstellte, waren das rothe Pulver, Hitzpulver, Magenelixier, Rhabarberpulver, die Polychristpillen nach dem Rezept von Carl, die nach der Anweisung von Richter hergestellte Essentia dulcis, ein Lebensbalsam mit Muscus, schwarze Tropfen, Goldpulver usw.51, worüber er in Briefen gelegentlich informiert. Hier ist die theologische 47 48 49 50 51
EG 393,4. Bras, Mystagogy, 251f. Vgl. Waaijman, Spirituality. Vgl. Habrich, Tersteegen, 168–172. Vgl. a. a. O., 173–176.
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Begründung für dieses ausgesprochen medizinische Interesse von Bedeutung, das Habrich neben der Gottesebenbildlichkeit des Menschen in der „versorgenden Liebe Jesu“ sieht, worüber Tersteegen unter anderem anhand von Joh 19,25–27 am Palmsonntag 1755 predigte.52 Mit dieser seiner Arbeit stand Tersteegen ganz in der Tradition des Pietismus, es entsprach aber auch der monastischen, vor allem benediktinischen Tradition.
4.
Abschließende Beurteilung
Tersteegen hat sich selbst in der Linie aller wahren Mystici mit den Patriarchen, den Heiligen des Alten Testaments, den ersten Christen usw. gesehen.53 Der Begriff Mystik meint bei ihm also keine bestimmte Methode oder Tradition, sondern ist ihm ein Ausdruck für eine lebendige Gottesbeziehung von Gläubigen in allen Konfessionen und Zeiten. Auch wenn er zugeben muss, dass die meisten Mystiker zur katholischen Kirche gehörten, so urteilt er, „daß die Rechtschaffenen unter ihnen besser reformirt und evangelisch sind, als die meisten unter den Protestanten.“54 Gerade in seiner Distanz zur reformierten Kirche seiner Zeit konnte er eine Ökumenizität verkörpern, wie sie im Pietismus sonst kaum zu finden ist, indem er die monastische und mystische Tradition der katholischen Kirche mit dem Erbe der Reformation in Verbindung brachte.55 Darum ist Tersteegen eigentlich kein typischer Vertreter des reformierten Pietismus. Als solcher könnte wohl eher Friedrich Adolph Lampe gelten, der fest auf dem Boden der reformierten Kirche stand, dessen Katechismen weit verbreitet waren und dessen Predigtmethode mit einer deutlichen Unterscheidung zwischen unbekehrten Sündern und bekehrten Christen auf Bekehrung und Heiligung zielte und damals viele Anhänger fand. Zu einem Bekenntnis und einer engagierten Stellungnahme als Christ fühlte sich Tersteegen herausgefordert angesichts der Aufklärung seiner Zeit, ohne diese mit Namen zu nennen: „daß in diesen unsern letzten, finstern und verderbten Zeiten, die Gottseligkeit, die Frömmigkeit, oder der wahre Dienst Gottes und Religion, (dieses alles ist eins und eben dasselbe,) so gar fremd und unbekannt worden auf dem Erdboden, ja, daß unter Christen … die wahre Frömmigkeit oder Gottseligkeit so fremd ist, daß sie durchgehends vor dem bloßen Namen der Pietät schon einen Eckel bezeigen.“56 52 53 54 55 56
Tersteegen, Geistliche Reden, 440–456, hier 448f. Vgl. Tersteegen, Auswahl, 197. Tersteegen, Weg der Wahrheit, 311 (VI, 24). Vgl. Jaspert, Tersteegen, 217; Ludewig, Mystiker, 278f. Tersteegen, Weg der Wahrheit, 141 (III,1 Vorrede zu Labadie).
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Diesem Eindringen des Rationalismus in die Kirche galt die Hauptstoßrichtung seiner Botschaft. Doch kaum weniger deutlich konnte er auch dort Position beziehen, wo er den Kern seiner Spiritualität, die Verknüpfung von Anbetung und Selbstverleugnung in Gefahr sah, wie bei den Herrnhutern. Zinzendorf gegenüber hat er bei seiner Begegnung mit ihm im Oktober 1741 das Wesentliche der Mystik zu verdeutlichen versucht, „daß eben die innere führung und läuterungsstände die eintzige wege wären, wodurch man von allen stützen auf sich selbst und der Geheimsten eigenen Gerechtigkeit erlöset und Jesus immer Gründlicher in uns verkläret werden könnte. Das aber konnte der Herr Graff nicht begreiffen, er meynte, man würde im ersten Viertelstündgen so rein von aller eigenen Gerechtigkeit, daß man lebenslang nichts mehr damit zu tun hätte.“57
Auch gegenüber Inspirierten und Visionären konnte er sich kritisch äußern. Überall, wo er den lebendigen Glauben durch eine oberflächliche, seichte, aufgeklärte oder schwärmerische Verzerrung in Gefahr sah, wollte seine Botschaft einen in der Tiefe des Evangeliums verankerten Damm aufrichten.
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Evangelische Spiritualität bei Nikolaus Ludwig Graf von Zinzendorf (1700–1760) und der Herrnhuter Brüdergemeine seiner Zeit
Graf Zinzendorf ist einer der wenigen evangelischen Theologen des 18. Jahrhunderts, die das Wort Spritualität gekannt und gebraucht haben, wenn auch in einem anderen Sinn als heute üblich. Es begegnet in einem Konferenzprotokoll von 1749, wo es um die Frage geht, wieweit eine Erkenntnis von Gottes innerem Wesen für den Glauben nötig sei. Hier spricht Zinzendorf in Bezug auf Joh 4,24 – „Gott ist Geist“ – von der „Spiritualität“ Gottes, womit er offensichtlich die Qualität der reinen Geistigkeit meint, die Gott auszeichnet. Dies sei allerdings ein Thema, dass den Verstand des Menschen übersteigt und im irdischen Leben für den Glauben wenig austrägt. „Ordinarius [Zinzendorf] meint, so lange die Menschen-Seele im Leibe sey, so habe sie mit niemand zu thun, als mit dem Heyland; und wenn sie außer dem Leibe sey, dann könne sie sich auch mit der Simplicität und Spiritualität Gottes einlaßen.“1 Zu dem, was Spiritualität heute meint, gibt es in Zinzendorfs Vokabular keine direkte Entsprechung. Umschreiben könnte man es mit Begriffen wie „Sünderheiligkeit“, „Gemeingeist“, „Herzensreligion“, „liturgisch leben“ oder „Umgang mit dem Heiland“. Dabei signalisiert die begriffliche Vielfalt nicht Beliebigkeit, sondern vielmehr, dass es Zinzendorf als theologischem Denker um Ganzheitlichkeit geht, um die Ganzheitlichkeit des christlichen Glaubens im Zusammenspiel von Theologie und Praxis, von Tradition und Erfahrung, von Gemeinschaft und Individualität, von Leib und Seele, von Zeitlichkeit und eschatologischer Erwartung. Im Zusammenklang dieser Aspekte gewinnt die von ihm vertretene Spiritualität Gestalt, selbst wenn er keine eigene Terminologie dafür besitzt. In der Literatur ist Zinzendorfs Spiritualität gelegentlich als eine christozentrische, missionale, liturgische oder auch aristokratische Spiritualität bezeichnet worden.2 Ziel der folgenden Darstellung ist es, über diese einzelnen
1 Konferenz 02.–07. 10. 1749 in London, Unitätsarchiv Herrnhut, Sign. R.2.A.26,7 AUSZ 1820, 3. 2 Vgl. Nielsen, Spiritualität; Randall, Missional Spirituality; Zimmerling, Leben für die Kirche, 179–198.
Evangelische Spiritualität bei Nikolaus Ludwig Graf von Zinzendorf (1700–1760)
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Aspekte hinaus ein Gesamtbild zu skizzieren, sodass sein spezifischer Beitrag zur Profilierung evangelischer Spiritualität deutlich wird. Zwei Vorbemerkungen sind nötig. Die erste Bemerkung betrifft die Frage, in welchem Verhältnis Zinzendorfs Spiritualität zum Leben der Brüdergemeine steht. Diese Darstellung geht davon aus, dass beides aufs Engste zusammengehört, da die Spiritualität des Grafen vor allem durch sein Wirken als Leiter und Organisator der Brüdergemeine Gestalt gewonnen hat. Die Brüdergemeine bot ihm die Möglichkeit, sein Ideal einer christlichen Gemeinschaft in die Tat umzusetzen, zugleich forderte sie ihn heraus, auch die Herausforderungen und Probleme im Zusammenleben einer engverbundenen religiösen Gruppe zu durchdenken und darauf zu reagieren. Wir sehen hier eine Wechselwirkung, für die es auch sonst in der Kirchengeschichte zahlreiche Beispiele gibt, nämlich, dass der Impuls einer herausragenden religiösen Persönlichkeit vor allem dadurch zur Ausprägung einer eigenen Spiritualität führt, indem er im Kontext einer Gruppe soziale Gestalt gewinnt. „Der wichtigste Ort für die Entstehung einer spezifischen Spiritualität ist die religiöse Gemeinschaft“ (Ulrich Köpf).3 Wenn also im Folgenden von der Spiritualität Zinzendorfs die Rede ist, dann geht es um seine Vision des geistlichen Lebens in Gemeinschaft, die eng mit der historischen Entwicklung der Brüdergemeine verknüpft ist und in ihr Ausdruck fand. Die zweite Bemerkung dient der Begriffsklärung. Da das Wort „Spiritualität“ eine schillernde Bedeutungsvielfalt besitzt, sei der von mir gewählte Ansatz kurz skizziert. Unter Spiritualität verstehe ich die Dynamik des gelebten Glaubens, in der christliche Frömmigkeit jeweils auf eine spezifische Art und Weise Gestalt gewinnt. Für sie ist eine Grundkonstellation von drei Bezugspunkten maßgeblich, die ich mit den Stichworten Theologie, Praxis und Erfahrung beschreiben möchte. Das Stichwort Theologie besagt, dass Spiritualität als Dynamik des gelebten Glaubens bestimmte Glaubensinhalte voraussetzt und zum Ausdruck bringt. Spiritualität ist Konkretion der Theologie im Lebensvollzug. Das Stichwort Praxis besagt, dass Spiritualität immer auf eine Konstellation bestimmter, religiös konnotierter Praktiken bezogen ist, in denen sich der christliche Glaube lebensweltlich manifestiert. Dazu gehören etwa Gebet, Gottesdienst, Bibellese, praktizierte Nächstenliebe, Beichtgespräch und andere, zumeist kollektiv praktizierte Elemente des geistlichen Lebens. Spiritualität ist der Vollzug geistlichen Lebens in spezifischen Frömmigkeitsformen. Das Stichwort Erfahrung besagt, dass Spiritualität als Dynamik des gelebten Glaubens ausgerichtet ist auf einen weiten Horizont religiöser Erfahrungen, in denen sich Gott dem Menschen zu erkennen gibt bzw. in denen Menschen Gottes Nähe suchen und erleben. Dies zeigt sich auf vielfältige Weise in der Praxis gelebter Spiritualität, die der Be3 Köpf, Spiritualität, 1591.
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gegnung des Menschen mit der Wirklichkeit Gottes Raum zu geben sucht und damit rechnet, dass jeder Mensch für solche Erfahrungen individuell empfänglich ist. Spiritualität ist Öffnung und Ausrichtung des Menschen auf die Gegenwart des lebendigen Gottes hin. Das Wesen einer Spiritualität liegt in der Dynamik des jeweiligen Zusammenspiels von Theologie, Praxis und Erfahrung. Bei Zinzendorf lässt sich diese Grundkonstellation auf die folgende Formel bringen: Christozentrismus – Gemeinde – Herzensreligion. Diese Begriffe markieren die Schwerpunkte, die für sein Wirken als Theologe und Organisator der Brüdergemeine maßgeblich waren, sie bilden auch für diese Darstellung den Ausgangspunkt.
1.
Grundlegende Bezugspunkte
1.1
Christozentrismus
Karl Barth hat Zinzendorf einmal als den ersten echten Christozentriker bezeichnet und damit die Tatsache beschrieben, dass Zinzendorf seine Theologie ganz radikal von der Person Jesu Christi her entfaltet hat.4 Dies betrifft sowohl die Frage der Gotteserkenntnis als auch die Frage nach der christlichen Erlösungshoffnung. Die Person des menschgewordenen Heilands, der sein Leben zum Heil der Welt am Kreuz dahingab, steht im Zentrum von Zinzendorfs theologischem Denken und bildet für ihn das „Pünktchen,“ auf das alles ankommt.5 Nichts als Jesus und ihn gekreuzigt zu wissen (vgl. 1Kor 2,2), ist nach Zinzendorf das A und O des christlichen Glaubens und die sachgemäße Zusammenfassung aller theologischen Lehre. Daher ist die Person Christi für Zinzendorf auch Quelle und Ort aller wirklichen Gotteserkenntnis. Jedwede Offenbarung des Vaters erfolgt durch den Sohn, wie auch die Lehre der Trinität nur durch Christus offenbart wird. Zinzendorf bestreitet, dass es neben dem gekreuzigten Heiland andere Zugänge zur Wirklichkeit Gottes gibt. Alle aus der Vernunft oder Natur abgeleiteten Gottesvorstellungen gehen ins Leere. So gibt es für Zinzendorf nur die Alternative: entweder an Jesus glauben oder Atheist sein.6 Der christozentrische Ansatz zeigt sich als zugespitzte offenbarungstheologische Antwort auf die Erosion des christlichen Gottesbegriffs durch Aufklärung und Rationalismus. Hierbei denkt Zinzendorf zunächst an die Anfechtung des Glaubens durch philosophisch-spekulative Grübelei. Da Gott in seiner Unermesslichkeit dem menschlichen Erkenntnisvermögen völlig entzogen ist, kann 4 Vgl. Barth, KD IV/2, 763. 5 Vgl. Hahn, Spiritualität der evangelischen Brüdergemeine, 289. 6 Vgl. Meyer, Feuerbach und Zinzendorf, 167–172.
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man Gott nur so erkennen, wie er sich selbst offenbart, nämlich im menschlichen Angesicht Jesu Christi. Andererseits bezieht er gegen einen moralisierenden Deismus Stellung, der mit der Lehre von der Erlösung des Menschen durch den Tod Jesu nicht mehr viel anfangen kann und Gefahr läuft, die zentrale Wahrheit des christlichen Glaubens zu verlieren. Zinzendorf betont, dass es die Menschen immer mit Christus zu tun haben, wenn von Gott die Rede ist. Seinen christozentrischen Ansatz fasst er in der Formel „Mein Schöpfer – mein Heiland“ zusammen. Die Erlösung des Menschen gründet für ihn auf dem Kreuzestod Jesu. Die „Lehre vom Opferblut des Schöpfers für uns vergossen, um uns von der Sünde zu erkaufen“ bildet das Kriterium, das die christliche Erlösungsbotschaft von allen anderen religiösen Vorstellungen unterscheidet.7 Daher charakterisiert Zinzendorf seine Theologie als „Creutzes-Theologie“ und insistiert, dass es kein anderes Christentum gibt als jenes, „das sich auf ’s Blut und auf die Wunden des Heilands gründet.“8 Das Kreuz als Ausdruck der göttlichen Selbsterniedrigung markiert die völlige Umkehrung des philosophischen Gottesbegriffs: „Wir deuten das Deo Gloria in excelsis auf Gott am Creutz, und wissen, dass die höchste Stufe, das Summum Bonum aller Seelen, seine Wunden seyn.“9 In Zinzendorfs Rede von der Erlösung durch Jesu Tod finden sich Anklänge an die drei klassischen Spielarten der Versöhnungslehre: Christi Blut ist das Lösegeld, das die verdorbene Menschheit aus ihrer Verfallenheit an Sünde und Tod erkauft; sein unschuldiger Tod ist das stellvertretende Sühnopfer, das den göttlichen Zorn stillt; seine selbstlose Hingabe für die Rettung verlorener Seelen ist der Anreiz, der die verhärteten Herzen der Menschen erweicht und sie dazu bewegt, sich dem Heiland in Liebe und Vertrauen zuzuwenden. Wesentlich ist bei all dem, dass das Leiden und der Tod Jesu das einzige Mittel ist, um die Kluft zwischen Gott und Mensch zu überwinden. In lutherischer Manier versteht Zinzendorf den Kreuzestod Jesu als materiale Grundlage für die Rechtfertigung der Sünder vor Gott. Auf Seite des Menschen ist nichts anderes erfordert als kindlicher Glaube, dass Christus schon alles Nötige zur Erlösung getan hat. Somit ist das Kreuz für Zinzendorf zugleich Ausdruck göttlicher Gnade und drastische Zurückweisung menschlicher Werkgerechtigkeit in jeglicher Form. Eng verbunden mit dieser Auffassung ist Zinzendorfs Rede von der „Sünder-Heiligkeit“, die gegen die Lehre von der christlichen Vollkommenheit gerichtet ist.10 Für Zinzendorf ist „Sünde“ keine moralische sondern eine theologische Kategorie, da sie letztlich im „Unglauben“ besteht, d. h. in der selbstgerechten Weigerung, Christus als Herrn und Heiland anzuerkennen. Aus 7 8 9 10
Zit. nach Eberhard, Kreuzes-Theologie, 64. Homilien Wundenlitanei, in: Hauptschriften 3, 178.53. Zit. nach Eberhard, Kreuzes-Theologie, 60, Anm. 97. Zum folgenden Abschnitt vgl. Vogt, Keine innewohnende Vollkommenheit.
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dieser Ursünde entspringen dann die „Sünden“ im Sinne moralischer Verfehlungen. Das furchtbare Leiden Jesu am Kreuz, das den Sieg über die Sünde erringt, offenbart dem Menschen die Tiefe seiner Verfallenheit an die Macht der Sünde. Der Glaube an Jesus führt aus der Knechtschaft der Sünde heraus, bis dahin, dass die Gläubigen an der Heiligkeit Christi teilhaben, wobei die Einsicht bestehen bleibt, dass man immer als ein völlig der Gnade Gottes bedürftiger Sünder vor Jesus steht. Auch der beste Christ hört nicht auf, hinsichtlich seiner Abhängigkeit von Christus ein Sünder zu sein. Der Wunsch, unabhängig von Christus heilig zu werden, würde nach Zinzendorf der inneren Logik des seligmachenden Glaubens vollkommen widersprechen. Das Merkmal echter Heiligkeit besteht in der Demut, vor Christus nichts anderes sein zu wollen als ein armer Sünder.
1.2
Gemeinde
Mit dem Begriff „Gemeinde“ ist der zweite Bezugspunkt für Zinzendorfs Spiritualität angesprochen, nämlich die Praxis der Lebensform christlicher Gemeinschaft, wie er sie in der Brüdergemeine modellhaft konkretisieren konnte. Prägnant sagte er, „Ich statuiere kein Christentum ohne Gemeinschaft.“11 Ein lebendiger Glaube an Jesus Christus ohne Verbindung mit anderen Gläubigen, die einem als Schwestern und Brüder im Herrn an die Seite gestellt sind, war für ihn unvorstellbar. Schon in seiner Jugendzeit zeigte sich Zinzendorf daran interessiert, gleichgesinnte fromme Christen um sich zu scharen und sie in organisierter Form zu vereinigen. Die Gründung Herrnhuts 1722 als Exulantensiedlung bot ihm reale Möglichkeiten, ein christliches Gemeinwesen nach seinen Vorstellungen aufzubauen. Von Anfang an war Herrnhut von der Vision eines geistlichen Lebens in Gemeinschaft getragen. Die mährischen Flüchtlinge, die um des Glaubens willen ihre Heimat verlassen hatten, suchten einen Ort, wo sie ihre Frömmigkeit ungehindert praktizieren konnten. Zinzendorf schwebte vor, die neue Siedlung zur Arbeit im Reich Gottes zu nutzen, insbesondere zur Sammlung der Frommen und Erweckten aus unterschiedlichen Konfessionen. Herrnhut zog neben den Mähren bald auch andere pietistisch gesinnte Siedler an, da sich herumsprach, dass hier eine „wahre Gemeine des Herrn“ im Entstehen war. Prägend war in den ersten Jahren das Vorbild der Urgemeinde, vermittelt durch Gottfried Arnolds Schrift Die Erste Liebe (1696), in der das Ideal der apostolischen Kirche in leuchtenden Farben geschildert wurde. Zinzendorf verstand die Herrnhuter Gemeinschaft als eine ecclesiola im Sinne Speners, d. h. als kleineren Zusam11 Hahn/Reichel, Quellen, 265.
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menschluss derjenigen, „die mit Ernst Christen sein wollten“ (Luther) innerhalb der Amtskirche. Die Verwendung der Anrede „Bruder“ bzw. „Schwester“ diente dazu, die geistliche Verbundenheit unter den Erweckten zum Ausdruck zu bringen. Zugleich war die Anfangszeit Herrnhuts von großen Spannungen geprägt, die in der Krise von 1726/27 zu wichtigen Klärungen und Weichenstellungen führten. Differenzen in der konfessionell heterogenen Einwohnerschaft führten zu schweren Konflikten, die die Gemeinde an den Rand des Auseinanderbrechens brachten. Gegenseitig warf man sich vor, vom wahren Glauben abgefallen zu sein. Zinzendorf sah sich genötigt, nach Herrnhut zu kommen, um gegenzusteuern. Ein erster Schritt war die Einführung einer Gemeindeordnung, die er als Ortsherrschaft den Bewohnern von Herrnhut am 12. Mai 1727 zum Unterschreiben vorlegte.12 Der erste Teil enthielt Anweisungen für äußerliche Angelegenheiten, wie Rechtsfragen, Bauangelegenheiten, Steuern und gegenseitige Hilfe bei Unfällen. Der zweite Teil legte eine Grundordnung für das Zusammenleben als geistlicher Gemeinschaft fest. Hierin wird Herrnhut als eine überkonfessionelle Bruderschaft beschrieben, deren Einwohner sich zu einem Leben in der Nachfolge Christi verpflichten, sich gegenseitig zu Erweckung und Heiligung anspornen und einander „nach der Art der ersten Gemeine“ helfen und dienen. Diese Regelungen, denen fast alle Einwohner zustimmten, sowie die Wahl von Ältesten zur Leitung der Gemeinde und die Einrichtung von kleinen Seelsorgegruppen, die man „Banden“ nannte, gaben dem geistlichen Leben der Gemeinde eine verlässliche Ordnung und bereiteten den Weg für ihre innere Einigung, die am 13. August 1727 in einer Abendmahlsfeier als geistgewirktes Geschenk der Vergebung und Verbundenheit erfahren wurde: „Wir lernten lieben“.13 Eine Grunderfahrung der ersten Jahre in Herrnhut war die Einsicht, dass geistliche Gemeinschaft verbindliche und geordnete Lebensformen braucht.14 Diese Praxis nahm konkrete Gestalt an in einer vielschichtigen Ordnung von Seelsorgeangeboten, Gebetszeiten, Ämtern und Leitungsstrukturen. Ausgehend von Röm 12,6–8 wurden diverse Laienämter in der Gemeinde eingerichtet, zu denen etwa Älteste, Lehrer, Helfer, Aufseher, Ermahner und Krankenwärter gehörten. Dahinter stand der Gedanke, dass sich alle Gemeindeglieder mit ihren jeweiligen Gaben an den Diensten und Aufgaben der Gemeinde beteiligen sollten.15 Gleichzeitig sollte für die Bedürfnisse der Notleidenden gesorgt werden. Die Einrichtung von Gruppen und „Konferenzen“ diente zur Zurüstung und Koordination der Aufgaben. Die ganze Gemeinde kam mehrmals täglich zu12 13 14 15
Abgedruckt in Hahn/Reichel, Quellen, 70–80. A. a. O., 107. Vgl. Wollstadt, Geordnetes Dienen. Vgl. Vogt, Zinzendorfs Verständnis des geistlichen Amts.
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sammen, um zu beten, zu singen und die Bibel auszulegen. Zur inneren Stärkung wurde das „Stundengebet“ eingerichtet, das jeden Tag 24 Personen zur ununterbrochenen Fürbitte verband. Dem äußeren Zeugnis der Gemeinde diente das Amt der „Streiter“, die bereit waren, als Boten des Evangeliums in die Welt hinaus zu ziehen. Darin lag der Keim für die Herrnhuter Missionsarbeit. All dies entstand zunächst im Kontext der örtlichen lutherischen Parochie, entwickelte dann aber eine solche Eigendynamik, dass die Brüdergemeine bald über Herrnhut hinauswuchs und sich als ein überkonfessionelles Netzwerk im europäischen Protestantismus etablierte, das in sich die Charakterzüge einer evangelischen Bruderschaft und einer transnationalen Evangelisationsbewegung vereinigte. Für Zinzendorf bezieht sich das Wort „Gemeinde“ sowohl auf das überregionale Netzwerk der Brüdergemeine wie auch auf den konkreten Gemeindeverband vor Ort, der geistliches Leben im Rahmen einer kommunitären Struktur zu verwirklichen sucht. Letzteres fand im Typus der klassischen Herrnhuter „Ortsgemeinde“ seinen Ausdruck, der in zahlreichen Siedlungsgründungen der Brüdergemeine in Europa und Nordamerika zu finden ist. Alle Gemeinden waren ähnlich organisiert, sowohl in Leitungsstruktur als auch in Sozialstruktur, insbesondere durch das sogenannte „Chorsystem,“ nämlich die Einteilung der Gemeinde in kleinere Gruppen, die sog. „Chöre“, nach Geschlecht, Alter und Familienstand (z. B. ledige Schwestern, verheiratet Brüder oder Witwen). Dies war eine Fortführung des Prinzips der Gruppenbildung, nun aber unter dem Gedanken, dass es je nach Lebensumständen unterschiedliche geistliche und seelsorgerliche Bedürfnisse gibt. Jede Chorgruppe hatte eigene Mitarbeiter für pastorale und administrative Aufgaben und traf sich, neben dem gemeindlichen Gottesdienst, zu eigenen liturgischen Versammlungen. In manchen Fällen lebten die Mitglieder einer Chorgruppe kommunitär in einem eigenen Haus. Auch diakonische Aufgaben, wie etwa die Betreuung kranker und gebrechlicher Personen, wurden über das Chorsystem wahrgenommen. Architektonisch kam das Chorprinzip zum ersten Mal in der Siedlung Herrnhaag/Wetterau zum Tragen, die von 1738 bis 1750 als barocke Planstadt errichtet wurde und die verschiedenen „Chorhäuser“ und andere Gemeindegebäude um einen quadratischen Platz herum gruppiert zeigt. Dieses städtebauliche Schema, das als Vorbild für alle späteren Siedlungen diente, symbolisiert die Ausrichtung aller Gemeindegruppen auf die gemeinsame Mitte ihres unsichtbar anwesenden Herrn. Auch die zeitliche Dimension der Gemeindepraxis wurde von Zinzendorf bewusst gestaltet, indem er den Kalender des Kirchenjahres um spezielle brüderische Gedenk- und Feiertage ergänzte und einen bestimmten Rhythmus von täglichen, wöchentlichen und monatlichen Versammlungen, Gottesdiensten und Feiern einführte. Alle individuellen Lebensereignisse (Geburt, Erwachsenwerden, Hochzeit, Sterben) waren durch besondere Feiern in die kollektive Gemeindepraxis eingebettet. Somit vollzog sich das gottesdienstliche
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Leben der Brüdergemeine in einer differenzierten räumlichen, zeitlichen und sozialen Struktur, die wie ein „liturgischer Kosmos“16 das ganze Leben der Gemeinde umspannte und gestaltete. Insgesamt zeigt sich Gemeinde bei Zinzendorf als ein System organisierter Frömmigkeit. Die „Gemeinde“ ist der Oberbegriff, der die vielfältige Praxis geistlicher Lebensformen in der Brüdergemeine zusammenfasst, sie ist Ort und Ordnung für den ganzheitlich-kommunitären Glaubensvollzug.
1.3
Herzensreligion
Der dritte Bezugspunkt für Zinzendorfs Spiritualität zielt auf die Erfahrungsdimension des Glaubens. Der Weg des Glaubens, sagt Zinzendorf, geht über das „gefühlige Herz“.17 Das Herz ist für ihn Zentrum des menschlichen Subjekts und zugleich Ort der Glaubenserfahrung, da hier der Mensch für die vom Heiligen Geist gewirkte Empfindung der Gegenwart Gottes empfänglich ist. Dabei setzt er voraus, dass Religion von ihrem Wesen her etwas ganz anderes als ein intellektuelles Für-wahr-Halten ist, sondern auf innerer und persönlicher „Empfindung“ beruht. Es gibt eine prä-rationale Form des Glaubens, die das wesentliche Moment der lebendigen Christusbeziehung erfasst, ohne sich der damit verbundenen begrifflichen Inhalte völlig bewusst zu sein. Zinzendorf bezeichnet diesen Glauben als fiducia implicita und meint damit „das unausgewikkelte aber gefühlige Gläuben im Herzen drinne“.18 Auch wenn der christliche Glaube an bestimmte dogmatische Inhalte gebunden ist, liegt das, worauf es beim lebendigen Glauben ankommt, nicht in der begrifflichen Aneignung bestimmter Lehrpunkte, sondern im persönlichen intuitiven Erfassen jener spirituellen Wirklichkeit, von denen in der Theologie die Rede ist. Das Organ dafür ist das Herz. Für Zinzendorf bezeichnet das Herz jene innere Dimension des Menschen, die seine Identität als eigenständiges und authentisches Wesen ausmacht. Es bildet das Zentrum einer Person, in dem Bewusstsein und Wille, Denken und Fühlen, Wissen und Handeln miteinander verbunden sind. Zugleich markiert es das Zentrum der Wahrnehmung. Es ist der Knotenpunkt, wo die vielerlei emotionalen und gedanklichen Impressionen des Alltags ihren organischen Zusammenhang finden. Dabei reicht das mit Gefühl und Intuition verknüpfte Empfinden des Herzens über das rationale Denken hinaus: „Dem Herzen sind Klugheit, Vorsichtigkeit und Raisonnement nicht die Hauptsache, sondern das 16 Schatull, Liturgie in der Herrnhuter Brüdergemeine, 7. 17 Pennsylvanische Reden, in: Hauptschriften 2, Bd 2, 111; zum folgenden Abschnitt vgl. Vogt, Herzens-Theologie. 18 Neun Öffentliche Reden, in: Hauptschriften 6, 62f.
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ist’s ihm, wie es sich fühlt.“19 Für Zinzendorf steht daher das Herz in einer gewissen Spannung zum Kopf. Der Kopf sorgt für begriffliche Klarheit, bleibt aber bei rein äußerlichen Erkenntnissen stehen. Das Herz hingegen schöpft sein Wissen aus der Tiefe der Person. Seine Wahrnehmungen sind authentisch und intuitiv gewiss, selbst wenn sie manchmal begrifflich unklar bleiben oder sich gar, wie Zinzendorf zugesteht, nur als eine unbestimmte Ahnung äußern, als ein „Je ne sais quoi“.20 Hinsichtlich der Gotteserkenntnis geht Zinzendorf davon aus, dass Menschen in ihrem Inneren ein intuitives Bewusstsein von Gottes Dasein haben, das allerdings inhaltlich unbestimmt ist. Er bezeichnet dies – durchaus in sachlicher Nähe zu späteren Gedanken von Rudolf Otto und Friedrich Schleiermacher – als einen sensus numinis, als ein Gefühl der völligen Abhängigkeit von einer höheren Macht.21 Damit ist aber noch kein christlicher Glaube in vollem Sinne gegeben, denn dieser erfordert den konkreten Bezug zu Jesus Christus als dem gekreuzigten Heiland. Auch dabei kommt es vor allem auf die Erfahrung des Herzens an, die diesen Bezug als persönliches Erlebnis ermöglicht. Glauben heißt nach Zinzendorf, den Heiland im Herzen zu fassen. Das Herz ist dabei zu einer Art des inneren Sehens fähig, welches die unsichtbare Gegenwart des Heilands so deutlich wahrnimmt, als ob er leibhaftig vor einem stünde. Eine wichtige Aufgabe der Predigt ist deshalb, den gekreuzigten Heiland den Zuhörern vorzumalen, so dass sich sein Eindruck bei allen Herzen, die dafür empfänglich und offen sind, einprägen kann. Hierbei betont Zinzendorf die besondere Rolle des Heiligen Geistes, der im Herzen gleichsam seine „Werkstatt“ hat und dort den Glauben an Christus bewirkt. Manche Äußerungen des Geistes werden vom Herzen als inspirierte Eingebungen wahrgenommen, bis dahin, dass der Heilige Geist einer gläubigen Seele im Herzen offenbart, wie sie sich in einer konkreten Situation zu verhalten hat, was Zinzendorf „Salbung“ nennt.22 Zinzendorf setzt die Gewissheit des Herzens dem mangelhaften Erkenntnisweg der Vernunft entgegen. Eine so existentielle Sache wie die Wahrheit des Glaubens lässt sich nicht durch rationale Argumente beweisen, sondern muss aus der Tiefe der Herzens erkannt und erfasst werden. Dies betrifft insbesondere die persönliche Heilsgewissheit, die im Kreuzestod Jesu gründet. Zinzendorf ist überzeugt, dass alle rein intellektuellen „Kopf-Systemata“23 an der Lehre vom Sühnetod Jesu scheitern. „Daß der Heiland für uns [hat] sterben und sein Blut vergießen müssen, das ist das Absurdum, die törichte Predigt vom Kreuz, da-
19 20 21 22 23
Zit. nach Uttendörfer, Grundgedanken, 18. Vgl. a. a. O., 16, Zinzendorf bietet dazu als deutsche Formulierung: „es ist mir so“. Vgl. a. a. O., 19f. Vgl. Uttendörfer, Weltbetrachtungen, 211–216. Apologetische Schluß-Schrift, in: Ergänzungsbände 3, 451.
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durch alle Philosophie zuschanden gemacht wird.“24 Die Botschaft vom gekreuzigten Heiland, dessen unschuldiges Leiden den Menschen zur Vergebung ihrer Sünden dient, richtet sich ans Herz und kann nur von ihm als wahr erkannt werden. So gibt es auf die Frage, „Warum gläubst du das?“, für Zinzendorf letztlich nur eine legitime Antwort: „Das gläube ich, weil mirs so ist“ – „mein Herz sagt mirs“.25 Die Erfahrungsdimension des Glaubens, die Zinzendorf mit dem Begriff der Herzensreligion beschreibt, findet darin ihren deutlichsten Ausdruck.
2.
Übergreifende Aspekte
Mit der Formel Christozentrismus – Gemeinde – Herzensreligion haben wir die Grundelemente der Spiritualität Zinzendorfs benannt, allerdings ohne näher in Betracht zu ziehen, wie sie zusammenhängen. Dies soll nun nachgeholt werden, und zwar im Blick auf drei Aspekte, die ihnen gemeinsam sind: Bibel, Eschatologie und Kommunikation.
2.1
Bibel
Die Spiritualität Zinzendorfs ist eine durch und durch schriftgeprägte Spiritualität. Sie kommt von der Schrift her und findet auch in einem bestimmten Umgang mit der Schrift ihren Ausdruck. Sein ganzes Leben lang hat sich Zinzendorf intensiv mit der Bibel beschäftig und versucht, ihre Botschaft durch Spruchkatechismen, neue Übersetzungen und die Einführung der „Losungen“ im Leben der Brüdergemeine fruchtbar zu machen. Für ihn war die Heilige Schrift unbestrittene Offenbarung göttlicher Wahrheit und damit Regel aller theologischen Reflektion und Gemeindepraxis. Aber er wusste auch, dass der Text der biblischen Überlieferung den Charakter eines von Menschen zusammengestellten Dokuments trägt, das durchaus Widersprüche, mangelhaften Stil und historische Fehler aufweist.26 Zentrum der Schrift ist für ihn das Zeugnis von Jesus Christus, bis dahin, dass er auch alttestamentliche Gottesbezeichnungen christologisch deutet. Ihre äußeren Mängel versteht Zinzendorf als Ausdruck der „Kreuzgestalt“ der Bibel und betont, dass sich ihr Sinn nur dann erschließt, wenn sie von der Person des gekreuzigten Heilands her angesehen und ausgelegt wird.
24 Zit. nach Eberhard, Kreuzes-Theologie, 64, Anm. 106. 25 Gemeinreden, in: Hauptschriften 4, Bd. 1, 151.311. 26 Vgl. Beyreuther, Studien, 88–90; Zimmerling, Zinzendorfs Schriftverständnis.
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Diesen Ansatz zur Schriftinterpretation bezeichnet er zugespitzt als „WundenHermeneutic“.27 Zinzendorf fand in der Bibel vielfältige Anregungen für die Ausgestaltung des Gemeindelebens, wie etwa das Fußwaschen, das Liebesmahl, das Halten der Sabbatruhe und den Gebrauch des Loses als Medium zur Ämtervergabe. Die täglichen „Losungen“ und andere Formen der Bibellese sorgten dafür, dass die Bibel im Leben der Gemeinde ständig präsent war. Zinzendorf verfolgte hierbei das Ziel, durch das Zusammenstellen von Kernsprüchen die wesentlichen Heilswahrheiten der Bibel in der Gemeinde zur Geltung zu bringen. Von dieser Methode erwartete er, dass das entsteht, was er als „Bibelfestigkeit“ bezeichnete, nämlich dass ein gläubiger Mensch die Bibel in sich aufnimmt, nicht, indem er sie ganz auswendig weiß, sondern indem sein Herz gleichsam im Geist der Schrift lebt und er mit seiner eigenen Erfahrung zur vollständigen Harmonie mit dem Zeugnis der Schrift gelangt. So können die Gläubigen selbst zu „lebendigen Bibeln“ werden.28
2.2
Eschatologie
Zinzendorf hatte wenig Interesse an Spekulationen über die Endzeit, meinte aber, in einer Zeit der Vorbereitung auf die Wiederkunft Christi zu leben und sah sein eigenes Wirken durchaus vor dem Horizont des herannahenden Reichs Christi. Die Gewissheit, in eine besondere heilsgeschichtliche Bewegung hineingenommen zu sein, hat das Leben der Brüdergemeine in vielfältiger Weise geprägt und beflügelt. Ein wichtiges Beispiel ist die Missionsarbeit, die von einer ungeheuren Aufbruchstimmung getragen war und darauf abzielte, aus allen Völkern „Erstlinge“ (vgl. Offb 14,4) für Christus zu gewinnen.29 Von 1732 an wagten Herrnhuter Schwestern und Brüder immer neue Missionsunternehmungen mit insgesamt 226 ausgesandten Missionaren in 22 unterschiedlichen Gebieten bis 1760.30 Das sogenannte „Erstlingsbild“ von 1747, das etwa 30 verstorbene Getaufte unterschiedlicher Abstammung vor dem himmlischen Thron Christi versammelt zeigt, symbolisiert die eschatologische Perspektive der Missionsarbeit, nämlich dass eine unzählig große Schar von Erlösten aus allen Nationen und Sprachen dereinst vor dem Thron und vor dem Lamm stehen wird, um Christus anzubeten (vgl. Offb 7,9f), woran die Herrnhuter Brüder und Schwestern schon jetzt Anteil zu haben glaubten.31 Ein zweites Beispiel für die 27 28 29 30 31
Hahn/Reichel, Quellen, 191, vgl. Eberhard, Kreuzes-Theologie, 6–18. Hahn/Reichel, Quellen, 193. Vgl. Bintz (Hg.), Zinzendorf, 27. Vgl. Schulze, Geschichte der Brüdermission, 43f. Vgl. Kröger, Erstlingsbilder.
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eschatologische Orientierung Zinzendorfs ist die Herrnhuter Ehepraxis, die auf dem Gedanken beruhte, dass die eheliche Verbindung zwischen Frau und Mann als Vorbereitung und zeichenhafte Vergegenwärtigung der zukünftigen Seelenehe mit Christus zu verstehen sei (vgl. Eph 5,32).32 Von größter Bedeutung für Zinzendorfs Begriff der „Gemeinde“ und der daraus resultierenden Gemeindepraxis ist der Gedanke der Verbundenheit von irdischer und himmlischer Welt. Die irdische Gemeinde lebt im Blick auf die „obere Gemeinde“, jene Gemeinschaft aller Erlösten um Christi Thron, und weiß sich ihr, trotz aller irdischen Unvollkommenheiten, geistlich zugehörig und verbunden. Insbesondere stellt der auf Erden vollzogene Gottesdienst ein „Abbild“ der himmlischen Anbetung Christi dar.33 Dieser eschatologische Bezug zeigt sich an verschiedenen Stellen in der Herrnhuter Liturgik. In den Gemeinsälen, die sich schon durch ihre weiße Farbe als Räume der Hoffnung auf die Freude und Reinheit der Erlösten präsentieren, wird die „obere Gemeinde“ durch die Chorempore symbolisiert, die es ermöglichte, das Zusammenspiel von „oben“ und „unten“ in Wechselgesängen zwischen Kirchenchor und Gemeinde darzustellen. In der Feier des Abendmahls, verstanden als Vorwegnahme des endzeitlichen Hochzeitsmahls mit Christus, tragen Liturgen und Abendmahlsdiener weiße Talare, die Kleidung der Erlösten im Himmel (vgl. Offb 7,13f). Für die täglichen Versammlungen stellte Zinzendorf Liturgien zusammen, die sich am Vorbild des Te-Deum-Hymnus anlehnten und so den Lobpreis Gottes als Teilhabe am himmlischen Lobgesang akzentuierten.34 Die angestrebte Harmonie mit den „oberen Chören“ sollte dabei in einer Praxis des Gemeindegesangs zum Ausdruck kommen, bei dem alle Gemeindeglieder jeweils individuell aus dem Herzen singen und zugleich vollkommen miteinander harmonieren. Bezeugt ist die Klangqualität eines sehr sanften, melodischen, feierlichen und unaffektierten Gesangs.35 In dieser Art des meditativ-introspektiven Singens sah Zinzendorf ein geistgewirktes Charisma, durch welches die Gemeindeglieder ihre „Connexion“ mit den „oberen Chören“ spürbar erfahren konnten. Ja, er rechnet sogar mit der unmittelbaren Wirkung des Heiligen Geistes, sodass im Singen ein Element göttlich gewirkter Inspiration zu finden sei: „Das ist das große Anliegen für unsere Singstunden und Liturgien, daß sie der heilige Geist selbst dirigire, daß Er der Vorsänger sey, und uns den convenientesten [= passendsten] Ton, der zu dem Concert gehöre, selbst angebe.“36 Konkret erwartete Zinzendorf die geistgewirkte Leitung in der Fähigkeit, den Ablauf des Gemeindegesangs aufgrund innerer
32 33 34 35 36
Vgl. Beyreuther, Studien, 35–73. Vgl. Wehrend, Gottesdienstliches Musizieren. Vgl. Vogt, Zinzendorfs Te Deum-Bearbeitungen. Vgl. Vogt, Herrnhuter Gemeindegesang. Hahn/Reichel, Quellen, 224.
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Eingebungen improvisatorisch zu gestalten, wie es insbesondere bei den Herrnhuter Singstunden praktiziert wurde. Eine enge Verbundenheit von „irdischer“ und „himmlicher“ Gemeinde sehen wir schließlich beim Thema Sterben und Begraben.37 Zinzendorf war überzeugt, dass der Tod für die Gläubigen kein schreckliches, sondern ein freudiges Ereignis ist, da er den Übergang in die „obere Gemeinde“ markiert: „Die Seelen des Heilands wissen, dass sie auf ihren Hochzeitstag zugehen“.38 So wurde das Sterben gemeinhin als „Heimgehen“ aufgefasst, und die Toten wurden in einem symbolisch weiß angestrichenen Sarg begraben. Als Begräbnisplatz wurde in jeder Siedlung ein „Gottesacker“ angelegt, den man als ein geistliches Ackerfeld verstand, in dem die Toten in Hoffnung auf die Auferstehung eingesät wurden. Die gleichmäßig angelegten Grabreihen mit schlichten, flach auf dem Boden liegenden Grabsteinen erinnerten an die Sitzordnung im Gemeinsaal und die Schlafsäle in den Chorhäusern. Bei Begräbnissen und zur Feier des Ostermorgens zog die Gemeinde mit Posaunen (vgl. 1Kor 15,52; Offb 8,2) auf den Gottesacker und bekannte dabei ihren Glauben an das ewige Leben und die Gewissheit ihrer bleibenden Verbundenheit mit der vollendeten Gemeine.
2.3
Kommunikation
Gelebte Frömmigkeit war für Zinzendorf unmittelbar verbunden mit der Praxis kommunikativer Interaktion. Diese diente nicht einfach nur dem Austausch von Informationen innerhalb der Brüdergemeine, sondern war integraler Bestandteil ihres geistlichen Lebens, das auf der Einsicht beruhte, dass Frömmigkeit ganz wesentlich durch Sprache erfahren und vermittelt wird. Es ist bedeutsam, dass Zinzendorf seine Theologie niemals in Form eines dogmatischen Systems artikuliert hat, wie er überhaupt der akademischen Schultheologie und ihrer Begrifflichkeit skeptisch gegenüberstand. Dies lag für ihn, wenn man einmal von persönlichen Vorlieben absieht, in der Sache selbst begründet, nämlich dass die Sprache theologischer Gelehrsamkeit dem „Wort vom Kreuz“ (1Kor 1,28) nicht angemessen ist. Zinzendorf bediente sich lieber der „Bibelsprache“ und der „Natursprache“ und setzte dabei ganz bewusst auf die evokative Kraft bildhafter und teilweise auch paradoxer Formulierungen.39 Er sah den Ort der Theologie im Zeugnis und in der Verkündigung. So finden wir seine theologischen Gedanken vor allem in Predigten, Ansprachen, Liedern, Streit- und Gelegenheitsschriften formuliert, häufig mit konkretem Situations37 Vgl. a. a. O., 344–349. 38 Gemeinreden, in: Hauptschriften 2, Bd. 2, 307. 39 Vgl. Reichel, Dichtungstheorie, 68–71.
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bezug, aber immer von dem Wunsch getragen, theologische Sachverhalte nicht einfach nur zu schildern, sondern sie als Glaubenswahrheit den Menschen nahezubringen. Unter Zinzendorfs Einfluss entwickelte sich in der Brüdergemeine schnell eine eigene „Gemeinsprache“, so dass er 1742 sagen konnte, „wir habens in Europa so weit gebracht, dass wir eine gantz neue Sprache haben“.40 Zinzendorf erkannte klar, dass aus organisatorischen und geistlichen Gründen viel Kommunikationsbedarf innerhalb der Brüdergemeine bestand: „Eine lebendige Gemeinde muß sich alle Tage zusammendenken und -reden und -singen“.41 Unterschiedliche Zusammenkünfte im täglichen, wöchentlichen und monatlichen Rhythmus dienten dem gemeindlichen Austausch und Kontakt. Zwischen den Gemeinden und Leitungsinstanzen wurde die Kommunikation durch Briefe, Diarien und den Kreislauf der sogenannten „Gemeinnachrichten“ aufrechterhalten.42 Alle Gemeindeglieder, auch wenn sie an unterschiedlichen Orten lebten, sollten möglichst deckungsgleich über die Ereignisse der Gemeinde informiert sein. Im Zentrum dieses Netzwerks stand Zinzendorf selbst, der eine umfangreiche Korrespondenz führte und dessen tägliche Ansprachen mitgeschrieben und vervielfältigt wurden. Man kann von daher die Gemeindepraxis der Brüdergemeine als einen vielfältigen Kommunikationsprozess auffassen, der bei allen äußeren und inneren Entwicklungen die geistliche Verbundenheit der Gemeinde absicherte. Ein wesentlicher Aspekt der Gemeinsprache bestand für Zinzendorf in ihrer Fähigkeit, religiöse Erfahrungen auszudrücken und zu vermitteln. Er spricht in diesem Zusammenhang von der „Hertzens-Sprache“,43 durch die sich die Erweckten gefühlsmäßig verstehen, selbst wenn die äußere Form ihrer Kommunikation unvollkommen ist: „Redet zum Herzen. Und das Herz, mit dem man redet, muß einen verstehen“.44 Lieder betrachtete er als „die beste Methode […], Gotteswahrheiten ins Herz zu bringen und darinnen zu konservieren“.45 Auch bei den Predigten und Reden in der Gemeinde ging es ihm darum, „dass eine Kommunikation der Geister ist, dass man sich einander verstehe, berühre, eins in des anderen seine Seele und also in die vue und das Gefühl des, der da redet, […] entrieren soll“.46 Frauen waren in dieses Kommunikationsgeschehen mit eingebunden, etwa indem sie in ihren Chorgruppen Ansprachen hielten. Das Gespräch über den jeweiligen „Herzensgang“ war ein wichtiges Thema im Bereich der 40 41 42 43 44 45 46
A. a. O., 88. Zit. nach Hahn/Reichel, Quellen, 218. Vgl. Mettele, Weltbürgertum, 113–190. Zit. nach Reichel, Dichtungstheorie, 78. Zit. a. a. O., 72. Zit. nach Uttendörfer, Evangelische Gedanken, 100. Zit. nach Uttendörfer, Gedanken über den Gottesdienst, 25.
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Seelsorge, vor allem beim sogenannten „Sprechen“ vor dem Abendmahl, im Verfassen von Tagebüchern und im „Bandenhalten“, d. h. dem geschwisterlichen Erfahrungsaustausch in kleinen Gesprächsgruppen. Ein letztes wichtiges Beispiel für die kommunikative Praxis der Brüdergemeine ist schließlich die Tradition des persönlichen Lebenslaufs, der von Mitgliedern der Brüdergemeine als autobiografisches Zeugnis zum Verlesen beim eigenen Begräbnis verfasst wurde.47
3.
Ganzheitlichkeit
Nach der oben skizzierten Begriffsbestimmung liegt das Wesen der Spiritualität in der Dynamik des Zusammenspiels von Theologie, Praxis und Gotteserfahrung. Daher richtet sich unser Blick abschließend auf die Frage, wie Zinzendorfs Spiritualität im wechselseitigen Zusammenwirken von christozentrischer Theologie, Herrnhuter Gemeindepraxis und erfahrungsbezogener Herzensreligion Gestalt gewinnt. Hier mag es hilfreich sein, bei der Person des Grafen selbst einzusetzen. Zinzendorf wirkte als Theologe, der auf die theologischen Probleme und Fragen seiner Zeit eine Antwort zu geben suchte, er war zugleich Organisator und Leiter einer frommen Gemeinschaftsbewegung, die ihm die Möglichkeit bot, seine theologischen Vorstellung zu realisieren, und er war ein Mensch mit einer ausgeprägten Erfahrungsfrömmigkeit, der für sich in Anspruch nahm, ein inneres Ohr für die Stimme des Heilands und ein Gespür für die Regungen des Heiligen Geistes zu besitzen. Als Reichsgraf lebte er ganz in der Welt aristokratischer Umgangsformen und zeigte zugleich eine erstaunliche Fähigkeit, sich um Christi willen über soziale, konfessionelle und kulturelle Schranken hinwegzusetzen. In all diesen Dingen zeigte er sich, wie sein Biograf Schrautenbach schreibt, als ein unum hominem agere, d. h. als eine Person mit einer umfassenden Einheit im Denken und Handeln.48 Die unterschiedlichen Seiten seiner komplexen Biografie zielten immer auf ein größeres Ganzes. Der gleiche Zug zur Ganzheitlichkeit kennzeichnet auch seine Spiritualität. Zinzendorfs Lebensprojekt bestand in der Suche nach einer Christusfrömmigkeit, die in umfassender Weise Glauben und Leben miteinander verbindet, und zwar nicht nur individuell, sondern vor allem in Sozialgestalt eines religiösen Gemeinwesens. Seine Spiritualität impliziert einen Gesamtentwurf des christlichen Lebens, in dem die Botschaft von Jesus Christus untrennbar verbunden ist mit dem Zusammenleben der Erweckten und ihrer existenziell erfahrenen Christusbeziehung. In diesem übergreifenden Zusammenhang bilden theologi47 Vgl. Mettele, Weltbürgertum, 208–255. 48 Vgl. Schrautenbach, Zinzendorf und die Brüdergemeinde, 60.
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sche Lehre, gemeindliche Praxis und religiöses Erleben drei Faktoren, die sich gegenseitig bedingen und wechselseitig stimulieren. Für Zinzendorf war klar, dass gelebte Frömmigkeit ein dynamischer Prozess ist, der zu immer neuen theologischen Erkenntnissen, zu neuen Formen des Gemeindelebens und vertieften Glaubenserfahrungen führt. Dabei lag ihm am Herzen, dass in diesem Zusammenspiel von Theologie, Praxis und Transzendenzerfahrung der ganze Mensch erfasst wird, dass alle Bereiche des menschlichen Lebens einbezogen sind. Aus der Lehre der Menschwerdung Christi ergab sich für ihn der Anspruch einer umfassenden Heiligung des menschlichen Lebens, einschließlich Leiblichkeit, Berufsarbeit und Sexualität, – eine Heiligkeit, die er freilich weiterhin der paradoxen Polarität von „Sünderschaft“ und „neuer Kreatur“ unterworfen sah. Der ganzheitliche Charakter von Zinzendorfs Spiritualität kommt vielleicht darin am deutlichsten zum Ausdruck, dass er die Unterscheidung zwischen sakral und profan, zwischen geistlichen und weltlichen Lebensbereichen aufzuheben sucht. Das ganze Leben soll Gottesdienst sein. Das ganze Leben untersteht der unmittelbaren Herrschaft Christi. Das ganze Leben ist Ort der Begegnung mit ihm. In dieser Ganzheitlichkeit schlägt das Herz seiner Spiritualität. Für ihn ist jeder Lebensvollzug ein Glaubensvollzug, geprägt vom Ideal der völligen Hingabe an Jesus Christus bzw. der völligen Bezogenheit des Lebens auf ihn. Wie diese Vorstellung in Leben und Frömmigkeit der Brüdergemeine konkret zum Tragen kam, das sei abschließend in drei Stichworten skizziert: Theokratie, „persönlicher Umgang mit dem Heiland“ und „liturgisch leben“.
3.1
Theokratie
Dieser Begriff bezeichnet für Zinzendorf das „souveraine Regiment des Heilandes in der Gemeine“.49 Es geht dabei um die unmittelbare Verbundenheit der Gemeinde mit Christus im Blick auf ihre Leitung und die Regelung innerer und äußerer Angelegenheiten. Weil Christus Herr und Haupt der Kirche ist, soll sein Wille in allen Belangen des Gemeindelebens zur Geltung kommen, von Fragen der Verwaltung und Organisation bis hin zu den kleinsten Dingen des Alltags. Schon in der Anfangszeit Herrnhuts gab es die Vorstellung, dass die Brüdergemeine so etwas sei wie eine „Republic Gottes“, d. h. ein geistliches Gemeinwesen unter der Herrschaft Christi.50 Im Zuge einer Leitungskrise wurde am 16. September 1741 das oberste Leitungsamt feierlich auf die Person des Heilands übertragen. Ein leerer Stuhl bei Synoden und Konferenzen markierte fortan die unsichtbare Gegenwart Christi als Herr und Ältester der Gemeine. Praktisch 49 Zit. nach Meyer, The Moravian Church as a Theocracy, 261. 50 Vgl. Wollstadt, Geordnetes Dienen, 141f.
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zeigte sich der theokratische Anspruch vor allem im Gebrauch des Loses, das dazu diente, in zweifelhaften Fällen den Willen des Heilands zu erfahren.51 Unter Zinzendorfs Einfluss entwickelte sich in der Brüdergemeine eine differenzierte Lospraxis, die nach seinem Tod in einer eigenen Los-Ordnung zusammengefasst wurde. Man unterschied beispielsweise zwischen „Privatlos“ für den persönlichen Gebrauch und „Amtslos“ für Gemeindeangelegenheiten. Um sicherzustellen, dass der Heiland nicht zu einer Antwort gezwungen war, wurde den beiden Losen für „Ja“ und „Nein“ ein drittes, leeres Los hinzugefügt. Im Blick auf Personalentscheidungen wurde festgelegt, dass das Los nur diejenigen bindet, die selbst am Losen beteiligt waren bzw. dazu eingewilligt hatten. Jedem Losgebrauch ging eine gründliche Beratung voraus, wie die Frage richtig zu stellen sei, in manchen Fällen wurde mit einem Präliminarlos zuvor geprüft, ob überhaupt das Los zu befragen war. Hinter all diesen Punkten stand die feste Überzeung, dass Christus seinen Willen im Los zuverlässig offenbart, solange man bereit war, seiner Führung zu vertrauen und der Entscheidung des Loses kindlich zu gehorchen.
3.2
Persönlicher Umgang mit dem Heiland
Auch hier geht es um unmittelbare Christusverbundenheit, nun aber in Bezug auf persönliche Erfahrungsfrömmigkeit. Für Zinzendorf ist es von höchster Bedeutung, dass sich Jesus Christus, als menschgeborener und für die Sünden der Welt gekreuzigter Heiland, jedem einzelnen Gläubigen ganz persönlich und individuell zu erfahren gibt. „Wir müssen mit dem Heiland in Person bekannt werden, sonst ist alle Theologie nichts. Darin besteht die Brüderreligion.“52 Zinzendorf geht davon aus, dass gläubige Seelen in eine „Connexion“ mit dem Heiland treten können, die ganz den Charakter einer direkten personalen Beziehung trägt. Man geht mit dem Heiland um, wie mit einem guten Freund, dem man alles, was einen beschäftigt, anvertrauen kann. Dies vollzieht sich nicht in Form außergewöhnlicher mystischer Erfahrung oder ekstatischer Zustände, sondern als kontinuierliche innere Gewissheit der unsichtbaren Gegenwart Christi im Alltag. Zinzendorf nennt es „in einem weg mit dem Herzen bei ihm sein“.53 Die Nähe Christi ist dabei so real, dass es einem Gläubigen „so leichte einfällt, über allen großen und kleine Dingen mit dem Heiland zu reden, als ihm einfällt, mit einem Bruder zu sprechen“.54 Der Umgang mit dem Heiland ist ein immerwährender, selbst51 52 53 54
Vgl. Beyreuther, Studien, 109–139. Zit. in Uttendörfer, Evangelische Gedanken, 167. Zit. a. a. O., 116. Zit. in Uttendörfer, Grundgedanken, 271.
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verständlicher und dadurch gleichsam zur zweiten Natur gewordener vertrauter Austausch der eigenen Gedanken mit Christus. Dazu gehört einerseits, Christus beständig im Gedächtnis zu behalten und ihn in seiner Martergestalt vor dem inneren Auge zu haben. Andererseits ist stete Aufmerksamkeit für die spürbare Erfahrung seiner Gegenwart nötig: „Ihr müßt Achtung geben, daß ihr des Freundes Umgang im Herzen nie verliert, das Herz muß sich gewöhnen, den sacht’sten Gruß zu hören und die darauf wirkenden Mienen seines Angesichts aufs genaueste merken zu lernen, wenn er zufrieden oder unzufrieden ist, dass ihr […] merken könnt, wie es zwischen euch und ihm geht.“55
Zinzendorf rechnet also mit der Möglichkeit, dass die Gläubigen mit dem Heiland in einer fortlaufenden inneren „Connexion“ stehen und sich von ihm auf dem Weg durch das tägliche Leben begleiten lassen. In dieser individuellen Erfahrung der Nähe Christi, die sich eng an seinen Begriff der Herzensreligion anlehnt, sieht Zinzendorf die „Haupt-Summe“ des Evangeliums und allen geistlichen Lebens.56
3.3
Liturgisch leben
Dieses dritte Stichwort kann in gewisser Hinsicht als Zusammenfassung dessen dienen, was Zinzendorfs Spiritualität ausmacht.57 Hier geht es darum, dass man alles, was man tut, aus einer gottesdienstlichen Haltung heraus tut. Zinzendorf schreibt: „Liturgisch ist ein gewisses, gesetztes, solides Wesen, das sich immer gegenwärtig ist, das, wenn es zu einer heiligen, göttlichen Handlung berufen wird, niemals erst eine Fassung braucht, sondern allemal in seiner naturellen Situation bleiben kann, wie ihm ohnedem ist, und so hingehen und tun kann, was zu tun ist. Dann geht’s in einem liturgischen Gang mit der Seele, und sie kommt nie aus ihrem liturgischen Fach; der Mensch gewöhnt sich nach und nach: alle seine Handlungen, auskehren, Häuser waschen, wie man’s nennen mag und was vorkommen kann, von der größten bis zur kleinsten und niederträchtigsten Verrichtung mit einer Dignität zu tun, dabei die Jesushaftigkeit herausblickt und nichts dabei verliert.“58
Prägend für Zinzendorfs Vorstellung ist, dass es hier nicht primär um ein bestimmtes äußeres Erscheinungsbild geht, sondern um eine innere Befähigung, nämlich „die Handlungen, die so vorgehen, wenn sie gleich alltäglich sind, mit 55 56 57 58
Zit. in Uttendörfer, Evangelische Gedanken, 123. Vgl. a. a. O., 166–167. Zum folgenden Abschnitt vgl. Vogt, Liturgisch Leben. Zit. nach Hahn/Reichel, Quellen, 212f.
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einem liturgischen Gemüt […] und Herzen zu verrichten“.59 Das „liturgische Wesen“ kommt aus der Seele, aus dem Herzen und aus dem Gemüt, und es umfasst alle Bereiche des menschlichen Lebens. So sagt Zinzendorf an anderer Stelle: „Tut alle Sachen klein oder groß in der Autorität des Herrn Jesu, als wenns lauter priesterliche, lauter Tempelsachen wären. [Die Christen] sollen also allezeit sein, als wenn sie in des Heilands Liturgie begriffen wären“.60 Auch solche Tätigkeiten, die als niedrig oder belanglos gelten, etwa im Bereich der Berufsarbeit, gehören in den Bereich des Liturgischen mit hinein: „Eine […] Liturgie ist essen, eine andere trinken, eine andere einschlafen, eine andere schlafen, eine andere aufwachen, eine andere etwas mit seinen Händen arbeiten, schreiben, die Buchstaben lernen, mahlen, und dergleichen. Das sind alles Liturgien, die in ihrer Art just so vom Heiland gemacht worden sind.“61
Häufig beruft sich Zinzendorf dabei auf einen Ausspruch Luthers, dass eine Magd, die die Stube auskehrt, Gott damit genauso dient und ehrt, wie ein Pfarrer, der Gottesdienst hält.62 Liturgisch leben ist für Zinzendorf ein Ausdruck der von Christus bewirkten Erlösung, die sich darin zeigt, dass der Mensch in den Zustand einer gleichsam natürlichen Heiligkeit hineinkommt, der ihm vorher durch die Sünde verschlossen war.63 Demnach ist das liturgische Wesen bei einem wiedergeborenen Gläubigen nichts fremdes, aufgesetztes oder affektiertes, sondern äußert sich als ein spontanes Handeln im Geist Jesu, das aus der Disposition des begnadigten Herzens entspringt und somit den Zug eines natürlichen und authentischen Verhaltens trägt. Theologisch sieht Zinzendorf seine Vorstellung in der Inkarnationslehre begründet. Weil Jesus Christus als Mensch geboren wurde und gelebt hat, ist der Bereich des Menschlichen potenziell zu einem Bereich des Heils und der Heiligung geworden. Dieser Gedanke kommt prägnant in einer Zeile der sogenannten Wundenlitanei zum Ausdruck: „Deine heilige, deine schmerzliche Erstgeburt mache uns unsere Menschheit lieb.“64 Zinzendorf kommentiert: „Danach denkt man wie Jesus, man verrichtet die Notdurft wie Jesus, man nimmt die Speise, man betet so, man arbeitet so, so reist man, man ist so krank, und stirbt so, wie der Heiland. Da lernt man, was das ist, sich der Menschwerdung Jesu tröstlich freuen.“65 Die Tatsache, dass Jesus als Handwerker tätig war, kann den Christen als Trost und Ansporn in ihrer eigenen alltäglichen Arbeit dienen:
59 60 61 62 63 64 65
Zit. nach Uttendörfer, Lebensideal, 184. Zit. a. a. O., 184. Clemens (Hg.), Auszüge, 592f. Vgl. Reichel, Arbeit und Dienst, 43–45.53. Vgl. Meyer, Natur und Gnade. Zit. nach Hahn/Reichel, Quellen, 165. Zit. nach Reichel, Arbeit und Dienst, 51f.
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„Wenn ich was arbeite mit den Händen, so thue ich’s als eine Liturgie des Heilands. Er hat’s auch gethan, seine Handwerkstreue, sein Arbeits-Schweiß sind auch Liturgien gewesen. Da gehe ich in alles, was ich zu machen habe, hinein als in eine Liturgie.“66
Hieraus gewinnt Zinzendorf wichtige Perspektiven für seine Wirtschafts- und Berufsethik.67 Zugleich zeigt sich, was Zinzendorf näherhin als „Jesushaftigkeit“ bezeichnet, nämlich der konkrete Bezug des eigenen Verhaltens auf das Vorbild, das Jesus mit seinem Leben gegeben hat. „Im Namen des Heilands handeln, heißt so in der Welt leben, daß einem der Herr Jesu dabei einfallen kann, wenn man einen Menschen was tun sieht. Darin müssen sich nun die Brüder üben, ihr wißt aber wohl, daß das nicht affektieren und sich verstellen heißt, sondern man muß aussehen, wie man ist, und des Heilands Bild an sich tragen, weil man voll Jesus ist. Daher müssen alle unsre äußerlichen Handlungen mit Respekt geschehen, und je äußerlicher sie sind, um so mehr. Gerade die Dinge, von denen man denkt: es ist ja nur natürlich, die müssen des Heilands Art zu handeln ähnlich sein, dass einem dabei einfallen kann, so wird der Heiland ungefähr getan haben.“68
Liturgisch leben beinhaltet, dass man Jesus nachahmt und dadurch selbst zunehmend jesushaftig wird. Zinzendorf ist sich allerdings im Klaren darüber, dass diese Nachahmung keine buchstäbliche Imitation sein kann oder sein soll, sondern auf ein Handeln im Geist Jesu abzielt: „Es gibt tausend Sachen, die der Heiland nicht getan hat, weil sie sein Plan nicht waren. Also das ist nicht die Sache, dass man von allem, was man tut, sich müßte besinnen können, das hätte der Heiland getan, sondern so hätte der Heiland auch getan, wenn er’s getan hätte. Darauf kommt’s an, auf ’s So.“69
Liturgisch leben heißt also, im Blick auf das Vorbild Jesu und im lebendigen Umgang mit ihm das ganze Leben mit all seinen Aspekten als Gottesdienst zu betrachten und zu vollziehen. Und dies aus einer inneren Haltung des Glaubens heraus, nicht als Anstrengung oder angelernte Fassung, sondern als das natürliche, ursprüngliche Leben des erlösten Sünders. Zinzendorf ist überzeugt, dass ein solches jesushaftes, liturgisches Leben die Christen zu Leuten macht, an denen die übrige Welt wie in einem Buch lesen kann, „was der Umgang mit dem Heiland für eine Wirkung auf das Gemüt hat.“70 Auf diese Weise ist liturgisch leben ein wortloses Zeugnis für Christus.
66 67 68 69 70
Zit. a. a. O., 50. Vgl. Vogt, Wirtschaftsethik bei Zinzendorf. Zit. nach Uttendörfer, Evangelische Gedanken, 94. Zit. a. a. O., 62. Zit. a. a. O., 99.
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4.
Peter Vogt
Zusammenfassung
Zinzendorfs Spiritualität entsprang dem Wunsch, im Kontext der Herausforderungen seiner Zeit das zur Geltung zu bringen, was er als die zentralen Elemente evangelischer Frömmigkeit erkannt hatte: Christuszeugnis, Gemeinschaft und persönliche Glaubenserfahrung. Mit der Brüdergemeine hat Zinzendorf das Modell einer Glaubens-, Lebens- und Dienstgemeinschaft etabliert, die damals im protestantischen Raum einzigartig war und in der Entwicklung evangelischer Spiritualität ganz neue Akzente setzte. Dies betrifft insbesondere die soziale und kommunitäre Dimension evangelischer Spiritualität: Gelebter Glaube vollzieht sich in Gemeinschaft von Menschen, die sich von Christus zusammengerufen wissen. Es betrifft darüber hinaus die missionarische, ökumenische und diakonische Dimension evangelischer Spiritualität: Gelebter Glaube zeigt sich im gemeinsamen Einsatz für das Reich Christi, einschließlich der Bereitschaft, das Zeugnis von Jesus Christus weiterzugeben, die Verbundenheit zwischen Christen unterschiedlicher Konfession zu stärken und sich in tätiger Nächstenliebe den Hilfsbedürftigen zuzuwenden. Und es betrifft schließlich die Erfahrungsdimension evangelischer Spiritualität: Gelebter Glaube braucht Räume zur Begegnung mit Gott, dessen Wahrheit sich nicht im Kopf, sondern im Herz offenbart. Hier hat Zinzendorf einen Weg gewiesen, der so unterschiedliche Aspekte wie Gemeinschaft und Individualität, Innerlichkeit und Sendungsbewusstsein, biblische Verkündigung und Erfahrungsfrömmigkeit miteinander verbindet und dadurch auch heute noch für die Gestaltung evangelischer Spiritualität hilfreiche Impulse vermitteln kann.
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Peter Vogt
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Christoph Raedel
Methodistische Spiritualität
1.
Einleitung
Der Methodismus mit seinen Ursprüngen im England des 18. Jahrhunderts ist eine der jüngeren großen Kirchengemeinschaften.1 Entstanden als Erweckungsund Erneuerungsbewegung innerhalb der Anglikanischen Kirche, ist die Geschichte des frühen Methodismus untrennbar mit den Namen der Brüder John (1703–1791) und Charles Wesley (1707–1788) sowie George Whitefield (1740– 1770) verbunden. Im kirchengeschichtlichen Aufriss dieses Bandes legt es sich nahe, die methodistische Spiritualität primär in ihrer frühen historischen Gestalt anschaulich werden zu lassen, auch wenn Glaubensleben und Weltverantwortung im Methodismus sich seit dem 18. Jahrhundert bei aller erkennbaren Kontinuität verändert, vor allem pluralisiert haben. Der Akzent soll im Folgenden auf den Besonderheiten sowie den Impulsen methodistischer Spiritualität im ökumenischen Kontext liegen.2 Dabei soll gezeigt werden, dass die Spiritualität des frühen Methodismus sich mit drei Begriffen charakterisieren lässt: (1) Evangelisation, (2) Gemeinschaftsbildung, (3) Erneuerung von Kirche und Gesellschaft.
2.
Evangelisation: Einladung zum Leben aus der Gnade Gottes
Im Leben John Wesleys fließen verschiedene geistliche Traditionen zusammen, die er im Laufe seines Lebens miteinander zu einer Synthese verband. John hatte in Oxford Theologie studiert und nach eigener Darstellung in dieser Zeit, nämlich im Jahr 1725, damit begonnen, ein ernsthaftes Christenleben zu führen. Als 1 Für eine knappe Einführung vgl. Wainwright, Methodismus; umfassend sind Heitzenrater, Wesley; Hempton, Methodism. 2 In konfessionskundlicher Perspektive schieden die mit Whitefield verbundenen Gemeinschaften mit dessen Tod aus dem Methodismus aus. Dieser blieb arminianisch geprägt – lehnte also die Lehre von der unbedingten Vorherbestimmung ab –, während Whitefields Gemeinschaften in calvinistisch ausgerichteten Gruppen aufgingen.
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Christoph Raedel
er 1729, nach kurzem Dienst auf einer Pfarrstelle, wieder nach Oxford zurückkehrte, um als Dozent am Lincoln College Oxford zu arbeiten, fand er sich innerhalb kurzer Zeit als Leiter einer kleinen Gruppe von jungen Männern wieder (darunter sein Bruder Charles sowie George Whitefield), die sich zu einer strengen Beachtung geistlicher Regeln verpflichtet hatten und sich wöchentlich zum geistlichen Austausch trafen. Dazu gehörten die Teilnahme an den täglichen Gebetszeiten der Kirche, der häufige Empfang des Abendmahls, aber auch das Tun guter Werke (wie das Besuchen von Gefangenen und Kranken). Der geistliche Austausch schloss das Studium der Bibel sowie von Schriften der Kirchenväter und neuerer geistlicher Autoren ein. Von anderen Studenten erhielt die Gruppe schon bald den Spottnamen „Holy Club“. Die Notwendigkeit geistlicher Disziplin war Wesley bei der Lektüre der „Rules for Holy Living and Dying“ des anglikanischen Bischofs Jeremy Taylor aufgegangen. Wesley vermerkt dazu: „Instantly I resolved to dedicate all my life to God, all my thoughts, and words, and actions, being thoroughly convinced, there was no medium; but that every part of my life (not some only) must either be a sacrifice to God or myself, that is, in effect, to the devil”.3 Taylor sah den Sinn des menschlichen Lebens darin, in beständiger und enger Gemeinschaft mit Gott zu wandeln. Wesley lernte von ihm, dass die Heiligung des Lebens seinen Grund in der ungeteilten Hingabe des Herzens an Gottes Willen hat („purity of intent“). Die Erneuerung des inneren Menschen zur Gottebenbildlichkeit lehrten Wesley auch katholische Autoren wie Thomas a Kempis, dessen „Nachfolge Christi“ Wesley ebenso las wie die Texte mystischer Schriftsteller, zum Beispiel Fenelon oder die „Theologia Germanica“. Auch die byzantinische Spiritualität mit ihrer Betonung der kontinuierlichen Verwandlung des Gläubigen in die Gottähnlichkeit wirkte auf Wesley ein.4 Neben dieser anglikanisch-katholischen Heiligungstradition ist für Wesleys weiteren Weg und die Entstehung des Methodismus die reformatorische Lehre von der Rechtfertigung aus Glauben und der erfahrbaren Heilsgewissheit von Bedeutung, wie sie ihm durch Puritanismus und Pietismus vermittelt wurde. Historisch sind dafür vor allem Wesleys Begegnungen mit den Herrnhutern wichtig.5 Wesley war unter Herrnhuter Einfluss zu der Überzeugung gelangt, dass die Rechtfertigung allein durch Glauben als augenblickliche Erfahrung Glaubensgewissheit zu schenken vermag, und vernahm, dass seinem Bruder Charles am 21. Mai 1738 diese Erfahrung zuteilgeworden war. In seinem Tagebuch vermerkt John Wesley für den 24. Mai 1738:
3 WJW, Bd. 13, 136. 4 Vgl. Maddox, Wesley. 5 Vgl. Schmidt, Wesley, Bd. 1, 188–273; Bd. 2, 13–74.
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„In the evening I went very unwillingly to a society in Aldersgate-Street, where one was reading Luther’s preface to the Epistle to the Romans. About a quarter before nine, while he was describing the change which God works in the heart through faith in Christ, I felt my heart strangely warmed. I felt I did trust in Christ, Christ alone for salvation: And an assurance was given me, that he had taken away my sins, even mine, and saved me from the law of sin and death“.6
Unter Herrnhuter Einfluss war Wesley schon zuvor davon überzeugt worden, dass die Rechtfertigung durch Glauben Gewissheit und neues Leben schenkt. Diese Überzeugung wurde Wesley an diesem Abend zur persönlichen Erfahrung.7 Zwar präzisierte Wesley sehr bald seine Auffassung dahingehend, dass die Rechtfertigung als Befreiung von der Schuld der Sünde nicht in jedem Fall unmittelbar mit dem Geschenk der Glaubensgewissheit einhergehe, doch predigte Wesley von nun an die Rechtfertigung aus Glauben als Erfahrung der Befreiung von der Schuld der Sünde. Der „katholische“ bzw. „ostkirchliche“ Aspekt der Erneuerung wird dem reformatorischen Aspekt der Rechtfertigung konsequent zugeordnet, ohne dass beide ineinander aufgingen. Meint die Rechtfertigung die Befreiung von der Schuld der Sünde, so die in der Wiedergeburt beginnende Heiligung die Befreiung von der Macht der Sünde: „The one implies what God does for us through his Son; the other what he works in us by his Spirit“.8 Die Rechtfertigung erneuert den Glaubenden in die Gunst Gottes, die Heiligung in das Ebenbild Gottes.9 In dieser unterscheidenden Zuordnung sieht Wesley einerseits die Lehre von der Rechtfertigung bewahrt und andererseits die Lehre von der Heiligung betont. Nach dem Vorbild seines Freundes George Whitefield, der ebenfalls zur Gewissheit des Glaubens gelangt war, begann John Wesley mit der Verkündigung von Buße und Rechtfertigung unter freiem Himmel, nachdem ihm die Kirchentüren zunehmend verschlossen blieben und Wesley sich – als Fellow des Lincoln College – nicht an eine Pfarrei gebunden, sondern zu allen Menschen gesandt sah. Programmatisch formulierte er: „I look upon all the world as my parish; thus far I mean, that, in whatever part of it I am, I judge it meet, right, and my bounden duty, to declare unto all that are willing to hear, the glad tidings of salvation“.10 In der Überschreitung der amtskirchlichen Pfarrgrenzen lag eine massive Provokation seiner Kirche, zugleich aber ein wesentlicher Grund dafür, dass sich der Methodismus im England das 18. Jahrhunderts zu einer starken Bewegung entwickeln sollte. Für Wesley war das von Gott erwählte Medium für die Ausbreitung des Evangeliums die Predigt von der Rechtfertigung und Er6 7 8 9 10
WJW, Bd. 18, 249f. Zur Einordnung der „Aldersgate“-Erfahrung vgl. Rack, Reasonable Enthusiast, 137–157. WJW, Bd. 1, 187. Vgl. a. a. O., 431f. Works, Bd. 1, 201.
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neuerung des Sünders durch Gott in Jesus Christus. Diese Botschaft galt gerade den armen und einfachen Menschen, jedenfalls durfte sie vor sozialen Konventionen und Grenzziehungen nicht Halt machen. So trat der Methodismus von Anfang an als Evangelisationsbewegung in Erscheinung. Die Botschaft von der Gnade Gottes, die von der Schuld und Macht der Sünde befreit, und die Einladung zu einem aus der Liebe Christi und im Gehorsam gegen Gott erneuerten Leben standen im Zentrum der Verkündigung Wesleys und seiner Prediger. Dabei legte Wesley großen Wert auf die Eignung seiner Prediger sowie auf die Übereinstimmung zwischen der verkündigten Botschaft und dem Lebenszeugnis des Predigers. Methodistische Predigten befragten vor allem die Bibel nach Antworten auf die Frage nach dem Heil, nicht die theologische Sekundärliteratur der Zeit, womit sie sich deutlich vom zeitgenössischen Kanzelstil anglikanischer Geistlicher unterschieden.11 In der Predigteinleitung sollte ein Einvernehmen mit den Hörern gesucht werden, um sie zum Zuhören geneigt zu machen. Als wichtig galt ferner eine schlüssige Gliederung der Predigt, die es den Zuhörern erleichtert, dem Gedankengang des Predigers zu folgen. Immerhin waren Predigten von einer Stunde und länger keine Ausnahme, wenn auch Wesley vor der Annahme warnte, dass Gott lange Predigten bräuchte, um mit seiner Botschaft zum Ziel zu kommen. Die Predigt sollte überzeugen, erbauen und einladen, nicht verschrecken, weshalb der Prediger nach Wesley nicht schreien, sondern sein gewöhnliches Stimmvolumen gebrauchen sollte. An John King, einen Prediger, schreibt Wesley 1775: „Scream no more, at the peril of your soul […]. Speak as earnestly as you can; but do not scream. Speak with all your heart; but with a moderate voice”.12 Außerdem lehnte Wesley es ab, dass Prediger vor allem ihre Gelehrsamkeit zur Schau stellen, was ihn selbst jedoch nicht davon abhielt, in eigenen Predigten immer wieder die Bedeutsamkeit zentraler Aussagen durch Zitate bekannter Autoren zu unterstreichen.13 Inhaltlich lag der Schwerpunkt der Predigten auf der Errettung aus Unglaube und Selbstrechtfertigung sowie auf der Erneuerung des inneren und äußeren Lebens durch Gottes Gnade. Wesley schreibt: „Our main doctrines, which include all the rest, are three, – that of repentance, of faith, and of holiness. The first [Buße] of these we account, as it were, the porch of religion; the next [Glaube], the door; the third [Heiligung], religion itself“.14 Der Glaube ist hier in zweifacher Weise näher bestimmt. Zum einen gehört zu den Konstruktionsprinzipien der 11 Vgl. Ertl, Studien zur Prosaliteratur, 73. 12 WJW, Bd. 12, 331. 13 „Von keinem der methodistischen Prediger kann man jedoch sagen, daß er Zitate als bloßes rhetorisches Beiwerk anführt, um damit Bildung zu demonstrieren“, Ertl, Studien zur Prosaliteratur, 64. Zugleich drängte Wesley darauf, dass seine Prediger sich durch beständige Lektüre guter Bücher bildeten; vgl. Address to the Clergy“, Works, Bd. 10, 480–500. 14 Works, Bd. 8, 472.
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Theologie und Spiritualität Wesleys die Überzeugung, dass allein der Glaube rettet, der rettende Glaube aber keinen Bestand hat, wenn er nicht einhergeht mit der Buße, also der Umkehr von den bösen Werken und dem Verlangen nach Erneuerung. Zum anderen weist der Glaube über sich hinaus, ist er doch das Mittel der von Gott geschenkten Erneuerung. Der Glaube empfängt Christus, er wandelt den Menschen zur neuen Schöpfung, ist daher stets Glaube, der sich in der Liebe als tätig erweist (Gal 5,6), denn Gott ist von Ewigkeit zu Ewigkeit Liebe. Das Herzstück methodistischer Spiritualität ist von daher die Liebe zu Gott und dem Nächsten, nicht der Glaube.15 Das theologische Proprium methodistischer Spiritualität lässt sich näherhin mit einem Diktum von William Fitzgerald erfassen, der formulierte: „All need to be saved. All may be saved. All may know they are saved. All may be saved to the uttermost“.16 Mit dieser viergliedrigen theologischen Matrix ist Folgendes ausgesagt: (1) Alle Menschen sind durch die Sünde verderbt und des Heils bedürftig. Wesley bekräftigt die Lehre der Reformatoren, wonach die Sünde den Menschen verderbt und unfähig zu allem Guten gemacht hat. Er lehrt keine natürliche Willensfreiheit des Menschen, sondern geht davon aus, dass der sündige Wille des Menschen nur durch Gottes Gnade dazu befreit werden kann, dem in Christus angebotenen Heil nicht länger zu widerstehen, sondern es anzunehmen. Weil Gott nun seine Gnade keinem Menschen vorenthält, deshalb befindet sich nach Wesley kein Mensch in einem rein natürlichen Zustand, sondern hat jeder Mensch ein Maß an „vorlaufender Gnade“, das ihn befähigt, auf Gotte Initiative im Glauben zu antworten. (2) Gott möchte, dass alle Menschen gerettet werden, womit die Auffassung von einer göttlichen Prädestination, die einige vom Heil ausschließt, zurückgewiesen wird. Wesley stellt nicht Gottes Vorherbestimmung in Frage, er interpretiert sie aber als Vorherbestimmung zum Heil all derer, die kraft der (vorlaufenden) Gnade Gottes im Glauben auf Gottes Ruf antworten, während die Verdammnis eigentlich nicht Menschen, sondern dem Teufel und seinen Engeln zugedacht ist (Mt 25,41). Es geht ein Mensch also nicht verloren, weil Gott ihm seine Gnade versagt hat, sondern weil er die ihm angebotene Gnade verachtet hat.17 15 Zum Verhältnis von Glaube und Liebe vgl. WJW, Bd. 2, 39. 16 Fitzgerald, Methodism, 173 (Zit. leicht bearbeitet). 17 David Lowes Watson interpretiert Wesleys Überzeugung im Kontext der sich aus Sicht der reformatorischen Theologie stellenden Anfragen in dieser Weise: „By grace, God permits a freedom of choice to the human creature. Yet because of sin, it is not a freedom to choose between good and evil, but rather between resistance or submission to the divine initiative. When the human will ceases to resist, then grace affords a new relationship with God which, moment by moment, is sustained by grace in obedience“, Watson, Methodist Spirituality, 178.
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(3) Alle Glaubenden können Heilsgewissheit erlangen. Nach Wesley ist den Glaubenden verheißen, dass sie im Zeugnis des Heiligen Geistes (Röm 8,16) Gewissheit ihrer Errettung finden und sich dieses innere Zeugnis auch in der Frucht des Geistes als äußerem Zeugnis erweist. Diese Gewissheit mag sich in manchen Fällen nicht zugleich mit der Bekehrung einstellen, sie ist aber die allen Glaubenden geltende Verheißung, die sie nicht länger an ihrer Annahme als Kinder Gottes zweifeln lässt.18 (4) Allen Glaubenden ist verheißen, in der Liebe von Gott vollkommen gemacht zu werden. Wesley vertrat einen Gnadenoptimismus, insofern das fortwährende Wachsen in der Gnade für ihn „ein unveräußerliches Strukturprinzip des Lebens aus dem Geist Gottes“ ist.19 Wesleys Vollkommenheitslehre hat nichts zu tun mit der Behauptung, frei zu sein von Irrtum, begrenzter Einsicht, natürlichen Schwächen, Versuchungen oder gar dem Angewiesensein auf Gott, sie soll vielmehr zur Geltung bringen, dass Gottes Liebe im Glaubenden zur prägenden Kraft des ganzen Lebens werden und dass die vollkommene, das heißt: ungeteilte Liebe nicht gemeinsam mit der Sünde bestehen kann. Die vollkommene Liebe wird praktisch als Hingabe an Gott im Dienst für eine durch Gottes Geist erneuerte Welt. Sie realisiert sich gerade nicht in klösterlicher Abgeschiedenheit, sondern in der Bereitschaft, dem Nächsten zu dienen und an Gottes Erneuerung der Welt teilzuhaben.
3.
Gemeinschaft: Verbindlich den Weg der Nachfolge gehen
Die Einladung, sich die Gnade Gottes gefallen zu lassen, ist zutiefst persönlich gemeint, weil der Einzelne in seiner Verantwortung für die zu treffende Entscheidung unvertretbar ist. Sie verbindet zugleich alle diejenigen untereinander und mit Gott, die dieser Einladung folgen und sich von Gottes Geist erneuern lassen möchten. Für Wesley stand außer Frage, dass „Christianity is essentially a social religion; and that to turn it into a solitary religion, is indeed to destroy it“.20 Der Ausdruck „sozial“ meint dabei zunächst das Beziehungsgefüge einer Gruppe, in der Menschen das Verlangen haben, die Erfahrung der Erlösung zu machen. Wesley bildete aus denen, die durch die biblischen Botschaft erweckt worden waren, „Societies“, also Gemeinschaften.21 Ohne Gemeinschaft kann der Glaube nicht wachsen und sich nicht als verantworteter Glaube bewähren. 18 19 20 21
Vgl. Collins, Theology, 129–137. Klaiber, Pneumatologie, 203. Vgl. zur christlichen Vollkommenheit a. a. O., 185–223. WJW, Bd. 1, 533. „Those who were desirous to save their souls were no longer a rope of sand, but clave to one another, and began to watch over each other in love. Societies were formed, and Christian discipline introduced in all its branches“, WJW, Bd. 3, 599.
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Gemeinschaft ist eine notwendige Bedingung dafür, dass der Glaube wachsen kann, doch ist Gemeinschaft an sich noch keine hinreichende Bedingung dafür. Denn der Glaube droht selbstgenügsam zu werden und sich nicht seiner Bestimmung gemäß entfalten zu können, wenn die Gemeinschaft in sich selber ruht. Der in der Liebe tätige Glaube durchdringt das innere und äußere Leben, er stellt aber zugleich in die Verantwortung für die Erneuerung der Welt, genauer: von Kirche und Gesellschaft. Der Glaube kann nur dann wachsen, wenn die Gemeinschaft sich in Gottes heilvoller Absicht mit dieser Welt hineinstellen lässt. So soll die Gnade nicht in dem Sinne angeeignet werden, dass sie zum ruhenden Besitz des Empfängers wird, vielmehr sollen Christen treue Haushalter der Gnade sein und sich von Gott in den Dienst stellen lassen. Denn wie sollten diejenigen, die Christus in der Bergpredigt seligpreist, anders Frieden stiften, nach Gerechtigkeit dürsten, Barmherzigkeit und Sanftmut leben sowie in Verfolgung ausharren, wenn nicht im Umgang mit der Welt jenseits der Grenzen der eigenen Gemeinschaft? Für Wesley war von dieser Einsicht her entschieden, dass die methodistische Gemeinschaftsstruktur sich darin zu bewähren hat, dass die Erfahrung des Heils Befreiung zur verbindlichen Nachfolge in dieser Welt ist. Eine solche Gemeinschaftsstruktur bedurfte verbindlicher Regeln, denn der Glaube setzt das Gebot der Liebe ins Recht. Die 1743 von John Wesley veröffentlichten „General Rules“ (Allgemeinen Regeln) hielten all diejenigen, die sich nach Erlösung von ihren Sünden und der Erneuerung in der Liebe sehnten, dazu an, (1) Böses zu meiden, (2) Gutes zu tun und (3) die von Gott verordneten Gnadenmittel zu gebrauchen.22 Alle drei Regeln werden durch nähere Anweisungen konkretisiert, wobei Wesleys Aufzählungen zum Meiden des Bösen ihren Ausgang bei Geboten des Dekalogs nehmen (den Namen Gottes nicht missbrauchen, den Tag des Herrn nicht entheiligen), er sodann vor dem Umgang mit Alkohol warnt – Alkoholismus galt als eine der Hauptursachen für Armut im England des 18. Jahrhunderts. Es folgen Anweisungen im Blick auf das Austragen zwischenmenschlicher Konflikte, den Gebrauch der Zunge sowie hinsichtlich der rechten Einstellung zum Besitz. Innere Haltungen wie äußere Handlungen sollen Gott ehren, in allem sollte die „Goldene Regel“ sich als leitend erweisen. Das Tun des Guten wird zum einen als diakonischer Dienst hinsichtlich der leiblichen Grundbedürfnisse von Menschen konkretisiert, zum anderen als Fürsorge für die geistlichen Belange des Nächsten. Beides mündet ein in den – auch im Geschäftsleben zu bevorzugenden – Umgang mit den Glaubensgeschwistern, das Einüben von Tugenden wie Fleiß und Sparsamkeit und das Festhalten am Glauben auch in Bedrängnis. Zu den von Gott verordneten Gnadenmitteln zählt Wesley hier den öffentlichen Gottesdienst einschließlich der 22 Eine deutsche Übersetzung der General Rules findet sich bei Burkhardt, Lebensregeln, 104– 109.
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Wortverkündigung und des Abendmahls, das persönliche sowie das Gebet in der Familie, die Beschäftigung mit der Bibel, Fasten und Enthaltsamkeit.23 So entfalten die „Allgemeinen Regeln“ ihre geistliche Logik: Wer sich vom Bösen als Ausdruck sündiger Ichzentriertheit abwendet (Regel 1), wird frei dazu, sich der Beziehung zum Nächsten (Regel 2) und zu Gott (Regel 3) zu öffnen und darin Gottes Wirken Raum zu geben. Was Wesley zufolge zählt, ist Sehnsucht nach Erlösung, die selber schon ein Ausdruck des Wirkens von Gottes Gnade ist. Der Glaube, und sei er auch erst anfänglicher Glaube, ist Antwort auf Gottes Wirken, doch braucht diese Antwort einen Raum verantwortlichen Lebens. Die Neuordnung des Lebens in der Befreiung zur Verbindlichkeit wendet den Erweckten von den Ablenkungen und Versuchungen der Welt ab und richtet ihn auf Gott aus. Die Bereitschaft zum Befolgen der „Allgemeinen Regeln“ war dann auch die einzige Voraussetzung, um in einer methodistischen Gemeinschaft Aufnahme zu finden. Das Leben dort vollzog sich in der Polarität von Kleingruppen- und Gemeinschaftsveranstaltungen, es war zugleich auf das Leben der verfassten Kirche bezogen, die zu erneuern, nicht zu ersetzen, Gott den Methodismus nach Wesleys Überzeugung erweckt und berufen hatte.24 Die komplexe Gruppenstruktur der frühen methodistischen Gemeinschaften hatte ihre Wurzeln in den religiösen „societies“ Englands sowie im Gemeinschaftsleben der Herrnhuter Brüdergemeine.25 Bereits im Oktober 1739 verwendete Wesley die Bezeichnung „United Society“ für eine methodistische Gemeinschaft, später übernahm er diese Bezeichnung für den Verbund methodistischer Gemeinschaften (die „connexio“) insgesamt. Worum ging es Wesley bei der Sammlung in „societies“? 26 Wesley erkannte die Herausforderung, die darin lag, das Leben im (schwächeren oder stärkeren) Glauben in der Gegenwart Gottes zu führen, das aber in einer Welt zu tun, die diesem Anliegen in vielerlei Hinsicht entgegenwirkte. Die Gemeinschaften sollten den Glauben nähren sowie zu einem Leben anleiten, das (gerade) auch außerhalb der Gemeinschaft Zeugnis der verändernden Gnade Gottes ist. Die „societies“ waren insofern zentralistisch organisiert, als sie ganz auf die Leiterschaft John Wesleys hin ausgerichtet waren. Auch in der mit den Jahrzehnten wachsenden Gemeinschaft blieb Wesley bis an sein Lebensende die geistlich-theologische Führungspersönlichkeit der methodistischen Bewegung, der die Prediger zu folgen hatten. Vor Ort waren die Gemeinschaften darauf ausgerichtet, jeden Einzelnen in den verbindlichen Gehorsam des Glaubens an Christus einzuweisen. Alle Mit23 Für eine Interpretation der General Rules vgl. Carter, Methodist. 24 Vgl. Works, Bd. 8, 299. 25 Vgl. dazu Watson, Meeting, 67–80; zur Bedeutung der Fetter Lane Society für die Entwicklung der methodistischen Gemeinschaftsstruktur vgl. Henderson, Meeting, 63–69. 26 Zum Folgenden vgl. Knight, Presence of God, 95ff.
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glieder sollten einander helfen, dass die Gnade in ihrem Leben Gestalt gewinnt und sie sich darüber aussprechen, welche Hindernisse dem im eigenen Leben entgegenstehen. Das zahlenmäßige Wachstum machte eine Aufteilung der Gemeinschaften in Kleingruppen notwendig, um die genannten Zwecke erfüllen zu können. Dabei übernahm Wesley zum Teil Modelle der Herrnhuter, zum Teil folgte er pragmatischen Überlegungen angesichts konkreter Herausforderungen. In diesem Zusammenhang sind als erstes die methodistischen „Klassen“ zu nennen, auch wenn sie erst ab 1743 gebildet wurden und sich einem eher zufälligen Anlass, nämlich einer zu organisierenden Geldsammlung in der Society von Bristol verdankten. In ihrer letztlich verbindlich gemachten Gestalt handelte es sich um eine aus circa zwölf Männern und Frauen bestehende Gruppe, die nach Wohnortnähe der Mitglieder gebildet wurde. Die Klasse traf sich einmal wöchentlich unter der Anleitung eines „class leader“, als Zugangsberechtigung galten „class tickets“, die – anfänglich – alle Vierteljahre erneuert werden mussten. Um Aufnahme in eine Klasse – und somit in die „society“ – zu finden, musste weder einem bestimmten Glaubensbekenntnis zugestimmt noch Zeugnis von einer bereits erfahrenen Bekehrung gegeben werden. Einzige Bedingung war das Verlangen, von der Schuld und Macht der Sünde befreit zu werden und dieses Verlangen dadurch unter Beweis zu stellen, dass man nach den Anweisungen der „General Rules“ lebte. Anhaltendes Zuwiderhandeln zog den Ausschluss aus der Society nach sich, der als vollzogen galt, wenn das class ticket nicht erneuert wurde.27 Herzstück einer „Klaßversammlung“ – so die spätere Eindeutschung – war der katechetische Austausch zwischen den Mitgliedern und dem Leiter, der das Gespräch führte. So dürfte das Leitmotiv der Klassenversammlungen die Rechenschaft vom gelebten Glauben gewesen sein.28 Im Gespräch wurde die Aufmerksamkeit sowohl auf die äußerliche Einhaltung der Regeln als auch auf den inneren Seelenzustand gerichtet, wobei der „Klaßführer“ Ermutigung und Ermahnung aussprach, so wie es ein jeder brauchte. Die Klaßführer waren angehalten, sich zur geistlichen Entwicklung der einzelnen Mitglieder einen Vermerk zu machen, sie waren ihrerseits den von Wesley eingesetzten Predigern verantwortlich, die wiederum Wesley unterstanden. Mitglied in der Society konnte nur bleiben, wer regelmäßig die Klaßversammlungen besuchte und die „Allgemeinen Regeln“ in seinem Leben beachtete. Diese Struktur verbindlicher Zellgruppen (wie wir heute sagen würden) hatte ihre Bedeutung zum Ersten in der in ihnen Ausdruck findenden strukturellen und intentionalen Offenheit des Methodismus. Da die Mitgliedschaft in einer Klasse keine anderen Voraussetzungen erforderte als das Verlangen nach Erlö27 „The tickets […] distinguished members from nonmembers and provided a ,quiet and inoffensive way of removing any disorderly members‘“, Knight, Presence of God, 104. 28 Vgl. Watson, Meeting, 143ff.
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sung, standen die Klassen allen Suchenden offen und setzten weder Bekehrung noch Heilsgewissheit voraus.29 Die Klassen stellten zweitens den Kontext bereit, in dem Verbindlichkeit eingeübt werden konnte. Die Disziplin, der sich die Erweckten bzw. Suchenden freiwillig unterstellten, bezeugte ihr aufrichtiges Verlangen und wurde zugleich zu einem Mittel immer tieferer Gnadenwirkungen. Drittens stärkten die Klassen die Suchenden und Glaubenden zum Gehorsam gegen Gott in einer Welt, die den Zeichen eines erneuerten Lebens ablehnend gegenüberstand. Um in der Welt mit einem (und sei es schwachen) Glauben bestehen zu können, bedurfte es eines diesen Glauben stärkenden Kontextes. Schließlich ist der inklusive Charakter der Klaßversammlungen zu betonen. Innerhalb einer im Ganzen nach Geschlechtern getrennten Gemeinschaftsstruktur stellten die Klaßversammlungen eine Ausnahme dar, insofern hier Frauen und Männer vereint waren. Darüber hinaus stellten sie einen für damalige Verhältnisse ungewöhnlichen Kontext dar „for free expression in an accepting environment by people from widely different social backgrounds. Looking back […] the Wesleyan class meeting seems to have been the first and probably the most powerful leveling agent which helped to break up the rigid British caste system and provide upward social mobility“.30 Stets ging es darum, das Leben eines Christen nicht nur in der Gemeinschaft zu führen, sondern es in den Herausforderungen des täglichen Lebens zeugnishaft zu leben und die empfangene Gnade wirken zu lassen. Während die Klassen nach dem Wohnortprinzip eingerichtet waren, gab es weitere Kleingruppen, die am geistlichen Fortschritt der Mitglieder ausgerichtet wurden. Zu diesen nach Geschlechtern und Familienstand getrennten Gruppen gehörten die „bands“. Die Bands vereinten die bekehrten Mitglieder der Society, die weiter im Glauben und in der Heiligung wachsen wollten. Die Zugehörigkeit zu einer „band“ war nicht verpflichtend, verstand sich aber in der Praxis von selbst.31 Intensität des Austauschs und der Verbindlichkeit der Nachfolge waren hier höher als in der Klasse. Die Bands wählten ihren Leiter selbst, das Gespräch wurde von diesem geleitet, bestand jedoch in einem wechselseitigen Austausch zwischen den Mitgliedern, die einander als geistliche Führer dienten.32 Die „Rules of the Band Societies“ formulierten in schärferer Weise als die „General Rules“, dass „Band members were to abstain from evil carefully, to maintain good works zealously, and to attend on all the ordinances of the church constantly“.33 29 Eine Untersuchung hat gezeigt, dass nahezu die Hälfte aller britischen Methodisten im 18. Jahrhundert die Erfahrung der Wiedergeburt bezeugten, nachdem sie Probemitglied oder volles Mitglied einer Klasse geworden waren; vgl. Albin, Methodism, 45. 30 Henderson, Meeting, 98. 31 Vgl. a. a. O., 116. 32 Vgl. Knight, Presence of God, 101f. 33 Watson, Meeting, 117.
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Neben den „penitent band“ für solche, die im Glauben gestrauchelt waren, sind schließlich die „select societies“ zu nennen, die faktisch als erweiterer Führungszirkel einer „Society“ fungierten. Jedenfalls erweist die Liste einer frühen „select society“ in London, dass alle Namen dieser Gruppe in anderen Listen als Leiter von Klassen, Bands sowie als Lokalprediger begegnen.34 Die „select societies“ dienten somit als Ort der Rechenschaft und der Zurüstung für die in der Heiligung Fortgeschrittenen und mit der Leitung Beauftragten, sie folgten von daher auch einer anderen inneren Ordnung als die übrigen Kleingruppen. So hatten sie keinen Leiter, keine festen Regeln und kein vorgeschriebenes Format für ihre Treffen. Wesley ermutigte in diesen Gruppen zum offenen und kritischen Austausch über Praxis und Prinzipien der methodistischen Bewegung. Es galt hier die Logik des „learning by doing“: die Leiter „were learning to lead by making decisions and establishing policies and sharpening doctrine“.35 Für den Glaubensweg von Methodisten im 18. Jahrhundert galt es als selbstverständlich, in eine Gemeinschaft eingebunden zu sein, die sowohl Großversammlungen als auch verbindliche Kleingruppenzugehörigkeit einschloss, denn „Methodism was not just a message to be proclaimed, it was a lifestyle to be embodied“.36 Gottes Gnade sollte in jedem Menschen zur Entfaltung kommen, der seinen Widerstand aufgibt und sich im Verlangen nach der Rechtfertigungserfahrung auf den Weg der Erneuerung einlässt. Dieser Wachstumsprozess vollzieht sich unvertretbar am einzelnen Menschen, der einzelne Mensch besteht aber immer in den Beziehungsgefügen, an denen er teilhat. Daher ist Gemeinschaftsbildung als zweites Grundmotiv methodistischer Spiritualität zu bezeichnen.
4.
Die Gnadenmittel: Verantwortlich leben – die Gnade wirken lassen
Wesley verstand die methodistischen Gemeinschaften selbst als „Gnadenmittel“ (engl. „means of grace“), insofern in ihnen das Heil als etwas Gegenwärtiges erfahren und das Leben in einer beständigen Beziehung zu Gott und dem Nächsten geführt werden konnte. Eine grundlegende Definition hat Wesley in seiner Predigt zu den Gnadenmitteln gegeben, wo er sie bezeichnet als „outward signs, words, or actions ordained of God, and appointed for this end – to be the ordinary channels whereby he might convey to men preventing, justifying, or 34 Vgl. Henderson, Meeting, 123. 35 A. a. O. 36 A. a. O., 132.
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sanctifying grace“.37 Näherhin konnte Wesley zwischen den allgemeinen, den konkret (von Gott) eingesetzten und den im Sinne der Weisheit empfohlenen („prudential“) Gnadenmitteln unterscheiden,38 wie auch zwischen Übungen der Frömmigkeit („works of piety“) und Übungen der Barmherzigkeit („works of mercy“).39 Zu den Übungen der Frömmigkeit zählt er das öffentliche und das Familiengebet, das Empfangen des Abendmahls und das Studium der Heiligen Schrift, ferner Fasten und Enthaltsamkeit, während er den Übungen der Barmherzigkeit die Fürsorge für den Nächsten, und zwar sowohl für den „äußeren“ wie für den „inneren Menschen“, zuordnet: „feeding the hungry, clothing the naked, entertaining the stranger, visiting those that are in prison, or sick, or variously afflicted; such as the endeavouring to instruct the ignorant, to awaken the stupid sinner, to quicken the lukewarm, to confirm the wavering, to comfort the feebleminded, to succour the tempted, or contribute in any manner to the saving of souls from death“.40
Wesley möchte mit der differenzierten Bestimmung des Begriffs Gnadenmittel zwei Missverständnissen wehren. Zum einen weist er die Auffassung zurück, wonach die Gnade Gottes ohne die von Gott verordneten Gnadenmittel empfangen wird. Wesley möchte nicht Gottes Souveränität in Frage stellen, sondern vielmehr von der Bibel her die gewöhnliche Erwartung derer stärken, die sich nach Erlösung sehnen. Sie sollen sich im Netz der Gnadenmittel beheimaten, weil Gott verheißen hat, darin den Menschen zu begegnen und sie mit seiner Gegenwart zu beschenken. Zum anderen lehnt Wesley die Vorstellung ab, die Gnadenmittel hätten ihren Zweck in sich selbst und könnten aus sich heraus das Heil vermitteln. Wesley betont, dass alle äußeren Anordnungen ihre den Menschen erneuernde Kraft nur durch den in ihnen wirkenden Geist Gottes haben und dass der Zweck der Gnadenmittel darin liegt, die Menschen in die Erkenntnis und Liebe Gottes hineinzuführen. Beide haben nur im Glauben Bestand, also in der Beziehung zu Christus, auf den auch der vollkommene Christ zu jeder Stunde seines Lebens angewiesen bleibt. So zielt methodistische Spiritualität auf eine umfassendere Erneuerung: auf die Erneuerung des „inneren“ wie des „äußeren“ Menschen, und damit auf die Erneuerung der Beziehungsgefüge, in denen Menschen leben, angefangen von der Familie und Gemeinde bis hin zur Welt, die Gottes Schöpfung ist und bleibt. Der Gebrauch der Gnadenmittel ermächtigt zur gelebten Verantwortung und ist zugleich deren Manifestation. Um dies sichtbar machen zu können, ist Wesley die 37 38 39 40
WJW, Bd. 1, 381. Vgl. dazu Knight, Presence of God, 2ff. Vgl. WJW, Bd. 1, 572ff; WJW, Bd. 3, 313. WJW, Bd. 2, 166.
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Unterscheidung von Übungen der Frömmigkeit und Übungen der Barmherzigkeit wichtig, die sich jeweils in eine öffentliche und eine private Dimension hinein erstrecken.41 In ihnen wird Gottes Gnade erfahren und weitergegeben, ihr Zusammenspiel wiederum soll den Gefahren des Enthusiasmus einerseits und des Formalismus andererseits wehren. Im Folgenden sollen einige ausgewählte Gnadenmittel näher untersucht werden, bevor wir abschließend nach dem Beitrag der methodistischen Spiritualität im Horizont ökumenischer Gemeinschaft fragen.
4.1
Übungen der Frömmigkeit (1): Der Gottesdienst
Im Zentrum des Gottesdienstes in den methodistischen „societies“ des 18. Jahrhunderts stand die Verkündigung des Wortes Gottes (während Wesley zum Empfang des Abendmahls in der Anglikanischen Kirche aufforderte).42 Der Gottesdienst hatte Verkündigungscharakter, die Verkündigung geschah jedoch auf verschiedene Weise. Herausragende Bedeutung kam – gut reformatorisch – der Predigt zu. Doch betonten die Wesley-Brüder auch die Wichtigkeit des Singens als Gnadenmittel. Musik galt ihnen als eine Gabe Gottes und nahm daher „neben Wortverkündigung und Gebet die wichtigste Stelle ein“.43 Daher soll hier exemplarisch der Blick auf die Praxis und das Verständnis des Singens gerichtet werden. „Methodism was born in song“, so beginnt das Vorwort zum britischen Methodist Hymn Book von 1933.44 Bereits 1737 begann Wesley damit, Lieder für den Gemeindegesang zu sammeln und sie in verschiedenen Ausgaben herauszubringen. Die Methodisten wurden sehr bald für ihren kraftvollen Gemeindegesang bekannt, der weithin zu hören war. Viele Methodisten der Anfangszeit besaßen lediglich eine Bibel und ein Gesangbuch, die fleißig gebraucht wurden. Gesungen wurde nicht nur im Gottesdienst, sondern auch in der Hausandacht oder der persönlichen Gebetszeit. Wesley ermahnte in seinen „Directions of Singing“ dazu, sich genau an den gedruckten Text zu halten, von Herzen in den gemeinsamen Gesang einzustimmen, vor allem aber, aus einer inneren geistlichen Bestimmtheit heraus zu singen: „Above all sing spiritually. Have an eye on God in every word you sing. Aim at pleasing him more than yourself, or any other creature“.45 Viele der von Wesley gesammelten Lieder wurden zu einfachen Volksmelodien gesetzt, was sie populär machte. Außerdem legte Wesley großen 41 42 43 44 45
Vgl. Watson, Covenant Discipleship, 78; Leßmann, Covenantgruppen, 141. Mit diesem Anliegen dürfte Wesley als gescheitert gelten. Brose, Kirchenlied und Kirchenmusik, 21. The Methodist Hymn Book, v. Works, Bd. 14, 346; vgl. Handt (Hg.), „… im Lied geboren“, 275.
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Wert auf die Verständlichkeit der Texte, weshalb er den mehrstimmigen Gesang ablehnte. Die Mehrzahl der durch den Methodismus verbreiteten Lieder, die heute noch im Gebrauch sind, stammen aus der Feder von Charles Wesley, der als wichtigster Liederdichter des Methodismus gelten kann.46 John Wesley ergänzte die Dichtungen seines Bruders um Übersetzungen von deutschen Kirchenliedern.47 Die Vorrede und der Aufriss der 1780 von Wesley edierten „Collection of Hymns for the use of the People called Methodists“ geben Aufschluss über die von Wesley dem Singen beigelegte Bedeutung.48 Die Wesleys waren davon überzeugt, dass das Singen zu Herzen geht, umso wichtiger war es, dass die Texte zum lebendigen Glauben anleiteten. Durch das Singen lernten Methodisten „to understand their Bibles better, a secure foundation of evangelical theology was laid in their minds, and they were built up in the Christian faith“.49 Als Gnadenmittel erweckte das Singen die geistlichen Sinne des Glaubenden und stärkte die Beziehung zu Gott, wobei die Lieder gemäß den Stufen der Heilserfahrung angeordnet waren, und somit dem ersten Suchen des Erweckten ebenso Worte gaben wie denen, die nach der Vollkommenheit in der Liebe verlangte. Die Mehrzahl der Lieder ist Anrede an Gott und rückt den Gesang somit an die Seite des Gebets. So kommen Singen und Beten als Formen der Antwort auf die Verkündigung in Schriftlesung und Predigt zum Stehen. Für Wesley bildete die „Collection of Hymns“ im Ganzen „a little body of experimental and practical divinity“,50 also einen Schatz gesungener Erfahrung des in der Bibel bezeugten und durch sie vermittelten Heils. Wenn Wesley die Methodisten dazu aufforderte, die von Gott verordneten Gnadenmittel nicht zu vernachlässigen, war das Abendmahl darin eingeschlossen.51 Wesley ermahnte die Mitglieder seiner Gemeinschaft dazu, beständig (und das hieß: wann immer es möglich war), am Abendmahl teilzunehmen, weil Gott es so angeordnet hat und es dem Menschen zum Segen gereicht.52 Große Abendmahlsfeiern mit Tausenden von Kommunikanten unter Leitung der Wesley-Brüder sind gut bezeugt, doch ist ebenso deutlich, dass sich im Methodismus des 18. Jahrhunderts eine eucharistische Frömmigkeit mit dem wöchentlichen Abendmahl als Regelfall nicht durchzusetzen vermochte.53 Als praktisch hinderlich dürfte sich dabei auch Wesleys Anweisung ausgewirkt ha46 47 48 49 50 51 52 53
Vgl. Berger, Theologie und Doxologie; Brose, Zum Lob befreit; Kimbrough (Hg.), Wesley. Vgl. Nuelsen, Wesley. Vgl. WJW, Bd. 7. Franz Hildebrandt/Oliver A. Beckerlegge, Introduction, in: a. a. O., 62. A. a. O., 74. Vgl. Raedel, Abendmahl; Borgen, Wesley on the Sacraments. Vgl. WJW, Bd. 3, 428–439. Vgl. Rack, Reasonable Enthusiast, 419.
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ben, dass die Leitung des Abendmahls stets in den Händen ordinierter Pfarrer und der von Wesley eingesetzten Prediger zu liegen habe. So bleibt es dabei, dass Wesley dazu aufforderte, das Abendmahl so oft wie es möglich war zu empfangen, und die Methodisten dieser Aufforderung mehrheitlich nur in sehr weiter Auslegung folgten. Im Abendmahl teilt der Heilige Geist im äußeren Zeichen der Elemente und unter dem Zuspruch des deutenden Verheißungswortes eine innere Gnade mit. In den von John und Charles Wesley herausgegebenen „Hymns on the Lord’s Supper“ wird diese Gnadenwirkung in einer dreifachen Weise näher bestimmt:54 So weisen die Lieder 1 bis 27 in die Vergangenheit. Sie vergegenwärtigen die Leiden und den Tod Christi, der die Dimensionen von Raum und Zeit transzendiert, so dass die Gemeinde an den Fuß des Kreuzes Christi geführt wird, dessen Leiden so für jeden Einzelnen existenziell bedeutsam werden. In den Liedern 28 bis 92 wird das Abendmahl als Zeichen und Gnadenmittel in die Gegenwart eingerückt. Die Gemeinde erkennt, dass ihre eigene Sünde Christus ans Kreuz brachte und wird so in die Erkenntnis der Buße hineingeführt. Zugleich erhält sie Anteil an den Segnungen des Versöhnungstodes Jesu und wird so in der Liebe zu Gott und zum Nächsten gestärkt. Die Lieder 93 bis 115 richten den Blick auf die Zukunft, indem sie Christi Tod und Auferstehung als Unterpfand des Himmels ansichtig werden lässt. Gott versichert im Abendmahl, dass das bereits im Glauben empfangene Heil als Angeld die vollkommene Gemeinschaft mit Gott in der Ewigkeit schon hier auf Erden antizipiert. So vollzieht sich in der Feier des Abendmahls eine doppelte Bewegung: Gott schenkt auf sakramentale Weise Anteil an der Versöhnung im Tod Christi, die Glaubenden bringen ihr Leben Gott als Opfer dar, das freilich nur um der Hingabe Christi willen und allein in der Gemeinschaft mit seinem Tod vor Gott annehmbar ist. Von diesem tief in der anglikanischen Frömmigkeit verwurzelten Verständnis des Abendmahls her erschließt sich auch die präzise Bedeutung des heute unscharf gewordenen Verständnisses vom „offenen“ Abendmahl. Wesley hatte in einem Eintrag seines Tagebuchs vom 27./28. Juni 1740 erklärt, „1. That the Lord’s Supper was ordained by God, to be a means of conveying to men either preventing, or justifying, or sanctifying grace, according to their several necessities […] And, 4. That no fitness is required at the time of communicating, but a sense of our state, of our utter sinfulness and helplessness; every one who knows he is fit for hell, being just fit to come to Christ, in this as well as all other ways of his appointment“.55
Wesley vertrat also die Auffassung, dass das Abendmahl jeder empfangen sollte, der im Glauben, und sei dieser noch so schwach, ersehnt, was Gott verheißen hat. So empfängt der noch Suchende ebenso wie der bereits Bekehrte gerade die 54 Wesley/Wesley, Hymns. Vgl. dazu Wainwright, Sacraments, bes. 348ff. 55 Works, Bd. 1, 280.
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Gnadenwirkung, die ihn auf dem Glaubensweg weiterbringt. Die Einladung gilt somit allen, die sich nach der Erlösung sehnen und dies darin zum Ausdruck bringen, dass sie das Böse meiden und das Gute zu tun beginnen (gemäß den „General Rules“). Dahinter steht Wesleys Vorstellung von Stufen des Glaubens, doch vermag nach Wesley weder ein schwacher noch ein starker Glaube Bestand zu haben, wenn er sich nicht in der Abwendung vom Bösen zeigt.56 Den Raum für diese Umkehr eröffnen die methodistischen Gemeinschaften und strukturieren die „Allgemeinen Regeln“. Das Missverständnis, wonach ausnahmslos alle Menschen zum Abendmahl eingeladen sind, konnte sich erst mit dem Niedergang der Klassenversammlungen einstellen, während bis ins 19. Jahrhundert hinein, in Deutschland noch länger, das Abendmahl in methodistischen Gemeinschaften gefeiert wurde, deren Zugang durch die „class tickets“ streng reglementiert war. Faktisch stand das Abendmahl also allen offen, die rechten Glaubens und Wandels waren, wobei dies nach methodistischem Verständnis nicht das Zeugnis bereits erfahrener, wohl aber die ernstliche Erwartung der Wiedergeburt einschloss.57 Am Abendmahl teilzunehmen ohne den Vorsatz, sich vom Bösen abzuwenden, hieße „in effect renouncing your baptism, wherein you solemny promised to keep all his commandments“.58 Weil das Abendmahl auch das Element der Erneuerung des Taufversprechens einschließt, kann das „offene“ Abendmahl für Wesley auch keine Umkehrung der Reihenfolge von erst Taufe und dann Empfang des Abendmahls bedeuten. Eine solche Praxis wäre für Wesley, der die Taufe als das wirksame Gnadenmittel der Wiedergeburt verstand,59 theologisch nicht zu rechtfertigen. Demgegenüber bot der „covenant service“ (Bundeserneuerungsgottesdienst) eine besondere, feierliche Gelegenheit, sich zum Taufbund zu bekennen. Der „covenant service“ ist seit 1755 bezeugt und wurde in den methodistischen Gemeinschaften für gewöhnlich zum Jahreswechsel gefeiert. Er fand seinen Höhepunkt in einem von der Gemeinde gesprochenen Gebet ungeteilter Hingabe an Gott. Wesley berichtet wiederholt von den tiefgreifenden Wirkungen solcher Feiern, so 1780: „Several received either a sense of the pardoning love of God, or power to love him with all their heart“.60 Die frühe methodistische Spiritualität steht somit für den – historisch nicht immer ge56 Ole Borgen führt zu diesem Punkt aus, dass der von Wesley gelegentlich sogar so bezeichnete Nichtgläubige „is one who is convinced of hiss ins (repents), and has a measure of faith; to the extent that he assents to the doctrine that Christ died for sinners and desires and believes that the fulness of faith may be received at the Lord’s Table. The inveterate, impenitent sinner Wesley flatly rejects“, Borgen, Wesley on the sacraments, 200. 57 Vgl. Rack, Reasonable Enthusiast, 418. 58 WJW, Bd. 3, 435. 59 Vgl. Borgen, Wesley on the sacraments, 121–182. 60 Works, Bd. 4, 195.
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glückten – Versuch, erweckliche Frömmigkeit und sakramentales Leben so aufeinander zu beziehen, dass den Gefahren eines einseitigen Gebrauchs bestimmter Gnadenmittel gewehrt und das Leben der Methodisten so zu der ihr von Gott bestimmten Reife geführt wird.
4.2
Übungen der Frömmigkeit (2): Die Liebesfeste
Während die Erneuerung des Bundes mit Gott ihre Wurzeln im englischen Puritanismus hatte, griff Wesley für die Praxis der methodistischen Liebesfeste auf die Agapefeiern der Herrnhuter (Liebesmahle) zurück, die er während seiner Zeit als Missionar in Georgia kennengelernt hatte, auch wenn Wesley bis auf urchristliche Belege für Agapefeiern zurückgreift.61 Die Liebesfeste wurden in der Anfangszeit der methodistischen Bewegung in den „bands“, also den Gruppen der wiedergeborenen Christen, gefeiert, und zwar in der ersten Woche in den Gruppen der Männer, in der zweiten Woche in denen der Frauen, in der dritten Woche gab es ein gemeinsames Liebesfest. Ab 1759 sind jährlich stattfindende Liebesfeste der gesamten Society belegt, ab 1780 setzte sich die Praxis durch, die Liebesfeste halb- oder vierteljährlich zu feiern. Sie schlossen sich dann in der Regel dem sonntäglichen Gemeinschaftsgottesdienst an und standen als Feier der ganzen Gemeinschaft sowohl Glaubenden als auch Suchenden offen. Die methodistischen Liebesfeste folgten einer einfachen Ordnung: Nach Lied und Gebet wurde von den Verwaltern Brot ausgeteilt und ein Kelch mit Wasser herumgereicht. Zwischen der Austeilung von Brot und Wasser wurde eine Armenkollekte erhoben, deren Bedeutung durch diese Platzierung noch einmal besonders unterstrichen war. Es folgte eine Zeit, in der Zeugnisse gegeben und Liedverse in Erinnerung gerufen wurden, freie Gebete beendeten diese Zeit. Nach Wesleys Verständnis lag der Zweck der Liebesfeste vor allem in diesem freien Austausch von Erfahrungen des Glaubens und dem Verlangen, im Glauben gestärkt zu werden. Wesley schreibt: „The very design of a love-feast is a free and familiar conversation, in which every man, yea, and woman, has liberty to speak whatever may be to the glory of God“.62 Wesley berichtet in seinem Tagebuch wiederholt von machtvollen Gnadenwirkungen in diesen Versammlungen, wenn Anwesende Gewissheit ihres Glaubens erfuhren oder mit Liebe zu Gott und dem Nächsten erfüllt wurden. In der Praxis der Liebesfeste kommt Wesleys Anliegen zum Tragen, die Kraftwirkungen und die Gemeindepraxis der ersten Christen im Heute erfahrbar werden zu lassen, und so eine Brücke zwischen der Zeit der Apostel und der Gegenwart zu bauen. 61 Zum Folgenden vgl. Renders, Agapen, bes. 43–54; vgl. weiter Baker, Methodism. 62 WJW, Bd. 21, 336.
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Übungen der Barmherzigkeit (1): Tätigen Anteil nehmen
Neben den Übungen der Frömmigkeit sah Wesley auch die Übungen der Barmherzigkeit als Wege an, auf denen Gott den Menschen seine Gnade zukommen lässt. Tätige Anteilnahme und das Streben nach Gerechtigkeit galten Wesley als wesentliche Bedingung dafür, dass der Glaube, durch den allein Menschen gerettet werden, Bestand hat und gestärkt wird. Durch Übungen der Barmherzigkeit verleihen Christen ihrer Liebe zu Gott Ausdruck im Dienst am Nächsten und wachsen in der Liebe, in der sich der Glaube als tätig erweist.63 So ist die tätige Liebe wie ein Muskel, der verkümmert, wenn er nicht gebraucht wird. In den Übungen der Barmherzigkeit, schreibt Wesley, „we exercise all holy tempers; by these we continually improve them, so that all these are real means of grace“.64 Hinsichtlich der persönlichen moralischen Verantwortung verweist Wesley in Anlehnung an Matthäus 25 immer wieder auf die sieben Werke der Barmherzigkeit, die zu tun den Christen aufgetragen sind. Sehr eindrücklich erläutert er in seiner Predigt „On Visiting the Sick“, in welcher Weise der Besuch (armer) kranker Menschen zu einem Mittel der Gnade für alle Beteiligten wird. Wesley erläutert, dass es die persönliche Begegnung mit dem Kranken braucht, sich der Besuch nicht einfach an Bedienstete (wir würden heute ergänzen: Dienstleister) delegieren lässt. Nur wer sich auf die Lebenswelt des Leidenden einlässt, wird in der Liebe wachsen. Wer Kranke und Bedürftige besucht, wird konkret zum einen dankbar für die eigene Gesundheit, zum anderen stärkt er die Befähigung zum Mitleiden mit und Wohlwollen gegenüber dem Leidenden. Wesley stellt klar: „One great reason why the rich in general have so little sympathy for the poor is because they so seldom visit them“.65 Wer Kranke besucht, wird weiterhin erfahren, dass er dieser Aufgabe eigentlich nicht gewachsen ist, vielleicht nicht weiß, was recht zu sagen oder zu tun oder auch zu unterlassen ist. So treibt ihn das eigene Ungenügen ins Gebet, im Wissen um die eigene Abhängigkeit von Gott, der allein recht zu helfen vermag. Schließlich gibt Wesley zu bedenken, dass der Kranke nicht auf sein Kranksein reduziert werden darf, sondern in seiner Bestimmung als Ebenbild Gottes wahrzunehmen ist. Daher soll das Gespräch zwar zunächst bei den äußeren Bedürfnissen einsetzen, dann aber auch das innere, geistliche Erleben des Kranken einbeziehen. Auch beim Krankenbesuch geht es nach Wesley darum, in einer dem Zustand und Verständnis des Leidenden angemessenen Weise diesem das Wesen der 63 „Works of mercy are means of grace through which the active expression of love in the world both increases sensitivity to human need and deepens the capacity to love“, Knight, Presence of God, 112. 64 WJW, Bd. 3, 313. 65 WJW, Bd. 3, 387.
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Gotteskindschaft vor Augen zu malen und ihn zu Umkehr und Erneuerung einzuladen. Denn warum sollte Christus als die Heil bringende Gegenwart Gottes dem verschwiegen werden, der ohnehin schon in Nöten und Ängsten ist? Übrigens verlässt Wesley auch hier seinen Standpunkt nicht, wonach jede Wiederherstellung, sei sie innerlich oder äußerlich, den rechten Kontext braucht, also ein gedeihliches Umfeld, in dem Heilung und Erneuerung zur Wirkung kommen können. Daher soll auch vom Alltagsnutzen solcher Tugenden wie Fleiß und Reinlichkeit gesprochen werden. Wesleys Ausführungen belegen, dass die Welt des Glaubens nicht abgesondert von der Lebenswelt besteht, sondern der Glaube sich mitten im alltäglichen Leben als in der Liebe wirksam und heilsam erweisen soll. In dieser Predigt klingen bereits das Gefälle zwischen Arm und Reich sowie die Gefahren an, die Wesley mit zunehmendem Wohlstand verbunden sah. Wesley dachte bei den Gefahren, die in der Gier nach immer mehr liegen, nicht lediglich an einige besonders reiche Menschen, sondern auch an die vielen Methodisten, die infolge der Neuordnung ihres Lebens durch Gottes Gnade mehr hatten, als sie notwendig zum Leben brauchten. Wesley betont, dass alles Vermögen dem Christen nicht als Eigentum überlassen, sondern von Gott zur treuen Verwaltung anvertraut wurde.66 Christen sind Haushalter der vielerlei Gnade Gottes, die einst ihrem Herrn Rechenschaft darüber geben müssen, wie sie das anvertraute Gut verwendet haben. Für Wesley bedeutete dies, Gott nicht lediglich ein Anrecht auf einen – z. B. den zehnten – Teil des Einkommens bzw. Vermögens zuzugestehen, sondern seine Verfügungsmacht über alles, was zur Sicherung eines einfachen Lebensstils notwendig ist (wobei Wesley anerkennt, dass diese Einfachheit in unterschiedlichen sozialen Ständen Verschiedenes bedeuten kann). Die Übungen der Barmherzigkeit lassen Christen in der Liebe wachsen und verwandeln so das Leben samt seinen Beziehungsgefügen. Kraft dieser geistlichen Verwandlung werden die Versuchungen der Habgier und des Geizes im Glaubenden überwunden. Das Vertrauen auf Gott wird gestärkt, die Abhängigkeit von seiner Gnade stärker empfunden, so dass das ganze Leben in die Erneuerung durch Gottes Geist hineingenommen wird. Das, so Wesleys Überzeugung, wird und muss auch die Welt verändern.
4.4
Übungen der Barmherzigkeit (2): Sich für Gerechtigkeit einsetzen
Wesley lehrte nicht nur den allgemeinen, also für alle Menschen freien Charakter der Gnade, sondern auch den allgemeinen Charakter der Sünde („original sin“). Wenn Wesley in Verkündigung und Gemeinschaftsbildung den Akzent stark auf 66 Vgl. zum Ganzen Miles, Works of Mercy.
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die persönliche Sünde und deren Überwindung durch Gottes Gnade legte, dann bedeutet dies nicht, dass Wesley sich blind zeigte für die systemischen Übel seiner Zeit. Vielmehr wusste er um das universale Schuldverhängnis, in das alle Menschen eingewoben sind und das anzuerkennen nötigt, dass persönliche Schuld Auswirkungen auf andere hat, ja, dass „our sins [are] one great cause of their sufferings“.67 So ist das Ziel seiner Verkündigung ein Doppeltes: „die Einzelnen zur Erneuerung durch Gottes Gnade in Rechtfertigung und Heiligung und damit zu einem sinnerfüllten Leben hinzuführen und sie zu einer solchen Aktivität anzuleiten, die geeignet ist, die ganze Gesellschaft von innen her zu verändern“.68 In dieser doppelten Zielsetzung spricht sich Wesleys Überzeugung aus, dass auch die von Sünde gezeichnete Welt von Gott, ihrem Schöpfer, nicht aufgegeben ist, sondern ihrer Neuschöpfung entgegengeht, und dass auch der Mensch als Sünder sich zwar von Gott losgesagt hat, sich aber Gott nicht vom Menschen losgesagt, sondern in Jesus Christus einen Bund aufgerichtet hat, an dem im Glauben teilzuhaben alle Menschen berufen sind. Durch den Glauben zur Liebe zu Gott und den Menschen, und das heißt zur Verantwortung ermächtigt zu werden, das ist nach Wesley „the medicine of life, the never-failing remedy for all the evils of a disordered world, for all the miseries and vices of men“.69 Von dieser Überzeugung her begannen Wesley und seine Mitarbeiter, zunächst in London und Bristol ein Netz für die medizinische Versorgung von Armen und Bedürftigen aufzubauen,70 die kostenlos behandelt wurden und bei Bedarf Medizin erhielten, die sie sich sonst nicht hätten leisten können. Da die Nachfrage nach medizinischer Hilfe die Möglichkeiten der methodistischen Gemeinschaften weit überstieg, verfasste Wesley 1747 ein medizinisches Handbuch für den Hausgebrauch („Primitive Physic“),71 das vielen „eine einfache Möglichkeit zur Selbsthilfe in den Problemen richtiger Ernährung, Hygiene, Krankheitsbehandlung und Krankenpflege“ gab.72 Weitere Maßnahmen, der grassierenden Armut abzuhelfen, waren die Einrichtung einer Leihkasse und Maßnahmen zur Arbeitsbeschaffung. Aus dem „lending stock“, der von Spenden getragen war, wurden zinslose Kleinkredite gewährt, die kurzfristige Notlagen überbrückten. Wesleys philantropische Anstrengungen standen im Kontext umfassenderer Reformüberlegungen, die an die Wurzel der Armutsproblematik gingen. Wesley sah die sozial Benachteiligten nicht einfach als hilflose Glieder im gesellschaftlichen Gefüge, sondern sprach sie als entscheidungs- und folglich verände67 68 69 70 71 72
WJW, Bd. 3, 575. Marquardt, Sozialethik, 159f. Works, Bd. 8, 3. Zum Folgenden vgl. Marquardt, Sozialethik, 25–84. Das Buch erschien 1828 in der 32. Auflage. Marquardt, Sozialethik, 28.
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rungsfähige Moralsubjekte an. Er war überzeugt davon, dass ohne ausreichende Schulbildung eine nachhaltige Veränderung der Lebenssituation nicht erreicht werden kann. Der weit verbreiteten Meinung gegenüber, dass Kinder früh Geld verdienen und keine Zeit in der Schule „verschwenden“ sollten, setzte Wesley das Bemühen um eine zum eigenverantwortlichen Leben befähigende Elementarbildung entgegen. Die erste unter methodistischer Regie stehende Schule wurde in Kingswood für die Kinder der dortigen Bergarbeiter errichtet. Weitere Schulen sollten folgen. Wesley hatte auch erkannt, dass das hohe Ausmaß an Schnapsbrennerei das Getreideaufkommen verknappte und die Lebensmittelpreise in die Höhe trieb. Sein vehementer Kampf gegen den Alkoholhandel und -konsum ist daher in erster Linie der Einsicht geschuldet, dass der Alkohol als soziales Übel mitursächlich für Armut und Ungerechtigkeit in der Gesellschaft ist. Verwiesen sei abschließend auf Wesleys Kampf gegen die Sklaverei.73 Für Wesley ist die Sklaverei seiner Zeit unvereinbar mit den biblischen Grundsätzen der Gerechtigkeit und Barmherzigkeit. Er erinnert daran, dass es ein Recht gibt, das über dem der Menschen steht und dass Gott Recht schaffen wird. So haben wir es hier mit einem Rekurs auf den Gedanken der Menschenrechte zu tun.74 Unbarmherzig ist zudem ein Umgang, bei dem der eine Mensch wie ein Wolf den anderen verschlingt, und ihn damit in dem, was ihm als Ebenbild Gottes zukommt, die Anerkennung verweigert. Wesley fordert: „Give liberty to whom liberty is due, that is, to every child of man, to every partaker of human nature. Let none serve you but by his own act and deed, by his own voluntary choice. Away with all whips, all chains, all compulsion!“75 Kein Zweifel: Wesley war ein Kind seiner Zeit, der das Unabhängigkeitsstreben der amerikanischen Kolonisten als Rebellion ansah und in der Forderung nach Demokratie Aufruhr witterte. In dem, was Wesley – aus unserer heutigen Sicht – nicht zu sehen vermochte, ist umso beeindruckender, mit welcher Leidenschaft und welchem Nachdruck er sich dafür einsetzte, dass von der Gnade erneuerte Menschen die Gesellschaft erneuern – nicht durch eine Revolution, sondern durch Reformen, die sichtbare Zeichen einer durch Gottes Wirken in die Zeit einbrechenden neuen Welt sind. Für Wesley sind persönliche und soziale Heiligung untrennbar und auf dasselbe Ziel hin ausgerichtet, dass nämlich alle, die den Ruf der Gnade vernommen und ihm im Glauben geantwortet haben, Verantwortung übernehmen für ihr eigenes Leben und das ihrer Familie, für die Gemeinschaft, der sie zugehören und auch für die Gesellschaft, deren Teil sie sind – und die heute nur als globale Gesellschaft zu denken ist.
73 Vgl. Works, Bd. 11, 59–79. 74 Vgl. Runyon, Die neue Schöpfung, 185ff. 75 Works, Bd. 11, 79.
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5.
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Fazit
Von der methodistischen Spiritualität des 18. Jahrhunderts gehen wichtige Impulse aus, die in einen ökumenischen „Austausch von Gaben und Geschenken“76 eingebracht werden können. Die größte Gabe liegt sicherlich im integrativen Grundmuster dieser Spiritualität, die Wort und Geist, Verkündigung und sakramentale Feier, Rechtfertigung und Heiligung, Erneuerung des Lebens und Erneuerung der Welt, schließlich die tiefe Verderbtheit der menschlichen Natur und die Verheißung einer christlichen Vollkommenheit in der Liebe miteinander zur Geltung bringt und so einer Verkürzung der Selbstbezeugung Gottes wehren möchte. Von den Prinzipien und der Praxis der frühen methodistischen Spiritualität her bleiben drei Wegmarken des christlichen Glaubens unverzichtbar: eine einladende, zum lebendigen Glauben rufende Verkündigung, das Entdecken von Freiheit in gelebter Verbindlichkeit der Gemeinschaft und die tätige Teilhabe an Gottes Vision für „einen neuen Himmels und eine neue Erde, in denen Gerechtigkeit wohnt“ (2Petr 3,13).
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76 Enzyklika Ut unum sint von Papst Johannes Paul II. über den Einsatz für die Ökumene, 25. Mai 1995, hg. vom Sekretariat der Deutschen Bischofskonferenz, Bonn 1995, §28.
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Claus-Dieter Osthövener
Die Spiritualität im Zeitalter der Aufklärung. Ein Überblick
Als Thomas Paine im Jahre 1794 „The Age of Reason“ ausrief, tat er das nicht zuletzt mit einem höchst kritischen Blick auf die konfessionellen Bewegungen seiner Zeit. Doch lässt sich das Jahrhundert mit diesem Schlagwort allein keineswegs zureichend würdigen. Das zeigt bereits ein Blick auf einen der geistigen Vorfahren Paines, auf John Locke. Auch dieser hat zweifellos der Vernunft in seinem bahnbrechenden „Essay concerning human Understanding“ (1689) zu einem erneuten, nunmehr erfahrungsgesättigten Höhenflug verholfen. Dennoch lag ihm daran, dem Glauben seinen ihm zustehenden Platz einzuräumen: „Of Faith and Reason, and their distinct Provinces“ ist das 18. Kapitel des vierten Buchs überschrieben. Beide sind wiederum abzugrenzen von dem „Enthusiasm“ (IV/19), der als eine Einstellung angesehen wird, die klare Grenzziehungen gerade verhindert. Man kann mit dem Mut zur weiträumigen Skizze sagen, dass das lange 18. Jahrhundert seine ganz eigenen Vorstellungen und Praktiken von Spiritualität in eben diesem Dreieck ausgelotet hat, wobei sehr verschiedene Akzentsetzungen beobachtet werden können. Die folgende Darstellung konzentriert sich auf exemplarische Quellen.
1.
Begriffliche Klärungen
Es ist nicht leicht, den Begriff der Spiritualität trennscharf von dem der Religion abzugrenzen. Der Begriff der Religion hat sich im Laufe der Aufklärung zu einem Programmbegriff entwickelt. Schon bei Edward Herbert von Cherbury dient er zur kritischen Sichtung fremder und eigener Religionspraktiken und Glaubensüberzeugungen, er wird im Feld der Vorurteilskritik fruchtbar gemacht und wurde insbesondere bei Johann Salomo Semler zu einem tragenden Pfeiler der Theologie als Wissenschaft. Immanuel Kants Untersuchungen zur „Religion innerhalb der bloßen Vernunft“ (1793) können als ein Höhepunkt dieser rationalen, vernunftgemäßen Exposition der Religion gelten. Semler und Kant haben in ihren Werken zugleich die Religion mit der Geschichte in ein fruchtbares
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Claus-Dieter Osthövener
Verhältnis gesetzt. Dadurch erhielt der zunächst recht abstrakte Begriff der Religion konkretere Züge und ließ sich mit höherer inhaltlicher Bestimmtheit entwickeln. Die durchgreifende Historisierung der Theologie im 19. Jahrhundert hat hieran anknüpfen können. In dem allen aber geriet die religiöse Praxis, sofern sie sich nicht vorwiegend in äußeren Zeremonien oder Ritualen niederschlägt, aus dem Blickfeld. Die Kultivierung religiöser Innenwelten, für die der Begriff der Spiritualität steht, ging auf weite Strecken andere Wege, bediente sich anderer (nicht nur literarischer) Gattungen und sprach wohl auch insgesamt ein anderes Publikum an. Auch diese Entwicklung hat das 19. Jahrhundert wie ein Vergrößerungsglas plastisch sichtbar gemacht, in der nunmehr massiven Entwicklung einer erweckungstheologischen Strömung, die sich zugleich mit einer Rückbesinnung auf inhaltlich konkrete Konfessionalität zu verbinden suchte. Es empfiehlt sich daher für das 18. Jahrhundert, die Spiritualität am Leitfaden ihrer bevorzugten Gattungen zu betrachten, ohne sie mit allzu voraussetzungsreichen Interpretationsbegriffen einschränken zu wollen. Erst dann kann diese sehr eigene Entwicklung mit anderen übergreifenden Prozessen dieser Zeit ins Verhältnis gesetzt werden. Notwendigerweise erhält die folgende Skizze daher einen exemplarischen, mitunter auch heuristischen Zug. Ein Blick auf die zeitgenössische lexikalische Bestimmung des semantischen Feldes der Spiritualität mag hilfreich sein: Das für die frühe Aufklärung maßgebliche Universallexion (der „Zedler“) enthält zwei einschlägige Eintragungen: „Gottseligkeit oder Frömmigkeit“ sowie „Spiritualis Experientia“. Die Frömmigkeit wird als „ein Gnaden-Werck des Dreyeinigen GOTTes“ verstanden, das durch Wort und Sakramente „den Verstand, Willen und Begierden, wie auch die vornehmsten äusserlichen Gliedmassen eines gerechtfertigten Christen […] lencket und regieret“, so dass dieser sein Leben „in wahrem Glauben und brünstiger Liebe“ zu führen vermag und den Weg zur ewigen Seligkeit zu beschreiten befähigt ist.1 Am Ende des Artikels wird auch, wenngleich kritisch, „von der Philosophischen Frömmigkeit“ gesprochen, die doch zumindest als Option ins Blickfeld rückt.2 Diese Fokussierung auf die soteriologische Dimension christlichen Glaubens und Lebens ist für das gesamte 18. Jahrhundert durchaus typisch. Auch Abweichungen davon sind noch auf diese Vorgabe bezogen. Die „Spiritualis Experientia“ dagegen ist im Kern „eine Empfindung oder Wahrnehmung dessen, was den geistlichen Seelen-Zustand angehet“3. Diese Empfindung geht insbesondere auf die in der Seele „vorhergehenden GnadenWürckungen, so daß man alles dieses, wie sichs nacheinander zuträget, bemer-
1 Gottseligkeit oder Frömmigkeit, 417. 2 A. a. O., 420. 3 Spiritualis Experientia, 108, mit Verweis auf Phil 1,9.
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cket, und zu seinem Nutzen anzuwenden suchet“.4 Diese Erfahrung ist weder was die Subjekte noch was ihre Gegenstände betrifft von einerlei Art. Sie ist allerdings eng an Buße, Bekehrung und Rechtfertigung geknüpft: „man empfindet nunmehr den göttlichen Seelen-Frieden“,5 doch hört die Anfechtung damit nicht auf. „Eine solche geistliche Erfahrung ist von dem grösstem Nutzen. Man darf sie zwar nicht zur Richtschnur des Glaubens und Lebens machen“, denn als solche dient allein die Heilige Schrift. Stimmt sie jedoch mit dieser überein, hat sie einen dreifachen Nutzen: 1) „sie dienet erstlich zu einer deutlichen und klaren Vorstellung, daß man sich von den geistlichen und practischen Sachen, wenn man sie selbst empfunden, im Verstande viel deutlichere Begriffe machen kan“; 2) „Zum anderen dienet auch diese Erfahrung zu mehrerer Bekräfftigung, daß man in der Gewißheit der göttlichen Wahrheiten […] bestätiget wird“;6 3) dient sie „zu einem nachdrücklichen Vortrag, indem man von denjenigen Dingen, welche man selbst empfunden, viel deutlicher, nachdrücklicher und lebhafter reden kan“ (109f).7 Hier meldet sich die Erfahrungsdimension zu Wort, die in Philosophie und Wissenschaft, aber auch in Theologie und Religion in neuer Weise erkundet wird.
2.
Großbritannischer Kulturtransfer: Spirituelle Dimensionen der Frühaufklärung
Der Übergang vom 17. ins 18. Jahrhundert ist in vielfacher Hinsicht eine spannungsreiche und bewegende Zeit. Die politischen und wirtschaftlichen Folgen des Dreißigjährigen Krieges sind überwunden, die Gesellschaft nimmt neue Züge an, das Bürgertum schickt sich an, zur bestimmenden Kraft zu werden. Eine neue Art der Öffentlichkeit formiert sich, neue Teilhaber (und Teilhaberinnen) am öffentlichen Diskurs treten herzu, melden sich ihrerseits zu Wort. Das alles hat Folgen auch für die literarische Präsenz von Religion und Theologie. Die Bedürfnisse wandeln sich, thematische Schwerpunkte werden neu akzentuiert. Die deutsche Sprache muss mit dem allen noch Schritt halten, anders als in England und Frankreich gibt es noch keine klassische Nationalliteratur, sie entwickelt sich vielmehr erst allmählich, um dann am Ende des Jahrhunderts ihre ersten gültigen Formen zu finden. Insofern ist auch die theologische Publizistik an den 4 5 6 7
A. a. O. A. a. O., 109. A. a. O. A. a. O., 109f.
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sprachbildenden und spracherkundenden Unternehmungen der Zeit beteiligt und zwar über alle positionellen Grenzen hinweg. Orthodoxie, Pietismus und werdende Aufklärungstheologie tragen das Ihre zum europäischen Kulturtransfer bei. Das zeitgenössische England weist eine sehr reiche, auch spannungsreiche Religionslandschaft auf. Nach den katastrophischen Wirren der puritanischen Revolution und des Cromwellschen Commonwealth in der Mitte des 17. Jahrhunderts und der anschließenden Restauration zeigt das frühe 18. Jahrhundert ein mehr oder minder friedliches Nebeneinander von anglikanischer Hochkirche, den latitudinarischen Strömungen des Anglikanismus, der Low Church, und den verschiedenen Denominationen des Nonkonformismus oder Dissent. Die führenden deutschen Aufklärungstheologen dieser Zeit, Mosheim, Baumgarten, Cramer, Rambach und andere initiieren vielfache Übersetzungen insbesondere der erbaulichen Literatur aus dem englischen Sprachraum. Außer Predigten (etwa des berühmten John Tillotson) sind es vor allem erbauliche Traktate aus allen konfessionellen Bereichen, der anglikanischen High Church sowohl wie der Low Church (Latitudinarier), aber auch aus dem Dissent, so etwa von Isaac Watts und Philip Doddridge. Eine weitere sehr beliebte Gattung war die Bibelparaphrase, die nicht zuletzt durch John Locke wiederbelebt und dem 18. Jahrhundert vermacht wurde. Mit ihr soll der Durchgang durch die Gattungen der Spiritualität beginnen.
3.
Paraphrasierungen der Heiligen Schrift
John Locke hatte mit seinem ersten theologischen Werk „The Reasonableness of Christianity, as delivered in the Scriptures“ (1695), eine Art Evangelienharmonie vorgelegt, die nicht auf äußere Rationalitätsstandards Bezug nahm (was er der zeitgenössischen Orthodoxie vorwarf), sondern die ganz auf die innere Schlüssigkeit der neutestamentlichen Überlieferung setzte und sie ins Licht zu stellen versuchte. Um die Grundeinsicht in die Messianität Jesu herum wird die biblische Überlieferung im Stil einer Nacherzählung gruppiert, dabei gleich weit entfernt von der theologisch-dogmatischen Methode der bloßen Schriftstellenbelege, wie von der noch kaum am Horizont aufscheinenden historisch-kritischen Rekonstruktion der christlichen Urgeschichte. Diese ganz eigene, ebenso religiöse wie rationale Hermeneutik im Umgang mit der Schrift hat Locke dann noch weiter verfeinert in seinem letzten Werk „A Paraphrase and Notes on the Epistles of St Paul“ (1707), deren hermeneutische Grundsätze er in der Einleitung entwickelt, die den markanten Titel trägt „An Essay for the understanding of St Paul’s Epistles by consulting St Paul himself“. Diese Hermeneutik wendet sich an jedermann, der sich intensiv mit diesen Briefen beschäftigen möchte. Es wird keine
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theologische Instanz autoritativ geltend gemacht, sondern es wird allein an die Einsichtsfähigkeit des Lesers appelliert, der jedoch ausschließlich selbst darüber entscheidet, ob und inwiefern er Lockes Ausführungen folgen möchte. Das ist die aufgeklärte Variante der sich selbst auslegenden Schrift. Sie wird von Locke durchgeführt in einer Kombination aus Übersetzung, Paraphrase und Kommentierung der paulinischen Hauptbriefe. Dieses Vertrauen auf die innere Plausibilität der in ihren Wesenszügen freigelegten christlichen Tradition ist ein charakteristisches Merkmal der theologischen Aufklärung. Auch die Spiritualität vollzieht sich nicht mehr in Meister-Schüler-Verhältnissen, sondern in einem gemeinsamen Weg auf der Suche nach Erlösung. Hierfür war allerdings die biblische Tradition nach wie vor eine autoritative Quelle, die in vielfacher Hinsicht immer neu angeeignet wurde. Diese Gattung der biblischen Paraphrase wurde im 18. Jahrhundert sowohl in England als auch in Deutschland eifrig gepflegt, und zwar in sehr unterschiedlichen Kontexten. Sie spielte sowohl in der akademischen Exegese eine Rolle (Baumgarten) wie auch in der häuslichen Andacht (Doddridge: Family Expositor). Sie lässt sich als eine Gattung begreifen, welche die Lücke zwischen der dogmatischen und der historisch-kritischen Interpretation füllt. In spiritueller Hinsicht vermochte sie vor allem deshalb zu überzeugen, weil sie die Nähe zum autoritativen Text und seinem inneren Reichtum zu wahren wusste und dennoch dem Bedürfnis nach Klarheit und Zusammenhang pietätvoll genügte. Sie bildet daher für alle weiteren Gattungen eine unverzichtbare Grundlage.
4.
Erbauungsliteratur
Auf dieser Grundlage baute vor allem die Erbauungsliteratur auf. Aus der Fülle der einschlägigen Werke seien hier zwei auch in Deutschland wirkungsmächtige Autoren genannt: Isaac Watts und Philip Doddridge. Beide gehören zum älteren Dissent, der in vielfacher Weise mit der anglikanischen Kirche, insbesondere den Latitudinariern verbunden war und der im 18. Jahrhundert zu einem wesentlichen Bestandteil der spezifisch englischen Aufklärung wurde. Man könnte ihn geradezu als „Enlightened Dissent“ bezeichnen und er ist in jedem Fall ein interessantes Feld für die Erkundungen der Zusammenhänge von Spiritualität und Aufklärung. Isaac Watts (1674–1748) ist einer der führenden Köpfe dieses „aufgeklärten Dissent“. Seine zahlreichen Schriften umfassen eine Fülle von Themen, namentlich eine „Doctrine of the Passions“ and „Discourses of the Love of God“ (beide 1729). Doch auch eine Anleitung zum Gebet liegt von ihm vor, welche, wie viele andere seiner Schriften, auch ins Deutsche übertragen wurde. Ihm gelang es als einem der ersten, Brücken zu schlagen zwischen der Sphäre der Religion und
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dem aufgeklärten Geschmack. Einschlägig für die ganze Denkungsart des Mannes ist die achtsame Einhegung des Gebiets der Erforschung der Herzensbewegungen. Die Systematisierung der Gefühle wird sowohl skeptisch betrachtet, wie schließlich doch angestrebt. In klarer Erkenntnis der Tatsache, dass wir es mit einem Bereich zu tun haben, der kaum trennscharfe Abgrenzungen zulässt und insofern auch niemals zu einem exakten System vorzudringen in der Lage ist, ist es Watts dennoch wichtig, hier ins Klare zu kommen, sei es auch nur annäherungsweise. Daher lässt er seine eindringlichen Verstehensbemühungen doch in ein – immer nur vorläufiges – ordnendes Schema münden. Aber es bleibt nicht bei ordnenden Schemata: Der Hymnendichter Watts ist auch in seinen Traktaten stets präsent. Die Erhebung des Geistes auf den Flügeln der frommen Empfindung: das ist der Kern dieser Spiritualität, um den sich eine Fülle von Themen und nicht zuletzt von poetischen Ausdrucksformen zu sammeln vermag. Hier wird nicht bloß über die Religion nachgedacht, sondern sie selbst mit all ihrem affektiven Reichtum manifestiert sich in seinen Sätzen. Darin kündigt sich eine Verselbstständigung der Gefühle als genuin religiöser Gefühle an, wobei es eine offene (und von Watts auch offen gelassene) Frage ist, ob es nicht doch die Gegenstandsbestimmtheit des Fühlens ist, die für ihre religiöse Valenz sorgt. Auf der von seinem Lehrer Watts gefestigten Grundlage hat Philip Doddridge (1702–1751) weitergebaut. Er ist weit über die Grenzen des Vereinigten Königreichs hinaus bekannt geworden, insbesondere mit seiner Schrift „The rise and progress of religion in the soul“ (1745). Hier entwirft Doddridge in 30 Kapiteln eine äußerst feinsinnige, am Leitfaden der Bekehrung des Sünders orientierte Betrachtung, die stets die affektive Dimension der Religion berücksichtigt. Dabei wird jedoch nicht nur eine äußere Darstellung einer beliebigen Seele angestrebt, sondern Leserinnen und Leser werden mit einbezogen, auch durch jeweils angehängte Meditationen und Gebete. Die Seele selbst tritt redend auf und gibt authentische Auskunft über ihren Stand, ihre Hoffnungen und Zweifel. Anfechtungen und Rückschritte in diesem inneren Prozess fehlen selbstverständlich nicht, doch wird bis hin zur schließlichen Todesstunde alles zu einem guten Ende geführt. Wir haben es hier insgesamt mit einer sehr aufschlussreichen Verbindung von puritanischer Tradition mit moderner Psychologie zu tun. Einige wenige Stationen dieser erlebnisreichen Reise durch die religiösen Binnenwelten seien kurz skizziert: Der Weg der Seele nimmt seinen Anfang, wie schon bei Baxter, beim Unbekehrten, dem sorglosen Sünder, dessen Erwachen zu religiöser Einsicht geschildert wird („The careless sinner awakened“; Kap. 2). Die Ursprungssituation wird im Nachfolgenden ausgeführt und vertieft (Kap. 3–7). In diese reformatorische Bußsituation der Sündenerkenntnis hinein wird zunächst die fides historica aufgerufen, durch die Nachricht von der Erlösung der Sünder durch Christus („News of salvation by Christ brought to the convinced and condemned
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sinner“; Kap. 8). Diese Wendung der Dinge wird vertiefend gewürdigt (Kap. 9– 13). Es schließt sich eine interessante Zwischenbetrachtung an, die den Blick direkt auf den Leser richtet (Kap. 14–15). Danach wird die Bekehrung skizziert („The Christian Convert warned of, and animated against, those discouragements which he must expect to meet with, when entering on a religious course“; Kap. 16). Auch hier schließen sich ausführende Passagen an (Kap. 17–20). Für lebensweltlichen Realismus sorgen die ins Spiel kommenden Anfechtungen und Rückschritte (Kap. 21–25), der Funktion der Anfechtung bei Luther (etwa im „Sermon von den guten Werken“) nicht unähnlich. Der Schluss schildert deren Überwindung und die fortgesetzte Heiligung bis zum Tode (Kap. 26–30). Diese Erörterungen bieten ein dicht geflochtenes Netz von Verkündigung (Leseranrede) von Meditation (Selbstgespräch), von biblischer Botschaft und psychologischer Einsicht. Man mag wohl glauben, dass die Leserin oder der Leser beim Durchgang durch dieses Buch vielfältig zu eigenem Bedenken angeregt werden, sich in die dargebotenen Sprachmuster und Reflektionsprozesse hineinbegeben, sie auf ihre Weise und für sich selbst weiterverfolgen, vielleicht im Gespräch mit anderen, auf anderen Stufen dieses verschlungenen Weges befindlichen Menschen. Denn darum ist es offenkundig zu tun, um die Verständigung mit sich selbst, mit andern, mit der christlichen Tradition, um die historische, reflektierende und emotionale Vertiefung in die je eigene religiöse Verfassung. Der leitende Ton ist dabei durchweg werbend, zwar auch leitend, anleitend, aber nicht dominant nur einen Weg weisend, sondern dessen gewahr, dass die Wege der Frömmigkeit vielfältig sind. Die Erbauungsliteratur kennt einen fruchtbaren Pluralismus. Es sind dies „Reden über die Religion“ (und aus der Religion), die an emotionaler und sprachlicher Vielfalt und Sorgsamkeit nicht leicht ihresgleichen finden dürften, und es ist kein Wunder, dass sie auch in Deutschland eifrig gelesen wurden. Für den englischen Sprachraum ist an dieser Stelle noch nachdrücklich auf den Amerikaner Jonathan Edwards (1703–1758) hinzuweisen, der mit seinen Schriften im Zusammenhang mit dem „Great Awakening“, vor allem mit seinen Predigten und seinem Traktat über „Religious Affections“ (1746) auch in Europa eine starke Wirkung entfaltete. Für die im Zedler bereits in den Blick genommene „philosophische Frömmigkeit“ ist das vielfach aufgelegte Buch von Johann Joachim Spalding über die „Bestimmung des Menschen“ (erstmals 1748) ein gutes Beispiel. Es ist von allen im engeren Sinne religiösen Bezügen gelöst, bis auf einen leichten religionsphiolosphischen Firnis am Schluss, der den Gottesgedanken betrifft. Spalding macht sich, wie Doddridge, die literarische Figur eines exemplarischen, aber nicht konkretisierten Ich-Erzählers zunutze, der in fortschreitenden Vertiefungen um eine Orientierung seiner Lebensführung und Lebensdeutung ringt. Die literarische Fülle jedoch, mit der Doddridge seine Religionsbiografie versehen
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hatte, ist einer geradezu puristischen Konzentration auf das Wesentliche gewichen. Statt des soteriologischen Narrativs ist tugendethische Vervollkommnung die Grundperspektive des Textes; es handelt sich gleichsam um eine spirituelle Nachdenklichkeit in ethischer Absicht. Diese populare Mediatisierung hat in der zweiten Jahrhunderthälfte großen Anklang gefunden. In Kants Religionsschrift (1793) wird sie einerseits ethisch auf neue Grundlagen gestellt und zugleich anschlussfähig gemacht an die reiche christliche Tradition.
5.
Verkündigte Aufklärung: Spiritualität in der Predigt
Die Gattung der Predigt spielte im späten 17. und im ganzen 18. Jahrhundert eine bedeutende Rolle für die religiös interessierte Öffentlichkeit. Sie wurde schichtenübergreifend intensiv rezipiert, nicht nur in den Gemeinden, sondern auch als literarische Gattung. In Deutschland kam ihr für die Erkundung einer zeitgenössischen Spiritualität geradezu sprachbildende Kraft zu. Sie wendete sich darüber hinaus an die Gruppe der eben entstehenden „Gebildeten“, die noch nicht durchweg Verächter der Religion waren. Als ein markantes Beispiel dieser Gattung sei hier Johann Lorenz Mosheim genannt. Diese überragende theologische Gestalt nicht nur des frühen 18. Jahrhunderts hat zwei wichtige deutschsprachige Werke publiziert, die „Sitten-Lehre der Heiligen Schrifft“ (1735ff in neun Bänden) und die „Heiligen Reden“ (1725ff in sieben Bänden). Der gesamte erste Teil dieser Sittenlehre, der die ersten vier Bände umfasst, handelt „Von der innerlichen Heiligkeit der Seele welche die Schrift fordert“. Erst danach ist „Von der äusserlichen Heiligung des Lebens oder von den Pflichten des Wandels, die das Gesetz vorschreibt“ die Rede. Insofern darf dieses monumentale Werk angesprochen werden als der Versuch einer Gesamtdarstellung des Christlichen in einer veränderten Welt, der zugleich der christlichen Kultivierung des Seelenlebens eine besondere Aufmerksamkeit widmet. Diese schlägt sich insbesondere in Mosheims Predigten nieder. Zu dem Inhalt dieser Predigten ist in Kürze Folgendes zu sagen: Die theologische Aufklärung steht in der Tradition des 17. Jahrhunderts, sowohl der Orthodoxie, des Pietismus wie des Humanismus. Mit der Orthodoxie verbindet sie das Streben nach Rationalität, nach Klarheit, auch nach Zusammenhang und System. Mit dem Pietismus teilt sie das hohe Interesse an der Soteriologie und an der Erkundung der Innenwelten, an der Emotion. Das Interesse an metaphysischen Rekonstruktionen hochstufiger Dogmen wie der Trinität oder der ZweiNaturen-Christologie geht spürbar zurück, andere Themen liegen dem Zeitalter näher. Eine Distanz zur Tradition lässt sich auch in der Anthropologie beobachten, insbesondere in der Lehre von der Erbsünde.
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Als ein konkretes Beispiel soll hier eine Predigt über „Die gute Sache der Geheimnisse des Glaubens“ aus dem Jahr 1724 skizziert werden.8 Im Anschluss an 1Tim 3,16 unterscheidet Mosheim Gottseligkeit und Geheimnis des Glaubens. Während die Gottseligkeit sich auf die Änderung des Herzens und das Leben des Menschen bezieht, umfasst das Geheimnis des Glaubens die Erkenntnis Gottes und seiner heiligen Wege. Mosheim verwendet die Predigt vor allem darauf, den notwendigen Geheimnischarakter des Glaubens darzutun (gewiss auch in indirekter Auseinandersetzung mit John Tolands berüchtigtem Buch „Christianity not mysterious“ von 1696). Nicht ein intellekturelles Ungenügen der Apostel ist für diesen Zug verantwortlich, sondern ein dem Glauben wesentliches Moment, das zwar dem Verstand sich immer wieder entzieht, gleichwohl unverzichtbar ist für ein gottseliges Leben. „Es ist etwas Dunckles in den Geheimnissen. Wenn wir lange nachgesonnen, so verliehrt sich unser Geist, und verfällt in Tieffen, die kein Mensch ergründet“.9 Darin liegt eine Selbstbegrenzung der Vernunft in Glaubensdingen begründet: „man gehe mit seinem Nachsinnen so weit man kan, man wird endlich doch seine Gränzen finden“.10 Wichtig ist, dass es keine dogmatische, also heteronome Grenzziehung ist, sondern eine von der an ihre Grenzen stoßenden Vernunft selbst entdeckte und akzeptierte. Weiter haben diese unergründlichen Dunkelheiten ihren Konterpart in der hellen, vor Augen liegenden Gottseligkeit, also der an Gottes Willen orientierten Lebensführung, der Besserung des Menschen. „Beydes muß uns dahin bringen, daß wir in der Erkäntnis GOttes stärcker, in der Liebe feuriger, im Gebet brünstiger, in der Hoffnung fester werden.“11 Man sieht, wie um eine Balance gerungen wird, die dem inneren religiösen Leben einen Raum zu schaffen bemüht ist und es doch zugleich einbindet in das Ganze einer christlichen Lebensführung, die sich ausrichtet an einem höheren Gut, als es das Leben ist. Man kann von hier aus sowohl eine Linie zu Kants Religionsschrift ziehen, als auch zu Schleiermachers „Reden“ (und auch zu Rudolf Ottos „Das Heilige“). Neben Mosheim steht vor allem Johann Friedrich Wilhelm Jerusalem für eine zeitgemäße Adaption und Verkündigung der christlichen Tradition. Johann Joachim Spalding hat in seinen Predigten sein Talent zur popularen Theologie unter Beweis gestellt. Neue Impulse bekommt diese Gattung vor allem durch Johann Gottfried Herder und später durch Friedrich Schleiermacher. In Herders Predigten, die noch längst nicht die Aufmerksamkeit gefunden haben, die sie verdienen, ist besonders ihre poetisch-literarische und anthropologische Perspektive für eine Erkundung der Spiritualität aufschlussreich. 8 9 10 11
Im Folgenden zit. nach: Mosheim, Reden, 173–226. A. a. O., 220. A. a. O., 218. A. a. O., 219.
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Spirituelle Poesie
In engem Zusammenhang mit den Bibelparaphrasen steht die poetische Adaption biblischer Texte. Sie war von Anfang an nicht unumstritten und hat vor allem im Anschluss an Klopstocks „Messias“ (die ersten Gesänge erschienen 1748) sowohl für theologische wie poetologische Debatten gesorgt, die die zweite Hälfte des Jahrhunderts bis hin zur Frühromantik geprägt haben. Hierbei lassen sich zwar, wie in der Erbauungsliteratur, religionsfunktionale Ablösungsprozesse beobachten, in denen sich die „Säkularisation als sprachbildende Kraft“ beweist (Albrecht Schöne), zugleich gibt es jedoch auch einen genuin „religiösen Sturm und Drang“ (Daniela Kohler), der sich etwa bei Lavater und Herder in biblisch inspirierten Werken niederschlägt. Auch erweist sich die Spiritualität als ein Moment in einem insgesamt vielfältigen Beziehungsgeflecht. Denn zweifellos wird etwa in Klopstocks „Messias“ zunächst einmal ein klassisches Thema der christlichen Überlieferung erneut zur Darstellung gebracht, und dieses Werk will als ein genuines Kunstwerk gelesen und rezipiert werden. Es dürfte aussichtslos und unfruchtbar sein, danach zu fragen, ob und inwiefern der Autor selbst mit seinem Werk religiöse Interessen verbunden hat. Genug, dass er sich mit ihm in die lange Reihe der Belebung christlicher Stoffe und Ideen stellt. Für eine Geschichte der Spiritualität ist insbesondere die Betrachtung der Rezeption dieses Werks von Interesse. Hier lassen sich idealtypisch drei Perspektiven unterscheiden: eine Leserschaft (und Leserinnenschaft), die nach wie vor die Bibel in erbaulicher Absicht liest, sie in ihr religiöses Leben einbezieht und daraus Lebensdeutung und Weltgestaltung schöpft, sich aber auch eine poetische Adaption wie den „Messias“ zu diesem Zweck zu eigen machen kann. Diese Gruppe bildet die Schnittmenge von biblischer und poetischer Spiritualität. Daneben gibt es die traditionell gesonnene, allem „Weltlichen“ eher skeptisch gegenüberstehende Gruppe, die sich mit solchen Um- und Weiterbildungen nicht anzufreunden vermag. Aus dieser Gruppe stammen die zahlreichen Kritiker des Werks in kirchlicher und theologischer Hinsicht. Zunehmend tritt eine dritte Gruppe in den Blick der Öffentlichkeit, die sich für die christliche Thematik nur am Rande interessiert, sie jedenfalls dezidiert nicht als Bereicherung ihres inneren Lebens und Deutens anzusehen vermag, die gleichwohl den poetischen Dimensionen mit Neugier und Anteilnahme folgt. Während in der zweiten und dritten Gruppe der Gesichtspunkt der Konkurrenz überwiegt, sei es dass die biblische Tradition bewahrt und geschützt werden soll, sei es dass die Poesie sich allmählich aus den Einhegungen durch die kirchliche Tradition zu lösen beginnt, ist die erste Gruppe schwerer einzuschätzen. Hier dürfte vor allem der Gedanke einer wechselseitigen Befruchtung und Bereicherung verbreitet sein. Die religiöse und vor allem die soteriologische Dimension des Themas und die ästhetische Dimension fordern und fördern sich gegenseitig. Die Modernität des 18. Jahrhun-
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derts liegt darin, diese drei für die Folgezeit wirkmächtigen Gruppen erstmals in dieser Klarheit herausgebildet zu haben. Ihre jeweilige Gewichtung und öffentliche Wahrnehmung hat sich zwar vielfach gewandelt, auch hat sich, insbesondere in der klassischen Moderne, ihre je eindeutige Abgrenzung als zunehmend schwierig herausgestellt, aber im Grundsatz haben sie bis zur Gegenwart Bestand. Es entwickelt sich innerhalb dieser Bereiche eine jeweils besonders akzentuierte Spiritualität.
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Der Übergang zur Romantik
Die theologische Aufklärung kommt in der Frühromantik zwar nicht an ihr zeitliches Ende (sie reicht noch bis in die 30er Jahre des 19. Jahrhunderts hinein), wohl aber vermittelt sie ihr eine Fülle von Impulsen, die von deren Protagonisten dankbar aufgegriffen werden, wenngleich in ebenso prononcierter wie stilisierter Abkehr von ihren geistigen Vätern. Zwei Beispiele mögen einige Schlaglichter auf diese Übergangszeit werfen. In Schleiermachers berühmten Reden „Über die Religion“ findet sich ein nur selten beachteter Passus, der in vielfacher Weise die Spiritualität der Aufklärung verdichtet und neugestaltet: „An einer heiligen Person ist alles bedeutend, an einem anerkannten Priester der Religion hat alles einen kanonischen Sinn. So mögen sie denn das Wesen derselben darstellen in allen ihren Bewegungen, nichts möge verloren gehen auch in den gemeinen Verhältnissen des Lebens von dem Ausdruck eines frommen Sinnes, die heilige Innigkeit mit der sie Alles behandeln zeige, dass auch bei Kleinigkeiten, über die ein profanes Gemüt leichtsinnig hinweggleitet, die Musik erhabener Gefühle in ihnen ertöne; die majestätische Ruhe, mit der sie Großes und Kleines gleichsetzen, beweise, dass sie Alles auf das Unwandelbare beziehn, und in Allem auf gleiche Weise die Gottheit erblicken; die lächelnde Heiterkeit, mit der sie an jeder Spur der Vergänglichkeit vorübergehen offenbare Jedem, wie sie über der Zeit und über der Welt leben; die gewandteste Selbstverleugnung deute an, wieviel sie schon vernichtet haben von den Schranken der Persönlichkeit; und der immer rege und offne Sinn, dem das Seltenste und das Gemeinste nicht entgeht, zeige, wie unermüdet sie das Universum suchen und seine Äußerungen belauschen. Wenn so ihr ganzes Leben und jede Bewegung ihrer innern und äußern Gestalt ein priesterliches Kunstwerk ist, so wird vielleicht durch diese stumme Sprache manchen der Sinn aufgehn für das was in ihnen wohnt.“12
Faszinierend ist hier die vollständige Integration eines spirituellen Lebens dergestalt, dass es keiner verbalen oder gar rationalen Begleitung und Deutung mehr bedarf. Alles zeigt sich im Lebensvollzug und zwar an der ganzen Person, nicht 12 Schleiermacher, Über die Religion, 227f.
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nur an ihren Überzeugungen oder äußeren Handlungen. Man kann vielleicht sagen, dass Kants schöne Einsicht von der „Liebenswürdigkeit des Christentums“ hier in besonders prägnanter Weise Gestalt gewonnen hat. Neben Schleiermacher stellt Novalis einen der Höhepunkte frühromantischer Neufassung der von der Aufklärung gestellten Fragen dar. In einem höchst aufschlussreichen Brief an den befreundeten Oberamtmann Justi stellt er die romantische Religiosität und die Religiosität der späten Aufklärung idealtypisch, aber ohne die sonst oft üblichen polemischen Verzerrungen gegenüber. Für seine eigene Religiosität ist die Phantasie das unterscheidende Merkmal, ein produktives Vermögen, das sich von den ausgetretenen Pfaden der Tradition, auch der biblischen, entfernt, oder besser gesagt: diese aufs neue bahnt, in noch unerschlossenem Terrain. Nirgends lässt sich dieser Prozess besser beobachten als an dem Verhältnis der „Geistlichen Lieder“ zu den „Hymnen an die Nacht“, zwei Höhepunkten der erbaulichen Literatur am Ende des Jahrhunderts. Die Lieder sind durchaus für einen gemeindlichen Kontext gedacht und einige wurden auch (mit einigen sprachlichen und thematischen Anpassungen), in verschiedene kirchliche Liederbücher übernommen. Dennoch abstrahieren sie in starkem Maße von der konkreten biblischen Tradition, auf die sie sich unübersehbar beziehen. Ihre soteriologische Akzentuierung kommt ohne die Nennung des Namens Jesu aus, obwohl dieser der Sache nach, als Mittler und Erlöser, allgegenwärtig ist. Damit soll zugleich eine höhere Anschlussfähigkeit an das lebensweltliche, insbesondere emotionale Deutungsbedürfnis der Leserinnen und Leser gewährleistet werden. Anders als Spaldings säkulare Analyse lebensweltlicher Bestimmung geht es hier aber durchweg und nahezu ausschließlich um eben diejenige Innenwelt, die vor einer Generation noch in der reichen Bekehrungsliteratur zum persönlichen Heilsweg sich einen Ausdruck verschaffte. Diese relative Abstraktion wird nun in den „Hymnen an die Nacht“ einer nochmaligen Umformung unterworfen, die in vielfacher Hinsicht Umwertungen und Neukodierungen vornimmt, nicht zuletzt im Blick auf die sowohl für das Christentum wie für die Aufklärung zentrale Lichtmetaphorik. Nicht aufwärts zum Licht, sondern abwärts in die Dunkelheit führt der Weg. Dieser Weg erschließt sich Traum- und Deutungswelten, die dem hellen Tag auf immer unzugänglich bleiben werden, die jedoch für das spirituelle Sehnen als zentral und unverzichtbar gelten. Erst ganz am Ende schlägt diese Nachtreise wieder um in die Schau des eigentlichen Zentralgestirns Gottes. Sowohl die Hymnen als auch die berühmt-berüchtigete Rede über „Das Christentum oder Europa“, die erst lange nach Novalis’ Tod publiziert wurde, entwickeln auf diesem neuen Boden eine Neubewertung der Geschichte, wie das auf ihre Weise Locke, Jerusalem, Herder und Kant taten.
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Fazit
Das 18. Jahrhundert hat sowohl das religiöse wie das spirituelle Feld bedeutend geweitet, in einer Weise, die auch vom 19. Jahrhundert trotz aller konfessionellen Fokussierung nicht mehr rückgängig gemacht werden konnte, die sich in der klassischen Moderne endgültig durchgesetzt hat und die auch in der gegenwärtigen, sehr viel unübersichtlicheren spirituellen Landschaft nachwirkt. Es ist daher an der Zeit, die theologische und religiöse Aufklärung aus der einseitigen Festlegung auf rationalistische Auswüchse und auf die populartheologische Mediatisierung der zweiten Jahrhunderthälfte zu entlassen, sie zu würdigen in ihrer religiösen und spirituellen Mündigkeit, die sie im Großen und Ganzen eindrucksvoll unter Beweis gestellt hat. Dazu würde gehören, den sprachübergreifenden Kulturtransfer mehr als bisher zu beachten, die Vielfalt der Gattungen gegen eine einseitig dogmatische Fokussierung zur Geltung zu bringen und die lebensdienliche Humanität der geistlichen Aufklärung auch für die Gegenwart als eine Option zu begreifen.
Literatur Quellen Art. Gottseligkeit oder Frömmigkeit, in: Johann Heinrich Zedler (Hg.), Grosses vollständiges Universal-Lexicon aller Wissenschafften und Künste, Bd. 11, Halle/Leipzig 1735, 417–420. Art. Spiritualis Experientia, in: Johann Heinrich Zedler (Hg.), Grosses vollständiges Universal-Lexicon aller Wissenschafften und Künste, Bd. 39, Halle/Leipzig 1744, 108–110. Mosheim, Johann Lorenz, Heilige Reden. Bd. 1, Hamburg 1732. Schleiermacher, Friedrich, Über die Religion. Reden an die Gebildeten unter ihren Verächtern, Berlin 1799.
Ulrich Dreesman
Johann Joachim Spaldings (1714–1804) „Bestimmung des Menschen“ als Dokument aufklärerischer Spiritualität Eine Skizze
„Quid sumus? et quidnam victuri gignimur?“ – „Was sind wir und zu welcher Art Leben geboren?“ Unter diesem Motto, den Satiren des Persius entstammend,1 erscheint 1748 in Greifswald ein Büchlein von 26 Seiten. Sein Titel: „Betrachtung über die Bestimmung des Menschen“. Sein Verfasser: Johann Joachim Spalding (1714–1804). Spaldings „Betrachtung“ hat Epoche gemacht. Sie gilt als Programmschrift der deutschen Aufklärungstheologie und Auftakt ihrer mittleren Phase, der Neologie2, und sie ist darüber hinaus für den aufklärerischen Diskurs über den Menschen – jedenfalls in Deutschland – von überragender Bedeutung.3 Den modernen, schillernd-vieldeutigen Begriff der Spiritualität kennt Spalding selbstverständlich nicht, wohl aber einen Begriff, der ihm wahlverwandt sein dürfte: Den der Moral bzw. des Moralischen, der im Diskurs der Neologen mehr und anderes meint als die menschliche Anlage und Verpflichtung zum Tun des Guten.4 Vielmehr steht der Terminus „in einem ganz umfassenden Sinne“ für die „Summe aller Selbst-, Welt- und Gottesbezüge des Menschen“.5 Als „moralisches Erbauungsbuch“ hat Spalding seinen Text im Vorwort zur letzten Auflage von 1794 selbst etikettiert.6 Im Folgenden wird die Bestimmungsschrift als Dokument aufklärerischer Spiritualität gelesen. Zunächst gilt es, ihren Gedankengang in Grundzügen nachzuvollziehen (1). Anschließend soll das spirituelle Profil der „Betrachtung“ skizziert werden (2).
1 Persius Flaccus, Satiren, 38 (III, 67). 2 Zur Neologie vgl. Aner, Theologie der Lessingzeit; Hirsch, Geschichte der neuern evangelischen Theologie; Beutel, Aufklärung in Deutschland. 3 Zur Wirkungs- und Rezeptionsgeschichte der „Bestimmung des Menschen“ vgl. Brandt, Bestimmung des Menschen; Macor, Bestimmung des Menschen; Raatz, Aufklärung als Selbstdeutung, 442–448. 4 Vgl. unten 1.7. 5 Beutel, Spalding, 17; vgl. Hirsch, Geschichte, 55 Anm. 1. 6 Vgl. Spalding, Bestimmung des Menschen, 32.
Johann Joachim Spaldings (1714–1804) „Bestimmung des Menschen“
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Spaldings Reflexionen über die Bestimmung des Menschen
1. Einleitend einige Worte zur Entstehung der „Bestimmung des Menschen“. 1714 im pommerschen Tribsees geboren, ist Spalding7, als sein Erfolgsbuch erstmals erscheint, 33 Jahre alt. Von 1731 bis 1733 hat er ein kurzes, ihn wenig befriedigendes Studium der evangelischen Theologie in Rostock absolviert. Die sechzehn Jahre, die bis zur Berufung auf die erste eigene Pfarrstelle vergehen werden, nutzt er unter anderem, um sich durch private Lektüre fortzubilden. Anfangs steht die Philosophie Christian Wolffs (1679–1754) und seiner Schule auf seinem Lektüreplan, für die seine akademischen Lehrer einst keinerlei Verständnis aufgebracht hatten. Dann beginnt er sich mit der Philosophie Shaftesburys (1671–1713) zu beschäftigen, die ihn derart begeistert, dass er das Englische erlernt und zwei moralphilosophische Hauptwerke des britischen Gentlemanphilosophen mustergültig ins Deutsche übersetzt.8 Mit Shaftesburys Idee eines dem Menschen angeborenen, ihn intuitiv zum moralisch Guten anleitenden und ihn darüber hinaus zum Göttlichen führenden moral sense hat Spalding die moral- und religionstheoretische Grundidee gefunden, die seine Theologie nachhaltig bestimmen wird. Als „edle und liebenswürdige Schwermerey“9 hat er das Konzept des Moralsinns selbst bezeichnet. Von dieser Schwärmerei lässt er sich nun auch bei der Abfassung seiner „Betrachtung über die Bestimmung des Menschen“ leiten.10 2. Spaldings Bestseller, der zwischen 1748 bis 1794 insgesamt elf Auflagen erlebt, Raubdrucke und Übersetzungen nicht eingerechnet,11 ist ein im besten Sinne populäres Buch.12 Sein Erfolg beruht, wie Spalding selbst gesehen hat, nicht zuletzt auf seinem Stil und seiner Schreibart: „Der Beyfall, den dieser Aufsatz erhalten, ist ein Beweis, wie viel Gewalt eine gewisse Einfalt und Wahrheit der Gesinnungen und des Ausdrucks noch immer auf die Gemüther der Menschen hat.“13 Beachtung verdient die von Spalding gewählte literarische Form. Shaftesbury hatte sie in seinem „Soliloquy, or Advice to an Author“ für die Behandlung moralphilosophischer Themen empfohlen: Das Selbstgespräch, den
7 Zur Leben und Werk Spaldings zuletzt Beutel, Spalding. 8 Vgl. Spalding (Übers.), Sitten-Lehrer; Spalding (Übers.), Untersuchung. Zu Spaldings Übersetzungen und ihrer Bedeutung für die deutsche Shaftesburyrezeption im 18. Jh. vgl. Dehrmann, Das „Orakel der Deisten“. 9 Schreiben des Uebersetzers, in: Spalding (Übers.), Untersuchung, 177. 10 Zu Bildungsgeschichte und Shaftesburyrezeption Spaldings vgl. Raatz, Aufklärung als Selbstdeutung, 63–222; vgl. Schwaiger, Bestimmung des Menschen. 11 Zur Editionsgeschichte der Bestimmungsschrift vgl. Beutel, Albrecht, Einleitung zu: Spalding, Bestimmung des Menschen, XXI–XLIX, hier XXV–XXVII. 12 Zur populären Theologie des 18. Jh. vgl. Drehsen, Theologia popularis. 13 Spalding, Lebensbeschreibung, 134.
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inneren Monolog.14 Die Entscheidung Spaldings, seine Reflexionen über die menschliche Bestimmung in erster Person Singular abzufassen, ist dabei alles andere als ein austauschbarer, beliebiger Kunstgriff. Die Form verweist auf das Anliegen: Die Antwort auf die Frage nach der menschlichen Bestimmung soll nicht dekretiert, sondern vom Leser selbständig nachvollzogen werden. Die Bestimmungsschrift will Anleitung zur Selbstaufklärung sein.15 3. In der „Betrachtung“16 betritt ein exemplarisches menschliches Ich die Szene, das sich die zu Beginn zitierte Persius-Sentenz zu eigen macht und die dort aufgeworfene Frage so aufnimmt: „Ich sehe, dass ich die kurze Zeit, die ich auf der Welt zu leben habe, nach ganz verschiedenen Grundregeln zubringen kann, deren Wehrt und Folgen daher auch unmöglich einerley seyn können. Da ich nun unläugbar eine Fähigkeit zu wählen, und in meinen Entschließungen eines dem andern vorzuziehen an mir finde, so muß ich auch hiebey nicht blindlings zufahren, sondern vorher nach meinem beßten Vermögen auszumachen suchen, welcher Weg der sicherste, anständigste und vortheilhafteste sey“.17
Das Zitat ist in doppelter Hinsicht aufschlussreich. Zum einen formuliert Spaldings Ich eine Voraussetzung, die dieser für nicht weiter diskutabel hält: Der Mensch hat die Fähigkeit zu wählen. Er ist frei, sich selbst zu bestimmen. Er kann diese Fähigkeit zwar ignorieren; doch dies hieße, blindlings und aufs Geratewohl zu leben. Zum anderen: Spaldings Ich setzt die Fähigkeit zu wählen ein, um eine Grundregel zu formulieren, die die Lebensführung insgesamt – „die ganze Verfassung meines Lebens“ (1) – zu regulieren vermag. Nicht Teilbereiche des Lebens stehen zur Debatte, sondern das Leben an sich und als ganzes. 4. Das Geschäft der Selbstbestimmung ist schon im Ansatz anspruchsvoll, denn es beruht auf einem bewussten und verantwortlichen Gebrauch der menschlichen Freiheit. Es wird erst recht anspruchsvoll dadurch, dass sich die Selbstbestimmung nicht an vorfindlichen Konventionen und eingespielten Praktiken der Lebensgestaltung orientieren kann. „Die Beyspiele der Menschen neben mir“ stürzen Spaldings Ich in „Verwirrung und Verlegenheit […]. Wenn ich dem einen Schwarm folge, so bin ich allemal sicher, von dem andern entweder verlacht oder verdammet zu werden“ (1). Die soziale Welt, in der sich das reflektierende Ich vorfindet, erscheint als disparat und widersprüchlich. Weil die Konventionen der Außenwelt als Orientierungsgrößen ausscheiden, wendet sich 14 Vgl. Shaftesbury, Soliloquy. 15 „In dieser Schrift soll nichts ‚bewiesen‘, aber alles innerlich nachvollziehbar gemacht werden“, Kubik, Bestimmung des Menschen, 5. 16 Zur Rekonstruktion des Gedankenganges vgl. Sommer, Sinnstiftung; Kubik, Bestimmung des Menschen; Raatz, Aufklärung als Selbstdeutung, 335–433. 17 Spalding, Bestimmung des Menschen, 1. – Die Schrift wird im Folgenden im Haupttext nach ihrer ersten Auflage von 1748 zitiert.
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das Ich der eigenen Innenwelt zu und geht daran, im Rahmen einer Reflexion auf die eigene „Natur“ die Grundregel des eigenen Lebens zu entwickeln. 5. Spalding sieht die Natur des Menschen (Shaftesbury folgend) durch unwillkürliche Neigungen und ihnen korrespondierende ebenso unwillkürliche Empfindungen strukturiert. Kraft der reflektierenden Vernunft kann sich der Mensch von Neigungen und Empfindungen distanzieren und sich zu ihnen in ein bewusstes Verhältnis setzen. Die Aufgabe der Selbstbestimmung besteht darin, die in der menschlichen Natur wachen Neigungen und die ihre Realisierung jeweils begleitenden Empfindungen zunächst wahrzunehmen und die daraus entstehende Lebensoption dann daraufhin zu prüfen, ob sie sich als „Grundregel“ der Lebensführung eignet und die „ganze Verfassung“ des Lebens zu bestimmen vermag oder nicht. Genauer: Es geht darum, sie auf das ihnen innewohnende Glücksversprechen hin zu überprüfen. Nach welcher Maxime ist das eigene Leben auszurichten, dass es als glücklich erlebt wird? Welches Glück entspricht der menschlichen Natur, und zwar nicht nur für den Moment, sondern auf Dauer? 18 6. Mit dem Streben nach „Reichthum und Ehre“ muss sich das Ich nicht lange beschäftigen: Es gibt „wesentlichers, das meine Neigung rege machen kann“ (2). Als solche wesentlichere Lebensoptionen schreitet das reflektierende Ich im Fortgang der „Betrachtung“ das Vergnügen der Sinne, das Vergnügen des Geistes, die Tugend, die Idee der Religion und die Erwartung der Unsterblichkeit ab. Wenn Spaldings Ich das Vergnügen der Sinne als defizitär erlebt, dann nicht deswegen, weil es unter dem Verdacht der Sündhaftigkeit stünde, sondern weil es rasch abklingt und sich nicht auf Dauer stellen lässt. Ein „dunkles Gefühl von Sehnsucht und einem geheimen Leeren“(5f) lässt sich auch durch klug dosierten Sinnengenuss nicht übertönen. Das sinnliche Vergnügen ist legitim, doch werden die Möglichkeiten des Lebens darin nicht ausgeschöpft.19 Bei näherem Hinsehen enthüllt die menschliche Natur nämlich den Drang, sich selbst zu vervoll18 „Seiner Form nach ist Glück ein Zustand der vollständigen Erfüllung bestehender Bedürfnisse, und sei es auch nur für wenige Momente. Weil solche Bedürfnisse und die Sehnsucht nach ihrer Befriedigung sich auf allen Ebenen des Lebens melden, gibt es eine Vielzahl von Erfüllungsgestalten, die sich – so Spalding –unter anthropologischem Blickwinkel jedoch sortieren lassen, nach Maßgabe ihrer Reichweite und ihres Erfüllungsniveaus“, Barth, Mündige Religion, 222. Zur Glücksthematik in Spaldings Bestimmungsschrift vgl. Claussen, Glück und Gegenglück, 282–290; Raatz, Aufklärung als Selbstdeutung, 358–367. 19 „Spaldings Text raubt der Sinnlichkeit das Geheimnis des Verbotenen und lässt sie bloss noch als Inbegriff der Gewöhnlichkeit erscheinen. Damit verliert das Sinnliche als Option der Selbstwahl jenen Versuchungsanreiz, den ihm die orthodoxe Rede von Teufelswerk und Verdammnis gegeben hat. Die Sinnlichkeit wird verweltlicht; sie wird ihrer metaphysischen Tiefen- und Abgrunddimension entkleidet. So ist der Mensch keineswegs gehalten, seine sinnlichen Bedürfnisse zu verleugnen. Bloss sind sie nicht das, worin er zu sich selbst kommt“, Sommer, Sinnstiftung, 171.
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kommnen. Das Interesse an Selbstvervollkommnung20 lässt es als ausgeschlossen erscheinen, dass das Ich im sinnlich-schönen Augenblick zur Ruhe und zum Glück finden könnte. Neben der „Gesundheit, Stärke und Geschicklichkeit meines Leibes“ sind es „die Vorzüge und Kräfte meines Geistes“ (6), die sich das Ich der „Betrachtung“ zu steigern und zu entwickeln bestimmt sieht. Allerdings vermag auch dieses sehr plausible Vergnügen das Ich auf Dauer nicht zu erfüllen und glücklich zu machen. „Das ist alles meiner Natur gemäß; aber es ist noch nicht genug“ (7). Warum nicht? 7. Weil das Ich im Streben nach Selbstvervollkommnung auf sich und seinen Vorteil fixiert bleibt. Ist der Mensch aber tatsächlich ein Egozentriker, dem es nur um sich selbst und den eigenen Nutzen geht? „Ich sehe andere Wesen um mich, und ich frage mich dabey: Sind diese alle um meinetwillen da? Haben sie keinen andern Zweck, als mein Beßtes? Findet zwischen mir und ihnen kein anderes Verhältniß statt, als daß ich, gleich einem Mittelpunkt, alles andere auf mich ziehen darf ? Bin ich mir alles, und allen andern Wesen für sich nichts schuldig? Und habe ich keinen andern natürlichen Zweck, keine andere natürliche Begierde in meiner Sele, als meinen Nutzen?“(7).
Spaldings reflektierendes Ich beantwortet alle diese Fragen mit einem klaren Nein. Im Sinne von Shaftesburys Theorie des Moralsinns entdeckt es eine andere Art von Neigung, die ihn über das Streben nach dem eigenen Vorteil hinausführt. „Ich habe vielfältig, zu meiner Verwunderung, Triebe und Empfindungen in mir wahrgenommen, die ich gar nicht zu den Begierden nach sinnlicher Lust, oder nach eigenem Vortheil rechnen, und denen ich mit diesen gar nicht genug thun kann“ (7). Es konstatiert einen „klaren Unterscheid meiner Begierden, daß einige bloß auf mich, andere aber auf ein allgemeines Beßtes, oder auf das, was an sich gut und schön ist, abzielen“ (9). Diese Art von Begierden ist von Empfindungen wohltuender Selbstvergessenheit begleitet. „Ich spüre Empfindungen in mir, dabey ich mich selbst vergesse, die nicht mich und meinen Vortheil, in so fern ich es bin, und in so fern es mein Vortheil ist, sondern ganz etwas anders zum Zweck haben; Empfindungen der Güte und der Ordnung, die mein blosser Wille nicht gemacht hat, und die auch mein blosser Wille nicht vernichten kann; ursprüngliche und unabhängliche Triebe in meiner Sele zu dem, was sich schickt, zu dem, was anständig, großmüthig und billig ist, zu der Schönheit, Uebereinstimmung und Vollkommenheit überhaupt, und vornemlich in den Wirkungen verständiger und freyhandelnder Wesen.“ (BM 8)
Das Ich schließt daraus, dass dem eigenen „Geist ein natürlicher Begriff von einem Anständigen und Schändlichen, von einem Schönen und Häßlichen, von 20 Wenn Spalding mit einem in der eigenen Natur liegenden Streben des Menschen rechnet, sich selbst zu vervollkommnen, nimmt er einen Gedanken der Leibniz-Wolffschen Schulphilosophie auf. Vgl. Schwaiger, Bestimmung des Menschen, 16.
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Recht und Unrecht eingedrückt“ (8) sei, an dem es sich zu orientieren gelte. Die Neigung zum moralisch Guten und Schönen „ist ein Gesetzgeber in mir, […] und den muß ich hören“ (12). Wenn das Ich sich von diesem Gesetzgeber leiten lässt, handelt es tugendhaft. In der Praxis der Tugend ist „die reine Empfindung dessen, was sich schickt, meine eigentliche höchste Verbindlichkeit“ (13). In diesem Sinne setzt sich das reflektierende Ich zum Ziel, „daß die Neigung der Güte, die mir eingepflanzt ist, immer mehr gestärket, und auf alle mögliche Weise befriediget werde“ (11). Das heißt zunächst „Gerechtigkeit gegen alle Menschen, Aufrichtigkeit in meinem ganzen Verhalten, Dankbarkeit gegen Vaterland und Wohlthäter, Großmuth gegen Feinde selbst“, und darüber hinaus „eine in dem weitläufigsten Verstande allgemeine Liebe“ (12). Das reflektierende Ich überschreitet seinen sozialen Nahbereich und nimmt die Menschheit als ganze in den Blick. „Die Glückseligkeit des menschlichen Geschlechts, die mich so angenehm rühret, soll unveränderlich ein Gegenstand meiner ernstlichsten Bestrebungen, und meine eigene Glückseligkeit seyn“ (11f). Mit der Entdeckung des moralischen Sinnes, der den Menschen zu Tugend und zum Tun des Guten motiviert, hat Spaldings Ich sein Ziel vorläufig erreicht. Jetzt weiß es, „wozu meine Natur und die allgemeine Natur der Dinge mich bestimmen“ (13). Die Gewissheit, seine Lebensführung an der eigenen Natur auszurichten, lässt das Ich heiter und ruhig werden. Es bringt „in meiner Sele ein Gleichgewicht, eine Heiterkeit und Ruhe zuwege […], die über die Anfälle äusserlicher Widerwärtigkeiten weit hinaus ist“ (13). Zu wissen, „ich thue das, was ich thun soll; ich bin das, was ich seyn soll“, eröffnet ihm „eine unerschöpfliche Quelle der Gleichmüthigkeit und des Friedens“ (13f). Die Praxis der Tugend eröffnet dem Ich beständiges und dauerhaftes Glück, ist dieses doch unabhängig von allen zufälligen äußeren Veränderungen. „Diese Verfassung meiner Sele bringe ich mit in alle die Umstände, worin mich mein Schicksal setzet; und was ich dann auch sonst in der Welt immer seyn mag, so bin ich doch innerlich glücklich, weil ich rechtschaffen bin“ (14). 8. An dieser Stelle könnte die „Betrachtung über die Bestimmung des Menschen“ enden. Das Glück, das die Praxis der Tugend verheißt, hat sich nach eingehender Prüfung als naturgemäß, verlässlich und dauerhaft erwiesen. Tatsächlich aber bleibt das reflektierende Ich bei der Entdeckung des Glücks der Moralität nicht stehen, sondern vollzieht den Schritt in die Religion. Die Brücke, die Moral und Religion verbindet, ist ästhetischer Natur. Hat sich das reflektierende Ich zunächst der eigenen inneren Natur vergewissert und diese als moralisch gut und schön zu verstehen gelernt, wendet es sich nun der äußeren Natur zu. Es entdeckt „den lebendigen Glanz der wahrhaftig schönen Welt“:
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„Alles ist Ordnung, alles ist Proportion; alles ist folglich ein neuer Gegenstand des Wolgefallens, der Liebe und der Freude“ (14). „Ich verliere mich mit Lust in die Erwägung dieser allgemeinen Schönheit, davon ich selbst ein nicht verunstaltender Theil zu seyn trachte“ (15).
Indem es die Erwägung des Naturschönen (nicht dieses selbst!) auf sich wirken lässt, ja, sich darin verliert, steht Spaldings Ich auf der Schwelle zur Religion. In einer raschen Gedankenbewegung steigt es vom Gedanken der Schönheit der Natur „zur Vorstellung von einem Urbilde der Vollkommenheiten, von einer ursprünglichen Schönheit, von einer ersten und allgemeinen Quelle der Ordnung“ (15) auf. Den mit staunender Bewunderung gefassten Gedanken Gottes als des schöpferischen Urgrunds aller Dinge entwickelt das reflektierende Ich in kompakten, implikationsreichen Gedankengängen weiter. Dabei gelingt es Spalding meisterhaft, die affektive Bewegung darzustellen, in die das Ich ob des Gottesgedankens gerät. Erstens: Indem das reflektierende Ich sich den Gottesgedanken vergegenwärtigt, „erweitert“ sich seine Seele: „Hier erweitert sich meine erstaunte Sele bis zum Unendlichen“ (15).21 Zweitens: Hat das Ich zunächst das Naturganze als Werk der göttlichen Ursprungsmacht begriffen, wendet es diesen Gedanken nun auf sich selbst an und versteht sein eigenes Dasein als durch Gott gewährt und geschenkt: „Was würde ich seyn, ohne ihn? Was würde ich können? ich, der ich aufs kläreste weiß, daß ich einmal nicht gewesen bin, und daß ich meine Thätigkeit mir nicht gegeben habe?“ (15f). Drittens: So groß die Bewunderung ist, die das Ich im Gegenüber zur Gottheit empfindet, so intensiv wird auf der anderen Seite das Gefühl der eigenen Kleinheit und Nichtigkeit. Wenn das Ich Größe hat, dann liegt diese allein darin begründet, dass es sich zur Gottheit denkend und empfindend erheben kann: „Nur das macht mich noch zu etwas, daß ich die Ordnung empfinden, und in derselben bis zu dem Anfange aller Ordnung hinaufsteigen kann. Zu einer solchen Hoheit bin ich bestimmt, und der will ich immer näher zu kommen suchen. Ich will nicht eher stehen bleiben, als bis ich der Schönheit zu ihrer ersten Quelle gefolgt bin. Da soll dann meine Sele ruhen. Da soll sie […] alles niedere und sich selbst vergessen“ (16).
Viertens: Die Meditation des Gottesgedankens führt das Ich in die Ruhe der Weltund Selbstvergessenheit. Seine Verpflichtung zu Moralität ist damit aber nicht aufgehoben. Das Ich lernt den Moralsinn im Licht der Einsicht in die eigene Geschöpflichkeit als göttliche Setzung zu verstehen. „Die grosse Empfindung des Guten und Bösen, des Rechts und Unrechts, die ich in mir erkannt habe, rühret nicht weniger von demjenigen her, der seine mächtigen Einflüsse 21 Die Seele „lernt sich selbst kennen als in ihrer Empfindungsfähigkeit nicht auf irdische Gegenstände beschränkt“, Kubik, Bestimmung des Menschen, 11.
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überall ausbreitet. Es ist also eine göttliche Stimme, es ist die Stimme der göttlichen Wahrheit, die in mir redet“ (17).
Dieser Stimme zu folgen heißt, dem göttlichen Gegenüber „nach meiner Fähigkeit ähnlich zu werden, und ihm zu gefallen“ (17). In dem Bewusstsein der Ähnlichkeit mit Gott und dem daraus resultierenden göttlichen Wohlgefallen liegt das Glück der Religion. 9. „Der Geist, der über alles wachet, der wird auch über mich wachen. Er, dessen Weisheit und Güte sich überall in so sichtbaren Spuren offenbaret, wird nichts geschehen lassen, davon das Ende ihm nicht anständig, und seinen Geschöpfen nicht heilsam sei“ (BM 18). Mit dieser Reflexion auf die göttliche Providenz könnte Spalding seine „Betrachtung“ endgültig schließen. Wenn er es nicht tut, dann deswegen, weil sein Ich kein Bürger einer idealen, sondern jener Welt ist, in der die moralische Ordnung immer wieder durchbrochen wird. Die Praxis der Tugend garantiert keineswegs zwangsläufig Glück, wie es nach den zuvor entwickelten Grundsätzen der Fall sein müsste. Damit aber gerät die gesamte, eben entwickelte moralreligiöse Gewissheit des reflektierenden Ich ins Wanken. „Ebenmaaß und Uebereinstimmung verschwinden hier; und mein Begriff von einer herrschenden Ordnung verwirret sich gänzlich“ (20). Die Lebenswirklichkeit wird zum dunklen „Räthsel“ (18) – und das Ich flieht aus der Empirie ins Postulat. „Nein! es ist nicht möglich, daß die Welt also regieret werde, da sie einmal regieret wird. Es muß nothwendig ein besseres Verhältniß der Dinge da seyn, sollte ich dieß auch in seiner völligen Klarheit ausser dem Bezirk dieses Lebens zu suchen haben. Es muß eine Zeit sein, da ein jeder das erhält, was ihm zukömmt“ (20).
Um dem doppelten „es muß“ Rechnung zu tragen, entwickelt das Ich die Idee der Unsterblichkeit und den Begriff eines jenseitigen, durch Gott gehandhabten gerechten Ausgleichs. Als Gründe für die Möglichkeit eines postmortalen Weiterlebens führt das Ich zwei qua Selbsterfahrung plausible Gründe an. Es konstatiert zum einen, dass seine Entwicklungsmöglichkeiten im irdischen Leben nicht ausgeschöpft würden. Seine Kräfte seien unendlich steigerbar. „Ich spüre Fähigkeiten in mir, die eines Wachsthums ins Unendliche fähig sind“ (20f). Da sich das Ich zweitens in aller Veränderung als mit sich selbst identisch erlebt und Geist und Körper (im Sinne der cartesianischen Unterscheidung von res cogitans und res extensa) kategorial voneinander geschieden seien, sei der Schluss erlaubt, „daß dasjenige, was eigentlich ich bin, nicht nothwendig der Vertilgung mit unterworfen seyn müsse, die meinen Leib dahin reisset“ (22). Mit der Erwartung der eigenen Fortexistenz und eines postmortalen Ausgleichs durch Gott gewinnt das Ich wieder „Luft und Freyheit“ (20). Es ist des eigenen Lebens in seiner Dies- und Jenseits übergreifenden Ganzheit ansichtig geworden und entschließt sich, die neu gewonnene Einsicht unter allen Um-
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ständen und in allen Widrigkeiten des Lebens bei sich wachzuhalten. „Ich will mich also gewöhnen, die Ewigkeit und das gegenwärtige Leben beständig als ein Ganzes zu betrachten“ (23) und in dieser Haltung das „grosse Ziel“ zu avisieren, „dazu ich durch meine Natur und von meinem Urheber bestimmet bin, nämlich rechtschaffen, und in der Rechtschaffenheit glückselig zu seyn“ (25). Damit ist die Frage nach der menschlichen Bestimmung beantwortet. Mit der Unsterblichkeitshoffnung hat das reflektierende Ich sein Ziel erreicht. Wenn es die Stufen Sinnlichkeit, Geistesvergnügen, Tugend und Religion überschritten hat, so ist dies jeweils durch die Einsicht in ihr partielles Ungenügen begründet. Die überschrittene Stufe ist dadurch aber nicht negiert. Sie ist vielmehr in der nächsthöheren, umfassenderen Lebensoption bewahrt.
2.
Konturen aufklärerischer Spiritualität
Spaldings „moralisches Erbauungsbuch“ setzt, wie gesehen, ganz auf die Evidenz der menschlichen Selbsterfahrung. Keine externe Autorität wird ins Spiel gebracht, um die Frage der humanen Bestimmung zu klären. Spalding enthält sich jedes expliziten Bezugs auf die biblisch-christliche und die kirchlich-dogmatische Tradition.22 Mit der Absage an äußere Autoritäten verbindet sich ein antitheoretischer Affekt. Die „Betrachtung“ ist Anleitung zum glücklichen Leben. Sie will nicht belehren, sondern „erbauen“: Ihre Lektüre soll praktische Folgen haben. Die Einsichten, die der Leser über sich, die Welt und Gott gewinnt, sind kein Selbstzweck; sie wollen meditierend vergegenwärtigt und reflektierend eingeübt
22 Dass ein solcher Bezug implizit besteht, räumt Spalding in einem „Anhang bey der dritten Auflage“ (in: Spalding, Bestimmung des Menschen, 198–214) ein. Anlass des Anhangs ist eine Rezension der Bestimmungsschrift aus der Feder Johann Melchior Goezes (dazu Beutel, Einleitung [s. Anm. 11], XXXIV–XLVII). Goeze wirft Spalding u. a. Undankbarkeit gegen die göttliche Offenbarung vor, aus deren Quellen er schöpfe, ohne dies explizit zu machen. In seiner Antwort geht Spalding auf Goezes Einwand nur indirekt ein. Er erklärt, die Bestimmungsschrift sei dahingehend missverstanden worden, er rede einer natürlichen Religion das Wort, die ohne Offenbarungsbezug auskomme. Das sei nicht der Fall, sei doch die Offenbarung die Voraussetzung der natürlichen Religion. Diese werde, wie die Erfahrung lehre, „da am besten erkannt […], wo das Licht des Evangeliums die Geister aufgekläret hat“ (202). Zwischen der nach ihrem Wesen verstandenen christlichen und der natürlichen Religion bestehe kein Widerspruch, im Gegenteil: „Lebendig von der natürlichen Religion durchdrungen seyn, und doch eine Glaubenslehre nicht hochachten, die eben das sagt, was die natürliche Religion, und die es so deutlich, so vollständig, so rührend sagt, ich gestehe es, das ist mir unbegreiflich“ (200). Zu Spaldings Verhältnisbestimmung von natürlicher und christlicher Religion und seinem Begriff des wesentlich Christlichen vgl. Dreesman, Aufklärung der Religion, 118–131.
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werden. In acht Sätzen seien die spirituellen Pointen der Bestimmungsschrift noch einmal rekapituliert. Aufklärerische Spiritualität wurzelt in der Frage des Menschen nach sich selbst. Spaldings Überlegungen nehmen ihren Ausgang von der grundlegenden anthropologischen Einsicht, dass der Mensch sich selbst Frage und Problem ist. Es ist dem Menschen aufgegeben, über sich selbst und die Maximen und Ziele seiner Lebensführung Klarheit und Eindeutigkeit zu gewinnen. Die neuzeitliche Dimension dieses allgemein-menschlichen Sachverhalts ist in Spaldings Bestimmungsschrift dadurch markiert, dass das reflektierende Ich sich für seine Maximen- und Zielewahl nicht mehr auf seine soziale und kulturelle Umwelt verlassen kann; diese vermag ihn nicht mehr zuverlässig zu orientieren. Die Vielzahl der Lebensoptionen und ihre Widersprüchlichkeit nötigen den Menschen vielmehr dazu, Lebensmaximen und -ziele selbstverantwortet zu entwickeln. Aufklärerische Spiritualität rechnet mit einem sich selbst gegenüber achtsamen Menschen. Das menschliche Ich, dem Spalding in seiner „Betrachtung“ das Wort erteilt, ist sich seiner selbst bewusst. Es ist ihm möglich, mit sich selbst in ein Gespräch einzutreten. Realisiert es diese Möglichkeit und übt es sich in „Achtsamkeit“ (9) gegenüber sich selbst, begegnet es seiner Natur in Gestalt unwillkürlicher Neigungen und ebenso unwillkürlicher Empfindungen, zu denen es sich reflektierend verhalten kann. Aufklärerische Spiritualität rechnet mit der Güte der humanen Natur. Die humane Natur, so entdeckt der auf sich selbst achtsame Mensch, neigt zwar zu sinnlichem Vergnügen und kennt das Streben nach dem eigenen Vorteil. Sie geht aber darin nicht auf und ist also keineswegs grundsätzlich selbstbezüglich bzw. böse oder verdorben. Unausgesprochen, aber eindeutig, formuliert Spalding eine Absage an das christliche Erbsündendogma.23 Schon auf der Ebene der Sinnlichkeit gewährt die Natur dem Menschen ein zwar vorläufiges, aber legitimes Glück.24 Dies gilt erst recht im Blick auf den Antrieb der eigenen Natur zum Tun des moralisch Guten. Aufklärerische Spiritualität verwirklicht sich als Tugendpraxis. Die Realisierung der in der humanen Natur angelegten Moralität wird zum Übungsfeld, auf dem sich der Mensch zu entwickeln und zu bewähren hat. Indem er Haltungen wie Gerechtigkeit, Aufrichtigkeit, Dankbarkeit, Großmut und Liebe einübt und sie in entsprechenden Handlungen realisiert, lebt der Mensch tugendhaft und seiner Natur gemäß. Sich dessen bewusst zu sein, macht ihn glücklich.
23 Vgl. Raatz, Aufklärung als Selbstdeutung, 381–392. 24 So bleibt die Sinnlichkeit „konstitutiv für das Menschsein und [ist] daher gutzuheißen, so lange sie nicht die höhere sittliche Bestimmung des Menschen aushöhlt. Sinnlichkeit ja, aber nicht als Selbstzweck, sondern aufgehoben in einem höheren Ganzen“, Sommer, Sinnstiftung, 174.
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Aufklärerische Spiritualität realisiert sich als Freude am Naturschönen. Mit der Güte der eigenen Natur entdeckt der Mensch die Güte der äußeren Natur. Die in ihr wahrgenommene Ordnung und Harmonie erregt ästhetisches Wohlgefallen. Das Naturschöne gilt es wahrzunehmen und „mit einer Seele“ zu empfinden, „die zur Freude und zum Bewundern aufgelegt ist und die nicht in sich selbst, in ihrer eigenen Verkehrtheit, den natürlichsten Samen des Unmuths trägt“ (14). Ob der Mensch Freude am Naturschönen empfindet, liegt an ihm selbst und ist in seiner Einstellung begründet. Wie die Tugend will auch die Freude am Naturschönen habitualisiert werden. Aufklärerische Spiritualität realisiert sich in Andacht. Der vom Naturschönen affizierte Mensch kann zum Gedanken Gottes aufsteigen. Als Urheber und Quelle des kreatürlichen Seins gedacht, wird die Gottheit dem Menschen als Grund des eigenen Daseins bewusst. Im Zuge der Meditation des Gottesgedankens entwickelt er einerseits Gefühle des Staunens und der Bewunderung und andererseits solche der eigenen Nichtigkeit und Kleinheit. Das Moralbewusstsein avanciert zur Stimme der Gottheit. Entspricht der Mensch seiner Bestimmung zum moralisch Guten, gewinnt er wahre Größe und kann des Wohlgefallens der Gottheit gewiss sein. Wie die Tugend und die Freude am Naturschönen ist auch der Gedanke an Gott meditierend einzuüben. Aus der Meditation des Gottesgedankens entwickelt sich die beruhigende Gewissheit, dass in Gottes Hand auch die eigenen „Schicksale“ (18) stehen. In einer der Bestimmungsschrift von der siebten bis zur zehnten Auflage angehängten Zugabe bringt Spalding die Vergegenwärtigung des Gottesgedankens auf den Begriff der Andacht, die er als „Beschäftigung des Herzens mit Gott“ definiert: „Empfindungen und Gemüthsbewegungen aus der Betrachtung des höchsten Gegenstandes des menschlichen Denkens, der noch dazu uns selbst so nahe angeht, und daran uns alles gelegen ist, die machen einen Andächtigen aus.“25 Die Praxis der Andacht könne eine fulminante Dynamik entwickeln: „Die Stärke dieser vernünftigen Empfindungen ist so groß, daß unser Geist, wenn er sie in dem ganzen Umfange ihrer Wahrheit fassen wollte, nothwendig unter dem Gewichte derselben niedersinken müsste; und wenn wir auch bisweilen dadurch, bey einer strengen Zusammenhaltung unserer Gedanken, zu einer außerordentlichen, obgleich den Gegenstand nie übersteigenden, Höhe entzückt werden, so können unsere denkenden und fühlenden Kräfte das doch nur eine sehr kurze Zeit aushalten, und müssen bald zu sanftern und ruhigern Regungen zurück kommen.“ In gemäßigter Form sei Andacht eine das Gemüt prägende Grundstimmung: „diese niedrigere Gegend der Andacht muß […] nothwendig ein sehr natürlicher und gewöhnlicher Aufenthalt für das Gemüth desjenigen seyn, der Gott, und seine Beziehung auf ihn, kennet.“26 25 Spalding, Johann Joachim, Der vernünftige Werth der Andacht, in: ders., Bestimmung des Menschen, 224–245, hier 230. 26 A. a. O., 230.232.
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Aufklärerische Spiritualität realisiert sich als Unsterblichkeitshoffnung. Weil der Mensch zum einen endlich und zum anderen mit nicht erklärbarem, schicksalhaftem Leid konfrontiert ist, kann die Erreichung der menschlichen Bestimmung nur unter der Voraussetzung des Unsterblichkeitspostulats samt eines jenseitigen Güterausgleichs durch Gott als erreichbar gedacht werden. Wie der Gottesgedanke soll auch der Unsterblichkeitsgedanke Gegenstand regelmäßiger Meditation werden: „Ich sehe, wie viel mir darauf ankömmt, daß ich diesen Gedanken bey mir gegenwärtig erhalte“ (23). Zum einen wird auf diese Weise die Praxis der Tugend sanktioniert. Zum anderen gewinnt der Mensch durch die Unsterblichkeitserwartung jene Weltdistanz, die es ihm erlaubt, mit seinem Schicksal heiter und gelassen umzugehen: „Soll ich über die Unbequemlichkeiten eines kurzen Weges untröstlich seyn, der mich zu meinem höheren Vaterlande führet“? (23). Aufklärerische Spiritualität zielt auf innere Balance und Festigkeit. Am Anfang der „Betrachtung“ steht die Irritation über die Vielfalt konkurrierender und sich widersprechender Lebensoptionen. Diese Irritation überwindet der Mensch, wenn es ihm gelingt, die in ihm wachen natürlichen Neigungen ins richtige Verhältnis zu setzen und ihnen die Relevanz beizumessen, die sie tatsächlich haben. Gelingt ihm dies, stellt sich ein inneres „Gleichgewicht“ (13) ein, dessen affektive Wirkung Spalding mit „Heiterkeit und Ruhe“ (13) umschreibt. Mit der Einübung des Gottes- und des Unsterblichkeitsgedankens gewinnt der Mensch „Festigkeit und Einförmigkeit“ (23), die ihn gegen jede Wendung des Schicksals immunisiert.
Literatur Quellen Persius Flaccus, Aules, Satiren, hg., übersetzt und kommentiert von Walter Kißel, Heidelberg 1990. Shaftesbury, Anthony Ashley Cooper Third Earl of, Soliloquy, or Advice to an Author / Selbstgespräch, oder Rat an einen Autor (SE I/1), hg., übersetzt und kommentiert von Gerd Hemmerich/Wolfram Benda, Stuttgart-Bad Cannstatt 1981, 34–301. Spalding, Johann Joachim, Die Bestimmung des Menschen (11748; 21748; 31749; 41752; 51754; 6 1759; 71763; 81764; 91768; 101774; 111794), hg. von Albrecht Beutel/Daniela Kirschkowski/ Dennis Prause (SpKA I/1), Tübingen 2006. –, Lebensbeschreibung von ihm selbst aufgesetzt und herausgegeben mit einem Zusatze von dessen Sohne Georg Ludewig Spalding, in: Kleinere Schriften 2, hg. von Albrecht Beutel/Tobias Jersak (SpKA I/6–2), Tübingen 2002, 105–240.
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Spalding, Johann Joachim (Übers.), Die Sitten-Lehrer oder Erzehlung philosophischer Gespräche, welche die Natur und die Tugend betreffen. aus dem Englischen des Grafen von Schaftesbury übersetzt. nebst einem Schreiben an den Ubersetzer, Berlin 1745. –, Untersuchung über die Tugend, aus dem Englischen des Grafen von Schaftesbury übersetzt. Nebst einem Schreiben des Uebersetzers, Berlin 1747.
Forschungsliteratur Aner, Karl, Die Theologie der Lessingzeit, Halle/S. 1929. Barth, Ulrich, Mündige Religion – Selbstdenkendes Christentum. Deismus und Neologie in wissenssoziologischer Perspektive, in: ders., Aufgeklärter Protestantismus, Tübingen 2004, 201–224. Beutel, Albrecht, Johann Joachim Spalding. Meistertheologe im Zeitalter der Aufklärung, Tübingen 2014. –, Aufklärung in Deutschland (Die Kirche in ihrer Geschichte 4 O2), Göttingen 2006. Brandt, Reinhard, Die Bestimmung des Menschen bei Kant, Hamburg 2007. Claussen, Johann Hinrich, Glück und Gegenglück. Philosophische und theologische Variationen über einen alltäglichen Begriff, Tübingen 2005. Dehrmann, Mark-Georg, Das „Orakel der Deisten“. Shaftesbury und die deutsche Aufklärung, Göttingen 2008. Dreesman, Ulrich, Aufklärung der Religion. Die Religionstheologie Johann Joachim Spaldings (PThK 20), Stuttgart 2008. Drehsen, Volker, Theologia popularis. Notizen zur Geschichte und Bedeutung einer praktisch-theologischen Gattung, in: PTh 77/1988, 2–20. Hirsch, Emanuel, Geschichte der neuern evangelischen Theologie im Zusammenhang mit den allgemeinen Bewegungen des europäischen Denkens, Bd. 4, Gütersloh 31964. Kubik, Andreas, Spaldings Bestimmung des Menschen als Grundtext einer aufgeklärten Frömmigkeit, in: ZNThG 16/2009, 1–20. Macor, Laura Anna, Die Bestimmung des Menschen (1748–1800). Eine Begriffsgeschichte (FMDA II,25), Stuttgart-Bad Cannstatt 2013. Raatz, Georg, Aufklärung als Selbstdeutung. Eine genetisch-systematische Rekonstruktion von Johann Joachim Spaldings „Bestimmung des Menschen“ (1748) (BHT 173), Tübingen 2014. Schwaiger, Clemens, Zur Frage nach den Quellen von Spaldings Bestimmung des Menschen. Ein ungelöstes Rätsel der Aufklärungsforschung, in: Die Bestimmung des Menschen, hg. von Norbert Hinske (Aufklärung 11/1), Hamburg 1999, 7–19. Sommer, Andreas Urs, Sinnstiftung durch Individualgeschichte. Johann Joachim Spaldings Bestimmung des Menschen, in: ZNThG 8/2001, 163–200.
Oswald Bayer
Die Spiritualität Johann Georg Hamanns (1730–1788)
1.
Homme de lettres
Johann Georg Hamann, „homme de lettres“1, Publizist und Schriftsteller, wurde 1730 in Königsberg geboren, war nach abgebrochenem Universitätsstudium Hauslehrer, Übersetzer und Packhofverwalter beim preußischen Zoll am Hafen von Königsberg, lebte mit Anna Regina Schumacher, der Mutter seiner vier Kinder, in einer „Gewissensehe“ und starb 1788 in Münster in Westfalen.2 Seine Spiritualität ist radikale und konsequente Bibelfrömmigkeit, die in ihrer Tiefe und Weite ihresgleichen sucht. „Ich habe die Bibel mit einem fame canina [einem wahren Wolfshunger] verschlungen und las täglich darin. Sie war mein Element und Aliment“.3 An seinen Bruder schreibt er: „Laß die Bibel dein täglich Brot sein, nimm hin und iß es“! 4 Im Rückblick auf seine in London 1758 geschehene Lebenswende, einer Wende von den vielen Büchern, „leidigen Tröstern“5, zu dem einen Buch, das alle übrigen Bücher samt dem Buch der Natur und Geschichte erst aufschließt, bekennt er, dass „meinen Hunger nichts anderes als dieses Buch gestillt, dass ich es wie Johannes geschluckt, und seine Süßigkeit und Bitterkeit“, Gesetz und Evangelium, „geschmeckt habe“6. Hamann zitiert dabei die Johan1 Vgl. N II, 149,5 (Kreuzzüge des Philologen, 1762); ZH I, 245,22, an Gottlob Immanuel Lindner im September 1758; ZH II, 222,19, an Johann Gotthelf Lindner am 26. Juli 1763; ZH II, 372,6, von Johann Gottfried Herder am 22. Mai 1766; ZH II, 451,9, von Johann Gottfried Herder am 11./12 Mai 1769. 2 Einen Überblick über Leben und Werk bieten: Jørgensen, Hamann; Bayer, Hamann; ders., Zeitgenosse im Widerspruch; kurz: Moustakas, Hamann. 3 ZH II, 442,32f, an Johann Gottfried Herder am 9. April 1769. Vgl. H V, 314,21–23, an Friedrich Heinrich Jacobi am 7. Januar 1785: „Was Homer den alten Sophisten war; sind für mich die heiligen Bücher gewesen, aus deren Quelle ich bis zum Misbrauch vielleicht ich mich überrauscht“. Amalie von Gallitzin schreibt am 17. Februar 1785 an Friedrich Heinrich Jacobi, von der heiligen Schrift sei Hamanns „ganzes Wesen impregnirt“, ZH V, 490, 24. 4 ZH I, 401,22f, an seinen Bruder im August 1759. 5 Wie sie Hamann mit Hi 16,2 nennt: BW 342,17 = N II, 39,27 (Gedanken über meinen Lebenslauf). 6 ZH I, 305, 6–8, an Johann Gotthelf Lindner am 21. März 1759.
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nesoffenbarung (10,8–11) und mit ihr Ezechiel (3,1–5): Der Prophet bekommt eine Schriftrolle zu essen; er isst sie – vergleichbar der Abendmahlshostie –, um das gehörte und gelesene Wort sich ganz einzuverleiben – doch ohne es in solcher Aneignung aufzuzehren und in seinem Eigenstand und Anderssein zu negieren.7 Wie die Bibel Hamanns Lebenshunger und Lebensdurst gestillt hat, erfahren wir aus seinen „Gedanken über meinen Lebenslauf“ (1758), der Form nach eine pietistische Generalbeichte. In ihnen bekennt Hamann einen Wortwechsel zwischen sich und Gott: „Ich habe in denselben mit Gott und mit mir selbst geredt. Den ersten in Ansehung meines Lebens gerechtfertigt, und mich angeklagt, mich selbst darinn angegeben und entdeckt“.8 Dieser Wortwechsel ist ein hartes Gespräch, ein Kampf, wie ihn Jakob am Jabbok führen musste (Gen 32), ein Ringen, in dem der alte Mensch in den Tod gegeben wird – zugunsten des Lebens des neuen Menschen. Wie in der Erfahrung der Psalmen (Ps 51,5f), des Paulus (Röm 3,4) und Luthers geht es um das Bekenntnis der eigenen Sünde und um das Lob des diese Sünde vergebenden Gottes, um den sündigenden Menschen und den rechtfertigenden Gott.9 In London wird, nachdem Hamann beruflich wie persönlich gescheitert war, sein Leben gewendet. Von den vielen Büchern findet er zu dem einen Buch, aus der Zerstreutheit zur Konzentration auf das Not Wendende, aus unerträglicher Unruhe zu der Gewissheit, im Autor der Bibel den Autor seiner Lebensgeschichte durch die „Höllenfahrt der Selbsterkänntnis“10 hindurch als Freund gefunden zu haben, der ihn auslegt und versteht.11 Diese Auslegung seiner selbst geschah im Medium tiefdringenden und weitgespannten Lesens der Bibel, in einer Textmeditation; Selbstmeditation geschieht konstitutiv als Textmeditation und Textmeditation als Selbstmeditation.12 Der Knoten löst sich 1758 am „31. März des Abends“13: Ich las „das V. Capitel des V. Buchs Moses [Hamann meint des näheren V.5: „Du sollst nicht töten!“], verfiel in ein tiefes Nachdenken, dachte an Abel, von dem Gott sagte [Gen 4,11]: die Erde hat ihren Mund aufgethan um das Blut deines Bruders zu empfangen – – 7 Im Verhältnis der Zueignung von außen zur Aneignung von innen liegt Hamann an dem nicht nur zeitlichen, sondern vor allem sachlichen Vorrang des Äußeren vor dem Inner(lich)en (vgl. nur BW 304,8–10 = N I, 243,18–20, u. bei Anm. 26 zitiert) – wie dies der Sache nach gegenwärtig, unter Berufung auf Levinas, eindrucksvoll und höchst provozierend von Wannenwetsch, vertreten wird, vgl. ders., Lob der Äußerlichkeit. 8 BW 345,7–9 = N II, 42,17–19 (Gedanken über meinen Lebenslauf). 9 Der sündigende Mensch und der rechtfertigende Gott ist für Luther das „subiectum Theologiae“: Thema und Gegenstand der Theologie: WA 40 II, 327,11–328,2; zu Ps 51,2, 1532. 10 N II, 164,18 (Kreuzzüge des Philologen, 1762). 11 Vgl. BW 342, 20–31 = N II, 39,31–40,2. Vgl. Bayer, Wer bin ich?, 39, bes. Anm.73 (zur Metapher des „Freundes“). S. u. Anm. 90. 12 Vgl. Bayer, Text- und Selbstmeditation. 13 BW 343,29 = N II, 40,38 (Gedanken über meinen Lebenslauf, 1758).
Die Spiritualität Johann Georg Hamanns (1730–1788)
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Ich fühlte mein Herz klopfen, ich hörte eine Stimme in der Tiefe desselben seufzen und jammern, als die Stimme des Bluts, als die Stimme eines erschlagenen Bruders, der sein Blut rächen wollte, wenn ich selbiges beyzeiten nicht hörte und fortführe mein Ohr gegen selbiges zu verstopfen. – – daß eben dies Kain unstätig und flüchtig [Gen 4,12] machte. Ich fühlte auf einmal mein Herz quillen, es ergoß sich in Tränen und ich konnte es nicht länger – – ich konnte es nicht länger meinem Gott verheelen, daß ich der Brudermörder, der Brudermörder seines eingeborenen Sohnes war“.14
Hamann hört im Umgang mit dem Bibeltext – in einer Textmeditation, an der Intellekt und Affekt gleichermaßen beteiligt sind – die klagende und anklagende Stimme seines „Bruders“, seines Nächsten, seines Mitmenschen, von dem er sich und den er von sich geschieden und mit dieser Scheidung getötet hat. Und zugleich ist es die Stimme Gottes, von dem er sich eben mit seiner Dissoziation vom Bruder geschieden hat. Er wird zugleich mit dem Brudermord des Gottesmordes überführt, ist doch „dieser Gott selbst Sein Nächster und seines Nebenmenschen Nächster im strengsten Verstande geworden“15. Gottes Stimme erfährt Hamann aus dem Bibeltext, den er nur kraft dessen versteht, der ihn geschrieben hat. Seine Aneignung des Textes ist keine eigenwillige und selbstmächtige, sondern entspringt der ihn von außen, vom leiblichen Wort des Buchstabens treffenden Zueignung. Nicht er legt die Bibel aus, sondern die Bibel legt ihn aus; sie ist, durch den Heiligen Geist, ihr eigener Ausleger. Entsprechend berichtet Hamann: „Ich fuhr unter Seufzer[n], die vor Gott vertreten wurden durch einen Ausleger, der ihm theuer und werth ist [vgl. Röm 8, 26f], in Lesung des göttlichen Wortes fort und genoß eben des Beystandes, unter de[m] dasselbe geschrieben worden, als des einzigen Weg[es,] den Verstand dieser Schrift zu empfahen“.16
Derselbe Geist, der das biblische Wort geschrieben hat, legt es auch authentisch aus.
2.
Gottes Geist: Fleisch, in Knechtsgestalt; trinitarische Kondeszendenz
Hamann macht die Erfahrung, im Lesen der Bibel gelesen, im Umgang mit ihr ausgelegt zu werden. „Ich erkannte meine eigene[n] Verbrechen in der Geschichte des jüdischen Volks, ich las meinen eigenen Lebenslauf, und dankte Gott 14 BW 343,28–39 = N II, 40,38–10 (Gedanken über meinen Lebenslauf, 1758). 15 BW 410,19f = N I, 302,29f (Brocken, 16. Mai 1758; § 1). Vgl. BW 132, 9–12 = N I, 71,30–33 (Biblische Betrachtungen, 1758); BW 272,3–274,26 = N I, 211,5–213,25 (Biblische Betrachtungen, 1758); BW 397–403 = N I, 291–297 (Biblische Betrachtungen, 7. Mai 1758). 16 BW 344,5–8 = N II, 41,16–20 (Gedanken über meinen Lebenslauf, 1758).
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Oswald Bayer
für seine Langmuth mit diesem seinem Volk, weil nichts als ein solches Beyspiel mich zu einer gleichen Hoffnung berechtigen konnte“17. Der so Lesende und Gelesene nimmt die eigene Lebensgeschichte nicht isoliert wahr, weil er sie als Geschichte Israels en miniature versteht. Die Geschichte Israels wird damit nicht etwa zur Seelengeschichte eines Individuums verengt. Vielmehr erfährt sich durch sie und den in ihr redenden Gott ein einzelner Mensch mit seiner konkreten Lebensgeschichte aus leerer Subjektivität, öder Selbstbezogenheit und wüster Tiefe gerade herausgeführt und in die Weite der Schöpfung und Geschichte hineingestellt. „Ich bin überzeugt, daß jede Seele eine Schaubühne so großer Wunder ist, als die Geschichte der Schöpfung und der ganzen heiligen Schrift in sich schlüst. Der Lebenslauf jedes Christen ist im Tagewerke Gottes, in Bündnisse[n] desselben mit den Menschen, in Übertretungen, Warnungen, Offenbarungen, wunderthätigen Erhaltungen pp. begriffen. Kann einem Christen, der vom Tode der Sünden zu einem neuen Leben hervorgegangen, die Erhaltung Jonas, die Auferweckung des Lazarus, die Heilung eines Krüppels pp. als größere Wunder vorkommen[?]. Sagt dies nicht selbst unser Heyland: Was ist leichter Sünden zu vergeben oder zu sagen: Nimm dein Bett und gehe frei“? 18
Hamanns Spiritualität als Bibelfrömmigkeit ist – wie schon deutlich wurde und nun noch weiter deutlich zu machen ist – geprägt von einem ganz bestimmten worttheologisch trinitarischen Verständnis der Präsenz und Wirkung des Heiligen Geistes im und durch das leibliche Wort des sinnlichen Bibelbuchstabens. „Jede biblische Geschichte ist eine Weissagung – – die durch alle Jahrhunderte – – und in jeder Seele des Menschen erfüllt wird. Um die Allgegenwart und Allwissenheit des Geistes Gottes zu glauben und zu fühlen, darf man nur die Bibel aufschlagen. Jede Geschichte trägt das Ebenbild des Menschen, einen Leib, der Erde und Asche und nichtig ist [Gen 2,7; 3,19], den sinnlichen Buchstaben, aber auch eine Seele, die den Hauch Gottes, und der Othem seines Mundes [Gen 2,7], das Licht und das Leben, das im Dunkeln scheint und von der Dunkelheit nicht begriffen werden kann [Joh 1,4f]. Der Geist Gottes in seinem Wort offenbart sich wie d[as] Selbständige – – in Knechtsgestalt [Phil 2,7] – – ist Fleisch – – und wohnet unter uns voller Gnade und Wahrheit [Joh 1,14]“.19
Der Geist Gottes „ist Fleisch“; der Geist Gottes „in Knechtsgestalt“! „Es gehört zur Einheit der göttlichen Offenbarung, daß der Geist GOttes sich durch den Menschengriffel der heiligen Männer, die von ihm getrieben worden, sich eben so 17 BW 343,14–18 = N II, 40,25–29 (Gedanken über meinen Lebenslauf, 1758). 18 BW 403,10–19 = N I, 297,25–35 (Biblische Betrachtungen, 7. Mai 1758). 19 BW 421,3–13 = N I, 315,3–13 (Betrachtungen über Newtons Abhandlung von den Weissagungen, 1759 ?). Hamanns Text ist so zu korrigieren, um verständlich zu sein: „… Seele, den Hauch Gottes und den Othem seines Mundes“. Zu Hamanns pneumatologischem Bibelverständnis vgl. weiter: BW 304,11–28 (Biblische Betrachtungen, zu 2Petr 1,20).
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erniedrigt und seiner Majestät entäußert, als der Sohn Gottes durch die Knechtsgestalt und wie die ganze Schöpfung ein Werk der höchsten Demuth ist.“20 Hamanns worttheologisch trinitarisches Verständnis des Heiligen Geistes spitzt sich in charakteristischer Weise in dem Gottestitel des „Poeten“21 zu. „Gott ein Schriftsteller![…] Die Eingebung dieses Buches ist eine eben so große Erniedrigung und Herunterlassung Gottes als die Schöpfung des Vaters und Menschwerdung des Sohnes.“22 „Wie hat sich Gott der Vater gedemüthigt, da er einen Erdtenkloß nicht nur bildete, sondern auch durch seinen Othem beseelte. Wie hat sich Gott der Sohn gedemüthigt, er wurde ein Mensch, er wurde der geringste unter den Menschen, er nahm Knechtsgestalt an, er wurde der unglücklichste unter den Menschen; er wurde für uns zur Sünde gemacht; er war in Gottes Augen der Sünder des ganzen Volks. Wie hat sich Gott der heilige Geist erniedrigt, da er ein Geschichtsschreiber der kleinsten, der verächtlichsten, der nichts bedeutendesten Begebenheiten auf der Erde geworden um dem Menschen in seiner eigenen Sprache, in seiner eigenen Geschichte, in seinen eigenen Wegen die Rathschlüsse, die Geheimnisse und die Wege der Gottheit zu offenbaren?“23
Hamanns Spiritualität als Bibelfrömmigkeit ist durch und durch vom Geheimnis dieser trinitarischen Kondeszendenz bestimmt.
3.
„Anwendung“
Erzählte Geschichten bieten Identifikationsmöglichkeiten. Plötzlich sehe ich mich selbst in der erzählten Geschichte und höre sie als meine eigene Geschichte: Mutato nomine de te fabula narratur, du brauchst nur den Namen zu ändern, und die Geschichte erzählt von dir – ein Wort des Horaz, das Hamann für seinen Umgang mit der Bibel besonders wichtig war.24 20 N II, 171,4–8 (Kleeblatt Hellenistischer Briefe, in: Kreuzzüge des Philologen, 1762). 21 Nach dem Nizänischen Glaubensbekenntnis ist Gott der „Poiet“ des Himmels und der Erde. Der Titel des „Poieten“ sagt in glücklicher Prägnanz die Identität von Gottes Handeln und Gottes Reden: In seinem sprechenden Werk und wirksamen Sprechen ist er „Poet“ (N II, 206,20; Aesthetica in nuce, 1762): „Er tut, was er sagt, und sagt, was er tut. Zugleich schreibt er, was er sagt und tut, spricht und wirkt; ins Wort begibt er sich nicht nur mündlich, sondern, als Autor der biblischen Texte, auch schriftlich, ist also „ein Schriftsteller“. 22 BW 59,3 = N I, 5 (Über die Auslegung der heiligen Schrift, 1758?). Vgl. Ringleben, Gott als Schriftsteller. 23 BW 151,37–152,8 = N I, 91,7–17 (Biblische Betrachtungen, 1758). Vgl. BW 346,17–29, bes. 25– 29 = N II, 43,28–40, bes. 36–40 (Gedanken über meinen Lebenslauf, 1758) und BW 160,19– 161,15 = N I, 99,24–100,19 (Biblische Betrachtungen, 1758). 24 Horaz, Satiren I/1,69f („quid rides? Mutato nomine de te fabula narratur”). Von Hamann mit 2Sam 12,7 verquickt: „Warum lachst du aber? Du bist selbst der Mann der Fabel“!, ZH I, 396,26f, an Johann Gotthelf Lindner am 18. August 1759.
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Für Hamann schließt die Bibel als Geschichtenbuch die Welt der Natur und Geschichte in ihrer ganzen Tiefe und Weite nicht etwa aus, sondern überhaupt erst auf. Von ihr aus erkennen wir uns selbst, „unser eigen Leben und andere Gegenstände, Völker und Begebenheiten“: „Wir haben ein groß[es] Vorurtheil in Ansehung der Einschränkung die wir von Gottes Wirkung und Einfluß bloß auf das jüdische Volk machen. Er hat uns bloß an dem Exempel desselben die Verborgenheit, die Methode und die Gesetze seiner Weisheit und Liebe erklären wollen, sinnlich machen; und uns die Anwendung davon auf unser eigen Leben und auf andere Gegenstände, Völker und Begebenheiten, überlassen“.25
Diese „Anwendung“ hat Hamann mit seiner ganzen Existenz und seinem ganzen Werk in einer erstaunlichen Konsequenz vollzogen. „Die heilige Schrift sollte unser Wörterbuch, unsere Sprachkunst seyn, worauf alle Begriffe und Reden der Christen sich gründeten und aus welchen sie bestünden und zusammengesetzt würden.“26 Hamann, „zum bibelfesten Mann gemacht“27, ist dieser programmatischen Forderung in einer einzigartigen Weise nachgekommen. In der Konzentration auf das eine Buch und dessen Autor wird Hamann aufgeschlossen für das „Buch der Natur und der Geschichte“28. Diese Aufgeschlossenheit bewährt er in radikaler – freilich kritischer – Zeitgenossenschaft. Er liest und hört die Selbstvorstellung des Autors des Buches der Natur und Geschichte: „Ich bin der Herr, dein Gott“ samt dem ersten Gebot: „Du sollst keine anderen Götter neben mir haben“ radikal in seiner Zeit, verwickelt in die Kommunikationsprozesse, in denen Mitte des 18. Jahrhunderts keineswegs zufällig das Wort „Öffentlichkeit“ aufkommt.29 Seit seiner Mitarbeit an der Wochenzeitschrift „Daphne“ während seiner Studentenzeit Publizist, in der späteren Zeit (1764–1779) Verfasser zahlreicher Rezensionen für die „Königbergschen Gelehrten und Politischen Zeitungen“30, war Hamann aus der Wurzel seiner Existenz heraus auf Kommunikation bedacht. Die neu aufkommende Sensibilität, mit der die Intelligenz seiner Zeit an den Kommunikationsprozessen, an freundschaftlichem Gespräch und Briefwechsel, am Verhältnis von Autor und Leser, nicht zuletzt am Rezensentenwesen teilnahm, ist bei Hamann aufs äußerste gesteigert. In seine leidenschaftliche und reflektierte Teilnahme an seiner Zeit und seinen Zeitgenossen dringt mit der in
25 BW 411,7–8 = N I, 303,11–18 (Brocken, §3; 1758). 26 BW 304,8–10 = N I, 243,18–20 (Biblische Betrachtungen, zu 1Petr 4,11: „Wenn jemand redet, rede er als Gottes Wort“). 27 ZH I, 340,34, an Johann Gotthelf Lindner am 5. Juni 1759: „Gott hat mich zum bibelfesten Mann gemacht“. 28 BW 417,7–9 = N I, 308,34–36 (Brocken, § 8; 1758). Vgl. u. bei Anm. 66. 29 Vgl. Habermas, Strukturwandel der Öffentlichkeit. 30 N IV, 257–435.
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London geschehenen Lebenswende eine neu orientierende, eine spezifisch biblisch christliche Bestimmung.
4.
Der Zeuge will nicht überzeugen; Einzelner vor Gott
Was und wie Hamann, indem er gelesen wurde, gelesen hat, lässt ihn nicht stumm; er muss es bezeugen. „Ich glaube; darum rede ich“31 (Ps 116,10; 2Kor 4,13); ich lese, darum schreibe ich. Doch hat ihn, der zeitlebens stotterte,32 die Zeugenschaft, zu der er mit seiner Lebenswende in London berufen wurde, nicht in ein kirchliches Amt geführt. Minister verbi divini, Diener des göttlichen Wortes, war er als Publizist und Schriftsteller33 – darin, wie in vielem anderen, Søren Kierkegaard, aber auch Jochen Klepper34 vergleichbar. Die Schriftstellerei ist ein Predigtamt eigener Art. So bewegt sich Hamanns Sprache nicht in den üblichen Formen reformatorischer Predigttradition. Die bildkräftige Sprache der Lutherbibel verflicht sich vielmehr in die Lebensgeschichte des Autors, in konkrete Gesprächssituationen, Begegnungen, publizistische Konstellationen, Rezensionen, Repliken, in die Antikritik und Metakritik. Hamann geht auf den Gegner ironisch und spottend, parodierend und persiflierend, scheltend und abstoßend ein. Dabei bedient er sich, noch in der Respublica Litteraria, vor der Zeit des Abbruchs der rhetorischen Tradition, lebend, der Mittel der – freilich antipersuasiven35 – Rhetorik, eingesetzt in die Strategie seiner Zeugenschaft. So inszeniert er „den Zusammenstoß von Genus humile und Genus sublime“, entfaltet den Gehalt der gebrauchten Bilder und Metaphern nicht, „sondern reiht sie hart und unvermittelt aneinander und zwingt den Leser, sich um eine Deutung selber zu bemühen“36 und dabei er selbst zu werden. Seine Aufgabe sieht Hamann darin, die biblische Botschaft inmitten der Aufklärung, des siècle philosophique, zu bezeugen. So lässt er sich in den „Sokratischen Denkwürdigkeiten“ (1759) 37 auf die Sprache des von der Gestalt des 31 ZH I, 453,8f, an Kant im Dezember 1759; vgl. N III, 25. Das Verhältnis der Londoner Lebenswende zu der daraus folgenden existenziellen und literarischen Zeugenschaft bestimmt treffend: Lüpke, Hamanns „Brocken“, 41: „Der Bewegung der Kontraktion, die auf den Punkt der alles entscheidenden Erkenntnis drängt, folgt die Expansion.“ 32 Vgl. z. B. ZH II, 225,27, an die Königlich Preußische Kriegs- und Domänenkammer zu Königsberg i.Pr. am 29. Juli 1763; H VI, 258,24f, an Friedrich Heinrich Jacobi am 6. Februar 1786. 33 Vgl. Baur, Hamann als Publizist. 34 Vgl. Bayer, Leidend loben, bes. 48–50 („Irreguläres Pfarramt“). 35 Vgl. Hagemann, Reden und Existieren; ders., Antipersuasive Rhetorik. Zur Bedeutung der antipersuasiven Rhetorik für die Homiletik: Haizmann, Indirekte Homiletik. 36 Jørgensen, Sokratische Denkwürdigkeiten, 176f. 37 N II, 57–82 bzw. Jørgensen, Sokratische Denkwürdigkeiten, 3–73.
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Sokrates begeisterten 18. Jahrhunderts38 ein. Durch den Zeitgeist und durch das Publikum hindurch sucht er seine Freunde, Christoph Berens und Immanuel Kant, zu erreichen. Dem entspricht die doppelte Zuschrift, mit der die „Sokratischen Denkwürdigkeiten“ (1759) beginnen: „An das Publicum, oder Niemand den Kundbaren“ sowie „An die Zween“. Die beiden Freunde können nicht unmittelbar erreicht werden, sondern nur mittelbar, nur indirekt. Denn sie haben im Innersten Anteil an der Öffentlichkeit; sie gehören wesentlich zum Publikum. Das Publikum aber hat Macht; es fasziniert und macht von sich abhängig. Mit der Veröffentlichung der „Sokratischen Denkwürdigkeiten“ beabsichtigt Hamann, zwei frühere Freunde, die dem Publikum hörig sind, zu befreien – zwei „Deiner Anbeter […] von dem Dienst Deiner Eitelkeit zu reinigen“39. Das Publikum, der allwissende Niemand, soll durch den unwissenden Sokrates in sich selbst überwunden, mit seinen eigenen Waffen geschlagen werden. Mit seiner Autorhandlung der „Sokratischen Denkwürdigkeiten“ will Hamann den allwissenden Niemand und den unwissenden Sokrates so ineinander verwickeln, dass Kant und Berens aus dem Niemandsland, aus der viel wissenden und nichts verstehenden Anonymität heraustreten und zu Einzelnen werden, die gegen ihr Wissen skeptisch geworden sind und ihre Unwissenheit eingestanden haben, um dem Glauben Platz zu machen. Über den Erfolg seiner indirekten Predigt macht sich Hamann keine Illusionen und setzt als Motto auf das Titelblatt der „Sokratischen Denkwürdigkeiten“ den Anfang der Satiren des Persius: „‚Wer wird denn so was lesen?‘ – Fragst du mich? / Wahrhaftig, niemand. – Vielleicht zwei, / vielleicht auch keiner!“40 Als Zeuge will Hamann seinen Leser nicht überzeugen,41 geschweige denn überreden, sondern ihn veranlassen, selber zu denken und ein Einzelner zu werden – ein Einzelner vor Gott. Systematisch denselben Ort wie die Rede vom transzendentalen Ich in der Philosophie Kants nimmt bei Hamann die Rede von der Barmherzigkeit ein, in der ich nicht zuerst verstehe, sondern verstanden bin und verstanden werde. An Ostern 1787 schreibt Hamann vom Krankenbett an Friedrich Heinrich Jacobi, mit dem er in den letzten Jahren seines Lebens ein intensives Briefgespräch führte, von ihm aber an entscheidenden Punkten nicht verstanden wurde: „Mit allem Kopf[zer]brechen geht es mir wie dem Sancho Pancha, daß ich mich endlich mit seinem Epiphonem [= Ausspruch] beruhigen muß: Gott versteht mich!“42 „Des
38 Vgl. Böhm, Sokrates im 18. Jahrhundert. 39 N II, 59,26f. Zitiert ist das Lied Gottfried Arnolds „O Durchbrecher aller Bande…“, Str.4 („… von dem Dienst der Eitelkeiten“; vgl. Röm 8,19–23). 40 N II, 57 (freie Übersetzung). 41 Vgl. o. Anm. 35. 42 H VII, 135,17–19, an Friedrich Heinrich Jacobi am 8. April 1787. Sancho Pansas „Gott versteht mich!“: Cervantes Saavedra, Don Quijote, 579.884.972.
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Sancho Pancha Transcendentalphilosophie ist mir so heilsam, wie des Samariters Oel und Wein.“43
„Gott versteht mich!“ Dieses Bekenntnis nimmt der Autor Hamann auch für seine Leser in Anspruch; sie sind „Leser im Verborgenen, die Gott besser kennt und versteht als Ich“44. Darin liegt ihre Freiheit. Die von sich aus sich mitteilende Wahrheit nötigt nicht; deshalb will ihr Zeuge ihr Kommen nicht erzwingen. Sie geschieht frei und ist das Majestätsrecht des Autors, der endgültig auslegt und urteilt. „Auslegen und Urtheilen gehört Gott zu“ (Gen 40,8).45 Hamann wusste sich in einem eigentümlich zwiespältigen Verhältnis zum Publikum. Er war Schriftsteller in einem Zugleich von Verborgenheit und Öffentlichkeit, das tief bestimmt ist vom Geheimnis des Messias und seiner Parabeln (Mk 4,11f), wie es das Markusevangelium prägt, strukturgleich aber auch die paulinische und johanneische Theologie.
5.
Philologus crucis; Idiomenkommunikation
Hamanns Spiritualität überliefert sich uns wie durch seine Schriften so auch durch seine Briefe, die allesamt durch einen seelsorglichen Grundzug geprägt sind, wenn denn Seelsorge heißt, den Nächsten – wie sich selbst – als Sünder und Gerechtfertigten wahrzunehmen.46 Dieses Urmotiv bestimmt auch Hamanns Schriften, die sich immer in eine ganz konkrete – meist kontroverse – Gesprächssituation hineinschreiben. In ihrer Grundstrukur und Absicht sind sie – nicht nur nach Hamanns Selbstverständnis – lutherisch. Spezifisch lutherisch ist zunächst Hamanns Liebe zum Wort; er versteht sich als Philologe. Im Entscheidenden gilt seine Liebe dem „Wort vom Kreuz“ (1Kor 1,18); er war „Philologus crucis“47, Kreuzesphilologe. „Kreuzzüge des Philologen“ nannte Hamann eine 1762 erscheinende Sammlung seiner Schriften. Aus dem Kreuz kommt die Kraft der Kritik seiner kritischen Philologie, in der er sich auf 43 H IV, 340,5f, an Johann Gottfried Herder am 17. September 1781. 44 N IV, 460,10–13; 1788?. Vgl. ZH I, 425, 30–37, an Johann Gotthelf Lindner am 12. Oktober 1759; H VI, 269,24: „wer kann Menschen ins Herz sehen“?, an Friedrich Heinrich Jacobi am 15. Februar 1786 sowie H VII, 458,12, an Johann Gottlieb Steudel am 4. Mai 1788: „Gott kennt Sie beßer als Sie leider! Sich selbst kennen“; weiter: 459,31–35 (an dens.). Zu Hamanns Verständnis kritischer Selbsterkenntnis im Vergleich mit Kant: Bayer, Vernunft ist Sprache, 67–90. 45 H IV, 314,25f, an Johann Caspar Häfeli am 22. Juli 1781; Hamanns Hervorhebungen aufgehoben. Vgl. H III, 89, 30–32, an Immanuel Kant im April 1774. 46 Ein besonders schönes Beispiel ist Hamanns Brief an Johann Caspar Lavater vom 18. Januar 1778. Vgl. dazu: Bayer, Geschmack an Zeichen. 47 N II, 249,31f. Näheres: Bayer, Kreuzesphilologie, 105, Anm. 1; ders./Knudsen, Kreuz und Kritik, bes. 76f und 100–115 („Offenbarung und Passion“).
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Reimarus und Lessing, Mendelssohn, Friedrich den Großen, nicht zuletzt aber auf Kant einlässt. In konkretem Widerspruch zu diesen und weiteren Zeitgenossen schreibt er zum verantwortlichen Umgang mit den Mitgeschöpfen als „Pflichtträger der Natur“48, zu Vernunft und Sprache, zu Zeit und Geschichte, zu Sexualität und Ehe sowie, besonders in seinen französischen Schriften, zur Politik.49 In allen diesen Gebieten wollte Hamann auf seine Weise – gleichsam in einem irregulären Pfarramt – nichts anderes und niemand anderen bezeugen als den Mensch gewordenen und gekreuzigten Gott, der „den Juden ein Ärgernis und den Griechen eine Torheit“ ist (1Kor 1,23). Zusammen mit 1Kor 1,27 setzte man dieses Wort ihm, der „lebendig in diesem spruch verhullt“ wahrgenommen wurde,50 1788 auf den Grabstein. Und darunter: „Johann Georg Hamann, viro christiano“, dem Christen. Die lutherische Physiognomie der Schriften Hamanns erscheint besonders sprechend im Titel der Schrift „Golgatha und Scheblimini! Von einem Prediger in der Wüsten …“51, 1784 als Antwort auf Moses Mendelssohns „Jerusalem oder über religiöse Macht und Judenthum“ (1783) in der „Wüste“, im rationalistischen Berlin, erschienen. Mit dem Alten Testament (Ps 110,1: Scheblimini = „Setze dich zu meiner Rechten!“) tritt Hamann gegen aufgeklärtes Judentum für das Christentum ein. Dessen Mitte liegt in der Verschränkung von „Golgatha“ und „Scheblimini“, im Geschehen der Kreuzigung und Auferweckung Jesu Christi, in „der irdischen Dornen- und himmlischen Sternenkrone und in dem kreuzweis ausgemittelten Verhältnis der tiefsten Erniedrigung und erhabensten Erhöhung beyder entgegengesetzten [sic!] Naturen“52. Diese im Titel der Schrift figurierte Mitte bestimmte Hamanns Leben, Lesen und Schreiben bis in die feinsten Verästelungen hinein. Die wechselseitige Teilgabe und Teilnahme der Besonderheiten göttlicher und menschlicher Natur aneinander, die „communicatio göttlicher und menschlicher idiomatum ist ein Grundgesetz und der Hauptschlüssel aller unsrer Erkenntniß und der ganzen sichtbaren Haushaltung“53. „Golgatha und Scheblimini“ ist „der wahre Innhalt meiner ganzen Autorschaft, die nichts als ein evangelisches Lutherthum in petto hat“54. Der „Fliegende Brief an Niemand, den Kundbaren“ – Hamanns letzte Schrift – dient der „Ent48 N III, 299,15, Golgatha und Scheblimini, 1784 („Pflichtträger“ von Hamann hervorgehoben). 49 Hamanns Stellungnahmen zu all diesen Themenfeldern sind dargestellt in: Bayer, Zeitgenosse im Widerspruch. 50 Bayer/Knudsen, Kreuz und Kritik, 77, bei Anm. 204. 51 N III, 291–318. 52 N III, 405,29–407,3 (Fliegender Brief II, 1786f). 53 N III, 27,11–14, Des Ritters von Rosencreuz letzte Willensmeynung über den göttlichen und menschlichen Ursprung der Sprache, 1772. Vgl. u. Anm. 81. 54 H VI, 466,22–24, an Heinrich Schenk am 12. Juli 1786.
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kleidung meiner kleinen Schriftstellerey, und Verklärung ihres Zwecks, das verkante Christentum und Luthertum zu erneuern, und die demselben entgegengesetzte[n] Misverständniße aus dem Wege zu räumen“55; es schließt mit dem Bekenntnis, es sei das „Christentum“ im Sinne des „Luthertums“, das „meine geheime Autorschaft über ein Vierteljahrhundert im Schilde geführt“56. In seinem „Schmack und Kraft allein dem Pabst- und Türkenmord jedes Aeons gewachsen“ ist vor allem Luthers Kleiner Katechismus, der nach Hamanns Selbstzeugnis im Innern des „alcibiadischen Gehäuses“ seiner spröden Schriften – wie das Götterbild im Silenschrein – steckt und in dieser Verpuppung aus einem religiösen Ghetto heraus in die Öffentlichkeit geschmuggelt wird „zum gerechten Aergernis unserer Lügen- Schau- und Maulpropheten“57. Neben der Bibel und dem Gesangbuch gehörte der Katechismus zu den drei „Leibbüchern“58 – Leib- und Magenbüchern – Hamanns; in diesen drei Büchern war der Königsberger Sokrates durch Haus, Schule und Kirche verwurzelt.59 Seiner metakritischen Reflexion des Katechismusunterrichts60 geht es wiederum um indirekte Existenzmitteilung. „Ob Kinder viel oder wenig Antworten können, daran ist nicht so viel gelegen, als daß Sie die einzige Frage verstehen: WER BIST DU?“61, die nur vor Gott im je eigenen Glauben Antwort findet. Ob es jedoch zu diesem Glauben und damit zu der Gewissheit und dem Bekenntnis „Gott versteht mich!“62 kommt, liegt nicht an der Überzeugungskraft des Lehrers – aber auch nicht an der Erinnerungskraft des Schülers, dessen Einsicht durch einen Hebammendienst des Lehrers lediglich entbunden würde. Denn: „Glaube ist nicht jedermanns Ding [2Thess 3,2] und auch nicht communicable wie eine Ware, sondern das Himmelreich und die Hölle in uns“.63 Trifft dieser Satz zu, dann hat er weitreichende Konsequenzen für die Homiletik.64 55 H VII, 43,36–44,2, an Friedrich Heinrich Jacobi am 5. November 1786. 56 N III, 407,16–18, Fliegender Brief II, 1786f. 57 ZH III, 67, 2–14, an Friedrich Carl von Moser am 1. Dezember 1773. Zitiert ist das Lutherlied „Erhalt uns, Herr, bei deinem Wort / und steu’r des Papst und Türken Mord…“ (WA 35, 467,26f). Im Kampf gegen die Literaten und Philosophen, die im überschwenglichen Gebrauch ihrer Vernunft die gebotene Skepsis vermissen lassen und in ihrem Dogmatismus „orthodox“ geworden sind, will Hamann „keine andere Orthodoxie als unsern kleinen Lutherschen Katechismus“ kennen, vgl. N III, 173,7f, Zweifel und Einfälle, 1776. 58 ZH I, 293, 34–294,15, an Gottlob Immanuel Lindner am 9. März 1759. 59 Diese Verwurzelung ist wichtiger als Hamanns eigens unternommene Lektüre von Lutherschriften. Dazu: Bayer, Sokratische Katechetik?; Seils, Hamann und Luther 2002; mit umfassenden Belegen: ders., Hamann und Luther 1999. 60 Vgl. Bayer, Sokratische Katechetik?. 61 ZH II, 151,1f (im Zusammenhang von 150f; Hamanns Hervorhebungen aufgehoben), an Johann Gotthelf Lindner am 7. Mai 1762. 62 Vgl. o. bei Anm. 42 und 43. 63 H VII, 176,6–8, an Friedrich Heinrich Jacobi am 30. April 1787. 64 Vgl. Bayer, Kommunikabilität des Glaubens. Die Rhetorik der christlichen Predigt kann nur antipersuasiv (s. o. Anm. 35) sein.
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Elementare und umfassende Ästhetik
Insgesamt lässt sich Hamanns Spiritualität, radikale und konsequente Bibelfrömmigkeit, als elementare und umfassende Ästhetik charakterisieren – eine Ästhetik freilich, die nicht nur einen Ausschnitt der Wirklichkeit betrifft, sondern die Wirklichkeit und Welt schlechthin. Von der Bibel her gilt: „Jedes Buch ist mir eine Bibel“65, auch das Buch der Natur und Geschichte.66 Die ganze Welt und Wirklichkeit ist ein Wort, das sich mir zu hören und zu lesen gibt, dem ich antworten darf, dem ich mich als Sünder freilich versage, das ich als Sünder nicht höre, ja: nicht hören, nicht lesen will. Die Wahrnehmung der Welt als Schöpfung kann nur durch das Gericht hindurch als Neuschöpfung geschehen. Dann höre und lese, schmecke und sehe ich, dass der Schöpfer in seiner Kondeszendenz mich durch seine Geschöpfe und damit sinnlich-materiell anredet: Schöpfung ist „Rede an die Kreatur durch die Kreatur“67. „Jede Erscheinung der Natur war ein Wort, – das Zeichen, Sinnbild und Unterpfand einer geheimen, unaussprechlichen, aber desto innigern Vereinigung, Mittheilung und Gemeinschaft göttlicher Energien und Ideen. Alles, was der Mensch am Anfange hörte, mit Augen sah, beschaute und seine Hände betasteten [1Joh 1,1–3], war ein lebendiges Wort; denn Gott war das Wort [Joh 1,1].“68
Den Anrede- und Kommunikationscharakter der Wirklichkeit hat Hamann in radikaler und konsequenter Auslegung des Johannesprologs wie kein zweiter herausgestellt.69 Er tat dies nicht in einem binnenkirchlichen Ghetto, sondern in parrhesia vor der literarischen Öffentlichkeit seines Jahrhunderts. Die „für die Neuzeit charakteristische Aufwertung von Natur und Sinnlichkeit“ wird durch ihn „von einem Instrument autonomer Selbsterkenntnis und -bestimmung umgeprägt zum Medium des Kommunikationsgeschehens ‚Schöpfung‘“.70 Sein Verständnis der Schöpfung als Stiftung und Bewahrung von Gemeinschaft arti65 ZH I, 309,11, an Johann Gotthelf Lindner am 21. März 1759. 66 „Das Buch der Natur und Geschichte sind nichts als Chyphern, verborgene Zeichen, die eben den Schlüssel nöthig haben, der die heilige Schrift auslegt und die Absicht Ihrer Eingebung ist“, BW 417,7–9 = N I, 308,34–36, Brocken §8, 1759. „Natur und Geschichte sind […] die 2 großen Commentarii des göttlichen Wortes; und dies hingegen der einzige Schlüssel uns eine Erkenntnis in beyden zu eröffnen“, BW 411,30–33 = N I, 303,35–37, Brocken §3; 1759. 67 N II, 198,29, Aesthetica in nuce, 1762. 68 N III, 32, 21–26, Des Ritters von Rosencreuz letzte Willensmeynung über den göttlichen und menschlichen Ursprung der Sprache, 1772. Eingehend interpretiert hat diese Textpassage: Moustakas, Urkunde und Experiment, 79–89. 69 Zwar bekundet sich Hamanns Verständnis der Wirklichkeit als Wort in seinen Briefen und Werken durchgehend, besonders repräsentativ aber sind die „Aesthetica in nuce“ (1762), die es verdienten, zu einem klassischen Text christlicher Schöpfungslehre zu werden. Vgl. Bayer, Schöpfung. 70 Moustakas, Hamann, 1369.
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kuliert Hamann in Anknüpfung an seine Zeitgenossen und im Widerspruch zu ihnen. So nimmt er beispielsweise Humes epistemischen Glaubensbegriff auf, fasst ihn aber – und damit Hume korrigierend – worttheologisch.71 Lebenslang ringt der Philologe und Sprachdenker Hamann nicht zuletzt mit Kant, um den Anrede- und Kommunikationscharakter der Wirklichkeit im kritischen Bezug zur zeitgenössischen Philosophie und Naturwissenschaft zur Geltung zu bringen. Er kämpft gegen die von Kant behauptete Reinheit der Vernunft, gegen deren Unabhängigkeit von der Erfahrung, Überlieferung und von der beide durchdringenden und umfassenden Sprache. Gegen die Sprachvergessenheit der transzendentalen Vernunftkritik erweist Hamann in seiner Metakritik Kants das Recht seiner Kernthese: „das ganze Vermögen zu denken beruht auf Sprache“72. Kraft des Urwortes der Schöpfung, durch das alle Dinge sind und erhalten werden (Gen 1; Joh 1), werden die Geschöpfe zur Antwort auf das Schöpferwort sowie zur Kommunikation untereinander und darin zum Denken ermächtigt.
7.
Metakritik: Nach-Lese; Partikularität – Universalität
Dem universalen Anspruch der Textwelt der Bibel – besonders der biblischen Urgeschichte und des Johannesprologs – entsprechend, isoliert Hamann diese Textwelt nicht. Vielmehr sucht er sie inmitten der literarischen Öffentlichkeit seiner Zeit und ihrer Diskurse – vor allem ihrer philosophischen Diskurse – zur Geltung zu bringen. Die dazu nötige Übersetzungs- und Vermittlungsarbeit geschieht metakritisch – wie denn das Verfahren aller Schriften Hamanns, seines Redens und Denkens überhaupt Nach-Rede und „Nach-Lese“73 ist: Sie richtet sich wesentlich auf die jeweilige sinnliche, geschichtliche und sprachliche Vorgabe, die im Medium der biblischen Textwelt nachgeprüft wird. Diese fungiert als Matrix, als historisches Apriori,74 das a priori zufällig, a posteriori aber notwendig ist.75 Faktisch herrscht eine Vielzahl historischer Aprioris, die nicht auf eine neutrale Allgemeinheit und Notwendigkeit hintergehbar ist. Hamann rechnet nicht mit einer Figur, welche die vielen, miteinander konkurrierenden Aprioris 71 Vgl. Bayer, Vernunft ist Sprache, 78–80. 72 H V, 213,22f, Metakritik über den Purismum der Vernunft, an Johann Gottfried Herder am 15. September 1784. Dazu als Kommentar: Bayer, Vernunft ist Sprache, 313–328. 73 H IV, 340,35f, Epistolische Nachlese eines Misologen, an Johann Gottfried Herder am 17. September 1781; H IV, 418,2–13, an Herder am 25. August 1783; H VII, 462,17f, an Friedrich Heinrich Jacobi am 7. Mai 1788: „Ich will Dich ausreden laßen, und meine Sichel brauchen, zur bloßen Nachlese“. Vgl. „Nachspott“: N III, 401,27, Fliegender Brief II, 1786/87; „Nachspiel“: N II, 83 (Untertitel der „Wolken“, 1761). 74 Vgl. Bayer, Zeitgenosse im Widerspruch, 83–87. 75 Vgl. Bayer, Vernunft ist Sprache, 172–175.384f.
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übergreifen oder unterfangen könnte; sie lassen sich insgesamt nicht auf eine umfassende Einheit hin transzendieren noch – in transzendentalem Rückgang – auf eine allen zugrunde liegende Einheit zurückführen. Es bleibt nur das Gespräch – und wenn es unausweichlich wird: das Streitgespräch.76 Hamann hat es als Zeitgenosse im Widerspruch geführt. Dabei gelang es ihm, Dissoziationen zu überwinden und gegen die Scheidungen77 von Existenz und Denken, Denken und Fühlen, Glauben und Wissen, Sinnlichkeit und Verstand, Pflicht und Neigung, Gesinnung und Handlung, Zufälligem und Notwendigem, Geschichtswahrheiten und Vernunftwahrheiten eine Ehekunst einzuüben, eine complexio oppositorum wahrzunehmen. „Was Gott zusammengefügt hat, kann keine Philosophie scheiden“.78 So hat Hamann in seiner die Leiblichkeit des Heiligen Geistes wahrnehmenden Spiritualität die Alternative von Idealismus und Materialismus überwunden79 sowie das Personale als das Wahrheitsmoment des Personalismus einerseits und das Wahrheitsmoment des spinozistisch Holistischen andererseits zusammengehalten; er bewegt sich jenseits eines personalistischen Theismus und eines spinozistischen Atheismus.80 Seine metakritische Kunst des Unterscheidens und Verbindens übt Hamann mit dem „Hauptschlüssel aller unsrer Erkenntniß“, der Lehre von der „communicatio göttlicher und menschlicher idiomatum“81 und damit von der Kondeszendenz Gottes ins Kreatürliche, Materielle. Hegel ist begeistert: „Es ist hier wundervoll zu sehen, wie in Hamann die konkrete Idee gärt und sich gegen die Trennungen der Reflexion kehrt“82 – ein Lob und eine Zustimmung, die Hegel, dem an „der leidenschaftslosen Stille der nur denkenden Erkenntnis“83 liegt, aber nicht von schärfster Kritik an Hamanns Leben und Werk abhält.84 Er vermisst bei Hamann „ein entfaltetes System“85 – die Mühe, Gottes „Offenbarung“ als „die göttliche Entfaltung nachzudenken“86 und so die Trennungen zu überwinden. Hegel selbst hat die Trennungen freilich allein im Medium des Denkens über76 Im Blick auf das Verhältnis von Theologie und Naturwissenschaften hat Hamann ein solches Gespräch im Zusammenhang des Projektes einer „Kinderphysik“ 1759 mit Kant geführt. Dazu: Bayer, Erzählung und Erklärung. 77 Vgl. Bayer, Vernunft ist Sprache, 106f („Kants Scheidekunst“). 78 H VII, 158,16, an Friedrich Heinrich Jacobi am 23. April 1787. 79 Vgl. Bayer, Zeitgenosse im Widerspruch, 133f („Jenseits von Materialismus und Idealismus“). 80 Ausführlicher: Bayer, Spinoza. 81 Vgl. o. Anm. 53. Hamann steht freilich in der Gefahr, die christologische Lehre von der Idiomenkommunikation in ein ontologisches und hermeneutisches Prinzip umzuformen. Zu dieser keineswegs unproblematischen religionsphilosophischen Verallgemeinerung vgl. Fritsch, Communicatio idiomatum; ders., Wirklichkeit. 82 Hegel, Hamann’s Schriften, 324. 83 Hegel, Wissenschaft der Logik, Bd. 5, 19–24.24. 84 Zu Hegels Anerkennung und Kritik Hamanns: Bayer/Knudsen, Kreuz und Kritik, 1–6. 85 Hegel, Hamanns Schriften, 330. 86 A.a.O, 331.
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wunden; in der sinnlich-politischen Wirklichkeit sind sie hart stehengeblieben. Hamann dagegen geht es gerade um den Zusammenhang und die Verschränkung von Denken und sinnlich-politischer Existenz. Die Illusion, die Trennungen denkend zu überwinden, hielte Hamann für eine Flucht in das System reinen Begreifens. Dieser Illusion und Flucht wehrt und widersteht er, bringt es dabei aber – konsequenterweise – nur zu „Brocken“87, zu Gedankenfragmenten, die schon mit ihrer sprachlichen Form bekunden, dass ihr Autor seine Endlichkeit und Bedürftigkeit nicht zu überspielen versucht sowie sich gegen eine Einordnung ins Allgemeine sperrt. Dies besagt aber, wie deutlich geworden sein dürfte, keineswegs, dass Hamann sich zurückzieht und die öffentliche Verantwortung der Universalität der Botschaft scheut, die er seit seiner Londoner Lebenswende aus innerster Freiheit heraus bezeugen muss. Doch kann sie nicht anders denn als Wort vom Kreuz zur Sprache kommen, dessen Ärgernis und Torheit sich durch keine noch so raffinierte spekulative Aufhebung des Karfreitags erledigt. Der Heilige Geist aber, der dieses Wort glauben und verstehen lässt, ist ebenso heruntergekommen88 wie der Vater, der sich bei der Erschaffung des Menschen die Hände dreckig machte, und der Sohn, dessen Krippe und Kreuz aus hartem Holz waren und der „keine Gestalt noch Schöne“ (Jes 53,2) hatte. Der „Philologus crucis“, „der hellste Kopf seiner Zeit“89, hat sich des heruntergekommenen Gottes nicht geschämt und ihn freimütig, in parrhesia, mit Geist und Witz im freundschaftlichen Gespräch – vor allem im freundschaftlichen Briefgespräch90 – und in der literarischen Öffentlichkeit des 18. Jahrhunderts bezeugt. So sehr der Sprachdenker Hamann in seinem Leben und Werk unverwechselbar er selbst ist und nicht nachgeahmt werden will und kann, so sehr können die Einsichten und Impulse seiner leidenschaftlich auf das treffende Wort konzentrierten Spiritualität auch gegenwärtig zur Ausbildung und Einübung einer Bibelfrömmigkeit provozieren, die dem in ihr beschlossenen Öffentlichkeitsauftrag entspricht und Gott auch mit aller Kraft des Denkens (Mk 12,30) liebt.91 87 „Wir leben hier von Brocken. Unsere Gedanken sind nichts als Fragmente. Ja unser Wissen ist Stückwerk“, Erklärung des Titels der „Brocken“, 1758: BW 407,14–16 = N I, 299,27–29. „Wahrheiten, Grundsätze[n], Systems bin ich nicht gewachsen. Brocken, Fragmente, Grillen, Einfälle“, ZH I, 431,29f, an Johann Gotthelf Lindner am 12. Oktober 1759. 88 Die „zerrissenen und vertragenen alten Lumpen“, durch die Jeremia „aus der Grube“ gezogen wurde (Jer 38,12f), sind Hamann zeitlebens ein Bild für die Geschichtsschreibung Gottes des Heiligen Geistes: vgl. BW 59,25–30 = N I, 5, Über die Auslegung der heiligen Schrift, 1758?; ZH I, 341,13f, an Johann Gotthelf Lindner am 5. Juni 1759; H IV, 7,32–34, an Johann Caspar Lavater am 18. Januar 1778; H V, 314,21–29, an Friedrich Heinrich Jacobi am 7. Januar 1785. 89 Friedrich von Müller, Unterhaltungen mit Goethe, 109 (18. Dezember 1823). 90 Vgl. Anderson, Hegel on Hamann, XXI–XLII: „The Notion of Friendship in Hegel and Hamann“. 91 Zur Bedeutung Hamanns für die gegenwärtige systematisch-theologische Arbeit und Urteilsbildung vgl. Bayer, Gegen System und Struktur; ders., Theologie, 433–438.
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Als durch die Anfechtung dringlich werdende Textmeditation92 ist sie ein Gegengift gegen die Flucht in leere und diffuse Innerlichkeit, so sehr sie den Hörenden und Lesenden zu einem Einzelnen vor Gott macht – aber eben nicht weltlos, weil mich Gott samt allen Kreaturen nur durch die Kreatur anspricht.93
Literatur Quellen Cervantes Saavedra, Miguel de, Der sinnreiche Junker Don Quijote von der Mancha, dt. von Ludwig Braunfels, München 1956. Hamann, Johann Georg, Londoner Schriften. Historisch-kritische Neuedition von Oswald Bayer/Bernd Weißenborn, München 1993 [kurz: BW unter Angabe der Seiten- und Zeilenzahl]. –, Briefwechsel, Bd. I–III, hg. von Walther Ziesemer/Arthur Henkel, Wiesbaden 1955–1957 [kurz: ZH unter Angabe von Band-, Seiten- und Zeilenzahl]. –, Briefwechsel, Bd. IV–VII, hg. von Arthur Henkel, Wiesbaden 1959, Frankfurt/M. 1965– 1979 [kurz: H unter Angabe von Band-, Seiten- und Zeilenzahl]. –, Sämtliche Werke. Historisch-kritische Ausgabe von Josef Nadler, 6 Bände, Wien 1949– 1957 [kurz: N unter Angabe von Band-, Seiten- und Zeilenzahl]. Hegel, Georg Wilhelm Friedrich, Hamann’s Schriften, hg. von Friedrich Roth, VII Theile, 1821–25 (1828), in: Georg Wilhelm Friedrich Hegel, Suhrkamp-Werkausgabe, hg. von Eva Moldenhauer/Karl Markus Michel, Bd. 11, Frankfurt/M. 1970, 275–352. –, Wissenschaft der Logik (Vorrede zur zweiten Ausgabe, 1831), in: Georg Wilhelm Friedrich Hegel, Suhrkamp-Werkausgabe, hg. von Eva Moldenhauer/Karl Markus Michel, Bd. 5, Frankfurt/M. 1970, 19–24. Horaz (eigentlich Quintus Horaticus Flaccus), Satiren. Luther, Martin, Werke. Kritische Gesamtausgabe, Weimar 1883ff (WA). Müller, Friedrich von, Unterhaltungen mit Goethe, mit Anmerkungen versehen und herausgegeben von Renate Grumach, 21982. Persius (eigentlich Aules Persius Flaccus), Satiren.
92 Vgl. BW 66,6 = N I, 8,7: „Wenn mich Anfechtung hat auf das Wort aufmerksam gemacht […]“; vgl. Jes 28,19. Hamann hat als Zeitgenosse des 18. Jh. auf seine Weise, mit seinem ureigenen Charisma, Luthers drei „Regeln“, „in der Theologia zu studir“, praktiziert: „Oratio, Meditatio, Tentatio“ (WA 50, 658,29–660,30). 93 Hierin unterscheidet sich Hamann von Kierkegaard, der viel von ihm gelernt hat, vgl. Ringleben, Kierkegaard als Hamann-Leser. Doch: Während Kierkegaard sich ins Christentum einübt, indem er sich von allem Weltlichen abstößt, nimmt Hamann in seiner Ästhetik alles Weltliche wahr, übt er sich in alles Weltliche ein.
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Oswald Bayer
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Wilhelm Gräb
Ein Herrnhuter – höherer Ordnung Die Spiritualität Friedrich Daniel Ernst Schleiermachers (1768–1834)
Schleiermacher war ein religiöser Virtuose, ein Virtuose der Frömmigkeit. Heute würden wir sagen, er war ein Meister der Spiritualität, obwohl das selbstverständlich nicht sein Begriff war. Schleiermacher bevorzugte den Terminus „Frömmigkeit“, ein Begriff, den er in späteren Jahren sogar dem der „Religion“, von dem er in seinen berühmten „Reden über die Religion“1 (1799) noch eifrig Gebrauch machte, vorzog. Was Schleiermacher unter „Frömmigkeit“ verstand, hat er in einem eher formalen Verständnis des Begriffs in der Einleitung in seine Glaubenslehre definiert: „Die Frömmigkeit […] ist rein für sich betrachtet weder ein Wissen noch ein Tun, sondern eine Bestimmtheit des Gefühls oder unmittelbaren Selbstbewusstseins.“2 Diese „Bestimmtheit des Gefühls oder unmittelbaren Selbstbewusstseins“ wird sodann gleich näher erläutert, indem Schleiermacher sagt: „das sich selbst gleiche Wesen der Frömmigkeit, ist dieses, daß wir uns unserer selbst als schlechthin abhängig, oder, was dasselbe sagen will, als in Beziehung mit Gott bewußt sind“3.
Wollen wir, wie es dieser Band verlangt, ein Bild von Schleiermachers Spiritualität gewinnen, dann müssen wir durchaus dem nachgehen, was er selbst unter Frömmigkeit bzw. Religion verstanden hat. Und dabei ist gleich zu sagen, dass, was Schleiermacher mit dem Wort „Frömmigkeit“ bzw. „Religion“ auszudrücken versuchte, diejenige Praxis des christlichen Glaubens meinte, die alle Bereiche des menschlichen Lebens einbezieht, die biographisch, sozial und kulturell vermittelt sind, zu der die Familie ebenso gehört wie die Kirche, die sich dann aber auch keineswegs nur im religiösen Lebenszusammenhang verwirklicht, sondern im öffentlichen Leben, in Politik, Kultur und Gesellschaft gleichermaßen zur Geltung bringt. Wenn wir nach Schleiermachers Verständnis und Praxis der Spiritualität bzw. der „Frömmigkeit“ fragen, dann stoßen wir auf denjenigen modernen Typus von 1 Schleiermacher, Über die Religion. 2 GL § 3 Leitsatz, 14. 3 GL § 4 Leitsatz, 23.
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Wilhelm Gräb
Spiritualität, der deren anthropologische Verwurzelung ebenso ausdrückt wie die kirchliche Verbundenheit, dann aber vor allem auch die gesellschaftlichen, politischen und ästhetisch-kulturellen Dimensionen umgreift, in denen das christliche Leben zu einer erkennbaren Gestalt finden will. Was in Schleiermachers Terminologie in den Begriff der Frömmigkeit Eingang gefunden hat, das folgt somit eher dem im amerikanischen Sprachraum entwickelten Verständnis von „spirituality“ als dem aus der französischen Ordenstheologie stammenden Verständnis von „spiritualité“. Wenn es um Schleiermachers Spiritualität geht, muss natürlich auch seine Auffassung vom christlichen Leben, sein von ihm selbst expliziertes und realisiertes Konzept von „Frömmigkeit“ bzw. „Religion“ Thema sein. Schleiermacher war im Grunde der erste Theologe, der angesichts der aufgeklärten Religionskritik eine anthropologisch begründete Theorie gelebter Religion bzw. der „Frömmigkeit“ vorgelegt hat. Schleiermachers Auffassung von der Frömmigkeit bzw. das, was man auch seine Theologie der gelebten Religion, seine Religionstheologie, nennen könnte, soll im Folgenden dennoch nicht als bloße Theorie, sondern unter Einbeziehung der Praxis seines Lebens zur Darstellung kommen. Ich will zeigen, dass das, was man unter Schleiermachers Spiritualität, der Spiritualität dieses großen, Pietismus, Aufklärung und Romantik in sich versöhnenden Theologen, zu verstehen hat, die Gestalt eines Lebens umgreift, in der das Christentum sich in der Innerlichkeit eines Gott zugewandten Herzens ebenso realisiert wie im Engagement für die kirchlichen, politischen und kulturellen Herausforderungen der Zeit. Ich beginne mit der Darstellung der biographischen Prägung von Schleiermachers Spiritualität und nehme den Weg gewissermaßen von außen nach innen, von den weiten Ausdrucksformen, die Schleiermachers Auffassung vom christlichen Leben in seinen staatspolitischen, kirchenpolitischen und ästhetisch-kulturellen Aktivitäten und Einlassungen gefunden hat, bis hin dazu, dass er ihr in seiner Theologie, die er zu einer Theologie der Frömmigkeit / gelebten Religion / Spiritualität gemacht hat, einen begrifflichen Ausdruck zu verleihen unternommen hat.
1.
Die biographische Prägung von Schleiermachers Spiritualität
Schleiermacher wurde in eine Epoche dynamischen kulturellen Wandels hineingeboren. Er nahm an den Bewegungen seines Zeitalters wie an den großen Gegensätzen, welche die deutsche Kirchen- Kultur- und Gesellschaftsgeschichte im ausgehenden 18. und beginnenden 19. Jahrhundert bestimmten, besonderen Anteil. Die kirchlich-theologischen Gegensätze von Pietismus und Orthodoxie einerseits, christlicher Aufklärung, Romantik und Idealismus andererseits, fanden Entsprechungen in den Stadien seiner Biographie. In seinem Reifewerk
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ist das Erbe dieser Stadien, sind damit aber auch die Impulse von Pietismus, Aufklärung, Romantik und Idealismus in der eigentümlichen Formung von Schleiermacher Spiritualität bewahrt und auf eigentümliche Weise verschmolzen worden. Von seiner familiären Herkunft her war Schleiermacher geprägt durch den Herrnhuter Pietismus, aber auch durch die Zugehörigkeit zur reformierten Tradition. Schleiermacher kam aus einer Pastorenfamilie. Wie der Vater waren beide Großväter Theologen, dazu eine Reihe von Vorfahren und weitere Verwandte. Seine Großväter hat Schleiermacher nicht kennengelernt. Der Großvater mütterlicherseits, Timotheus Christian Stubenrauch, zuletzt Hof- und Domprediger in Berlin, starb bereits 1750. Der Großvater, Daniel Schleyermacher (1697–ca. 1765) war als reformierter Prediger in Elberfeld mit einer apokalyptischen Gemeinde des radikalen Pietismus in Verbindung gekommen und musste sich nach Auseinandersetzungen um Hexerei und Zauberei der Verhaftung durch die Flucht nach Holland entziehen. Schleiermachers Vater, Johann Gottlieb Adolph Schleyermacher (1727–1794), war reformierter Feldprediger in der Preußischen Armee. Bereits fünfzigjährig, erlebte er in der Begegnung mit der Herrnhuter Brüdergemeine seine „Erweckung“ zur Herrnhutischen Frömmigkeit (der Feldprediger Schleiermacher hatte 1778 mit den Regimentern des Preußischen Königs in der Nähe der herrnhutischen Kolonie Gnadenfrei in Oberschlesien kampiert und war so mit den Herrnhutern in Kontakt gekommen). Er war von da an, obwohl er reformierter Feldprediger blieb, innerlich ein Herrnhuter und setzte nun alles daran, seine Kinder im Geist des Herrnhuter Pietismus zu erziehen. Im Anschluss an eine Reise nach Herrnhut, Niesky und Gnadenfrei (1782) beschlossen die Eltern, ihre drei Kinder, Friedrich, Johann Carl und Charlotte, in die erzieherische Obhut der Herrnhuter Brüdergemeine zu geben. Die Kinder in die Herrnhuter Bildungsanstalten zu geben, war für die Eltern nicht einfach, da Herrnhut begehrt war und die Erziehungskosten erheblich. Erst nach längerem Bemühen war der Antrag auf Aufnahme erfolgreich. Davor mussten die drei Kinder eine Wartezeit von mehreren Wochen (1782) in Gnadenfrei verbringen. Offensichtlich war sie für die Formung von Schleiermachers Spiritualität bereits höchst bedeutsam. In seiner Selbstbiographie von 17944 schreibt Friedrich, auf diese Wartezeit, die er als Vierzehnjähriger in Gnadenfrei verbrachte, zurückblickend: „hier wurde der Grund zu einer Herrschaft der Phantasie in Sachen Religion gelegt, die mich bei etwas weniger Kaltblütigkeit wahrscheinlich zu einem Schwärmer gemacht haben würde, der ich aber in der That mancherlei sehr schätzbare Erfahrungen verdanke, der ich es verdanke, daß ich meine Denkungsart, die sich bei den meisten 4 Vgl. Schleiermacher, Selbstbiographie, 3–15.
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Menschen unvermerkt aus Theorie und Beobachtung bildet, weit lebendiger als das Resultat und den Abdruck meiner eigenen Geschichte ansehen kann“.5
Es kam während dieser Wartezeit, in der Schleiermacher die spirituelle Atmosphäre der Herrnhuter Brüdergemeine in sich aufsog, vieles zusammen, was sich für ihn zu einem religiösen Urerlebnis formte, von dem er dann über alle Krisen hinweg, in die er bald schon während seiner Herrnhuter Zeit hineingeraten sollte, doch bleibend zehrte. Friedrich Schleiermacher sah seine Eltern letztmalig, als er vierzehnjährig von ihnen Abschied nahm, um in das Pädagogium in Niesky, dieses Lehrinstitut der Brüdergemeine, einzutreten. Sein Bruder Carl trat am gleichen Tag (14. Juli1783) in das Pädagogium ein, seine Schwester Charlotte, mit der er zeitlebens in engem brieflichen Austausch stand, insbesondere die Fragen des spirituellen Lebens betreffend, wurde einige Wochen später in Gnadenfrei aufgenommen, wo sich ebenfalls eine der Herrnhuter Erziehungsanstalten befand. Nach dem Wunsch des Vaters sollte Friedrich herrnhutischer Prediger werden. Schleiermacher verbrachte zwei Jahre im Pädagogium in Niesky, eine Zeit, in der er dann auch ganz in die herrnhutische Frömmigkeit hineinwuchs und vom Zinzendorfschen Pietismus tief geprägt wurde. 1785 wechselte er in das Seminarium, die theologische Hochschule der Gemeine, nach Barby an der Elbe – er blieb dort ebenfalls 2 Jahre, bis 1787. In Barby ist er, nicht zuletzt durch seine (von der Seminarleitung verbotene) Kant-Lektüre in eine tiefe Krise seiner bislang ganz vom Sündenbewusstsein und der die Vergebung schaffenden Heilandsliebe bestimmten Spiritualität hineingeraten. Es waren jedoch vor allem die geistige Enge und die gewaltsamen Grenzen, die der intellektuellen Neugier im Seminarium von Barby gesteckt wurden, die Schleiermacher aus dem Herrnhuter Pietismus ausbrechen ließen. „Mein Begriffe“, so Schleiermacher selbst im Rückblick auf die Zeit in Barby, „gingen bald so weit von dem System der Brüdergemeinde, daß ich nicht länger glaubte mit gutem Gewissen ein Mitglied derselben bleiben zu können.“6 In einem bewegenden Brief vom 21. Januar 1787 offenbarte Friedrich dem Vater, er könne nicht länger Herrnhuter sein, er wolle zum Theologiestudium an die Universität Halle. Im selben Brief bekannte er dem Vater seine Zweifel an der kirchlichen Lehre von der Gottheit Christi und vom stellvertretenden Leiden Christi. Für den Vater war dies eine schwere Enttäuschung. Schließlich willigte er jedoch in den Wunsch des Sohnes ein, sein Studium an der Universität Halle, einem Zentrum der Aufklärungstheologie, fortsetzen zu können. Der Bruch mit der Herrnhuter Gemeine ist nicht Schleiermachers letztes Wort gewesen. Er war sich dessen bewusst, von ihr Unverlierbares empfangen zu haben. Seiner 5 A. a. O., 7, zit. nach Nowak, Schleiermacher, 23. 6 A. a. O., 11, zit. nach Nowak, Schleiermacher, 29.
Ein Herrnhuter – höherer Ordnung
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Schwester Charlotte schrieb er im Jahre 1802: „Ich kann sagen, daß ich nach allem wieder ein Herrnhuter geworden bin, nur von einer höheren Ordnung“7. Herrnhut verschwand nicht aus Schleiermachers Leben. Es hat sich seiner Spiritualität wie dann auch seiner Theologie vielmehr mit charakteristischen Zügen eingeprägt. Ein Erbe Herrnhuts ist Schleiermachers Verständnis von der Offenbarung als einem lebendigen, an der je eigenen Erfahrungssubjektivität sich ereignenden Geschehen, die Ausrichtung des christlichen Glaubens auf Jesus den Erlöser und vor allem seine Anschauung vom geselligen und gemeinschaftlichen Charakter der Kirche. Die Universität Halle, an der Schleiermacher 1787 mit dem Studium der Theologie begann, war über lange Zeit ein Zentrum des lutherischen Pietismus gewesen, als Schleiermacher dorthin wechselte aber bereits ganz von der Aufklärung geprägt. Als Hörer des Philosophen Johann August Eberhard, seinerseits ein Schüler des aufgeklärten Rationalisten Christian Wolff, erhielt Schleiermacher seine philosophische Ausbildung und Prägung. Er beschäftigte sich mit Platon und der Nikomachischen Ethik des Aristoteles und dann vor allem mit Kants Transzendentalphilosophie. Die Hallenser Studienjahre brachten den jungen Schleiermacher in den intensivsten Kontakt mit den wichtigsten geistigen Strömungen seiner Zeit, allem voran mit einem aufgeklärten philosophischen Denken. Dieses suchte er in seine vom Herrnhuter Pietismus geprägte Spiritualität zu integrieren. Die Verbindung des frommen Gefühls mit dem kritischen Verstand, der vertrauensvollen Bewegung des Herzens mit einer nach allen Seiten frei gelassenen Wissenschaft sollte fortan zum Merkmal von Schleiermachers Spiritualität werden.
2.
Schleiermachers staatspolitisches Wirken als Ausdruck seiner Spiritualität
Schleiermacher war Preuße und die Ereignisse, die Wendungen der preußischen Geschichte in der Folge der französischen Revolution von 1789 sowie der napoleonischen Herrschaft, haben das Leben und Wirken Schleiermachers, somit auch seine Spiritualität, verstehen wir darunter die tätige Praxis eines christlichen Lebens, bestimmt. Die Zeit der Herrschaft Napoleons in Deutschland war zugleich das Zeitalter der großen Reformen in Preußen wie in den Rheinbundstaaten. Damals sind die Grundlagen des modernen Staates und der modernen Gesellschaft in Deutschland geschaffen worden. Schleiermacher hat in den Jahren nach dem preußischen Zusammenbruch von 1806 zu denen gehört, die eine 7 A. a. O., 295.
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grundlegende Erneuerung der politisch-gesellschaftlichen Ordnung erstrebten. Er stand mit den Führern der preußischen Reform in Verbindung, wirkte auf vielfältige Weise für die Ideen der Reform, als patriotischer Prediger und als akademischer Lehrer, als politischer Verschwörer und als Journalist.8 Schleiermacher teilte mit Fichte und Hegel, mit Novalis, Friedrich Schlegel und anderen das Schicksal der um 1770 Geborenen. Sie alle wussten sich mit der Französischen Revolution in das Epizentrum eines weltgeschichtlichen, epochalen Ereignisses gestellt. Schleiermacher wünschte sich in den „Reden über die Religion“ die Kirche als „vollkommene Republik“9 – natürlich, wie eben schon zu sagen war, gingen hier auch die Herrnhuter Gemeindeerfahrungen ein. Die nach der Niederlage gegen Napoleon eingeleiteten preußischen Reformen waren denn auch nicht nur Antworten auf einen Anstoß von außen, auf die napoleonische Herausforderung und Neuordnung der deutschen Welt. Die Reformbemühungen entsprangen auch den neuen Ideen einer bürgerlichen Gesellschaft. Sie sollten auf den Normen von bürgerlicher Freiheit und rechtlicher Gleichheit aufbauen. Dem feudalistisch-ständischen System war seine Legitimität genommen. Die Ideen von 1789 hatten, wie immer man sonst zur Revolution stehen mochte, auch in Deutschland Geltung und Resonanz gewonnen, selbst in weiten Kreisen des Establishments. Seit 1806 hat Schleiermacher das eigene Schicksal in betonter Weise mit dem Preußens verbunden. Die großen Ereignisse dieser Jahre der staatlichen und kirchlichen Reformen, schließlich nach 1815 allerdings auch der politischen und kirchlichen Restauration, hatten tiefen Einfluss auf die Formung seiner Spiritualität. Revolution – Reform – Restauration: Schleiermachers Leben war in diesen Dreiklang eingespannt. Das gilt dann auch für seine auf die politische Entwicklung eng bezogene kirchenpolitische Wirksamkeit, insbesondere soweit sie sich auf die praktische Gestaltung des Verhältnisses von Kirche und Staat bezog. Die Katastrophe von 1806 erlebte Schleiermacher in Halle, wo er seit 1804 als Theologieprofessor und Universitätsprediger vier Semester lang wirkte. Als Halle 1807 an das Königreich Westfalen fiel und die Universität auf Befehl Napoleons geschlossen wurde, verließ Schleiermacher die Stadt und ging nach Berlin, wo er half, die Gründung einer neuen Universität vorzubereiten. Die politischen Ereignisse und Erfahrungen fanden in seinen Predigten aus dieser Zeit ihren Niederschlag.10 In Berlin lebte Schleiermacher zunächst als Privatgelehrter. 1809 übernahm er das Pfarramt an der Dreifaltigkeitskirche, seit 1810 versah er daneben eine Professur an der Theologischen Fakultät der neu errichteten Berliner 8 Vgl. zum Folgenden Birkner, Der politische Schleiermacher. 9 A. a. O., 270. 10 Vgl. die Predigten in: SW II, 1, 1834, 251–297.
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Universität – und dies beides bis zu seinem Lebensende 1834. Dem Beispiel anderer Gelehrter folgend, hielt er schon vor der Universitätsgründung öffentliche Vorlesungen. So las er im Winter 1808/09 über Dogmatik und Politik. In den ersten Dezembertagen schrieb er in einem Brief, was seine Auffassung vom christlichen Leben und damit von einer christlich gelebten Spiritualität treffend deutlich macht: „jungen Männern jetzt das Christentum klar zu machen und den Staat, das heißt eigentlich ihnen alles geben, was sie brauchen, um die Zukunft besser zu machen als die Vergangenheit war“11. 1808 und in den folgenden Jahren nahm Schleiermacher auch an politischen Aktivitäten teil. Er war in geheimer Mission in Königsberg unterwegs, wo die königliche Familie und die Regierung sich befanden. Dort sollte er im Auftrag einer Berliner Gruppe von Verschwörern mit dem Freiherrn vom Stein, mit Scharnhorst, mit Gneisenau und anderen konferieren, um eine Volkserhebung gegen die im Land verbliebenen französischen Truppen vorzubereiten. Eine weitere, weniger dramatische, aber langfristig höchst einflussreiche Tätigkeit für den preußischen Staat nahm Schleiermacher seit 1810 wahr. Er wirkte von da an mehrere Jahre in der Unterrichtssektion des Innenministeriums an der Reform des preußischen Schulwesens mit. Ebenso gehörte er zu den Theoretikern und Organisatoren der neuen Berliner Universität und hat ihre Gestalt maßgeblich mitbestimmt. Als nach 1815 die restaurativen Kräfte in Preußen die Oberhand gewannen, galt Schleiermacher schnell als politisch verdächtig. Das Wartburgfest 1817, vor allem jedoch die Ermordung des Schriftstellers August von Kotzebue durch den Theologiestudenten Karl Ludwig Sand im Jahre 1819 lösten polizeiliche Untersuchungen aus, von denen Schleiermacher jahrelang betroffen war. Seine Predigten wurden überwacht. Es gab die Drohung, ihn nach Königsberg zu versetzen. Nur der Verschleppungstaktik des Unterrichtsministers Karl vom Stein zum Altenstein war es zu verdanken, dass es dazu bzw. gar zu einer Dienstentlassung nicht kam. Dabei war Schleiermacher nie der Befürworter einer Revolution in Preußen. Er bekannte sich zwar in Briefen und in seinen „Reden über die Religion“ zu den Ideen der Französischen Revolution, aber er kritisierte ebenso scharf die Barbarei, zu der es in ihrem Gefolge gekommen war. Und so haben damals viele gedacht. Was Schleiermacher politisch wollte, das war ein Preußen, welches die Ideen der Französischen Revolution in sich aufnimmt, einen Staat also, der das Erbe der friderizianischen Aufklärung mit einer neuen, auf bürgerlichen Rechten und freier Mitbestimmung beruhenden gesellschaftlichen Ordnung verbindet. Gleichheit vor dem Gesetz, Freiheit des Glaubens und Gewissens – das waren die Grundsätze, die Schleiermacher als das wahre Erbe Friedrichs des Großen ver11 Brief vom 04.[bzw. 07.]12.1808, in: Meisner (Hg.), Briefwechsel, 237.
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standen wissen wollte. Sie sollten eingebracht werden in eine Reform der Staatsverfassung und ebenso der Kirchenverfassung. Die Bürger sollten zur aktiven Teilhabe am Leben des Staates berechtigt sein. Schleiermacher wusste sich in diesen Zielbestimmungen, die auf eine liberale, konstitutionell verfasste Monarchie hinausliefen, mit den preußischen Reformern einig. Um des Ziels gesteigerter politischer Mitbestimmung willen ist er für die Freiheit der öffentlichen Meinung, für eine parlamentarische Volksvertretung und vor allem für einen Verfassungsstaat wie dann auch eine synodal-presbyterial geleitete Kirche eingetreten.
3.
Schleiermachers kirchenpolitisches Wirken als Ausdruck seiner Spiritualität
In der 1806/07 beginnenden preußischen Reformzeit entfaltete Schleiermacher eine intensive kirchenpolitische Wirksamkeit. Auch für sie war Schleiermachers Wahrnehmung der Französischen Revolution ausschlaggebend. Im Wesentlichen ging es ihm um die Erneuerung der spirituellen Kraft der Kirche. Sie sah er durch die enge Allianz von Thron und Altar bedroht. Schleiermacher wollte um der Selbständigkeit der Religion willen die Trennung der Kirche vom Staat, eine Forderung, die er in der vierten „Rede über die Religion“ erstmals formulierte. Die Französische Revolution war für ihn das Geschichtszeichen für den Übergang zu einer neuen Ordnung der Gesellschaft, die gerade auch das Verhältnis von Kirche und Staat auf eine neue Grundlage stellen und zur Steigerung der spirituellen Kraft der Kirche führen sollte. Wovon er sich die Steigerung der spirituellen Kraft der Kirche versprach, das war ihre Konzentration auf das geistliche Leben, auf die geistliche Gemeinschaft im kommunikativen Austausch über die je persönlichen Erfahrungen des Glaubens – frei von der Verquickung mit politischen Absichten und obrigkeitlichen Herrschaftsinteressen. In der vierten „Rede“ appellierte Schleiermacher an den Staat, die Kirche nicht weiterhin politisch zu vereinnahmen und plädierte gegenüber dem preußischen König dafür, sich nicht weiterhin kirchenregimentliche Befugnisse anzumaßen. Um ihrer spirituellen Ausstrahlung willen sollte die Kirche sich zudem aus allen weltlichen Bindungen lösen, wozu für ihn der Verzicht auf kirchliche Besitztümer zählte, wie auch die Ermäßigung des Verpflichtungscharakters der äußeren, rechtlich fixierten kirchlichen Ordnung, so etwa des Parochialzwangs. Darin hatte das Kirchenreformprogramm der „Reden“ unverkennbar noch utopische Züge, wobei freilich zu sehen ist, dass es die Ideale der Französischen Revolution – Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit – waren, die Schleiermacher in neue Formen einer eher freikirchlichen Praxis eingebracht wissen wollte.
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Schleiermacher entfaltete seine Vorstellungen zur spirituellen Erneuerung der Kirche in seinen kirchenpolitischen Schriften, in der ersten vor allem, in der er zugleich seine Erfahrungen als reformierter Hofprediger in Stolp in Pommern reflektierte, eine anonyme Veröffentlichung: „Zwei unvorgreifliche Gutachten in Sachen des protestantischen Kirchenwesens zunächst in Beziehung auf den preußischen Staat“12. Alle kirchlichen Reformthemen, um deren Durchsetzung sich Schleiermacher in der Folgezeit theoretisch und praktisch bemühte, wurden in dieser Schrift angesprochen: Union, Liturgie und Kirchenverfassung. Schleiermacher trat in dieser Schrift zudem den zu seiner Zeit verbreiteten Diagnosen eines zunehmenden Verfalls der Kirche wie des Christentums entgegen. Sein Programm zur Kirchenreform war im Grunde von der These geleitet, dass von einem Verfall der Religion und der Kirche und schon gar nicht von einem Nachlassen des spirituellen Interesses der Menschen die Rede sein könne. Um die Menschen wieder zu erreichen, so Schleiermachers Votum, braucht es eine Konzentration auf die geistliche Kraft der Kirche, die spirituelle Belebung ihrer gemeinschaftlichen Zusammenkünfte, intensivere, geistlich vertiefte Gemeinschaftserfahrung, konzentriert auf eine Reform des Gottesdienstes, sowie dann aber auch eine Verbesserung der Ausbildung und der finanziellen Situation der Geistlichen. Letzteres sollte dem Zweck dienen, dass die Geistlichen die Zeit gewinnen, für die geistlichen und spirituellen Bedürfnisse der Gemeindeglieder da zu sein, statt sich mit Landwirtschaft und Sonstigem um ihren Lebensunterhalt sorgen zu müssen. Als Schleiermacher mit seiner Umsiedlung von Halle nach Berlin im Jahre 1807 Kontakt zu den preußischen Reformern bekam, entwarf er auf deren Anregung hin einen detaillierten Verfassungsentwurf für eine unierte Preußische Landeskirche: „Vorschlag zu einer neuen Verfassung der protestantischen Kirche im preußischen Staate“ (1808).13 Dieser Entwurf für eine Kirchenverfassung blieb jedoch in den Schubladen der Ministerialbürokratie liegen. Das lag daran, dass Schleiermachers Kirchenreformvorhaben sich auch auf das landesherrliche Kirchenregiment erstreckte. Dies war nicht im Sinne des Königs, Friedrich Wilhelm III. Auch der König war zwar für eine Reform der Kirche, insbesondere für die Union. Ihm ging es dabei jedoch nicht um eine Einschränkung der Machtbefugnisse, sondern gerade um eine Stärkung des landesherrlichen Kirchenregiments. Als Verfechter einer Konsistorialverfassung trat der König zugleich für das politische Prinzip der ungeteilten Souveränität des Monarchen ein, während Schleiermacher für eine presbyterial-synodale Kirchenverfassung, in Analogie zu einem repräsentativ-parlamentarischen System auf der politischen
12 Berlin 1804, in: Schriften zur Kirchen- und Bekenntnisfrage, 21–112. 13 Berlin 1808, in: a. a. O., 117–136.
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Ebene, plädierte.14 Schleiermachers Eintreten für eine presbyterial-synodale Kirchenverfassung verfolgte letztlich wiederum den Zweck, die Kirche von unten her, vom gemeinschaftlichen geistlichen Leben, von den spirituellen Interessen der Menschen her neu aufzubauen. Die Demokratisierung der Kirche Preußens ist in den Anfängen steckengeblieben. Es kam zwar in einigen Gebieten zur Einführung von Presbyterien und auch zu Kreissynoden, die jedoch reine Pfarrersynoden ohne Laienbeteiligung und nahezu ohne Kompetenzen blieben. Die Provinz- und Landessynoden kamen gar nicht zustande. Allerdings wurde Schleiermacher von der Berliner Geistlichkeit 1817 zum Präsidenten der Berliner Synode gewählt, die den königlichen Entwurf für eine Synodalordnung beraten sollte. Das war ein Affront gegen den König, wurde damit doch der schärfste Kritiker dieser königlichen Synodalordnung mit dem Vorsitz über ihre Beratung betraut.15 Der Synodenvorsitz war denn auch die wichtigste Position, die Schleiermacher im Kirchenregiment je bekleidet hat.16 Die Union von Reformierten und Lutheranern, nach der Verfassungsfrage das zweite große Thema der kirchenpolitischen Aktivitäten Schleiermachers, war im Unterschied zur synodalen Verfassung ganz im Sinne des Königs. Die Unionsbestrebungen des Königs waren jedoch eng mit der Einführung einer neuen, unierten Liturgie verknüpft, die er mit massivem Druck auf die Pfarrerschaft in ganz Preußen durchzusetzen suchte. Daraus entwickelte sich in den 1820er Jahren der sogenannte Agendenstreit – das dritte der kirchenpolitischen Themen Schleiermachers. 1822 führte Friedrich Wilhelm III. eine von ihm selbst verfasste, an die alten reformatorischen Formulare sowie an die anglikanische und schwedische Liturgie angelehnte Agende am Berliner Dom und im Militärgottesdienst ein. Die Absicht, die neue Ordnung für die ganze Landeskirche verbindlich zu machen, stieß auf entschiedenen Widerstand. Der König berief sich auf sein Summepiskopat und das damit verbundene ius liturgicum. Dieses „liturgische Recht evangelischer Landesfürsten“ hat Schleiermacher jedoch bestritten. So kam es zum Agendenstreit, in dem Schleiermacher für das liturgische Recht der Gemeinden eintrat. Auch hier war es Schleiermachers Kampf für eine von unten, auf der Basis geistlichen Lebens der Gemeinden, in der Artikulation der spirituellen Interessen der Menschen sich formende gottesdienstliche Praxis, die der tiefere Grund des Konflikts mit dem König war. Im Verlauf des Agendenstreits hat Schleiermacher anonym bzw. pseudonym seine wichtigsten kir-
14 Vgl. zu den einzelnen Stadien der Auseinandersetzung: Geck, Schleiermacher als Kirchenpolitiker. 15 Vgl. zu Schleiermachers Wahl zum Synodalpräsident und zur Geschäftsordnung der Synode: Traulsen, Synodalgeschäftsordnung. 16 Vgl. auch zum Folgenden: Dinkel, Kirche gestalten.
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chenpolitischen Schriften in den Druck gegeben.17 Die vom König entworfene Liturgie wurde jedoch durchgesetzt. Schleiermacher und seine Mitstreiter in der gemeindlich-spirituellen Selbstständigkeitsbewegung erreichten lediglich die Zulassung von alternativen Gottesdienstordnungen. Das Amt des reformierten Pfarrers an der Dreifaltigkeitskirche, wozu auch die Abhaltung des Konfirmandenunterrichts und die Übernahme der Kasualien gehörten, hatte Schleiermacher bis zu seinem Tod inne.18 Er predigte regelmäßig und versammelte – weil die Menschen von der spirituellen Kraft seiner Predigten erreicht wurden – eine Personalgemeinde aus der ganzen Stadt unter seiner Kanzel. Die von ihm veröffentlichten und die nach seinem Tod aus dem Nachlass herausgegebenen Predigten bilden nach Umfang und Inhalt einen bedeutenden Teil seines Gesamtwerkes. Zu Schleiermachers Konfirmanden hat im Jahre 1831 Otto von Bismarck gehört. Die Dreifaltigkeitskirche ist im Zweiten Weltkrieg zerstört worden. Vom Pfarrhauskomplex (damals Ecke Kanonier-/Taubenstraße, heute Glinka-/Johannes-Dieckmann-Straße) sind das lutherische Pfarrhaus, das Küsterhaus und der Garten erhalten, während das reformierte Pfarrhaus, Schleiermachers Dienstwohnung, ebenfalls zerstört ist. Er wohnte dort freilich nur wenige Jahre, später im Hause seines Verlegers und Freundes Reimer in der Wilhelmstraße.19
4.
Schleiermachers Interesse an Kultur und Kunst, Bildung und Wissenschaft als Ausdruck seiner Spiritualität
Nicht nur Schleiermachers Wirksamkeit in Kirche und Politik, sondern auch seine intellektuelle Präsenz in der Bildungs-, Schul- und Universitätsreform, seine Vorstellungen von einer neuen Pädagogik und nicht zuletzt seine Beteiligung an der Entstehung der neuen romantisch-ästhetischen Kultur müssen als Ausdruck seiner Pietismus und Aufklärung, Idealismus und Romantik in sich aufnehmenden Konzeption und Praxis von Spiritualität gesehen werden.20
17 Im Vorfeld des Agendenstreits erschien 1816 Schleiermachers Schrift: Über die neue Liturgie für die Hof- und Garnison-Gemeinde zu Potsdam und für die Garnisonkirche in Berlin, Berlin 1816. Während des Agendenstreits veröffentlichte Schleiermacher pseudonym die Schrift: Über das liturgische Recht evangelischer Landesfürsten. Ein theologisches Bedenken von Pacificus Sincerus. Göttingen 1824, in: SW I, 5, 477–535; und anonym: Gespräch zweier selbst überlegender evangelischer Christen über die Schrift: Luther in Bezug auf die neue preußische Agende. Ein letztes Wort oder ein erstes, Berlin 1827, in: SW I, 5, 537–525. 18 Vgl. Reich, Schleiermacher als Pfarrer. 19 Vgl. Birkner, Friedrich Schleiermacher, 268f. 20 Vgl. zum Folgenden: Nipperdey, Deutsche Geschichte, 451–594.
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Zunächst, Preußen wurde zum Modell-Land der Bildungsreform. Schleiermacher hat neben Wilhelm von Humboldt an ihr mitgewirkt. In ihrem Gefolge wurde die allgemeine Schulpflicht – neben der Wehrpflicht und der Steuerpflicht – zu einer der Grundpflichten des modernen Bürgers. Es ist nun der Staat, der diese Pflicht setzt. Er richtet die Schulen ein, greift damit aber auch wie nie zuvor in den Lebensweg des Einzelnen ein. Die Schule schafft ein neues Lebensalter, das Jugendalter. Sie bestimmt über Lebenschancen und formt die Gesellschaft nach Berufsstruktur und Schichtung mit. Vor dieser modernen Umbildung der Gesellschaft zur Schulgesellschaft war die Erziehung noch primär die Sache von Familie, Haus und Stand. Der Einzelne wuchs durch Mithandeln und Nachahmen in seine ihm vorgegebene Welt hinein. Das Verhalten war somit traditionsgeleitet, nicht durch Abstraktion und Reflexion, nicht durch methodisches Lernen bestimmt. Familie, Kirche, Standeszugehörigkeit leisteten die notwendige Orientierung in der Welt. Es brauchte somit auch noch keine eigentliche Theorie der Erziehung, keine methodische Reflexion des Handelns in den Erziehungsinstitutionen des Staates und der Kirche. Das wurde im Zusammenhang der preußischen Bildungsreform anders. In diesen Veränderungen liegen die entscheidenden Beweggründe dann auch für Schleiermachers Bemühungen um eine „Erziehungslehre“, wie er sie in seinen Vorlesungen zur Pädagogik entwickelt hat. Die demographischen, sozialen und ökonomischen Veränderungen der Zeit um 1800, die Ausdehnung und Rationalisierung der Staatsmacht, das Emanzipationsverlangen der Bürger, ihr Autonomieanspruch, lösten die ständisch verfasste, hierarchisch gefügte Welt der alten, durch Traditionen, Brauch und Sitte geleiteten Feudalgesellschaft auf. Bestimmend für den Selbst- und Weltumgang der Menschen war mehr und mehr nicht mehr ihr Eingebundensein in Haus und Stand. In ihrem Verhalten wurden sie nun stärker innengeleitet. Dazu bedurfte es neuer Kenntnisse und neuer Fähigkeiten. Das Leben als erziehende Macht, Traditionen und die Einübung in überkommene Verhaltensmuster genügten nicht mehr. Es brauchte nun professionelle Erziehung – die Schule. Es brauchte die Professionalisierung für die leitende Mitwirkung im Staat, im Schul-, Rechts- und Gesundheitswesen, in der Wirtschaft und auch in der Kirche. Das war der Hintergrund der Bildungsreformen der napoleonischen Zeit. Das war auch der Hintergrund für die preußische Kirchenreform und nun vor allem auch für die Entstehung eines Spiritualitätskonzeptes, das auf einen souveränen Glauben, auf die religiöse Autonomie des Einzelnen, freilich im kommunikativen Kontakt mit der geistlichen Gemeinschaft setzte. Die preußische Bildungsreform, an der Schleiermacher mitwirkte, war auch Universitätsreform. Diese sollte für den Aufstieg der Wissenschaften im Deutschland des 19. Jahrhunderts von entscheidender Bedeutung werden. Sie prägte die Bildungswelt insgesamt, die bürgerliche Gesellschaft, die Politik,
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schließlich Theologie und Kirche. Die akademisch gebildeten Beamten, zu denen die Pfarrer gehörten – und nicht das Wirtschaftsbürgertum – waren im Deutschland des 19. Jahrhunderts die politisch wie sozial bewegende „Klasse“. Die gesellschaftliche Modernisierung stand mit Wissenschaft und wissenschaftlicher Schulung in besonders enger Verbindung. Dabei muss man freilich sehen, dass die Universität für Staat, Kirche und Gesellschaft in Deutschland schon seit der Reformation eine wegweisende Bedeutung hatte. Aber erst im Zuge der Preußischen Bildungs- und Universitätsreform wurde die Wissenschaft in ihrer autonomen Selbstzwecklichkeit begriffen und mit dem Modell der Einheit von Forschung und Lehre zugleich auf einen neuen Typ wissenschaftsförmiger Professionalisierung der staatsnahen Berufe ausgerichtet. Unter Aufnahme der neuhumanistischen Gründungsidee – allgemeine Bildung durch Wissenschaft und philosophische Reflexion – blieben die Universitäten freilich primär Ausbildungsinstitutionen für Theologen, Juristen und Mediziner. Schleiermacher fasste die drei klassischen Fakultäten der Berufspraxis, zu denen er dezidiert auch die Theologie rechnete, unter dem Begriff der positiven Wissenschaften zusammen. Ihr kennzeichnendes Merkmal sollte die Funktion berufs- und praxisbezogener Ausbildung sein. Die allgemeine und integrierende Bildungsaufgabe hingegen wurde jetzt von der philosophischen Fakultät wahrgenommen, was diese freilich doch nur in der Zeit Hegels und unter dem Eindruck herausragender Lehrer leisten konnte. Die Philosophie verlor schnell wieder ihre führende und integrierende Funktion. In der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts differenzierte sich die Wissenschaft vom Menschen in eine Vielzahl historischer Geisteswissenschaften aus. Zur Wissenschaftsentwicklung im 19. Jahrhundert gehört entscheidend diese Entfaltung der sogenannten Geisteswissenschaften. Auch an ihrer Ausbildung war Schleiermacher maßgeblich beteiligt. Die Geisteswissenschaften wurden – ehe Soziologie und Psychologie Raum gewannen (was erst Ende des Jahrhunderts geschah) – die eigentlichen Erfahrungswissenschaften vom Menschen in seiner geistig-sozialen Existenz, seiner Geschichte, seiner Kultur, seiner Religion. Sie lösten den Führungsanspruch der Philosophie ab. Vor allem jedoch vollzog und spiegelte sich in ihnen eine der großen geistigen Veränderungen der Neuzeit, die Hinwendung zur Geschichte, die Formung eines ganz neuen geschichtliches Denkens, das über die Wissenschaft hinaus die tiefsten Wirkungen hatte, auf Politik und Gesellschaft, auf Kirche und Religion. Sie trugen ihrerseits auch zur Ausbildung dieses neuen Konzeptes einer Spiritualität, das nicht mehr in erster Linie traditionsgeleitet war, sondern sich den aktuellen Sinndeutungsbedürfnissen der Menschen verdankt, bei. Mit dem historischen Denken verband sich schließlich eine auch die gelebte Religion, das spirituelle Interesse der Menschen tief umformende, neue Methode im erkennenden Umgang mit Vergangenem. Die Andersartigkeit des Vergan-
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genen, sein Eigenrecht, seine „Individualität“, seine „Entwicklung“ sollten nun gesehen werden. Dazu brauchte es Quellenkritik und die Kunst des „Verstehens“, die Hermeneutik. Das historische Denken führte des Weiteren zu einer grundlegenden Veränderung im Verständnis der Welt der Menschen, ihrer Lebensformen, Institutionen, Normen und Werte, religiösen Symbol- und Ritualpraktiken. Sie galten nun als veränderlich und veränderbar, geschichtlich entstanden, sich entwickelnd, vergänglich. Glaubenswahrheiten, die zuvor als überzeitlich und dauernd angesehen wurden, galten nun als historisch bedingt. Alles wurde relativ. Es gab keine überzeitlich gültigen Werte und Ordnungen mehr. Es war nun vielmehr gerade der Rückgriff auf die Geschichte, aus dem sich die Normen des gemeinsamen, politischen, aber auch kirchlichen Handelns begründeten, der Sinn und Zweck menschlichen Tuns, der gesellschaftlichen Institutionen, der Glaubensvorstellungen, der spirituellen Lebens- und Gemeinschaftsformen. Die Veränderungen in Bildung, Schule und Wissenschaft sind im Begriff des Historismus, in ihrer den Selbst- und Weltumgang der Menschen insgesamt durchprägenden Kraft, auf den Brennpunkt eingestellt. Sie charakterisieren zuletzt auch noch den um 1800 einsetzenden, tiefgreifenden Wandel in der ästhetischen Kultur. Und auch da handelte es sich um einen Wandel, in den Schleiermachers Denken und Wirken tief verwoben war, ohne den sein Konzept und seine Praxis der Spiritualität ebenfalls nicht recht verstanden werden kann. Im 19. Jahrhundert haben die ästhetische Kultur, die Musik, die bildende Kunst, die Literatur eine neue Funktion gewonnen. Diese musste sie in Konkurrenz bringen mit Kirche und Religion. Die Kunst gewann einen zentralen Platz im bürgerlichen Leben, ja in der Lebens- und Weltansicht insgesamt. Die Kunst erhielt nun ihr eigenes Recht und Gewicht. Sie orientierte jetzt zugleich über die Wirklichkeit und das Leben. Sie verklärte die Wirklichkeit, deckte sie aber auch tiefer auf, brachte das Nicht-Sagbare zur Darstellung, arbeitete an der Versöhnung des Dissonanten. Sie stiftete Sinn und brachte ihn sinnlich zur Anschauung. Sie gab Gefühlen und Stimmungen Ausdruck. Sie wurde zur eigentlichen Manifestationsgestalt der neuen Kultur der Individualität. Kunst wurde zur spirituellen Selbstmanifestation und Selbstauslegung. Dass der Kunst eine solche Funktion im Leben zuwachsen konnte, hing mit ihrer Verbürgerlichung, mit dem allgemeinen gesellschaftlichen Wandel zusammen. Die Kunst löste sich aus ihrer Einbindung in Hof und ständische Welt, von ihrer Einbindung auch in die Kirche, damit aus ihren repräsentativen und liturgischen Funktionen. Sie wurde zur Sache der bürgerlich-gebildeten Welt, ja der Allgemeinheit. Das Leben in und mit der Kunst, mit Musik und Literatur wurde zu einem Stück des bürgerlichen Daseins, zum entscheidenden Faktor einer Unterbrechung des oder der Entlastung vom praktisch-geschäftlichen Leben, dem Geldverdienen, der Wirtschaft, dem Beruf, der Politik. Sie gewann damit eine spirituelle Funktion. Man hat deshalb auch von der romantischen
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„Kunstreligion“ gesprochen, ein Begriff, den vermutlich Schleiermacher in den ‚Reden über die Religion“ geprägt hat.21 Kunst ist, so sagte es Schleiermacher in den „Reden“, Ausdruck, Symbolisierung des frommen Gefühls. Das Kunstwerk kann Gegenstand der Andacht und der religiösen Besinnung werden. Wackenroder und Tieck verglichen das Konzert mit der Kirche, das Sich-Versenken in Musik oder in ein Bild mit dem Gottesdienst. Ihre „Herzensergießungen eines kunstliebenden Klosterbruders“ von 1797 sind der Schlüsseltext romantischer Kunstreligion.22 Museen, Theater, Konzertsäle begannen sich als Tempel zu repräsentieren, als sichtbarer Ausdruck einer Sakralisierung der Kunst. Schleiermacher verwandte schließlich weite Partien seiner „Praktischen Theologie“ darauf, darzulegen, wie angesichts des Allgemeinwerdens der Kunst, diese auf spezifische Weise, in der Artikulation eines kirchlich-religiösen Stils, Element der ästhetisch-ansprechenden Gestalt des christlichen Gottesdienstes sein kann. Es entstand an der Epochenschwelle um 1800 ein Verständnis von Kunst,23 zu dem sich Schleiermacher mit seiner Religionstheorie in ein den religionskritischen Zeitgenossen verständliches Verhältnis zu setzen suchte. Er verhielt sich nicht polemisch zur neuen Kunstfrömmigkeit der Zeit, sondern knüpfte an deren emphatisches Verständnis der Kunst an, wonach sie ein Organ, symbolischer Ausdruck unseres Verhältnisses zum Unendlichen, Göttlichen ist. Freilich, für Schleiermacher war sie nicht, wie für die allein Kunstfrommen, selber der Trost, die Versöhnung mit bzw. die Erlösung von einer schlechten Wirklichkeit, wohl aber die Weise der Darstellung unseres Bewusstsein von bzw. unserer Sehnsucht nach der im Transzendenten und seiner Offenbarung sinnhaft erschlossenen Wirklichkeit. In einer zunehmend „materiellen“ Welt von Arbeit und Verdienst, Wirtschaft und Technik, Geld und Macht, Leistung und Erfolg wurde die Kunst zu einer neuen Gegenwelt, für die die überlieferte christliche Religion – mit ihren überkommenen Darstellungsformen – allein einzustehen nicht mehr in der Lage war. Schleiermacher hat das gesehen. Er machte es deshalb der Praktischen Theologie zu einer ihrer wesentlichen Aufgaben, Regeln für eine Gestaltung des kirchlichen Lebens, der Gestaltung der Gottesdienste vor allem, an die Hand zu geben, die es dort zu einer eindrücklichen Unterbrechung des geschäftlichen Lebens kommen lassen, zu Feier und Spiel, zu vertiefter und zugleich sinnfälliger Sinnverständigung über Grund und Ziel von Welt und Leben. 21 Vgl. Schleiermacher, Über die Religion, 269: „von einer Kunstreligion, die Völker und Zeiten beherrscht hatte, habe ich nie etwas vernommen“. Die Einheit von Kunst und Religion war für Schleiermacher nicht – wie in diesem Zitat anklingt – ein vergangenes Ideal. So hat es der Klassizismus gesehen. Für Schleiermacher verband sich damit die Hoffnung auf einen zukünftigen Zustand der Versöhnung entzweiter Verhältnisse. 22 Vgl. Wackenroder, Sämtliche Werke und Briefe. 23 Vgl. Braungart/Fuchs/Koch (Hg.), Ästhetische und religiöse Erfahrungen.
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Schleiermachers Theologie und Christentumsverständnis als Ausdruck wie begriffliche Fassung seiner Spiritualität
Um 1800 wurden Kirche, Theologie und Frömmigkeit von drei großen Bewegungen bestimmt: von Aufklärung, Orthodoxie und Pietismus. Öffentlich im Vordergrund stand die Aufklärung. Schleiermacher, aus einem pietistischen Elternhaus kommend und zunächst in den Ausbildungsstätten der Herrnhuter Brüdergemeine erzogen, ist in seinen Hallenser Studienjahren durch die Aufklärung, insbesondere die kritische Philosophie Immanuel Kants, tief geprägt worden. Die Aufklärung war in Deutschland aber bestimmt von einem dem Christentum durchaus verbundenen, gerade von Theologen betonten Vernunftpathos. Sie war getragen von dem Bemühen, Vernunft und Offenbarung zu versöhnen, die Verkündigung Jesu mit der natürlichen Religion zu vermitteln und die christliche Lehre vernunftmäßig zu interpretieren. Das Christentum wurde in seiner aufgeklärten Gestalt gewissermaßen zu einer Vernunftreligion umgeformt und mit einem vernunft- und naturgemäßen Ethos verschmolzen. Dem aufgeklärten Christentum stand freilich die alte Orthodoxie gegenüber. Sie hielt am Gegen- und Übervernünftigen der Offenbarung fest. Der sogenannte Supranaturalismus suchte sogar das Übernatürliche der Offenbarung mit rationalistischen (und kantischen) Argumenten zu verteidigen. Schließlich gab es den Pietismus, von dessen Herrnhuter Konstellation Schleiermachers Spiritualität zunächst am energischsten geformt wurde. Seine ersten Bildungserlebnisse waren bestimmt von dieser undogmatischen Religion des frommen Herzens, des innigen Gefühls, des Erlebnisses von Sünde und Bekehrung, aber auch der frommen Werke in Beruf und Diakonie. Es war eine dauerhafte Sonderkirchenbildung, die der deutsche Pietismus in Gestalt der „Herrnhuter Brüdergemeine“ hervorgebracht hatte. Ihr Begründer war Nikolaus Ludwig Graf von Zinzendorf (1700–1760). Zinzendorf legte nicht so sehr wie August Hermann Franke in Halle das Gewicht auf die Bekehrung und den Bußkampf. Ihm ging es stärker um die Abwehr des kalten Rationalismus der Aufklärungstheologie. Der Ablehnung aller vernünftigen Gotteserkenntnis korrespondierte bei ihm die Hinwendung des Herzens zur geschichtlichen Offenbarung Gottes in Jesus Christus als dem einzigen, ausschließlichen Weg zu Gott. Zinzendorfs Pietismus war christozentrisch orientierte Gefühlsreligion. Und diese ist Schleiermacher bleibend zum Erbe geworden – auch wenn er ihren lehrmäßigen Ausdruck bald nicht mehr nachvollziehen konnte. Lessing, Goethe und Herder haben ebenso mit Hochachtung von der Herrnhuter Brüdergemeine gesprochen. Schleiermacher formte die Herrnhuter Spiritualität dergestalt um, dass er ihr religiöses Zentrum, die erlösende Befreiung zu einem in Gott gebundenen Per-
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sonsein, mit dem kritischen Impuls der Aufklärung, mit dem Interesse am vernünftig Einsehbaren, mit einem Ethos der Humanität und einem individuelle Freiheit in sich aufnehmenden Gemeinschaftsideal zu verbinden suchte. Das Christentum sollte keineswegs mit plattem Verstandesdenken und einer auf bloße Nützlichkeit ausgehende Moral reduziert, aber auch nicht in fromme Weltflucht und einer sich der Kritik, dem Dialog und der freien Einsicht verweigernden, in Gemeinschaftszwang ausgehenden Konventikelwesen einmünden. Darin zeigte sich Schleiermachers Verbindung des pietistisches Erbes mit der aufgeklärten Kritik, aber auch die Verschmelzung aufgeklärten Denkens mit Impulsen der Romantik, wonach der Mensch nicht nur kritischer Verstand, sondern auch Gefühl ist und Phantasie, individuelle Person, die nicht einfach gegeben ist, aber auch nicht sich individualistisch abschließt, sondern im lebendigen Austausch mit anderen gebildet, entfaltet, vervollkommnet sein will. Schleiermacher wurde durch diese vieldimensionalen Vermittlungsleistungen zum klassischen Theologen des liberalen, neuzeitlichen Protestantismus. Er hat das Christentum auf der Basis eines anthropologisch fundierten, im Gefühlsbewusstsein sich verankernden Begriffs der Religion neu interpretiert, ohne es in bloße Moral oder gar rationalistische Welterklärung aufzulösen. Auf diese Weise entwickelte er ein den modernen Lebensverhältnissen sich öffnendes Spiritualitätskonzept. Wir Heutigen können in Schleiermachers Konzept der Spiritualität eine sich im Erlösungshandeln Christi und damit in der unverbrüchlichen Verbundenheit mit Gott gegründete wissende Weltfrömmigkeit erkennen. Schleiermachers Spiritualitätskonzept war zu seiner Zeit, und ist es m. E. auch heute noch, dazu in der Lage, Theologie und Kirche mit jenen Phänomenen der Zeit in Kontakt zu bringen, die sich unschwer als Phänomene der Entkirchlichung und auch Entchristianisierung, aber eben nicht unbedingt des Religionsverlustes lesen lassen, Phänomene, die wir heute den außerhalb der Kirchen und christlichen Gemeinschaften verlaufenden Spiritualitätstrends zurechnen. Schleiermacher wollte das kirchliche Christentum mit der Bildungs- und Kunstreligion verbinden, einer neuen Spiritualität jenseits der Kirchen, am Rande oder – wie im Werk Goethes – vielleicht auch schon jenseits des Christentums. In erster Linie stehen Schleiermachers „Reden über die Religion“ für diesen Versuch, ein für die je eigene religiöse Erfahrung offenes Spiritualitätskonzept zu beschreiben. Der junge Schleiermacher, zu dieser Zeit Krankenhausseelsorger an der Berliner Charité, beschreibt dort ein Verständnis lebendiger Spiritualität, das den Voraussetzungen moderner, dem Christentum bereits entfremdeter Bildung gerecht wird und zugleich die Unverwechselbarkeit und Autonomie der humanen Subjektivität zur Geltung bringt. Weder Metaphysik noch Moral, sondern die auf das Gefühl gegründete Spiritualität, ausgelegt als „Sinn und Geschmack fürs Unendliche“, bringt das individuelle und soziale Selbstverständnis des Menschen
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zur Darstellung. Für religiöse Erfahrung empfänglich zu sein, heißt, sich der „Anschauung des Universums“ zu öffnen, dem Sinnganzen einer Welt, die den Grund ihrer Einheit und Zugänglichkeit für uns Menschen in Gott findet. Diese religiöse Erfahrung findet am Ort des einzelnen Menschen statt, aber dieser sieht sich dabei zugleich auf andere bezogen, mit denen er den spirituellen Austausch und die Gemeinschaft im göttlichen Geist sucht. Die Form einer christlichen Spiritualität, die Schleiermacher zu beschreiben und für die er in seinen „Reden über die Religion“ zu werben suchte, ist immer „gesellig“, sie sucht die Mitteilung an andere, den Dialog, die Gemeinschaft. Sie sucht aber auch den lebendigen Kontakt mit den vorwärtstreibenden geistigen Strömungen der je eigenen Zeit, mit Kultur, Kunst und Wissenschaft, mit dem öffentlichen Leben in der Gesellschaft, im Recht, in der Wirtschaft, in der Politik. Sie zieht sich nicht aus der Welt zurück, sondern nimmt sich der Herausforderungen an, die sich in ihr stellen, wenn das Leben für alle soll besser werden können. Ebenso bedient sich diese weltoffene Spiritualität nicht einer fremden Sprache, hält sich auch nicht an verstiegenen Glaubensvorstellungen fest. Sie will sich dem gegenwärtigen Bewusstsein auf ihm verständliche Weise vermitteln. An der neugegründeten Berliner Universität hat Schleiermacher sein Verständnis einer weltoffenen christlichen Spiritualität in eine breitgefächerte systematische Darstellung überführt. Die inhaltliche Gliederung seines Systems umreißt die „Philosophische Ethik“, eine in bewusstem Gegensatz zu Kants formaler Pflichtenethik konzipierte Philosophie der Kultur. Die formale und transzendentale Grundlegung bietet die „Dialektik“. Der Grundriss seines Systems, auch die Etablierung der Praktischen Theologie als eigenständiger theologischer Disziplin, liegt in der „Kurzen Darstellung des theologischen Studiums“ vor. In der Glaubenslehre schließlich, durch die Schleiermacher vor allem gewirkt hat, wird auf der Grundlage einer ausgeführten Philosophischen Theologie (Einleitung) die gesamte inhaltliche Dogmatik der evangelischen Lehrtradition in neue Formulierungen eingebracht, die das Selbstverständnis des christlichen Glaubens, das Konzept einer christlichen Spiritualität, zur Darstellung bringen. Die Sätze christlicher Lehre werden als Ausdruck des christlichen Selbstbewusstseins, also christlicher Spiritualität verstanden und in theologischer Begrifflichkeit rekonstruiert.24 Dabei gelangt Schleiermacher zu seiner Wesensbestimmung christlicher Spiritualität. In ihr, so sagt er, ist die Selbst- und Weltsicht eines Menschen durchweg bezogen auf die durch Christus vollbrachte Erlösung. Christliche Spiritualität ist der Lebensvollzug eines Menschen, der sich ganz den Dingen dieser Welt und ihren ethischen Herausforderungen hingegeben weiß, weil er sich in all seinem Wissen und Tun im göttlichen Sinn des Ganzen von Welt und Leben, wie ihn Jesus Christus erschlossen hat, gehalten weiß. 24 Vgl. Gräb, Religion als humane Selbstdeutungskultur.
Ein Herrnhuter – höherer Ordnung
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Wilhelm Dilthey (1833–1911), selbst ein bedeutender Philosoph und der erste Biograph Schleiermachers, charakterisierte die epochemachende Neubeschreibung des Konzepts christlicher Spiritualität, zu der Schleiermacher gefunden hat, im Jahre 1870 in der Einleitung zu seinem auf mehrere Bände angelegten „Leben Schleiermachers“ – alle Phasen seines Lebens und Wirkens umgreifend – auf treffende Weise. Mit Diltheys Worten will ich schließen: „Was für ein Leben! Als Herrnhuter hatte er begonnen, sein Geist hatte sich über das weite Gebiet voneinander abliegender Wissenschaften ausgedehnt; die poetische Bewegung seiner Epoche hatte ihn ergriffen, und der Hauch einer dichterischen Umgebung, dichterischer Versuche und Pläne liegt über seinen Jugendwerken; als einer der ersten hatte er begonnen, die Geselligkeit als eine Kunst zu behandeln, und beherrschte eine Fülle von Verhältnissen, die nicht unbedeutenden Menschen neben ihm das Leben aufzehrte; als einer der ersten, in einer gewaltigen Zeit, begann er für den Staat zu leben, war eine Macht im Staat; allen voran, inmitten von Gleichgültigkeit, begann er aus der Erfahrung vieler im Predigtamt, im Kirchendienst, in der Theologie verbrachter Jahre die große, geschichtliche Aufgabe der Kirche zur Geltung zu bringen; er ward das geistige Haupt der Kirche seiner Zeit. Das alles erfuhr und durchlebte ein einzelner Mann, und nicht umhergeworfen vom Schicksal, sondern von einer inneren Gewalt getrieben, die ihn durch alle Kreise dieses unseres menschlichen Daseins hindurchführte, bis in seinem beschaulichen Geiste der Kosmos der moralischen Welt sich erhob. Hier war eine Allseitigkeit nicht der Forschung, sondern des Lebens. Man begreift, wie unendlich mehr er selber war, als alle Aufzeichnungen, alle Forschungen, die wir noch von ihm besitzen. So erschließt sich uns die Bedeutung dieses großen Daseins im Zusammenhang der weltgeschichtlichen geistigen Bewegung, inmitten deren es verlief. Die Einwirkungen von drei Generationen griffen hier ineinander. Die weittragenden Ergebnisse der Aufklärung, Kants und unserer klassischen Dichtung faßte Schleiermacher zusammen, in lebendigem Wetteifer mit hochbegabten Genossen, und doch in der tiefen Besonnenheit, in dem genialen Umblick seines Wesens ganz einsam; er gab ihnen zugleich die Wendung auf die Reform der moralischen Welt und auf die Fortgestaltung der christlichen Religiosität, und bildete so den Wendepunkt zu großen Aufgaben der Gegenwart hin“.25
Literatur Quellen Dilthey, Wilhelm, Leben Schleiermachers, Band 1, aufgrund des Textes der 1. Auflage von 1870 und der Zusätze aus dem Nachlass hg. von Martin Redeker, Berlin 31970.
25 Dilthey, Leben Schleiermachers XLII.
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Wilhelm Gräb
Meisner, Heinrich (Hg.), Friedrich Schleiermachers Briefwechsel mit seiner Braut, Gotha 2 1929. Schleiermacher, Friedrich, Selbstbiographie 1794, in: Aus Schleiermacher’s Leben. In Briefen. Band 1, Nachdruck der 2. Ausgabe von 1860, Berlin/New York 1974. –, Kleine Schriften und Predigten, Bd. 2: Schriften zur Kirchen- und Bekenntnisfrage, bearb. von Hayo Gerdes, Berlin 1969. –, Der christliche Glaube. Nach den Grundsätzen der evangelischen Kirche im Zusammenhange dargestellt, aufgrund der 2. Auflage und kritischer Prüfung des Textes neu hg. und mit Einleitung, Erläuterungen und Register versehen von Martin Redeker, Berlin 1960 (kurz: GL). –, Predigten, in: SW II, 1, Berlin 1834. –, Über die Religion. Reden an die Gebildeten unter ihren Verächtern, in: KGA, I, 2. Wackenroder, Wilhelm Heinrich, Sämtliche Werke und Briefe, Historisch-kritische Ausgabe, hg. von Silvio Vietta/Richard Littlejohns, Bd.1, Heidelberg 1991.
Forschungsliteratur Birkner, Hans-Joachim, Schleiermacher-Studien, eingeleitet und hg. von Hermann Fischer, Berlin/New York 1996. –, Friedrich Schleiermacher (1985), in: ders., Schleiermacher-Studien, 251–283. –, Der politische Schleiermacher, in: ders., Schleiermacher-Studien, 137–156. Braungart, Wolfgang/Fuchs, Gotthard/Koch, Manfred (Hg.), Ästhetische und religiöse Erfahrungen der Jahrhundertwenden, Band 1: um 1800, Paderborn u. a. 1997. Dinkel, Christoph, Kirche gestalten – Schleiermachers Theorie des Kirchenregiments, Berlin/New York 1996. Geck, Albrecht, Schleiermacher als Kirchenpolitiker. Die Auseinandersetzung um die Reform der Kirchenverfassung in Preußen (1799–1823), Bielefeld 1997. Gräb, Wilhelm, Religion als humane Selbstdeutungskultur. Schleiermachers Konzeption einer modernen Glaubenslehre und Glaubenspredigt, in: ders./Notger Slenczka, Universität – Theologie – Kirche. Deutungsangebote zum Verhältnis von Kultur und Religion im Gespräch mit Schleiermacher, Leipzig 2011, 241–256. Nipperdey, Thomas, Deutsche Geschichte 1800–1866. Bürgerwelt und starker Staat, München 21984. Nowak, Kurt, Schleiermacher. Leben, Werk und Wirkung, Göttingen 2001. Reich, Andreas, Friedrich Schleiermacher als Pfarrer an der Berliner Dreifaltigkeitskirche 1809–1834, Berlin/New York 1992. Traulsen, Hans-Friedrich Eine gedruckte Synodalgeschäftsordnung von Schleiermacher, in: ZKG 104/1993, 377–382.
Ulrike Treusch
„Steh auf von den Toten“ Aspekte einer Spiritualität der Erweckungsbewegung
„Wach auf, der du schläfst, und steh auf von den Toten.“ Dieser Aufruf aus Eph 5,14 war Leitbild und Namensgeber für die angloamerikanischen Great Awakenings, den schweizerisch-französischen Réveil sowie die deutsche Erweckungsbewegung. Zwar findet sich der Erweckungsbegriff bereits im Pietismus, doch der Gedanke, dass die Sünder aus dem Todesschlaf der Sünde erweckt und zum geheiligten Lebenswandel vor Gott gerufen werden, ist ein Grundzug der europäischen und nordamerikanischen protestantischen Erneuerungsbewegungen des 19. Jahrhunderts. Wer einen Überblick über die Spiritualität der deutschen Erweckungsbewegung geben möchte, sieht sich beim derzeitigen Forschungsstand vor Probleme gestellt: 1) Wenn die Erweckungsbewegung als die „letzte große Frömmigkeitsbewegung der Neuzeit“1 verstanden wird, inwiefern unterscheidet sich dann eine Darstellung ihrer Spiritualität von einem Gesamtüberblick über die Bewegung? 2) Mit der Beurteilung als Frömmigkeitsbewegung verbunden ist die in der Forschung aufgeworfene Frage, ob es eine eigenständige Theologie der Erweckung gegeben habe.2 Zwar werden der Hallenser Theologieprofessor August Gottreu Tholuck (1799–1877) und sein Freund Julius Müller (1801–1878) als Vertreter einer auf die Sündenlehre konzentrierten Erweckungstheologie verstanden, aber die Erforschung der über diese Vertreter hinausgehenden Theologie der Erweckung ist noch ein Desiderat. Die Darstellung der Spiritualität der Erweckung, ihrer individuellen und gemeinschaftlichen Glaubenspraxis,3 ist aber an die Frage nach den theologischen Grundlagen und der theologischen Reflexion dieser Glaubenspraxis gebunden. 3) Die oft konstatierte Komplexität, 1 Wallmann, Kirchengeschichte Deutschlands, 188. 2 Vgl. Wenz, Erweckungstheologie, 1088. 3 Spiritualität wird hier in einer Arbeitsdefinition als die Praxis des christlichen Glaubens, der tägliche Vollzug des Christseins verstanden. In diesem Verständnis werden, ausgehend von der Mitte christlicher Spiritualität in Leben, Tod und Auferstehung Christi, Unterschiede in der Glaubenspraxis primär als kontextabhängig verstanden, bedingt durch ihren geschichtlichen und kulturellen Kontext.
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Vielfalt und Heterogenität der Erweckungsbewegung mit ihren unterschiedlichen geographischen Zentren, zeitlichen Verläufen und zahlreichen Vertretern ohne einzelne überragende Führungspersönlichkeiten erschweren die Rede von der Spiritualität der Erweckung, ebenso die Parallelen zwischen der (deutschen) Erweckungsbewegung und Pietismus und Methodismus des 18. Jahrhunderts sowie Gemeinschafts- und Heiligungsbewegung in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts Sollte in dieser Perspektive daher die Erweckungsbewegung nicht eher als Fortsetzung und Teil des (Spät-)Pietismus verstanden, so z. B. bei Albrecht Ritschl (1822–1889),4 und der Begriff Erweckungsbewegung „als historiographische Notlösung“5 betrachtet werden? Kann überhaupt von einer genuinen Spiritualität der Erweckungsbewegung gesprochen werden? 6 4) Schließlich wird die Erweckungsbewegung oft an Leben und Werk von Einzelpersonen dargestellt. Dies entspricht dem individuellen Charakter der Erweckung und ermöglicht eine präzise Darstellung der Glaubenspraxis des einzelnen Erweckten.7 Ein Überblick muss hier verallgemeinern und die großen Linien einer erweckten Spiritualität suchen. Angesichts dieser Desiderate sind die folgenden Ausführungen ein Versuch, wichtige Aspekte erweckter Glaubenspraxis vorzustellen. Die Darstellung konzentriert sich auf die deutsche Erweckungsbewegung in der Zeit von 1800 bis 1848 und geht davon aus, dass aufgrund der historischen Situation in Deutschland die deutsche Erweckung – bei aller Verwandtschaft und Verflochtenheit mit der Erweckung in den europäischen Nachbarländern und in Nordamerika – eine eigenständige Erscheinung ist, die auch spirituell eigene Akzente setzt.8 Im Folgenden wird zuerst 1) die deutsche Erweckungsbewegung in ihrem Verlauf skizziert und 2) in ihrer politischen und geistesgeschichtlichen Situation 4 Vgl. Albrecht Ritschl, Geschichte des Pietismus, 3 Bde., Berlin 1880–1886. Vgl. auch die Aufnahme der Erweckungsbewegung als „Pietismus im neunzehnten und zwanzigsten Jahrhundert“ im dritten Band der Geschichte des Pietismus: Gäbler (Hg.), Der Pietismus. 5 Gäbler, Erweckungsbewegung, 1081. 6 Es fällt auf, dass Standardwerke zur Geschichte christlicher Spiritualität aus dem angelsächsischen Raum die deutsche Erweckungsbewegung nicht nennen: Sheldrake, A Brief History, 139–171, der in seiner Darstellung die gesamteuropäische Frömmigkeit zu erfassen sucht, nennt für die protestantische Spiritualität zwischen 1700 und 1900 nur den Pietismus (Pietism), die methodistische Spiritualität (Wesleyan Spirituality) sowie „American Puritanism and the Great Awakening“ und „The English Evangelicals“. Auch die aus dem Englischen übersetzte Geschichte der christlichen Spiritualität, hg. von Mursell, 165–200, benennt als „protestantische Tradition in Europa (16.–19. Jh.)“ nur die Spiritualität von Reformation, Pietismus (17./18. Jh.) und Puritanismus, eine Spiritualität der Romantik und des Methodismus. 7 Vgl. Benrath, Die Erweckung, 155: „Um […] die Eigenart der deutschen Erweckungsbewegung näher zu bestimmen, ist der subjektiven religiösen Prägung der Erweckten durch ihre individuelle Bekehrung Beachtung zu schenken.“ 8 Für die Erweckungsbewegungen in anderen Ländern Europas muss hier auf die Überblicksdarstellungen in Gäbler (Hg.), Der Pietismus verwiesen werden.
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verortet. 3) Vor diesem Hintergrund wird nach den Wurzeln der deutschen Erweckung gefragt, um von diesen ausgehend 4) charakteristische Züge sowie 5) Träger und Aktionsformen erweckter Spiritualität darzustellen.
1.
Verlauf und Zentren der deutschen Erweckung
Die Erweckungsbewegungen als länderübergreifende, überwiegend protestantische Aufbrüche haben unterschiedliche Verläufe und regionale Zentren. In der deutschen Erweckungsbewegung als einer Bewegung des Vormärz werden in der Regel drei Phasen unterschieden, wobei die Erweckung ihre größte Ausbreitung und Wirkung zwischen 1815 und 1830 erfährt. In einer zeitlich ersten Phase der deutschen Erweckung in den Jahren 1800 bis 1815 entwickelt sie sich als spezifisch religiöse Erneuerung parallel und in gegenseitiger Beeinflussung zu zeitgenössischen Aufbrüchen in Literatur und (Religions-) Philosophie sowie einer nationalen Erweckung. Entsprechend ist die Erweckung in dieser Phase gekennzeichnet durch ein überkonfessionelles Selbstverständnis. Entscheidend prägen die Erbauungsschriften des Siegerländer Augenarztes Heinrich JungStilling (1740–1817) die Erweckung. In der Hochphase zwischen 1815 und 1830 grenzt sich die Erweckung konfessionell stärker ab und wird zugleich durch die große Verbreitung von Erbauungs- und Traktatliteratur zu einer Volksbewegung. Die Gründung von Bibel- und Missionsgesellschaften geht einher mit der Bildung von regionalen Zentren. Diese tragen die Erweckung auch nach 1830, doch verliert die deutsche Erweckung in diesen Jahren ihre Aufbruchsdynamik und kann sich zu einer kirchlich-konfessionellen Partei entwickeln. Mit der liberalen Revolution von 1848 wird meist das Ende der deutschen Erweckungsbewewegung angesetzt. Doch ist zu beachten, dass dieser Schlusspunkt zwar der veränderten historischen und gesellschaftlichen Situation ab 1850 Rechnung trägt, dass aber Phänomene der erweckten Spiritualität weiterbestehen. Bereits die historiographische Gliederung der Erweckungsbewegung zeigt Aspekte erweckter Spiritualität in ihrem Nach- und Nebeneinander: ein anfänglich überkonfessionelles Selbstverständnis, die Bedeutung von Bibel- und Missionsgesellschaften sowie der Medien (Bibeln, Traktate) für die Verbreitung erwecklicher Spiritualität. Die vier großen regionalen Zentren der deutschen Erweckung in BayernFranken, Brandenburg-Pommern, am Niederrhein und in Württemberg spiegeln die Vielgestaltigkeit der Bewegung wider: So geht die bayerisch-fränkische Erweckung um 1800 von Nürnberg aus und konzentriert sich auf die Universität Erlangen, wo Theologen wie Johann von Hofmann (1810–1877) oder der reformierte Pfarrer Christian Krafft (1784–1845) die einflussreiche, streng lutherische Erlanger Schule begründen. Charakteristisch erwecklich wird hier die Rechtfer-
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tigung des Sünders aus Gnaden betont, aber zugleich mit einer Betonung der reformatorischen Bekenntnisse und der lutherischen Prägung verbunden. Die brandenburg-pommersche Erweckung hat dagegen ihre maßgeblichen Träger im Adel und ist stärker von der pietistischen Konventikelfrömmigkeit geprägt. So kommen in Berlin junge Adlige zum Glauben und tragen die Erweckung auf ihre Landgüter in Pommern, wie z. B. Adolf von Thadden-Trieglaff (1796–1882), der seit 1892 erweckte Pfarrer im Trieglaffer Kreis zusammenführt und in dessen Haus auch der junge Otto von Bismarck (1815–1898) verkehrt. Aus der Erfahrung von eigener Sünde und Gottes Gnade heraus betonen auch hier die Erweckten die Bibel als Richtschnur für Leben und Handeln. Unter dem Einfluss des Herrnhuter Pietismus kommt der schlesische Adlige Hans Ernst von Kottwitz (1757–1843) zum lebendigen Glauben. Aus seiner Erweckungserfahrung heraus engagiert er sich sozial (Webereien, Spinnereien) in Berlin („Freiwillige Beschäftigungsanstalt“) und Schlesien. Er wird Mitbegründer der Preußischen Haupt-Bibelgesellschaft (1814) und der Berliner Gesellschaft zur Beförderung des Christentums unter den Juden, verfasst Schriften zur Armenfürsorge und zur Verbesserung der Haftanstalten und prägte in seiner sozial engagierten Frömmigkeit junge Theologen wie Johann Hinrich Wichern (1808–1881) und August Tholuck. Wie in Erlangen ist auch die preußische Erweckungsbewegung ab den 1830er Jahren zunehmend lutherisch geprägt, was die Entwicklung der von Ernst Wilhelm Hengstenberg (1802–1869) herausgegebenen „Evangelischen KirchenZeitung“ zeigt. Dagegen ist die niederrheinische und württembergische Erweckung stärker überkonfessionell orientiert. Vom reformierten Pietismus beeinflusst, werden die Städte Elberfeld und Barmen zu Zentren der niederrheinischen Erweckung, deren Träger aus Handel und Unternehmertum kommen. Erweckte Prediger wie Gottfried Daniel Krummacher (1774–1837), Friedrich Wilhelm Krummacher (1796–1868) oder Hermann Friedrich Kohlbrügge (1803–1875) tragen in Predigten von Sünde und Gnade, die auch gedruckt verbreitet werden, die Erweckung über die Region hinaus. In der württembergischen Erweckungsbewegung verkörpert der früh verstorbene Theologe Ludwig Hofacker (1798–1828) den Typus des Erweckungspredigers. Da die württembergische Erweckung fast ungebrochen den württembergischen Pietismus des 18. Jahrhunderts fortsetzt, wirken hier neben der Konventikelfrömmigkeit auch die chiliastischen Spekulationen Johann Albrecht Bengels fort und führen zu einer apokalyptischen Erwartung, die sowohl zur Auswanderung von Erweckten nach Russland und Nordamerika führt als auch zur Sammlung von Frommen in eigenen Siedlungen, wie z. B. Korntal (1819). Die hier skizzierten regionalen Ausprägungen der deutschen Erweckungsbewegung zeigen, dass die Erweckung sowohl Kleinbürger als auch Unternehmer und Adel erfasst und sozial schichtenübergreifend war. In der konfessionellen Offenheit
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unterscheiden sich die erweckten Zentren, ebenso in der sozialmissionarischen Hinwendung zur Gesellschaft oder der Abgrenzung der Frommen. Alle Erweckten aber verbindet, ihrem Selbstzeugnis nach, die persönliche Erfahrung der Rechtfertigung des Sünders aus Gnade. Diese Grunderfahrung gewinnt ihre spezifische Gestalt im zeitgenössischen Kontext zwischen 1800 und 1850.
2.
Die deutsche Erweckungsbewegung im zeitgenössischen Kontext
2.1
Die politisch-gesellschaftliche Situation zwischen 1800 und 1850
Die politischen Revolutionen in Frankreich (1789) und Deutschland (1848), die napoleonische Herrschaft, die europäischen Befreiungskriege und die Neuordnung Europas nach dem Wiener Kongress bilden den zeitlichen Kontext, in dem sich die deutsche Erweckung in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts entfaltet. Die in dieser Zeit erkämpften bürgerlichen Grundrechte wie Meinungs- und Religionsfreiheit oder das Vereinsrecht, festgehalten im napoleonischen Code Civil und den Preußischen Reformen (ab 1807), bilden den Rahmen, erweckte Frömmigkeit zu praktizieren und zu verbreiten. Der Sieg über Napoleon in den Befreiungskriegen (1813–1815) förderte das nationale Bewusstsein und wurde von den Erweckten als Eingreifen Gottes gedeutet. Die Neuordnung der deutschen Territorien nach der Auflösung des Heiligen Römischen Reiches Deutscher Nation (1806) sowie nach dem Wiener Kongress (1815) führte zu gemischt-konfessionellen Territorien. Auch die kirchlichen Unionen, z. B. in Preußen (1817), führten zur Auflösung starrer Konfessionsgrenzen – ein Ansatzpunkt für das überkonfessionelle Selbstverständnis der frühen Erweckung. Ebenso beeinflusst die soziale Situation um 1800 die Erweckung. Denn durch die Bevölkerungsexplosion ab 1750, die beginnende Industrialisierung und Landflucht entstehen in den Städten zunächst Arbeiterviertel, im weiteren Zuge der Industrialisierung, die in Deutschland erst in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts ihren Höhepunkt findet, Massenarbeitslosigkeit und Pauperismus. Diese Entwicklung stellt die Christen vor die Frage, wie christlicher Glaube in sozialer Verantwortung gelebt werden muss.
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Ulrike Treusch
Die Erweckungsbewegung im geistesgeschichtlichen Kontext um 1800
Theologisch ist auch das beginnende 19. Jahrhundert noch geprägt von der Auseinandersetzung mit der europäischen Aufklärung, die mit ihrem Vernunftpostulat alle Lebens- und Wissenschaftsbereiche erfasste. Die deutschen Erweckten vereint daher eine antirationalistische Haltung und die Besinnung auf den biblischen Offenbarungsglauben, ebenso die Frontstellung gegen die Säkularisierung. Denn die eigene Zeit wird als Zeit der Dechristianisierung erfahren, der sich die Erweckten mit dem Ziel der Rechristianisierung Europas bzw. der Neuchristianisierung in der überseeischen Mission entgegenstellen.9 Spezifisch in Deutschland wird die Erweckung zudem begünstigt durch zeitlich parallel auftretende aufklärungskritische, philosophisch-literarische Bewegungen wie die (Früh-) Romantik, den deutschen Idealismus und die Geschichtsphilosophie Friedrich Hegels (1770–1831). Wandte sich die literarische Frühromantik vom aufklärerischen Vernunftglauben zum Gefühl, grenzte sich, davon beeinflusst, auch Friedrich D.E. Schleiermacher (1768–1834) in seinem Frühwerk „Über die Religion“ (1799) von der Aufklärung ab, indem er dem christlichen Glauben eine der rational-wissenschaftlichen Kritik entzogene Provinz im Gemüte, das fromme Bewusstsein, zuschrieb. Schleiermachers subjektbezogener Glaubensbegriff prägte die Frühphase der Erweckungsbewegung ebenso wie Johann Georg Hamanns (1730–1788) Betonung der Sünden- und Rechtfertigungslehre. Die von Hamann kommentierte und unter dem Titel „Weisheit Luthers“ herausgegebene Auswahl aus Luthers Schriften war bei den Erweckten eine vielgelesene Schrift. Die philosophischen, literarischen und theologischen Neuansätze zu Beginn des 19. Jahrhunderts prägen nicht nur die Anfänge der deutschen Erweckungsbewegung, sondern zeigen auch, dass aus dem gleichen Gegensatz zu Rationalismus und Säkularisierung unterschiedliche Bewegungen hervorgehen. Insofern ist abschließend nach den spezifisch spirituellen Wurzeln der Erweckung zu fragen.
3.
Wurzeln erweckter Spiritualität
Die unmittelbaren Wurzeln erweckter Spiritualität in Deutschland liegen im Pietismus des 18. Jahrhunderts, an den besonders die württembergische und niederrheinische Erweckung anknüpfen, sowie in der Arbeit der Deutschen Christentumsgesellschaft (Basel), gegründet 1780 von Johann August Urlsperger 9 Vgl. Lehmann, Zur Charakterisierung, 13–29, der programmatisch, bezogen auf Pietismus, Methodismus und Erweckungsbewegung, von „entschiedenen Christen im Zeitalter der Säkularisierung“ spricht.
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(1728–1806) mit dem Anliegen, die zerstreuten Frommen zu sammeln. In einem weiteren Sinne liegen ihre Wurzeln auch in den zum Teil zeitlich vorauslaufenden, zum Teil zeitlich parallelen Aufbruchsbewegungen in Nordamerika und England. Dabei ist zu beachten, dass die deutsche Erweckung zwar Elemente der amerikanischen Revivals, der methodistischen oder pietistischen Frömmigkeit übernimmt, sich erweckte Frömmigkeit aber nicht auf die (bewusste) Rezeption der Frömmigkeitselemente beschränkt, sondern diese unter den je eigenen regionalen wie individuellen Voraussetzungen zu einer deutschen erweckten Frömmigkeit formt.
3.1
Die Erneuerungsbewegungen des 18. und 19. Jahrhunderts in England und Nordamerika
Der Methodismus als die geistliche Erneuerungsbewegung des 18. Jahrhunderts innerhalb der anglikanischen Kirche prägt die deutsche Erweckungsbewegung mittelbar. Denn durch das Wirken der Brüder John (1703–1791) und Charles Wesley (1707–1788) sowie methodistischer Erweckungsprediger breitete sich die methodistische Bewegung ab den 1730er Jahren in den Vereinigten Staaten von Nordamerika und Großbritannien, in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts auch in Deutschland aus. Der Methodismus teilt die reformatorische Betonung der Rechtfertigung aus Glauben, akzentuiert aber stärker die Verantwortung des Menschen, der kraft der vorlaufenden Gnade das Heilsangebot Gottes annehmen kann und zu einem Leben in Heiligung gerufen ist. Der prozesshaften Heiligung dient die methodische Förderung der christlichen Spiritualität in verbindlichen Kleingruppen und durch die Gnadenmittel (Predigt, Schrift, Abendmahlsfeier). Daneben betont die methodistische Spiritualität die sozialethische Dimension des Glaubens (General Rules of the United Societies, 1743), wie sie sich exemplarisch im englischen Kampf für die Abschaffung von Sklaverei zeigt. Kleingruppen zur Förderung der persönlichen Frömmigkeit finden sich, ursprünglich aus dem Spenerschen Pietismus kommend, auch in der erweckten Spiritualität. Neben der Betonung der Erweckungspredigt empfängt die deutsche Erweckung aus der englischen Anstöße zum karitativen Handeln sowie zur Gründung von Bibel- und Missionsgesellschaften. Die Great Awakenings in den Vereinigten Staaten von Amerika beeinflussen die deutsche Erweckung durch persönliche und briefliche transatlantische Kontakte. Kommt es unter Pfarrer Jonathan Edwards (1703–1758) bereits ab 1734 in Massachusetts zu einer religiösen Erweckung (First Great Awakening), folgt durch das Wirken des Erweckungspredigers Charles G. Finney (1792–1875) eine zweite Welle, nun zeitlich parallel zu den europäischen Erweckungsbewegungen
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in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts. Die für die nordamerikanischen Revivals kennzeichnende, auf Bekehrung zielende Erweckungspredigt und der Typus des (reisenden) Predigers finden sich auch in der deutschen Erweckung. Massenbekehrungen jedoch erfolgen in der deutschen Erweckung selten, aber die Mittel der Volksmission, wie sie die amerikanische Erweckung entwickelt, z. B. große Evangelisationsveranstaltungen, regelmäßige Versammlungen der Erweckten, neue Erweckungslieder und die Beteiligung der Laien charakterisieren auch die deutsche Erweckung.
3.2
Der Pietismus und die Deutsche Christentumsgesellschaft
Stärker noch ist der Einfluss des Pietismus auf die erweckte Spiritualität.10 Ist der Pietismus im engeren Verständnis die geistliche Erneuerungsbewegung des 17. und 18. Jahrhunderts, so teilt die deutsche Erweckungsbewegung Grundzüge der Spiritualität des Pietismus und beide können als Bibel-, Laien- und Heiligungsbewegung charakterisiert werden. Dabei sind es vor allem drei Elemente pietistischer Spiritualität, die sich in der erweckten Spiritualität fortsetzen: die Betonung der persönlichen Beziehung zu Gott, die Bildung von NachfolgeGruppen (z. B. Spenersche Konventikel; collegia pietatis) und das christlich-soziale (z. B. Franckesche Anstalten) und missionarische Engagement (z. B. Dänisch-Hallesche Mission; Herrnhuter Mission; Cansteinsche Bibelanstalt). Letzteres wird in besonderem Maße charakteristisch für die Erweckungsbewegung. Findet sich der Gedanke einer fixier- und datierbaren Bekehrung mit vorausgehendem Bußkampf im Pietismus z. B. bei August Hermann Francke (1663– 1727), wird dies zu einem Kennzeichen erweckter Spiritualität. Erbauungsstunden mit Bibelstudium und Gebet sind Kennzeichen nicht nur der pietistischen und methodistischen, sondern auch der erweckten Frömmigkeit, ebenso das sozialmissionarische Engagement am eigenen Ort und in der weltweiten Mission. Auch ekklesiologische Akzente des Herrnhuter Pietismus, wie z. B. die tägliche Gemeindeversammlung mit Zeugnis und Lobpreis und die Überwindung von Standesschranken in der geschwisterlichen Gemeinschaft, setzen sich in der Erweckungsbewegung fort. In der Aufnahme von Kernelementen pietistischer Spiritualität in der Erweckungsbewegung ist deren Bezeichnung als Spätpietismus begründet. Die Abgrenzung von pietistischer und erwecklicher Spiritualität bleibt dort fließend, wo 10 Zur neueren Diskussion des Verhältnisses von Pietismus und deutscher Erweckungsbewegung vgl. Lehmann, Zur Charakterisierung, 13–29; Wallmann, Pietismus und Erweckungsbewegung, 30–47, der festhält: „Der Pietismus hat für die Erweckungsbewegung Exemplarisches bereitgestellt, was dann aufgenommen und ausgeweitet werden konnte“, a. a. O., 32.
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die Erweckung unmittelbar aus dem Pietismus hervorgeht. Denn pietistische Kleingruppen, z. B. in Württemberg die von Johann Michael Hahn (1758–1819) begründete, später nach ihm benannte Hahn’sche Gemeinschaft und die von Christian Gottlob Pregizer (1751–1824) begründete Gemeinschaft der Pregizerianer, wirken zu Beginn des 19. Jahrhunderts fort, ebenso die überregionale Diaspora-Arbeit der Herrnhuter Brüdergemeine. Die niederrheinische Erweckung geht unmittelbar aus dem reformierten Pietismus hervor, wobei die Erbauungsschriften Jung-Stillings den Übergang zur Erweckung bilden. JungStilling, Pfarrer Johann Friedrich Oberlin (1740–1826) und der Zürcher Prediger Johann Caspar Lavater (1741–1801) sammeln Kreise von Frommen um sich und sind Mitglied der Deutschen Christentumsgesellschaft. Die Deutsche Christentumsgesellschaft (1780) ist daher neben dem Pietismus die zweite unmittelbare Wurzel der deutschen Erweckung. In den nicht pietistisch geprägten Regionen baut die Deutsche Christentumsgesellschaft fromme Gruppen (Partikulargesellschaften) auf, die zu Keimzellen der Erweckung werden. Ihre Reisesekretäre fördern die Erweckung maßgeblich. Sekretär Carl Friedrich Adolf Steinkopf (1773–1859) vermittelt durch seine Arbeit in der deutschen Savoy-Gemeinde in London Impulse aus der englischen an die deutsche Erweckung und regt die Gründung von Bibel- und Missionsgesellschaften nach englischem Vorbild an, wie z. B. die Basler Traktatgesellschaft (1802) und die Württembergische Bibelgesellschaft (1812). Reisesekretär Christian Friedrich Spittler (1782–1867) begründet zahlreiche erweckte Einrichtungen, darunter die Basler Mission (1815) und die Pilgermission St. Chrischona (1840).
4.
Charakteristika einer Spiritualität der deutschen Erweckung
Als erweckter Christ schreibt Baron von Kottwitz im Jahr 1822 an Johann Hinrich Wichern: „Da ist die Hand Herr, hilfs uns tun, zu erfassen Dein freies Erbarmen für alle Armen, zu nehmen aus deiner Fülle Gnade um Gnade, Freiheit, Reinheit, Stille und Treue im Kleinen in Kraft deines Blutes, dein Herz zu erfreuen. […] Sieh an meinen Jammer und Elend, Herr Jesu, und vergib mir alle meine Sünden. Hier liegen wir in unserem Staube, jedoch ergreift dich unser Glaube und hält sich also festiglich an deine Treu als sähn wir dich. Ach Jesu neige deine Güte zu unserm schmachtenden Gemüte und laß uns doch viele sehn, die mit uns in dein Reich eingehn.“11
11 Baron H.E. von Kottwitz an Johann Hinrich Wichern, 1822, Abdruck in: Kantzenbach, Evangelische Frömmigkeit, 38.
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In diesen Sätzen wird das Selbstverständnis erweckter Spiritualität deutlich: Ein tiefes Sündenbewusstsein verbindet sich mit der persönlichen Erfahrung der Gnade und des Erbarmens Gottes über den Sünder.12 Diese Erfahrung führt zugleich in die Gemeinschaft der Christen und ist Sendung in die Welt, damit viele für das Reich Gottes gewonnen werden. Aus diesem Grundverhältnis von Sünden- und Gnadenerfahrung ist erweckte Spiritualität charakterisiert durch (1) das persönliche Erfahren der Gnade Gottes, (2) das Leben in der Gnade Gottes und (3) das Weitergeben dieser Erfahrung in Wort und Tat.13
4.1
Die Gnade Gottes individuell-persönlich erfahren
(1) Erweckte Spiritualität ist schrift- und christozentrisch. In der Berufung auf die Bibel als Wort Gottes, im regelmäßigen Lesen der Bibel und in der BibelVerbreitung kann erweckte Spiritualität biblizistisch genannt werden. Die Bibel als Wort Gottes, das für Leben und Lehre genügt, wird ernst genommen einschließlich der biblischen Betonung von Sünde, Gericht und Erlösung. Entsprechend stehen die Erweckungspredigten in der Dialektik von Gesetz und Evangelium, Gericht und Erlösung: Der Einzelne muss zuerst sein sündiges Wesen erkennen, um dann die rettende Gnade Gottes in Jesus Christus persönlich zu erfahren. Erkenntnis der eigenen Sündenverfallenheit, Reue und Buße, oft auch ein Bußkampf, kennzeichnen den Anfang der Erweckung. In der Betonung der Rettung in Jesus Christus ist erweckte Spiritualität zugleich christozentrisch: Christus allein ist es, der den Sünder rettet, aus Gnade und unverdienterweise. (2) Dabei betont die erweckte Spiritualität aber den Entscheidungscharakter und die individuelle Erfahrung der Gnade. Denn, geleitet und vorbereitet durch den Heiligen Geist, steht der Einzelne vor Gott und muss (und kann) sich für den Glauben entscheiden. Die persönliche Glaubensentscheidung führt zu einer 12 Vgl. Benrath, Die Erweckung, 191, der als Hauptlehren der Erweckungsbewegung „die totale Erlösungsbedürftigkeit des Menschen; Gottessohnschaft Christi; Versöhnung durch das stellvertretende Leiden und Sterben Christ am Kreuz“ nennt. 13 Gäbler, Auferstehungszeit, 178, nennt „endzeitliches Bewußtsein“, „Erfahrungsreligion“ und „Sozietätsgedanke“ als wichtigste Kennzeichen der Erweckungsbewegung und betont: „Keiner dieser drei Punkte ist für sich selbst typisch für die Erweckung. Parallelen mit anderen Bewegungen und Strömungen wie Aufklärung und Pietismus liegen auf der Hand. […] Das Zusammentreffen dieser drei Motive charakterisiert die Erweckung im europäischen und im amerikanischen Protestantismus“. Die Charakteristika werden hier aufgenommen, aber im größeren Kontext von Sünden- und Gnadenbewusstsein verstanden. Beyreuther, Die Erweckungsbewegung, 29f, unterscheidet drei Gruppen innerhalb der deutschen Erweckungsbewegung: eine biblizistische, eine emotional-erweckliche und die konfessionalistische Erweckung. Diese Unterscheidung ist m. E. hilfreicher für die Bestimmung der Erweckungstheologie als der erweckten Spiritualität.
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persönlichen Erfahrung der Vergebung der Schuld und des Neubeginns der Beziehung zu Gott. (3) Charakteristisch für die erweckte Spiritualität ist daher die subjektive religiöse, oft emotionale Erfahrung von Umkehr (Bekehrung), wie überhaupt die persönliche und individuelle Erfahrung im Glauben eine große Rolle spielt. Dabei wird in besonderem Maße die Unmittelbarkeit des Glaubens betont: Der Mensch erfährt unmittelbar Jesus Christus als seinen Retter. Diese persönliche Gotteserfahrung wird als notwendig betrachtet für den Glauben, wobei die eigene Erfahrung die Aussagen der Bibel bestätigt. Diese Erfahrungs- und Erlebnisfrömmigkeit findet auch Ausdruck im Liedgut der Erweckung, z. B. bei Philipp Spitta (1801–1859): „Ich steh in meines Herren Hand und will drin stehen bleiben; nicht Erdennot, nicht Erdentand soll mich daraus vertreiben. Und wenn zerfällt die ganze Welt, wer sich an ihn und wen er hält, wird wohlbehalten bleiben. Er ist ein Fels, ein sichrer Hort, und Wunder sollen schauen, die sich auf sein wahrhaftig Wort verlassen und ihm trauen.“14
Jesus Christus als Retter und Sieger bejubeln zahlreiche Lieder Erweckter, so z. B. das Lied „Keiner wird zuschanden“ des pommerschen Erweckungspredigers Gustav Knak (1806–1878) oder das Bekenntnis „Dass Jesus siegt, bleibt ewig ausgemacht“ (1852) von Johann Christoph Blumhardt (1805–1880).
4.2
In der Gnade Gottes das Leben gestalten
Neben der Bekehrungserfahrung als Beginn des erweckten Christseins betont die erweckte Spiritualität ebenso stark – in Parallele zu Pietismus und Methodismus – die der Rechtfertigung folgende Heiligung. Dabei beginnt der Weg des Glaubens zwar mit der individuellen Entscheidung und ist ein Weg der persönlichen Gottesbeziehung, führt aber zugleich den Einzelnen in die Gemeinschaft der Erweckten hinein. (1) Darin liegt die ekklesiologische Dimension erweckter Spiritualität. Der persönliche Glaubensweg bleibt eingebunden in die Gemeinschaft der Erweck14 EG, Nr. 374, 1–2a.
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ten. Die Sammlung der Frommen geschieht in der deutschen Erweckungsbewegung, anders als z. B. im französischen Réveil, meist innerhalb der Landeskirchen, z. B. in den württembergischen Stunden sonntagnachmittags oder in abendlichen Erbauungsstunden. So schreibt der bereits erwähnte Pfarrer Gustav Knak über seine Gemeindearbeit im Jahr 1835: „Die Totengebeine beginnen sich hier schon zu regen. Der Herr scheint einen Hunger nach seinem Wort unter diese Armen gesendet zu haben; von allen Seiten kommen sie herbei, um das Wort des Lebens, das ihnen vorher so gleichgültig und entbehrlich war, zu kaufen; sie scheuen nicht Wind und Wetter beim Besuch der Kirche und der Erbauungsstunden. […] Das Wort vom Kreuz beweist sich auch hier als der Hammer, der Felsen zerschmeißt, als das Feuer, das auch die härtesten Herzen zu erwärmen vermag. Erweckt sind in der vergangenen Woche zwei junge Mädchen, von etwa 20 Jahren; mit heißen Tränen haben sie ihr Sündenelend beweint […] Alle Abend, seitdem sie erweckt sind, wohnen sie unserer täglichen Erbauung bei und arbeiten nachher lieber bis in die späte Nacht hinein.“15
Den Erbauungsstunden in der Gemeinschaft der Erweckten kommt für die Stärkung des Glaubens entscheidende Bedeutung zu. Hier wird gemeinsam das Wort gehört und gelesen, gebetet, Zeugnis vom Wirken Gottes im eigenen Leben gegeben und die geheiligte Lebensweise eingeübt. (2) Der Gemeinschaftscharakter erweckter Spiritualität zeigt sich auch in der Bildung standesübergreifender zweckgebundener Gemeinschaften, insbesondere Vereine zur evangelistischen, volksmissionarischen und sozialdiakonischen Arbeit, aber auch im neuen Berufsstand der Diakonisse. Haben viele Vereine und Gesellschaften zunächst nur regionalen Einfluss, bauen die Erweckten bald gezielt Kommunikationsnetzwerke auf. Dabei können sich die Zusammenschlüsse der Erweckten durch ökumenische Weite, aber auch durch Konfessionalismus bis hin zu einer Sammlung der Frommen mit separatistischer Tendenz auszeichnen. So verbinden sich z. B. in Bayern (lutherische Mission Wilhelm Löhes) und Sachsen (1836 Dresdner Mission) Erweckung und lutherischer Konfessionalismus.
4.3
Gottes Gnade weitertragen: Reich-Gottes-Arbeit
Die Erweckten leben die erfahrene Gnade Gottes jedoch nicht nur in ihren frommen Kreisen, sondern betonen gleichermaßen die Reich-Gottes-Arbeit in Evangelisation, Volksmission und weltweiter Mission. (1) Denn die Erweckten verstehen Nachfolge als Sendung in die Welt hinein, um andere zum Glauben zu führen. Der eigene Ruf, den sie in der Bekehrung 15 Knak (1835), Abdruck in: Kantzenbach, Evangelische Frömmigkeit, 38f.
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erfahren haben, führt sie dazu, den christlichen Glauben aller Welt zu bezeugen, wie es das Missionslied von Christian Gottlob Barth (1799–1862), „Der du in Todesnächsten erkämpft das Heil der Welt“ (1827), ausdrückt: „Noch werden sie geladen, / noch gehn die Boten aus, um mit dem Ruf der Gnaden / zu füllen dir dein Haus. Es ist kein Preis zu teuer, / es ist kein Weg zu schwer, hinauszustreun dein Feuer / ins weite Völkermeer. O sammle deine Herden / dir aus der Völker Zahl, daß viele selig werden / und ziehn zum Abendmahl. Schließ auf die hohen Pforten, / es strömt dein Volk heran; wo noch nicht Tag geworden, / da zünd dein Feuer an!“16
In deutlich stärkerem Maß als der Pietismus betonen die Erweckten die äußere Mission und gründen unter großem persönlichen Einsatz Missionsgesellschaften. (2) Die evangelistisch-missionarische Aktion hat ihren Hintergrund im eschatologischen Bewusstsein der Erweckten. Sie verstehen die Geschichte als Heilsgeschichte und die eigene Zeit, verbunden mit prä- und postmillenniaristischen Erwartungen, wird aufgrund der wahrgenommenen Säkularisierungsphänomene apokalyptisch-endzeitlich gedeutet.17 In dieser Perspektive bauen die Erweckten mit universalem Anspruch am Reich Gottes in Mission und Evangelisation. (3) Entsprechend hat auch das sozial-karitative Engagement der Erweckten das Ziel der ewigen Rettung, nicht das der allein zeitlichen Hilfe, und richtet sich auf die Bekehrung des Einzelnen und dessen Lebenswandel. Dabei waren die Erweckten mit der Gründung von Sonntagsschulen (z. B. 1825 in Hamburg durch Johann Wilhelm Rautenberg [1791–1865]) und Rettungshäusern für Kinder und Jugendliche (z. B. ab 1822 in Düsselthal durch Adalbert Graf von der ReckeVolmerstein [1791–1878]; 1833 in Hamburg das Rauhe Haus durch J.H. Wichern) sozial innovativ.
5.
Träger und Medien erweckter Spiritualität
Die Charakteristika erwecklicher Spiritualität – Gnade erfahren, leben und weitergeben – gewinnen im abschließenden Blick auf die Träger der Erweckungsbewegung, ihre Methoden und Medien ihr spezifisches Profil. 16 EG, Nr. 257, 3f. 17 Das Geschichtsverständnis der Erweckten wurde in den letzten Jahren vertieft erforscht, vgl. Breul/Schnurr (Hg.), Geschichtsbewusstsein und Zukunftserwartungen; Schnurr, Weltreiche und Wahrheitszeugen.
562 5.1
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Die Träger der deutschen Erweckungsbewegung
Alle Erweckten teilen die Grunderfahrung von Sünde und Gnade; diese Erfahrung verbindet sie über Standesschranken hinweg. Dementsprechend werden Theologen und Laien(prediger), Bürger und Adlige zu Trägern der regionalen Erweckungen. Im Verständnis, dass jeder Erweckte an der Reich-Gottes-Arbeit teilhat, ergeben sich auch für Frauen neue Wirkungsmöglichkeiten. Waren sie bereits in den nach Geschlechtern getrennten pietistischen Erbauungsstunden leitend tätig, gründen sie nun Frauenbibelvereine und Frauenmissionsvereine, z. B. 1842 die Morgenländische Frauenmission, die Missionarinnen, Lehrerinnen und Krankenschwestern zunächst für Indien ausbildet und aussendet. Daneben werden einzelne Frauen prägend für die Erweckungsbewegung, wie z. B. die baltisch-adlige Missionarin Barbara Juliane von Krüdener (1764–1824), die ihren Zugang zu den politischen Salons zur Evangelisation nutzt und die durch ihre Schriften und erwecklichen Predigten zur Vermittlerin unter anderem des Genfer Réveil wird. Auch die Hamburgerin Amalie Sieveking (1794–1859) engagiert sich nach ihrer Bekehrung sozial, gründet 1832 einen Frauenverein für Armen- und Krankenpflege sowie eine Ausbildungsstätte für Erzieherinnen und ein Kinderhospital. Tritt Sieveking für eine weibliche Diakonie ein, so gehört der Stand der ehelos lebenden, sozial tätigen Diakonisse zu den aus der Erweckung hervorgehenden neuen Lebensentwürfen für Frauen. Pfarrer Theodor Fliedner (1800–1864) gründet 1836 nach englischem Vorbild die Kaiserswerther Diakonissenanstalt. Weitere Diakonissenhäuser folgen vor allem in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts, oft stärker konfessionell geprägt, wie z. B. die 1854 von Wilhelm Löhe (1808–1872) gegründete lutherische Diakonie in Neuendettelsau.
5.2
Methoden und Medien der Erweckung
Die evangelistisch-missionarische wie soziale Arbeit der Erweckung findet ihren charakteristischen Ausdruck in Gesellschaften und freien Vereinen. So werden von Erweckten nach dem Vorbild der British and Foreign Bible Society (London, 1804) Bibelgesellschaften gegründet, darunter die Württembergische Bibelgesellschaft (1812), die Preußische Haupt-Bibelgesellschaft (1814) sowie rund dreißig weitere Bibelgesellschaften. Die von Erweckten gegründeten Missionen für Deutschland (wie z. B. die Judenmission), aber vor allem für die weltweite Mission sind der herausragende Ausdruck deutscher erweckter Spiritualität. „Die Mission ist das Lieblingskind der Erweckung gewesen.“18 Nach dem Vorbild der London Missionary Society 18 Wallmann, Kirchengeschichte Deutschlands, 197.
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(1795) wird 1815 die Basler Mission gegründet, geprägt von der württembergischen Erweckung, 1824 die Berliner Mission; die Rheinische Missionsgesellschaft (1828) geht aus der niederrheinischen Erweckung hervor. Weitere, teils konfessionell geprägte Missionswerke folgen (1836 Norddeutsche Missionsgesellschaft; 1836 Dresdner, später Leipziger Mission; 1849 Hermannsburger Mission; 1832 Gustav-Adolf-Werk zur Unterstützung von Protestanten in der Diaspora). In Deutschland wirkt die Erweckungsbewegung vor allem durch Erweckungsprediger und -predigten. Steht die Erweckungspredigt am Beginn des erweckten Lebens, wird der Aufruf zur Umkehr und zu einem geheiligten Leben durch Verbreitung und Nutzung unterschiedlicher Medien unterstützt: neben der neuen Gattung des Erweckungs- und Missionslieds vor allem durch Traktate, Erbauungsbücher, Kalender, Bibellesehilfen. Die Erweckungsbewegung nutzt die zweite Leserevolution (Verdreifachung der Lesefähigkeit der deutschen Bevölkerung im 19. Jahrhundert) und publiziert auch Kirchen- und Missionszeitschriften, wie z. B. die „Evangelische Kirchen-Zeitung“ (ab 1827) oder den „Christen-Boten“ (ab 1831). In Evangelisation und Mission wie auch in der Gründung sozialer Anstalten zeigt sich die deutsche Erweckung außerordentlich aktiv und innovativ im Blick auf Träger, Methoden und Medien. Politisch ist die deutsche Erweckungsbewegung konservativ geprägt. Da die Erweckung zwar Bürger und Adel, aber kaum die Arbeiterschaft erfasst, unterstützen die Erweckten meist die bestehende monarchische Ordnung und begegnen liberalen Bestrebungen mit Skepsis. Auch kann die Bibelbezogenheit der Erweckten trotz erweckter Universitätstheologen, wie z. B. August Tholuck, teilweise zu einer Distanz zur universitären Theologie und der historisch-kritischen Erforschung der Bibel führen. Doch weder Politik noch Theologie stehen im Fokus erweckter Spiritualität, sondern die schriftgemäße christliche Lebensführung. Der Ernst der Nachfolge in einem heiligen Lebenswandel zeigt sich in den weit verbreiteten Zwei-Wege-Bildern des 19. Jahrhunderts „Der schmale und der breite Weg“ (Mt 7,13f), wie ihn 1866 Charlotte Reihlen (1805–1868) aus Stuttgart malen ließ, stellt exemplarisch die erweckte Frömmigkeit vor Augen: Tanz und Kartenspiel, aber auch die Eisenbahn finden sich am breiten, zum Verderben führenden Weg, am schmalen Weg des Heils aber Kinder-Rettungsanstalt und Diakonissenhaus.
6.
Das Jahr 1848 – ein vorläufiges Ergebnis
Mit den politischen Ereignissen des Jahres 1848 wird das Ende der deutschen Erweckung angesetzt. Die Spiritualität der Erweckungsbewegung findet um 1850 zwar keinen Abschluss, aber die Aufbrüche verfestigen sich zum Teil institutionell und werden durch internationale Einflüsse ergänzt, z. B. in der Heiligungs-
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und Gemeinschaftsbewegung. Zwei Ereignisse zeigen die bevorstehenden Veränderungen erweckter Spiritualität, die Rede J.H. Wicherns zur Inneren Mission (1848) und die Gründung der Evangelischen Allianz (1846). In der Erweckungsbewegung wurde die diakonische Arbeit durch freie Vereine getragen mit dem Ziel der Erneuerung des einzelnen Menschen. Ein Beispiel dafür ist die Arbeit Wicherns, der zu den Hamburger Erweckten zählt und aus der Erfahrung des städtischen Elends 1833 das Rettungshaus „Rauhes Haus“ sowie das Brüderhaus als diakonische Ausbildungsstätte gründet. Auf dem ersten gesamtdeutschen Kirchentag in Wittenberg (1848) hält Wichern seine programmatische Rede zur Notwendigkeit der Inneren Mission, die zur Gründung des Central-Ausschusses für Innere Mission führt. Betonte die Erweckungsbewegung die Rettung des Einzelnen durch Evangelisation und Mission, setzt Wichern und mit ihm die evangelische Kirche nun neben der sog. rettenden auf die helfende Hand, d. h. diakonische Hilfe, die zuerst die gegenwärtige Not überwinden will. Damit beginnt zugleich die Entwicklung einer institutionalisierten und professionalisierten Diakonie mit staatlicher Unterstützung. An der Gründung der weltweiten Evangelischen Allianz im Jahr 1846 waren nicht zufällig auch Vertreter der deutschen Erweckungsbewegung beteiligt, darunter August Tholuck und Christian Gottlob Barth. Gegründet als Zusammenschluss von Christen unterschiedlicher Denominationen, die sich in Grundlinien theologischer Lehre verbunden wissen, ist das Bekenntnis zur Heiligen Schrift als höchster Autorität für Leben und Lehre, zur völligen Sündhaftigkeit des Menschen, zum Sühnetod Jesu, zur Rechtfertigung des Sünders allein aus Gnade, zu Bekehrung, Wiedergeburt und Heiligung des Menschen die Glaubensbasis der internationalen und deutschen (ab 1851) Allianz.19 Die 1846 formulierte, von der deutschen Erweckungsbewegung mitgetragene theologische Erklärung führt aber zu einer konfessionsübergreifenden, wort- und christuszentrierten Glaubenspraxis, die das persönliche geheiligte Leben mit einem starken missionarischen und evangelistischen Akzent verbindet – mit anderen Worten: zu einer erweckten Glaubenspraxis. Die Fortsetzung erweckter Spiritualität nach 1848 und ebenso ihre vielfältigen Wurzeln zeigen die Verflochtenheit von erweckter Spiritualität mit zeitgenössischen landes- wie freikirchlichen, deutschen wie internationalen Aufbruchs- und Erneuerungsbewegungen. In ihrer regionalen Ausprägung und den sie gestaltenden Persönlichkeiten, in der organisierten äußeren Mission mit einer endzeitlichen Motivation setzt die deutschen Erweckungsbewegung spezifische Akzente. 19 Vgl. die Glaubensbasis der Evangelischen Allianz vom 2. September 1846 unter http:// www.ead.de/die-allianz/basis-des-glaubens.html [letzte Abfrage: 27. 02. 2015].
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Ulrike Treusch
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Rudolf Gebhard
Erweckliche Spiritualität – Anna Schlatter-Bernet (1773–1826)
„Wahr ist’s, wir versperren seinem Geist so oft den Weg und ich muß immer beten: Reiß mich hin zu dir, mein Erbarmer! von selbst lauf ’ ich nicht“.1 So fasst Anna Schlatter ihren geistlichen Lebenslauf in einem Brief an ihre Zürcher Freundin Nette (Annette) Gessner-Lavater2 zusammen. Ihre Spiritualität hat sich aufgrund ihrer jeweiligen Lebenssituation und vor allem dank der Menschen, mit denen sie geistlich in Kontakt stand, immer wieder verändert. Lebenslang war sie bemüht, sich dem Geist Gottes zu öffnen, von ihm bestimmen und in seinen Machtbereich hinein bewegen zu lassen. Insofern entspricht ihre Lebenshaltung den Merkmalen christlicher Spiritualität, wie sie jüngst Corinna Dahlgrün beschrieben hat: Spiritualität „ist kein ,event‘, sie ist eine Einstellung, eine Haltung, die das gesamte Leben bis in die alltäglichen Vollzüge hinein […] prägt […]. Menschen auf dem Weg christlicher Spiritualität […] werden wissen um die bleibende Ungesichertheit, die […] daran erinnert, alles von Gott zu erwarten“.3 Zunächst soll Annas Schlatters äußerer und innerer Lebensweg anhand von exemplarischen Wandlungen ihrer Frömmigkeit dargestellt werden. Danach wird nach formalen und inhaltlichen Merkmalen ihrer Spiritualität gefragt.
1 Brief vom 7. 6. 1807 an Nette Lavater, in: Schlatter, Nachlass II, 61. 2 Mit Annette Gessner-Lavater (1771–1852), der Tochter des berühmten Johann Caspar Lavater, Pfarrer an St. Peter in Zürich, die 1795 den Zürcher Pfarrer und späteren Antistes Hans Georg Gessner (1765–1843) heiratete, war Anna Schlatter 34 Jahre lang befreundet. Über 400 Briefe Annas zwischen 1792 bis kurz vor ihrem Tod 1826 an Nette (Annette) sind im Nachlass erhalten. Vgl. Jehle-Wildberger, Schlatter, 27ff; Schindler, Memorabilien, 16–19 und beiliegender Stammbaum. 3 Dahlgrün, Gabe, 97 (Hervorhebung im Original).
568
1.
Rudolf Gebhard
Spiritualität als Lebens- und Glaubensweg
Wenn Schlatters Leben äußerlich relativ „wenige Höhepunkte“4 aufzuweisen hat und sie ihr ganzes Leben in ihrer Heimatstadt St. Gallen verbrachte, so sind es vor allem Kontakte und Begegnungen, Freundschaften und familiäre Beziehungen, die sie prägten und zu einer der „wenigen profilierten Schweizerinnen des frühen 19. Jahrhunderts“5 am Übergang vom Pietismus zur Erweckungsbewegung machten. Anna wurde als Kind stark vom Pietismus Hallescher Prägung ihrer Eltern beeinflusst.6 Sie besuchte zwar, wie auch ihre elf Geschwister, den reformierten Konfirmandenunterricht, viel prägender aber war das geistliche Leben im Elternhaus mit den täglichen Gebetszeiten, der Lektüre von biblischen und erbaulichen Texten und der Feier der kirchlichen Feste. Entscheidend wurde weniger ihre Bekehrung mit zwölf oder dreizehn Jahren, als vielmehr die darauffolgende Erkenntnis, dass die erhoffte und verheißene Veränderung des inneren Menschen ausblieb. Ebenso ernüchternd erfuhr sie ihr erstes Abendmahl: „Wie bald ließen die Eindrücke wieder nach; […] Ich habe keine Kraft die Sinnlichkeit zu überwinden und immer thue ich wieder, was ich doch so gerne nicht mehr thun würde.“7 Dieser Kampf mit dem eigenen Ich und das Ringen um Befreiung von Sünde und Bösem prägen besonders den frühen Briefwechsel mit Nette Lavater. Die Erkenntnis der eigenen Sündhaftigkeit und der Versuch, den Weg der Heiligung und Vervollkommnung zu gehen, bilden das durchgehende Thema zwischen den beiden Freundinnen, verstärkt noch durch den Anspruch von Nettes Vater, Johann Caspar Lavater, christliches Leben bedeute eine stetig fortschreitende Verähnlichung mit Christus im Sinne der imitatio.8 So klagt Anna ihrer Freundin, es sei „sehr traurig, daß wir beinahe oder gar keine Fortschritte gemacht haben im Guten“9 und ermahnt sie, „täglich Christus ähnlicher“10 zu werden. Das pietistische Bewusstsein der Abgründigkeit der Sünde und der optimistische Glaube an die Möglichkeit zur Vervollkommnung des Menschen treffen hier unversöhnlich aufeinander.11
4 Zimmerling, Frauen, 47. 5 Jehle-Wildberger, Weltoffen, 184. 6 Zum folgenden biographischen Abriss vgl. nebst der grundlegenden und neusten Biographie zu Anna Schlatter Jehle-Wildberger, Schlatter, auch dies., Weltoffen, 184f.; Zimmerling, Frauen, 47–49; Gebhard, Schlatter, 142–146. 7 Schlatter, Nachlass I, XXVIf. 8 Vgl. Jehle-Wildberger, Schlatter, 35–38. 9 Schlatter, Nachlass I, 3 (Brief, 1. 6. 1792). 10 A. a. O., 8 (Brief, 7. 12. 1792). 11 Vgl. Jehle-Wildberger, Schlatter, 39.
Erweckliche Spiritualität – Anna Schlatter-Bernet (1773–1826)
569
Anna Schlatters Religiosität erfuhr im Laufe ihres Lebens immer wieder Erschütterungen, die ihren Glauben wandelten und reifen ließen. Nach einer schweren Glaubenskrise um 1803 hat sich ihr Sündenbewusstsein verändert und kreuzestheologisch vertieft. Nicht mehr ihr eigenes sündiges Ich, das sich krampfhaft heiligen wollte, stand von nun an im Zentrum, sondern die Orientierung an Christus und seinem Wirken. Es erinnert an Luthers rechtfertigungstheologische Unterscheidungen, wenn Anna schreibt: „Ich bin elend in mir und selig in ihm.“12 Im Rückblick beschreibt sie diesen Wandel so: „Glauben Sie mir, mein Freund, ich ging 20 Jahre den Weg des Kampfes mit der Sünde und der Welt, litt und kämpfte heiß Tag und Nacht und brachte es nicht weit. Da öffnete mir die Erbarmung des Herrn mein Auge und füllte mein Herz mit seiner Liebe, stellte mich auf den Weg des Lichts, und die Liebe drängt mich, nun ihm und nicht mir zu leben.“13
Auch in ihrer Beziehung zu ihrem Ehemann Hector Schlatter wurde Anna im Laufe ihres Lebens offener und toleranter. Als der junge Witwer und Unternehmer 1793 um ihre Hand anhielt, reagierte sie zunächst ablehnend. Die unterschiedliche Frömmigkeit der beiden war unübersehbar. Schlatter stand der Aufklärungstheologie nahe, Pietismus und Erweckungsbewegung waren ihm fremd. Annas Urteil fiel denn auch radikal aus: „Ich fühlte gleich in der ersten Unterredung, er sei kein Christ und das erfüllte mich so mit Furcht, daß ich kämpfend und knieend vor Gott lag, zwischen die Verbindung zu treten, wenn er sehe, diese Verbindung entferne mich von Christo und seinem Reiche. Ich erklärte mich über meine Grundsätze frei gegen Schlatter und er gestand, er denke nicht, wie ich, wolle mir aber die volle Freiheit lassen.“14
Anna rang mit sich, suchte Rat bei Lavater, der sie zur Ehe mit Schlatter ermutigte, und fand schließlich Gewissheit durch das biblische Los. Nebst der Hoffnung, ihren zukünftigen Ehemann noch zum richtigen Glauben bekehren zu können, wird wohl auch die Einsicht ausschlaggebend gewesen sein, dass Schlatter zwar weniger für Christus empfinde und von ihm wisse, wohl aber christlicher handle als sie selbst.15 Er sei „gewiß zehnmal gutmüthiger, als ich, und […] einer der besten, edelsten Menschen in meiner Vaterstadt“16 und habe ihr all seine Fehler freimütig gestanden. Immerhin dringt ihr geistliches Überlegenheitsgefühl wieder ganz durch, wenn sie einräumt: „Freilich wird es
12 13 14 15 16
Schlatter, Nachlass II, 51 (Brief an Nette Gessner, 25. 12. 1805). Schlatter, Nachlass I, 39 (Brief an Friedrich Wilhelm Röhrig, 17. 6. 1815). A. a. O., XXIX. Vgl. a. a. O., 22 (Brief an Nette Lavater, 20. 11. 1793). A. a. O., 23f.
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Rudolf Gebhard
schwerer sein, seine Fehler zu verbessern, als sie kennen zu lernen. Es ist ihm aber selbst ernst, an seiner Verbesserung zu arbeiten.“17 Im Laufe ihrer fast 32jährigen Ehe musste sich Hector immer wieder zurücknehmen, seiner Frau die Freiheit lassen, die er ihr versprochen hatte, gerade was den geistlichen Austausch mit Gleichgesinnten anbelangte. Aber auch Anna lernte seine liberalere Auffassung des Christentums schätzen und äußerte sich später viel milder und wohlwollender über seine zwar andere, aber nicht weniger christliche Frömmigkeit. Eindrücklich beschreibt sie die Freiheit in ihrer Beziehung und die Kompromisse, die beide Ehepartner einzugehen bereit waren: „Die Verschiedenheit unserer Gesinnung kostete mir zwar viele Opfer, erforderte große Klugheit und Wachsamkeit, damit ich nicht meinen Glauben verläugne und doch meinen Mann weder ärgere noch stoße [….]. Ja, oft muß ich ihn bewundern, wenn christliche Freunde uns besuchen, zuerst nach mir fragen und bei Tische hauptsächlich ihr Wort an mich richten, wo er meist nur stummer Zuhörer ist, mit welcher Liebe er darauf dringt, daß ich sie auf ’s beste bediene und, so lange sie nur wünschen, logire. Seine Liebe und Demuth gewinnt ihm aber auch die Herzen aller solcher Gäste. […] Seit dem Tode seines Vaters, der tief auf ihn wirkte, lernte er Christum als das einzige Heil der Sünder erkennen und an ihn glauben; darüber bin ich seiner Seele wegen nun beruhigt.“18
Anna bezeichnete ihre Ehe auch noch nach vielen Jahren als eine glückliche19 und dichtete zu ihrer silbernen Hochzeit 1819 folgende Zeilen: „Auch dank ich dir, so gut ich kann, Du lieber, treuer, guter Mann, Daß du so liebevoll mich trägst, Und schonend meine Schwachheit pflegst.“20
Dreizehn Kinder wurden den beiden geboren, drei von ihnen starben noch als Kleinkinder. Anna nahm ihre Aufgabe als Mutter als eine pädagogische und geistliche ernst. Das oberste Ziel war ihr, ihren Kindern die Liebe Gottes nahezubringen. Davon legen ihre „Mutterworte“ zu Taufe, Konfirmation und Eheschließung, aber auch die Schilderung von Erziehungsproblemen in ihren Briefen Zeugnis ab. Im mütterlichen Amt erkannte sie ein geistliches und ein Sinnbild für Gottes Wirken am Menschen: „Alle deine Wünsche, deine Sorgen Hast du nieder in Sein Herz gelegt;
17 18 19 20
A. a. O., 24. Schlatter, Nachlass II, 149f. Vgl. a. a. O., 150. Schlatter, Gedichte, 69.
Erweckliche Spiritualität – Anna Schlatter-Bernet (1773–1826)
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Und du wirst, vom Abend bis zum Morgen, Mütterlich von Ihm verpflegt.“21
Anna kannte die Großfamilie, in der Gäste ein- und ausgingen, aus ihrem Elternhaus. Dieses Erbe führte sie nun in ihrem eigenen Haus weiter. Das vielfältige Beziehungsnetz zu Persönlichkeiten des kirchlichen Lebens im In- und Ausland, aus Pietismus und wissenschaftlicher Theologie und über die Konfessionsgrenzen hinweg wurde aufrechterhalten durch eine riesige Korrespondenz und durch persönliche Besuche. Nur wenige Male ist Anna selbst zu ihren Freunden gereist: 1816 ins Allgäu, 1818 in den Schwarzwald, 1820 nach Basel und Beuggen und 1821 durchs Rheintal bis ins Wuppertal. Das war ihre längste Reise, von der sie einen ausführlichen Reisebereicht verfasst hat.22
2.
Spiritualität als Gastfreundschaft
Bevor Anna Schlatters Spiritualität inhaltlich genauer bestimmt werden soll, muss auf einen auffälligen, scheinbar nur formalen Aspekt ihrer Religiosität eingegangen werden, der aber ihr Leben lang grundlegend blieb: Ihre Frömmigkeit lebte aus dem Dialog, der Beziehung und dem Austausch mit Freundinnen und Gleichgesinnten. Diese intensive schriftliche und persönliche Gesprächskultur war ihr Lebenselixier, weshalb sie die Freiheit, auch weiterhin geistliche Freundschaften zu pflegen, zur Bedingung ihrer Vermählung mit Hector Schlatter machte. Ihr Leben lang suchte sie die Nähe zu Glaubensgeschwistern, auf die zutraf, was sie einst bei Nette Lavater gefunden hatte: Eine „Freundin, mit der ich ohne mißverstanden zu werden, über Christus und sein Reich mich unterhalten und der ich mein ganzes Herz, so wie es ist, zeigen könnte […].“23 Zu Recht fasst Marianne Jehle-Wildberger das Wirken der St. Gallerin würdigend zusammen: „Freundschaften zu knüpfen – und Freundschaften zu bewahren –, gehörte zu den großen Gaben Anna Schlatters.“24 So waren denn im Schlatterschen Haus hinter der reformierten Stadtkirche St. Laurenzen nicht nur erweckte Reformierte und Lutheraner zu Gast, sondern auch rationalistisch gesinnte Geistliche, wie etwa der Stadtpfarrer und Professor Peter Scheitlin.25 Darüber hinaus zeichnete es Anna aus, dass sie einen ungezwungenen und freien Umgang mit Katholiken pflegte, sowohl mit St. Galler Würdenträgern wie vor 21 22 23 24 25
A. a. O., 26. Vgl. Schlatter, Nachlass I, LXXX––CXIX. A. a. O., XXIII. Jehle-Wildberger, Schlatter, 162. Vgl. a. a. O., 85.
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allem mit Vertretern der katholischen Erweckungsbewegung aus dem Allgäu. Zu ihnen gehörten u. a. der spätere Regensburger Bischof Johann Michael Sailer, die Pfarrer Martin Boos, Johannes Gossner und Ignaz Lindl sowie der St. Galler Priester Herenäus Haid, über den sie schrieb: „[…] weil wir so nahe am Kloster wohnen, wurde er unser Hausfreund, der uns recht oft zu allen Tageszeiten ohne alle Meldung besucht, sich unter uns setzt, uns einen Psalm, ein Capitel der Schrift oder eine seiner Predigten vorliest, mit uns spricht oder die Kinder auf seinen Schooß nimmt, welche ihn unbeschreiblich lieb haben und jede Stunde zählen, bis er wiederkommt. Er ist der ungenirteste Mensch, den ich je sah, voll Lebendigkeit und Heiterkeit […]. Allein er hat eine erfreuende Furchtlosigkeit, wenn es ein Zeugniß von Christi gilt.“26
Für Anna war die Beherbergung christlicher Freunde in ihrem Haus nicht nur eine selbstverständliche Christenpflicht, sondern die Grundlage ihrer Ekklesiologie. Durch die geistliche Gemeinschaft wurde ihr das Haus zu einem Tempel des Heiligen Geistes. Dass aber diese Gastfreundschaft wohl oft an ihre Kapazitätsgrenzen stieß, von der St. Galler Bürgerschaft argwöhnisch betrachtet wurde27 und viel von den übrigen Familienmitgliedern und Hausangestellten abverlangte, geht aus folgender Beschreibung hervor: „Aber ja eine große, köstliche Freude wurde mir von Christo in Sailern gesandt. Du weißt, daß er drei Freunde mitbrachte. Zwei davon […] logirten bei uns, auch Hr. Pfr. N. und seine Frau, die darum baten, Sailern bei uns kennen lernen zu dürfen, es wäre also gegen die Liebe gewesen, ihnen das Logis abzuschlagen […]. Sailer aß am 22. bei uns, wo achtzehn Personen, mit unsern größeren Kindern, am Tische saßen; am 21. aßen wir bei H., nach Tisch beim Kaffee waren zwölf Geistliche in unserer Stube, elf katholische, und am Abend hielt S. eine Rede […] in unserer Gaststube, wo etwa 38 Personen beisammen waren, und dadurch wurde sie mir zum Tempel eingeweiht. Auch konnte ich dreimal allein mit Vater Sailer über alles reden, was ich wünschte […]. So war eine wahre Versammlung der Heiligen bald in diesem, bald in jenem Zimmer unsers Hauses, die Verheißung Gottes dadurch erfüllt und jedes Plätzchen gleichsam geheiligt.“28
26 Schlatter, Nachlass II, 97 (Brief an Nette Gessner, 9 3.1814). 27 Bereits 1864 kann sich ihr Großsohn und erster Biograph Franz Michael Zahn über diesen Umgang nur noch wundern: „Auch ihre evangelischen Freunde glaubten, Anna warnen zu müssen und allerdings ist die Naivität dieses Umgangs zwischen den Gliedern zweier Kirchen […] für uns heute unerklärlich. Wenn katholische Geistliche in evangelischen Häusern übernachteten, […] mit evangelischen Frauen correspondirten, sie geistliche Mutter nannten, wenn eine evangelische Frau an dem Arm katholischer Priester durch die Straßen St. Gallens ging, einen katholischen Geistlichen aufforderte, bei der Einweihung ihres Hauses die Weihrede zu halten […], so war das gewiß auffällig.“ Schlatter, Nachlass I, LVIII. Auch Nette Gessner nahm Anstoß am Umgang ihrer Freundin mit katholischen Männern. Vgl. Schlatter, Nachlass II, 111 (Brief an Nette Gessner, 26. 10. 1814). 28 Schlatter, Nachlass II, 109f (an Nette Gessner 2. 10. 1814).
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Was Anna in ihrem Haus praktizierte, erwartete sie umgekehrt auch auf ihren Reisen und Besuchen. Insofern ist der Bericht ihrer Deutschlandreise an der Seite ihres späteren Schwiegersohns Friedrich Wilhelm Röhrig im Sommer 1821 von großem Interesse.29 Der Zweck dieser Reise war kein touristischer. Beeindruckende Gebäude oder Natursehenswürdigkeiten zu besuchen, interessierte Anna nicht. Von militärischen Bauten, etwa der Festung Ehrenbreitstein gegenüber von Koblenz am Rhein, fühlte sie sich geradezu abgestoßen: „der Anblick dieser Festung, an welcher stark gearbeitet wurde, machte nun dem Thränenstrom in meinem Herzen durch die Augen Luft. Ach, mit welcher Mühe, dachte ich, schaffen sich Menschen Sicherheit vor Menschen, um aus diesen Verschanzungen Mord und Tod zu verbreiten.“30
Das Ziel ihrer Reise lag für Anna einzig darin, „Gott kennen zu lernen in seinen Kindern und in diesen mich seiner zu freuen.“31 Wo immer sie absteigen musste, ohne bei christlichen Freunden einkehren zu können, fühlte sie sich fremd. Wo bloß äußere Pracht und Schönheit zu finden waren, sehnte sie sich nach der himmlischen Heimat, „heim nach oben hin, wo innerer, göttlicher Glanz diese äußere Schönheit vergessen machte“.32 Ganz anders war es hingegen dort, wo sie Gastfreundschaft erleben und mit Gleichgesinnten austauschen, sprechen und beten konnte. Solche Zusammenkünfte lobt Anna in den höchsten Tönen und vergleicht sie mit der Gemeinschaft der ersten Christen: „Da blieben wir nun alle einmüthig beisammen in einem Saale, sangen, sprachen, aßen, freuten uns und weinten und beteten zusammen nach Herzenslust, wie es vielleicht im ersten Jahrhundert geschehen sein mag.“33 Die Gabe der Freundschaft bildete für sie das höchste Gut. Über ihren Reisebegleiter schreibt sie: „Ein solcher Freund, ist eine Gabe Gottes, köstlicher als Gold“.34 Als Freundin wurde Anna Schlatter auch zur Seelsorgerin für viele.35 Mit großer Einfühlsamkeit, Ernsthaftigkeit und Bestimmtheit ging sie auf die Glaubens- und Lebensfragen ihrer Briefpartner ein. Zuallererst war sie Beraterin, Mahnerin und Fürbitterin ihrer eigenen Kinder, dann auch Ratgeberin ihrer Freunde in Fragen der Kindererziehung und Trösterin in Glaubenszweifeln und -nöten und schließlich Fürsprecherin ihrer angefeindeten katholischen Freunde.
29 30 31 32 33 34 35
Vgl. dazu Jung, Schlatters Deutschlandreise. Schlatter, Nachlass I, CV. A. a. O., XCIX. A. a. O., C, (Hervorhebung im Original). A. a. O., LXXI. A. a. O., XCII. Vgl. dazu Gebhard, Schlatter 147–156.
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3.
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Spiritualität als gelebte reformatorische Theologie
Form und Inhalt theologischen Denkens und Lebens bedingen sich gegenseitig und gehören auch in Anna Schlatters Glaubensleben aufs engste zusammen. Ihre Spiritualität ist inhaltlich geprägt von reformatorischen Grundüberzeugungen, die im Folgenden anhand von vier Stichworten, die nach Christian Möller und Peter Zimmerling für reformatorische Spiritualität grundlegend sind, dargelegt werden sollen. Möller erinnert an das lutherische magnificare peccatum.36 Zimmerling sieht die existentielle Dimension reformatorischer Theologie in der ebenfalls auf Luther zurückgehenden Trias oratio, meditatio, tentatio begründet.37
3.1
Magnificare peccatum – Ringen mit der Sünde
Christian Möller beschreibt reformatorische Spiritualität im Anschluss an Luther. Es gehe darum, „die Sünde als Riss meiner Existenz groß zu machen, damit ich durchlässig und atmungsfähig für Gottes Geist und für das mich umgebende Geheimnis der Wirklichkeit werde.“38 Dabei sei von Sünde aber immer nur im Licht der Vergebung und im Blick auf das Kreuz zu sprechen. Zu dieser Einsicht musste sich Anna Schlatter erst nach und nach durchringen. Im frühen Briefwechsel mit Nette Lavater dominiert noch ein übersteigertes Sündenbewusstsein, mit dem sie fast kokettiert, wenn sie schreibt, dass ihre Heiligung so gar keine Fortschritte mache: „Ach, ich habe keinen Eifer zum Gebete und bin wahrlich den kalten Weltmenschen, denen nichts an Christus liegt, in meinem Thun und Lassen ähnlicher, als den Christen, die Alles um des Herrn willen thun!“39
Doch immer mehr unterzog Anna im Lichte der Kreuzestheologie auch ihre Selbstanklage einer radikalen Kritik. Vor Gott könne es kein Verdienst geben, auch nicht das der eigenen Sündenerkenntnis, und keinen Ruhm, auch nicht den des eigenen Glaubens. Gegen alle frühere Selbstgerechtigkeit und Selbstkasteiung habe sie erkennen müssen, dass sie sich auf nichts eigenes, „auch nicht auf meinen geschenkten Glauben und meine erbettelte Liebe stützen könne zum selig werden, weil beide so gebrechlich und elend seien, sondern nur allein auf das Opfer Christi am Kreuz.“40 So kann sie schliesslich 1817 ganz paulinisch 36 37 38 39 40
Vgl. Möller, Riss, bes. 44–49. Vgl. Zimmerling, Integration, 127. Vgl. ders., Spiritualität, 38f. Möller, Riss, 46. Schlatter, Nachlass II, 11 (Brief an Nette Gessner, 30 5.1795). A. a. O., 485 (Brief, 29. 4. 1818).
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formulieren: „Wer allen Glauben an sich selbst verloren hat und mit beiden Händen den umfaßt, welcher für ihn alles ist und hat, der ist der glückliche, in dessen Schwachheit die Kraft Christi mächtig wird.“41 Im Nachhinein stilisiert Anna Schlatter ihren Glaubensweg als eine plötzliche Befreiung von dem überfordernden Kampf gegen die Sünde und dem ebenso aussichtslosen Streben nach Heiligung und Vollkommenheit hin zur reformatorischen Erkenntnis, dass der Glaubende gerade nichts aus sich selbst macht, sondern sich ganz der fremden Gnade Christi überlässt: „So führte ich ein mühevolles Leben […]; ich wollte rein werden, wie Christus, wollte Herr werden über meine Natur, kämpfte und stritt mich halb zu Tode und kam nicht weiter, blieb immer die alte und wollte neu werden; ich konnte mich nicht ertragen, wie ich war, und konnte doch keinen Sieg über mich erringen […]; endlich in meinem dreißigsten Jahr 1804 umfing mich nach heißen Kämpfen, Aengsten und Gebeten die Freundlichkeit Christi […]. Ich fühlte, die Liebe Christi sei des Gesetzes Erfüllung […]. Nun verlernte ich allmählich das Kämpfen und selbst das Wirken und lernte das Ueberlassen.“42
3.2
Oratio – Gottessuche im Gebet
„Erlöse uns von uns selber! Dies ist die schwerste Kette, die wir nachschleppen, wir selbst.“43 Es war ein langer Weg, um zu diesem wohl schwersten Gebetsanliegen vorzudringen. Als Gessners Bewerbung auf die Pfarrstelle an St. Peter in Zürich 1792 scheiterte, obwohl Nette und Anna Gott „so andächtig und dringend wie möglich“44 darum gebeten hatten, stieß dies die beiden Freundinnen in eine tiefe Glaubenskrise: „[…] unser aller Gebet ist nun nicht erhört! Gott, lebst du nicht mehr?“ Für Anna war das aber gerade kein Grund, das Beten aufzugeben. Es wäre ein doppelter Sieg Satans, so argumentiert sie, wenn Menschen, die sich von Gott verlassen fühlen, ihrerseits nun Gott verlassen.45 Im Gegenteil, gerade in der Nichterhörung und in der Unlust zu beten entdeckt Anna die biblisch so wichtige Gebetsform der Klage: „Wenn Du keine Lust zum Gebete hast […], so sage es ganz kindlich, einfältig zu Gott, daß Du einen Abscheu ob dem Gebete habest, daß Du ganz kalt seiest, kein Vertrauen zu ihm und zu seiner Liebe zu Dir habest, daß Du glaubest, es sei ihm nichts an Dir gelegen, klage es ihm.“46 41 42 43 44 45 46
A. a. O., 293 (Brief, 9. 1. 1817). A. a. O., 483f. (Brief, 29.4. 1818). A. a. O., 295 (30. 3. 1817). Schlatter, Nachlass I, 5 (Brief an Nette Gessner, 25. 9. 1792), dort das folgende Zit. Vgl. a. a. O., 6. Schlatter, Nachlass I, 7 (Brief an Nette Gessner, 3. 11. 1792).
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Beten heißt für Anna Schlatter ganz im Sinne der Erweckungsbewegung und der Romantik, das menschliche Herz vor Gott und für ihn zu öffnen. Dabei betont sie, dass es weniger auf die Länge oder kunstvolle Formulierung ankomme als darauf, dass „das Herz dabei ist“.47 Das Gebet soll „eine kurze Darlegung dessen vor Gott sein, was unser kindlich Herz vor ihm zu bitten“, zu danken und zu loben habe. Zum Gebet gehört somit die Freiheit. Anna lehnte deshalb jeden äußeren Zwang, kirchlich oder liturgisch, ab und kritisierte am Katholizismus, dass Gebete und Liturgien oft „ohne Herzensdrang und Glauben“48 gesprochen und zelebriert würden. Nichts Menschliches soll dem menschlichen Gebet vor Gott fremd sein. So formulierte Anna auch Themen und Hoffnungen im Gebet, die von der traditionellen reformierten Dogmatik und Frömmigkeit abgelehnt wurden. In der Schrift gebe es weder ein Verbot noch einen Auftrag zur Fürbitte für die Verstorbenen. Wozu die Schrift aber nichts sage, das dürfe in aller christlichen Freiheit praktiziert werden. Aufgrund der Verheißung Jesu sei deshalb auch für Verstorbene „ganz gläubig und freudig“ Fürbitte zu tun. „Wo der Geist Christi ist, da ist Freiheit, auch im bitten.“ Zur menschlichen Freiheit und Ermächtigung zum Gebet gehört aber immer auch die Wahrung der Freiheit Gottes. Das Gebet ist keine magische Praxis, die Erfüllung unserer Wünsche liegt bei Gott. Was Anna in jungen Jahren in schwere Glaubenskrisen gestürzt hatte, das reifte allmählich zur Erfahrung, dass auch die scheinbare Nichterhörung einer Bitte eine neue Perspektive eröffnen kann, selbst auf Krankheit und Leiden hin. An ihre Tochter Anna schrieb sie: „Du hast also schon oft um Deine Gesundheit gebeten und Dein l[ieber] h[immlischer] Vater hat Dir diese gute Gabe noch nicht geschenkt; so will er vielleicht Deiner Bitte die vollkommenere Gabe schenken, mit einem kränkelnden Leibe dennoch getrosten Muthes und unverzagt zu thun, was Du immer vermagst.“49
Manche Gebete hat Anna in Gedichtform verfasst und dabei ihren eigenen Grundsatz hintergangen, dass Gebete nicht lang und kunstvoll sein sollen. Doch zeigen gerade diese Gedichte, dass ihr ganzes Denken und Handeln vom Gebet durchdrungen war. Aus ihren poetischen Texten, die sie für Familie und Freunde zu Taufen, Konfirmationen, Hochzeiten, Jubiläen oder auch nur für sich selbst zu kirchlichen Feiertagen verfasst hat, kommt uns weniger eine große dichterische Begabung entgegen als vielmehr eine Spiritualität, die bis an die Grenzen des theologisch Denkbaren vordringt. So gehört es zur Konsequenz ihres Glaubens 47 A. a. O., CXIII, wo sie in ihrem Reisebericht aus Deutschland ein zu langes Gebet in einem Wuppertaler Gottesdienst kritisiert. Dort die beiden folgenden Zit. 48 Schlatter, Nachlass II, 279 (Brief an Tochter Margaretha, 8. 3. 1824). Dort die beiden folgenden Zit. 49 Schlatter, Nachlass I, 152 (Brief an Tochter Anna, 12. 8. 1823; Hervorhebung im Original).
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an die Größe und Liebe Gottes, dass ihre Hoffnung auf die endgültige Erlösung keine Grenzen kannte. Die in der Theologiegeschichte umstrittene Lehre von der Wiederbringung aller und der eschatologischen Verwandlung alles Bösen in Gutes begegnet bei Schlatter gerade nicht in Form einer Lehre, sondern, wie es für ihre Spiritualität charakteristisch ist, im brieflichen Gespräch50 und im Gebet. „Wir grübeln nicht über Dinge die uns nichts angehen, aber wir wissen: zu ihm, in ihm, von ihm sind alle Dinge […].“51 Das Gebet ist somit der rechte Ort, um von der Hoffnung zu sprechen, die alles menschlich Denkbare übersteigt. Es ermöglicht die Erfahrung, dass Gottes Erbarmen keine Grenzen kennt. In einem Gedicht mit dem vielsagenden Titel „Beim Tode eines Menschen, wo wenig Hoffnung für seine Seligkeit ist“, legt Schlatter die Gebetsworte gerade nicht dem Sterbenden in den Mund, sondern formuliert sie in Form einer Fürbitte. Damit entgeht sie einem gesetzlichen Missverständnis, dass der Sterbende doch noch von sich aus etwas zu seiner Seligkeit hätte beitragen können: „Wenn ich, in diesem Menschen ganzem Leben Nicht eine Tugend weiß hervorzuheben, So beugt sich vor Dir mein Geist. Ach, Dein Erbarmen kennet keine Schranken, Es übersteiget menschliche Gedanken.“52
3.3
Meditatio – Leben mit der Schrift
Zeiten der Lektüre und Meditation der Heiligen Schrift waren für Anna eine Lebensnotwendigkeit und mussten ihrem ausgefüllten Tagesablauf oftmals hart abgerungen werden. Als die Familie ihr Haus in der St. Galler Altstadt erweiterte, plante Anna nicht nur den Neubau, sondern hatte auch die Bauleitung inne. Ein Zimmer, die sogenannte ‚rote Stube‘, war ganz für sie reserviert. Hierher zog sie sich fortan zu Gebet und Bibellektüre sowie zu eigenem Schreiben zurück.53 Aus der täglichen Stille schöpfte sie Kraft für ihre Haus- und Familienarbeit, ihre Tätigkeit als Geschäftsfrau und ihr Wirken als Ratgeberin und Seelsorgerin in ihrem weiten Freundeskreis. So war die Freude jeweils groß, „wenn ich nach vollbrachtem Tagewerk allein in meine liebe Stube gehn darf, da bin ich wie im Himmel.“54 Auch wenn es beim alltäglichen Arbeitspensum nicht immer einfach
50 51 52 53 54
Vgl. Schlatter, Nachlass I, 131–144 (Briefe an Töchter Anna und Cleophea, Ende 1822). A. a. O., 144 (Brief an Tochter Cleophea, November 1822). Schlatter, Nachlass III, 103. Vgl. dazu auch Gebhard, Schlatter, 153f. Vgl. Jehle-Wildberger, Schlatter, 121f. Schlatter, Nachlass II, 122 (Brief an Nette Gessner, 20. 12. 1815).
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gewesen sein mag, „wenigstens ein paar Stunden kann ich doch jeden Tag ganz allein sein, und das schmeckt mir so köstlich […].“55 All ihre Schriften, Briefe, Gedichte und Aufsätze sind von biblischem Geist durchdrungen. Anna Schlatter lebte mit der Bibel, wobei sich auch ihr Schriftverständnis im Laufe ihres Lebens vertiefte. Ihre Tante und geistliche Mutter Nette Römer-Weyermann half ihr nicht nur über ihre schwere Glaubenskrise 1804 hinweg,56 sondern gab ihr auch den entscheidenden hermeneutischen Grundsatz im Umgang mit der Schrift weiter: „[…] bedenke immer den Zusammenhang einer Schriftstelle, ehe du die Anwendung davon machst.“57 In späteren Jahren konnte Anna ihre Schriftmediation und -auslegung in paulinischer Freiheit mit 2Kor 3,6.17 zusammenfassen: „Der Buchstabe tötet, der Geist aber macht lebendig. […] Wo der Geist des Herrn ist, da ist Freiheit.“58 In ihrer Auseinandersetzung mit dem katholischen Domscholastikus Johannes Waldhäuser aus Linz, dem gegenüber sie ihren Freund Martin Boos verteidigte, schöpfte Anna Schlatter aus ihrem reichen biblischen Fundus, vor allem aus den Evangelien und den paulinischen Briefen. Selbstbewusst erklärte sie dem katholischen Theologen die protestantischen Grundsätze der Rechtfertigung aus Glauben allein oder der Freiheit in Glaubensdingen und argumentierte dabei in aller Selbstverständlichkeit mit den biblischen Texten, die sie durch lebenslange Lektüre und Meditation verinnerlicht hatte. Es war ihre tiefe Vertrautheit mit der biblischen Botschaft, die ihr Selbstsicherheit und Mut verlieh, Lehre und Predigt der Amtsträger beider Großkirchen kritisch zu beurteilen. Dabei fiel auch ihre Einschätzung der aufklärerischen St. Galler Pfarrerschaft und deren Bibelauslegung vernichtend aus: „Unsere reformirten Reformationsfest-Feierer kennen zum Theil kaum die Bibel, für welche die ersten Reformatoren Leib und Leben wagten, und welche die Katholiken so heißhungrig suchen und lesen, oder wenn sie sie kennen und das Bibelbuch hoch rühmen, so rühmen sie eben nur das Buch und nennen seine Kraft und Erfüllung Schwärmerei, tragen ihr Wasser in die heilige Kraftspeise hinein und behaupten, es sei nie Wein oder Geist da gewesen, ihr Wasser müsse als das einzig reine und stärkende Ding erkannt werden.“59
55 56 57 58
A. a. O., 160 (Brief an Nette Gessner, 29. 12. 1822). Vgl. Jehle-Wildberger, Schlatter, 41. Schlatter, Nachlass I, LV. So z. B. Schlatter, Nachlass II, 420 (Brief an Johannes Waldhäuser, 8. 1. 1816) oder a. a. O., 279 (Brief an Tochter Margarethe, 8. 3. 1824). Vgl. auch Vorwort zu den Mutterworten: Schlatter, Aufsätze, 64: „Es ist auch mit allen Mutterworten nichts, wenn nicht der heilige Geist das todte Wort belebt.“ 59 Schlatter, Nachlass II, 388f. (Brief an Pfr. Johann Caspar Stumpf, 8. 12. 1818).
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In Anna Schlatter begegnet uns nicht nur eine eindrückliche theologische Autodidaktin,60 die ihre Argumentationen biblisch belegte, sondern auch eine Christin, die ganz im Sinn Martin Luthers den Mut und den Sachverstand hatte, die verkündete kirchliche Lehre zu beurteilen.61
3.4
Tentatio – Glauben in der Anfechtung
Lebenslang war Anna Schlatters Spiritualität begleitet von Anfechtungen, Zweifeln und Glaubenskrisen. Gerade darin erweist sich ihre Frömmigkeit als lebendig und realitätsnah. Die tentatio ist die Kehrseite ihrer intensiven und lebendigen Gebetstfrömmigkeit. Anna machte die Erfahrung, dass Selbstreflexion und Selbstbeobachtung immer tiefer in die Verzweiflung und die Sündenerkenntnis hineinführen, während umgekehrt das ehrliche Gebet, das Klage und Zweifel zulässt, den Blick frei macht für die Hilfe in aller Anfechtung: „In mir selber finde ich Zweifel ohne Zahl; Deine Nähe, ach Herr, Dich! Fühl’ ich kaum einmal. […] Schenke neues Leben mir, Neuer Liebe Trieb; Zieh mich innig hin zu Dir, Mit der alten Lieb’.“62
Wenn Martin Luther tentatio in Erweiterung der mittelalterlichen contemplatio als diejenige Dimension des Glaubens beschreibt, die sich im Alltag der Welt, in Beruf und Familie, Politik und Gesellschaft, zu bewähren hat,63 so findet sich genau das in der Spiritualität von Anna Schlatter wieder. Über die Glaubensanfechtung im engeren Sinn hinaus, reflektierte die St. Gallerin die Relevanz ihrer Glaubenserfahrung in den politischen, kulturellen und gesellschaftlichen Herausforderungen ihrer Zeit. Als wache und kritische Zeitgenossin erkannte sie, wie sehr die gesellschaftlichen Realitäten den Glauben herausfordern und in Frage stellen. So beklagte sie sowohl die Euphorie als auch die Furcht, die in der Schweizer Bevölkerung herrschten, als die französischen Truppen einmarschierten und der Alten Eidgenossenschaft 1798 ein Ende bereiteten. Auch in 60 61 62 63
Vgl. Jehle-Wildberger, Schlatter, 149. Vgl. dazu Luther, Daß eine christliche Versammlung. Schlatter, Nachlass III, 43f (aus Gedicht „Die Klage“). Vgl. Zimmerling, Integration, 128f.
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diesen Umbrüchen sah sie aber Gott am Werk. Die Menschen seien seine Werkzeuge, weshalb beide, „die Franzosenliebe und Franzosenfurcht“64, unangebracht seien. Gerade in äußerer Not und Verzweiflung habe sich der Glaube zu bewähren. Auch wenn „noch dunklere Nacht, noch nähere Angst und Noth“ zu erwarten seien, hoffe sie auf Gott, der ihren Glauben erhalten werde. In ganz realistischer Weise diagnostizierte Anna Schlatter bereits am Ende des 18. Jahrhunderts den bis heute beklagten Verlust der öffentlichen Relevanz des christlichen Glaubens: „Ach, es ist nur zu wahr, daß das Christenthum in unseren Tagen keinen Sitz und Stimme mehr hat, besonders bei öffentlich und also weit wirkenden Menschen, die an der Spitze ganzer Völker Ton angeben.“65
Im Laufe ihres Lebens erkannte Anna immer klarer, dass Glaube als Vertrauen auf Gottes Hilfe in allen Anfechtungen niemals ein Besitz ist, sondern immer eine Verheißung bleibt. Ganz im Sinne des evangelischen Glaubensverständnisses von Mk 9, 24 („ich glaube, hilf meinem Unglauben“) verwies sie auf ihre eigene geistliche Armut: „[…] ich habe ihm gar nichts zu bringen, keinen Glauben, keine Liebe, […] und sein unendlich Verdienst muß ich mir stündlich wieder schenken lassen zu allem.“66 Zu den größten Anfechtungen in ihrem Leben gehörte wohl die Einsicht, dass sie auch ihre Kinder nicht festhalten, sondern in Freiheit und im Vertrauen auf Gott loslassen musste, gerade wenn sie Wege gingen, die sie selbst nicht teilen konnte. Als sich 1818 die älteren Töchter dem Apokalyptiker Hans Jacob Schäfer, einem Naturheiler aus dem Appenzeller Land, anschlossen, sich religiös radikalisierten und von der Mutter abwandten, geriet Anna erneut in eine tiefe Krise. Es muss zu heftigsten Auseinandersetzungen zwischen der Mutter und den fanatisierten Töchtern gekommen sein, fand doch Anna deutliche Worte der Ablehnung, ohne aber ihren Grundsatz zu verleugnen, dass nur Gott helfen könne und der Dienst der Mutter allein im Gebet und im Freilassen der Kinder bestehen könne. Im übrigen trifft manches ihrer Analyse der sektiererischen Gruppierung von damals bis heute für religiöse Gemeinschaften mit totalitärer Tendenz67 zu: „In dieser Geisteskrankheit meiner Kinder, die sie für die höchste Gesundheit und mich für krank halten, geht’s mir wie Dir […]; ich fühle nämlich tief, da hilft Niemand, als der Herr; den muß und will ich betend anrufen, […] denn jede Einrede und Widersprechen macht sie, wie alle Schwärmer und Sectirer nur fester, und jede Verhinderung an den Gesellschaften, Gängen und Dingen, welche sie in ihren Irrthümern befestigen, halten sie für Verfolgung und stärken sich um so mehr unter einander zur Treue an ihrem 64 65 66 67
Schlatter, Nachlass II, 18 (Brief an Nette Gessner, 23. 2. 1798), dort das folgende Zit. Schlatter, Nachlass II, 197 (Brief, 13. 5. 1798). A. a. O., 269 (Brief, 22. 3. 1818). Vgl. dazu z. B. Vontobel u. a. (Hg.), Paradies, 233.
Erweckliche Spiritualität – Anna Schlatter-Bernet (1773–1826)
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Glauben. Sie hängen sich nur an wenige Personen […], welche ganz mit ihnen einstimmen, und sonst genügt ihnen Niemand.“68
4.
Spiritualität als ökumenische Offenheit
Zur Wiederentdeckung Anna Schlatters in der Gegenwart haben wohl besonders die ökumenische sowie die im folgenden Kapitel zu besprechende mystische Dimension ihrer Frömmigkeit beigetragen. Sie faszinieren bis heute und machen einen wesentlichen Teil der Aktualität ihrer Gedanken aus.69 Die St. Gallerin pflegte einen ebenso intensiven wie unverkrampften Austausch und Umgang mit Lutheranern wie mit römisch-katholischen Laien und Würdenträgern. Die räumliche Nähe des St. Galler Kathedralbezirks zur reformierten Bürgerstadt wurde für Anna zu einer spirituellen Nähe. Die Entdeckung, dass ein gelebter Glaube konfessionelle Schranken überwindet, war für sie von so großer Bedeutung, dass sie alle Berührungsängste gegenüber katholischen Ritualen und Frömmigkeitspraktiken ablegen und selbst mit Klerikern auf Augenhöhe kommunizieren konnte. Ihre ökumenische Gesinnung fasst sie so zusammen: „Uebrigens denke ich […] ganz verschieden mit Euch, weiß von keiner Scheidewand und trage […], was ich kann, bei, die Scheidewand nieder zu reißen. Lehre auch meine Kinder so denken. Nur der Glaube und die Liebe bildet einen Christen.“70
So freute sie sich auch über die beginnende Annäherung von Lutheranern und Reformierten und bezeichnete die Trennungen der Reformationszeit als dem Evangelium zutiefst widersprechend: „Allerdings sehe ich’s auch gerne, daß Lutheraner und Reformirte sich endlich einmal auch von außen Brüder nennen und hiemit den Fleck aufheben, den die ersten Reformatoren sich selbst dadurch anhingen, daß sie dies nicht thun wollten. Lutheraner hätten sie nicht heißen sollen, weil der Glaube von keinem Menschen herstammen kann, und Reformirte hätten sie sich nicht nennen sollen, bis sie erneuerte Herzen hätten, die Alles lieben, was Gottes ist; wenn sie evangelische Christen heißen, so wollen wir beten, daß Jesus Christus uns alle dazu mache.“71
Ihre Vision einer ökumenischen Gemeinschaft aller wahrhaft Glaubenden auf der Grundlage des verbindenden Apostolischen Glaubens formuliert die St. Gallerin so: 68 Schlatter, Nachlass II, 142 (Brief an Nette Gessner vom 14. 6. 1818). 69 Vgl. den Titel „Weltoffen und interkonfessionell“ im Aufsatz von Jehle-Wildberger, Weltoffen, 184. 70 Schlatter, Nachlass II, 113 (Brief an Nette Gessner, 26. 10. 1814). 71 Schlatter, Nachlass I, 47 (Brief an Friedrich Wilhelm Röhrig, 10. 10. 1817).
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„Noch nähre ich die Hoffnung, die Zeiten werden sich nähern, wo nicht mehr gefragt werden wird: bist du Paulisch oder Apollisch, sondern bist du christlich? wo wir alle uns noch unseres gemeinschaftlichen Glaubensbekenntnisses, welches von vielen Gliedern aller drei Kirchen täglich gebetet wird: […] auch gemeinschaftlich freuen werden.“72
Inhaltlich bildet nebst Glaube und Liebe die Kreuzestheologie das Kriterium wahrhaft christlicher Predigt, wie Anna in der Verteidigung der Predigttätigkeit von Martin Boos schreibt: „[…] predigt ein Lehrer gegen die Lehre des Kreuzes, gegen Glauben und Liebe, so sollte und dürfte er seines Amtes entsetzt werden als ein untreuer Arbeiter.“73 Demgegenüber schmerzte es sie unendlich, als sich ihr Freund Johann Michael Sailer von der Erweckungsbewegung und ihrer ökumenischen Ekklesiologie abwandte und sich, um schließlich die Bischofsweihe zu erhalten, der römischen Kurie beugte: „Ach, es thut so wehe, daß er das Wort römisch dem apostolisch-katholisch immer beifügt und sich unbedingt dem Papste unterwirft, und alles frühere, was anders gelautet hat, widerruft. […] Er war immer klug in Stellung seiner Ausdrücke, aber die heilige, allgemeine, verborgene Kirche Christi in allen Confessionen bekannte er als seine Mutter, und nun die römische.“74
Die Betonung des Gemeinsamen gegenüber dem Kontroversen sowie das Niederreißen der trennenden Schranken bedeutete auch, dass Anna bereit war, von Katholiken zu lernen, ohne dabei ihre eigenen innersten Überzeugungen zu verleugnen. Als sie aufgrund eines Briefwechsels mit Novizinnen des Kapuzinerinnenklosters Zug zur Feier der Einkleidung eingeladen wurde, lehnte sie zwar die Teilnahme ab, schickte den Nonnen aber eine Anzahl Neuer Testamente. Daraufhin schenkten diese den Kindern Annas ein Kruzifix aus Wachs, was die Mutter wiederum sehr erfreute.75 Ihre Biographin Marianne Jehle-Wildberger vermutet, dass auch das für damalige reformierte Frauen ungewöhnliche Schmuckstück in Form eines Kreuzes, das auf dem einzigen Gemälde von Anna Schlatter als Anstecknadel auf ihrem Sonntagskleid zu sehen ist, von einem katholischen Freund oder einer Freundin stammt. Das Porträt illustriert zudem ihre ökumenische Gesinnung dadurch, dass im Hintergrund die beiden barocken Münstertürme zu sehen sind, nicht aber der Turm der reformierten St. Galler Stadtkirche.76 Dank des intensiven Austauschs mit ihren Freunden aus der Ökumene entdeckte Anna Schatter den hohen Wert der Sakramente, sodass zu ihrer ökume-
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Schlatter, Nachlass II, 397 (Brief, 1. 8. 1815). A. a. O., 405 (Brief, 14. 11. 1815). A. a. O., 151 (Brief an Nette Gessner, 1. 5. 1821). Vgl. Schlatter, Nachlass I, LIX. Vgl. Jehle-Wildberger, 29.98.
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nischen auch die sakramentale Spiritualität gehört. Besonders das Abendmahl hatte für ihr Glaubensleben zentrale Bedeutung. Über die Gewissheit der Sündenvergebung und der Gotteskindschaft hinaus suchte Anna im Abendmahl die Vereinigung mit Christus selbst. Nicht nur Christus für uns, sondern auch Christus in uns werde im Mahl erfahren. Insofern geht ihre Abendmahlsfrömmigkeit über das reformierte und lutherische Verständnis hinaus und weist bereits auf die mystische Dimension ihrer Spiritualität hin: „Uns ist nun das Abendmahl, so gewiß wir es glaubend und liebend genießen, Pfand der Vergebung aller unserer bereuten Sünden, Versicherung der Kindschaft Gottes, der Mittheilung des heiligen Geistes, und des ewigen Lebens nach dem Tode, weil uns Jesus dies Alles mit und durch seinen Tod erworben hat. Dies nennt die heilige Schrift: Christus für uns. Aber es ist uns, wenn wir in wahrhaftigen Glauben hinzunahen, nicht nur Pfand seines Verdienstes für uns, sondern es vereiniget uns mit ihm selbst, und diese Vereinigung mit Christo nennet die Schrift: Christus in uns.“77
Als biblische Belege für diese Vereinigung nennt Anna die johanneische Brotrede, die Abschiedsreden Jesu, vor allem Joh 17,20f, sowie das Gleichnis vom Weinstock und den Reben. Entscheidend sei dabei, dass das Abendmahl keine bloß intellektuelle Erinnerungsfeier bleibe, sondern seine Kraft wirklich auf den Glaubenden übergehe und dem inneren Menschen wahre Teilhabe an Christus verleihe. Erst durch die Verbindung mit Christus im Mahl entstehe auch die Verbindung mit den Brüdern und Schwestern.78 Anna kritisierte die dürftigen liturgischen Formeln der Reformierten Kirche und bedauerte, dass sie das Abendmahl nicht in lutherischer Form feiern konnte.79 Sie vermisste in der St. Galler Liturgie „beinahe allen Geist, Kraft und Salz“80 und beanstandete, dass „das h[eilige] Abendmahl nur als Gedächtnismahl angesehen und ausgetheilt“ werde. Den Glauben an die Realpräsenz verband sie mit dem johanneischen Gedanken der Wiedergeburt aus dem Geist. Nur der geistliche Mensch erkenne im Sakrament die geistige Wirklichkeit und erfahre dadurch Stärkung, Vereinigung und Ausrüstung zum Leben in den Versuchungen dieser Welt.
77 Schlatter, Aufsätze, 86f (Worte mütterlicher Liebe zur Erinnerung an den Bund mit Gott. Aufgezeichnet für ihre Tochter A[nna] zum Confirmationstage im December 1815; Hervorhebungen im Original). 78 Vgl. a. a. O., 115f (Verschiedene Worte aus einem warmen Mutterherzen in ein zartes Kinderherz geleget am Confirmationstage im April 1810). 79 Vgl. Schlatter, Nachlass I, CXXIIf. 80 A. a. O., 166 (Brief an Tochter Anna, 1824), dort das folgende Zit.
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„Seitdem ich das Abendmahl in diesem Sinne als eine geistige Mittheilung seines göttlichen Wesens genieße, werde ich allemal dadurch neu gestärkt, mächtig erhoben, mit ihm näher vereinigt, tüchtiger zum Kampf gegen alles ungöttliche.“81
5.
Spiritualität als mystischer Weg
Alles bisher Gesagte lässt erkennen, dass Schlatters Spiritualität eine zutiefst mystische war. Hier zeigt sich eine durchgehende Linie, die das Erbe Lavaters zeitlebens bewahrte, wenn auch charakteristisch verwandelte. Die mystische Seite von Annas Frömmigkeit blieb erhalten und hat sich im Laufe ihres Lebens biblisch, rechtfertigungstheologisch, christologisch und sakramental vertieft. Durch den Katholiken Johann Michael Sailer und den Allgäuer Pietismus wurde Anna zur Lektüre des reformierten Mystikers Gerhard Tersteegen angeregt, aus der sie großen Gewinn zog. 1814 schrieb sie, dass sie sich immer mehr von allem Äußeren löse und das „Einssein mit Christus“82 suche, wozu ihr insbesondere das Abendmahl helfe.83 Zwar war ihr bewusst, dass auch „auf dem Wege der innigsten Vereinigung mit Christus saure Tritte, die Leidensgemeinschaft“84 vorangehe, doch wäre es eine „schädliche Bescheidenheit, wenn wir meinen, es sei zu viel für uns, mit dem Herrn selbst vereinigt zu werden […].“85 Letztlich ging es Anna Schlatter auch hier um das Einstimmen des ganzen Menschseins in den Willen Gottes. Spiritualität bedeutet, sich dem Wirken des Geistes Gottes zu öffnen, frei zu werden vom eigenen Willen und sich dem göttlichen zu unterwerfen. Auf ihrer Suche nach unmittelbarer Gotteserfahrung und Freiheit von allen äußeren Hilfen ging sie indes so weit, die reformatorische Hochachtung der Schrift hinter sich lassen und selbst die Bibel als hinderliche Äußerlichkeit zu betrachten: „Ja, während dem Lesen selbst verliere ich mich oft, daß ich das Buch zumachen muß; und wäre es die Bibel selbst, und zu meinem Gott sprechen muß: Unterrichte mich aus dir; du bist ja mein Gott und dein guter heil. Geist kann mich, wie jene, in alle Wahrheit leiten! […Ich glaube,] dass in Gott allein Ruhe, Glück und Seligkeit zu finden sei und nie und auf keine Weise in uns oder außer uns ohne Gott […]. Mein ganzes Verlangen geht nur dahin, daß ich zu dieser Vereinigung meines Willens mit dem Willen Gottes noch in diesem Leben gelangen möge.“86
81 82 83 84 85 86
Schlatter, Nachlass II, 324 (Brief, 1. 10. 1809). A. a. O., 88 (Brief an Nette Gessner, 20. 1. 1814). Vgl. a. a. O. 345 (Brief, 6. 1. 1810). A. a. O., 91 (Brief an Nette Gessner, 27. 1. 1814). A. a. O., 346 (Brief, 7. 1. 1810). A. a. O., 508f (Brief, 5. 3. 1820).
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Wohl am schönsten kommt die mystische Spiritualität Schlatters in ihrem an Tersteegen erinnernden Gedicht „Mein Verlangen“87 zur Sprache: „In Gott hinein! Da findest du mein Herz, In deiner heißen Sehnsucht Schmerz Befriedigung, und reine Lust Für deinen Hunger in der Brust, In Gott sinkst du, in’s Liebesmeer, Und Alles schwindet um dich her.“
6.
Würdigung
Zusammenfassend sei auf drei Merkmale der Spiritualität Anna Schlatters hingewiesen, die für gegenwärtiges Nachdenken über evangelische Glaubenspraxis und für die Erneuerung einer reformatorischen Spiritualität relevant erscheinen: 1. Anna Schlatters Spiritualität entwickelte sich von Anfang an im Dialog mit Freundinnen und Freunden. Die uns erhalten gebliebenen Briefe weisen weit über sich hinaus auf eine lebendige Gesprächskultur, die sich in der Hausgemeinschaft, am Tisch mit Gästen, auf Spaziergängen und Reisen ereignete. Diese Begegnungen und Gespräche wurden dann wiederum reflektiert, vertieft und weitergeführt in der ausführlichen Korrespondenz. Wenn die ältesten Schriften des Neuen Testaments Briefe sind und die Briefkultur zu einem Kennzeichen reformatorischer Kommunikation des Evangeliums geworden ist, so stellt sich die Frage, was das im Zeitalter der elektronischen Kommunikation zu bedeuten hat. Die Praxis des christlichen Glaubens ist eine soziale, sie lebt aus persönlichen Begegnungen und Interaktionen und kann nicht auf den lebendigen Dialog verzichten. Die Beschäftigung mit Anna Schlatter gibt Impulse, Gastfreundschaft als wesentliches Merkmal einer christlichen Spiritualität neu zu entdecken, Spaziergänge und Pilgerwege als äußere Rahmen für die Kommunikation des Evangeliums zu würdigen und der Seelsorge in ihrer mündlichen und brieflichen Form neue Aufmerksamkeit zu schenken. 2. Regelmäßige Gebets- und Meditationszeiten waren ein fester Bestandteil im Tagesablauf der St. Gallerin. Die ‚rote Stube‘ als privater Rückzugsort erinnert an eine klösterliche Zelle. Hier schöpfte sie Kraft für ihr Wirken nach außen. Diese Rückzugsmöglichkeit steht in keinem Widerspruch zur obengenannten Sozia87 Schlatter, Nachlass III, 5–8, hier die zweite Strophe, 5. Vgl. dazu Gerhard Tersteegens Lied in EG (Ausgabe Rheinland und Westfalen) 661,2: „Ich bete an die Macht der Liebe, / die sich in Jesus offenbart; / ich geb mich hin dem freien Triebe, / wodurch ich Wurm geliebet ward; / ich will, anstatt an mich zu denken, / ins Meer der Liebe mich versenken.“
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lität, sondern bedingt sie. Anna Schlatter konnte verbinden, was im Protestantismus oft zum Schaden beider Seiten auseinandergerissen wurde, individuelle Frömmigkeit und gemeinschaftliche Spiritualität, Rückzug ins stille Kämmerlein und Wirken in der Öffentlichkeit, Kontemplation und Aktion. Lebendige Spiritualität entsteht gerade in dieser Wechselwirkung und bedarf sowohl der Einkehr und Ruhe wie auch des aktiven Engagements in der Gesellschaft, so wie es in manchen Kommunitäten und an Orten der Stille in der Gegenwart praktiziert wird.88 3. Anna Schlatter gilt als eine weltoffene Christin, die konfessionelle Schranken mutig überschritten hat. Es war gerade ihre christuszentrierte und biblisch orientierte Frömmigkeit, die es ihr ermöglichte, Gesprächspartnerin über die eigenen kirchlichen Grenzen hinaus zu werden. Ihre ökumenischen Kontakte gründeten in der Überzeugung, dass Einheit nicht äußerlich hergestellt werden muss, sondern schon längst da ist, sofern sich Menschen verschiedener Tradition und Herkunft unter dem Kreuz Christi die Hand reichen. In gut pietistischer Tradition hat sie die konfessionellen Grenzen und kirchlichen Formen aufgrund der praxis pietatis relativiert. Allein Glaube und Liebe machen den wahren Christen aus, alle von Menschen gemachten Trennungen seien obsolet. Aus dieser Überzeugung hat Anna Schlatter auch das nötige Selbstbewusstsein gezogen, für ihre angefeindeten katholischen Freunde einzustehen und das Gespräch mit Andersdenkenden zu suchen. Die reformatorische Rechtfertigungslehre blieb ihr dabei maßgebend, nicht als Lehre, sondern als existentiell durchlebte Rechtfertigungserfahrung verbunden mit einem lebenslangen Ringen, Gottes Gnade auch recht ergreifen zu können.
Literatur Quellen Schlatter, Anna, Anna Schlatters schriftlicher Nachlass für ihre Angehörigen und Freunde, Bd. 1: Gedichte, hg. von F[ranz] L[udwig] Zahn, Moers 1835. –, Anna Schlatters schriftlicher Nachlass für ihre Angehörigen und Freunde, Bd. 2: Kleinere Aufsätze, hg. von F[ranz] L[udwig] Zahn, Moers 1835. –, Leben und Nachlass, Bd. 1: Leben und Briefe an ihre Kinder, hg. von F[ranz] M[ichael] Zahn, Elberfeld 1864 [kurz: Nachlass I]. –, Leben und Nachlass, Bd. 2: Briefe an ihre Freunde, hg. von F[ranz] M[ichael] Zahn, Elberfeld o. J. [kurz: Nachlass II]. –, Leben und Nachlass, Bd. 3: Gedichte und kleinere Aufsätze, hg. von F[ranz] L[udwig] Zahn, 2. Aufl., Elberfeld o. J. [kurz: Nachlass III]. 88 Vgl. z. B. Aeppli/Corrodi/Schmid (Hg.), Kirche.
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Forschungsliteratur Aeppli, Alfred/Corrodi, Hans/Schmid, Peter (Hg.), Kirche im Miteinander von Ortsgemeinden, Kommunitäten und Bewegungen, Zürich 2011. Dahlgrün, Corinna, Die Gabe, die Geister zu unterscheiden. Von den Kriterien christlicher Spiritualität, in: Kunz/Kohli Reichenbach (Hg.), Spiritualität, 81–97. Gebhard, Rudolf, Anna Schlatter-Bernet (1773–1826). Seelsorge im Raum der Ökumene, in: Zimmerling, Peter (Hg.), Evangelische Seelsorgerinnen. Biographische Skizzen, Texte und Programme, Göttingen 2005, 142–157. Jehle-Wildberger, Marianne, Weltoffen und interkonfessionell: Anna Schlatter-Bernet, in: Brodbeck, Doris (Hg.), Dem Schweigen entronnen. Religiöse Zeugnisse von Frauen des 16. bis 19. Jahrhunderts, Würzburg/Markt Zell 2006, 184–203. –, Anna Schlatter-Bernet 1773–1826. Eine weltoffene St. Galler Christin, St. Gallen/Zürich 2003. Jung, Martin H., Anna Schlatters Deutschlandreise 1821. Beobachtungen und Erlebnisse einer erweckten Schweizerin im Wuppertal und in Württemberg, in: Litz, Gudrun/ Munzert, Heidrun/Liebenberg, Roland (Hg.), Frömmigkeit – Theologie – Frömmigkeitstheologie. Contributions to European Church History, FS für Berndt Hamm, Leiden 2005, 689–705. Kunz, Ralph/Kohli Reichenbach, Claudia (Hg.), Spiritualität im Diskurs. Spiritualitätsforschung in theologischer Perspektive, Zürich 2012. Luther, Martin, Daß eine christliche Versammlung oder Gemeinde Recht und Macht habe, alle Lehre zu urteilen und Lehrer zu berufen, ein- und abzusetzen, Grund und Ursache aus der Schrift 1523, in: ders., Ausgewählte Schriften, hg. von Karin Bornkamm/Gerhard Ebeling, Bd. 5, Frankfurt am Main 21983, 7–18. Möller, Christian, Der heilsame Riss. Impulse reformatorischer Spiritualität, Stuttgart 2003. Schindler, Regine, Die Memorabilien der Meta Heusser-Schweizer (1797–1876), Pfarrherren, Dichterinnen, Forscher. Lebenszeugnisse einer Zürcher Familie des 19. Jahrhunderts, Bd. 1, Zürich 2007. Vontobel, Jacques u. a. (Hg.), Das Paradies kann warten. Gruppierungen mit totalitärer Tendenz, Zürich 1992. Zimmerling, Peter, Integration der Spiritualität in das Studium der evangelischen Theologie, in: Kunz, /Kohli Reichenbach (Hg.), Spiritualität, Zürich 2012, 125–142. –, Evangelische Spiritualität. Wurzeln und Zugänge, Göttingen 22010. –, Starke fromme Frauen. Begegnungen mit Erdmuthe von Zinzendorf, Juliane von Krüdener, Anna Schlatter, Friederike Fliedner, Dora Rappard-Gobat, Eva von TieleWinckler, Ruth von Kleist-Retzow, Gießen/Basel 42009.
Christine Axt-Piscalar
„Ohne die Höllenfahrt der Sündenerkenntnis ist die Himmelfahrt der Gotteserkenntnis nicht möglich“ Die Spiritualität Friedrich August Gottreu Tholucks (1799–1877)
1.
Bedeutung, Leben und Wirken
Friedrich August Gottreu Tholuck, geboren 30. März 1799 in Breslau, gestorben am 10. Juni 1877 in Halle, ist der wirkungsvollste Repräsentant der deutschen Erweckungstheologie des 19. Jahrhunderts. Er vereinigt sowohl biographisch als auch in seinem Schrifttum die für die Frömmigkeit der Erweckungsbewegung charakteristischen Elemente. „Reiner Erweckungstheologe gewesen und geblieben ist der eine Tholuck und keiner neben ihm“.1 Für das Selbstverständnis der erweckten Kreise ist die Reflexion auf die religiöse Entwicklung des Einzelnen vom Zustand des Nichtwiedergeborenseins zum Glauben und Leben als Wiedergeborener zentral. Insofern nähert man sich Tholucks Frömmigkeit in einem ersten Schritt am besten über einen Einblick in sein Leben und Wirken. An seiner religiösen Biographie lassen sich bereits Grundzüge erweckter Spiritualität ablesen. Als Quelle dafür ist allem voran Tholucks stark autobiographisch gefärbter Traktat „Die Lehre von der Sünde und vom Versöhner oder: Die wahre Weihe des Zweiflers“ heranzuziehen, den der 24jährige auf Drängen Berliner erweckter Kreise hin verfasst hat.2 Er kann als exemplarischer Gesamtausdruck erweckter Spiritualität gelten. Als ein solcher ist er rezipiert worden und zeitigte eine enorme Wirkungsgeschichte. Erschienen im Frühjahr 1823, wurde er noch im selben Jahr dreimal neu aufgelegt und erreichte bis 1871 neun Auflagen. Übersetzungen ins Englische, Niederländische, Französische, Dänische und Schwedische zeugen von der Ausstrahlungskraft dieses Traktats. Darin legt Tholuck in Gestalt zweier Freunde, die sich in Briefen wechselseitig von ihrer religiösen Entwicklung erzählen, Zeugnis ab von dem Weg der Bekehrung und Wiedergeburt, den er selbst durchlebt hat. Es ist ein Traktat, 1 Barth, protestantische Theologie, 460. 2 Vgl. Tholuck, Lehre von der Sünde.
Höllenfahrt der Sündenerkenntnis und Himmelfahrt der Gotteserkenntnis
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in dem unzählige Erweckte den Weg und Charakter ihrer eigenen Frömmigkeitsbildung ausgedrückt sahen; und es ist zugleich ein Traktat, der in emphatischem Ton wirbt für den Weg der Bekehrung, welcher die existenzielle Suche des Einzelnen zu befriedigen vermag und ihn zu einer neuen Kreatur werden lässt. Neben diesem Buch, das in besonderer Weise einen Eindruck von der Spiritualität der Erweckungsbewegung gibt, sind es Tholucks Predigten und seine überlieferten Gebete, die den Geist erweckter Frömmigkeit vermitteln und lebendig werden lassen. Sodann ist auf seine ebenfalls vielfach aufgelegten Beiträge zur Exegese, vor allem seinen Römerbriefkommentar, seine Kommentierung des Johannesevangeliums, des Hebräerbriefs und der Psalmen hinzuweisen. Tholuck sucht darin die historisch-philologisch arbeitende wissenschaftliche Exegese mit einer „der Stimme des Heiligen Geistes gemäßen Auslegung der Heiligen Schrift“3 zu verknüpfen und sie auf die Auferbauung des Glaubenslebens des Einzelnen und der Gemeinde hin auszurichten. Dabei ist er von dem Grundansinnen geleitet, die biblische Heilsgeschichte als Spiegel der persönlichen wie der gemeinschaftlichen Glaubenserfahrung – gleichsam im Sinne einer Horizontverschmelzung von biblischer und gegenwärtiger Heilsgeschichte – zu verstehen zu geben. Darüber hinaus hat Tholuck mit stupendem Fleiß die Vorgeschichte und Geschichte des Rationalismus sowie den Geist des Luthertums im 17. Jahrhundert erforscht. Dies ist im Zusammenhang der Frage nach der Spiritualität Tholucks insofern erwähnenswert, als Tholuck einer allzu starken Betonung der Bedeutung der Lehrgehalte für den individuellen Glaubensvollzug kritisch gegenüberstand und die im Innersten erlebte Erfahrung als das Eigentümliche des christlichen Glaubenslebens betonte. Dies machte er gegen den zeitgenössischen Rationalismus und seine an den allgemeinverbindlichen sittlich-religiösen Gehalten orientierte Vernunftreligion ebenso geltend wie gegen eine einseitige Betonung der fides quae im Altprotestantismus. Beide Ausprägungen protestantischer Theologie und Frömmigkeit sah er demselben Fehler verhaftet. Beiden hielt er die innere Erfahrung des religiösen Subjekts – die Herzensfrömmigkeit – und die Gewissheit, die diese mit sich führt, entgegen. „Bleibt die Wahrheit bei euch ein bloßes Wetterleuchten im Kopfe, so wird es mit diesem kalten Wetterleuchten bei euch auch nicht lange währen, zumal in dieser Zeit – sobald sie einmal unter die Spötter und Zweifler kommt, wird eure angelernte Weisheit im Nu weggeblasen, wie man ein Licht ausbläst. Wer dagegen die christliche Wahrheit im Herzen und nicht im Kopfe hat, bei dem arbeitet sie sich auch herauf, verschafft sich auch in seinem Denken das Recht, wie der lebendige Keim aus der dunklen Erde zum Tageslicht dringt“.4 3 Aus Tholucks Vorrede zum Römerbriefkommentar, zit. nach Schellbach, Tholucks Predigt, 16. 4 Tholuck, Predigten IV, 47.
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Es liegt in der Fluchtlinie seiner Abgrenzung gegenüber einer Überbetonung der Bedeutung des Lehrgehalts für den Glaubensvollzug, dass Tholuck auch zum zeitgenössischen Erstarken des Konfessionalismus auf Distanz ging und – bei aller Verehrung für Luther – für den überkonfessionellen Charakter des christlichen Glaubens warb. Von daher befürwortete er die Preußische Union und wurde zum Mitbegründer der Evangelischen Allianz. Tholuck wuchs in Breslau als Sohn eines einfachen Handwerkers in einem kinderreichen Haushalt auf und hatte unter mancherlei äußeren Entbehrungen und innerlicher Not zu leiden. Bevor er durch die Erfahrung von Bekehrung und Wiedergeburt zu einem neuen Leben im Glauben und in Liebestätigkeit gelangte, war er ein Suchender, was den Sinn seines Daseins und die Wahl seines Lebensberufes angeht; und er war nach eigenen Aussagen ein von abgrundtiefem Schwermut und Selbstmordgedanken Heimgesuchter.5 Für einen praktischen Beruf erwies sich der nicht nur seelisch, sondern auch körperlich fragile Jüngling als gänzlich untauglich. Hingegen war er mit einer stupenden Sprachbegabung ausgestattet. Bereits der Siebzehnjährige soll imstande gewesen sein, sich in 19 Fremdsprachen schriftlich auszudrücken. In einem beherzten Schritt entschloss sich der junge Tholuck, nach Berlin zu gehen, um orientalische Philologie zu studieren. Die orientalische Mystik, in die er sich fortan vertiefte und über die er auch einige akademische Schriften verfasst hat, vermochte die Herzenssehnsucht des jungen Mannes nicht wahrhaft zu stillen. Dies änderte sich erst, als er unter dem Einfluss des Orientalisten Heinrich Friedrich von Diez und insbesondere dem des Barons Hans Ernst von Kottwitz den erweckten Kreisen Berlins zugeführt und in deren geistliche Gemeinschaft aufgenommen wurde. „Berlin war bestimmt ihm ein Damaskus zu werden, der ehrwürdige Kottwitz mehr als ein Annanias; dies hat er selbst in der ‚wahren Weihe des Zweiflers‘ bekannt“.6 In Berlin schlug Tholuck den akademisch-theologischen Weg ein und wurde gegen den erklärten Widerstand Friedrich Daniel Ernst Schleiermachers und unter Protektion des preußischen Kultusministers Karl Freiherr Stein von Altenstein 1821 zunächst Privatdozent und 1823 außerordentlicher Professor. Die mittlerweile mächtig erstarkten religiös-konservativen Kräfte setzten sich mit Nachdruck dafür ein, dass Tholuck 1826 in Halle, wo die mit etwa 950 eingeschriebenen Studenten größte Theologische Fakultät im Land war, Ordinarius wurde. Tholuck sollte, was dem Interesse auch der politischen Behörden entsprach, ein kräftiges Gegengewicht gegen die in Halle, der damaligen Hochburg des Rationalismus, waltende Lehr- und Denkungsart bilden. Über viele Jahre hinweg hatte Tholuck einen schweren Stand in Halle. Das Collegium hatte ein Veto gegen seine Berufung eingelegt, und die Studenten 5 Vgl. Kähler, Tholuck, 5. 6 A. a. O., 7.
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äußerten ungeniert ihren Unmut über seine Vorlesungen, die ihnen zu erbaulich erschienen. Erst nach und nach gewann Tholuck die studentische Hörerschaft für seine erweckte theologische Denkungs-, Glaubens- und Lebensart, bis er in den 1840er Jahren zur prägenden Figur der Hallenser Fakultät wurde. Tholuck zog Studierende aus ganz Deutschland und auch den USA an, darunter viele Methodisten, deren religiösem Grundansinnen seine eigenen Überzeugungen nahestanden. Zur nachhaltigen Wirkung Tholucks trugen vor allem seine in Halle kontinuierlich gehaltenen Predigten bei, in denen er anhand der biblischen Texte seine eigene Glaubenserfahrung zur Sprache brachte, und zwar auf eine Weise, dass sich die Hörer mit ihrem je persönlichen Glaubensleben in seiner Predigt wiedererkannten. Er dachte „in dem Gedanken seiner Hörer, zweifelte mit ihren Zweifeln, suchte sie auf in ihren Anfechtungen, ging auf sie ein, sprach ihre Sprache und warb um sie. So stand er als Mensch, als Herzenskenner, als Seelsorger auf der Kanzel, der allzeit die schweren Erschütterungen, Anfechtungen und Leiden seines eigenen Herzens und seiner eigenen Herzensgeschichte mit Gott vor Augen hatte. Seine Erschütterung, seine Erhörung, seine Befreiung und Erfahrung der Vergebung teilte sich den Hörern mit. Er selbst wurde ihnen als Person ein Zeichen, Beispiel und Zeuge des gnadenreichen Handelns Gottes“.7
Auch führten Tholuck und seine Frau ein offenes Haus, in dem die Kommilitonen zur Pflege geselliger und vor allem geistlicher Gemeinschaft willkommen waren.8 Weit mehr als durch seine wissenschaftliche Arbeit wirkte Tholuck als Seelsorger. Durch persönliche Gespräche auf dem Tholuck’schen Sofa und auf langen Spaziergängen in und um Halle, durch gemeinsames Gebet, den wechselseitigen Austausch eigener religiöser Erfahrung im regen Briefverkehr sowie in persönlichen Begegnungen gewann Tholuck die Herzen unzähliger Studenten. Darin sind – neben der Predigt und dem gemeinsamen Bibelstudium – die besonderen Medien zu sehen, durch welche erweckte Frömmigkeit sich darstellt, wechselseitig mitteilt und in anderen geweckt wird. Der „Studentenprofessor“ lebte und wirkte – unterbrochen von vielen Reisen ins nahe und ferne Ausland und einem Jahr als Gesandtschaftsprediger in Rom – bis zu seinem Tod in Halle. Unter seinem und dem Einfluss seines theologisch gleichgesinnten, in der wissenschaftlichen Durchführung versierteren Fakultätskollegen und Freundes Julius Müller,9 dem er im Julius, einem der beiden Brieffreunde in der „wahren
7 Schellbach, Tholucks Predigt, 91. 8 Auf Wunsch Tholucks hat seine Frau späterhin ein Wohnhaus für bedürftige Studenten unterhalten. 9 Vgl. die ausführliche Darstellung von Julius Müllers Sündenlehre bei Axt-Piscalar, Ohnmächtige Freiheit, 26–140.
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Weihe des Zweiflers“, ein Denkmal gesetzt hat, wurde die Hallenser Fakultät von einer ehemaligen Bastion rationalistischen Denkens zum Zentrum erweckt geprägter Glaubenslehre und Frömmigkeit. Zusammen mit Julius Müller bekämpfte Tholuck nicht allein den Rationalismus, insofern dieser die christliche Religion an den Maßstäben vernünftiger Einsicht ausrichtete, um sie für die sittlich-religiöse Überbildung des Menschen in Anspruch zu nehmen, die er wiederum als eine Aufgabe des selbsttätigen Vollzugs des Subjekts begriff, das am Erlöser nur mehr noch sein sittlich-religiöses Vorbild hat. In dieser Auffassung von der christlichen Religion sah Tholuck sowohl die Radikalität der Sünden- und Schulderfahrung als auch die Bedeutung des Heilswerkes Jesu Christi verkannt. Tholuck agitierte ebenso heftig gegen den spekulativen Geist, der in Gestalt Hegels das zeitgenössische philosophische und ebenso das theologische Denken zunehmend ergriffen hatte. Hegels Philosophie kritisierte Tholuck unumwunden als Pantheismus und in der Alleinheitslehre sah er einen Gottesgedanken am Werk, in dessen Horizont der Einzelne in seiner individuellen Besonderheit unterzugehen droht. Gegenüber dem Anspruch des philosophischen Begriffs, der aus der Sicht Tholucks alles Besondere der Allgemeinheit des Denkens unterwirft, machte Tholuck die individuelle Erfahrung10 in ihrer begriffsresistenten Unmittelbarkeit geltend und mit ihr dasjenige, was er im spekulativen Denken nicht eingeholt, ja geradezu vernichtet sah: Das Individuum und sein individuelles Seligkeitsbedürfnis, das sich nur in einem absoluten Du geborgen fühlen kann. So heißt es in Tholucks Traktat vom Gebet des Einzelnen zu Gott: „Im Du und Ich schmeckte er ein Urgefühl des Lebens, welches keine unbedingte Allgemeinheit zu gewähren vermochte“.11 Tholuck hob gegen das unpersönlich gedachte Absolute der spekulativen Alleinheitslehre die Bedeutung des personalen Gottesgedankens als für das religiöse Verhältnis unaufgebbar hervor.12 Denn von dem unpersönlich gedachten Absoluten kann das fromme Ich nichts für sich erwarten – „das kleine Menschenherz mit seinen großen Bedürfnissen kennt [es] nicht, und wenn es wund 10 Tholuck, Lehre von der Sünde, 7: „Sein Herz […] habe aus Erfahrung kennen lernen, was Wahrheit sei, aus einer Erfahrung, so gewiß nur irgend eine andere seyn könne.“ A. a. O., 29 heißt es: „Ja Erfahrung, und immer wieder nur Erfahrung kann Sünde Natur und Macht erkennen lehren“. 11 A. a. O., 6. 12 Tholuck, Predigten II, 4f: „Ist das, was du dein stilles Beten nennst, stets nur eine fromme Betrachtung gewesen, so ist es niemals aufgeflammt in Anrede an den Lebendigen, so hast du überhaupt noch nicht die Natur des Gebetes erkannt, denn das ist es ja eben, was das Gebet von der bloß frommen Betrachtung unterscheidet, daß im Gebet der angeredete Gott auch eine Gestalt für den Menschen gewinnt und vor die Seele hintritt und ihr so menschlich nahe kommt. […] Und warum willst du diesen Gott nicht anreden? Giebt es kein göttliches Du für dich?“
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ist, kann [es dasselbe] nicht heilen“.13 Mit der Betonung des personalen Gottesgedankens in seiner Bedeutung für das religiöse Bewusstsein deutet sich ein Argument an, das nicht nur für die Auseinandersetzung mit dem Gottesgedanken der spekulativen Philosophie von Belang ist, sondern auch diejenigen Formen religiöser Mystik trifft, in denen das Ich in der Einheit mit Gott als dem Alleinen aufzugehen bestimmt ist. Tholuck hielt dem entgegen: „Seine eigne Persönlichkeit giebt Keiner auf, und giebt er diese nicht auf, so auch nicht die Persönlichkeit seines Gottes“.14 Auch die Erfahrung von Sünde und Schuld, welche, wie noch zu zeigen ist, die Erweckungstheologie im zeitgenössischen Kontext mit besonderem Nachdruck wieder zur Geltung brachte, bildet ein zentrales Moment, um die Unvertretbarkeit des Einzelnen und seine individuelle Besonderheit als einen Grundzug christlicher Frömmigkeit zu behaupten. Denn in der selbstsüchtigen Abkehr von Gott und der darin sich manifestierenden Freiheit zeigt sich, wenn auch im Modus ihrer Verkehrung, die individuelle Selbständigkeit des Subjekts. Und diese sah Tholuck in den pantheistischen Systemen und den Formen einer rein mystischen Religion nicht gewahrt, vielmehr vernichtet.15
2.
Grundmomente erweckter Spiritualität
Das Seligkeitsbedürfnis des menschlichen Herzens, die individuelle Erfahrung abgrundtiefer Sündenverfallenheit und Schuld, die durch Bekehrung und Wiedergeburt hindurch erfahrene Versöhnung im Glauben an den Erlöser, der tägliche Kampf gegen das erneute Aufkeimen der Sünde, die stete Ausrichtung des Wiedergeborenen auf ein geheiligtes Leben im Glauben an den Erlöser und der Liebestätigkeit in der Nachfolge, die geistliche Gemeinschaft im wechselseitigen Austausch eigener religiöser Erfahrung, im gemeinsamen Bibelstudium und Gebet, das eschatologische Bewusstsein, Glied der geheiligten Gemeinde des Herrn zu sein und in der Zeit der Entscheidung zum Heil oder zum Gericht zu leben – diese Momente prägen im Wesentlichen die Herzens- und Lebensbewegung der Erweckungsfrömmigkeit, von der Tholuck aus eigener Erfahrung heraus Zeugnis ablegte, an die er die einzelnen Seelen heranzuführen und für die er sie zu gewinnen suchte.
13 Tholuck, Lehre von der Sünde, 12 (im Original gesperrt). 14 A. a. O., 131. 15 Vgl. dazu Axt-Piscalar, Ohnmächtige Freiheit, 6–25.
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Christine Axt-Piscalar
Das Seligkeitsbedürfnis des Menschen
In seinem Erweckungstraktat beschreibt Tholuck von sich selber – und darin sieht er ein existenzielles Grundbedürfnis des Menschen ausgedrückt –, wie er als junger Mann „unter dem Drucke der Schranken der Endlichkeit“16 von der Frage „Wozu bin ich geboren?“17 bewegt und von der Sehnsucht, „Ruhe in das vielbewegte Herz“18 zu bekommen, umgetrieben gewesen sei. Endliche Güter und weltliche Vergnügungen, welcher Art auch immer, aber auch die Welt des akademischen Studiums und des philosophischen Geistes vermögen dieses Bedürfnis, das von den Fragen: Wer bin ich? und Was bin ich? durchdrungen ist,19 nicht wahrhaft zu stillen. In dieser Unruhe des menschlichen Herzens20 spiegelt sich die Gottebenbildlichkeit des Menschen – dass er „göttlichen Geschlechts“21 und zur Gemeinschaft mit Gott bestimmt ist – wider, die ein unauslöschlicher Funke in der Seele des Menschen ist.22 Alle weltliche Umtriebigkeit vermag die existenzielle Unruhe nicht wahrhaft zu befriedigen, überspielt sie vielmehr nur und lenkt den Einzelnen von der wahren Selbsterkenntnis ab, welche die Voraussetzung dafür ist, zu erkennen und zu ergreifen, von woher ihm die Stillung seines Grundbedürfnisses, die Erlösung, naht. Auch die Philosophie stellt für den Suchenden keinen Weg dar, letztgültige Antworten auf die existenziellen Fragen des Menschen zu bekommen. Dies vermag allein die Religion, genauer diejenige Religion, die zur wahren Selbsterkenntnis und durch sie hindurch zur wahren Gotteserkenntnis führt. „Auf dem Wege hat das Christenthum die Welt erobert. Es ist […] aufgetreten […] als Befriedigung des Seligkeitsbedürfnisses des Menschen“.23
2.2
Die Höllenfahrt der Selbsterkenntnis
Solche wahre Selbsterkenntnis, so mahnt Tholuck beharrlich an, führt allein über den steinigen und rückhaltlosen Weg der Erkenntnis abgründiger eigener Sündenverfallenheit. „Ohne die Höllenfahrt der Sünderkenntniß ist die Himmelfahrt der Gotteserkenntniß nicht möglich“.24 Der Einzelne muss sich darauf einlassen, 16 17 18 19 20 21 22 23 24
Tholuck, Lehre von der Sünde, 1. A. a. O., 2 (im Original gesperrt). A. a. O., 4. Vgl. a. a. O., 5. Vgl. a. a. O., 37 mit Bezug auf Augustin: „unser Herz ist unruhig, bis es ruhet in dir“. Vgl. Tholuck, Stunden christlicher Andacht, 1–6. Vgl. auch ders., Predigten II, 288–299. Vgl. Tholuck, Lehre von der Sünde, 45f. A. a. O., 111. A. a. O., 23.
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„in das tiefe Grauen der eignen Brust hinabzusteigen“,25 muss die Mahnung „Gehe Du in Dich“26 beherzigen, um zu prüfen und zu erforschen, ob ihm läutet „laut genug die Grabesglocke [s]eines Gewissens die Erinnerung vergangener Thorheiten und Sünden in das vom Kämpfen müde gewordene Herz“.27 Die strenge Selbstbeobachtung und das genaue Aufdecken der eigenen Sünden in Gedanken, Worten und Taten nach Abstufungen, Graden und Formen sind grundlegend für den erweckten Frömmigkeitsvollzug.28 Dem entspricht es, dass das Tagebuch zum zentralen Medium der Reflexion auf das eigene Erleben wird. „Seit zwei Monaten halte ich mir ein Tagebuch, um in diesem Spiegel mich selbst kennen zu lernen; da habe ich deutlich gesehen, daß ich ohne Schöne bin“.29 Ebenso gehören der Austausch religiöser Erfahrung in Briefen, die wechselseitige Mitteilung religiösen Erlebens in der geistlichen Gemeinschaft sowie die Privatbeichte zu den Kennzeichen erweckter Frömmigkeit. Austragungsort der „Kriegs-Geschichte des menschlichen Herzens“,30 durch die der Einzelne hindurch muss, um zu Bekehrung und Wiedergeburt zu gelangen, ist die Gewissenserfahrung, die in der vertieften Selbsterkenntnis ausgefochten und genauestens ausgeleuchtet wird. In ihr tritt das Gewissen – Manifestation der Stimme Gottes im Menschen – als gesetzgebende und vor allem als richtende Instanz auf, die dem Individuum seine Verfehlungen vorhält, es bei seiner Schuld behaftet und es immer tiefer in die verzweifelte Erfahrung eigener Schuldverstrickung und Ohnmacht hineinführt. „Prüfe Dich und blicke in Dein Inneres, ob ich nicht schildere Deines eigenen Busens geheimste Kämpfe. Ist es nicht also, wenn das Gewissen mit fester Entscheidung Dir die Pflicht in ihrer Strenge vorhält, so geschieht es, daß wohl ein leises Regen Dich nach jener Seite hinzieht, aber wie ein schlafender Cyklop wacht daneben eine ungezügelte blinde Lust auf, die Befriedigung heischt. Nun kämpfet der blinde Riese mit dem leisen Regen, dem die göttliche Erkenntniß mächtig zur Seite steht, doch sie wird bald von dem Riesen der selbstsüchtigen Begierde verdunkelt, und wenn das Auge in uns Finsterniß worden ist, wie groß wird dann die Finsterniß seyn! Im Blinden hascht die Sünde ihre Beute. Bei verdunkelter Erkenntniß dient der Mensch der blinden Begierde, und kaum hat er im Dunkeln seinen Genuß dahin genommen, so tritt das Licht der Erkenntnis wieder rein hervor, und der innere Richter verdammt ihn.“31 25 26 27 28
A. a. O., 26. A. a. O., 17. A. a. O., 16. Schellbach, Tholucks Predigt, 98: „Als höchstes Ziel seiner Predigt gab er [Tholuck] an, Scham über die Sünde zu wecken“. Vgl. auch Tholuck, Predigten III, 341: „Wehe dem Menschen, der Sünde erkennt und sie doch thut! Wehe dem Menschen, der bewusste Sünde erkennt und sie nicht bekennt, der bekannte Sünde mit sich herumträgt, die nicht vergeben ist!“ (im Original gesperrt). 29 Tholuck, Lehre von der Sünde, 32. 30 A. a. O., 19. 31 A. a. O., 18.
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Diese „Kriegs-Geschichte des menschlichen Herzens“, der das Individuum durch die innere Stimme des Gewissens unterworfen wird, wenn es sich ernsthaft und rückhaltlos darauf einlässt, erkennt es bei Paulus im siebten Kapitel des Römerbriefs wieder. Darin sieht die erweckte Frömmigkeit den prototypischen Ausdruck des inneren Kampfes dargestellt, den der Einzelne durchzustehen hat und an dessen Tiefpunkt der Verzweiflungsruf steht „Ich elender Mensch! Wer wird mich erlösen von dem Leibe dieses Todes?“ (Röm 7,24). In diesem Kampf innerer Selbsterfahrung wird der Einzelne durch die richtende Stimme des Gewissens des Abgrundes eigener Sündhaftigkeit und Schuld schmerzvoll gewahr. Er wird zu einem heilsamen Kampf, wenn in ihm der menschliche Stolz gänzlich niedergerungen wird und der sich Ergebende sich in wahrer Demut und Selbstverzweiflung nach dem Erlöser ausstreckt, der allein ihn in seiner abgrundtiefen Schuld zu begnadigen und wahrhaft zu erneuern vermag. „Daß unser Herz nicht ist, was es seyn soll, wer bezweifelt das? Soll es aber die neue Gestalt erhalten, die vom Himmel ist, muß das steinerne Herz nicht erst zermalmt, und der stolze Geist nicht erst gebrochen werden, ehe ihn in die neue himmlische Form der göttliche Schmelzer umschmelzen kann?“.32
Die Erkenntnis eigener Sünden- und Schuldverfallenheit und die mortificatio des Sünders gehen der Erkenntnis des Heilands und dem Ergreifen des in ihm dargebotenen Heils notwendig voraus. „Buße und Selbsterkenntnis – das ist die Schwelle zu dem christlichen Tempel, zu dessen heiliger Pforte du nimmermehr gelangen kannst, ohne über diese Schwelle zu gehen.“33 Ohne die „Höllenfahrt der Selbsterkenntnis“34 kann es nach Tholuck keine wahrhafte Gotteserkenntnis, kein Ergreifen des den Sünder begnadigenden Heilandswillens, geben: „Die Gesunden bedürfen des Arztes nicht, sondern die Kranken“ (Lk 5,31).
2.3
Die Erfahrung der Wiedergeburt
Durch die Höllenfahrt der Sündenerkenntnis und das Niederringen des stolzen und selbstsüchtigen Adamssinnes hindurch führt der Weg zur Versöhnung, die in der Erfahrung der Wiedergeburt zum Durchbruch kommt. Von diesem Durchbruch in der Wiedergeburt und der Veränderung, die mit ihm einhergeht, weiß der einzelne Erweckte zu erzählen, sie oftmals genau zu datieren. „Wir können unser Geburtsjahr – Mancher von uns auf Monat und Stunde – angeben, wo ein 32 A. a. O., 22f. 33 Tholuck, Predigten II, 393. 34 Tholuck, Lehre von der Sünde, 23; hier heißt es: „Ohne die Höllenfahrt der Selbsterkenntnis ist die Himmelfahrt der Gotteserkenntnis nicht möglich“ (im Original gesperrt), ähnlich a. a. O., 8.
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neues Glauben, ein neues Lieben und Hoffen in uns begann, durch welches unser gesamter innerer Mensch nach allen Seiten hin befriedigt wurde.“35 Die Wiedergeburt wird vom Individuum erfahren als der nach langem Gewissenskampf sich einstellende Eintritt in eine neue Welt. Dieser ist freilich nur der Anfang des neuen Glaubenslebens, in dem der Wiedergeborene im Glauben wächst und sukzessive ein geheiligtes Leben zu führen versucht. „Es ist eine große Stunde, wo sich das Auge zum ersten Mal aufthut unter einem neuen Himmel, auf einer neuen Erde – es ist eine Stunde, in Wahrheit so groß, als die, wo du zum ersten Mal das Auge aufschlugst zum Lichte dieser Welt; ja sie ist größer denn diese, denn warum anders bist du hineingeboren in das Licht dieser Welt, als daß du eben in einem Scheine das Licht einer andern Welt finden möchtest. Doch mit dem Eintritt in diese neue Welt bist du noch nicht am Ende, sondern eben erst am Anfange“.36
2.4
Beständiger Bußkampf
Auch, ja gerade der Wiedergeborene muss fürderhin darauf bedacht sein, dass die Sünde sich nicht erneut in ihm regt und die Oberhand über ihn gewinnt. Er hat in beständiger Buße den inneren Feind der selbstsüchtigen Begierden niederzuringen und dem äußeren Feind der weltlichen Verlockungen zu widerstehen. „Dieser Kampf mit seinen wiederholten Niederlagen, er wird nicht nur dann und wann bei großen Entscheidungen des Lebens gekämpft, sondern täglich und stündlich streitet ihn der Mensch, je mehr das Gewissen in ihm durch den Umgang mit Gott erleuchtet wird“.37 Der Erweckte ist insofern fortwährend begleitet vom Bewusstsein eigener Sünde und Schuld und weiß sich beständig angewiesen auf die Gnade der Vergebung. „Er hatte Vergebung seiner Sünden in seiner Wiedergeburt empfangen […]. [D]ie Vergebung und Rechtfertigung aus freier Gnade [geschieht] nicht einmal im Leben […] 35 Tholuck, Gespräche über die vornehmsten Glaubensfragen, 55. 36 Tholuck, Predigten I, 95. 37 Tholuck, Lehre von der Sünde, 18. Vgl. auch ders., Ausgewählte Predigten, 55: „Prüfet euch selbst, ob ihr im Glauben steht – prüfet es daran, ob ihr täglich eure Buße erneuert vor dem Throne der Gnade und täglich aufs neue Gnade nehmet um Gnade. Nur durch tägliche Erneuerung eurer Herzen vor Gott könnt ihr sicher werden eurer Berufung. Man wird nicht in einem Augenblick zum Jünger Christi, um dann die Hände in den Schoß zu legen. O erst bei dem, der in Christo ist, kann ja das Werk der Heiligung recht beginnen. Erst er kann ja zu einer rechten Selbsterkenntnis kommen, wenn er täglich sich beschauet im Bilde seines Herrn, sich fragt, wieviel davon in seiner eignen Seele wiederstrahle; erst er kann ja sein liebeleeres Herz nicht bloß recht erkennen, sondern auch recht hassen lernen, wenn er es betrachtet gegenüber der überschwenglichen Huld und Erbarmung seines Gottes, die er ihm erwiesen hat in Christo Jesu; erst seine tägliche Buße kann eine freudige sein, weil er weiß, was aus Gnade ihm geschenkt ist, – nur seine Buße kann aber auch eine wahre Frucht der Gerechtigkeit schaffen, weil nur eine freudige Buße die Kraft zum Wachstume zu geben vermag“.
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[sie ist] die große Absolution […], die der Mensch in jeder Stunde, nach jedem Versehen, aufs Neue mit Kniebeugen annehmen muß“.38
2.5
Die Erfahrung des Zorngerichts Gottes
Während in der zeitgenössischen Theologie und Frömmigkeit die Bedeutung der Sünde vielfach relativiert, das Bewusstsein des Zornes Gottes weitgehend zurückgedrängt worden und im Blick auf Gott meist nur mehr noch von seiner Liebe und väterlichen Vorsehung die Rede war,39 ging in der Erweckungstheologie mit dem gesteigerten Sünden- und Schuldbewusstsein zugleich die Erneuerung der Rede vom Zorn Gottes einher. „Daß der Herr ein Vergelter ist, der bezahlen wird, das ist das rechte Salz im Glauben an Gott.“40 Der Wiedergeborene erfährt im Sündenbewusstsein den richtenden Gott, dessen „Zorn ein Zorn der Liebe [ist], der bei seinen Strafen allerdings den Abscheu vor der Sünde ausspricht und vergelten, aber auch den Sünder erweichen will, der die Sünde verderben, aber den Sünder erhalten möchte“.41 Der Wiedergeborene rechnet mit dem Gerichtsernst des Zornes Gottes in diesem Leben wie im eschatologischen Gericht und begreift sein irdisches Leben vor diesem Horizont als eschatologische Zeit der Entscheidung zum Glauben und des Beharrens in einem gottwohlgefälligen Leben. „[…] vom Throne der Majestät herab wird einst an euch alle der Aufruf ergehen: Mensch, wo ist deine Geschichte? Und von was willst du dann erzählen, du Aermster, wenn du zwar eine Geschichte deines Lebens in der Welt, aber nicht deines Lebens in Gott hast?“42 Wer an sich selbst den Abgrund eigener Sündenverfallenheit und Schuld erfährt und das Gericht des zornigen Gottes fürchten gelernt hat, der allein weiß sich nach der Gnade der Sündenvergebung auszustrecken und sie im Herzen zu ergreifen. Er allein vermag, die Heilsbedeutung des Wirkens Jesu Christi recht zu erfassen. „Seelen, die also ihre Ohnmacht wie ihre Sünde fühlen, sie sind die Mühseligen und Beladenen, sie sind die Krüppel an den Landstraßen und Hecken, die zur königlichen Tafel 38 Tholuck, Lehre von der Sünde, 74. 39 Vgl. Tholucks Polemik gegen die zeitgenössische Theologie und Predigt in: ders., Stunden christlicher Andacht, 127: Es sei „nicht abzuleugnen, [daß] der stets freundlich lächelnde, alle Eiterschäden verdeckende, überall und allenthalben begütigende und beschönigende Gott, den man so häufig auf den Kanzeln gepredigt hört, […| nicht der Gott der Bibel“ sei. Und a. a. O., 133: „Es ist keine Furcht vor Gott mehr in diesem Geschlechte; das beständige Predigen von der Liebe des Allvaters hat sie hinausgepredigt.“ 40 Tholuck, Stunden christlicher Andacht, 132. Vgl. zum Zorn Gottes insgesamt die Predigten a. a. O., 122–126.127–134. 41 A. a. O., 123f. 42 Tholuck, Predigten I, 165; vgl. zum Zorn Gottes auch die Adventspredigt in: ders., Predigten II, 288–299.
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geladen werden, und was sie hier empfangen, ist: Vergebung ihrer Sünden und Rechtfertigung“.43
2.6
Die Versenkung in das Lebensbild Jesu Christi
Insofern steht der gläubige Umgang mit dem Heiland für Tholuck unter dem Vorzeichen der Sünden- und Schulderfahrung. Eine bloße Vorbildfunktion des Erlösers zur sittlich-religiösen Vervollkommnung des Einzelnen vermag nicht einzuholen, worauf das der Sünde verfallene Individuum schlechthin angewiesen ist: die Versöhnung seiner Schuld. Von daher erneuerte die Erweckungstheologie die Vorstellung von der stellvertretenden Lebenshingabe Jesu Christi als Opfer für die Sünde der Welt, die in der Theologie des Rationalismus einer massiven Kritik und bei Schleiermacher einer grundlegenden Transformation unterzogen worden war. Der Glaube vollzieht sich, so betonte Tholuck, als gläubige Versenkung in den Liebes- und Leidensweg Jesu Christi bis zu seiner Hingabe am Kreuz. In der Versenkung in das Bild des Liebes- und Leidensweges Jesu Christi wird dem Frommgläubigen der Abgrund menschlicher Sünde und Schuld allererst vollends offenbar – „Unterm Kreuze Christi, empfinde ich nichts anders, als: Ja, dieses mein sündiges Herz, das hat ihn mit an’s Kreuz gebracht!“44 – und es erschließt sich ihm zugleich die Liebe des Heilands zu den Sündern, der sie durch seine Lebenshingabe mit Gott versöhnt hat und ihnen die Gemeinschaft mit Gott eröffnet. „Du hast ja die Aengsten und die Pein und die Schmach nicht verdient, so hast Du mir sie zu Gute kommen lassen, der ich sie verdient habe. Du hast an meine Stelle treten wollen, da wo die Sünder stehen, und hast mir dafür vergönnt, an Deine Stelle zu treten, da wo die Kinder Gottes stehen.“45
Der Erweckte bekennt und ergreift in seinem Herzen, dass Jesus Christus als das Lamm Gottes die Sünde der Welt und so auch seine, des Sünders, ureigene Sünde und Schuld im Tode am Kreuz auf sich genommen und ihn mit Gott versöhnt hat. „Der Erlöser in seiner mit der Gottheit identischen Menschheit ist als der Hohepriester seines Volks erschienen zu versöhnen ihre Sünden und die Scheidewand hinweg zu thun, die sie und ihren Gott von einander trennet, denn Hoherpriester ist der, welcher darbringt was sein Volk nicht kann. Sie selbst aber hatten es nicht thun können, denn was vom Fleisch geboren ist, ist Fleisch, und der neue Geist, der noch nicht in sie hineingeboren war, den konnten sie auch nicht aus sich heraus gebären – sie konnten den Gehorsam vom Gesetz gefordert nicht leisten –, ihr Herz war nicht versöhnet mit 43 Tholuck, Lehre von der Sünde, 69. 44 Tholuck, Stunden christlicher Andacht, 497f. 45 A. a. O., 495f.
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Gott, denn anstatt ihn zu lieben, waren sie vor ihm erschrocken, und der Ankläger schlief und schlummerte nicht, Gott war nicht versöhnet mit ihnen“.46
In der gläubigen Versenkung in das Lebensbild Christi gewahrt der Erweckte, dass des Erlösers ganzer Lebensweg „von Anfang an bis an’s Ende […] eine That der Liebe war“,47 eine Liebe, die sich im Glauben in ihn, den Glaubenden, hineinsenkt und so zum inneren Grund seines eigenen Glaubenslebens wird. „Ist nun aber Liebe jene himmlische Gewalt, durch welche bewogen der Mensch sehnsüchtig wird, sich selbst mit seinem Willen im Willen und Seyn des geliebten Gegenstandes untergehen zu lassen, ist Vereinigung das Ziel der Liebe, so wird schon hieraus offenbar, wie Christi Lehre weit mehr als jede andere ein Eigenthum des Herzens werden müsse.“48
An diesen Grundzügen erweckter Christusfrömmigkeit wird deutlich, dass juridische Auffassungen der kirchlichen Lehrtradition, die von der Zurechnung des Verdienstes Christi im Glauben und der Gerechtsprechung des Sünders reden, für Tholuck in den Hintergrund rücken konnten zugunsten der Vorstellung von einer mystischen Vereinigung mit dem Heiland und seinem Liebeswillen, die als Einsenken der Gnade in das Herz des Gläubigen erlebt wird. So heißt es bei Tholuck: „Sein [des Heilandes] Vergeben der Sünde ist der Tod der Sünde, seine Rechtfertigung macht in der That die Sünder gerecht. Wir werden eingepflanzt zum Tode, wir werden eingepflanzt zur Auferstehung. […] das Zukünftige, was geglaubt wird, wird eben Wesen in dem, der da glaubet (Hebr. 11,1.), und in dem Glauben und durch den Glauben und aus dem Glauben vollendet sich die Gerechtigkeit, die da kommen soll“.49
2.7
Der Ruf in die Nachfolge
In der gläubigen Vereinigung mit dem Heiland erfährt der Erweckte sich begnadigt und hat darin zugleich teil an dem Grundimpuls der Bewegung des Liebeswillens Jesu. Er weiß sich durch die Wiedergeburt zur Nachfolge gerufen, die sich als tätiger Nachvollzug der Liebe Jesu in Selbstverleugnung50 und dia46 47 48 49 50
Tholuck, Lehre von der Sünde, 55. A. a. O., 53. A. a. O., 53f. A. a. O., 59. Tholuck, Ausgewählte Predigten, 67: „Es greife ein jeder in seinen Busen: Ist dein Herz los von allem, was du besitzest, von allem deinem Ansehen, von all’ den geistigen und irdischen Gütern, von allem, was Gott dir gegeben hat, damit du Haus haltest für seine Rechnung? Ist es los, so daß, wenn das letzte Stündlein kommt, du es alles leicht und flüchtig hinter dir lassen kannst, wie ein Elias seinen Mantel abwirft, als er in die Wolken steigt?“ Oder kürzer a. a. O., 67: „Sage ab der Welt in deinem eignen Herzen, ergreife das Gut, das da bleibt, wenn Himmel
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konischem Dienst am Nächsten verwirklicht. Tholuck bringt dies mit Verweis auf das empfangene Heil bündig zum Ausdruck: „Das that Er für dich, was thust Du für Ihn?“51 Die Erweckungsfrömmigkeit ist im Ganzen getragen von der Ausrichtung auf ein geheiligtes Leben, das geprägt ist vom ständigen Bußkampf gegen die Anfechtungen der Sünde, der lebendigen Vergegenwärtigung des in der Einheit mit Christus empfangenen Heilsgutes der Vergebungsgnade und der dienenden Nachfolge.
2.8
Die geheiligte Gemeinde
Die Bedeutung, die dem geheiligten Leben in der Erweckungsbewegung zukommt, schlägt sich auch in der Hochschätzung der geistlichen Gemeinschaft der Wiedergeborenen nieder. Sie lebt vom wechselseitigen Austausch der religiösen Erfahrung, von gemeinschaftlicher Schriftauslegung und gemeinsamem Gebet. Sie pflegt eine stark sakramentale Abendmahlsfrömmigkeit52 und weiß sich als geheiligte Gemeinde Jesu Christi. Die Zusammenkunft in Konventikeln in privaten Wohnhäusern zur Erbauung und Andacht gehört insofern zentral zum religiösen Leben der erweckten Kreise. Das schließt die Anbindung an den Gottesdienst der verfassten Kirche nicht aus. Eine reine Sonntagsfrömmigkeit wird jedoch als kraftlos und ungenügend kritisiert. Das ganze Leben des Wiedergeborenen soll sich vielmehr als ein geheiligtes vollziehen. In all dem drückt sich das Bewusstsein vom eschatologischen Charakter der Gemeinde der Wiedergeborenen aus. Sie lebt schon jetzt im Anbruch der Auferstehungszeit, die als Entscheidungszeit für das gegenwärtige wie kommende Gericht begriffen wird. „Jetzt ist die Zeit der Entscheidung für Gott“.53 Darum werden den „verdorrten Reben“ am Weinstock des Herrn die Heiligkeit der Gemeinde und die Konsequenzen der Verdammung bei Nichteinhaltung des bußfertigen Lebens gepredigt. „Seit dem er also wieder gekommen in der Pfingstzeit, und in dem Leibe der Gemeinde, welche da ist die Fülle des, der Alles in Allem erfüllet (Ephes. 1,23.), auf ’s neue Mensch geworden, ist er bei der Gemeinde geblieben, und hat sie geheiliget, geordnet und erhalten, und will bei ihr bleiben bis an das Ende der Tage, und wenn zwei oder drei versammelt sind, will er unter ihnen seyn, bis daß er abermals wieder kommt, damit sie und Erde vergehen, prüfe auch, ob du so los seiest von den vergänglichen Dingen in deinem Herzen, daß, wenn dein Stündlein kommt, du sagen magst: Ich fürchte mich nicht, ich hab’ meinen Schatz im Himmel“. 51 Tholuck, Lehre von der Sünde, 71 (im Original gesperrt). 52 Vgl. dazu insgesamt die Predigt „Vor dem Genuß des heiligen Abendmahls“ in Tholuck, Stunden christlicher Andacht, 602–608. 53 Tholuck, Predigten II, 404.
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Alle, die Einer in ihm geworden sind, seien wo er ist und wie er ist, die Reben aber, in denen er nicht gewesen, die eben deshalb verdorret sind, abgehauen werden und verbrennen; denn – wer nicht in ihm bleibet, der wird weggeworfen wie die Rebe, die verdorret, und man wirft sie in’s Feuer und müssen verbrennen (Joh. 15,6.)“54.
Zum Bewusstsein der Heiligkeitsgemeinde gehört auch, dass sie als eine vom Geist beseelte Gemeinschaft ein wirksames Gegenmittel gegen das Gesamtleben der Sünde bildet, wie es in der Welt herrscht und sein Unwesen treibt. Denn der Einzelne allein und auf sich gestellt vermag dem Andrängen der sündhaften Welt nicht wirksam zu widerstehen. Dafür ist er auf das neue Gesamtleben in der Gemeinschaft der Wiedergeborenen angewiesen. Die geheiligte Gemeinschaft der Wiedergeborenen weiß sich von der Welt und ihrem Treiben streng unterschieden. Sie sondert sich gleichwohl nicht von ihr ab, sondern begreift die Welt als Feld ihrer regen Missionstätigkeit. Der Wiedergeborene sieht seine Berufung darin, durch Selbstmitteilung der eigenen religiösen Erfahrung anderen zur Bekehrung zu verhelfen, und er versteht ebenso den Dienst am Nächsten als ein missionarisches Zeugnis, um die Bedürftigen zur Gemeinschaft in der Gemeinde des Herrn zu sammeln.
3.
Schluss
3.1
In Summa
Im Kontext seiner Zeit hat Tholuck die Bedeutung von Sünde und Schuld wieder mit Nachdruck ins kirchliche Bewusstsein und vor allem in die Selbsterfahrung des Einzelnen gerückt. „[D]as dritte Kapitel der Genesis und das siebente des Römerbriefes, das sind die zween Pfeiler, auf denen des lebendigen Christenthums Gebäude ruht, das sind die zwei engen Pforten, durch die der Mensch zum Leben eingeht“.55 Vor dem Hintergrund der Sünden- und Schulderfahrung erneuerte er die Rede vom Zorn Gottes und betonte das Verständnis des Kreuzestodes Jesu Christi als liebende Selbsthingabe und Opfer für die Sünder zur Versöhnung mit Gott. Tholuck stellte das ständige Angewiesensein des Wiedergeborenen auf die tägliche Vergebung angesichts der Anfechtung durch innere und äußere Sünden heraus. Er schärfte das eschatologische Bewusstsein des Einzelnen und der Gemeinde, schon jetzt im Anbruch der Auferstehungszeit, schon jetzt im Zeichen des Gerichts und der Gnade zu leben, und richtete sie zugleich aus auf das endzeitliche Reich Gottes und das zu erwartende Gericht. Tholuck betonte die Bedeutung der geistlichen Gemeinschaft untereinander wie 54 Tholuck, Lehre von der Sünde, 57. 55 A. a. O., 22.
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der Seelsorge füreinander und hielt zum selbstlosen Dienst in der Nachfolge Jesu an. Darin sind die zentralen Grundzüge erweckter Frömmigkeit des 19. Jahrhunderts ausgedrückt, denen Tholuck in seinem eigenen Glaubensleben nachzukommen suchte.
3.2
Zur Rezeption
Die Betonung der Sünden- und Schulderfahrung und damit zusammenhängend das Verständnis des Kreuzestodes Jesu Christi als sich hingebendes Liebesopfer zur Versöhnung der Sünder wird – je nach theologischer Grundüberzeugung – im Allgemeinen als eine eigentümliche Leistung der Erweckungstheologie im Kontext ihrer Zeit unterschiedlich gewürdigt. Ebenso erfährt ihr Insistieren auf der existenzbestimmenden persönlichen Aneignung des Heilsguts in aller Regel eine, wenn auch vielfach nur bedingte Anerkennung. Die allzu expressive Herzensfrömmigkeit gerät nämlich nicht selten unter den Verdacht, Ausdruck einer vor allem sich selbst darstellenden Subjektivität zu sein.56 Die Permanenz des Bußkampfes kann im Interesse des Gnadenbewusstseins als übersteigert empfunden und ebenso kritisiert werden wie die Gefahr, die Sünde zu stark an den moralinen Tatsünden festzumachen. Dass die Erweckungstheologie den Glauben als Vereinigung mit Christus und die Gnade als Einsenken des Heilsgutes in das glaubende Subjekt begreift, kann mit der Auffassung von der eingegossenen Gnade in Beziehung gebracht, als „das alte Erbübel des Pietismus“57 entlarvt und einer entsprechenden Kritik zugeführt werden. Zudem wird vor allem aus lutherischer Perspektive daran gemahnt, dass reformatorischer Glaube durch den Externbezug – das extra se des Glaubens in Christus – konstituiert ist. Diese Argumente halten der Erweckungsfrömmigkeit allesamt mehr oder weniger das vor, woran sie im Grunde genommen auch im Glauben immer noch festhält: an der auf sich beharrenden individuellen Subjektivität,58 statt den Glauben zu begreifen als einen Vollzug, der nur, indem das Subjekt von sich loskommt und 56 Vgl. etwa das scharfe Urteil Karl Barths in ders., protestantische Theologie, 461: „Wichtiger kann das religiöse Individuum, gestaltloser alles Übrige gar nicht werden, kräftiger kann die Biographie gar nicht an die Stelle der Theologie treten, mehr kann die christliche Sache unmöglich im christlichen Menschen aufgehen, als dies bei Tholuck der Fall gewesen ist“. Und a. a. O., 461: „Theologische Beschäftigung ist bei Tholuck […] in der drastischsten Weise Beschäftigung mit sich selbst, theologische Darbietung durchaus Selbstdarbietung“. 57 A. a. O., 467. 58 Vgl. bes. Wenz, Geschichte der Versöhnungslehre, 406ff. „Die Zentralstellung von Wiedergeburt und Bekehrung, denen gegenüber die Rechtfertigung ihren angestammten Platz als dogmatisches Materialprinzip verliert, bestätigt nur noch einmal jene beherrschende Tendenz, alle religiösen, dogmatischen Gehalte in der Unmittelbarkeit individueller Gewißheit aufgehen zu lassen“, a. a. O., 410.
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extra se in einem Anderen – in Christus – gründet, wahrhaft zu sich selbst zu kommen vermag.
Literatur Quellen Dr. August Tholucks Werke, Bd. I–XI, Gotha 1862–1873. Tholuck, August, Ausgewählte Predigten. Mit einer Einleitung von Leopold Witte (Bibliothek theologischer Klassiker 3), Gotha 1888. –, Geschichte des Rationalismus, Teil I, Berlin 1865. –, Gespräche über die vornehmsten Glaubensfragen der Zeit, zunächst für nachdenkliche Laien, welche Verständigung suchen, Halle 1846 [Gotha 21865]. –, Predigten, in: Dr. August Tholuck’s Werke, Bd. II–VI, Gotha 1863. –, Die Lehre von der Sünde und vom Versöhner, oder die wahre Weihe des Zweiflers, Gotha 8 1862. –, Vorgeschichte des Rationalismus, Teil I/1–2 und II/1–2, Berlin 1861–1862. –, Stunden christlicher Andacht. Ein Erbauungsbuch, Hamburg 51853. –, Der Geist der lutherischen Theologen Wittenbergs im Verlaufe des 17. Jahrhunderts, teilweise nach hsl. Quellen, Hamburg/Gotha 1852. –, Übersetzung und Auslegung der Psalmen für Geistliche und Laien der christlichen Kirche, Halle 1843. –, Auslegung des Briefes Pauli an die Römer nebst fortlaufenden Auszügen aus den exegetischen Schriften der Kirchenväter und Reformatoren, Berlin 1824.
Forschungsliteratur Axt-Piscalar, Christine, Ohnmächtige Freiheit. Studien zum Verhältnis von Subjektivität und Sünde bei August Tholuck, Julius Müller, Sören Kierkegaard und Friedrich Schleiermacher (BHTh 94), Tübingen 1996. Barth, Karl, Die protestantische Theologie im 19. Jahrhundert, Zürich 21952. Kähler, Martin, Art. Tholuck, in: RE 3, Bd. 19, Leipzig 1907, 695–702. –, August Tholuck, geboren den 30. März 1799, heimgegangen den 10. Juni 1877. Ein Lebensabriss von Märtin Kähler. Als Nachtrag zu der „Erinnerung an seinen Heimgang“ mit Erweiterungen aus der Neuen Evangelischen Kirchenzeitung abgedruckt, Halle 1877. Kantzenbach, Friedrich Wilhelm, Die Erweckungsbewegung. Studien zur Geschichte ihrer Entstehung und ersten Ausbreitung in Deutschland, Neuendettelsau 1957. Schellbach, Martin, Tholucks Predigt. Ihre Grundlage und ihre Bedeutung für die heutige Praxis, Berlin 1956. Wenz, Gunther, Art. Tholuck, in: TRE Bd. 33, Berlin/New York 2002, 425–429.
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–, Geschichte der Versöhnungslehre in der evangelischen Theologie der Neuzeit, Bd. 1, München 1984. Witte, Leopold, Das Leben D. Friedrich August Gottreu Tholuck’s, Bd. 1–2, Bielefeld/ Leipzig 1884–1886. Zilz, Walter, August Tholuck. Leben und Selbstzeugnisse, Gotha 1930.
Jobst Reller
Die Spiritualität in der niedersächsischen Erweckungsbewegung
1.
Erweckliche konservative Frömmigkeit im Gegenüber zu aufklärerischer Moderne
Bereits der innerhalb der Bewegung selbst gebrauchte Begriff „Erweckung“ (engl. revival, frz. réveil) deutet das Selbstverständnis an: Man möchte an vergangene, vermeintlich zu Unrecht übergangene und verschüttete Lebensformen und Traditionen des Christentums anknüpfen, sieht sich also im Widerspruch zu „Fehlentwicklungen“ der eigenen Gegenwart.1 Im Zuge der Aufklärung an die Theologie herangetragene Fragen rationaler Vermittlung und daraus folgende Veränderungen der Frömmigkeitspraxis in Gesangbuch, Katechismus und Gottesdienstordnung erweckten Widerspruch bzw. die Hoffnung auf die Wiederherstellung gewohnter, Heimatgefühl vermittelnder Formen und Texte in Liedern und Gottesdienst. Im Raum des heutigen Niedersachsen hatten über fast drei Jahrhunderte lang reformatorische Kirchenordnungen christliche Lehre und christliche Praxis kontinuierlich normiert und ähnlich wie in den lutherischen Kirchen Skandinaviens einen Typus „alter orthodoxer Kirchenfrömmigkeit“ geschaffen. Konfessionelle Kirchenordnungen lehrten oft im Verein mit pietistischen Grundhaltungen Spiritualität, überprüften sie ggf. polizeilich und prägten dadurch breite Volksschichten. In von pietistischer Verinnerlichung ergriffenen Häusern auf dem Lande wurden neben der in jedem Fall kirchlichen äußerlichen Sitte orthodoxe oder pietistische Andachts- und Gebetsbücher gelesen, sodass die erweckliche Lesart einer spirituellen Neubelebung vom Nullpunkt aus doch zumindest stark modifiziert werden muss.2 Superintendent Caspar Otto Friedrich Aichel (1801– 1861) in Neuenfelde erinnerte sich 1854 zu Recht: 1 Vgl. Jung, Erweckungsbewegungen, 15–17. 2 Man vgl. den instruktiven und entmythologisierenden Aufsatz von Hans Otto Harms zur Situation in Hermannsburg vor der um 1839 einsetzenden Erweckung: ders., Die Hermannsburger Gemeinde, die erweckt wurde.
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„Da kam jene Zeit der Dürre und der Öde in der letzten Hälfte des vorigen Jahrhunderts und im Anfang des gegenwärtigen. Das Wort Gottes war in den Predigten in den Hintergrund gedrängt, man handelte auf den Kanzeln von allerlei weltlichen Angelegenheiten und zeitlicher Klugheit, das Evangelium vom Kreuze und von dem Heiland, welcher die Sünder sucht, war den einen wieder zum Ärgerniß, andern zur Thorheit geworden vor lauter Moral der reinen Vernunft. Es ist zu bewundern, dass das Volk dennoch festhielt und nicht irre ward. […] Da saß am Sonnabend-Abend die Hausgesellschaft versammelt um den Tisch, der Herzensspiegel lag darauf, wer’s am Besten konnte, las die Predigt über das Evangelium vor und so war am Sonntag-Morgen mehr Glauben und Gotteswort unter der Kanzel zu finden, als auf derselben.“3
Abendmahlsvorbereitung in der Beichte am Vorabend, Sonntagssitte und Kirchenzucht waren gewissermaßen die Prüf- oder Stolpersteine, an denen die Erweckten die eigene, sich verändernde Zeit maßen. Insofern ist die Erweckung ein notwendiger, eher konservativer Bestandteil der sich seit der Französischen Revolution langsam liberalisierenden und pluralisierenden, ehemals feudalen Standesgesellschaften. Im Raum Niedersachsen, zu dem man von der Geschichte der Erweckung her auch die Hansestädte Hamburg und Bremen rechnen muss, waren die Prozesse rationaler kirchenleitender Erneuerung wie folgt verlaufen.4 Im Königreich Hannover (einschl. des Fürstentums Braunschweig-Lüneburg) waren ein umgedichtetes und ergänztes Gesangbuch 1792 bzw. ein neuer „Landeskatechismus“ 1790 eingeführt worden. Letzterer erlangte auch Geltung im Herzogtum Braunschweig-Wolfenbüttel und im Fürstentum Schaumburg-Lippe. Die Gesangbücher waren auch im Konsistorialbezirk Stade, im Herzogtum Braunschweig-Wolfenbüttel, im Herzogtum Oldenburg, in Osnabrück Stadt und Land, im Fürstentum Schaumburg-Lippe, mit Einschränkungen in Ostfriesland und in der Hansestadt Bremen erneuert worden. Einzig in der Grafschaft Bentheim war nichts geändert worden. „Der Kern“ des hannoverschen Landeskatechismus lautete im „7. Abschnitt: ‚Von den Pflichten und der Tugend eines Christen‘“.5 An dieser eudämonistischen Variation des aufklärerischen Pflicht- bzw. Tugendbegriffs entzündeten sich die in ihm in ihrer Jugend unterrichteten erweckten Geister, weil er ihnen den Kern ihrer neu erweckten Frömmigkeit in der über konfessionelle Traditionen hinweg wiederentdeckten Rechtfertigung allein aus Glauben und Gnade durch Jesus Christus verdunkelte. Es ist kein Wunder, dass sich an diesem Katechismus bis hin zum deutschlandweit Beachtung findenden hannoverschen Katechismusstreit von 1862 die Geister schieden. Pastor Ludwig Harms (1808– 1865), der Sachwalter der Erweckung nach 1839 in weiten Teilen Niedersachsens 3 Aichel, Dr. Heinrich Müller, 8. 4 Vgl. Krumwiede, Kirchengeschichte Niedersachsens, 251–261. 5 A.a.O., 252.
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zwischen Elbe und Weser, in der Lüneburger Heide, im Schaumburger Land an Deister, Süntel und Weser und in Osnabrück, dürfte vielen Erweckten aus dem Herzen gesprochen haben: „es ist nicht der Rechtsstand, es ist die Noth unserer Gewissen, welche uns zwingt, […] Widerstand zu leisten. Der alte Landeskatechismus von 1790 ist mit falscher Lehre behaftet; nicht bloß in einzelnen und nebensächlichen Lehrstücken, sondern es ruht namentlich seine gesammte Sittenlehre auf einem falschen Principe, welches nicht im Stande ist, eine christliche Sittenlehre zu schaffen und dadurch den Katechismus außer Stand setzt, einen richtig gegründeten Glauben zu schaffen“, nämlich auf die Rechtfertigung durch Jesus Christus und nicht auf Werke gegründeten Glauben zu schaffen.6
Die vielen Unterschriften von Repräsentanten kirchlicher Erneuerung aus ganz Niedersachsen unter dieser Petition, die durchaus nicht nur zu Harms’ Jüngern zählten, sagen das Ihre über diese als spirituell zentral empfundene Frage. Die Wiederentdeckung der Rechtfertigung aus Gnade durch den Glauben an Christus war die über Konfessionsgrenzen hinweg greifende einende Erfahrung. Der reformierte Pfarrer Georg Gottfried Treviranus (1788–1868) formulierte dieses spirituelle Kontinuum bereits 1821, wenn auch sicher in einer eher traditionell reformierten Form: „Die Schrift fordert von uns eine eigene Thätigkeit; – wir werden die Gerechtigkeit, die vor Gott gilt, indem der [Herr] 7 unsre Gerechtigkeit geworden ist; aber diese Gerechtigkeit ist die Rechtfertigung des Sünders vor Gott; geschaffen dadurch, daß er uns versöhnt hat mit dem Leibe seines Fleisches durch den Tod. Dies Heiligwerden geschiht v[on] Gott!“8
Gottfried Menken (1768–1831), neben Herrnhuter Diasporarbeitern der einzige Vertreter einer wirkmächtigen Vorgeschichte der Erweckung im niedersächsischen Raum, wenn man vom Wandsbeker Boten Matthias Claudius (1740–1815) absieht, beklagte 1802 Bremen als „Herberge des Satans“. Menken,9 pietistisch erzogen und von der Mystik Jakob Böhmes beeinflusst, ließ im Widerspruch zur gängigen rationalistischen Theologie und orthodoxen Dogmatik allein die literal ausgelegte Schrift gelten. Die Weltgeschichte bis hin zur Französischen Revolution galt ihm als Geschichte der Abwendung der Menschen von Gott und der daraufhin verhängten Plagen. Als fünfte Universalmonarchie erwartete Menken chiliastisch das zweitausend Jahre währende Weltreich Gottes. Biblizistische 6 Petition an König Georg V. von Hannover vom 22. 9. 1862 in: Harms (Hg.), In treuer Liebe und Fürbitte, 206–208. 7 Ein Wort unleserlich. 8 Brief von G. Treviranus an P. v. Sengebusch, Petersburg, 19. 11. 1821, in: Briefe Treviranus an P. v. Sengebusch Petersburg 1821–1866, in: Staatsarchiv Bremen, Depositum Norddeutsche Missionsgesellschaft 71025 5 78 (Mikrofilm NMG 4453). 9 Vgl. Schwebel, Bremische Evangelische Kirche, 69–71. Ewald und Menken gaben 1800–1805 bereits eine christliche Monatsschrift heraus, Hasenkamp von 1827 an in Einzelheften „Die Wahrheit zur Gottseligkeit“ (Bremer Kirchenbote 1832, Vorwort).
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Predigt, inniges Gebet und liebevolle seelsorgerliche Betreuung, somit eine klassisch kirchlich gestaltete Pfarrerrolle, ließen Menkens Gemeinde stetig wachsen. Dennoch kann man auch nach diesem Überblick angesichts der vielen Widerstände nicht von vollständigem Sieg eher aufklärerischer Theologie und rationaler Spiritualität sprechen. Die vielen lokalen Widerstände, die Wirksamkeit der deutschen Christentumsgesellschaft oder auch der Herrnhuter Diasporaarbeiter, der Widerspruch gegen die Tugend- und Pflichtenlehre des hannoverschen Landeskatechismus oder die Wiederentdeckung biblischer Predigt wie bei Gottfried Menken deuten in eine andere Richtung. Es wundert nicht, dass die Spiritualität niedersächsischer Erweckung ganz und gar von kirchlichen Vollzügen wie Gottesdienstbesuch, Abendmahlsfrömmigkeit und Hausandacht per Andachtsbuch und Gesang- und Gebetbuch geprägt ist bzw. dass die aus der Erweckung 1878 entstehenden lutherischen Freikirchen sich bewusst und streng in kirchlichen Formen organisierten. Noch die von Ernst Rolffs in seiner „Evangelischen Kirchenkunde Niedersachsens“ nach Abendmahlsteilnahme und Kirchenbesuch erstellte Karte spiegelt in ihren tiefblauen Territorien die kirchliche Erweckung und ihre Frömmigkeit wider.10 Die Aussage über die kirchliche Grundstruktur der Spiritualität ist richtig, auch wenn etwa mit Pastor Johann David Schlichthorst (1801–1843) aus Padingbüttel festzuhalten ist, dass es nicht die kirchliche Institution selbst war in Pfarrämtern, Superintendenturen, Generalsuperintendenturen und Konsistorien, die das zunächst einzeln erwachende religiöse Glaubensbedürfnis förderte, sondern dass die neu erwachte „Liebe zum Sünderheiland“ zunächst in „Haufen von Privatleuten“ zusammenführte.11 Aber man empfand dies in aller Regel als Versäumnis der zu ihrer ureigentlichen Aufgabe zurückzurufenden Kirche, nicht als Gegenkirche.
2.
Die erste Phase der Erweckung bis 181512
2.1
Herrnhutische Diasporaarbeit unter den „Stillen im Lande“
Herrnhutische Diasporaarbeiter, die etwa in Bremen oder auch Braunschweig ansässig waren, besuchten nachweislich die „Stillen im Lande“, Häuser und Kreise, in denen sie sich willkommen wussten – oft in Gegenden, die später 10 Vgl. Rolffs, Evangelische Kirchenkunde, Anhang. 11 „Kirchenfreund für das nördliche Deutschland“, hg. von A. Lührs/F. Köhler, Osnabrück 1839, 86–92. Der mit „S. L. W.“ gekennzeichnete Artikel lässt sich nach einem Schlüssel im „Kirchenfreund“ als „S[schlichthorst] L[and] W[ursten]“ auflösen, ebenso das Kürzel „D. S.“ als „D[orum] S[axer]“. 12 Zur Periodisierung vgl. Wallmann, Kirchengeschichte, 190f; zu Niedersachsen vgl. den Überblick bei Meyer, Kirchengeschichte Niedersachsens, 191–201.
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insgesamt als erweckt galten. Die Zinzendorfsche christuszentrierte Theologie wurde durchaus drastisch vertreten. Als Beispiel mag ein Reflex bei dem schon genannten Pfarrer Georg Gottfried Treviranus in einem Brief an Familie von Sengebusch im Baltikum gelten: „Ich lese auf den ersten Blick aus deinem Briefe an Karl u[nd] Wilhelm, daß du mit der Brüdergemeine in Verbindung stehst, weil ich auch dann und wann mit Einigen dieser, mir in der Hauptsache frisch [ein Wort unleserlich: „erscheinenden“?] u[nd] achtungswerthen Brüder zusammenkomme. – Ich sage es ihnen dann wohl gerade heraus, daß ich manche ihrer stehenden Redensarten nicht mag; z. B. wenn sie immer von dem Wort der Versöhnung so reden, daß Gott selbst, der Schöpfer Himmels u[nd] der Erden für uns gestorben sei. Ich denke und glaube dasselbe wie sie; aber rede lieber von der Sache mit solchen Ausdrücken, die das Werk [sic?; scil. „Wort“] Gottes fast immer gebraucht. – So ist mir auch der Gedanke fremd, daß jeder Gläubige sich bewußt sein solle, wann u[nd] wie er erweckt sei: Ich meine das Werk Gottes in den Menschen durch Kraft u[nd] Leitung des H[eiligen] Geistes könne oft frisch unmerklich ent[stehen], es könne in einer Hauptsache Licht werden, ohne daß das Ganze glücklich erleuchtet wird, und so könne es nach und nach zu vollständigerem Glauben kommen. Ich rede hier aus eigener Erfahrung“.13
Lebendiger Glaube, schrittweise, aber doch nicht datierbare Bekehrung – diese Muster sind eher kirchlich als klassisch pietistisch.
2.2
Die religiöse Deutung der Befreiungskriegserfahrung
Die Erfahrung der napoleonischen Besetzung und der in Propaganda und Tradition als Volkskriege angesehenen Befreiungskriege nach 181214 bzw. der Vielvölkerschlacht bei Leipzig 1813 hat sich auch in geistlicher Hinsicht ausgewirkt, indem diese Lebenserfahrung sich biblisch alttestamentlich als Gotteserfahrung deuten ließ.15 Exemplarisch lässt sich das an Pastor Johann Gottlieb Ungewitter (1785– 1857) deutlich machen.16 Ungewitter war zunächst durch die aufklärerischen Ideale der Wahrhaftigkeit und des heldenhaften Genies geprägt, die sich mit dem Bewusstsein der Führung Gottes verbinden konnten. Die Genesung nach einer Nervenkrankheit 1807 wurde als Wiedergeburt gedeutet, die Rückkehr zum Vater, Pfarrer in Scheeßel, 1812 fand ihr biblisches Deutemuster in der Geschichte vom verlorenen Sohn (Lk 15,11–32). Predigten im Pathos der Befreiungskriege 1812– 13 Brief von G. Treviranus an P. v. Sengebusch, Oberneuland, 06. 08. 1821 in: Briefe Treviranus an P. v. Sengebusch Petersburg 1821–1866, in: Staatsarchiv Bremen, Depositum Norddeutsche Missionsgesellschaft 71025 5 78 (Mikrofilm NMG 4453). 14 Vgl. Bleyer, Mythos Volkskriege, 12–14. 15 Vgl. zu Ernst Moritz Arndt: Bleyer, Mythos Volkskriege, 168; Holl, Die Bedeutung der großen Kriege. 16 Vgl. Reller, Anfänge.
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1814 in Scheeßel führten zur Verpflichtung als Feldprediger bis 1816 in Belgien und Paris, „von den Soldaten geachtet und geliebt, mit neuer Erfahrung der treuen überschwänglichen Fürsorge Gottes, in seinem Glauben an den Erlöser neu begründet und befestigt, […], um nun mit dem Schwerte des Geistes und Gottes Wort auf neuem Felde, […], für Christus und sein Reich zu kämpfen“. Ungewitters 45jähriges Wirken in Scheeßel wird im Rückblick wie folgt beschrieben: „Und wie treu, wie gewissenhaft, mit welcher Liebe, Nacht und Tag, hat er für seine Gemeinde gesorgt, gebetet und gearbeitet! Wie lebendig und unverzagt, wie freudig und glaubensvoll, wie schlicht und doch wie salbungsvoll, wie ernst und doch wie väterlich, wie demüthig, ohne Eigennutz, wie immer nur den Herrn Jesum Christum, den einigen Heiland und Erlöser suchend und verkündend! Daß das Leben der himmlischen Welt sein eigenes und der Gemeinde Leben ganz durchdringe, und dieses im Kleinsten und im Größten in jenes sich verkläre, das war sein Gebet im Hause und in der Kirche, das Inhalt seiner Predigt, das Ziel seiner Seelsorge am Kranken- wie am Sterbebette, das das Ziel seines ganzen Lebens bis zum letzten Atemzuge.“17
Vorsehungsglaube, rationalistisch geschärfte Wahrheitsliebe und Moral konnten sich im Glauben an die Versöhnung durch Christus vertiefen. Auch Ludwig Harms – seinerseits nicht Soldat in den Befreiungskriegen – scheint unter anderem durch ein soldatisches Ideal bis zu seiner Bekehrung hin bewegt worden zu sein.18
2.3
Spirituelle Impulse aus England
In der Zeit der Befreiungskriege drangen auch erweckliche Impulse aus dem englischsprachigen Raum nach Deutschland. Erweckliche Christlichkeit hatte sich in England früher institutionell vergesellschaftet durch die Gründung der „British and Foreign Bible Society“ (1804) bzw. die Gründung von Missionsgesellschaften wie der freikirchlichen „Baptist Missionary Society“ nach dem Pioniermissionar William Carey (1761–1834), der „London Missionary Society“ (1795) oder auch der anglikanischen „Church Missionary Society“ (1799 bzw. 1812). In Deutschland konnte sich 1815 die Baseler Mission konstituieren, 1824 die Berliner Mission. In Niedersachsen sollte es, abgesehen von der „Missionsgesellschaft vom Senfkorn“ in Ostfriesland 1799, auf Grund der nach dem Wiener Kongress 1815 einsetzenden Restaurationspolitik bis nach der Revolution von 1830 dauern, bis eigenständige Vereinsgründungen erweckter Kreise möglich wurden wie etwa die nach Bremer Vorbild gegründete „Stader Bibel- und 17 Aus dem posthum erschienenen Lebensrückblick findet sich im Stader Sonntagsblatt 1857, Nr. 44, als Beilage (o. Z.). Vgl. auch den Nachruf auf den der Erweckung zugetanen Konsistorialrat Christoph Ludwig von Hanffstengel im Stader Sonntagsblatt 1857, 106f.110–112. Hanffstengel nahm von 1813–1815 an den Befreiungskriegen teil. 18 Vgl. Reller, Heidepastor Ludwig Harms, 47f.
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Missionsgesellschaft“ 1832 und die in einem Netzwerk Missionsvereine zusammenführende „Norddeutsche Missionsgesellschaft“ 1836. In den liberaleren Hansestädten konnten sich bereits 1819 in Bremen und dann auch in Hamburg Missionsvereine bilden. Der Emissär der „British and Foreign Bible Society“, Karl Friedrich Adolf Steinkopf (1773–1850), besuchte 1812 auf einer Europareise auch Niedersachsen: Hannover, Göttingen, Wolfenbüttel, Braunschweig und Celle. Ihm stand eine Adressenliste aus seiner Zeit als Sekretär der deutschen Christentumsgesellschaft (1795–1800) zur Verfügung.19 Steinkopfs Klage über vergangenen Glanz, sein Hinweis auf die durch die Kontinentalsperre und Besatzung verursachte Armut, sein Aufruf zur demütigen Umkehr oder besser Rückkehr zu Gott liest sich wie eine Kurzpredigt zur Erweckung. Immerhin hat die Altonaer Gastfamilie des Kaufmanns van der Smyssen, bei der sich bewusste Christen aller Konfessionen treffen, Freunde in Osnabrück aufgefordert, ein Bibelkomittee zu gründen.20 In Stade kam es wohl 1814 zur Gründung eines solchen Komittees als Zweigverein der ebenfalls 1814 gegründeten Hannoverschen Bibelgesellschaft, das allerdings wegen der restaurativen Politik nach 1815 bereits 1816 wieder aufgelöst werden musste.21 Vereinzelt sind eher untypische Frömmigkeitsbewegungen erkennbar, z. B. unter Siedlern im Fehngebiet bei Lilienthal: Der aus einer ursprünglich württembergisch-pietistischen Familie stammende Schlachtergeselle Christian Bacher war 1795/96 in Amsterdam mit Mennoniten in Kontakt gekommen und wohl auch nach England gereist. Er gründete 1804 in Vegesack bei Bremen eine kleine Gemeinde und gewann Anhänger in den Moordörfen Seebergen und Arbergen. „Bacher22 deutete die Offenbarungsschriften [auf] die Zeitereignisse: Die Schrecken der französischen Revolution, den Sturz der Könige, die Kriegsereignisse in Europa, Ägypten und Rußland, waren es nicht Zeichen der Endzeit?“ „Die Kindertaufe wird abgelehnt. Der Eid ist verboten. Der Dienst mit der Waffe ist Sünde. Die Staatskirche ist Babel, Abfall vom Urchristentum. Sie wird in den letzten Tagen im Feuer vernichtet werden.“
Auch Johann Albrecht Bengels Spekulationen im Blick auf das Weltende 1836 waren Bacher bekannt. Auch die öffentliche Schule wurde abgelehnt. Nach einer durch den französischen Generalgouverneur in Hannover 1812 angeordneten Untersuchung der „Religionsschwärmerei in den Moordörfern“ durch die Re-
19 20 21 22
Vgl. Steinkopf, Reisebriefe Europa 1812, 50.110–112. Vgl. a. a. O., 113. Vgl. Speyer, Stader Bibel- und Missionsgesellschaft, 7–9. Frerichs, Die Separatisten in Seebergen vor 150 Jahren. Frerichs stützt sich auf eine Sammlung von Briefen Bachers im Pfarrarchiv in Lilienthal. Frerichs war Superintendent in Lilienthal 1939–69.
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gierung in Stade kam es erst unter Pastor Johann Friedrich Möser im Verein mit Moorvogt Nahe zu harten, wenn auch erfolglosen polizeilichen Maßnahmen, zur Verhaftung Bachers, seiner Haushälterin wie auch einer Familie Warncke. Pastor Christoph Ludwig von Hanffstengel (1790–1857) hatte 1818 in Hechthausen den Grenadier Claus Warncke, der den Eid mit den Worten verweigert hatte: „Christus ist mein König, dem ich meinen Eid geschworen habe“ vor dem Kriegsgericht bewahren können. Warnckes Mutter durfte 1820 aus dem Zuchthaus in Celle zurückkehren, ihr Mann war an Schwindsucht im Arbeitshaus in Hannover verstorben. Die von Bacher vertretene Endzeitfrömmigkeit konnte, wenn auch in radikal mennonitischer Prägung, doch auch bei Menken im nahen Bremen Anhaltspunkte finden. Eschatologische Spekulationen spielten wohl doch in weiten Kreisen der Frommen Niedersachsens gerade im Vorfeld des Jahres 1836 eine Rolle, auch wenn sie nur an wenigen Stellen zutage treten. Jedenfalls veröffentlichte der schon erwähnte Pastor Johann David Schlichthorst 1836/37 ein Konzept intensiver Bibelarbeit aus seiner Gemeinde Padingbüttel: „Bruchstücke aus der Offenbarung des Johannes“. Die bei Schlichthorst ausdrücklich erwähnten Nachfragen aus der Gemeinde belegten, dass die Zahl „der Stillen im Lande“, die biblisches und homiletisches Selbststudium auch im Blick auf das Jahr 1836 trieben, auch im Elbe-Weser-Raum größer war als gemeinhin angenommen: „So verhält es sich bei näherer Ansicht auch wirklich. Nachdem nämlich das Christenthum sich soweit herausgearbeitet hat, dass alle Reiche der Welt unsers Herrn und seines Christus geworden sind 11,15, mit andern Worten, nachdem das Christenthum herrschende Religion (des herrschenden Volkes) der Erde geworden ist, so hat es mit dem in der Tiefe noch nicht überwundenen heidnischen Wesen der Kirche ganz ähnliche Kämpfe zu bestehn, wie früher mit dem Heidenthum selbst“.
Öffentliche Christianisierung müsse immer neue Kämpfe um die innere Christianisierung einschließen. „Die Kirche ist aber auch eine Weltkirche geworden.“ Rechtgläubiges Bekenntnis lasse sich der Drache gefallen, christlichen Glauben und Leben aber nicht. Aber Gott sorge durch die Entwicklung der Umstände doch dafür, dass der Drache in der Kirche selbst eine geschichtlich gewordene, rechtliche Existenz nicht erlangen könne. „Michael und seine Engel, die innere Kraft der Kirche, die Gott nie verlässt, streiten mit ihm und stoßen ihn aus dem Himmel hinaus“ (12,18). Schlichthorst erwartete, ausgehend von der Missionsbewegung als Vorzeichen die herrliche Vollendung des tausendjährigen Reichs, im lauteren Christentum des Konventikels aus wahren Brüdern und Schwestern in inniger Liebe in ihm und untereinander.
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Der mennonitische Impuls dürfte nicht unmittelbar versiegt sein,23 oder möglicherweise auch in andere später zu schildernde Konventikel eingemündet sein. Während sich im Oldenburgischen dauerhaft baptistische Gemeinden bildeten, verschloss sich die kirchliche Grundprägung weiter Teile der niedersächsischen Erweckungsbewegung Änderungen wie der Glaubenstaufe. Die Begründung der baptistischen Gemeinde Hamburg durch Johann Gerhard Oncken (1800–1884) 1834 in Hamburg wirkte sich kaum auf das niedersächsische Umfeld aus, obwohl Oncken als Emissär der London Continental Society am 6. Januar 1825 die erste Sonntagsschule in Hamburg begründete.24 Der baptistische Missionar Koch urteilte in den 1850er Jahren: „In der Gegend von Bremervörde fand ich große Gleichgültigkeit gegen alles religiöse; und auf der andern Seite Anhänger von Harms in Hermannsburg. Kurz hier geht das Geschäft flau, denn hier ist das Luthertum zu Hause, das wohl mit Recht in üblen Geruch gebracht wird“.25
3.
Die Hochphase der Erweckung bis 1830
Hier ist vor allem die von Ludwig Otto Ehlers in Sittensen ausgelöste Erweckung in Bremen-Verden, aber auch das Wirken August Weibezahns (1804–1844) 26 in Osnabrück zu nennen. Aber auch die anderen Größen, deren praktisches Wirken die nächste Phase prägt, haben zumeist gegen Ende dieser Phase ihre entscheidenden Lebenswendepunkte gehabt.
3.1
Ludwig Otto Ehlers, der „Prototyp“ niedersächsisch-lutherischer Erweckung
Ludwig Otto Ehlers (1805–1877) war der Sohn von Superintendent Johann Hinrich Ehlers (1757–1829) in Sittensen.27 Ehlers verehrte die praktisch bewährte idealistische Grundhaltung seines Vaters trotz der religiösen Differenz. In einem Brief an den späteren Superintendenten von Peine, Albert Lührs (1804–1871), den Mitherausgeber des erwecklichen Kirchenfreundes (ab 1835) und Verfasser des neuen Landeskatechismus von 1862, schrieb Ehlers am 21. April 1826 von der Universität Tholucks in Halle, dass er in Göttingen den Glauben zugunsten von 23 Vgl. Reller, Publizistik, 206 Anm. 110 (unter Verweis auf den Bremer Kirchenboten 1833, 514– 518 bzw. 1834, 391). 24 Vgl. Lehmann, Rautenberg, 95f. 25 Neues Zeitblatt 1860, 40.71f (zit. nach Reller, Heidepastor, 214). 26 Vgl. Schäfer, Weibezahn. 27 Zum Folgenden vgl. Reller, Publizistik, 179–181.
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Selbstvertrauen und Selbsterlösung hinter sich gelassen hätte. Ende 1826 erlebte Ehlers seine Bekehrung: „Soll ich dir meine Bekehrung erzählen? – Ich las eines Abends die Reden Jesu im Johannes: Da tat sich mir der Himmel auf – noch nicht ganz, aber ein Strahl fiel in meine Brust. Tholuck verdanke ich viel, nämlich er hat meinen Verstand überwältigen helfen; aber das Feuer im Innern, oder der Brennstoff, der ewige, muß an der Flamme der Liebe Gottes entzündet werden.“
1827 wieder zu Hause in Sittensen, half Ehlers dem Vater im Gemeindedienst, im Hause bedrängt wegen seiner neuen Einstellung. Tholuck kritisierte in einem Brief vom 3. Dezember 1827,28 dass Ehlers einseitig Buße predige, weil er die Gesetzespredigt immer der des Evangeliums voranstelle, erbat für ihn ein liebendes Herz für die Menschen.29 Ehlers wirkte seinerseits auf den damaligen, ihm noch in Selbstgerechtigkeit hängend erscheinenden Pastor Caspar Otto Aichel30 in Elsdorf, aber auch auf seine Lehrer am Gymnasium in Stade, Kondirektor Georg Wilhelm Sattler, Justus Alexander Saxer und den bereits erwähnten Johann David Schlichthorst, den später in der lutherisch-konfessionellen Fraktion aktiven Pastor und lebenslangen Freund C. W. E. Zeidler (1810–1888). Generalsuperintendent D. Dr. Georg Alexander Ruperti (1758–1839) in Stade bemerkte die zunehmend Kreise ziehende erweckliche Bewegung und untersagte die von der Gemeinde Sittensen mehrfach erbetene Ordination und Einführung von Ehlers als Nachfolger seines Vaters mit Blick auf sein nicht kanonisches Alter. Eine von 90 Sittenser Bürgern unterzeichnete Eingabe vom 5. Juni 1828 an das Königliche Cabinets-Ministerium31 zeigt die von Ehlers in kurzer Zeit in Sittensen bewirkte spirituelle Klimawende und bescheinigt ihm „seinen einfachen klaren Vortrag in welchem Licht und Wärme verbunden ist“. Lehre, die Geist und Herz stähle, zu frommen Entschlüssen ermuntere und gute arbeitsame Bürger bilde, müsse wahr sein.32 Am 10. November 1828 konnte Ehlers die gänzlich abschlägige Entscheidung des Konsistoriums, die ihm als Kandidaten auch die licentia contionandi wieder entzog, an Ludwig Schröder in Halle berichten. Zugleich zeigt das Referat des Gesprächs mit Generalsuperintendent Ruperti die Punkte auf, an denen sich erweckliche und rationalistische Geister schieden:
28 29 30 31
Abgedruckt in Reller, Briefe, 38–40. Vgl. Tiesmeyer, Erweckungsbewegung, 42f.46. 1801–1861; 1846–61 Superintendent in Neuenfelde, Initiator diakonischer Behindertenarbeit. Johann Martens, Kirchliche Auseinandersetzung während seiner Kandidatenzeit in Sittensen 1828 (Typoskript Freetz 1997), 27: nach dem 13. 06. 1828 (zit. nach Reller, Publizistik, 179– 181). 32 Kirchliche Auseinandersetzung, 11 (zit. nach Reller, Publizistik, 179–181).
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„Der General Sup[erintendent] […] nahm […] meine Predigten und sagte, er habe nicht so sehr Besonderes daran auszusetzen, als im allgemeinen, dass sie mystische Ansichten enthalten. Nun wurde mir unter anderem vorgeworfen, dass ich Engel-Erscheinungen im A.T. annehme, dass ich das A.T. wörtlich verstehe, dass ich Versuchungen von dem Teufel annehme, dass ich eine Vereinigung des Menschen mit Gott lehre u.s.w. Die Hauptgründe, die mir vorgeworfen, waren: 1. dass ich den Menschen als gänzlich verderbt darstelle,33 2. dass ich lehre, die Wiedergeburt sei allein ein Werk des Heiligen Geistes. 3. dass ich die Rechtfertigung durch den Glauben allein zu sehr hervorhebe, welches gefährlich sei. […] weil ich die guten Werke zu sehr zurückstelle.“34
Ehlers berief sich interessanterweise bereits zu diesem Zeitpunkt auf die Confessio Augustana für die Fortbildung bei den Schullehrern in Sittensen bzw. auf die lutherischen Bekenntnisschriften. Nach endgültiger abschlägiger Bescheidung aus Hannover blieb nur der Weg als Hauslehrer nach Berlin, in die Judenmission, dann in die lutherische Kirche Polens bzw. die lutherische Freikirche.
3.2
Georg Wilhelm Sattler und das erste Netzwerk der Erweckung
Gymnasialkondirektor Georg Wilhelm Sattler (1794–1866) erlebte seine von Ehlers initiierte Bekehrung in der Fastenzeit 1828. Sattlers Predigt am Gründonnerstag 1828 in Stade zog die Aufmerksamkeit von Generalsuperintendent Ruperti auf die von Ehlers initiierte Bewegung: „Er trat im lebhaftesten Gefühle der Zerknirschung auf, welches er dadurch andeutete, dass er seinen Körper lange auf dem Kanzelpult ruhen ließ und seinen Kopf, tief gesenkt, vorausstreckte. Nachdem er hierauf den Unglauben der Welt gerügt hatte, die noch immer nicht Jesum als wahren Gott anerkennen wolle, ging er zu dessen Kreuzestod über und äußerte den innigen Wunsch, dass Jesus ihm eine, wenn auch noch so kleine Stelle in seinen tiefen Wunden einräumen möge. Nachher sagte er vieles von den unmittelbaren Eingebungen und Einwirkungen des Teufels, und schilderte die Demuth als die Krone aller Tugenden, das Streben aber nach höhern Würden und gelehrten Kenntnissen, als eine erbärmliche Eitelkeit und Thorheit. Zuletzt sprach er ein langes Gebet, worin er Gott tief gerührt dankte, daß er nach einem vieljährigen und marternden Kampfe mit Zweifeln und Irrthümern endlich zum rechten Glauben, zum hellen Licht und zur wahren Seelenruhe gelangt sei und nun bei dem Tische des Herrn zum ersten Male als ein würdiger Gast erscheinen werde“.35 33 Ruperti verstand dies so, dass Ehlers von völliger Unfähigkeit des Menschen zum Guten ausgehe, er hingegen mit Schiller den Menschen als halb Tier, halb Engel sehe, der zu Bösem und Gutem je fähig sei. 34 Johann Martens: Korrespondenz (Typoskript Freetz 2001), 79 (zit. nach Reller, Publizistik, 179–181). 35 Kirchliche Auseinandersetzung, 23; vgl. zum Folgenden Reller, Publizistik, 181f.202–204.
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Herrnhutische Frömmigkeitspraxis verband sich hier mit Motiven des Bußkampfes. Sattler wurde nach einem Examen das Recht zur Predigt und zum Religionsunterricht der Jugend entzogen.36 Der „schöne Kreis befreundeter Seelen“ um Sattler und Justus Alexander Saxer (1801–1875; 1860–1875 Generalsuperintendent in Stade) wurde „mit „Spott und Hohn reichlich überschüttet und im Lande als Mystiker, d. h. als tolle und verrückte Leute, verschrieen“. Dennoch wurde – so Saxer im Rückblick selbstkritisch – mitunter etwas gewaltsam Zeugnis von der neu gefundenen Hoffnung und Jesusliebe abgelegt ohne Rücksicht auf die Konfession.37 Im Bremer Kirchenfreund berichtete Sattler von einer Wanderung am zweiten Weihnachtstag 1835 von Stade aus in Richtung Zeven auf den Spuren von Ehlers.38 Er hatte die erweckten Gruppen 1828 zum ersten Mal besucht und nun von Auswanderungsplänen nach Amerika gehört. Aus Berichten der Bauern wurde ihm deutlich, wie Ehlers die Liebe Christi nicht nur predigte, sondern von Herzen glaubwürdig als Bruderliebe unter den standesmäßig unter ihm stehenden Bauern lebte. Sattler konnte an einem regelmäßig in den Häusern an Sonn- und Festtagen nachmittags um vier Uhr abgehaltenen Konventikel teilnehmen. Nach einem Gesangbuchlied und Gebet um Beistand des Heiligen Geistes wurde eine Predigt Ludwig Hofackers für diesen Sonntag gelesen und schließlich auf den Knien frei um die Ausbreitung des Reiches Gottes gebetet und mit Lied, Vaterunser und Segen geschlossen. Sattler seinerseits predigte über Joh 1,14. Man führte Klage über die Geistlichkeit: „Wir haben unsere theure Kirche mit ihrem schönen Bekenntniß, aber sie bietet dem Mann kein Wasser, und führt die Lechzenden nicht zu der Quelle“. Sattler unterstützte tatkräftig die Gründung der Norddeutschen Missionsgesellschaft als Netzwerk der Missionsvereine 1836, die des Mäßigkeitsvereins in Stade 1839 als Präsident (so auch 1841 im Komittee zur Unterstützung der Deutschen in Amerika),39 blieb aber eine zerrissene Persönlichkeit. Er konnte in der konfessionellen Phase der Erweckung der Vorordnung lutherischer Lehre vor die erweckliche Erfahrung nicht folgen.40 In einem langen Brief an Ludwig Otto Ehlers aus dem Herbst 1844 deutete er sein Verhalten bei der Gründung der Norddeutschen Missionsgesellschaft 1836 als Sünde chiliastischer Hoffnung: „[…] ich sah im Geist schon die Stadt des lebendigen Gottes wie eine geschmückte Braut vom Himmel auf die Erde herabfallen. Siehst du darin die Sünde? […] daß ich durch meinen Eifer und meinen Fleiß dem Herrn Christus 36 Vgl. Kirchliche Auseinandersetzung, 26. 37 Vgl. Wiederbelebung des religiösen Geistes im hiesigen Bezirke, in: Kirchliche Chronik des Consistorial-Bezirks Stade, 12f. 38 Vgl. Reller, Publizistik, 202. 39 Vgl. Reller, Publizistik, 215f. 40 Vgl. Reller, Briefe, 55 (02. 06. 1843 an Ludwig Otto Ehlers).
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doch ziemlich geholfen hatte, sein Reich aufzurichten“.41 Sattler wählte um der Forderung entschiedener Heiligung willen, die ihm auch im Kreise des erweckten Konventikels unmöglich schien, die Einsamkeit.
3.3
Generalsuperintendent Justus Alexander Saxer
Justus Alexander Saxer selbst bestätigte im Rückblick im Bezug auf seinen geistlichen Durchbruch in der Fastenzeit 1828 ein wesentliches Moment, die rationalistisch wie idealistisch begründete, als fein empfundene Wahrheitssuche als Ziel in der Zeit vor der Wende.42 Kondirektor Sattler hatte Saxer schon als Schüler mit den „Monologen“ Friedrich Schleiermachers bekannt gemacht und so die Sehnsucht nach dem Guten und Schönen geweckt, wobei das im Unterricht am Athenäum vermittelte Jesusbild rein menschlich gewesen sei. Die Philosophie, in Göttingen durch Bouterweck unterrichtet, habe bei ihm wie dem Kommilitonen Mallet methodisch den Boden für den Glauben bereitet. Insofern war die erweckliche Spiritualität auch eine Antwort auf die Philosophie der Zeit! Sehnsucht nach Elternliebe, angelernter Glaube, eine Phase des Unglaubens und dann Göttinger Vernunftglaube, der allerdings kaum eine Basis gebildet habe und ohne Frieden ließ, hätten sich abgewechselt. Ein nächster Schritt bot sich durch Schleiermachers 1822 erscheinende Glaubenslehre, die die Dogmen des Glaubens zwar plausibel gemacht, Christus eher gnostisierend ideal gezeichnet und Gott in der Ferne gelassen habe. „In dieser Überzeugung blieb ich bis zum Jahre 1827; da kehrte ein früherer Schüler, L[udwig] E[hlers], der durch Tholuck zum Glauben erweckt war, von Halle zurück […]. Bald hörten wir auch, dass er großen Zulauf habe und in der Gemeine die Frage wach geworden sei: Was muß ich thun, dass ich selig werde? Das war denn doch etwas Neues für uns und wir wünschten als echte Athener mehr davon zu hören. […] E[hlers] kam, uns, seine früheren Lehrer, zu besuchen. Aber wie wunderten wir uns, als wir hörten, dass er nichts Neues, sondern das alte einfältige biblische Evangelium zu verkündigen habe, über das wir weit hinaus zu sein meinten. Er verkündigte es uns aber nicht blos als Lehre, sondern als eine Kraft Gottes zur Seligkeit, und bezeugte uns auf ’s nachdrücklichste, dass wir uns bekehren müssten, wenn wir selig werden wollten. Das war uns eigentlich denn doch zu viel und wir widersprachen lebhaft.“43
Schriftauslegung, Gebet und authentische Liebenswürdigkeit taten das Ihre. Als nächster Schritt folgte betende Unterwerfung unter Jesus. An die Stelle des Stolzes trat das Bewusstsein von Untugend, das aber die stellvertretend zuge41 Reller, Briefe, 59–64. Zu Sattler vgl. auch Kück, Glaube und Vernunft. 42 Vgl. Reller, Publizistik, 189–191. 43 Saxer, Wiederbelebung des religiösen Geistes im hiesigen Bezirke, in: Kirchliche Chronik des Consistorial-Bezirks Stade, 8–10.
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eignete Genugtuung Christi nicht glauben mochte: „Das Geheimniß des Kreuzes Christi ist mir am längsten verborgen geblieben, es ist mir aber am allertheuersten geworden“. Häufige Bibellese und intensives Gebet, zu Anfang matt, gestalteten den Glauben. „Religion ist nicht […] ein Vernunftbegriff, sondern sie ist das Leben in Gott selber. Man kann also der Religion keinen Sitz in irgend einer besondern Kraft der Seele, etwa in dem Erkenntniß- oder Gefühlsvermögen anweisen, sondern sie durchdringt den ganzen Menschen, nimmt wenigstens den ganzen Menschen für sich in Anspruch nach Leib, Seele und Geist, und wohin das göttliche Leben im Menschen nicht eindringt, da ist ein mangelhafter Zustand.“44
Saxer entwarf sogar ein kirchliches Reformprogramm für seine Hannoversche Kirche, das auf aufopfernde Liebe und heldenmütigen, allein auf das Wort Gottes gestützten Glauben bauen sollte, nicht auf anmaßende Selbstsucht, frechen Unglauben oder gar Feuer und Schwert (!) zur Erreichung der Ziele.45 Besserung erwartete er durch Gebet um neue Geistverleihung, Auskehrung des Zeitgeistes, Förderung der Schrifterkenntnis, wahrhaft praktische Prediger- und Schullehrerseminare und häusliche Gottesdienste, Erlaubnis privater Konventikel, durch die Einführung von durch christlichen Gemeinsinn getriebene Presbyterien, erneuerte Kirchenzucht, die Beichte, kirchlich zweckmäßige Agenden, Katechismen und Gesangbücher, geistliche Erneuerung der Konsistorien und Trennung von ihren weltlichen Aufgaben, Beratung mit den Gemeinden und wirtschaftliche Absicherung der Lehrer!
4.
Die konfessionalisierende Phase der Erweckung nach 1830
Die philadelphisch-ökumenische Gesinnung, die reformierte und lutherische Christen selbstverständlich vereinigte, zeigte sich 1836, als der Lutheraner Saxer bei der Gründungsversammlung der norddeutschen Missionsgesellschaft in Hamburg den Verzicht auf die Confessio Augustana als Grundlagendokument vorschlug. Die Hoffnung auf einen Standpunkt jenseits von Wittenberg und Genf auf dem Ölberg in Jerusalem (Friedrich Mallet) erfüllte sich allerdings nicht. Auch, als man 1839 auf der Generalversammlung in Stade einerseits die Confessio Augustana im Unterricht am Missionsbildungsinstitut in Hamburg wieder zu Grunde legte bzw. eigens eine biblische Konkordie zum Abendmahl in sechs Punkten formulierte, an der unter anderem Kandidat Ludwig Harms mitwirkte, verstummte der durch die preußische staatskirchliche Unionspolitik entfachte 44 A.a.O., 11. 45 Vgl. Reller, Publizistik, 197–199.
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konfessionelle Streit nicht.46 Die Hoffnung auf eine wirksame Verbindung verschiedener Konfessionen in der Gemeinschaft des Glaubens und christlichen Lebens sollte sich nicht erfüllen.
4.1
Der Pfarrer und Kirchenpolitiker Ludwig Adolf Petri
Der hannoversche Pastor Ludwig Adolf Petri (1803–1873) band Konfession, Kirche und Mission konsequent aneinander, er verursachte eine Spaltung auch in der Erweckungsbewegung in Bremen-Verden. Von 1843 bis 1856 fanden sich die aus der Norddeutschen Missionsgesellschaft ausgetretenen erweckten Pfarrer wie Zeidler unter anderem als Unterstützer der einzig lutherisch-kirchlichen Dresdener bzw. später Leipziger Mission zusammen.47 Petri begründete 1842 die freie Predigerkonferenz, die jährlich um Pfingsten in Hannover zusammenkam und daher „Pfingstkonferenz“ genannt wurde – gerne verbunden mit dem Jahresfest des 1834 auch von Petri mitbegründeten hannoverschen Missionsvereins. Petri selbst hatte seit 1833 eine Wandlung vom fortschrittlichen Vernunftglauben zu einer biblisch fundierten und zunehmend lutherisch konfessionell gesicherten Glaubenslehre durchgemacht. Die Aufnahme des Locus von der Erbsünde in Petris Schrifttum zeigt diesen Wandel an. Bei dem von August Gottreu Tholuck (1799–1877) geprägten August von Arnswaldt (1798–1855) war ihm die Erfahrung subjektiver Heilsangst durch die Verfallenheit an die Erbsünde begegnet, aber auch die Erfahrung der Befreiung durch die kirchliche Verkündigung von der Rechtfertigung durch Jesus Christus. Petri kämpfte von Anfang an gegen die subjektivistischen Tendenzen der Erweckungsbewegung. Er repräsentiert wie auch Philipp Spitta (1801–1859) und Ludwig Harms einen Typus einer einsam im Bibelstudium errungenen Bekehrung und steht weniger für die Spiritualität der Erweckungsbewegung als die einer neu belebten traditionellen lutherischen Kirchlichkeit und Orthodoxie, die ab 1840 eine ganze Pfarrergeneration prägen sollte.48
46 Vgl. a. a. O., 211–213; Reller, Heidepastor, 105–107.113ff.123. 47 Vgl. Reller, Publizistik, 216–218. 48 Vgl. Krumwiede, Kirchengeschichte Niedersachsens 302–304; Kück, Ludwig Adolf Petri.
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4.2
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Der Dichter der Erweckung, Carl Johann Philipp Spitta
Auch Carl Johann Philipp Spitta49 repräsentierte eben diesen spirituellen Typus des erwecklichen kirchlichen Amtsträgers, wenn auch in seiner Eigenschaft als Dichter als der Vertreter der niedersächsischen Erweckung auf dem Gebiet der Kunst. Spitta entstammte väterlicherseits einer hugenottischen Kaufmannsfamilie in Hannover und hatte mütterlicherseits jüdische Vorfahren. Eine Krankheit mit elf Jahren verhinderte zunächst höhere Bildung. Autodidaktisch bildete sich Spitta weiter, schuf bei Gängen in die Natur erste eigene „wehmütig[e] und schwärmende[e]“ Gedichte, „Zeugen eines schwankenden mit sich selbst uneinigen Charakters“.50 Nach dem Tod des Bruders durfte Spitta von 1819 bis 1821 wieder das Lyzeum besuchen, um von 1821 bis 1824 in Göttingen Theologie zu studieren. In der gängigen Theologie vermisste er einen sich in Gefühl und Herz ausdrückenden Gottesglauben. Jedoch begegnete Spitta bereits hier der literarischen Diskussion zwischen de Wette und Tholuck. Sein eigentliches Engagement galt einer Burschenschaft als eifriger Sänger und Vorturner bzw. der Tafelrunde eines poetischen Freundeskreises, zu der auch Heinrich Heine gehörte. 1824 gab Spitta sein romantisierendes „Sangbüchlein der Liebe für Handwerksleute“ heraus. Von 1824 bis 1828 als Hauslehrer in Lüne bei Lüneburg wirkend, fand er auch Kontakt zum Kreis der Erweckten dort und studierte intensiv die Bibel und die Schriften Martin Luthers. Nach dem geistlichen Durchbruch in Vollendung der Göttinger Impulse von Tholuck entschied sich Spitta, aus Dankbarkeit gegen Gott einzig geistliche Lieder zu dichten. Die Freundschaft mit dem sarkastischen Judenchristen Heinrich Heine wurde auf Spittas Wunsch beendet, weil Heine keinerlei Verständnis für Spittas religiöse Wendung aufbringen konnte. Ein anderer Freund aus dem Göttinger Kreis, der spätere Professor für Mathematik Adolf Peters, erkannte in Spittas Liedern ein Abbild seines „lebendig[gen] Glaubensleben[s], [seiner] Seligkeit in Christo, [seiner] Weltvergessenheit, [seines] demüthige[n] Ringens nach Heiligkeit“ und charakterisierte damit diese Lieder auf sehr treffende Weise. 1833 erschien eine erste Liedersammlung unter dem Titel „Psalter und Harfe“ (1887 in der 53. Auflage),51 1834 eine Neuauflage mit 66 Liedern und 1843 eine zweite Sammlung mit vierzig Liedern. Man kann von dem verbreitetsten Erbauungsbuch geistlicher Dichtung im 19. Jahrhundert sprechen. In dichterischer Form wurde lutherisch-kirchliche und doch innerliche Spiritualität aus Niedersachsen Glaubensausdruck für weite Kreise in Deutschland. Als der Komponist Carl Ferdinand Becker (1804–1877) die erste Sammlung mit vierstimmigen Liedsät49 Vgl. Krumwiede, Kirchengeschichte Niedersachsens, 301f; Klahr, Glaubensheiterkeit. 50 Klahr, Spitta, 308. 51 Vgl. Spitta, Psalter und Harfe.
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zen versah, konnte die singende Rezeption beginnen. Albert Knapp verzeichnete in seinem in Württemberg entstandenen „Evangelische[n] Liederschatz für Kirche, Schule und Haus. Eine Sammlung geistlicher Lieder aus allen christlichen Jahrhunderten“52 bereits mehr als fünfzig Lieder von dem „gesegnete[n], liebliche[n] Sänger“ „wegen ihres innigen, ächt christlichen Gehalts“, zu denen gängige oder eigene Melodien angegeben sind. Spittas Thema ist die fröhliche und dankbare, subjektiv betrachtende Nachdenklichkeit des erlösten Christen in seinem Lebenskreis von der Taufe bis zum Tod. Obwohl Spitta lutherische Kirche und das Amt betonte, überrascht das Zurücktreten eigentlich dogmatischer Themen. Der Blick für Natur und Schöpfung ist jedoch erhalten, Familie und weltlicher Beruf sind von Herzen bejaht. Und eben hier liegt wohl das typisch lutherische Element in Spittas Spiritualität. Vielleicht ist Spittas lutherisch konfessionelle und kirchliche Stellungnahme in der Praxis nicht verwunderlich, während seine Lieder ihn eher subjektivistisch erscheinen lassen konnten. In der Hermannsburger Erweckung hört man wohl darum nichts von Spittas feinsinnigen Liedern. Sie scheint im Rückgang auf die barocken Lieder des alten voraufklärerischen Lüneburger Gesangbuchs volle Genüge gefunden zu haben.53 Insofern ist angesichts von persönlicher Grundverschiedenheit – Spitta feinsinnig und sensibel, Harms klar, praktisch und bis ins Unerträgliche direkt und grob54 – der Umstand wohl keinesfalls überraschend, dass sich beide trotz geographischer Nähe in Wittingen, Peine, Burgdorf und Hermannsburg übereinander ausschweigen. In der Gesangbuchgeneration nach 1900 war ein Grundstock von Spittas Liedern kirchenweit rezipiert.
4.3
Ludwig Harms, Gemeindepastor und Missionsgründer
Pastor Ludwig, genannt Louis, Harms wurde in Walsrode geboren und wuchs in einer kinderreichen, pantheistisch-supranaturalistisch geprägten Pfarrerfamilie auf. Von 1817 an wirkten zunächst Vater Christian (gest. 1848), dann ab 1843 bzw. 1849 Ludwig bzw. von 1865 bis 1878 der Bruder Theodor als Gemeinde52 Stuttgart und Tübingen 21850, 1324 (freundlicher Hinweis von Herrn Dr. Reinhard Deichgräber, Hermannsburg). 53 Vgl. z. B. das in Hermannsburg viel gesungene barocke „Nur frisch hinein, es kann so tief nicht sein“ (Michael Kongehl, In treuer Liebe und Fürbitte, Bd. 2, 198 u. ö.). In Volkennings „Kleine Missionsharfe“, Gütersloh 1852, fehlt Spitta vollständig. 54 Vgl. Johann Hinrich Wicherns Urteil 1843: „Sein Ernst hat übrigens etwas Düsteres, Scharfes, seine Polemik etwas Bitteres, Befremdendes, ganz Rücksichtsloses, wie ich es nicht ganz zu billigen wage; seine Gesinnung ist lauter bis auf den letzten Grund, seine Liebe gewinnend“, zit. nach Reller, Heidepastor, 164.
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pfarrer in Hermannsburg – die beiden letztgenannten zugleich als Missionsdirektoren. Der selbst leitende hannoversche Geistliche, Abt Gerhard Uhlhorn (1826–1901), welcher vom der Erweckung in Osnabrück nahestehenden August Weibezahn konfirmiert worden war, urteilte über Harms: „Harms hat, wie kaum ein anderer seit Luther, es verstanden, dem Volke zu predigen, namentlich dem Landvolk. Volkstümlichkeit ist der Grundzug seiner Predigtweise“.55 Weiter hieß es: „Der Hannoverschen Landeskirche ist von Harms Wirksamkeit ein reicher Segen zugeflossen. Das wird man auch jetzt noch bekennen müssen, obwol es von Hermannsburg aus zur Spaltung gekommen und manches ungesunde in der Hermannsburger Erweckung deutlicher an den Tag getreten ist. […] Was ihn hielt, war das Tiefgewurzeltsein im Leben seines Volks und das Bewusstsein des Segens der Landeskirche für das Volk, sowie die Erkenntnis, daß seine Mission diesen Zusammenhang mit der Landeskirche nicht entbehren könne“.
Damit ist die Wirkung der Persönlichkeit von Ludwig Harms oder besser seiner in ihm Gestalt gewordenen, offenbar glaubwürdigen Spiritualität auf seine Kirchen- und Missionsfest-Gemeinde charakterisiert. Seine Arbeitsformen waren die des Pfarrers in Haupt- und Nebengottesdiensten am Sonntag, Predigt, Sakramentsverwaltung, Unterricht in Privatschule und Katechese, Seelsorge und Beichte, Kasualien, Konventikel in der Woche bzw. am Sonntagabend im Pfarrhaus, Organisation von Mission und Diakonie.56 Damit unterschied er sich nicht von anderen Vertretern der lutherischen und reformierten kirchlichen Erweckung im niedersächsischen Raum. Er überragte von der Bedeutung seines Werkes in und für die zu seinen Lebzeiten aus der Heide nach Südafrika, Indien und Australien getragene Mission und von seiner Predigtgabe her andere, aber gestaltete doch ebenso wie sie nichts als die Pfarrerrolle in einer Kirchengemeinde, wobei ihm die Bedeutung seines ländlichen Kontextes für seine Wirkmächtigkeit sehr wohl bewusst war.57 Harms betonte aus Prinzip die Biblizität seiner Predigt ohne Rücksicht auf irgendeine kritische Reserve, was ihm mancherlei Unverständnis für abstruse Spitzensätze eintrug.58 Harms konfessionelle Prägung ist wohl im Gefolge der klassischen Biographie59 seines einer anderen konfessionalistischen hannoverschen Pfarrergeneration nach 1850 angehörenden Bruders Theodor überbetont worden. Lutherische Identität, soweit sie mit der Schrift übereinstimmte, war ihm selbstverständliche Voraussetzung, konfessionalistischer Streit als Widerspruch zu praktischer Heiligung als Hauptan-
55 56 57 58
Zit. nach Grafe, Predigt, 7. Vgl. Rakowski, Harms’ diakonisches Wirken. Vgl. Reller (Hg.), Seelsorge, 4. Z. B. bei Wilhelm von Kügelgen (1802–1867), Hofmaler in Ballenstedt und anhaltinischer Kammerherr (vgl. Reller, Heidepastor, 218f). 59 Vgl. Harms, Lebensbeschreibung.
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liegen zutiefst verhasst.60 In dieser Akzentsetzung auf der Praxis liegt der gesetzliche Zug der Hermannsburger Spiritualität, auf die Karl Barths Diktum vom Gesetz als Form des Evangeliums gut passen würde. Die nach Uhlhorn auch im Alter noch erkennbaren Spuren innerer Kämpfe weisen auf Harms Bekehrung zurück, die in mancherlei Hinsicht Analogien zu den oben beschriebenen aufweist. Durch den Tod seines zwei Jahre älteren Bruders August in der Examensphase im März 1830 tief erschüttert, vergewisserte sich der damals noch ganz durch idealistisch-eudämonistische Wahrheitssuche geprägte Harms ähnlich wie Ehlers zunächst der in der Erkenntnis Jesu verbürgten Gewissheit des den Tod überwindenden ewigen Lebens (nach Joh 17,3). Ein wohl sich über das ganze erste Jahr in Lauenburg hinziehender Prozess innerer Auseinandersetzung und äußerer diakonischer Aktivität fand im Frühjahr 1831 ein Ende, als Harms sich im Bekenntnis seines durch die Sünde ungenügenden Vermögens und der Vertröstung auf Christi Versöhnungswerk genügen ließ und zu ungeahnter erwecklicher Aktivität frei wurde.61 Das Bibelwort war einzig als im wagenden Glauben Gewissheit schenkende Instanz von Bedeutung. In einer Festpredigt klingt Tholucks Hauptthese nach: „Es gibt keine Himmelfahrt des Glaubens ohne die Höllenfahrt der Buße“.62 Harms’ Gebetspraxis hat bis zu den sprichwörtlichen Schwielen an seinen Knien bei seinem Tod nachweislich weit gewirkt auf die ab 1847 nach Hermannsburg strömende Volksbewegung. König David rühmt er als „Meister in der größten aller Künste, [… als] Meister im Beten“.63 Gebetspraxis macht für Harms die Lebendigkeit des Glaubens aus: „Eher aber ist das Christentum nicht einen Schuß Pulver wert, als bis du den lebendigen Gott hast; tote Götter, Gedankengötter sind nichts wert, die haben die Heiden auch“.64 Christliche Spiritualität ereignet sich lutherisch nicht anders als „durchs Gebet und durch das Wort Gottes“. Am unbedingten Vertrauen zum biblischen Wort hängt das unbedingte kindliche Vertrauen zum Vater: „wer gesunde Vernunft hat, der ist unter Gott und nicht über Gott, der hat die Vernunft, um Gottes Wort anzunehmen und nicht zu meistern“. Biblische Worte ihrerseits prägen das Gebet. Form des Gebets ist das Kniegebet, das den Tag am Morgen wie am Abend umrahmt – privat wie in der Hausgemeinde. Beten heißt das Herz ausschütten: „Ist ein Kind traurig, so geht es hin, und klagt es mit Weinen und Schluchzen seiner Mutter; fürchtet es sich vor etwas, so läuft es hin, verbirgt sich an seiner Mutter Brust 60 Vgl. Reller, Luthertum, 54f. 61 Vgl. Reller, Der junge Ludwig Harms. 62 Schon bemerkt bei Grafe, Predigt, 186 unter Verweis auf: Festbüchlein, hg. von Theodor Harms, Hermannsburg 1871, 14. Vgl. den Brief an K.G.J. Sirelius in Finnland, 08. 03. 1861, in: Harms (Hg.), In treuer Liebe, 85. 63 Zu Ps 18 in: Der Psalter, 67, zit. nach Gremels, Spiritualität, 128. 64 Zu Ps 34 in: Der Psalter, 252f., zit. nach a. a. O., 129; die folgenden Zit. 131.140f.143–145.
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und sagt ihr, wovor ihm graut; freuet es sich, so erzählt es mit lächelndem Munde seiner Mutter, worüber es sich freuet; bedarf es etwas. so bittet es seine Mutter darum. Denn das Kind weiß, bei seiner Mutter findet es immer Liebe, Schutz, Trost, Hülfe, Erhörung“. „Brechen Anfechtungen herein über ein Menschenherz, so ist es gewiß, daß der Teufel den Sieg gewinnt, wenn der Mensch vom Beten abläßt. Läßt er aber nicht davon ab, sondern fährt fort mit Schreien zu Gott, so ist es gewiß, daß Gott den Sieg gewinnt.“ „Was ist das für ein Rath, aus der Angst zu kommen? Wiederum kein anderer, als Beten. Rufen, Flehen um Gnade, das hilft allein, Gnade, Gnade, Gnade ist das Wunderwort, welches alle Wunden heilt; Gnade ist gar kein Verdienst, Gnade, die als Bettler vor Gott steht. Das Geschrei um Gnade dringt durch die Wolken zum Herzen Gottes.“
5.
Prophetisch erneuerte Bibelfrömmigkeit im kirchlichen Gewand
Fragt man im Rückblick nach spirituellen Grundelementen der Erweckungsbewegung in Niedersachsen, dann ist die letztlich dominierende kirchliche Form auffallend trotz aller Kritik, die zwischenzeitlich an der kirchlichen Institution geübt werden kann. Die Hoffnung auf eine Erneuerung der Kirche durch das Wirken einer erneuerten Pfarrerschaft auf das Volk vor Ort in den traditionellen Vollzügen in Bußverkündigung, Sakramentsverwaltung, Seelsorge, Kirchenzucht und Kasualien, im Gegenüber von allgemeinem Öffentlichkeitsanspruch und bekehrter „Kerngemeinde“, bleibt lebendig und setzt sich letztlich durch. Formen wie der Sonntags- und Wochengottesdienst, Bibel- und Gebetsunterweisung stehen nicht in Frage. Auch die einzig nennenswerte Freikirchenbildung, die lutherische, gibt diesen kirchlichen Charakter nicht zugunsten einer exklusiven „Gemeinschaft der Wiedergeborenen“ auf. Mennonitische, methodistische oder baptistische Gemeinden Wiedergeborener setzen sich nicht durch. Die von Ludwig Harms schließlich wesentlich in Hermannsburg gesammelte Erweckungs- und Missionsbewegung gründete in Übersee bewusst auch nichts anderes als Kirchen nach der Lüneburger Kirchenordnung. Erweckliche Spiritualität kam auch nicht in der Hochphase der Bewegung zum Sieg, in der sie sich zunächst angefeindet und dann als geduldete Minderheit sah, sondern in einer neuen konfessionell geprägten Pfarrergeneration nach 1850. Kritisch ließe sich fragen, ob die um alte Herzenströster und neue Postillen, wie die von Harms zu Episteln und Evangelien, versammelte hörende und lernende Gemeinde selbst im Glauben sprachfähig wurde: Versiegten Impulse einer lutherischen Laientheologie wie bei August von Arnswaldt? Bemerkenswert ist die auf der Grundlage einer erneuerten Rechtfertigungserfahrung aus Glauben und Gnade ohne des Gesetzes Werke erwachsende Hoffnung, christliche Gemeinschaft über traditionelle konfessionelle Grenzen hinweg leben zu können, auch wenn sich
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schließlich die konfessionell bestimmten Kirchenkörper durchsetzten. Impulse herrnhutischer Diasporaarbeiter mit christuszentrierter Predigt und spiritueller Praxis dürften anfangs weiter gewirkt haben, als es die Quellen sichtbar machen. Die endzeitlich spekulative Bibelauslegung, die sich in den Anfängen vielfältig beobachten lässt, blieb bei Ludwig Harms auch in den späten Jahren ein Kriterium, insofern als er mit der innergeschichtlichen Erfüllung biblischer Prophetien rechnete bzw. ihre Nochnichterfüllung oder mangelhafte biblische Klarheit ausdrücklich feststellte.65
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65 Vgl. Reller, Luthertum, 54–56.
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Theodor Strohm
Spiritualität im Leben und Werk Johann Hinrich Wicherns (1808–1881)
Die Strahlkraft, die Johann Hinrich Wichern in seiner Zeit und bis heute in der evangelischen Kirche und ihrer Diakonie entfalten konnte, ist ganz wesentlich seiner von der Liebe Christi getragenen spirituellen Prägung, die er von Jugend an gewonnen und die sein ganzes Leben und Wirken bestimmt hat, zu verdanken. Er tauchte im Laufe seines Lebens immer tiefer ein in ein weitverzweigtes Netzwerk aktiv erweckter Christen, die die Zeichen der Zeit in biblisch spiritueller Weise deuteten, ein lebendiges Christentum mit der Antwort des Menschen auf den Ruf des Evangeliums zu Umkehr und geistiger Erneuerung praktizierten und ihm den Weg bereiteten, den er mit Vollmacht und tiefer Glaubenskraft voranging und damit seine Kirche bis in die Gegenwart beeinflusste. Im Folgenden sollen einige Lebenssituationen Wichern kurz beleuchtet werden, in denen seine spirituelle Glaubenskraft und Ausstrahlung besonders erkennbar werden. Angesichts der Fülle an theologischer und biografischer Literatur zu Johann Hinrich Wichern ist die Beschränkung auf einige seiner Selbstzeugnisse sicher zu rechtfertigen.1
1.
Geistliche Prägungen in den Jugendjahren
Der 18jährige Johann Hinrich begann 1826 mit einem Tagebuch, das er – mit Unterbrechungen – bis 1831 führte und das, wie der Herausgeber Martin Gerhard mit Recht feststellte, besonders wertvoll ist „als kirchengeschichtliches Dokument für die Zeit der Erweckungsbewegung im ersten Drittel des 19. Jahrhunderts“, vor allem im Blick auf Hamburg, wo Wichern mit zahlreichen führenden Persönlichkeiten als Schüler, Hauslehrer und Kandidat in unmittelbare 1 Hier seien nur einige Veröffentlichungen aus dem Diakoniewissenschaftlichen Institut Heidelberg der letzten Jahre zu Wichern erwähnt: z. B. Herrmann/Gohde/Schmidt (Hg.), Wichern – Erbe und Auftrag; Albert, Christentum und Handlungsform; Gerhard, Wichern und die Innere Mission; Herrmann/Schäfer (Hg.), Ausgewählte Predigten.
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Berührung kam. Wichern beginnt es mit einem Rückblick auf seine Kindheit und erste Schulzeit und dankt seinen „guten und lieben Eltern“, die ihn „hegten und pflegten, solange sie konnten“ und fährt fort: „durch die Taufe ließen mich meine Eltern in Gottes Verzeichnis der Christen (d. h. der mit dem Heiligen Geist gesalbten) einschreiben“2. Sein treuer und frommer Vater, der sich aus einfachsten Verhältnissen zum Notar hochgearbeitet hatte, starb, „als ich 15 Jahre alt“ war. „Ach mein Gott, wie liebte, wie liebe ich ihn, wie lieben ihn alle“. Mit einem Gebet und Hilferuf zu Gott endet dieser Rückblick.3 Während die liebevolle Mutter, auch aus einfachen Verhältnissen, ihn umsorgte, förderte ihn sein Vater schon vor dem Schulbesuch mit Lesen und Schreiben, weckte durch Musikunterricht seine musischen Fähigkeiten und ermöglichte ihm enge Freundschaftsbeziehungen zu frommen christlichen Familien und Gemeindemitgliedern. Schon dem Siebenjährigen wurde in einem Zeugnis bescheinigt: „Erfreulich ist insbesondere die Entwicklung seiner Vernunft, seines religiösen Sinnes und seiner Einbildungskraft und Phantasie“.4 Es verwundert nicht, dass der junge Wichern vor allem nach seinem Eintritt in das Gymnasium Johanneum in die heftigsten inneren Spannungen geriet angesichts der rationalistischen Lernverpflichtungen in der Schule und seiner in seiner Gemeinde und dem persönlichem Umkreis gepflegten altgläubigen biblischen Glaubensprägung. Als Wichern den jungen Mitarbeiter am Johanneum, Otto Ludwig Sigismund Wolters, kennenlernte, erwachte er gleichsam zu neuem Leben. Wolters blieb „bis in die Studienzeit hinein sein treuer Beichtvater und verständnisvoller Seelsorger“, der auch die geistigen Fähigkeiten seines Schülers förderte und einzuschätzen wusste. Er führte Wichern nach gründlicher Vorbereitung am 6. Juni 1825 – den inzwischen 17jährigen – zur Konfirmation. Im Rückblick auf diese Zeit (1824/25) schrieb Johann Hinrich, sie hätte seinem Leben eine völlig neue Ausrichtung geschenkt. Vor dieser Zeit sei ihm alles Lernen und Auffassen unendlich schwer gefallen, alles blieb unklar und er fühlte sich beschränkt. „Der Durchbruch geschah damals, als Gottes Geist mich anfing von neuem zu gebären. Das Licht des Evangelii erleuchtete auch für mich die Wissenschaften und von der Zeit an […] habe ich Fortschritte in jeglichem gemacht.“ Er habe trotz der Beschäftigung mit verschiedenen Wissenschaften erst jetzt zu lernen begonnen und was vorher war, sei alles umgestürzt worden, und er habe von vorne wieder angefangen.5
Zuvor brachte der Tod des Vaters am 14. August 1823 eine deutliche Wende in sein Leben. Die Witwe mit ihren sieben Kindern geriet an einen existenziellen, finanziellen Abgrund. Johann Hinrich sah sich genötigt, neben der höchst an2 3 4 5
Gerhard (Hg.), Jugendtagebücher, 10. A. a. O. Zit. nach: Gerhard, Wichern, Bd. 1, 18 Gerhard (Hg.), Jugendtagebücher, 131f. Vgl. auch Gerhard, Wichern, Bd. 1, 27–31.
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spruchvollen Schulausbildung durch Privatstunden zum Unterhalt der Familie beizutragen, sodass er Ostern 1826 das Johanneum ohne Anschluss verlassen musste. Auch hier kam noch eine Wende in sein junges Leben, als er als Erziehungsgehilfe in die von dem Schulleiter Johann Ludwig Emanuel Pluns neugegründete christliche Erziehungsanstalt für Söhne höherer Stände eingestellt wurde. Bei Pluns geschah für ihn der entscheidende Durchbruch hinsichtlich seiner pädagogischen und menschlich erzieherischen Fähigkeiten. Wichern kam nun neben der wachsenden Beziehung zu Wolters und Pluns in Kontakt mit führenden Familien Hamburgs und erhielt dann die Möglichkeit, seine Ausbildung am Akademischen Gymnasium mit intensiver Vorbereitung auf sein Studium der Theologie weiterzuführen. Er beschäftigte sich nicht nur intensiv mit reformatorischen Schriften, auch die Schriften von Thomas a Kempis, Johann Arndts „Bücher vom wahren Christentum“, Philipp Jakob Speners „Pia desideria“ und vieles andere mehr las er mit großem Interesse. Großen Einfluss auf den jungen Wichern übte auch Johannes Gossners Traktat „Weg zur Seligkeit“ aus, das ihm, wie er später bekannte, „zur Herzenserkenntnis und ernsten Übung in der Frömmigkeit half“.6 Er lernte Amalie Sieveking kennen, deren weibliche Fürsorgeleistungen er hochschätzte.7 Bei Pluns hörte er Genaueres über die Rettungsarbeit des Grafen von der Recke und dessen Arbeit in Düsselthal b. Düsseldorf. In diesem Zusammenhang trug Pluns Wichern seinen Plan vor, eine Anstalt für Waisen- und Verbrecherkinder zu gründen und bot seinem Erziehungsgehilfen nach dessen Studium das Predigeramt und sogar die Nachfolge in der Leitung an.8 Am 9. Sonntag nach Trinitatis 1826 hielt er seine erste Predigt über die Kinder der Finsternis und die Kinder des Lichts (Lk 19,1–9). Hier zeigt er zum ersten Mal seine umfassende Kenntnis der Bibel, die er als lebendige Botschaft der Vergebung der Sünden und Wiedergeburt zu neuem Leben ins Spiel bringt. Hier wird aber auch erstmals die Botschaft vom Reich Gottes, die sein weiteres Leben bestimmt, ausgesprochen. „Die Kinder des Lichts werden aus der Enge ihres Weges geführt „in die weite himmlische Wohnung, in das geistliche Reich, das Reich Gottes, des Lichts, das menschliche Vernunft nicht begreifen und verstehen kann, in welchem aller Menschen Herzen versammelt sind zu einem schönen Bunde […] die Gott vertrauen und in der Taufe geschworen, dass sie Christum zum Herrn und Gott haben wollen […] wir schwören,
6 Gossner, Weg zur Seligkeit [1827]. Wichern meinte, der Text sei 1825 oder 26 erschienen. Vgl. Gerhard, Wichern, Bd. 1, 49f. 7 Wichern gab später Erinnerungen einer Freundin von Amalie an sie heraus: ders. (Hg.), Denkwürdigkeiten aus dem Leben von Amalie Sieveking. 8 Vgl. Gerhard (Hg.), Jugendtagebücher, 31.47 (erster Eintrag 27.9., zweiter Eintrag 25. 10. 1826); vgl. auch Gerhard, Wichern, Bd. 1, 33f.
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nur auf Gott den Vater, Sohn und heiligen Geist zu bauen, diesem Dreieinigen allein zu dienen und ihm in diesem Glauben Früchte zu bringen, worin man uns erkenne.“9
Das Thema, das in dieser Predigt zum ersten Mal anklingt, beschäftigte Wichern zeit seines Lebens, wurde aber während seines Studiums vor allem in Berlin ab März 1830 bei dem Kirchenhistoriker August Neander zur endgültigen Klarheit geführt. Während er in den drei Semestern ab Oktober 1828 in Göttingen eingehend die biblisch-exegetischen Grundlagen des christlichen Glaubens vor allem bei Professor Friedrich Lücke studierte und seinen Horizont systematisch erweiterte, traf er auch ganz persönlich in Berlin Professor August Neander. Schon auf der Reise nach Göttingen hatte Wichern angefangen, in Neanders „Denkwürdigkeiten aus der Geschichte des Christentums und des christlichen Lebens“ zu lesen.10 Ihr Grundgedanke war, dass die Lebensäußerungen des Christentums im Mittelpunkt von dessen Geschichte stehen, dass im Leben der Gläubigen das Wesen des Geistes Gottes am deutlichsten in Erscheinung tritt. Überall, wo christliche Gemeinschaft in der Liebe zueinander und in der tätigen Liebe sich entfaltet, dort ist Kirche, und der Weg frei zum Reich Gottes. „Hier liegen die Wurzeln der großen Hoffnung, die Wichern an sein Lebenswerk geknüpft hat, dass nämlich die Tat der aus dem Glauben geborenen Liebe die Zerrissenheit der evangelischen Christenheit überwinden würde“. Der durch die Liebe tätige Glaube war es auch für Neander, „welcher nicht nur bei dem einzelnen, sondern auch bei ihrer Gemeinschaft notwendig eine neue Schöpfung in dem ganzen äußeren Leben hervorbringt, und diese Schöpfung ist die Kirche“.11 Von dieser Neuschöpfung sind in Zukunft nicht nur die Familien, sondern die Ordnung des Miteinanders in Gesellschaft und Staat betroffen.
Es verwundert nicht, dass der junge Wichern in Berlin nicht zuletzt durch seine Beziehung zu dem – vom Judentum zum katholischen Glauben konvertierten – Arzt Nikolaus Heinrich Julius dessen Vorlesungen über Gefängniskunde hörte und studierte, sondern in freundschaftlichen Gesprächen mit ihm alles über die Straf- und Besserungsanstalten, Erziehungshäuser, über Armenfürsorge und die anderen Werke der christlichen Fürsorge erfuhr und in sich aufnahm.12 Wichern hatte schon während seiner Göttinger Zeit eine „Pilgerreise“ zu den Franckeschen Stiftungen in Halle unternommen, die – wie „das ganze ungeheuere Werk des frommen August Hermann Francke“ und jetzt das Waisenhaus – „einen ebenso stärkenden als erhebenden Eindruck“ auf ihn machten.13 9 10 11 12
Herrmann/Schäfer (Hg.), Ausgewählte Predigten, 66; vgl. auch Gerhard, Wichern, Bd. 1, 50f. Neander, Denkwürdigkeiten; vgl. auch Gerhard, Wichern, Bd. 1, 79. Gerhard, Wichern, Bd. 1, 79. Julius gab seit 1829 die „Jahrbücher der Straf – und Besserungsanstalten, Erziehungshäuser, Armenfürsorge und anderer Werke der christlichen Liebe“ heraus. 13 Vgl. Gerhard, Wichern, Bd. 1, 77.
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Das wohl wichtigste Ereignis für Wichern in Berlin war die persönliche Begegnung – übrigens auf Empfehlung August Neanders – mit dem über siebzigjährigen Führer der erweckten Kreise, dem Baron Hans Ernst von Kottwitz. Durch Kontakte mit der Herrnhuter Brüdergemeine hatte sich der Baron seit etwa 1788 entschlossen, sein Leben der Verwirklichung eines tätigen Christentums zu widmen und Arbeitskraft und Vermögen für die Armen einzusetzen. 1806 begann er in Berlin, die in den Wirren der Napoleonischen Kriege arbeitslos gewordenen Handwerker an Spinnrad und Webstuhl zu beschäftigen. Hieraus entstand am Alexanderplatz eine „Freiwillige Beschäftigungsanstalt“, die von König Friedrich Wilhelm III. finanziell gefördert wurde und noch über Kottwitz’ Tod hinaus bestand. An seinem 23. Geburtstag besuchte Wichern am Vormittag „den lieben Geheimen Oberfinanzrath Semler, dessen freundliche Liebe und Einfältigkeit des schlichten Herzens mir immer sehr wohl thut“. Karl Salomon Semler, in dessen Haus Wichern aus- und eingehen durfte, führte ihn in das staatliche Armen- und Gefängniswesen ein. Am Nachmittag wurde dem Studenten „großes zu Theil durch den Besuch bei dem Vater Kottwitz. Er ist ein johanneischer Evangelist in seinem, mit himmlischer Gnade und Freudigkeit geschmückten Alter […]. Mein Heiland, mein einziger Trost, ach laß mich auch so werden, so ergeben und Dir geweiht“.14
Das Studium und das Netz von Freunden und Förderern in Berlin prägten Wicherns weiteres Leben in jeder Hinsicht. Noch kurz vor dem Ende seiner Studienzeit vertraute er seinem Tagebuch am 23. Juli 1831 die Erkenntnis an, dass er erst im letzten halben Jahr „den einfachen Kinderglauben wieder lernte in seiner Einfalt und Tiefe […] dass ich in meinem flehenden Gebet auch der Bitte nicht vergesse, Gott möge mir seinen Heiligen Geist schenken, dass er mich in die Wahrheit seiner Offenbarung einführe“. So habe er erst jetzt die Botschaft der Versöhnung, die in der „höchsten Weissagung, die wir je in allen Zeiten und Welten vernommen“, die Weissagung vom leidenden Gottesknecht (Jes 53), durch den Gott die Welt mit sich versöhnt, verstanden. Mit dem Gebet: „Herr stärke meinen schwachen Geist zum Gebet und zur Fürbitte“ endet Wicherns Jugend–Tagebuch.15 Der Glaube an die Welt überwindende Kraft der Versöhnung Gottes durch das Werk Christi und das Eintreten in den Dienst der Versöhnung im Geiste Christi blieb Wicherns Grundbekenntnis für sein weiteres Leben und Wirken. Das Be14 Gerhard (Hg.), Jugendtagebücher, 240f. Es folgt ein inniges Gebet: Christus möge dem 23jährigen geben, „dass fortan warme Strahlen des Lichts aus mir erstrahlen mögen, ein Abglanz des Lichts, das Du selber bist, dass ich Dein Abbild, Dein Ebenbild, Dein Bruder werden möge! Eins habe ich in dieser Zeit gelernt: Dass das Leben schwer ist, ehe es leicht wird. Hilf mir o Heiland! Amen“. 15 Vgl. a. a. O., 247–249, Zit. 248f.
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kenntnis geschah kurz vor seiner Abreise aus Berlin, und bevor er sich – nach einem Dreivierteljahr am 6. April 1832 – vor dem Hamburger Ministerium seinem theologischen Examen unterzog.
2.
Der Glaube, der in der Liebe tätig wird – Wichern und das Rauhe Haus
In Hamburg – angesichts des immer stärker werdenden Elends und der Entsittlichung der sog. unteren Klassen vor allem in den Vorstadtgebieten – wuchsen unter den erweckten kirchlichen Kreisen die Bereitschaft und der Wille, einen kirchlichen Aufbruch und Neuanfang zu wagen. Die zwei väterlichen Freunde Wicherns, der Pastor an St. Petri seit 1820, Johann Wilhelm Rautenberg, und der Senator Martin Hieronymus Hudtwalker, beide einflussreiche Förderer der Erweckungsbewegung in Hamburg, waren wichtige Impulsgeber für den Neuanfang. Angesichts der trostlosen Verwahrlosung der Jugend in Rautenbergs Gemeinde hatte er nach englischem Vorbild im Januar 1825 eine Sonntagsschule gegründet, in der die Kinder und Jugendlichen Gelegenheit zur religiös-sittlichen Unterweisung und zur geschwisterlichen Gemeinschaft erhalten sollten. Für Wichern war es, wie Gerhard feststellte, „die Erhörung seines Gebetes um einen Wirkungskreis unter den Armen seiner Vaterstadt“, als ihn überraschend die Lehrerschaft der Sonntagsschule zum Oberlehrer berief. Bei seiner Einführung am 24. Juni 1832 wurde an Timotheus erinnert, über den Paulus feststellte: „Ich habe keinen, der so gar meines Sinnes sei, der so herzlich für Euch sorgt“ (Phil 2,20). Ein Besuchsverein wurde zu dieser Zeit gegründet, der die Lehrer und Freunde der Sonntagsschule veranlasste, in die Häuser der Armen zu gehen, um ihnen ihre liebevolle Zuwendung und Hilfe zuteilwerden zu lassen. Der Senator Hudtwalker, der im Austausch mit Johannes Falk in Weimar stand und dessen „Gesellschaft der Freunde in Not“ kannte, plante für Hamburg eine „Gesellschaft zur Verbreitung christlichen Sinnes“, in deren Aufgabengebiet er neben Gründung von Sonntagsschulen für Erwachsene und Handwerkslehrlinge und Gesellen auch die Errichtung einer Anstalt für sittlich verwahrloste Kinder vorsah. Der Plan, in Hamburg eine Rettungsanstalt nach den Vorbildern Falks in Weimar, Zellers in Beuggen b. Basel, von der Reckes in Düsselthal und Kopfs in Berlin zu gründen, wurde im Besuchsverein und durch die Mitwirkung Hudtwalkers immer konkreter. Der Senator sorgte dafür, dass die Pläne in den kirchlichen und lokalen Medien an die Öffentlichkeit kamen. Wichern bemühte sich, die Freunde über die bereits erzielten Erfahrungen mit Rettungsanstalten und über zukünftige Aufgaben dieser Arbeit zu informieren. Er veröffentlichte in den Vaterländischen Blättern einen Beitrag „Mitteilungen über Rettungsanstal-
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ten für sittlich verwahrloste Kinder“.16 Wichern wurde auch nach der Gründung des Rauhen Hauses nicht müde, den Kontakt zu diesen Rettungshäusern zu pflegen. Vor allem die Praxis Johannes Falks im Lutherhof zu Weimar regte ihn frühzeitig an. Er wolle „die Leitung der Rettungsanstalt nach dem Vorbilde Falks und in der Kraft Christi“ übernehmen. Bei Falk fand er „den Segen des Familienlebens hoch bewertet“. Außerdem wollte Falk seine Schützlinge zu ordentlichen und selbstständigen Handwerkern ausbilden, die auch beim Bau ihrer Häuser aktiv mitwirkten, zu selbstständigen Christen und Staatsbürgern erziehen durch geregelten Unterricht, aber auch durch musische Bildung. Er betonte die Einheit von Beten und Arbeiten als Lebensziel. All dies hat Wichern auf seine Weise später sorgfältig umgesetzt.17 Der Durchbruch gelang, als auch noch der Kontakt zu dem Syndikus Karl Sieveking – dem Vater von Amalie – aufgenommen wurde. Schon bei der ersten Begegnung am 13. November 1832 erkannte der in Fragen der Sozialarbeit und Diakonie – nicht zuletzt durch familiäre Beziehungen – erfahrene Syndikus die Bedeutung des jungen Wichern.18 Ohne seine großzügige Hilfe und Bereitstellung eines geeigneten Landgrundes in Horn wäre Wicherns Projekt kaum zustande gekommen. Der Syndikus und der Senator sorgten dafür, dass eine hochkarätig besetzte Mitgliederversammlung und ein Verwaltungsrat gebildet wurden, in dem die zukünftige Ordnung des geplanten Hauses strukturiert und vorbereitet wurde. Hier begab Wichern sich auf den Weg, auf dem er bereits am 12. September 1833 von der Gründungsversammlung des Rauhen Hauses zum Vorsteher des Rettungshauses berufen wurde. Wichern, der in der frommen Amanda Böhme eine liebenswürdige Ehefrau und kompetente Gehilfin gefunden – er hatte sie bei seiner Arbeit in der Sonntagsschule kennengelernt – und 1835 geheiratet hatte, konnte nach Fertigstellung geeigneter baulicher Vorhaben seine Vision vom Reiche Gottes durch die Wiederbelebung und Errettung gefallener Kinder und Jugendlicher verwirklichen. In seinem dritten Jahresbericht, den er am 10. April 1837 vor dem Verwaltungsrat vortrug,19 berichtete er einerseits über die Anfangsschwierigkeiten, andererseits über sein ganzheitliches Konzept. „Dem Herrn gebührt dafür Lob und Ehre“, so beginnt er seine Darstellung, „dass Er durch die Leitung und Segnung unserer Kinder, freilich teilweise durch harte und schwere, auch durch freundliche und liebliche Wege unsere Hoffnung auf ihre Errettung nicht hat zuschanden werden 16 SW IV/1, 47–95 (Rettungsanstalten für verwahrloste Kinder, 1833). 17 Gerhard, Wichern, Bd. 1, 254f. 18 „Es war – nach den Worten eines Enkels – das Größte an Karl Sieveking, dass er die Bedeutung Wicherns erkannte“, a. a. O., 130–138. 19 Vgl. AS II, 51–89 (Dritter Jahresbericht des Verwaltungs-Raths der Rettungsanstalt für sittlich verwahrloste Kinder in Hamburg (im Rauhen Haus in Horn) vorgetragen in der am 10. April 1837 in der Börsen-Halle gehaltenen öffentlichen Versammlung, Hamburg 1837).
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lassen.“20 Er konnte schon nach drei Jahren berichten, dass 64 Kinder „die Wohltat der rettenden Erziehung“ bereits erlebten. Ausführlich schildert er die in der Hausordnung beschriebenen Dimensionen der Erziehung: neben der Elementarbildung in Lesen, Schreiben, Rechnen nimmt die biblisch-geistliche Bildung einen großen Raum ein. Die Einübung in mehrdimensionale handwerkliche, agrarwirtschaftliche Fähigkeiten geschieht durch aktive Mitwirkung in der Erstellung neuer Quartiere und dem Ausbau des eigenen landwirtschaftlichen Betriebes unter Anleitung erfahrener Gehilfen aus dem Handwerk. Schließlich wird dem Gemeinschaftsleben und der Feier der Andachten, der Gottesdienste und vor allem der Ausgestaltung der kirchlichen Festtage größte Aufmerksamkeit gewidmet.21 Wichern legt hier seinen spirituellen Ansatz offen, wenn er feststellt, es gebe zwar gegenwärtig Rettungsversuche, doch werde sich wirkliche Rettung nur im Evangelium Gottes von Christus als dem eingeborenen Sohn finden lassen. Denn „in ihm weht der Geist der echten Freiheit, der das ganze Wesen in ein neues Leben entrückt und eine befriedigende lebensvolle Gestaltung aller inneren und äußeren Verhältnisse unseres Geschlechts in Haus und Kirche und Staat hervorbringen und vollenden kann“. Das Rauhe Haus wolle als ein Stein zum Bau des edlen neuen Gebäudes wirksam werden. Er kann berichten, dass die meisten Kinder, die die Sache des Reiches Gottes nicht bloß als Gedächtnis, sondern als Lebenssache in sich aufgenommen haben, beginnen, das neue Leben selbst an sich zu erleben.22 Wichern wird nicht müde zu betonen, dass die Geschichte mit Gott für jeden Einzelnen durch das Zusprechen der Vergebung beginnt und mit der Absolution wird der Mensch, werden die Wichern anvertrauten Kinder in den großen Zusammenhang der Geschichte Gottes mit der Welt und damit in die theonome Gemeinschaft der Liebe in Christus aufgenommen. So wird die Heilsgeschichte zur persönlichen Geschichte jedes Einzelnen im Glauben. Dies ist, wie Karl Janssen betont, das „eigentlichste Anliegen der Wichernschen Erziehung“.23 Wichern hat später auch bei der Ausbildung der Brüder im Rauhen Haus die Reich-Gottes-Geschichte in den Mittelpunkt gestellt.24 Die in die Schöpfung eingelassenen Stiftungen des Volkes, der Familie, der Kirche und des Staates, die durch die Sünde der Menschen und durch die Schuld auch der Christenheit in Verfall geraten sind, gewinnen, wenn sie von den Kräften des Reiches Gottes durchdrungen werden, ihre je eigene Bestimmung wieder zurück.25 20 21 22 23 24 25
A. a. O., 51. Vgl. a. a. O., 88. A. a. O., 63f. Karl Janssen, „Einleitung zu Johann Hinrich Wichern“, in: AS I, 23. Vgl. hierzu Meißner, Kirchenbegriff, 85–92; Albert, Christentum und Handlungsform, 114f. Vgl. hierzu Schäfer, Grundanschauungen. Schäfer hat diese Perspektiven zusammengefasst:
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Das Rauhe Haus war im Sinne Wicherns nur lebensfähig, wenn sich genügend geeignete Helfer fanden, die sowohl über handwerkliche als auch pädagogische Fähigkeiten verfügten und nicht zuletzt im evangelischen Geist zu wirken bereit waren. Wichern hatte sich genaue Kenntnisse von Christian Heinrich Zellers pädagogischem Modell und seiner Verbindung von Rettungshaus und Armenschullehreranstalt in Beuggen erworben und hatte Zeller um einen frommen handwerklich geschickten Zögling gebeten und in dem gläubigen Bäckergesellen Joseph Baumgartner im Juli 1834 erhalten. Als „Bruder“ leitete er eine Kindergruppe, während sich Wichern in zunehmend systematischer Weise um die geistlich-pädagogische Ausbildung der „Brüder“ bemühte. Während ihres Arbeitens, Lernens und Lebens im Rauhen Haus sollte ein Brüderbund entstehen, der einen bleibenden Zusammenhang in „einander dienender Gesinnungs- und Berufsverwandtschaft“ lebenslang gewährleistet.26 In der Denkschrift aus dem Jahr 1849 zieht Wichern eine Art Zwischenbilanz seiner Arbeit. Seit der Einrichtung der Brüderanstalt im Rauhen Haus konnte Wichern bereits 50 ausgebildete und erfahrene Brüder in die verschiedenen Felder des inneren Missionsgebietes abgeben, während gegenwärtig auf 100 Kinder 35 Gehilfen (Brüder) und 4–6 Kandidaten mit einer Verweildauer bis zu vier Jahren tätig sind. Als großen Erfolg verbucht Wichern die Tatsache, dass ca. 100 Rettungsanstalten für Kinder, „die außergewöhnlicher, christlich erziehender Abhilfe bedürfen“, ins Leben gerufen wurden, wobei Württemberg mit 25 Anstalten für insgesamt 1.000 Kinder die größte Dichte aufweist. Aber auch durch das Vorbild des Rauhen Hauses hätten sich in Norddeutschland, z. B. in Lübeck, Bremen, Celle, Rostock, Stralsund, und sogar über die Grenzen nach Schweden, Russland und auch in katholische Gebiete Brüder- und Rettungsanstalten entwickelt, oft durch die Initiative ausgebildeter Brüder aus Hamburg. Wichern sieht die Aufgabe der Zukunft darin, das Vaterland „mit einem enggemaschten Netz“ solcher Anstalten der Liebe zu durchziehen. Dabei sollten aber neue Wege zur geordneten Besuchsarbeit zu den Eltern erprobt werden, damit das Wort und der Geist Christi, dazu brüderlicher Rat, Trost und Zucht in diese Hausstände getragen werde und sie zur christlichen Kindererziehung angeleitet werden.27 „Die Universalität der Herrschaft und des Rettungswerkes Christi stellen die Kirche und die Glaubenden in den Dienst der Durchdringung aller Lebensbereiche mit den Prinzipien und Kräften des Reiches Gottes, mithin mit Gerechtigkeit und Frieden, Liebe und Wahrheit. So soll die Sozialität mit ihren Ordnungen in christusgemäßer und reichskonformer Weise lebensfördernd gestaltet und ihrer innergeschichtlichen Vollendung zugeführt werden – vor allem im Anbruch der neuen ewigen Schöpfung und des Reiches der Herrlichkeit“, a. a. O. 81f. 26 SW IV/2, 17f (Festbüchlein des Rauhen Hauses zu Horn, 31856). Vgl. auch die Mitteilung über die Brüder im Rauhen Haus von Diakon Volker Krolzik, Konviktmeister des Rauhen Hauses: ders., Genossenschaft der Brüder. 27 Vgl. SW I, 175–366 (Die innere Mission der deutschen evangelischen Kirche. Eine Denkschrift
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Der Aufbruch zum umfassenden Werk der Inneren Mission
In den Jahren 1847 und 1848 bahnte sich für Wichern durch die revolutionären und politischen Umbrüche, die das ganze Land in eine fundamentale Krise hineinführten, eine Wende in seiner bisherigen Arbeit an. Das Rauhe Haus wurde zum Stützpunkt der neu entstandenen Bewegung der Inneren Mission. In mehreren Leitartikeln der Fliegenden Blätter werden die aktuellen Themen behandelt: „Kommunismus und die Hilfe gegen ihn“, „Vorbild der gegenwärtigen Zerrüttung“. In dem Beitrag „Die Proletarier und die Kirche“ wird die Evangelisierung des Volkes, wie er schreibt, „durch providentielle Fügung dem Zeitabschnitt vorbehalten, der mit der Mitte des 19. Jahrhunderts beginnt; das Zeitalter der Mission, welche an den einstigen Umfang der äußeren Mission in der germanischen Welt wieder angeknüpft hat, bricht an, oder will man den Namen der inneren Mission nicht (wiewohl man daran unrecht täte), so nenne man die Tätigkeit anders, diese wird aber nie etwas anderes sein und werden, als eine Mission an die Getauften, unter welchen gegenwärtig das Heidentum, ja, zum Teil ein über das fromme Heidentum noch hinausgehender Zustand ist.“28
Evangelisierung des Volkes bedeutet nicht nur Verkündigung des Evangeliums im engeren Sinn, sondern ebenso ein Programm christlicher Volksbildung und eine – auch staatlich geförderte – Sozialreform, der Jugendhilfe und der Nächstenhilfe, der religiösen Vertiefung und sittlichen Erneuerung, „damit endlich die Strömungen des Heils sich in alle Adern des Volkslebens ergießen können“.29 Das Jahr 1848 war für die deutschen evangelischen Kirchen eine Wendezeit und Zeit der Besinnung. Die Frage nach einer besseren Zusammenarbeit und Verständigung unter den führenden Repräsentanten der Landeskirchen, aber auch führender Laien wurde angesichts der Revolution und der Tendenz zu einer nationalen staatlichen Einheit hochaktuell. Der der Erweckungsbewegung angehörende führende Laie und preußische Politiker Moritz August von Bethmann-Hollweg hatte schon Vertreter der 26 Landeskirchen im Januar 1848 zu einer „Evangelischen Konferenz“ in Berlin empfangen. Im April machte er in einem „Manuskript für Freunde“ gemeinsam mit dem Wiesbadener Professor und Lutheraner Philipp Wackernagel den „Vorschlag einer allgemeinen Kirchenversammlung im laufenden Jahr 1848“.30 Dort sollte ein evangelischer Kirchenbund vorbereitet werden. Es kam dann rasch zu einer Einigung unter fühan die Nation im Auftrag des Zentralausschusses der inneren Mission, 1849), auch in: AS III, 221–240. Vgl. Häusler, Wichern und die männliche Diakonie. 28 SW I, 144. 29 A. a. O., 127–151; vgl. Ulrich, Evangelisierung und Humanisierung. 30 Vgl. Gerhard, Wichern, Bd. 2, 93.
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renden Protestanten, einen „Kirchentag“ in Wittenberg noch im September durchzuführen. Auch Wichern beteiligte sich in den Fliegenden Blättern an der Einladung. Am 21. und 22. September wurde mit 500 Repräsentanten aus den verschiedenen Regionen des Landes der Kirchentag eröffnet. Wichern wurde von Bethmann-Hollweg zugesichert, dass er am Ende der Verhandlungen das Wort erhalten wird. Seine Stegreifrede wurde zum eigentlichen Höhepunkt dieses Kirchentages. Man hat die Stegreifrede Johann Hinrich Wicherns am 22. September 1848 mit dem Thesenanschlag Luthers, beides geschehen in Wittenberg, verglichen.31 Wichern sah, wie Luther, dass nur eine grundlegende Reform die Kirche erneuern und zu ihrem Auftrag zurückbringen konnte. Er schloss seine mehrstündige Rede mit dem Aufruf: „Meine Freunde, es tut eines Not, dass die evangelische Kirche in ihrer Gesamtheit anerkennt: Die Arbeit der inneren Mission ist mein! dass sie ein großes Siegel auf die Summe dieser Arbeit setze: Die Liebe gehört mir wie der Glaube. Die rettende Liebe muss ihr das große Werkzeug, womit sie die Tatsache des Glaubens erweiset, werden. Diese Liebe muss in der Kirche als eine helle Gottesfackel flammen, die kund macht, dass Christus eine Gestalt in seinem Volk gewonnen hat. Wie der ganze Christus im lebendigen Gottesworte sich offenbart, so muss er auch in den Gottestaten sich predigen, und die höchste, reinste, kirchlichste dieser Taten ist die rettende Liebe. Wird in diesem Sinne das Wort der inneren Mission aufgenommen, so bricht in unserer Kirche jener Tag ihrer neuen Zukunft an.“32
Wichern betonte sodann, dass die Kirche über die Jahrhunderte eine große Schuld wegen ihrer Versäumnisse und Irrwege auf sich geladen und mit ihrer Buße die neue Zukunft einzuleiten habe. Es sei deshalb unzulässig, Jesus als Heiland der Sünder gegen Jesus als den Anwalt der Unterdrückten, den Glauben an den gekreuzigten Gottessohn gegen den Einsatz für den getretenen oder auch an den Rand gedrängten Menschen auszuspielen. Die Wirklichkeit mit „den scharfen Augen der Liebe sehen“, heißt bis in die Tiefen ihrer Nöte hinabzusehen; die Wirklichkeit mit den rettenden Taten der Liebe gestalten, heißt mit aller Entschiedenheit und mit vollem Einsatz an ihrer Erneuerung arbeiten.33 Wie stark die Wirkung von Wichern Rede war, lässt sich daran erkennen, dass sofort nach dem Kirchentag die entscheidenden Persönlichkeiten zusammentraten und sich schon am 11. November zur – schrittweisen – Gründung eines „Centralausschusses der inneren Mission der deutschen evangelischen Kirche“ unter dem Vorsitz von August von Bethmann-Hollweg entschlossen haben. Gleichzeitig kam Wichern der Bitte der Versammlung, seine Rede und sein
31 Vgl. SW I, 155–165 (Rede vom 22. 09. 1848). Vgl. hierzu Strohm, Verhältnis von Theologie und Diakonie. 32 A.a.O; AS I, 123f. 33 Vgl. SW I, 165.
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Anliegen schriftlich auszuarbeiten – trotz all seiner anderen Verpflichtungen im Laufe des Winters 1848/49 nach und konnte diesen Auftrag durch die Veröffentlichung am 21. April 1849 in der Agentur des Rauhen Hauses unter dem Thema: „Die innere Mission der deutschen evangelischen Kirche – Eine Denkschrift an die deutsche Nation“ erfüllen.34 Diese Denkschrift gilt bis heute als die wichtigste Übersicht über die sozialen Bestrebungen um die Mitte des 19. Jahrhunderts und zwar auch in internationalen und interkonfessionellen Zusammenhängen. Hier soll nur kurz auf die Kernanliegen der Denkschrift eingegangen werden. Unter dem Namen Innere Mission bezeichnet Wichern „die große Zahl freier christlicher Verbrüderungen“, die sich darin einig sind, „die aus der Sünde und ihren Folgen hervorgehenden einzelnen Notstände des Volkes durch das Wort Christi und die Handreichung brüderlicher Liebe zu heben“. Sie stellt sich damit in den Dienst der welt-überwindenden Kraft der Liebe Christi.35 „Sie erfasst die in Christo gewonnene und unzerstörbare Einheit des Lebens in Staat und Kirche, in Volk und Familie, in allen Gliederungen der christlichen Gesellschaft, um ihre rettenden, jedem Bedürfnisse entsprechenden Lebenskräfte, wo oder ehe die Not nach Hilfe ruft, wirksam werden zu lassen.“36
Wichern benennt als den hervorstechendsten Notstand, den „materiellen und den inneren sittlichen Pauperismus“, den es in seinen Gründen und Folgen zu erkennen und zu überwinden gilt. Während allen Verantwortlichen im Bereich des Staates die Überwindung des materiellen Pauperismus zufällt, so der Kirche und ihrer Inneren Mission die Überwindung des inneren Pauperismus, jener Erscheinungen „der massenhaften sittlichen und christlichen Entartung im Volk“.37
4.
Wicherns theologische Bemühungen um eine Reformation des kirchlichen Lebens
Ich beginne mit Wicherns Bemühung um ein neues Verständnis von Kirche und Gemeinde, das der herrschenden Staatskirchenpraxis entgegengesetzt wurde. Im Jahre 1839 verfasst Wichern den grundlegenden Beitrag über „Die wahre Gemeinde des Herrn“, zu dem er später die Anmerkung hinzufügte, er sei unter anderem geprägt von Erfahrungen im Umgang mit dem Syndikus Sieveking und 34 35 36 37
Siehe Anm. 27. AS III, 150. A. a. O., 151. A. a. O., 158.
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den Streitigkeiten zwischen den Rationalisten und den erweckten Kreisen in Hamburg.38 Wichern beginnt seine Ausführungen mit dem Verständnis von Freiheit, denn die wahre Kirche ist eine Kirche der Freiheit. „Die positive Freiheit entspringt erst da, wo der Mensch oder die Menschengemeinschaft die Welt überwunden hat im Glauben und in der persönlichen Einigung mit dem Sohne Gottes. Das Menschenleben, sofern es kraft dieses Glaubens tatsächlich im Heilande wurzelt wie die Eiche im Erdboden, ist Freiheit; wen der Sohn frei macht, der ist recht frei (Joh. 8).“39 Sie verbindet zu einer organischen Gemeinschaft im gleichen Geist, in der die mannigfaltigen Gaben ihrer Glieder wachgerufen werden. Wichern erwähnt die Gabe des Tröstens und Ermahnens, die Gabe zu lehren und die Geister zu unterscheiden, christliches Leben zu wecken. Wichern erläutert sein Verständnis der wahren Gemeinde anhand der Abschiedsreden des Heilandes zu seinen Jüngern (Joh 13–17). Dort wird die Jüngerschar als Liebes- und Lebensgemeinschaft durch die Liebe Christi begründet. „Liebet Euch untereinander, wie ich Euch geliebt habe“ (Joh 13,34) schafft die „Gemeinschaft der Wiedergeborenen“. Aus dieser Verbindung mit dem Heiland wird folgen, „dass der verklärte Heiland durch sie zu seiner Verherrlichung noch größere Werke, als er in den Tagen seines Fleisches getan, vollführen wird (Joh 14,12)“. Wichern konkretisiert und aktualisiert am Ende seines Beitrags das Zusammenleben in dieser Gemeinschaft. Das lebendige Zeugnis der Schrift, „Christi eigenes Wort ist Organ seines Geistes und seiner Frieden und Genüge gebenden Liebe“, wird im Lesen und Besprechen der Heiligen Schrift in kleineren Versammlungen und Hauskreisen aufgenommen. Dies geistliche Leben wird in die jeweiligen Familienbande und das Hausgesinde durch Hausandachten und die Liebe untereinander weitergetragen, um sie auch zur Erneuerung in die Gottesdienste und die Predigtpraxis hineinwirken zu lassen. Die verschiedenen Hauskreise isolieren sich nicht, sondern wirken zusammen, auch um ihre Fürsorge und Missionsaufgabe abzustimmen, sodass sie letztlich auch die lebendige geistliche Basis einer erneuerten Kirche werden können. „Die wahre Gemeinde“ beschreibt Wichern als Subjekt der Inneren Mission. Er sah sich immer wieder veranlasst, sein Konzept der Inneren Mission mit seinem Verständnis von Gemeinde und Kirche in Einklang zu bringen. In seinen „Zwölf Thesen über die Innere Mission als Aufgabe der Kirche innerhalb der Christenheit“ nutzte er auf dem Kirchentag in Stuttgart 1857 diese Gelegenheit.40 38 Vgl. SW I, 57–72 (Die wahre Gemeinde des Herrn, 1839). 39 A. a. O., 58. 40 Vgl. SW III/1, 195–215 (Zwölf Thesen über die Innere Mission als Aufgabe der Kirche innerhalb der Christenheit, 1857).
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In seiner 2. These wird der Faden von 1839 wieder aufgenommen: „Die in Wahrheit christlich gewordene Gemeinde und die wiedergeborene Persönlichkeit […] sind das vollberechtigte Subjekt, von dem die innere Mission ausgeht“. Ihre Verpflichtung wie ihre Berechtigung zur Inneren Mission sind an das „Stehenbleiben in der Buße, an das Wachstum im Glauben und in der Heiligung“ gebunden.41 Die Kirche, soweit sie nach Leben und Bekenntnis den Ordnungen des göttlichen Reiches entspricht, wird die Innere Mission verwirklichen können (These 5). Kirche in diesem Sinne kann nur wirksam werden, wenn sie durch das allgemeine Priestertum der Christen in ihrem jeweiligen Stande und Berufe ihren Auftrag wiedergewinnt. (These 9) In diesem Vortrag betont Wichern ausführlich die zentrale Beutung des allgemeinen Priestertums. Wichern entfaltet den Gedanken Luthers zum Priestertum der Gläubigen, das zugleich die Basis für das Werk der Inneren Mission abgibt. Innere Mission wird damit zum Vollzug christlicher Existenz im gesellschaftlichen Verantwortungsbereich: Das „Priestertum der Gläubigen ist zugleich ihre Weihe zum Werk der Mission, auch der inneren Mission. Sei es der Hausvater in seinem Haus, der Mann der Kunst oder Wissenschaft in seiner Geistesarbeit, der Beamte im Staat, der Krieger oder der Gewerbsmann, Mann oder Weib, – überhaupt jeder in seinem Beruf und Stand, wie verschieden derselbe auch sei, jeder wirkt zur Mehrung des Reiches Gottes, dass es komme nicht bloß zu ihm selbst, sondern auch um ihn her zu denen, die es noch nicht haben und kennen. Die Mission ist in dieser Beziehung so individualisiert und zugleich verallgemeinert, dass keine besondere Form für sie mehr zu finden ist, sie ist das Leben des Glaubens selbst in der Finsternis der Welt, sie ist die allgemeine Offenbarung der Gemeinde Christi an jeglicher Stelle, wo dieselbe existiert“.42
Und in diesem Zusammenhang kommt Wichern auch auf das erneuerte Amt des Pfarrers zu sprechen. Je mehr auch das Pfarramt mit den wiedergeborenen Kräften in der Gemeinde verbunden ist, desto mehr wird das erneuerte Amt des apostolischen Diakonates sich am Werke der Inneren Mission unmittelbar beteiligen können. „Mit der Erneuerung dieses Amtes in seinem vollen Reichtum die evangelische Kirche in ihren Gemeinden zu einer wahren Missions- und damit zu einer Volkskirche fortzubilden, tritt derselben aus der Geschichte der Vergangenheit und Gegenwart als große Aufgabe vor Augen“ (These 11).43 Wicherns Bemühung um eine Erneuerung des Pfarramtes fand in der späteren Schrift „Die Aufgabe der evangelischen Kirche, die ihr entfremdeten Angehörigen wieder zu gewinnen“ aus dem Jahr 1869 noch eine wichtige Weiterführung:44 41 42 43 44
A. a. O., 195. A. a. O., 206. A. a. O., 210. Vgl. SW III/2, 143–168 (Die Aufgabe der evangelischen Kirche, die ihr entfremdeten Angehörigen wieder zu gewinnen, 1869).
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Er erinnert daran, dass vor allem in Amerika, aber auch in England die Botschaft des Evangeliums dorthin getragen werde, wo die Menschen leben und arbeiten: z. B. auf die Märkte in St. Francisco oder vor 10.000 Arbeiter in Rochdale (England) und in Schottlands Städte, wo angesehene Geistliche des Morgens in der Kirche predigen und dann nachmittags tragbare Kanzeln auf die Straßen stellen und das Wort Gottes den Menschen nahebringen. Und da gebe es genügend Beispiele, dass oft die angesehensten Christen sich dieser Aufgabe neben ihrem Beruf widmen. Und hier stellt Wichern fest: „Unsere Kirche bedarf zur weiteren Verkündigung des Wortes eines neuen Zuwachses von Geisteskräften von innen und außen her“.45 Er plädiert hier für die Einsetzung von Prädikanten, die das spezielle Charisma für diesen Beruf empfangen haben. Solche genügend zugerüsteten Laienkräfte in den Dienst der Gemeinden zu stellen, könnte dazu führen, dass innerhalb der Massen des von der Kirche entfremdeten, oft auch weniger gebildeten Volkes das Wort Gottes wirksam werden kann und die Menschen auch wieder in das Leben der Gemeinde zurückfinden. Eine wichtige Voraussetzung, schon im Jugendalter Menschen für den Dienst der Gemeinde zu gewinnen, ist für Wichern eine Reform der Konfirmation aus einer Routinehandlung und Abschiedsfeier zu einer in der Abendmahlsgemeinschaft wurzelnden, persönlichen Berufung zum Glauben und Dienst zu entwickeln. Nur so werden sich auch die lebendigen Kräfte gewinnen lassen, die wichtige Ämter und Dienste übernehmen.46 Damit kommen wir zu einer grundlegenden Reform des Gemeindediakonats. Über die Wiedergeburt des apostolischen Diakonats hat Wichern in seinem Gutachten zur Diakonie (1856) ausführlich Stellung genommen.47 In seiner Einleitung zum Abdruck in den „Fliegenden Blättern“ stellt er fest: Er wolle die Frage der Diakonie „mit der ganzen Offenbarung Gottes im alten und neuen Bunde“ verknüpfen und insbesondere die „noch erst verheißene, noch nicht erfüllte Entwicklung des Heils“ ins Blickfeld rücken. Er unterscheidet die reichsgeschichtliche Perspektive (Reich Gottes) von der kirchengeschichtlichen. Diese muss ihre leitenden Impulse von jener beziehen. Es gilt, in die „Tiefen der Gottheit“ zurückzulenken, um „in die Tiefen der Menschheit, in die Tiefen ihrer Nöte und in die Tiefen der ihr gebotenen Hilfe einzudringen“. Wegweiser für alle 45 A. a. O., 156. 46 Vgl. hierzu a. a. O., 169 (Wicherns Diskussionsbeitrag auf dem fünfzehnten deutschen evangelischen Kirchentag 1869: „Zur Konfirmation und Kindertaufe“). 47 Das Gutachten entstand im Auftrag von König Friedrich Wilhelm IV. im Rahmen seiner Kirchenreformpläne und der Vorbereitung der Monbijou-Konferenz 1856. Auch Theodor Fliedner und drei weitere Fachleute fertigten Gutachten an. Vgl. Friedrich, Debatte um den Diakonat, 167–171, dort weitere Lit. Zu Wicherns Verhältnis zu Theodor Fliedner und Wilhelm Löhe vgl. Strohm, Wichern, Löhe, Fliedner.
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innerweltliche Wirksamkeit kann nur die „Offenbarung, die vorbereitende sowohl als die in Christus erfüllte“ sein. Wie kein anderer seiner Zeit kann Wichern als überzeugter Vertreter des ökumenischen Gedankens in der Diakonie gelten. Der Standort bei der Beantwortung der Frage nach Diakonie und Diakonat muss jegliche Beschränkung des Gesichtskreises von sich ausschließen; er ist „ein ökumenischer. Jede Beantwortung geht fehl, die diesen Standort verlässt.“48 Wichern hat nicht nur zur innerprotestantischen Ökumene Entscheidendes beigetragen und sein Werk der Inneren Mission über alle Konfessionsgruppen hinweg und gegen manche Widerstände durchsetzen können. Er hat vor allem auch auf die großen Verdienste der römisch-katholischen Kirche in ihrer karitativen Tradition hingewiesen, insbesondere auf die Leistungen der Orden. An eine organisierte Zusammenarbeit konnte Wichern noch nicht denken. Aber immerhin hat er z. B. in Hauskreisen und in praktischer diakonisch-karitativer Zusammenarbeit die Möglichkeit gesehen, „eine gegenseitige Verständigung, Handreichung und Anerkennung in Beziehung auf solche einzelnen praktischen Fragen zu erzielen“ und so mit ihrem Glauben, mit ihrer Hoffnung und mit ihrer Liebe der „evangelischen Katholizität der christlichen Kirchen“ den Weg bereiten zu können.49 Um zu einer wirklichen Lösung der dramatischen Notstände seiner Zeit zu kommen, wünschte Wichern ein Zusammenwirken der privaten (freien), der kirchlichen sowie der staatlichen Armenpflege mit verteilten Rollen und sprach deshalb auch vom „dreifachen diakonischen Amt“. Christen bzw. christliche Familien und Gruppen sind zum freien Dienst der Liebe ermächtigt und verpflichtet. Sie suchen sich ihre Aufgaben nach ihrem Berührt- und Betroffensein von sozialen Aufgaben und sozialer Not. Dieser spontanen Tat jedes Einzelnen steht die christliche Liebestätigkeit an jedem Ort, im geordneten Diakonat jeder Gemeinde gegenüber. Sie ist Zentrum der Willensbildung, Mittlerin der Hilfe in der Gesellschaft hin zum Einzelnen und zum politischen Gemeinwesen. Dem Diakonat des politischen Gemeinwesens fällt „pflichtgemäß die Errichtung, Erhaltung und Verwaltung der ganzen institutionellen, d. h. derjenigen Armenpflege zu, die in öffentlichen Hospitälern, Armenhäusern, Schulen“ erfolgt.50 Wichern dachte dem Staat gegenüber in Kategorien des Dienstes und nicht der Herrschaft und knüpfte im Übrigen auch hier an Martin Luther an, der zu einer ähnlichen Aufgabenteilung in der schöpfungsgemäßen Ordnung kam.51 Immer 48 SW III/I, 128; AS I, 136 (Einleitende Bemerkungen Wicherns zu seinem Gutachten über die Diakonie und den Diakonat, 1856). 49 Zit. nach Gerhard, Wichern, Bd. 3, 169f (aus dem Bericht Wicherns über den internationalen Wohltätigkeitkongress im Sept. 1855 in Frankfurt/M.). 50 Vgl. SW I, 139. 51 Vgl. SW III/1, 130–184 (Gutachten über die Diakonie und den Diakonat, 1856). Zu Luthers Dreiständelehre vgl. Strohm, Luthers Wirtschafts- und Sozialethik.
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wieder betonte Wichern, dass die Innere Mission noch viel von Frankreich und insbesondere von England, dessen Kirchen unter anderem mit der Einführung von City missions in den Großstätten zum Vorbild für die Gründung der Stadtmissionen in Deutschland wurden, zu lernen habe.52
5.
„Ich war gefangen und Ihr habt mich besucht“ – Die Rettung der Gefangenen
Schon während seines Studiums in Berlin wurde Wichern durch „Vorlesungen über die Gefängniskunde oder über die Verbesserung und sittliche Verbesserung der Gefangenen, entlassenen Sträflinge“ mit aktuellen Problemen und deren Lösungsmöglichkeiten vertraut gemacht. Nikolaus Heinrich Julius kannte die Verhältnisse nicht nur in Preußen und Deutschland, sondern durch Studien auch in England und Nordamerika. Wichern trat als Hörer sogleich in einen regen Austausch mit Julius und fand in ihm einen guten Freund, Ratgeber und Förderer. Von Anfang an waren die Kinder von straffälligen Eltern bei der Gründung des Rauhen Hauses als wichtigste Personen bei der Rettungsarbeit im Blick. Rudolf Sieverts macht in seinem Überblick über „Wichern als Gefängnisreformer“53 darauf aufmerksam, dass dieser immer wieder voller Dankbarkeit über die Anregungen des Arztes Julius berichtet hat, der auch den Gedanken, „den Zustand der Gefangenen zu bessern durch die Gaben des Geistes, die ihm Gott gegeben, und durch die tröstende und rettende Stimme und Gabe des Evangelii“ in seine Seele gepflanzt habe. Ihm verdankte er auch die engere Verbindung des Rauhen Hauses und seinem Brüderhaus mit dem preußischen Kronprinzen und seit 1840 Monarchen Friedrich Wilhelm IV, der Wicherns Rettungsarbeit in den 40er Jahren so eingehend kennenlernte, dass er bereits 1842 mit der Finanzierung von Brüdern im Rauhen Haus für den Gefängnisdienst begann. Ihre Zahl wuchs bis 1844 auf 14 Brüder. Zur gleichen Zeit ordnete der König die Errichtung des „Preußischen Mustergefängnisses Moabit“ an, dem das von Quäkern inspirierte Pennsylvanische System als Vorbild diente, weil dort die Gefangenen in Einzelzellen an Stelle der bis dahin üblichen Gemeinschaftszellen untergebracht wurden und eine aufmerksame Betreuung erfuhren. 1845 beeindruckte Wichern den König bei seiner ersten persönlichen Begegnung mit seinen Reformgedanken so sehr, dass er sich auch Wicherns Vorschlag, in Berlin ein Brüderhaus zu gründen zur Ausbildung von geeigneten, christlich inspirierten Personen für den Voll-
52 Vgl. auch Pfisterer, Ökumenische Ansätze; Gerhard, Wichern und die Innere Mission, 62– 101. 53 Rudolf Sieverts, J.H. Wichern als Gefängnisreformer, in: AS III, 9–24.
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zugsdienst und für die Arbeit mit Strafentlassenen, zu eigen machte und ihn schon 1846 hauptberuflich für die Gefängnisreform in Preußen gewinnen wollte. Die erste Gelegenheit für Wichern war der Kirchentag in Wittenberg, sich in aller Öffentlichkeit dem Thema Gefängnisreform zu widmen. In seiner schriftlichen Fassung der Denkschrift stellt er fest, in Deutschland ist nicht zuletzt auch von der evangelischen Kirche die Gefängnisfrage überhaupt nicht in den Blick genommen worden. Man überlässt die Gefangenen der Kontrolle durch stellenlose Kriegsheimkehrer ohne Ausbildung, von Gefängnisseelsorge könne nicht die Rede sein. Es gebe hier weder Persönlichkeiten, wie Borromeo, Vinzent von St. Paul, keinen Howard oder Elisabeth Fry. Wichern kannte die Arbeit der englischen Gefängnisreformerin Elizabeth Fry, die er immer wieder als leuchtendes Vorbild hervorhob und die ihn 1841 im Rauhen Haus besuchte. Wichern war überzeugt, dass die Rettungsarbeit an Kindern von Strafgefangenen auf Dauer nur Sinn macht, wenn auch deren Väter und Mütter von im Gefängnisdienst ausgebildeten Brüdern geistlich und menschlich versorgt werden. Er benennt ihre Hauptaufgabe, den Verurteilten „das Evangelium und in demselben kraft der Vergebung die Heilung von allen Sünden und damit den Frieden und die Wiedergeburt zu bringen“. Dies könne nur mit der Sendung von Personen gelingen, die das heilige, heilende Wort mit der dienenden Tat voll Geist, Leben, Liebe und Weisheit zu bringen imstande seien.54 Wichern stellt fest, dass sich unter dem Einfluss der Inneren Mission bereits Schutzvereine hier und da gebildet hätten, die sich sorgfältig um das innere und äußere Wiedereinleben der Entlassenen bemühen, sodass diese wieder Anschluss an Familien, an die Arbeitsverhältnisse und ans Gemeindeleben finden. Hier nun sieht Wichern einen ganz grundsätzlichen Reformbedarf. Bei der 2. Audienz beim König im Herbst 1850 beeindruckte Wichern den König mit seinen Reformgedanken so sehr, dass er sich auch Wicherns Vorschlag, in Berlin ein Brüderhaus zur Ausbildung von geeigneten, christlich inspirierten Personen für den Vollzugsdienst und für die Arbeit mit Strafentlassenen zu gründen, zu eigen machte und Wichern schon im Januar 1851 mit einer kommissarischen Revision aller preußischen Gefängnisse beauftragt wurde.55 Der König veranlasste gleichzeitig, Brüder aus dem Rauhen Haus als Staatsdiener in den preußischen Gefängnissen zu berufen und vor allem das Gefängnis Moabit zu einem Muster für die von Wichern geplante Gefängnisreform auszubauen. Im Sommer 1852 bereiste Wichern mit Unterstützung des preußischen Ministeriums des Inneren eine ganze Anzahl von Gefängnissen im Rheinland und in Westfalen.56 54 Die Denkschrift: AS III, 172–182, Zit. 177. 55 Vgl. Gerhard, Wichern Bd. 2, 248. 56 Vgl. a. a. O., 248f. Hinzuweisen ist hier auch auf Wicherns Vortrag auf dem 4. Kongress der
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Im Januar 1857 war Wichern bereit, als „Vortragender Rat in Angelegenheiten der Strafanstalten und des Armenwesens“ in das Innenministerium und als Oberkonsistorialrat in den Berliner Oberkirchenrat einzutreten. Nun hatte Wichern die Vollmacht, seine Reformpläne umzusetzen. Er konzentrierte sich – ungeachtet zahlreicher Verpflichtungen für die Verwirklichung seiner Pläne – auf den inneren Ausbau der Vollzugsanstalt Moabit. Schon am 23. Februar hielt Wichern in Gegenwart des Königspaares einen Antrittsvortrag über „Die Gefangenenfrage im Lichte der Geschichte und des Evangeliums“. Die Gefangenenfrage sei in ihrer Notwendigkeit in Europa erst mit der aus der christlichen Freiheit erkannten „Überzeugung vom unendlichen Wert der menschlichen Persönlichkeit“ ins rechte Licht gerückt worden. Im Zentrum seines Vortrags steht: „Ich bin gefangen gewesen und ihr seid zu mir gekommen“, und er fasst zusammen: „Das Wort enthält das Prinzip aller Gefangenenaufsicht und -pflege, die, wo sie aus der Wahrheit ist, ebenso entfernt bleibt von Grausamkeit und Härte als von gefühliger Weichheit, aber auch ebenso eine Weihe des Ernstes und der Barmherzigkeit, die dem Geist Christ entstammt, in sich betätigen soll“.57
Damit stellt Wichern Staat und Kirche vor die gewaltige Aufgabe, die „würdige, den hohen Anforderungen des Gesetzes und des Evangelii entsprechende Weise zur Vollstreckung der Freiheitsstrafe zu finden“. Zu ihrer Lösung sollten „die strafende Hand des Staates“ und die „heilende Pflege der Gemeinde“ zusammenarbeiten, er betonte aber die Notwendigkeit einer richtigen Teilung und Verbindung beider Aufgabenkreise.58 Er sah die Aufgabe vorrangig in der Reform des Aufsichtspersonals und seiner geordneten Dienste. Er hatte bereits eine Anzahl von ausgebildeten Rauhhäuslern in Moabit in den Dienst stellen können und bildete als ersten Schritt zur Befestigung der Gemeinschaft sechs Brüderkonvikte, die er als erste „Gefangenenbruderschaft der Rauhhäusler“ bezeichnete. Letztlich ging es Wichern um die Neugestaltung des Berufs der Gefängnisbeamten. Dem Ministerium waren ca. 800 Beamte unterstellt, von denen die Mehrzahl aus Militäranwärtern bestand. Es galt, den ganzen militärisch-mechanischen Gefängnisbetrieb umzuformen. Dafür war eine Ausbildungsstätte in Berlin vorgesehen, in der die Erfahrungen des Rauhen Hauses als Pflanzschule für den neuen Beruf zum Tragen kommen sollten. König Friedrich Wilhelm IV. schätzte Wicherns Leistung und unterstützte das Vorhaben, auch für Preußen eine Ausbildungsstätte für Diakone, verbunden mit sozialen Aufgaben, zu beginnen. Wichern gründete am 25. April 1858 in Anwesenheit zahlreicher Freunde inneren Mission in Bremen am 16. 9. 1852, in: AS III, 27–46 (Die Behandlung der Verbrecher in den Gefängnissen und der entlassenen Sträflinge). 57 AS III, 47–64 (Die Gefangenenfrage im Lichte der Geschichte und des Evangeliums), Zit. 60. 58 Vgl. a. a. O., 64.
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und Gönner das Evangelische Johannesstift Berlin. Er blieb, wie er selbst immer wieder bemerkte, auch ein Rufer in der Wüste. Die Gefängnisreform konnte er nur teilweise durchsetzen, der Einzug seiner Brüder in den Gefängnisdienst gelang nicht wirklich. Aber der seelsorgerliche und rehabilitierende Auftrag für die Gefangenenfürsorge blieb bestehen. Das Johannesstift geriet rasch zum Herzstück der Inneren Mission in Berlin und fand seine Ausstrahlung weit über die Grenzen des Landes bis nach Übersee. „Und diese auf einem Grundgedanken ruhende Einheit christlichen Liebensdienens, wie es in und an der Bevölkerung hiesiger Stadt zur Erscheinung kommt, nennen wir die Stadtmission Berlin“.59
6.
Der Weg zum – vom christlichen Geist geprägten – „sozialen Rechtsstaat“
In seinen letzten aktiven Jahren – in denen ihn drei Schlaganfälle in den Jahren 1866, 1871 und 1874 trafen und am Ende bis zu seinem Tode am 7. April 1881 die letzte Kraft nahmen – erkannte er die Zeichen seiner Zeit noch einmal deutlich. Die soziale Lage der arbeitenden Bevölkerung bedrängte ihn zunehmend. Zwar hatte er die soziale Frage als einen zentralen Auftrag der Inneren Mission bereits in der Denkschrift behandelt und an die Verantwortung der Besitzenden und Unternehmer appelliert, ihre soziale Verantwortung im christlichen Geist wahrzunehmen. Er hat sich für „christliche Assoziationen der Hilfsbedürftigen selbst“ für ihre sozialen Zwecke eingesetzt, aber auch für „christliche Assoziationen der verschiedenen Besitzstände“ zur Überwindung der Klassengegensätze, er dachte an „neue kirchlich-soziale Mustergemeinden“ als „heilige, leuchtende Denkmäler der das Volk auch sozial erneuernden Kirche Gottes“.60 Für Wichern wurde angesichts der deutlich herausgestellten Missstände in industriellen und landwirtschaftlichen Bereichen seit dem 15. Kirchentag in Stuttgart im Herbst 1869 die Arbeiterfrage zum zentralen Thema, das in Fachversammlungen eingehend behandelt wurde. Hier wurden die wichtigen Themen und Aufgaben zur Lösung der Sozialen Frage in den Mittelpunkt gestellt: Es sei die Aufgabe, den Arbeitern die Mittel und Möglichkeiten zu geben, die ihr äußeres und geistiges Wohl verbürgen: Der Schutz des Familienlebens, Sorge für 59 SW IV/2, 251f und 276–293 (Das evangelische Johannesstift in Berlin: Programm und Wicherns Vortrag zur Begründung des Stiftes aus der ersten Nachricht über die evangelische Stiftung in Berlin 1858 und Wicherns Vortrag aus der zweiten Nachricht über die evangelische Stiftung in Berlin 1859). Vgl. auch Gerhard, Wichern, Bd. 3, 374f. 60 Diese Gesichtspunkte waren schon in der Denkschrift maßgebend und wurden vor allem im Vortrag vor der kirchlichen Oktoberversammlung 1871 über das Thema „Die Mitarbeit de Kirche an den sozialen Aufgaben der Gegenwart“ eindringlich erörtert (AS I, 253–289). Vgl. Gerhard, Wichern, Bd. 2, 156–166; Strohm, Innere Mission, Volksmission, Apologetik.
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geistige und sittliche Bildung, Fürsorge für Krankheit und Alter, Förderung der genossenschaftlichen Selbsthilfe, Ermöglichung der Eigentumsbildung und Sicherung bürgerlicher Rechte. Hinzu kamen noch Vorschläge für einen sozialen Siedlungsbau im Horizont der Betriebe, Urlaubsregelungen, kurz, die wichtigsten Aufgaben zur bürgerlichen Integration des Arbeiterstandes in die politische und soziale Ordnung. Es wurde eine Zeitschrift gegründet, die zur Förderung der „Solidarität der gesellschaftlichen Gesamtheit“ und zur „Schärfung des sozialen Gewissens“ beitragen sollte.61 Dass Wichern nicht an der Seite des Proletariats bzw. der arbeitenden Klasse für eine Neuordnung der Verhältnisse gekämpft hat, wurde ihm oft zum Vorwurf gemacht. Es waren die von Christi Geist der Liebe und Verantwortung inspirierten höheren Kreise, mit denen er Reformen im Staat, im Arbeits- und gesellschaftlichen Zusammenleben und in der Kirche verwirklichen wollte. Wichern hätte sich, dies lässt sich mit guten Gründen feststellen, wenn ihn seine Kräfte nicht nach dem zweiten Schlaganfall verlassen hätten, mit großem Eifer auf die Vorbereitung und optimale Ausgestaltung der in seinem Todesjahr erlassenen Bismarckschen Sozialgesetze konzentriert.62 Diese Gesetze haben – trotz der Katastrophen der Weltkriege und ihrer Folgen – die Grundzüge des heute gültigen „Sozialen Rechtsstaates“ gelegt. Es ging, wie es in der kaiserlichen Botschaft vom Herbst 1881 hieß, darum, „dem Vaterlande neue und dauernde Bürgschaften seines inneren Friedens und den Hilfsbedürftigen größere Sicherheit und Ergiebigkeit des Beistandes, auf den sie Anspruch haben, zu hinterlassen“.63 Auch wenn viele seiner Vorhaben nicht wirklich zum Tragen kamen, war Wichern – vom Geist Christi inspiriert und durch seine von Jugend an durchgehaltene spirituelle Prägung – der wichtigste Impulsgeber der evangelischen Christenheit, insbesondere für die Wahrnehmung ihrer diakonischen und sozialen Verantwortung im 19. Jahrhundert, und er entwarf ihre wichtigsten Aufgabenfelder über die Grenzen seines Jahrhunderts hinaus bis heute.
61 Vgl. Gerhard, Wichern, Bd. 3, 508–515, Zit. 512. 62 Vgl. hierzu Stephan Sturm, Sozialstaat, bes. 261–287. 63 Stenographische Berichte über die Verhandlungen des Reichstages, 1f. Es sei hier noch erwähnt, dass sich in der berühmten Sozialenzyklika Leos XIII. von 1891 zur Lösung der Arbeiterfrage deutliche Parallelen zu Wicherns Forderungen und Vorschlägen finden; vgl. Leo XIII., Rerum novarum.
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Pfisterer, Karl Dietrich, Ökumenische Ansätze in Wicherns Redebeiträgen auf dem Wittenberger Kirchentag, in: Herrmann/Gohde/Schmidt (Hg.), Wichern – Erbe und Auftrag, 117–126. Schäfer, Gerhard K., Theologische Grundanschauungen und kirchliche Impulse Johann Hinrich Wicherns, in: Herrmann/Gohde/Schmidt (Hg.), Wichern – Erbe und Auftrag, 76–93. Strohm, Theodor, Wichern, Löhe, Fliedner. Plurale Perspektiven diakonischen Engagements, in: Herrmann/Gohde/Schmidt (Hg.), Wichern – Erbe und Auftrag, Heidelberg 2007, 22–35. –, Die permanente Herausforderung. Zum Verhältnis von Theologie und Diakonie seit Wichern, in: Jürgen Gohde (Hg.), Konfession. Profession. Institution. Jubiläumsjahrbuch der Diakonie, Reutlingen 1998, 25–33. –, Innere Mission, Volksmission, Apologetik. Zum soziokulturellen Selbstverständnis der Diakonie, in: Jochen-Christoph Kaiser/Martin Greschat (Hg.), Sozialer Protestantismus und Sozialstaat. Diakonie und Wohlfahrtspflege in Deutschland 1890 bis 1938, Stuttgart u. a. 1996, 17–40. –, Luthers Wirtschafts-und Sozialethik, in: Helmar Junghans (Hg.), Leben und Werk Martin Luthers von 1526 bis 1546, Berlin 1983, 205–223. Sturm, Stephan, Sozialstaat und christlich-sozialer Gedanke. Johann Hinrich Wicherns Sozialtheologie und ihre neuere Rezeption in systemtheoretischer Perspektive (KoGe 23), Stuttgart 2007. Ulrich, Heinrich-Hermann, Evangelisierung und Humanisierung. Wicherns Programm als Plädoyer für eine Kirche der rettenden Liebe, in: Reform von Kirche und Gesellschaft 1849 bis 1973. Johann Hinrich Wicherns Forderungen im Revolutionsjahr 1848 als Fragen an die Gegenwart, hg. von Hans Christoph von Hase und Peter Meinhold, Stuttgart 1973, 127–140.
Markus Iff
Wurzeln und Gestalt freikirchlicher Spiritualität – unter besonderer Berücksichtigung der Freien evangelischen Gemeinden und des deutschen Baptismus
Die evangelischen Freikirchen und Gemeindebünde, die in der Vereinigung Evangelischer Freikirchen (VEF) zusammengeschlossen sind,verstehen sich als Teil des weltweit verzweigten Protestantismus.1 Sie sind aus der Täufer-Bewegung, den heterogenen Bewegungen des Puritanismus des 16. und 17. Jahrhunderts sowie aus der Erweckungsbewegung und dem Evangelikalismus in der Mitte des 19. Jahrhunderts hervorgegangen. Die klassischen Freikirchen (Methodisten, Baptisten, Freie evangelische Gemeinden) formierten sich in Deutschland ab den 30er Jahren des 19. Jahrhunderts, die bis heute als eine Zeit verdichteter gesellschaftlicher, wirtschaftlicher und kultureller Umbrüche gelten. Die Entstehung der Freikirchen in diesem „Zeitalter der Emanzipation“ (Heinrich Heine) 2 bedeutete eine gravierende und unumkehrbare Veränderung der kirchlichen Landschaft in Deutschland. Die Konstituierung einer alternativen freikirchlichen Kirchenform war trotz ihrer Verflechtung in die frommen Ziele der Erweckungsbewegung auch die aktuelle Verwirklichung einer Sozialgestalt des Glaubens, die auf Unabhängigkeit vom Staat und auf kirchliche Selbstverwaltung setzte sowie die Religionsfreiheit als politisches Grundrecht einforderte. Freikirchliche Spiritualität steht in enger Wechselbeziehung mit dieser Sozialgestalt des Glaubens. In den evangelischen Freikirchen und Gemeindebünden wird der Begriff Spiritualität überwiegend in Kontinuität zum Begriff Frömmigkeit bestimmt. Freikirchen verstehen darunter mit Carl Heinz Ratschow eine „Lebensgestalt des Glaubens aus und vor Gott“.3 Mit den Begriffen Frömmigkeit, Spiritualität und geistliches Leben wird ein Verhältnis des Menschen zu Gott und zu Jesus Christus beschrieben und zwar im Sinne von Gottesfurcht, Gottesverehrung sowie Christusglaube und Christusnachfolge. Zugleich aber geht es bei den mit diesen 1 Vgl. Vereinigung Evangelischer Freikirchen (Hg.), Freikirchenhandbuch; Voigt, Freikirchen; Geldbach, Freikirchen; Weyel, Evangelisch. 2 Rürup, Deutschland im 19. Jahrhundert, 14. 3 Ratschow, Frömmigkeit, 1400.
Wurzeln und Gestalt freikirchlicher Spiritualität
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Begriffen erfassten Phänomenen auch um ein in ethischer Verantwortung praktiziertes Christentum.4 In den etablierten evangelischen Freikirchen finden sich unterschiedliche und vielfältige Gestalten evangelischer Spiritualität, denen wiederum vielfältige historische Wurzeln zugrunde liegen. Daher geht es im Folgenden bei der Erfassung der geschichtlichen Wurzeln, Merkmale und Gestalten freikirchlicher Frömmigkeit beispielhaft um den Bund Freier evangelischer Gemeinden sowie den deutschen Baptismus.5 Die Schlussüberlegungen zur Gestalt und der Ausprägung freikirchlicher Spiritualität gehen dann über die spezifische und beispielhafte Perspektive hinaus.
1.
Wurzelboden und Herkunft freikirchlicher Spiritualität
In der heutigen Forschung zur Entstehung und Geschichte der Freikirchen wird zunehmend deutlich, dass es eine enge Verflechtung der Gründergestalten und Leitfiguren mit der angelsächsischen und angloamerikanischen Erweckungsbewegung gab, die sich zur Evangelisierung bzw. Re-Christianisierung des europäischen Kontinents berufen sah.6 So verdankt sich etwa die Gründung der ersten Baptistengemeinde in Deutschland am 23. April 1834 in Hamburg dem missionarischen Engagement der angelsächsischen Erweckungsbewegung, insofern der Gründer Johann Gerhard Oncken (1800–1884) bei verschiedenen angelsächsischen Missionsgesellschaften seit 1823 als Bibelkolporteur, Hafenmissionar und Erweckungsprediger in Hamburg tätig war.7 In enger Verflechtung mit der nordamerikanischen Schwesterkirche und zahlreichen angelsächsischen Missionsgesellschaften entstanden durch Oncken und seine Mitarbeiter eine Reihe von Baptistengemeinden. Dies war allerdings auch deshalb möglich, weil sich zugleich in Deutschland ein nach pietistischem Vorbild gewachsenes Netzwerk aus Konventikeln erwecklicher Frömmigkeit und privatrechtlich organisierter Vereine herausgebildet hatte, das sich als spiritueller Nährboden einer Separation von landeskirchlichen Strukturen nachweisen lässt. Der Historiker Wolfgang Heinrichs versteht die Freikirchen als geradezu „programmatische[n] Ausfluss“8 der Erweckungsbewegung. Diese weist innerhalb und außerhalb Deutschlands 4 Vgl. Haubeck, Frömmigkeit; Balders, Frömmigkeitsgeschichte. 5 Zu den Gemeinsamkeiten und Unterschieden zwischen den Freien evangelischen Gemeinden und dem Baptismus in Deutschland in historischer Perspektive vgl. Strübiind, Andrea, Warum die Wege sich trennten. Der Streit um das Taufverständnis in der Frühzeit des deutschen Baptismus und der Freien evangelischen Gemeinden, ZThG 12 (2007), 241–271. 6 Vgl. Lehmann, Säkularisierung; Brecht, Aufkommen. 7 Vgl. Balders, Geschichte, 18f. 8 Heinrichs, Freikirchen, 17.
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unterschiedliche Richtungen und Ausprägungen auf, die den Wurzelboden für freikirchliche Spiritualität bilden.9
1.1
Evangelikalismus und Erweckungsbewegung
Bereits seit dem ersten Viertel des 18. Jahrhunderts wurden Mitglieder der anglikanischen Kirche, aber insbesondere die Dissenters vom sogenannten Evangelikalismus erfasst, zu dem eine biblizistische10 Grundhaltung sowie der Ruf zur Umkehr und die Betonung der Wiedergeburt von Individuen gehört.11 Darin zeigt sich eine Nähe zu den pietistischen Leitvorstellungen für geistliches Leben wie „Biblizismus, Sündenbewusstsein, Errettung durch Christi Tod, Bekehrung und Wiedergeburt“.12 Im Kontext der industriellen Revolution und einer zunehmenden Entchristlichung der Gesellschaft besannen sich die Evangelikalen auf biblizistische Einfachheit, Bekehrungspredigt und missionarische Aktivität. Zudem kennzeichnet sie die brennende Sorge um die ewige Rettung der ohne Christus verlorenen Sünder und um die Erneuerung einer in äußerlicher Frömmigkeit und ethischer Gleichgültigkeit dahindämmernden Kirche. Der Evangelikalismus des 18. Jahrhunderts speist sich aus den englischen puritanischen Quellen des 17. Jahrhunderts, unterliegt aber auch Einflüssen des kontinentaleuropäischen Pietismus.13 Für die Spiritualität der ersten Freien evangelischen Gemeinden in der Mitte des 19. Jahrhunderts ist der Genfer Réveil von unmittelbarer Bedeutung.14 Er wurde von der Herrnhuter Gemeine in Genf geprägt, aber auch entscheidend beeinflusst durch die Begegnung mit dem britischen Evangelikalismus, insbesondere in der Person von Robert Haldane (1764–1842).15 Dieser hatte im Alter von 31 Jahren eine Bekehrung erlebt, die ohne direkte Mitwirkung eines Men9 Benrath, Erweckung; Brecht, Aufkommen. Zu den der deutschen Erweckungsbewegung vergleichbaren Vorgängen in Großbritannien, Genf, Frankreich und den Niederlanden aus der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts vgl. Gäbler, Evangelikalismus. 10 Der Begriff „Biblizismus“ bezeichnet eine Einschätzung der Bibel als ganzer wie einzelner Texte, die dadurch gekennzeichnet ist, dass die biblischen Aussagen wortwörtlich verstanden, untereinander wenig bis gar nicht gewichtet werden und die Bibel als Quelle und Norm der Lehre angesehen wird. Dabei werden biblische Aussagen unmittelbar auf die Verkündigung, Lehre, Kirchenordnung und Lebensgestaltung bezogen. Vgl. Marquardt, Biblizismus. 11 Vgl. Bebbington, Evangelicalism. 12 Brecht, Pietismus, 41. 13 Deppermann, Puritanismus; Nutthall, Pietism. Gäbler, Auferstehungszeit. Zur historischen Verwurzelung des kontinentaleuropäischen Baptismus im Pietismus vgl. Balders, Baptisten; ders., Verhältnis. 14 Vgl. dazu Gäbler, Evangelikalismus. 15 Zur Person und zum Wirken von R. Haldane vgl. Gäbler, Evangelikalismus, 36f.43– 44.51.59.76–79.
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schen zustande gekommen war. Er wandte sich nach seinem Selbstzeugnis „zum Worte Gottes und erhielt da allerlei köstliche, tröstliche Aufschlüsse und eine lebendige Erkenntnis des Herrn selber“.16 Bemerkenswert sind dabei die geradezu reformatorischen Entdeckungen, die er im Zusammenhang mit seinem Bekehrungserlebnis erfasst und erfahren hat: Die Unfähigkeit zur eigenen Erlösung, die Erkenntnis des Leidens und Sterbens Christi, seine versöhnende Gnade, die Zurechnung der Gerechtigkeit Gottes durch Christus und das Werk des Heiligen Geistes. Neben der Bekehrungserfahrung rücken bei Haldane die Bedeutung des persönlichen Bibelstudiums sowie der Missionseifer in den Blick. 1797 gründete er mit seinem Bruder die „Society for the Propagation of the Gospel at home“ und 1818 beteiligte er sich an der Gründung der überkonfessionellen „Continental Society for the Diffusion of Religious Knowlegde over the Continent of Europe“.17 Schwerpunkte der Arbeit waren die Bibel- und Schriftenverbreitung, Bibelund Gebetsversammlungen sowie die freie und erwecklich geprägte Verkündigung des Evangeliums. Während einer Evangelisationsreise nach Genf im Herbst 1816 traf Haldane auf eine von herrnhutischer Frömmigkeit geprägte Gruppe von Theologiestudenten und Laien. Diese hatten einen Bibelkreis gebildet, der sich öffentlich gegen den Einfluss der rationalistischen Theologie in der Kirche und Gesellschaft wandte und die Rückkehr zu den Glaubensartikeln der reformierten Bekenntnisse forderte.18 Der Réveil prägt einen für den kontinentaleuropäischen Protestantismus ungewöhnlichen und für die Spiritualität in freikirchlichen Gemeinden zentralen Missionseifer, verbunden mit einem intensiven Bibelstudium sowie dem Glauben an einen „persönlichen Gott“19.
1.2
Pietismus und Puritanismus
Im Réveil wurde die Verantwortung des Gewissens des Einzelnen in den Vordergrund gestellt, und bei der Kirchenmitgliedschaft wurde die geistliche Qualität des Individuums betont. Darin liegt erkennbar ein Konnex zum Pietismus, der in der Form und den Vertretern sowohl des sogenannten kirchlichen Pietismus, beispielsweise durch Theodor Undereyck (1635–1693) und Gerhard 16 17 18 19
Anonymus, Robert und Alexander Haldane. Weyel, Haldane, 53. Vgl. Gäbler, Evangelikalismus, 43f. So schreibt A. Monod, der wie kein anderer den französischen Réveil verkörperte, am 14. August 1827 in Neapel an seine Schwester: „et maintenant j’ai un Dieu qui s’en est charge pour moi. Cela me suffit”, ders., Souvenirs, 120.
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Tersteegen (1697–1769),20 als auch des radikalen Pietismus, hier sind Ernst Christoph Hochmann von Hochenau (1670–1721) sowie Jean de Labadie (1610– 1674) und die Labadisten21 zu nennen, seine Spuren in frei-evangelischer und freikirchlicher Frömmigkeit hinterlassen hat, sodass in den Freikirchen ein Teil der Ideen und Frömmigkeit des älteren Pietismus weiterlebte. Daher überrascht es nicht, wenn Hermann Heinrich Grafe (1818–1869), der Gründer der Freien evangelischen Gemeinden in Deutschland, von sich sagt: „In der Heilslehre bin ich reformiert, in der Gemeindeverfassung Independent und im Leben ein Pietist.“22 Der Pietismus als Frömmigkeitsbewegung ist in mehrfacher Hinsicht Wurzelboden für freikirchliche Spiritualität.23 Dazu gehört auch der im Pietismus besonders betonte Zusammenhang von Rechtfertigung und Heiligung. Der Begriff „heiliges Leben“ ist ein Zentralbegriff in Johann Arndts „Wahrem Christentum“.24 Für Arndt ist ein heiliges Leben ein Leben, das sich nicht bestimmen lässt von den Kräften der von Gott abgefallenen Natur, sondern allein von der Kraft des Heiligen Geistes. Ein heiliges Leben ist ein dem weltlichen Leben geradewegs entgegenlaufendes Leben. Das in freikirchlicher Spiritualität aufgenommene Traditionsgut eines geheiligten Lebens verdankt sich allerdings nicht allein dem Pietismus, sondern auch der zwischen 1840 und 1850 in den methodistischen Denominationen Nordamerikas ihren Ausgang nehmenden angelsächsischen Heiligungs- und Evangelisationsbewegung, die in der Frömmigkeit evangelischer Freikirchen tiefe Spuren hinterlassen hat.25 Ausgehend vom Pietismus als Wurzelboden freikirchlicher Spiritualität wird einsehbar, warum das persönliche Bibelstudium, verstanden als persönliches Studium des Wortes Gottes, die häusliche Bibellese des Einzelnen oder in der Familie sowie das gemeinsame Lesen der Bibel zum Grundbestand der Frömmigkeit in evangelischen Freikirchen gehört. Philipp Jakob Spener hatte bekanntermaßen an die Spitze des Reformprogramms seiner „Pia Desideria“ den Vorschlag gestellt, „das Wort Gottes reichlicher unter uns zu bringen“.26 Die Bibel gehöre nicht allein in die Hand der Pfarrer, sondern in die Hand eines jeden Christen. Die um die Mitte des 19. Jahrhunderts entstehenden deutschen Baptistengemeinden und Freien evangelischen Gemeinden bewegen sich ganz in diesen pietistischen Bahnen und im Gefolge Zinzendorfs, der formulierte:
20 21 22 23 24 25 26
Vgl. Goeters, Pietismus. Vgl. Goeters, Verbreitung, 139–143; Goebel, Geschichte, 293. Grafe, Lebenszeichen, Bd. 4, 14 (Eintrag vom 6. 11. 1855). Vgl. Brecht, Aufkommen. Vgl. Wallmann, Arndt. Vgl. Ohlemacher, Evangelikalismus. Spener, Pia Desideria, 31.
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„Was wollen wir werden? meine Geschwister! Bibelfest. Das heißt, mit dem Geist der Heiligen Schrift so bekannt, dass wir an einer jedweden Rede den [im selben] Augenblick hören, ob sie mit der Heiligen Schrift übereinkommt“, und daraus das für freikirchliche Spiritualität wesentliche Anliegen formulierte, „dass wir zu einer lebendigen Bibel werden“, wobei man die Heilige Schrift ins Herz bekommt, „wenn man in dem Spiritu Scripturae hat denken, beten, leben und wandeln lernen; und das gibt der Heiland aus Gnaden“.27
Die Hochschätzung der Bibel, die insbesondere im Baptismus auch ein calvinistisch-puritanistisches Erbe ist, verbindet diesen wie auch die Freien evangelischen Gemeinden mit dem historischen Pietismus. Dies belegt u. a. die Tatsache, dass der baptistische Traktatverein August Hermann Franckes Schrift „Kurzer Unterricht, wie man die heilige Schrift zu seiner wahren Erbauung lesen solle“, verbreitete.28 Und bei Hermann Heinrich Grafe spiegelt sich die pietistische Bibelorientiertheit in der Konzeption seiner „Selbststudien“, die er 1857 umbenannte in „Lebenszeichen oder Biblische Selbstbetrachtungen“, weil sich ihm „immer stärker die Wichtigkeit des persönlichen Lebens in der geoffenbarten Wahrheit Gottes der heil. Schrift“29 erschlossen hatte. Zum pietistischen Erbe in der Spiritualität evangelischer Freikirchen gehört neben der Bibelorientierung eine Bekehrungs- und Jesusfrömmigkeit, die in der Wiedergeburt gründet. Das in der Bibel nur vereinzelt vorkommende Bild von der geistlichen Wiedergeburt als Voraussetzung wahrer Gottesbeziehung ist ein zentraler Ausdruck des Selbstverständnisses des Pietismus und prägt seine Theologie und Frömmigkeit. Die in dem Bild wirksame Analogie zur leiblichen Geburt und zum organischen Leben kommt dem Anspruch des Pietismus entgegen, auf das Christenleben zu dringen, die Lehre ins Leben zu verwandeln und Glauben als Glaubensleben zu beschreiben.30 Wiedergeburt und Bekehrung sind für Philipp Jakob Spener Ausdruck für die aus dem Wesen Gottes und Christi Heilstat notwendig zu folgernde Zusammengehörigkeit von Rechtfertigung und Heiligung. Im vornehmlich von August Hermann Francke geprägten halleschen Pietismus tritt die Psychagogik der Bekehrung in den Mittelpunkt des religiösen Lebens, also die Hinführung des Menschen zu einer bewussten Bekehrungserfahrung, die ihm die Gewissheit verleiht, ein geistlich neugeborener Mensch zu sein. Weil Francke Bekehrung in erster Linie als eine nachhaltige Änderung des Willens versteht, kommt dem Eintritt in diesen neuen Stand eine große Bedeutung zu. Die Tiefe der Bekehrungserfahrung, das Durchbruchserlebnis, ermög-
27 Zinzendorf, Nikolaus Ludwig Graf von, Die fünfzehnte Homilie (1747), zit. in: Schmidt/ Jannasch, Das Zeitalter des Pietismus, 193. 28 Balders, Verhältnis, 141. 29 Grafe, Lebenszeichen, Bd. 4, 52 (Eintrag vom 10. 01. 1857). 30 Vgl. Matthias, Bekehrung.
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licht dann auch eine klare Unterscheidung und damit Erfahrbarkeit des Lebens unter der Sünde und unter der Gnade. Die im Pietismus zu beobachtende seelsorgerliche Konzentration auf den Einzelnen und seine Wiedergeburt und Bekehrung, die Forderung nach spezieller, sich von der Welt unterscheidender Heiligung und schließlich die Idee eines freien Zusammenschlusses zu christlichen Gruppen und Gemeinden (Freikirchen), die sich aus dem pietistischen Verständnis des Christentums als Entscheidung ergeben, finden sich bereits ein Jahrhundert früher im Puritanismus. Wie immer man die Frage nach dem Verhältnis von Puritanismus und Pietismus beantworten mag, so ist die reiche Entfaltung der Wiedergeburts- und Bekehrungsthematik ohne den traditionsgeschichtlichen Hintergrund des Puritanismus nicht zu verstehen.31 Die auf Selbstprüfung und Gruppenbildung hin angelegte puritanische Bekehrungstheologie entsteht zweifelsohne in einem anderen historischen (zeitlichen, geographischen und konfessionellen) Kontext. Aber sie beeinflusst das Traditionsmaterial des Pietismus und dessen Bekehrungsterminologie erheblich und gehört zum Wurzelboden freikirchlicher Frömmigkeit. Auch die für freikirchliche Spiritualität zentrale Bedeutung des freien Gebets und der Gebetsgemeinschaft hat seine Herkunft im Pietismus und der dort aufkommenden Spannung zwischen Herzensgebet und Gebetbuch, zwischen dem freien Gebet des Einzelnen und dem Beten nach vorliegenden Gebetsformularen.32 Spener war zweifelsohne ein Befürworter des freien Gebets. Statt das Vaterunser und die Psalmen zu beten und zu meditieren, hielt er es für besser, dass ein Gebet sich an gar keine Gebetsformulare, auch keine biblischen hält, sondern „aus dem Herzen allein“33 kommt und sich ganz dem Leiten des göttlichen Geistes überlässt. Spener übernimmt hier für das Gebet den Ansatz des Spiritualismus, dass man auf die innere Stimme des Geistes zu achten habe und sich der Göttlichkeit durch die Übereinstimmung mit der Heiligen Schrift vergewissern könne. Auffällig an der Gebetspraxis Speners und vorbildlich für freikirchliche Spiritualität ist eine besondere Form des Bittgebets: die Fürbitte. Die Fürbitte ist für Spener keine fromme Übung, die zu der von ihm betriebenen religiösen Erneuerung der Kirche nachträglich den Segen Gottes erbittet, sondern in der wechselseitigen Fürbitte vollzieht sich die pietistische Erneuerung der Gemeinschaft. „Mitstreiter im Gebet“, so nennt Spener diejenigen, deren Fürbitte er
31 Vgl. Deppermann, Puritanismus. 32 Vgl. Wallmann, Herzensgebet. 33 Im gleichen Zusammenhang spricht Spener davon, dass er ein Gebet „allemal vor kräfftiger halte, wo es nicht eben conceptis formulis aus dem buch hergelesen wird, sondern aus dem herztzen allein geht“, ders., Theologische Bedenken, 82. Vgl. Wallmann, Herzensgebet.
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gewiss sein kann.34 Am Vorrang der Fürbitte wird am Sinnenfälligsten erkennbar, wie der Gemeinschaftsgedanke die Spiritualität ergreift. Der Gedanke der Gebetsgemeinschaft ist nicht nur ein wesentlicher Beitrag Speners zur Geschichte des Gebets im Protestantismus, sondern nachhaltig prägend für eine freikirchliche Spiritualität.
1.3
Evangelischer Mystizismus und Spiritualismus
Zum Wurzelgrund frei-evangelischer Spiritualität gehört nicht zuletzt ein evangelischer Mystizismus35 und Spiritualismus, der seinen Ausgang bei Jean de Labadie nimmt, der ursprünglich römisch-katholisch und Jesuit war. Bereits in dieser Eigenschaft arbeitete er 1644 in Amiens – so der Historiker Max Goebel – „an einer Reformation der Kirche nach dem Muster der alten Kirche und namentlich nach der ersten apostolischen Gemeinde nach Jerusalem, in dem er […] mit Erlaubniß seines Bischofs ‚die wirklich erweckten und bekehrten Seelen zu einer besonderen und geschlossenen Gemeinde (‚Brüderschaft‘) sammelte‘“.36 Labadie hatte in der Kirche eine besondere Gemeinde von Gläubigen aus den Ungläubigen gesammelt und demnach die Separation der Gläubigen in der Kirche von der Kirche aus Frömmigkeit begonnen, wie sie bis dahin nur vom linken Flügel der Reformation bzw. dem Täufertum vorgenommen worden war. Nachdem Labadie 1650 zur Reformierten Kirche konvertiert war, wirkte er vor seiner Berufung in die wallonische Kirche in Middelburg in Genf, wo u. a. Spener unter seinen Hörern war, der von Labadies Frömmigkeitsanschauungen tief beeindruckt wurde und später Labadies Werk „La Pratique de l’oraison“ übersetzte. Labadie versteht unter „l’oraison“ („Betrachtung“) eine allgemeine und unbestimmte Übung, in welcher die Seele schweigt, um durch die Versenkung in die göttlichen Geheimnisse göttliche und heilige Bewegungen des Geistes zu empfangen. Labadies Mystizismus ist bei aller mönchisch anmutenden Weltabkehr ein evangelischer Grundzug, richtiger wohl ein quietistischer Zug, eigen. In die zentrale Stellung rückt die Betrachtung des unmittelbaren göttlichen Gnadenwirkens am Menschen, worauf das Wort hinweist. Dabei wird der Mensch als
34 A. a. O., 96. 35 Der hier gemeinte evangelische Mystizismus geht auf Gerhard Tersteegen (1697–1769) und den reformierten Pietismus zurück, bei dem der Taulersche Gedanke der Geburt des göttlichen Logos im Seelengrund ebenso rezipiert wird wie quietistische Elemente im Anschluss an den Jesuiten Jean de Labadie (1610–1674), der 1650 zum Calvinismus übergetreten war und in den Niederlanden wirkte. Vgl. dazu Mühlen, Mystik. 36 Goebel, Geschichte, 193f.
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solcher ein Gegenstand frommer Betrachtung, denn in ihm als Gottes Ebenbild wird Gott selbst anschaulich, in seinem Geist leuchtet der Geist Gottes hervor. „Der Mensch sonderlich / welcher sein (sc. Gottes) schönstes Ebenbild / ist auch sein natürliches Gemälde: man kann ihn nicht wol leben oder handlen sehen / daß man sich nicht in ihm über GOTT verwundere: Gottes Geist leuchtet in dem seinigen hervor / sein verstand in ein Straale der Sonne göttlicher Allwissenheit / und sein Urteil von göttlicher Allweißheit […] So sage ich nun / daß nichts so leicht ist / als Gott in dem Menschen und der gantzen natur zu betrachten“37.
Das Gedankengut und die Frömmigkeitsanschauungen Labadies erreichten auch das Gebiet der reformierten Kirche am Niederrhein. Dort wurden seine Anschauungen im innerkirchlichen Pietismus Theodor Undereycks und dem Radikalpietismus Ernst Christoph Hochmanns von Hochenau rezipiert, der wiederum vermutlich in Mülheim a. d. Ruhr war, wo ihm Gerhard Tersteegen begegnete.38 Labadies Frömmigkeit und Mystizismus prägten – vermittelt durch Tersteegenkreise in Mülheim – den Gründer der Freien evangelischen Gemeinden, Hermann Heinrich Grafe.39 Für Labadie ist die Idee der Nachfolge mit der dazugehörenden Absage an die Welt überaus wichtig für das christliche Leben. Die Möglichkeit, in der Welt und zugleich doch aus der Welt zurückgezogen zu leben, ist da wie ein Wunder: Man lebt, so Labadie, dann in den Flammen, ohne Feuer zu fangen.40 In ihrem weltabgewandten Lebensstil und in ihrer vergeistigten Spiritualität repräsentiert die Labadistengemeinde eine eigentümliche Form des Pietismus, welche zum Wurzelgrund frei-evangelischer und freikirchlicher Spiritualität zu rechnen ist.41
2.
Merkmale und Struktur freikirchlicher Spiritualität
Die wesentlichen Merkmale freikirchlicher Spiritualität ergeben sich durch eine – vereinfacht gesprochen – Durchdringung von erwecklich-evangelikalem und pietistischem Erbgut, einem Zusammenspiel von frommer Innerlichkeit und missionarischer Aktivität, das wiederum auf das gegenläufige Beieinander menschlichen Handelns und göttlichen Tuns zu beziehen ist. Spezifisch für die Struktur freikirchlicher Jesus-, Bekehrungs- und Bibelfrömmigkeit sowie deren missionarischer Ausrichtung ist, dass diese Elemente so angelegt sind, dass sie vom Gnaden- und Geisteswirken Gottes her bestimmt werden sollen. Dabei gibt 37 38 39 40 41
Spener, Kurtzer Unterricht, 227f. Vgl. Goeters, Pietismus, 403f. Vgl. Lenhard, Studien, 93f. Vgl. Labadie, Abrege, 85.383. Vgl. dazu Hoenen, Gemeinden, 10.
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es ein Gefälle vom religiösen Innenleben des Einzelnen, von der „geistlichen Persönlichkeit“42, nach außen, zum Nächsten, in die Welt. Allerdings wird das Gnaden- und Geisteswirken Gottes im Glauben stets im Horizont gelebter Frömmigkeit erfahrbar, auch wenn sich der Glaube und diese Lebensgestalt, als menschliches Verhalten, stets zugleich kritisch unterscheiden. Nur so sind und bleiben in freikirchlicher Sicht die religiöse fiducia und die ethische experientia, was sie sein sollen: freie, von religiösen Traditionen und Institutionen geförderte, aber nicht beschwerte Innerlichkeit und freie, von moralischen Normen und Instanzen unterstützte, aber nicht beschwerte Sittlichkeit.
2.1
Gnaden- und Geisteswirken Gottes und der persönliche Glaube des Individuums
Der Historiker Wolfgang Heinrichs äußert die Auffassung, die theologische Mitte der ersten Freien evangelischen Gemeinden und damit die Grundlage für die Frömmigkeit sei „offenbar nicht in einer der reformatorischen Bekenntnisschriften zu suchen […], sondern in einem aus Pietismus und Erweckungsbewegung erwachsenen undogmatischen, am eigenen Bibelverständnis orientierten Erfahrungsschatz“.43 Man wird allerdings ergänzen müssen, dass der Inhalt dieses Erfahrungsschatzes einen starken Bezug auf das Evangelium von Gottes freier Gnade hatte und somit dogmatisch positiv gefüllt war. So leitete Hermann Heinrich Grafe das für seine Frömmigkeit grundlegende Motiv von dem Begriff der „freien Gnade“ ab. Grafe versteht darunter den „einen Grund unseres Heils, Jesum Christum, den Gekreuzigten, sein Verdienst“.44 Es geht um die Einzigartigkeit des Christusgeschehens und um Jesus Christus selber, der allein Grund des Glaubens ist. Die Erweiterung des Begriffs Gnade durch das Attribut „frei“ entspricht bei Grafe dem reformatorischen sola gratia insofern, als damit die Unbedingtheit des Heils extra nos, aber pro nobis festgehalten werden soll. Diese freie Gnade Gottes, die durch das Wirken des Geistes Menschen berührt und verändert, ist der Kern geistlichen Lebens. Die Gnade führt zur „Freiheit der Kinder Gottes“, denn „da muß man in den Wegen Gottes wandeln; weil man nicht anders kann, weil das Herz so drängt, und der alte Mensch? – ja, wo ist der? – Das Alte ist vergangen; siehe es ist Alles neu geworden. Das heiße ich Gnade, freie Gnade“.45 42 Zum Verständnis und zur Bedeutung des Begriffs „geistliche Persönlichkeit“ in den Freien evangelischen Gemeinden vgl. Iff, Gemeinden, 150–153. 43 Heinrichs, Akt der Solidarität, 170. 44 Neviandt, Erinnerungen, 126. 45 Zit. nach a. a. O., 124.
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Wie man diesen Ausführungen beispielhaft entnehmen kann, geht es in evangelischen Freikirchen betontermaßen um eine individuelle, erfahrungsbezogene Spiritualität, um die Fokussierung auf das Individuum und seinen „persönlichen Glauben“ sowie sein geistliches Potential (engl. „soul competence“). Jedem Einzelnen wird die geistliche Fähigkeit zuerkannt, das Wirken der Gnade und des Geistes Gottes in der eigenen Biographie und damit die individuellen Glaubenserfahrungen in der Gemeindeöffentlichkeit darzulegen. Daher wird auch von jedem Gemeindemitglied ein persönliches Glaubenszeugnis erwartet.
2.2
Bekehrung, Jesusfrömmigkeit und Unterscheidung von der Welt
Das Glaubensbekenntnis der deutschen Baptisten von 1847 enthält einen speziellen Artikel zur Bekehrung (Art. VII: „Von der Bekehrung des Sünders durch das Wort Gottes“), in dem es heißt: „Diese große Umwandlung in dem Herzen […] ist ausschließlich das Werk des Heiligen Geistes, der […] die Wiedergeburt des fleischlich gesinnten Sünders bewirkt […] und den lebendigen Glauben an Christum erzeugt“.46 Die große „Umwandlung“ bzw. Bekehrung geschieht als erlebte Rechtfertigung durch den Heiligen Geist und hat die gelebte Heiligung zur Folge. Entsprechend nennt das Glaubensbekenntnis in Art. XI die Heiligung eine Folge der Rechtfertigung des Sünders.47 Die Bekehrung wird als erlebte Rechtfertigung zur entscheidenden Wendemarke im Leben eines Menschen. In einer Predigt über Jes 53,10–12 formuliert Johann Gerhard Oncken: „Wie herrlich klar ist doch Gottes Wort in der Lehre von der Rechtfertigung, dieser Kernlehre des Christentums. Wir alle hören, dass der Sünder und Gottlose durch Christum gerecht wird.“48 Oncken verankert die Bekehrung in der Rechtfertigung und lehnt jede Methodisierung des Bekehrungsvorgangs ab. Allerdings kommt es in freikirchlicher Frömmigkeit auch immer wieder zu der Vorstellung, dass der Mensch für seine Bekehrung verantwortlich sei, was sich in der Redeweise spiegelt, jemand „habe sich bekehrt“ oder in der Frage: „Hast du dich schon bekehrt?“.49 Hier wird deutlich, dass in freikirchlicher Spiritualität und Theologie nicht selten das Unterscheidungsvermögen zwischen Gehalt und Gestalt im Blick auf die Bekehrung fehlt. Positiv bestimmt, geht es in freikirchlicher Spiritualität um eine individuelle Erfahrungsdimension im Sinne einer geistlichen Biographie, in der die Bekeh46 47 48 49
Glaubensbekenntniß, 17–19. Vgl. a. a. O. Licht und Recht, 155f. Balders, Verhältnis, 153–156.
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rung zum Glauben an Jesus Christus und das geistige Wachstum in der Beziehung zu Jesus Christus Grundmerkmale sind. So schreibt Hermann Heinrich Grafe: „Ich muss die Wahrheit des Christentums in der persönlichen Beziehung zu Christus selbst erleben, um ein wahrer und lebendiger Christ zu sein. Diese persönliche Beziehung zu Christus als Lebenserfahrung kann durch nichts ersetzt werden; und es ist immer eine Abschwächung der Notwendigkeit der persönlichen Bekehrung zu Christus, um selig zu werden, wenn ich den Glauben an ihn durch einen Glauben an die Kirche, an gewisse Lehren oder auch nur an die Heilige Schrift [in toter Rechtgläubigkeit] ersetzen will“.50
Von daher erschließt sich, dass sich in den evangelischen Freikirchen die Verkündigung, die Seelsorge und die missionarischen Bemühungen auf den Einzelnen fokussieren (Heilsindividualismus). Neben der besonderen Bedeutung der Bekehrung für das geistliche Leben des Christen ist eine vielfach betonte Jesusfrömmigkeit ein typisches Merkmal freikirchlicher Spiritualität. Das aus dem Neuen Testament erhobene Modell und Motiv des so verstandenen Christ-Seins heißt Jüngerschaft und Nachfolge, wobei mit dem Begriff Nachfolge der Nachvollzug aller Aspekte von Jesu Sendung und Lebensstil hervorgehoben wird, wohingegen Jüngerschaft die vertrauensvolle Beziehung und die unmittelbare Bekanntschaft Jesu betont. Mit Jüngerschaft und Nachfolge wird freikirchlich nicht nur die möglichst regelmäßige und praktische Teilnahme am Gemeindeleben beschrieben, sondern ein konsequentchristlicher Lebenswandel des Gläubigen in allen Alltagsbezügen und Lebensbereichen. Freikirchliche Spiritualität zielt auf die persönliche Begegnung mit Jesus, dem Freund, dem Heiland und dem Herrn der Menschen. Beispielhaft dafür sind die Worte des Baptisten Johann Gerhard Oncken, der seinen Schülern zurief: „Teure Brüder […] Jesus! Jesus!! Jesus!!! Sei das beständige Thema eurer Predigten. […] Je mehr ihr der Welt erzählen könnt, was er getan hat und noch immer tut, desto mehr wird eure Arbeit gesegnet sein. Gott schaffe, dass Jesus den ersten Platz in euren Herzen einnehme, jetzt und immerdar!“51
Missionierend „der Welt erzählen, was er getan hat“ und zugleich, in pietistischer Tradition, „Jesus den ersten Platz“ im Herzen einräumen – das sind zentrale Merkmale freikirchlicher Spiritualität. Dabei lebt der Christ in zwei Welten, wobei er beiden in einer Art angehört. Sein Ziel ist es allerdings, sich mehr und mehr von der natürlichen Welt zu lösen, d. h. von seiner weltlichen Dimension und sich zu Jesus Christus hinzuwenden bis zur völligen Einswerdung mit ihm. „Er muß wachsen, ich aber muß abnehmen 50 Grafe, Lebenszeichen, Bd. 2, 58f (Eintrag vom 8. 01. 1854). 51 Zit. nach Balders, Verhältnis, 153.
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(Joh 3,30). Ich! Ich und der Herr Jesus! Der Herr Jesus und ich! Der Herr Jesus!“52 Die sich hier abzeichnende Jesusfrömmigkeit hat auf den Spuren von Tersteegen einen mystizistischen Zug, der allerdings nicht mit einem monastischen Mystizismus zu identifizieren ist. Denn der Gläubige findet sich bleibend bezogen auf die soziale Umwelt und unterschieden von ihr. Sein „geistliches Wachstum“ besteht darin, dass der Gläubige sich zunehmend von den Ansprüchen der sozialen Umwelt, die zugleich die seines natürlichen Daseins ist, löst und seine Persönlichkeit aus Gottes Geist bezieht. Der Gläubige lebt in seiner Umwelt und partizipiert an ihr, ist jedoch zugleich von ihr ontisch unterschieden. Er hat die Aufgabe, sein äußeres, d. h. sein soziales Leben von dem Inneren, seiner geistgeprägten Überzeugung her, leiten zu lassen.
2.3
Bibelfrömmigkeit und missionarisches Leben
Der deutsche Baptismus lässt sich von seiner Entstehung her als Bibelbewegung verstehen. Auf die Frage, wie es überhaupt zur Gründung von Baptistengemeinden gekommen sei, konnte Oncken sagen: „Die Bibel hat Schuld daran“.53 Die Hochschätzung der Bibel für das geistliche Leben ist ein calvinistisch-puritanisches Erbe und verbindet den deutschen Baptismus wie auch andere evangelische Freikirchen mit dem Pietismus. Die persönliche Bibellese sowie das gemeinsame Bibelgespräch in sogenannten Bibel- und Hauskreisen gehören zu den wichtigsten Merkmalen des geistlichen Lebens in evangelischen Freikirchen. Zwar lässt sich die klare Tendenz erkennen, dass eine regelmäßige, gemeinsame Bibellektüre und die damit verbundene Bibelkenntnis der Gemeindemitglieder in evangelischen Freikirchen abnimmt.54 Gleichwohl zogen und ziehen freikirchliche Christinnen und Christen aus der unmittelbaren Übertragung der biblischen Texte in ihr Leben Inspiration, Motivation und Orientierung für eine dem Evangelium gemäße Gestaltung ihres Lebens sowie des missionarischen Wirkens. Es wird in freikirchlichen Gemeinden im Umgang mit der Bibel durchaus bedacht, dass es nicht darum gehen kann, die Anweisungen der biblischen Bücher wörtlich zu praktizieren, sondern dass es um ein geistliches Geschehen und einen Gehorsam geht, der in dem Schriftbuchstaben das Wirken des Geistes Christi erkennt und sich nach diesem Geist ausrichtet. So formuliert etwa der frei-evangelische Prediger und Theologe Otto Schopf, dass nicht der biblische Wortlaut, sondern der „Geist der Schrift“ für Glauben und Leben 52 Zit. nach Heinrichs, Freikirchen, 409. 53 Licht und Recht, 234. 54 Vgl. Dziewas, Glauben, 198f.
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maßgeblich zu sein habe.55 Allerdings zeigt sich bis in die Gegenwart in freikirchlicher Bibelfrömmigkeit, die mit einer Vielfalt von Schriftverständnissen einhergeht,56 dass oftmals eine theologische Hermeneutik fehlt, die zwischen der Historizität und der verkündigten Wahrheit biblischer Texte unterscheidet und bedenkt, dass eine Orientierung an der Bibel nur in einem hermeneutischen Umgang mit ihr gelingt, der nach Grundwerten, Zielvorstellungen und der Mitte der Schrift fragt.57 Weiteres Merkmal freikirchlicher Spiritualität ist die missionarische Ausrichtung des Lebens im Glauben an Jesus Christus. Die persönliche Bezeugung der Glaubenserfahrung in Wort und Tat wird als existenziell wahrgenommene Verantwortlichkeit gesehen. Der den deutschen Baptismus neben Johann Gerhard Oncken ebenfalls prägende Gottfried Wilhelm Lehmann (1799–1882) formulierte 1854 in einem „Sendschreiben an den deutschen evangelischen Kirchentag“: „Nach ihren Grundsätzen müssen die Baptisten die Mission aus allen Kräften treiben, wenn sie nicht vergehen wollen, sie ist ihr Lebensprinzip, Mission nach allen Seiten, in der Familie, in der Ortsgemeinde, im Lande, in der Welt […], da die Wiedergeburt sich nicht vererbt“.58
Die Frage, wie die missionarische Existenz von Gläubigen und Gemeinde gefördert werden kann, ist aus Sicht der Freikirchen eine Schlüsselfrage für das Christsein. Johann Gerhard Oncken hat darauf eine für freikirchliche Spiritualität wegweisende Antwort gegeben, wenn er schreibt: „Da unsere Gemeinden sich in allem nach den apostolischen Gemeinden richten wollen, so sei vor allen Dingen not, denselben immer wieder auf ’s Neue das Vorbild der ersten Gemeinen in Wort und Wandel vorzuhalten. Doch dieses Vorhalten allein sei nicht genug. Hauptsächlich bedürfen wir, dass die Kräfte und Segnungen des heiligen Geistes uns und unsere Gemeinden mehr beleben und durchdringen“.59
Diese Art von Primitivismus, d. h. Leben nach dem „apostolischen Muster“, beschränkt sich in der Regel nicht auf das formale „Nachmachen“, sondern weiß, dass missionarisches Leben eine geistliche Angelegenheit ist, die das Wirken des Geistes Gottes an Menschen voraussetzt.
55 Vgl. Schopf, Gemeinde, 306. 56 Zur Vielfalt der im Bund Evangelisch-Freikirchlicher Gemeinden vertretenen Schriftverständnisse vgl. Präsidium (Hg.), Beiträge. 57 Vgl. Demandt, Bibel. 58 Lehmann, Sendschreiben, 27f. 59 Zitiert nach Balders, Verhältnis, 145.
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3.
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Gestalt und Ausprägung freikirchlicher Spiritualität
Die Intentionalität freikirchlich geprägter Frömmigkeit ist keine einheitliche Bewegung, sondern besteht in der Spannung zweier gegenläufiger Bewegungen, die im geistlichen Leben zusammenzuhalten sind. Es geht einerseits um die Bewegung nach Innen, in das Reden des Herzens mit Jesus Christus, und andererseits um die Bewegung nach Außen, zum Nächsten und zum Dienst an der Welt. Die Gestalt freikirchlicher Spiritualität sollte idealerweise dadurch geprägt sein, dass das Bei-sich- und Bei-Jesus Christus-Sein und das Beim-anderen-Sein in einer beweglichen Spannung gehalten werden. Auch wenn freikirchliche Spiritualität erkennbar aktivitätsorientiert ist, soll im religiösen Bei-sich-Sein eine Differenz gesetzt werden, und zwar die im rechtfertigenden Glauben (in me) bejahte Differenz zwischen extra me und in me, zwischen dem Grund meines Glaubens in Jesus Christus und meinem höchsteigenen, aber derart begründeten Glauben. Diese Differenz wird in freikirchlicher Spiritualität allerdings nicht immer durchgehalten. Zudem drängt die erkennbar aktivitätsorientierte Frömmigkeit spirituelle Ausdrucksformen der Besinnung, der Meditation, des Gebets und Loslassen-Könnens nicht selten in den Hintergrund. Die Gestalt freikirchlicher Spiritualität wird wesentlich von zwei biblischen Begriffen geprägt. Ungeachtet der sachlichen Vermittlung und inhaltlichen Ausgestaltung des Freiheitsbegriffs durch die Moderne, spricht das Neue Testament im Blick auf die Glaubenshaltung bzw. Lebensgestalt des Glaubens des Einzelnen wie hinsichtlich der Christusnachfolger von ἐλευθερία60 (Freiheit) und παρρησία61` (Freimut). Diese biblischen Begriffe und Haltungen werden in Freikirchen besonders wertgeschätzt. Im Mittelpunkt steht die befreiende Wirkung des Wortes Gottes im „Gewissen“ bzw. im „Herzen“, d. h. in seiner existenziellen Bedeutung hinsichtlich der eigenen Lebensgeschichte wie auch in der Frage des religiösen (Non-) Konformismus gegenüber der Gesellschaft. In freikirchlicher Frömmigkeitssprache steht das Angesprochen-werden des Menschen auf sein Inneres hin für die Kategorie der existenziellen Betroffenheit des Individuums, um die es in freikirchlicher Auffassung zentral geht. Freikirchen heben die existenzbezogene Bedeutung der Bibel als Wort Gottes hervor, das vermittels des Geistes Gottes Anredecharakter erlangt und damit zur Quelle der Frömmigkeit wird. Der Anredecharakter konkretisiert sich im Zuspruch neuen Lebens und im Anspruch an unser Leben. Die „freie“ persönliche Entscheidung für Christus in der Annahme der Erlösungsbotschaft mit der Folge 60 Joh 8,31f.36; Röm 6,18.22; Gal 5,1.13. 61 Missionarisch in Ausrichtung auf die Gesellschaft: Apg 4,13.29.31; 1Tim 3,13; religiös im Blick auf die Gottesbeziehung der Christusgläubigen: Hebr 4,16; 1Joh 2,28; 3,21.
Wurzeln und Gestalt freikirchlicher Spiritualität
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einer persönlichen Christusbeziehung im Glauben (Gal 2,20) ist eine besondere Note freikirchlicher Frömmigkeit. Dabei ist allerdings kein religiöser Voluntarismus mit Heilsqualität intendiert. Die Entscheidung des Menschen für den Glauben ist zwar dessen Tat, nicht aber als sein eigenes Werk im Sinne einer anrechenbaren Leistung vor Gott oder Menschen anzusehen. Der Mensch glaubt nicht aus sich selbst, wohl aber als er selbst. Der Glaubende ist passiv, aber seine Passivität ist die „responsorische Passivität des Sich-lassens“62 (vgl. Lk 1,38). Paulinisch ausgedrückt: Nicht eigenes Rühmen und religiöser Stolz, sondern Dank gegenüber Gott kennzeichnet die Grundhaltung des Gläubigen. Allerdings gehört es zu den problematischen Aspekten freikirchlicher Spiritualität, dass die Differenz zwischen dem persönlichen Glauben als eines selbsterfahrbaren Aspektes von Frömmigkeit und dem Glauben im Sinn der fiducia übersehen werden kann. Freikirchliche Spiritualität versteht sich von dem Wirken des Geistes und der Gnade Gottes her als gehorsame Christusnachfolge. Dabei wird die „Für-Existenz“ (Gerd Theißen) Jesu von Nazareth, sein Dasein für andere, als maßgebend und vorbildlich angesehen. Daran orientiert, wollen Christen füreinander und für andere da sein. Damit ist freikirchlich nicht nur die möglichst regelmäßige und verbindliche Teilnahme am Gemeindeleben gemeint, sondern auch ein konsequent christlicher Lebenswandel der Gläubigen in allen Alltagsbezügen und Lebensbereichen. In der Nachfolge Christi wird vom Glaubenden sowohl die Unterscheidung von der Welt wie der Dienst an der Welt erwartet. Zur Ausprägung freikirchlicher Spiritualität gehört nicht zuletzt, dass die Art des Christenlebens bzw. dessen Stil eine Entsprechung von verborgenem Innen und leibhaftem Außen glaubwürdig machen sollte. Diese Entsprechung sollte sich im Verhältnis von religiöser und ethischer Praxis spiegeln.
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Wurzeln und Gestalt freikirchlicher Spiritualität
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Thorsten Dietz
Die Spiritualität der Gemeinschaftsbewegung
1.
Geschichte der Gemeinschaftsbewegung
1.1
Wurzeln und Anfänge
Die Gnadauer Gemeinschaftsbewegung ist heute ein Netzwerk von pietistischen, neupietistischen bzw. evangelikalen Gruppierungen und Organisationen. Ihre Spiritualität, die Ausdrucksgestalten und -formen ihres Glaubens,1 können nur bedacht werden im Horizont ihrer geschichtlichen Entwicklung und der ihr immer schon eigenen Pluralität. Als Gründungsereignis gilt eine Pfingstkonferenz in Gnadau nahe Magdeburg im Jahr 1888.2 Die damals Versammelten waren durch verschiedene Anliegen verbunden. Sie waren bestimmt durch eine vom klassischen Pietismus und den Erweckungsbewegungen des 19. Jahrhunderts geprägte Frömmigkeit. Sie unterstützten in der Regel die weltweiten Verkündigungsbemühungen protestantischer Missionsgesellschaften. Sie waren Anhänger der Evangelisationsbewegung, die auch in Deutschland Massenevangelisationen nach dem Vorbild von Dwight L. Moody (1837–1899) für nötig und möglich hielten. Schließlich waren viele geprägt durch den Einfluss der Heiligungsbewegung, die durch die internationalen Konferenzen in Oxford und Brighton 1874/75 auch in Deutschland großen Einfluss gewonnen hatte.3 Von Anfang an war dabei die Pluralität der Bewegung charakteristisch. Zum einen fanden sich die Vertreter der Bibel- und Gebetskreise zusammen, die in Württemberg und im Siegerland ihre Anfänge bis in das 18. Jahrhundert zurückverfolgen konnten. Sodann sammelten sich in der Gemeinschaftsbewegung Kreise der durch die Erweckungsbewegungen ab Anfang des 19. Jahrhunderts Gewonnenen, wie z. B. die Evangelische Gesellschaft 1 Vgl. Zimmerling, Spiritualität, 15f. 2 Vgl. zur Vorgeschichte Ohlemacher, Reich, 35–121; zur Konferenz siehe Pfleiderer, Pfingstkonferenz. 3 Vgl. hier vor allem den Überblick bei Holthaus, Geschichte; auch Voigt, Heiligungsbewegung; Lüdke/Schmidt, Welt.
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Thorsten Dietz
(1848). Einige standen der von Johann Hinrich Wichern geprägten Inneren Mission nahe. Schließlich stießen neu entstandene Gruppierungen hinzu, deren Entstehung durch die Einflüsse der Heiligungsbewegung bestimmt war. Im Jahre 1897 erfolgte dann die endgültige Konstitution als Deutscher Verband für evangelische Gemeinschaftspflege und Evangelisation. Die verschiedenen regionalen Zusammenschlüsse der Gemeinschaftsbewegung erfuhren vor allem im Kaiserreich ein intensives Wachstum, sodass bald mehrere hunderttausend Menschen dazugehörten.
1.2
Krisen und Konsolidierungen
Die Auseinandersetzung mit der Pfingstbewegung Anfang des 20. Jahrhunderts wurde als eine einschneidende Krise der jungen Bewegung empfunden.4 Hier kamen Gegensätze zum Tragen, die für das damalige und für das spätere Profil ihrer Frömmigkeit grundlegend waren. Nachdem es in Wales 1905 zu einer viel beachteten Erweckung mit außergewöhnlichen ekstatischen Erscheinungen gekommen war, wurde auch in vielen Gemeinschaftskreisen die Erwartung eines neuen Pfingsten lebendig. Ab 1906 verbreitete sich von Los Angeles aus die ekstatische Frömmigkeit der Pfingstbewegung. 1907 kam es im Blaukreuzhaus der Gemeinschaft Kassel zu ekstatischen Erscheinungen, die zunächst von vielen Gemeinschaftsleuten als Anzeichen einer neuen Erweckung begrüßt wurden. Als die Ereignisse außer Kontrolle gerieten und zunehmend in der Öffentlichkeit kritisch diskutiert wurden, wendete sich das Blatt. Mit der Zeit setzte sich bei maßgeblichen Vertretern der Gemeinschaftsbewegung wie auch der Evangelischen Allianz eine rigorose Ablehnung durch. Auf einer Konferenz in Berlin im September 1909 kamen führende Vertreter aus dem Bereich der Evangelischen Allianz zusammen. In der gemeinsam verabschiedeten Berliner Erklärung verurteilte man die neue Bewegung scharf: „Die sogenannte Pfingstbewegung ist nicht von oben, sondern von unten. Sie hat viele Erscheinungen mit dem Spiritismus gemein. Es wirken in ihr Dämonen, welche, vom Satan mit List geleitet, Lüge und Wahrheit vermengen, um die Kinder Gottes zu verführen“.5 Die Berliner Erklärung war kein Gnadauer Dokument. Allerdings stammten von den 56 Erstunterzeichnern 31 aus dem Bereich der Gemeinschaftsbewegung.6 Dem federführenden Ausschuss, der die Erklärung verfasste, gehörten führende Gna-
4 Vgl. Sauberzweigs Darstellung der Geschichte der Gemeinschaftsbewegung betitelt die Jahre 1904–1909 mit: „Die Zeit der großen Krise“; ders., Meister, 180. 5 Zit. nach Lange, Bewegung, 288. 6 Vgl. Morgner, Erklärung, 397.
Die Spiritualität der Gemeinschaftsbewegung
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dauer wie Walter Michaelis, Otto Stockmayer und Elias Schrenk an, aber auch Otto Schopf vom Bund freier evangelischer Gemeinden.7 Vor allem die Gemeinschaften waren durch die Abspaltungen der Pfingstkreise betroffen. Diese Abstoßung wurde für viele Jahrzehnte Teil der Gnadauer Identität. Die Abwehr gegenüber Schwärmerei und Gefühlschristentum wurde ein Grundzug der eigenen Frömmigkeit, verbunden mit einer nun höheren Schätzung der Nüchternheit, der Kirchlichkeit und mittelfristig auch biblischtheologischer Arbeit. Auch in der Weimarer Republik kam es zu einem weiteren organisatorischen Ausbau der Bewegung, verbunden mit Gründung vieler örtlicher Gemeinschaften und Gemeinschaftsverbände. In der Zeit des Nationalsozialismus bot die Gemeinschaftsbewegung ein gemischtes Bild.8 Ansätze eines politischen Widerstandes gab es so gut wie gar nicht. Der Gnadauer Vorstand fasste schon 1933 den Beschluss, grundsätzlich nicht mit den Deutschen Christen zu kooperieren.9 Gnadau schloss sich auch der von Friedrich von Bodelschwingh gegründeten Arbeitsgemeinschaft der missionarischen und diakonischen Verbände der Deutschen Evangelischen Kirche an, auch wenn man zur Bekennenden Kirche aus theologischen Gründen Abstand hielt. Die Frömmigkeit der Gemeinschaftsbewegung hatte in dieser Zeit offensichtlich eine ambivalente Wirkung. Auf der einen Seite führten die starke Bibel- und Heilsorientierung wie überhaupt das konservative Erbe zu einer grundsätzlichen Unfähigkeit, politische Entwicklungen aufmerksam begleiten zu können. So erklärte der Gnadauer Vorstand am 30. Januar 1930: „Es verträgt sich nicht mit der dem Verbande und seinen Gemeinschaften gestellten Aufgabe, Politik zu treiben“.10 Die inneren Auseinandersetzungen am Ende der Weimarer Republik zeigten, dass viele Gemeinschaftsleute durch eine „unkritisch übernommene antidemokratische Geisteshaltung“11 bestimmt waren. Auf der anderen Seite war die Distanz zur Mehrheitsgesellschaft so stark ausgebildet, dass eine völlige Anpassung an das Dritte Reich für viele auch nicht denkbar war. So lösten sich viele EC-Jugendbünde lieber freiwillig auf, um der Zwangseingliederung in die Hitler-Jugend zu entgehen.12 Nach dem Zweiten Weltkrieg kam es zu einer Konsolidierung vieler Werke. Die Gemeinschaftsbewegung fand grundsätzlich im Bereich der freien Werke in7 So Michaelis, Erkenntnisse, 226. 8 Vgl. Rüppel, Gemeinschaftsbewegung; Ruhbach, Weg. 9 Vgl. die Erklärung „Zum Verhältnis zu der ‚Glaubensbewegung Deutsche Christen‘“ vom 13. Dezember 1933 in: Heimbucher, Sammlung, 82–88. Diese Abgrenzung von den Deutschen Christen wurde im Januar 1935 noch einmal bekräftigt, vgl. Heimbucher/Schneider (Hg.), Sammlung, 89–92. 10 A. a. O., 81. 11 Rüppel, Gemeinschaftsbewegung, 56. 12 Vgl. Ruhbach, Weg, 36.
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nerhalb der Landeskirchen ihre Heimat, als Teil der konservativen kirchlichen Gruppen, die durch ihre verbindliche Frömmigkeit und durch ihren missionarischen Einsatz geprägt sind.
1.3
Aufbrüche und Wandlungen
Nach anfänglichen Wachstumsschüben in der Nachkriegszeit kam es spätestens in den 1960er Jahren vielerorts zur Stagnation der Arbeit. In den 1960er Jahren wurden in Gnadauer Dokumenten zunehmend Debatten über fehlenden Nachwuchs und Rückgang der eigenen Arbeit geführt. Vor allem nach 1968 kam es zu einer kulturkritischen Ablehnung vieler Erscheinungen des „Zeitgeistes“. In seinem Bericht zur Lage für das Jahr 1968 eröffnete der damalige Gnadauer Präses Hermann Haarbeck seinen Vortrag mit den Worten: „In den Dunkelheiten und Spannungen unserer Zeit, die wir nur als Beginn endzeitlicher Entwicklungen verstehen können, getrösten wir uns der Verheißung unseres Herrn ‚Siehe, ich mache alles neu‘“.13 Die gesellschaftlichen Umbrüche wurden auch als Krise der eigenen Entwicklung erfahren. Vielfach beklagte man das Ausbleiben jüngerer Mitglieder. Viele kleine Gemeinschaften im ländlichen Raum litten an den Folgen zunehmender Landflucht der jungen Generation. Auch für die einst großen und einflussreichen Diakonissenwerke wurde zunehmend klar, dass ihre Zeit mangels Eintritte zu Ende zu gehen schien. Präses Haarbeck suchte in den 1960er Jahren die Nähe zu den Kreisen, die sich kritisch mit der Entwicklung von Theologie und Kirche auseinandersetzten, dem Bethelkreis und der frühen Bekenntnisbewegung „Kein anderes Evangelium“. Die Gemeinschaftsbewegung wird nun auch Mitglied im Konvent Bekennender Gemeinschaften.14 In den kulturellen Umbruchjahren der Bundesrepublik ist die Zunahme einer kulturpessimistischen Haltung unverkennbar, wie sie z. B. auch im Gunzenhausener Aufruf von 1981 deutlich wird: „Wir leben in einer gefährlichen Zeit, in der antichristliche Mächte sich immer stärker profilieren und weltweit zur Offensive übergehen“.15 Auch für diese Zeit dürfte es richtig sein, was Hartmut Lehmann schon für die Anfänge betonte, dass man in der gesellschaftspolitischen Ausrichtung des Gnadauer Verbandes von einem Überwiegen der „antiemanzipatorischen Elemente“16 reden müsse. Zugleich lässt sich seit den 1970ern auch ein Gegentrend beobachten. Präses Kurt Heimbucher17 setzte sich in seiner Amtszeit für eine grundlegende Er13 14 15 16 17
Haarbeck, Siehe, 3. Vgl. Bauer, Bewegung, 404–423. Heimbucher/Schneider (Hg.), Sammlung, 163. So Lehmann, Neupietismus, 51. Zur Bedeutung Kurt Heimbuchers siehe den Überblick: Ferderer, Heimbucher.
Die Spiritualität der Gemeinschaftsbewegung
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neuerung der Gemeinschaftsbewegung in Orientierung am klassischen Pietismus ein.18 Dabei wurde auch die Frage der Spiritualität als ein Thema identifiziert, das dringender Neubelebung bedurfte.19 Die zeitweilige Nähe zur Bekenntnisbewegung „Kein anderes Evangelium“ bzw. zum Konvent Bekennender Gemeinschaften wurde unter dem Vorsitz von Kurt Heimbucher nach und nach zurückgenommen. Vor allem zu Beginn der 1980er Jahre legte Heimbucher den Schwerpunkt auf die geistliche Erneuerung und die missionarisch-evangelistische Ausrichtung der Gemeinschaftsarbeit. An die Stelle einer Dauerkonfrontation mit der Kirche trat eine kritisch-solidarische Zusammenarbeit. Für die Folgezeit kann man von einer Epoche nachholender Modernisierung reden. Am deutlichsten wird dies bei der allmählichen Zulassung von Frauen zum Verkündigungsdienst.20 In der frühen Geschichte der Gemeinschaftsbewegung war der Dienst von Diakonissen ein wichtiger Faktor ihres Wachstums, nicht nur bei sozial-diakonischen Tätigkeiten, sondern auch bei Gemeindegründungen, im Verkündigungsdienst, in der Mission und teilweise in der Leitung von Gemeinschaften.21 Im Kaiserreich erfuhr die Gemeinschaftsbewegung immer wieder Kritik von Seiten der Kirche, dass sie Frauen eine exponierte Stellung im Gemeinschaftsleben zukommen ließ. Gesellschaftspolitisch dachte man gleichwohl lange konservativ. Nach dem Zweiten Weltkrieg wurde der Dienst der Frauen eher zurückgedrängt. Das änderte sich im Zuge der kulturellen Öffnung seit den 1970er und 1980er Jahren. In den letzten zwanzig Jahren wurden an den Gnadauer Ausbildungsstätten gleichberechtigte Zugangsbedingungen für Frauen und Männer geschaffen, sodass Frauen zunehmend auch Verkündigungs- und Leitungsdienste in den Gemeinschaften übernahmen. Allerdings ist diese Öffnung für ein geschlechtergerechtes Miteinander noch nicht angekommen auf der Leitungs- und Führungsebene fast aller Verbände und Institutionen. Zugleich ist zu beobachten, dass es zu einer erneuten Internationalisierung der Bewegung kam. An vielen Stellen wurden missionarische Impulse aufgegriffen, die der weltweiten evangelikalen Bewegung entstammten, wie Ideen zu neuen Formen missionarischer Gemeindearbeit im Anschluss an Bill Bright, Bill Hybels (Willow Creek) und andere internationalen Vorbilder. Im Zuge dieser Entwicklung entstand eine starke Tendenz, dass viele Gemeinschaften ihre Arbeit nicht mehr nur als Ergänzung einer örtlichen Kirchengemeinde sahen, sondern zunehmend ein eigenständiges Gemeindeleben ausbildeten. Die Auseinandersetzung um die Möglichkeit solcher Gemeindewerdung bestimmte stark die inneren Debatten der 1980er und 1990er Jahre. Präses Kurt Heimbucher und 18 19 20 21
Vgl. Bauer, Bewegung, 229 Vgl. a. a. O., 648. Vgl. Morgner, Leitung, 307–334. Für den Bereich des Deutschen Gemeinschafts-Diakonieverbandes (DGD) vgl. z. B. Lüdke, Evangelisation, 171–176.
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in der Folgezeit Christoph Morgner gelang es in Zusammenarbeit mit dem Gnadauer Vorstand, auf der einen Seite diesen innerkirchlichen Standpunkt Gnadaus festzuschreiben, dass Gemeinschaften als freie Werke innerhalb der bestehenden Landeskirchen arbeiteten. Auf der anderen Seite wurde mehr und mehr die Möglichkeit eigenständiger Gemeinden bejaht, die ein volles Gemeindeprogramm anbieten und nicht nur als Ergänzung zu einer Kirchengemeinde arbeiten. Es gibt gegenwärtig allerdings auch eine Reihe von Gemeinschaften, die sich in Richtung eines freikirchlichen Weges orientieren. Teil dieser neueren Entwicklung war auch die allmähliche Aussöhnung mit der Pfingstbewegung bzw. der charismatischen Bewegung. War bis weit über die 1960er Jahre hinaus die Abgrenzung identitätsbildend, so kam es zunehmend zu einer Annäherung, die schließlich zur Kasseler Erklärung von 1996 führte. Dort wurden im Rahmen der Evangelischen Allianz die alten Verwerfungen zwischen der Pfingstbewegung und den pietistischen und freikirchlichen Gruppierungen historisch eingeordnet, und festgehalten, dass ihnen trotz aller bleibender Unterschiede keine trennende Bedeutung mehr zukam.22 Auf dieser Grundlage kam es 2009 auch zu einer gemeinsamen Erklärung der von den damaligen Verwerfungen besonders betroffenen Verbände, des Gnadauer Verbandes und des inzwischen zu einer evangelikal-charismatischen Freikirche gewordenen Mülheimer Verbandes.23 Heute gilt die Gemeinschaftsbewegung als größte Laienorganisation innerhalb der Evangelischen Kirche. Zwischen vielen regionalen Verbänden und den jeweiligen Kirchen bestehen Vereinbarungen, in denen die örtliche Zusammenarbeit geregelt ist. Zugleich ist Gnadau eine der bedeutendsten Trägergruppen der evangelikalen Bewegung in Deutschland. Vertreter Gnadaus sind beteiligt in den deutschlandweiten Netzwerken missionarischer und evangelikaler Kooperation, wie in der Evangelischen Allianz, bei Willow Creek Deutschland, in der Lausanner Bewegung, bei der Evangelisationsplattform Pro Christ e.V. oder dem Jugendkongress Christival e.V. Was typisch für die Gemeinschaftsbewegung ist, lässt sich heute nicht leicht bestimmen. Es ist damit zu rechnen, dass in vielen Gemeinschaften kein klares Gnadauer Profil vorausgesetzt werden kann. Längst ist nicht mehr selbstverständlich, dass Gemeinschaftsmitglieder nach einem Wohnortswechsel bei einer anderen Gemeinschaft um Mitgliedschaft nachsuchen. Umgekehrt finden umzugsbedingt auch viele Mitglieder von Freikirchen und missionarischen Kirchengemeinden Heimat in Gemeinschaften. Die Gemeinschaftsbewegung wird zunehmend Teil einer postkonfessionellen evangelikalen Bewegung, für die eher
22 Vgl. Lange, Bewegung, 162–226; Morgner, Erklärung. 23 Vgl. Gemeinsame Erklärung, 422–423.
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ein bestimmter Frömmigkeitstyp und nicht die Verbundenheit mit einer Herkunftstradition wesentlich ist. Die Größe der Gemeinschaftsbewegung ist viele Jahrzehnte lang nur durch sehr ungenaue Schätzungen bestimmt worden. Aktuelle Recherchen bei den einzelnen Verbänden haben ergeben, dass in den ca. 4.500 Gemeinschaften und 90 Verbänden und Werken ca. 200.000 Menschen regelmäßig erreicht werden.24 Das sind wahrscheinlich weniger, als die Gemeinschaftsbewegung in ihrer Blütezeit oder wohl auch in den 1950er Jahren erreichen konnte.25 Allerdings zeigt die Erhebung für die jüngere Vergangenheit der Jahre von 2000 bis 2010 ein leichtes Wachstum von ca. 5 Prozent an Mitgliedern bzw. regelmäßigen Besuchern. Bei einer so vielfältigen Bewegung ist es nicht leicht, repräsentative Quellen auszumachen. Für die ersten Jahrzehnte sind es die bekannten Gestalten der Gründungszeit. Klassischen Rang genießen die oft so genannten Gnadauer Väter Jellinghaus, Stockmayer, Rappard, Rektor Dietrich, Siebel, Schrenk oder Modersohn, deren Schriften und Gedanken bis weit nach dem Zweiten Weltkrieg wirksam blieben. Sodann haben im Präsesamt des Gnadauer Verbandes einige einflussreiche Persönlichkeiten erhebliche Prägekraft gewonnen. Das gilt vor allem für die langjährigen Vorsitzenden Walter Michaelis26 (1906–1911 und 1919– 1952) oder Hermann Haarbeck (1953–1971). In der jüngeren Geschichte haben vor allem Kurt Heimbucher (1971–1988), Christoph Morgner (1989–2009) und Michael Diener (seit 2009) besondere Bedeutung für das Profil Gnadaus insgesamt gewonnen, weil sich bei ihnen schon qua Amt ein intensiver Austausch mit allen Ebenen der Gemeinschaftsbewegung verdichtete. Mit ihren Präsesberichten haben sie wichtige Debatten und Entwicklungen zusammengefasst, angestoßen und befruchtet.27 Schließlich waren von Anfang an Konferenzen und Tagungen identitätsstiftende Veranstaltungen der Gemeinschaftsbewegung.28 Das gilt für die klassischen Gnadauer Pfingsttagungen oder die großen Gnadauer Konferenzen, hinzu kommt eine Fülle von regionalen Tagungen, Missionsfesten, Jugendkonferenzen etc. bis hin zum Kongress „Neues wagen!“, der im Januar 2013 2.500 Teilnehmer in Erfurt versammelte. Neben Gemeindegründungen und ge-
24 Die Erhebung wurde durchgeführt von der Zeitschrift idea Spektrum 41/2010, 26–28. 25 Für das Jahr 1929 ergab eine von Michaelis angeregte Erhebung Versammlungen an 11.000 Orten, ca. 84.000 Mitglieder und zusätzlich ca. 160.000 weitere Versammlungsbesucher. Vgl. Diener, Kurshalten, 441. 26 Vgl. grundlegend Diener, Kurshalten. 27 Zur grundsätzlichen Bedeutung des Amtes vgl. Morgner, Leitung. Die Präsesberichte von Christoph Morgner und Michael Diener seit 2005 sind zugänglich über die Seite www.gnadauer.de. 28 Vgl. den Überblick über die Gnadauer Pfingstkonferenzen 1888–1988 bei Heimbucher/ Schneider (Hg.), Sammlung, 43–77.
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sellschaftlicher Verantwortung war auch das geistliche Leben ein Schwerpunktthema dieser Konferenz.
2.
Grundzüge der Gnadauer Spiritualität
Bei aller Pluralität und allem geschichtlichen Wandel lässt sich eine Reihe von Merkmalen benennen, mit denen so etwas wie eine Gnadauer Identität immer wieder kommunikativ hergestellt wird. Zum Gnadauer Selbstverständnis gehört seit den Anfängen der doppelte Auftrag der Gemeinschaftspflege und der Evangelisation. Maßgeblich für Gnadau ist die Selbstunterscheidung von der Evangelischen Kirche und die Zuordnung zur Evangelischen Kirche als freies Werk innerhalb der Volkskirche. Zur Gnadauer Identität gehört schließlich eine Reihe von Fixpunkten der Frömmigkeit, die immer wieder betont werden. Diese Grundzüge der Spiritualität zeigen sich an häufigen Selbstbezeichnungen wie „Jesusbewegung“ bzw. „Jesusleute“, „Bibelbewegung“ und „Gebetsbewegung“. Anhand dieser Selbstbezeichnungen soll im folgenden Grundriss eine Spiritualität der Gemeinschaftsbewegung beschrieben werden.29 Die regionale Vielfalt Gnadaus ist dabei kaum zu berücksichtigen, wohl aber müssen in den einzelnen Rubriken geschichtliche Wandlungen bedacht werden.
2.1
Jesus-Frömmigkeit
Wie bei vielen anderen Bewegungen hat auch für den Gnadauer Verband die Gründungsepoche besonderen Einfluss auf ihr Profil. Für die Konstituierung als reichsweite Bewegung war vor allem die prägende Kraft der Heiligungsbewegung entscheidend. Für die Erweckten in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts war in der Regel eine tiefe Gottes- und Jesusbeziehung typisch, die nicht selten mit einer Bekehrungserfahrung verbunden war. Viele fragten nach einer Vertiefung ihres Glaubens, mit vermehrter Erfahrung von geistlicher Kraft und Freude. Die internationale Heiligungsbewegung gewann ab den 1870er Jahren viele Anhänger durch ihre Botschaft, dass Christus die Gläubigen nicht nur von der Schuld der Sünde, sondern auch von der Macht der Sünde befreit hat. In der Verbindung zu ihm sei ein höheres bzw. sieghaftes Leben möglich, das sich nicht in einer moralischen Anstrengung der Selbstheiligung erschöpfe. Vielmehr gelte es, sich von der Kraft des lebendigen Christus erfüllen zu lassen und diese unmittelbare Gottesverbundenheit zur Mitte des eigenen Christseins zu machen. Eine solche 29 Für die Frühzeit vgl. die Beschreibung der Gnadauer Frömmigkeitspraxis bei Voigt, Zeit, 64– 70.
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Glaubensheiligung wurde mehr oder weniger deutlich als höhere Stufe des Christseins kommuniziert. Repräsentativ für diese Anschauung ist das Buch von Theodor Jellinghaus „Das völlige, gegenwärtige Heil durch Christum“.30 Jellinghaus’ Werk galt lange Zeit als die „Dogmatik“ der Heiligungsbewegung. Seine Anschauungen wurden in einigen Gemeinschaftskreisen noch radikalisiert, sei es durch eine Übernahme eschatologischer Spekulationen über eine Entrückung der Brautgemeinde im Anschluss an darbystische Vorstellungen (Otto Stockmayer, Theophil Krawielitzki), sei es durch den Einfluss der frühen Pfingstbewegung, die das Erreichen einer höheren Stufe mit dem Erwerb geistlicher Gaben wie der Zungenrede verknüpfte (Jonathan Paul). Die Auseinandersetzungen und Spaltungen im Streit mit der Pfingstbewegung setzten dieser Frömmigkeitsdynamik ein jähes Ende. Der Einfluss von Jellinghaus endete spätestens mit dem Widerruf seiner Lehre von 1912.31 Ausläufer der Heiligungsbewegung waren jedoch bis weit ins 20. Jahrhundert hinein einflussreich. Allmählich aber wurden die Spitzenthesen der Heiligungsfrömmigkeit zurückgenommen und verloren zunehmend ihre Wirkungskraft. An ihre Stelle trat ein gemäßigteres Denken, wie es durch ein weiteres Lehrbuch repräsentiert wird, das wie kein anderes in den Bibelschulen und theologischen Seminaren der Gemeinschaftsbewegung im Gebrauch war: die „Biblische Glaubenslehre“ (1902) 32 von Theodor Haarbeck. Als Direktor der „Evangelistenschule Johanneum“ (1890–1919) und als Vorsitzender des Gnadauer Verbandes (1911–1919) verfasste Haarbeck seine Glaubenslehre als „ein Buch für unsere Gemeinschaftskreise“33 und prägte diese über viele Jahrzehnte mit einer biblisch orientierten und systematisch aufgebauten Entfaltung des christlichen Glaubens. Haarbeck entfaltete eine gemäßigte Version der Heiligungslehre. Wohl wird die Notwendigkeit tätiger und geistlicher Heiligung betont, aber die Unterscheidung signifikanter Stufen tritt völlig zurück. Die Heiligung gilt nicht mehr als geistlicher Fortschritt über die Rechtfertigung hinaus: „Die Heiligung ist nichts anderes als die im praktischen Leben bewiesene und durchgeführte Rechtfertigung“.34 Die Spiritualität bekommt einen praktischeren, emotional stärker gemäßigten Charakter als in den Anfängen. 30 Vgl. Jellinghaus, Heil. Die Erstauflage erschien 1880, die 5. Auflage 1903. Vgl. auch Thimme, Kirche, 236f. 31 Vgl. zu Jellinghaus insgesamt Ohlemacher, Reich, 163–190; Fleisch, Heiligungsbewegung, 101–209; Dietz, Jellinghaus. 32 Nach seinem ersten Erscheinen 1902 und immer neuen Auflagen wurde es 1977 vom damaligen Leiter des Brüderhauses Tabor Werner Stoy als „Werkbuch biblische Glaubenslehre“ bearbeitet und neu aufgelegt. Es erschien zuletzt 1998 in 16. Auflage. 33 Haarbeck, Glaubenslehre, X. 34 A. a. O., 142 (Hervorhebung im Original).
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Die Heiligungsfrömmigkeit war eine einflussreiche, wenn auch nie unstrittige Prägung der frühen Gemeinschaftsbewegung. Daneben bestand immer schon der nüchterne Charakter der reformierten Siegerländer Frömmigkeit, die bibelbezogene Frömmigkeit schwäbischer Pietisten sowie das fromme Luthertum sächsischer oder norddeutscher Gemeinschaftskreise; Prägungen, die bis heute im Gnadauer Raum nachwirken und die sich nicht subsummieren lassen unter dem besonderen Profil der Heiligungsbewegung.35 Kurt Reuber hat in seiner Monographie „Die Mystik der Gemeinschaftsbewegung“36 die These vertreten, dass es sich bei der Frömmigkeit der Gemeinschaftsbewegung um eine besondere Form der Mystik handelt. Ob Mystik ein angemessener Begriff ist, hängt an der jeweiligen Definition. Geht man wie Reuber im Anschluss an Rudolf Otto und Friedrich Heiler von einem weiten Mystikbegriff aus, der Mystik als Intensivform des Glaubens, als unmittelbares Gewahrsein göttlicher Präsenz versteht, dann kann diese Kategorie sinnvoll nur auf die Strömung der Heiligungsbewegung bezogen werden.37 Nicht die Frömmigkeit der Gemeinschaftsbewegung als solche kann als mystisch begriffen werden, wohl aber kann man zu Recht von einer beständigen mystischen Strömung in ihr reden. Die Verbindung zur Spiritualität des älteren Pietismus mit mystischer Färbung (z. B. Gerhard Tersteegen) findet sich z. B. in vielen Veröffentlichungen des St. Chrischona-Dozenten Erich Schick (1897–1966).38 Eine in diesem Sinne weitere einflussreiche Inspiration für die Gnadauer Frömmigkeit wurde die Oxford-Gruppenbewegung, die viele verantwortliche Führungskräfte prägte, bis hin zu Klaus Bockmühl (1931–1989), der sich seit den 1960er Jahren intensiv für eine Erneuerung der Spiritualität in der Gemeinschaftsbewegung und im evangelikalen Christentum insgesamt einsetzte.39 Eine vergleichbar prägende Bedeutung wie die klassischen Darstellungen von Jellinghaus und Haarbeck erzielte das von vielen Gnadauer Repräsentanten als Gemeinschaftswerk herausgegebene Buch „Dem Auftrag verpflichtet“ (1988). Hier ist der Einfluss einer lutherischen Theologie der Rechtfertigung deutlich zu greifen, vor allem etwa bei der Darstellung von Rechtfertigung und Heiligung durch Siegfried Kettling, wo unter starker Betonung des lutherischen simul iustus et peccator ein denkbar deutlicher Gegenakzent zu allen einst so verbreiteten 35 Darum ist die These von Karl Heinz Voigt, dass die Gemeinschaftsbewegung im Wesentlichen vom Methodismus her zu verstehen ist, nur im Blick auf die von der Heiligungsbewegung erfassten Strömungen zutreffend. Siehe Voigt, Christlieb, 169–204. 36 Reuber, Mystik. Siehe zur Frage der Mystik grundsätzlich auch Dietz, Stockmayer. Zu Stockmayer siehe auch Thimme, Kirche, 217–232; Fleisch, Heiligungsbewegung, 210–300. 37 Vgl. die Kritik an Reuber bei Schneider, Frömmigkeit, 27f. 38 Vgl. z. B. Schick, Schweigen. 39 Vgl. Bockmühl, Hören. Zur Verbindung dieser Bewegung mit der klassischen Heiligungsfrömmigkeit vgl. schon Fleisch, Heiligungsbewegung, 365–398.
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Ansätzen eines Stufen- und Aufstiegsschemas gesetzt wird.40 Diese theologische Linie ist auch von den letzten Inhabern des Präsesamtes seit Heimbucher vertreten worden, sie ist heute auch in den Ausbildungsstätten Gnadaus dominant. Die einst prägende Heiligungsfrömmigkeit der Gnadauer Anfänge ist eine historische Phase geworden. Gleichwohl gibt es eine grundlegende Kontinuität innerhalb der Gnadauer Frömmigkeit, nämlich die starke Konzentration auf Jesus Christus. Das Zentrum der Gnadauer Spiritualität lässt sich am ehesten als Jesus-Frömmigkeit bezeichnen. Präses Kurt Heimbucher konnte dies so zusammenfassen: „Das kennzeichnet den Pietismus, das kennzeichnet die Gemeinschaftsbewegung, die sich als eine pietistische Bewegung versteht, daß Jesus ganz in der Mitte des Glaubens, Denkens und Handelns steht“.41 Wie im Evangelikalismus insgesamt ist das Jesusverständnis stark auf die Erlösung konzentriert, auf Jesu Kreuz und Auferstehung und die Heilsbedeutung für den einzelnen Gläubigen. Die von Zinzendorf so betonte persönliche Lebensgemeinschaft mit dem Erlöser hält sich in der Frömmigkeit der Gemeinschaftschristen bis heute durch und wird bewusst als Zentrum eigener Spiritualität kommuniziert und gepflegt. Entscheidend sei, „dass uns durch den Glauben ein herzliches, inniges Verhältnis zum gekreuzigten und auferstandenen Herrn als dem ‚christus praesens‘ geschenkt wird“.42 So nennt auch das als eine Art „Gnadauer Erwachsenenkatechismus“ gedachte Buch „Grundbegriffe des Glaubens“ (2011) an erster Stelle die „Liebe zu Jesus Christus“ als das Entscheidende, „wofür die Gemeinschaftsbewegung steht“.43 Das Gebet zu Jesus, der Umgang mit ihm in Form einer persönlichen Beziehung ist in den Predigten, in den Zeugnissen der Gläubigen wie im Liedgut bestimmend. Eine eigenständige Schöpfungsspiritualität hat sich in der Gemeinschaft nie entfalten können. Etwas anders verhält es sich mit der Bedeutung des Heiligen Geistes.44 In der frühen Gemeinschaftsbewegung finden sich ausführliche Beschäftigungen mit dem Heiligen Geist. Die Auseinandersetzung mit der Pfingstbewegung hatte vielerorts traumatische Bedeutung, so dass die Abgrenzung gegenüber dem „Schwarmgeist“ identitätsstiftende Kraft gewann. Im Verständnis der Gemeinschaftsbewegung wird das Wirken des Heiligen Geistes in der Regel stark auf Jesus Christus konzentriert. Exemplarisch zeigt sich dies etwa in den Vorträgen der Heiligungskonferenzen, die seit 1950 jedes Jahr in St. Chrischona durchgeführt worden sind. In immer neuen Perspektiven wurde dort
40 41 42 43 44
Vgl. Kettling, Rechtfertigung. Heimbucher, Jesus-Frömmigkeit, 119. Morgner, Leitung, 386 (aus dem Präsesbericht 1998). Diener, Grundbegriffe, 10. Vgl. dazu auch die Quellensammlung Heimbucher, Besinnung, 199–265.
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die Offenheit für das gegenwärtige Wirken Gottes im Leben der Gläubigen betont, stets aber in enger Verbindung mit dem auferstandenen Christus.45 Von dieser Jesus-Frömmigkeit her ist auch das Rechtfertigungsverständnis bestimmt. Wesentlich für diese Spiritualität ist ihr starkes Vergewisserungsbedürfnis, das sich im Suchen nach dichten und intensiven persönlichen Begegnungen niederschlägt. Die Betonung geistlicher Beziehungen untereinander und auch das Verständnis des Gottesverhältnisses als individuelle Ich-Du-Begegnung mit Jesus sind ganz und gar von der Sprache persönlicher Beziehung und Gemeinschaft bestimmt. Die Jesus-Frömmigkeit wird häufig exklusiv vertreten, was vielen Gemeinschaftschristen keinen unbefangenen Umgang mit der Vielfalt der Weltreligionen erlaubt.46 Gerade die ausschließliche Konzentration auf Jesus Christus kann so Grundlage für eine Haltung sein, die gegenüber anderen Frömmigkeitsstilen zu Unsicherheit und Abwehr, ja auch zu aggressiver Ablehnung führen mag. Die Jesus-Frömmigkeit kann auf der anderen Seite aber auch Basis einer ökumenischen Offenheit sein, wo außerhalb der eigenen Gruppe eine ähnliche Frömmigkeit angetroffen wird. Daher dürfte es auch diese zentrale Bedeutung der Jesus-Frömmigkeit gewesen sein, die mit der Zeit viele Gemeinschaftsleute die klassischen Gräben zur Pfingstbewegung bzw. zur charismatischen Bewegung überwinden ließ.
2.2
Bibelbewegung
Neben der Jesus-Frömmigkeit ist die Bibelfrömmigkeit eine zweite Säule der Gnadauer Spiritualität.47 Es ist für Repräsentanten der Gemeinschaftsbewegung üblich, von sich selbst als „Bibelbewegung“ zu reden: „Die Gemeinschaftsbewegung versteht sich von ihren Anfängen her als Bibelbewegung“.48 Die persönliche Bibellektüre wird oft gewissenhaft und intensiv betrieben. So setzte sich in ihren Kreisen mehr und mehr das vom CVJM-Weltbund-Präsident 45 Vgl. die Vorträge zur 25. Heiligungskonferenz zum Thema „Heiligung – Herrschaft des Heiligen Geistes“, z. B. die Begrüßungsansprache von Edgar Schmid: „Die Erfüllung mit dem Heiligen Geist, der nie Menschen, eine Theologie oder ein Werk anstrahlt, sondern allein Jesus Christus groß macht, macht frei für den Dienst Gottes, der immer Dienst für die Menschen und für die Welt ist“, Heiligung, 9. 46 Der Gnadauer Präses Michael Diener hat in den letzten Jahren die negative Sicht auf den Islam kritisch angesprochen. In seinem Präsesbericht von 2011 stellte er fest: „In den vergangenen Monaten ist der Islam in Deutschland wieder einmal zu einem vieldiskutieren Thema geworden. Was mich verwundert, ist die manchmal geradezu fühlbare Angst, mit der viele unserer Gemeinschaftsleute dieser für sie ‚fremden Welt‘ begegnen“, ders., Liebe, 30. 47 Vgl. Schneider, Frömmigkeit. 48 Morgner, Leitung, 481, auch 94.388 u. ö.
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John Mott (1865–1955) geprägte Konzept der „Morgenwache“49 bzw. der „Stillen Zeit“50 durch. Zu Beginn eines jeden Tages wurde erwartet, dass ein Christ einen kürzeren oder längeren Abschnitt aus der Bibel liest, nach Orientierung für sein eigenes Leben sucht und schließlich eine längere Gebetszeit hält.51 Der Gnadauer Verband stellt heute unterschiedliche Hilfsmittel für das persönliche Bibelstudium zur Verfügung, wie etwa die „Gnadauer Bibellese Leben aus dem Wort“ oder die „Lichtstrahlen“ des Jugendverbandes EC. Auch die Lektüre der Herrnhuter Losung war und ist in der Gemeinschaftsbewegung in diesem Kontext weit verbreitet. Noch bezeichnender sind die sozialen Formen, in denen die Bibelfrömmigkeit Ausdruck gewinnt. Schon auf der ersten Gnadauer Konferenz 1888 wurde mehrfach das Halten von Bibelstunden als wesentliches Merkmal von Gemeinschaftskreisen beschrieben.52 Später fand das Modell von Hauskreisen, von geistlichen Kleingruppen, die sich im privaten Raum zu Bibelgesprächen zusammenfinden, Eingang in die Praxis vieler Gemeinschaften. Damit setzte sich eine neue Sozialform durch, die weniger frontal und lehrhaft wie die klassische Bibelstunde gestaltet wird, sondern den persönlichen Fragen der einzelnen Gläubigen und der Verknüpfung mit dem Lebensalltag Raum gibt.53 Auch hier stellt der Gnadauer Verband mit der Zeitschrift „Bibel im Gespräch“ ein explizites Hilfsmittel zur Verfügung. Im Zentrum all dieser Sozialformen steht die persönliche Aneignung der biblischen Texte. Diese werden auf die Botschaft von Jesus hin gelesen, bekommen aber auch darüber hinaus große Bedeutung zugeschrieben. Die Bibel soll helfen, Alltagserfahrungen zu verarbeiten und ethische Maßstäbe für Lebensentscheidungen zu finden. Für die klassischen Autoren der Gemeinschaftsbewegung war eine Bibelauslegung bezeichnend, die immer wieder die Identifikationsmöglichkeiten mit biblischen Figuren auslotete. Die weit verbreiteten Bibelauslegungen von Ernst Modersohn sind besonders typisch, aber auch Autoren wie Otto Stockmayer, Theophil Krawielitzki oder Alfred Christlieb haben mit solchen Bibelarbeiten großen Einfluss erzielt. Julius Schneider betont in seiner Studie „Das Neue Testament und die Frömmigkeit der Gemeinschaftsbewegung“ zu
49 Vgl. schon Mott, Wandle. 50 Vor allem unter dem Einfluss der Oxford-Gruppenbewegung verbreitete sich diese regelmäßige Praxis auch im Raum der Gemeinschaftsbewegung. Zur kritischen Auseinandersetzung mit dieser bei Walter Michaelis vgl. Diener, Kurshalten, 518–522. 51 Vgl. Schneider, Frömmigkeit, 31. 52 Vgl. Pfleiderer, Pfingstkonferenz, 147–151. 53 Vgl. den zunehmend prägenden Charakter solcher Hauskreisarbeit im Spiegel der Präsesberichte von Christoph Morgner, ders., Leitung, 104.122.423f.549 etc.
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Recht diesen stark erfahrungsorientierten Zugang zur Bibel unter den Gemeinschaftschristen.54 Das Verhältnis zur Bibel führte immer wieder auch zu Konflikten. Lange Zeit gab es in vielen Gemeinschaften eine weitgehende Abschottung gegenüber der historisch-kritischen Bibelwissenschaft. Anfang des 20. Jahrhunderts haben Johannes Lepsius (1858–1926) und andere versucht, die Gemeinschaftsbewegung mit der neueren Bibelforschung zu versöhnen. Das Ziel der Eisenacher Konferenzen war es, Gemeinschaftskreise zusammenzubringen mit Vertretern der sogenannten Positiven Theologie (Adolf Schlatter, Martin Kähler u. a.). Letztlich ist dies damals nicht gelungen.55 Für manche Kreise war und ist eine Anfälligkeit für fundamentalistische Vereinfachungen und Abschottung gegenüber Entwicklungen des wissenschaftlichen Weltbildes und des gesellschaftlichen Wertewandels zu verzeichnen.56 Nach dem Zweiten Weltkrieg setzte sich der langjährige Präses Walter Michaelis noch einmal nachdrücklich dafür ein, sich von einer Inspirationslehre zu distanzieren, in der die Bibel als irrtumslos angesehen und der Gegensatz zur heutigen wissenschaftlichen Weltwahrnehmung für nötig gehalten wird. Das erschien damals nicht aussichtslos, denn innerhalb der Deutschen Evangelischen Allianz hatte man sich in dieser Zeit der Zusammenarbeit mit der weltweiten Evangelischen Allianz verweigert, weil diese in ihren Grundlagen von der „Irrtumslosigkeit“ der Bibel sprach. Allein: der Gnadauer Vorstand und wichtige Führungspersönlichkeiten wollten damals in dieser Frage keine öffentliche Auseinandersetzung, so dass sich Michaelis mit seiner Position nicht durchsetzen konnte.57 Langfristig aber gewann eine offenere Haltung bei vielen Verantwortlichen im Gemeinschaftsbereich die Oberhand. Grundsätzlich besteht unter Gemeinschaftsleuten Einverständnis, die Bibel auf Christus hin zu lesen. „Wir lesen als Christen die Bibel nicht um ihrer selbst willen, sondern um Jesu willen, der uns in ihr begegnet“.58 In seinem Präsesbericht „An der Schrift göttlich denken lernen“59 von 1993 ging Christoph Morgner auf solche Engführungen und Gefährdungen noch einmal ausdrücklich ein. Morgner warnte davor, die Bibel zu Zwecken der Abgrenzung und eigenen Selbstbehauptung zu lesen. Ziel müsse es vielmehr sein, die Bibel als Orientierungshilfe, als Motivationsquelle in heutigen Lebens- und Glaubensfragen zu entdecken und gemeinsam zu befragen. Über den gegenwärtigen Bibelgebrauch ist es schwierig, eindeutige und allgemeinverbindliche Aussagen zu treffen. Der Bibelumgang wird in der Fröm54 55 56 57 58 59
Vgl. Schneider, Frömmigkeit, 31.182f. Vgl. Fleisch, Gemeinschaftsbewegung, 302–307.581–582; auch Lange, Bewegung, 141–151. Zu fundamentalistischer Frömmigkeit siehe Zimmerling, Spiritualität, 182–191. Vgl. Diener, Kurshalten, 548–556. Morgner, Leitung, 387. A. a. O., 94–127.
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migkeit zunehmend weniger selbstverständlich. In den letzten Jahren ist auch in diesem Bereich Unterschiedliches zu beobachten: Traditionsabbruch, Rückzug auf traditionelle Denkmuster, aber auch neue Offenheit für die Frage, wie die Bibel heute Impulse für gelebte Spiritualität geben kann. Kennzeichnend ist sicherlich ein hohes Interesse an Orientierung, an Leitlinien für ein gelingendes Leben, so sehr, dass die Bibelfrömmigkeit teilweise zu einer Wahrnehmungsverweigerung gegenüber wissenschaftlichen und kulturellen Entwicklungen führen kann. Dominant aber dürfte das Frömmigkeitsinteresse sein, im lebendigen Umgang mit der Bibel solche Orientierung zu finden, die die Gottesbeziehung vertieft und lebendig macht. Auf dem Erfurter Kongress „Neues wagen“ von 2013 hielt Wolfgang Bittner ein vielbeachtetes Referat über neue Zugänge zur Bibel. Als lectio divina stellte Bittner einen meditativ-betenden Umgang mit der Bibel vor, in dem das laute, langsame Sprechen und Verinnerlichen der Bibeltexte eingeübt wird. Solche Impulse sind beispielhaft für die heutige Öffnung für neue Frömmigkeitsformen im Gnadauer Bereich.
2.3
Gebetsgemeinschaft
Dass das Gebet in seinen vielfältigen Formen eine große Rolle im Gnadauer Bereich spielt, ist selbstverständlich. An dieser Stelle soll vor allem auf eine für Gemeinschaftsleute typische Gebetsform das Augenmerk gelegt werden. Von Anfang an galt die Gemeinschaftspflege als ein Gnadauer Kernanliegen. Dabei erfährt solche Gemeinschaft eine besondere geistliche Verdichtung in der Praxis sogenannter Gebetsgemeinschaften. Die Gebetsgemeinschaft hat für viele pietistische und neupietistische Fromme eine ganz wesentliche Bedeutung. Es handelt sich hier nicht um ein exklusives Element der Gemeinschaftsfrömmigkeit, eher um ein Merkmal evangelikaler Frömmigkeit insgesamt, wie man jedes Jahr auf der Allianzgebetswoche beobachten kann. Als solches dürfte es aber auch für die Frömmigkeit der Gemeinschaftsbewegung bis heute typisch sein. Eine geschichtliche Aufarbeitung dieser Frömmigkeitsform existiert in Deutschland bislang nicht einmal in Ansätzen. Formen gemeinsamen Gebetes finden sich historisch in vielfältiger Form, offensichtlich schon in biblischen Texten. Als eigene Form einer regelrechten Versammlung von Christen zu freiem Gebet, ohne dass der Pfarrer bzw. der Hausvater allein betet oder liturgische bzw. vorformulierte Gebete verwandt werden, gehört diese Praxis zur neueren Geschichte des Evangelikalismus.60 Historisch wird häufig verwiesen auf das „concert of prayer“, wie es zur Zeit des Great Awakening von John Erskine 1744 angeregt und von Jonathan Edwards aufgegriffen wurde. In der amerikanischen 60 Vgl. die Darstellung bei Randall, Friend, 83–85.91f.
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Erweckungsgeschichte finden sich immer wieder solche „prayer meetings“. Eine besondere Rolle spielten sie z. B. in der durch Charles Finney angeregten Erweckung 1858 im Nordosten der USA. Durch die internationalen Kontakte der Evangelisations- und Heiligungsbewegung wurde solche Praxis zunehmend auch in Kontinentaleuropa heimisch. Die Evangelische Allianz hatte schon früh solche Gebetsversammlungen angeregt, wie sie in der Gebetswoche im Januar Ausdruck fanden. Die Berichte aus Deutschland zeigen, dass diese Form zunächst noch als fremd empfunden wurde oder dass nur die Pfarrer laut beteten. So berichtet die Neue Evangelische Kirchenzeitung (Berlin) im Januar 1877: „Auch in unserem deutschen Vaterland bürgert sich die ursprünglich fremde Einrichtung je länger je mehr ein“.61 Bis heute werden diese Versammlungen jedes Jahr Anfang Januar gehalten, und bis in die Gegenwart hinein dürfte gelten, was Hans von Sauberzweig in seiner Gnadauer Geschichte 1958 betonte, „dass die Allianzgebetswoche auch in den Gnadauer Kreisen überall gehalten wird“.62 Auf der ersten Gnadauer Pfingstkonferenz 1888 hielt der Evangelist Elias Schrenk einen Vortrag über Gebetsversammlungen und Gebetsgemeinschaften.63 Offensichtlich war dieses Konzept den Vertretern der Gemeinschaftsgruppen zu der Zeit schon so vertraut, dass es nicht mehr vorgestellt werden musste, sondern Formen seiner Praxis diskutiert werden konnten. Schrenk differenzierte zwischen Gebetsversammlungen und Gebetsgemeinschaften, die sich offenbar durch den Grad ihrer Öffentlichkeit unterschieden. Gebetsgemeinschaft setzt den kleinen Kreis derer voraus, die Geistesgemeinschaft haben, die sich gut kennen und vertrauen. Daher können Gebetsgemeinschaften als Grundlage von Gebetsversammlungen bezeichnet werden. Mehr noch: Gebetsgemeinschaften sind Kraftquelle des christlichen Lebens, sie sind „Gottes Brunnenstube für Arbeitsfrucht“.64 Entscheidend seien nicht viele und schöne Worte, was andere nur entmutigt. Das gilt auch von den langen Gebeten derer, die sich selbst gerne reden hören. Wesentlich sei vielmehr die geistliche Eintracht der Beteiligten und die Echtheit des unmittelbaren Ausdrucks, die nicht durch Routine und Regelzwang unterdrückt werden darf, oder mit zwei Begriffen, die Schrenk immer wieder verwendet: Echte Gebetsgemeinschaft ist stets durch Freiwilligkeit und Liebe gekennzeichnet. Sie ist der anspruchsvolle Versuch, dem Maßstab authentischer Glaubenskommunikation gegenüber Gott im Zusammenhang sozialer Glaubenspraxis gerecht zu werden. Gebetsgemeinschaften sind für viele Christen im Gnadauer Bereich fester Bestandteil ihrer geistlichen Tradition. Nicht wenige würden sich Adolf Schlatter 61 62 63 64
Zitiert nach Lindemann, Frömmigkeit, 866. Sauberzweig, Meister, 499. Vgl. Pfleiderer, Pfingstkonferenz, 143–147. A. a. O., 146.
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anschließen, wenn dieser schreibt: „So weit haben wir Kirche, als sich die Gebetsgemeinschaft erstreckt, nur so weit“.65 Darum besteht an dieser Stelle auch eine besondere Sensibilität. Die Pfingstbewegung mit ihrer Zungenrede ist nicht zuletzt auch durch diese andere Gebetsform eine so entscheidende Herausforderung geworden. Die Gegnerschaft gegenüber den Pfingstlern wurde häufig theologisch begründet. In der Zwei-Stufen-Lehre wurde eine schwarmgeistige Verfälschung des Christentums ausgemacht, die prinzipiell abzulehnen sei. Wer sich mit den damaligen theologischen Auseinandersetzungen näher beschäftigt, kommt um den Befund nicht herum, dass in der Frühphase der deutschen Pfingstbewegung Vorstellungen radikalisiert wurden, die so oder ähnlich auch in weiten Kreisen Gnadaus und der Allianz vertreten worden sind. Es spricht viel dafür, dass vor allem auch die Gegensätze der Frömmigkeitsformen so tiefgehend waren, dass sie eine gemeinsame Spiritualitätspraxis nicht mehr erlaubten. Das Thema Gebet ist in der Folgezeit stets ein zentrales Anliegen der Gemeinschaftsbewegung geblieben. Das gilt etwa für die Kleingruppen- und Hauskreisarbeit. Neben der Bibelbesprechung im privaten Kreis ist die Gebetsgemeinschaft, der Austausch persönlicher Anliegen des Dankens und der Fürbitte wie das gemeinsame Gebet, in dem Christen Gott für die Anliegen ihrer Mitchristen bitten, typischer Bestandteil solcher Kleingruppen. Solche Gebetsgruppen gibt es in der Gemeinschaftsbewegung auch zweck- oder anlassgebunden, etwa als Missionsgebetskreis oder als Fürbitte und Segnung im Fall einer Erkrankung eines Gemeinschaftsmitglieds nach Jak 5,14f. In der Gebetsgemeinschaft verdichten sich persönliche Beziehungen in besonderer Intimität. Gefragt, warum er sich trotz mancher Krisen in der Gemeinschaftsbewegung stets zu Hause fühlte, sagte ihr langjähriger Präses Walter Michaelis: „Hier fand ich Freunde, mit denen mich doppelte Freundschaft verband, die natürliche und die geistliche. Hier fand ich die persönliche Gebetsgemeinschaft des Bruders mit Brüdern in gemeinsamem Aussprechen der Anliegen, was auch in der übrigen Kirche eine nicht allzu häufige Erscheinung ist“.66
Besonderes Gewicht liegt offenbar auf dem Ideal der Authentizität des Betens. Damit hängen die Vorbehalte gegenüber allen liturgischen Formeln und vorformulierten Gebeten im Gnadauer Raum zusammen. Was zählt, ist das echte Gebet, das von Herzen kommt; das aber kann nur das freie, persönliche Gebet sein.67 Diese Merkmale bestimmen bis in die Gegenwart hinein den Umgang mit Gebet in der Gemeinschaftsbewegung. In letzter Zeit lässt sich auch in diesem Bereich zunehmende Offenheit für neue Formen des Gebets beobachten. Wie viele andere pietistische Gruppen war 65 Schlatter, Dogma, 211. 66 Michaelis, Erkenntnisse, 323. 67 Vgl. auch Schneider, Frömmigkeit, 29.
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der Gnadauer Verband beim Jahr der Stille (2010) beteiligt. Bei den damit verbundenen Aktionen wurde trotz vereinzelter Kritik deutlich, dass Formen wie das Tagzeitengebet, das schweigende Gebet, das Herzens- oder das Jesusgebet aus der monastischen bzw. der ostkirchlichen Frömmigkeit auch im Bereich der Gemeinschaftsbewegung zunehmend Anklang fanden.68
2.4
Reichslieder
Von anderen kirchlichen Gruppen unterscheidet sich die Gemeinschaftsbewegung durch ihre Distanz zu vielen traditionellen Medien der Frömmigkeit. In der Regel finden Gemeinschaftsmitglieder kaum einen Bezug zu liturgisch gestalteten Gottesdiensten. Die Sakramente Taufe und Abendmahl werden grundsätzlich anerkannt, ohne dass ihnen besondere Wertschätzung oder Bedeutung für die gemeinsame Spiritualität zukommt. Das Kirchenjahr mit seinen traditionellen Festen hat nur geringe Bedeutung, auch Frömmigkeitsformen wie das Fasten oder Pilgern spielen keine große Rolle. Auch zu bildlichen Darstellungen des Glaubens hat sich in der Gemeinschaftsbewegung keine besondere Nähe entwickelt, noch weniger zur architektonischen Gestaltung geistlicher Räume. Dass der Protestantismus seit der Reformation ein besonderes Verhältnis zur Musik hat, ist unstrittig. Das gilt im besonderen Maße für die Spiritualität der Gemeinschaftsbewegung. Dabei ist vor allem das gemeinsam gesungene Lied bedeutsam. In den Anfängen der Gemeinschaftsbewegung sind unterschiedliche Liederbücher herausgegeben worden. Das Liederbuch der „Reichslieder“ spielt für einen großen Teil der Geschichte eine kaum zu unterschätzende identitätsbildende Rolle. Für Walter Michaelis waren die Reichslieder Ausdruck der Gnadauer Identität: „Eine Bewegung, die keine Lieder hat, dürfte füglich nicht in Wahrheit Bewegung sein. In ihren Liedern bekennt eine Gemeinschaft, sie breitet sich durch sie aus und wird von ihnen wiederum selbst beeinflusst“.69 Vor allem durch die Übernahme von Liedern der angloamerikanischen Heiligungsbewegung standen die Reichslieder für die Ausbildung einer spezifischen Gesangskultur, die sowohl innerhalb der Bewegung wie außerhalb als typisch empfunden wurde. Als Vorbild kann man die Sammlung „Sacred Songs and Solos“ (1873) durch Ira Sankey bezeichnen.70 Diese Lieder spielten in den großen Massenevangelisationen, wie sie z. B. durch Dwight L. Moody in den USA und auch in England durchgeführt worden sind, eine große Rolle und beeindruckten auch die deutschen Anhänger der Evangelisation. 68 Vgl. Deichgräber, Gebet, 88. 69 Michaelis, Erkenntnisse, 158. 70 Vgl. Holthaus, Geschichte, 515–550.
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1892 wurden die Reichslieder erstmals in Neumünster veröffentlicht. Die ursprüngliche Auflage von 10.000 Exemplaren erwies sich bald als viel zu klein. Anfänglich nur eine regionale Liedersammlung neben anderen im Bereich der Gemeinschaftsbewegung, wurden die Reichslieder der maßgebliche Kanon schlechthin. Mit der Ausgabe von 1909 waren die Reichslieder zu dem Liederbuch der Gemeinschaftsbewegung geworden, ein Status, den sie mit der abermaligen Überarbeitung 1931 noch einmal untermauerten. Zu diesem Zeitpunkt lag die Gesamtauflage bereits bei 2,4 Millionen, heute liegt sie allein in Deutschland bei 3,5 Millionen Exemplaren. Walter Michaelis schreibt rückblickend: „Die Reichslieder sind so recht das Liederbuch der deutschen Gemeinschaftsbewegung geworden, sie sind von Anfang an mit ihrem Ringen und Kämpfen verbunden geblieben, mit dieser großen Geistesbewegung, welche weit über die Gemeinschaftskreise hinaus das gesamte religiöse Leben Deutschlands wesentlich beeinflusst hat“.71
Die Reichslieder wurden von kirchlicher Seite häufig kritisiert. Michaelis nennt die Vorwürfe „auf unschöne Reimerei, auf Gefühlsseligkeit, auf Erregung des frommen Ich“ usw. Mit der Übernahme der schnelleren, englischsprachigen Lieder zog eine neue Musikkultur ein, die von den Zeitgenossen registriert wurde. Trotz berechtigter Kritik im Einzelnen verteidigt Michaelis diesen neuen Stil: „Aber man erinnere sich, wie damals in den Kirchen gesungen wurde, jeder Ton eine halbe Note, als sei das Christentum eine – feierliche – rhythmuslose – den Menschen in Ruhe lassende – Sache. Da haben viele erstaunt aufgehorcht, als sie zum ersten Mal in einer Evangelisationsversammlung in frohen, rhythmisch bewegten Weisen das Lob Gottes hörten“.72
Typisch für das Liedgut der Gemeinschaft war die Übersetzung englischer Vorbilder, wie „Welch ein Freund ist unser Jesus“, „Kommt stimmet alle jubelnd ein“ oder „Ich blicke voll Beugung und Staunen“. Was machte diese Übersetzungen bzw. eigens komponierten Lieder von Ernst Gebhard, Dora Rappard u. a. so bezeichnend für die Spiritualität der Gemeinschaftsbewegung? Zum einen ist es sicherlich ihre Konzentration auf die Beziehung des Einzelnen zu Jesus Christus und die persönliche Heilserfahrung. Die Lieder sind Spiegel der eigenen JesusFrömmigkeit. Aber sie sind mehr als gesungene Dogmatik. Die Vorliebe für emotional stark wirkende Lieder zeigt, dass sie nicht nur Ausdruck des eigenen Glaubens, sondern auch Anregung immer neuer Glaubenserfahrung sein sollten. Das ebenfalls weit verbreitete Liederbuch „Rettungsjubel“ hat diese starke affektive Komponente schon im Titel zum Ausdruck gebracht. In diesen Liedern verschränkt sich der Gemeinschaftscharakter der Spiritualität mit ihrem starken 71 Reichs-Lieder, Vorwort, VI. 72 Michaelis, Erkenntnisse, 160.
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Erfahrungsbezug. Diese Lieder mit ihren einfachen Melodien, mit ihrer Abwechslung von Strophe und Refrain sind von Anfang an leicht zugänglich. Sie erlauben gemeinsam geteilte Freude und Hingabe, sie wirken als Resonanzverstärker eigener Ergriffenheit in der Gemeinschaft der Geschwister. Mit ihrer schlichten Melodieführung, ihrer starken Rhythmisierung und ihrem oft einprägsamen Refrain haben diese Lieder einen Trend vorweggenommen, der ab den 1960er Jahren mit den Neuen Geistlichen Liedern auch im volkskirchlichen Protestantismus und in der Kirchentagsfrömmigkeit Einzug hielt. Nach dem Zweiten Weltkrieg wurden die Reichslieder ersetzt durch ein einheitliches Gemeinschaftsliederbuch. Zuletzt wurde das Liederbuch der Gemeinschaftsbewegung 1995 neu herausgeben. Mit dem Titel „Jesus – unsere Freude“ wird bewusst und programmatisch die Jesus-Frömmigkeit der Gemeinschaftschristen ins Zentrum gestellt.73 Daher wird das Liederbuch vor einer nach dem Kirchenjahr gegliederten Sammlung von Liedern bewusst mit einer Rubrik „Jesuslieder“ eröffnet. Auch die Musik ist Teil des kulturellen Wandels in den Gemeinschaftskreisen. Bis in die Gegenwart hinein hat der klassische Liederschatz der Reichslieder noch eine erhebliche Bedeutung für das Identitätsgefühl vieler, oft älterer Kreise. Zugleich ist unverkennbar, dass diese Tradition kaum noch an die jüngere Generation weitergegeben wird. Noch weniger als die ältere Generation finden jüngere Christen Zugang zum klassischen Choralliedgut des älteren Protestantismus. Geblieben ist allerdings die hohe Bedeutung der Musik. Stärker noch als im volkskirchlichen Bereich erfährt das Liedgut in der Gemeinschaftsbewegung eine permanente Modernisierung. In den 1970er und 1980er Jahren erfreuten sich deutschsprachige neue Lieder von Peter Strauch, Manfred Siebald oder Theo Lehmann in Gemeinschaftskreisen großer Beliebtheit. Spätestens seit den 1990er Jahren dominierte wiederum der Einfluss englischsprachiger Vorbilder. Man mag für die Gemeinschaftsbewegung in dieser Internationalisierung des musikalischen Repertoires eine Anknüpfung an ihre Anfänge sehen. Die Anbetungslieder von Graham Kendrick, Brian Doerksen, Darlene Zschech/Hillsong oder Matt Redman, aber auch von deutschen Autoren wie Lothar Kosse, Albert Frey und Arne Kopfermann eroberten zunächst die junge Generation. Dieses Liedgut hat zuerst in der EC-Reihe „Von Jesus singen“ Aufnahme im Gnadauer Bereich gefunden. Mit der Zeit haben die Liederbücher aus der Reihe „Feiert Jesus!“ 1–4 weit über die junge Generation hinaus einen repräsentativen Rang auch für gegenwärtige Gemeinschaftsfrömmigkeit gewonnen. Seit 1995 handelt es sich um die meistverkaufte Liederbuch-Reihe im pietistisch-evangelikalen Frömmigkeitsspektrum. Der EC gehört zu den größten Trägergruppen dieser Liedbuchreihe, die einzelnen Bände werden auch in einer EC-Edition veröf73 Vgl. Morgner, Leitung, 387.
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fentlicht. Nach Angaben des Verlages beträgt die Gesamtauflage von „Feiert Jesus!“ gegenwärtig 720.000.74 Lieder wie „Shout To The Lord“, „Lord I Lift Your Name On High“ oder „Blessed Be Your Name“ bringen schon durch ihren Titel die leidenschaftliche Ausrichtung auf Gott zum Ausdruck. Auch in der Gemeinschaftsbewegung gab es teilweise starke Auseinandersetzungen um die Berechtigung neuer Musikformen, vor allem um die Integration von Rock- und Popmusik, um Band- und Schlagzeugbegleitung im Gottesdienst. Beinahe flächendeckend haben sich solche Musikstile mindestens als Bestandteil von Gemeinschaften mit Jugendgruppen und jungen Familien durchgesetzt – ähnlich wie in den meisten Freikirchen. Traditionell gab es in Gemeinschaftsstunden oder in Gottesdiensten der Gemeinschaften keine klassische Liturgie. In sehr vielen Gemeinden ist es heute üblich, einen Block von Lobpreisliedern in den Gottesdienst zu integrieren. Die Texte werden vielfach nicht mehr aus Liederbüchern gesungen, sondern mit einem Beamer an die Wand projiziert. Für nicht wenige Gemeinschaftschristen ist solche Musik ein zentraler Bestandteil ihrer Spiritualität geworden.
3.
Kontinuität im Wandel
Gibt es so etwas wie eine Spiritualität der Gemeinschaftsbewegung? Die doppelte Aufgabenbeschreibung, der sich die Bewegung verpflichtet sieht, Gemeinschaftspflege und Evangelisation, fordert eine geradezu paradoxe Anstrengung: auf der einen Seite die Entwicklung eines markanten Profils und einer gemeinschaftsstiftenden Identität, auf der anderen Seite die Möglichkeit, die eigene Überzeugung so zu kommunizieren, dass die christliche Botschaft auch außerhalb der eigenen Kreise Relevanz gewinnen kann. Formen intensiver Verdichtung der eigenen Frömmigkeit und zugleich Bemühungen um eine permanente Erneuerung der eigenen Glaubenskommunikation im Wandel der kulturellen Entwicklung stehen daher immer wieder in einem spannungsvollen Verhältnis. Vergleicht man heute die Gemeinschaftsbewegung mit den Gnadauer Anfängen, ist ein starker Traditionsabbruch unverkennbar. Zu den Gründungsgestalten der Gemeinschaftsbewegung besteht heute auf der Ebene des Gemeindelebens große Distanz. Waren noch bis in die 1970er und 80er Jahre Lebensbilder von prägenden Gestalten der eigenen Glaubensgeschichte ein wesentlicher Teil der frommen Lektüre, so ist diese Tradition zu Ende gegangen. Die Gemeinschaftsbewegung ist heute ein Konglomerat von Gruppen, Verbänden und Bewegungen, die zwischen Evangelischer Kirche und weltweiten evangelikalen Aufbrüchen angesiedelt ist, deren Spiritualität aus unterschiedlichen Traditio74 Information vom SCM-Verlag vom 08. Januar 2015.
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nen geprägt und angeregt wird. Zugleich ist ein sich durchhaltendes Profil der Bewegung über die Generationen hinweg unverkennbar. Geblieben sind das Streben nach intensiver Frömmigkeit in verbindlicher Gemeinschaft, die Jesuszentrierung und der Bibelbezug. Kennzeichnend sind heute auch zunehmend nachdenkliche und selbstkritische Töne. Nüchtern wird wahrgenommen, wie stark traditionelle Formen der Spiritualität nicht mehr an die junge Generation weitergegeben werden: „Schlichte Formen der praxis pietatis, wie z. B. eine regelmäßige Stille Zeit mit Gebet und Bibelbetrachtung, das Tischgebet etc., sind keineswegs so selbstverständlich, wie wir Verantwortliche gerne vermuten“.75 Zugleich gibt es an vielen Orten große Offenheit dafür, neue Glaubensformen auszuprobieren und in die bisherige Frömmigkeit zu integrieren. Die Spiritualität der Gemeinschaftsbewegung hat im Laufe ihrer Geschichte viele Ausdrucksformen verändert bzw. erneuert, ohne ihre Grundausrichtung aus dem Blick zu verlieren. Dabei ist zunehmend das Bewusstsein gewachsen, dass es immer zugleich um die Suche nach angemessenen neuen Formen und um die Pflege traditioneller Anliegen gehen muss.
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Die Spiritualität Adolf von Harnacks (1851–1930)
Adolf von Harnack wurde 1851 geboren. Der Vater, Theodosius Harnack (1817– 1889), war zu dieser Zeit Professor für Praktische Theologie an der Universität in Dorpat, dem heutigen Tartu. 1853 wechselte er nach Erlangen, in ein Zentrum der lutherischen Theologie, um 1866 wieder nach Dorpat zurückzukehren. Im Baltikum, das zu dieser Zeit unter russischer Besatzungsherrschaft stand, war diese Universität ein Zentrum deutschsprachiger Gelehrtheit und an der Theologischen Fakultät in Dorpat lehrten und studierten zumeist die Angehörigen der im Lande ansässigen deutschen Oberschicht. Theodosius Harnack war stark von der Erweckungsbewegung geprägt, hing dann aber im Zuge seiner persönlichen und der allgemeinen theologischen Entwicklung zunehmend einem konfessionellen Luthertum an. Nachdem seine erste Frau Marie früh verstorben war, fungierte er bis zu seiner zweiten Eheschließung mit Helene von Maydell im Jahre 1864 als Alleinerzieher.1 Allerdings emanzipierte sich Adolf von Harnack früh von eventuellen religiösen Prägungen durch seinen Vater und nahm eine kritische Haltung ein: „Nicht eine Fülle fertig gemachter Glaubenssätze begehre ich, sondern jeden einzelnen Satz in dem Gewebe will ich mir selbsttätig produzieren und zu eigen machen“ – so schrieb er es einem Freund, um ihm seine Motivation für das Theologiestudium deutlich zu machen.2 Dieses begann er 1869 in Dorpat, wechselte aber wie so viele an eine Universität in Deutschland, und so kam er 1872 an die mit Berlin konkurrierende Universität Leipzig, wo er auch nach dem Studienabschluss blieb. Schon 1873 erfolgte die Promotion, 1874 die Habilitation, allerdings war der Aufwand dafür zu diesen Zeiten auch geringer als heute. In Leipzig erfolgte 1876 die Ernennung zum Außerordentlichen Professor. Ein erster Ruf auf eine Professur für Kirchengeschichte erfolgte 1879 nach Gießen. 1886 wechselte er nach Marburg und 1888 schließlich nach Berlin, wo er bis zu seinem Tod im Jahre 1930 lebte, lehrte und forschte. 1 Vgl. Bauer, Kulturprotestantismus, 91. 2 Zahn-Harnack, Adolf von Harnack, 39f.
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Als Präsident der Kaiser-Wilhelm-Gesellschaft (der späteren Max-PlanckGesellschaft) war Harnack in seiner Berliner Zeit der höchste Repräsentant der deutschen Wissenschaft – und eben nicht nur der Geistes-, sondern auch der Naturwissenschaften. Überragend war Harnacks eigene wissenschaftliche Arbeit, seine philologische und historische Unbestechlichkeit, sein produktiver Fleiß. Die Texte der Kirchenväter bildeten den Mittelpunkt seines Schaffens und somit die „Patristik“. Bis heute zehrt diese Disziplin der Kirchengeschichte von Harnacks Forschungen und seinen wissenschaftsorganisatorischen Fähigkeiten, die eine Fülle von Textausgaben und Untersuchungen zur christlichen Literatur der ersten Jahrhunderte hervorbrachten. Theologisch wie politisch zählte Harnack zu den „Modernen“: Er hing dem politischen Liberalismus an, und das Engagement seiner Tochter Agnes für die Frauenemanzipation3 wie der Weg seines Sohnes Ernst in den Widerstand gegen den Nationalsozialismus lassen sich durch seine eigenen Haltungen erklären. Harnacks Äußerungen zu Beginn des Ersten Weltkriegs zählen andererseits zu den profiliertesten im Sinne der deutschen Kriegspropaganda. Allerdings änderte sich dies im Laufe des Krieges und auch nach dem Zusammenbruch der Monarchie erwies sich der kaisertreue Gelehrte als lernfähig: Mit der vom offiziellen deutschen Protestantismus so ungeliebten Weimarer Demokratie sympathisierte er. Über den Wechsel der politischen Systeme hinweg befasste er sich mit sozialen Fragen und dem Beitrag des Protestantismus zu ihrer Lösung. Dies ist schon ein Hinweis auf sein Bild vom Glauben und Leben evangelischer Christen. Einen zweiten Hinweis darauf stellt eines seiner wissenschaftlichen Hauptwerke dar: Der früheste Ausweis für Harnacks herausragende Gelehrsamkeit und der Grundstein für seine weitere akademische Karriere war der erste, 1886 erschienene, Band seines Lehrbuchs der Dogmengeschichte. Die Geschichte der christlichen Dogmen zu schreiben, war für Harnack eine kritische Aufgabe, um zu zeigen, wie die Botschaft des Evangeliums durch die kirchliche Dogmenbildung umgeformt worden war: Die Dogmen waren historisch gewachsene Glaubensnormen der Kirche, nichts Ursprüngliches. Sie waren „ein Werk des griechischen Geistes auf dem Boden des Evangeliums“ – ein viel zitierter Satz aus der Einleitung zum ersten Band.4 Die Dogmen waren also nur zeitgebundene Einkleidungen der Botschaft des Evangeliums. Diese aber ging für Harnack ganz auf in der Predigt Jesu von der Vaterliebe Gottes. Harnacks Kritik am historischen Werden der kirchlichen Dogmen führte dann auch zu seiner Beteiligung am „Apostolikumsstreit“ des Jahres 1892, in dem es darum ging, ob Aussagen wie die von der Jungfrauengeburt wirklich geglaubt werden müssten. Harnack nahm 3 Vgl. dazu Bauer, Kulturprotestantismus, Kap. III (71–88). 4 Harnack, Adolf von, Lehrbuch der Dogmengeschichte Bd. I, 20.
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hier eine kritisch-distanzierte, aber auch vermittelnde Haltung ein: Einerseits schien es ihm an der Zeit, ein neues Bekenntnis zu formulieren, andererseits aber waren „der hohe religiöse Wert und das ehrwürdige Alter des Apostolikums“ sehr zu schätzen.5 Immer stand Harnack in der Spannung zwischen dem „modernen“ Protestantismus und seinen lebendig gebliebenen Traditionen. Harnacks Frömmigkeit, Religiosität oder Spiritualität nun war auf das bezogen, was für ihn nicht nur historisch, sondern ganz persönlich das Evangelium ausmachte: Jesus war für ihn das Vorbild eines Lebens vor Gott, und der Glaube an ihn bestand im Wesentlichen im Bewusstsein der Erlösung des Menschen durch Gott und seiner Befreiung zur Mitgestaltung dieser Welt. Dabei ist zu berücksichtigen, dass Harnack schon in einer Zeit lebte, in der die Säkularisierung unübersehbar war, auch wenn fast alle Menschen noch Mitglied einer Kirche waren: „Tausende, die an dem Gottesglauben oder doch an der Ethik des Christentums festhalten, scheinen von Erlösung nichts wissen zu wollen. Für sie ist dieser Gedanke unkräftig oder sinnlos, nichts anderes als die historische Überlieferung einer vergangenen Frömmigkeit, im besten Falle die Ursache einer vorübergehenden Rührung“.6
Eine Reduktion der Glaubensinhalte auf das historisch Ursprüngliche schien der Weg zu sein, wieder Interesse daran zu wecken. Die Antwort auf die Frage nach Harnacks Religiosität, Frömmigkeit oder Spiritualität und nach seinen Ansichten zu diesem Themenkreis wird dadurch erschwert, dass er sich darüber nicht aussprach. Religion in einem individuell verantworteten Sinne, so wie er sie sah, war für ihn eben auch (ohne dass er dies so sagte) „Privatsache“, und so gab er auch nicht dem Drängen von Freunden nach, angesichts der Konflikte um das Apostolische Glaubensbekenntnis mit seinem „Innersten an die Öffentlichkeit“ zu gehen.7 Harnacks Auffassung war: „Man kann in der Religion nicht alles sagen; denn sie ist ein Leben, und ein gutes Stück dieses unsers Innenlebens ist uns selber ein Geheimnis. Aussprechen sollen wir nur, was den andern zugute kommt, das Tiefste müssen wir für uns behalten.“8 Wo dieses Innerste sichtbar wird, spiegelt es sich in den Liedern Paul Gerhardts, und so berichtet Harnacks Tochter Agnes, ihr Vater habe schon 1876 in 5 Ders., Antwort auf die Frage, ob dem Unterzeichneten eine Eingabe an den Evangelischen Oberkirchenrat um Abschaffung des Apostolikums seitens der Theologie-Studenten ratsam erscheint, in: Die Christliche Welt 1892, Nr. 32, zit. nach Nowak, (Hg.), Adolf von Harnack, 501– 506, hier 502. 6 Ders., Christus als Erlöser, in: Die Christliche Welt 1900, Nr. 2, zit. nach Nowak (Hg.), Adolf von Harnack, 111–123, hier 111f. 7 Nachlass Harnack, Kasten 39, zit. nach Nowak (Hg.), Adolf von Harnack, 1–99, hier 32. 8 Harnack, Adolf von, Antwort auf die Streitschrift D. Cremers: Zum Kampf um das Apostolikum, zit. nach Nowak (Hg.), Adolf von Harnack, 547–578, hier 577f.
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einem Brief geschrieben, woran er auch später festgehalten habe: „Mir nun speziell – ich muß es bekennen – ist auch ein Lied wie das ,O Haupt voll Blut und Wunden‘ im höchsten Sinne erbaulich, wenn auch der Theologe, wo er nüchtern reden will, manches ganz anders sagen würde.“9 Über Harnacks Spiritualität lässt sich noch mehr sagen, wenn man sie auch im Spiegel seiner kirchengeschichtlichen Arbeiten betrachtet. Hier sind vor allem zwei Pole in Betracht zu ziehen: der Kirchenvater Augustinus und Goethe, der häufig angeführte Stichwortgeber des „Kulturprotestantismus“. Beide konnten in einer Zeit, in der an den humanistischen Gymnasien Antike und deutsche Klassik noch eng zusammengehörten, gut als Kronzeugen aufgerufen werden. Was Harnack am antiken Christentum interessierte, waren eigentlich seine Strukturen und Institutionen und natürlich auch die Entwicklung seiner Dogmen, aber nicht das, was man Frömmigkeitsgeschichte nennt. Mit der Religiosität der antiken christlichen Autoren befasste sich Harnack nur wenig, allerdings gibt es neben Augustinus eine Ausnahme, und das ist Markion, jener im 2. Jahrhundert als Ketzer verurteilte Theologe, der das Alte Testament verwarf und nach Harnacks Auffassung zugleich den „fremden“, erlösenden Gott verkündete, dessen Hauptcharakteristikum die Liebe sei.10 Darin sah Harnack eine Nähe zum Glaubensverständnis Luthers und auch zur Predigt Jesu. Dass dies eine sehr einseitige Sicht auf Markion war, wurde Harnack schon zu Lebzeiten vorgeworfen. Augustinus wiederum konnte für Harnack ebenfalls nur in einseitiger Weise ein Vorbild sein: nicht als der Bischof Augustinus mit seiner starken Betonung der kirchlichen Autorität, sondern als der frühe Augustinus, wie er in seinen „Bekenntnissen“ erkennbar wird. Dieser „religiöse Genius von außerordentlicher Tiefe und Kraft“ brachte die paulinische Erfahrung und Lehre von Sünde und Gnade wieder zu neuem Leben: „wie bei Paulus ist alles individuell erlebt und alles innerlich gedacht“.11 Das eben lag schon im Prolog der „Bekenntnisse“: „Augustinus Wort: ,Du, Herr, hast uns zu dir hin geschaffen, und unser Herz ist unruhig, bis es Ruhe findet in dir‘, wird seinen Widerhall in den Herzen der Menschen finden, solange Menschen auf Erden leben, und ebenso wird die frohe Botschaft von der Erlösung und dem Erlöser nie verloren gehen“.12
Natürlich vergaß Harnack auch die Reformation und vor allem Luther nicht: Die Reformation hatte den Glauben von der Bevormundung durch eine Kirche befreit – insofern war sie für Harnack gar Revolution – und sie hatte die Religion erneuert im Sinne einer Rückführung auf das Wesentliche: das Wort Gottes und 9 10 11 12
Zahn-Harnack, Adolf von Harnack, 78. Vgl. Harnack, Marcion, 227f.224f. Ders., Das Wesen des Christentums, Vierzehnte Vorlesung, 233. Ders., Christus als Erlöser (wie Anm. 6), 113.
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den Glauben.13 Worauf Luther hinauswollte, war das innere Erlebnis – wie bei Augustinus also – und dieses war für Harnack wiederum fokussiert auf die Gewissheit der rechtfertigenden Gnade Gottes: „Nicht Ekstasen und Visionen gilt es, kein Überschwang von Gefühlen ist nötig, sondern Glaube soll geweckt werden; er soll Anfang, Mitte und Ende der ganzen Frömmigkeit sein.“14 Allerdings war die Reformation für Harnack nicht zum Ziel gekommen. Letztlich wiederholte sich in ihrem weiteren Verlauf, was schon am Anfang der Kirchengeschichte eingetreten war: die Etablierung des Staatskirchentums und eine Dogmatisierung. Luther selbst war es in Harnacks Augen gewesen, der die altkirchlichen Dogmen neben das reine Evangelium gestellt hatte.15 Erst in der Neuzeit waren für Harnack die Möglichkeiten für ein vom Staat nicht bevormundetes undogmatisches und individuelles Glaubensverständnis gegeben. Eben darum galt es, die ursprüngliche Erkenntnis Luthers wieder zu entdecken, und dies war die Aufgabe der Neuzeit und damit Harnacks selbst. Hier bot nun der von Harnack häufig angeführte Goethe einen entscheidenden Bezugspunkt: Harnack idealisierte Goethes Frömmigkeit, und auch dies wurde ebenfalls schon von Zeitgenossen kritisiert, doch war er darin nicht der Einzige in seiner Zeit. Was Religion für Goethe nicht war, sagte Harnack auch: „keine sentimentale Begleitmelodie zum Leben, kein kümmerliches Füllsel, gestopft in die Lücken der Weltanschauung und des Lebens“, sondern „eine eigentümliche universale Art, vom Wirklichen erfaßt zu werden und das Wirkliche zu erleben“ und somit „Ehrfurcht und dankbare Hingebung“.16 Wenn Harnack von Goethes Frömmigkeit sprach, dann „als ein Mittel, um durch die reinste Gemütsruhe zur höchsten Kultur zu gelangen“.17 Den Hintergrund dessen bildete, wie Harnack vermerkte, Goethes Bruch mit dem Pietismus und seine folgende Abneigung dagegen.18 Wenn es bei Harnack innerlich wird – zum Beispiel in einer Predigt über den „inneren Menschen“ aus dem Jahre 1918 –, kann das ganz im Sinne seiner an Goethe angelehnten Religionsauffassung geschehen: „Der inwendige Mensch steht in einer tiefen Verwandtschaft mit dem Creator-Spiritus, mit dem schöpferischen Geist, und er ist angelegt auf die Welt des Guten, Wahren und Schönen, ja sie sind seine eigentliche Welt. Darum erheben wir uns an unsern Klassikern
13 14 15 16
Vgl. Ders., Das Wesen des Christentums, Fünfzehnte Vorlesung, 239f. A. a. O., Fünfzehnte Vorlesung, 241. Vgl. A. a. O., Sechzehnte Vorlesung, 255f. Ders., Die Religion Goethes in der Epoche seiner Vollendung, in: ders., Erforschtes und Erlebtes. Reden und Aufsätze Neue Folge Bd. IV, Gießen 1923, 141–170, hier 145–147; auch in: Nowak (Hg.), Adolf von Harnack, 735–764, hier 739–741. 17 Ders., Die Religion Goethes (wie Anm. 16), 148; Nowak (Hg.), Adolf von Harnack, 742. 18 Vgl. ders., Die Religion Goethes (wie Anm. 16), 158–161; Nowak (Hg.), Adolf von Harnack, 752–755.
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und freuen uns an den herrlichen Männern, die uns vor einem Jahrhundert geschenkt worden sind, weil sie heimisch waren in jener Welt, in der Welt des Idealismus“.19
Harnack fand seine Auffassung von Frömmigkeit (und seine eigene Frömmigkeit ebenso) also bei anderen, namentlich Augustinus und Goethe wieder, die er für sich sprechen ließ. Luther war demgegenüber eher interessant als Theologe, der den Weg zurück zum Ursprung des Evangeliums für die Neuzeit eröffnet hatte. Der Reformator markierte nämlich einen Umschwung in der Geschichte des Christentums bzw. in der Religionsgeschichte überhaupt: Während vor Luther, etwa bei dem Wüstenvater Antonius und bei Franz von Assisi, die religiöse Erfahrung den Frommen aus der Welt herausriss und über sie hinausführte, ging es bei Luther selbst viel nüchterner zu: „Er hat die Gottheit nie geschaut, und wenn er sie gefühlt hat, will er sich auf dies Gefühl nicht verlassen. Worauf er sich verläßt, das ist das Wort Gottes, das Evangelium, das ihm verkündigt ist.“20 Das führte dann zur Gewissheit der Erlösung durch das Wort Gottes. Die religiöse, geistliche Erfahrung, die sich im Gebet manifestiert, „ist mit dem klarsten Bewußtsein bezogen auf einen Punkt: Frieden in Gott, der die Schuld vergibt und die Seele bewahrt“.21 So wurde Luther zum Wiederentdecker der Botschaft Jesu.22 Zwar mochte es für einzelne Menschen „strengere und bestimmtere religiöse Ausdrucksformen“ geben und somit auch „Pietismus“, das aber legitimerweise nur in einem auf die zentrale Botschaft Jesu bezogenen Sinne. „Virtuosen der Religion“ mussten es im Protestantismus darum viel schwerer haben als im Katholizismus.23 Diese 1899 veröffentlichten Gedanken finden sich genauso in einem Beitrag Harnacks aus dem Jahre 1926 wieder: „Worin besteht also die religionsgeschichtliche Bedeutung der Reformation Luthers? Darin, daß sie die Religion aus allen Verklitterungen herausgezogen, alles Peripherische und Halbe abgestoßen, alle äußeren Autoritäten beseitigt und sie ausschließlich auf ihren heiligen Ernst und auf ihren Trost beschränkt hat“.24
Harnacks Frömmigkeit (oder Spiritualität) hatte eine sehr weltzugewandte Seite in einem weltgestaltenden Sinne. Diese Frömmigkeit realisierte sich eben auch nicht primär innerlich, sondern äußerlich, in der Welt, so wie es für ihn bei Luther angelegt war: Im öffentlichen Leben, in Wissenschaft, Bildungswesen, Sozialem, 19 Ders., Vom inwendigen Menschen. Predigt im Akademischen Gottesdienst gehalten am 28. Juli 1918, in: ders., Erforschtes und Erlebtes, 392–402, hier 395; auch in: Nowak (Hg.), Adolf von Harnack, 724–734, hier 727. 20 Ders., Die Bedeutung der Reformation innerhalb der allgemeinen Religionsgeschichte, in: Die Christliche Welt 1899, Nr. 1–6, in: Nowak (Hg.), Adolf von Harnack, 275–304, 282. 21 A. a. O., 289. 22 Vgl. a. a. O., 301. 23 A. a. O., 301f. 24 Ders., Die religionsgeschichtliche Bedeutung der Reformation Luthers, in: Nowak (Hg.), Adolf von Harnack, 329–342, hier 341.
Die Spiritualität Adolf von Harnacks (1851–1930)
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Politik, Familienleben verwirklichte sich die Berufung des Christen in der Welt. Der Glaube an die Erlösung war die entscheidende Motivation dazu, und worum es ging, war nicht ein „Engagement“ im heutigen Sinne, sondern das, was Harnack „ein reines und heiliges Leben, ein Leben mit Gott“ nannte.25 Für die Bereiche des öffentlichen Lebens stand letztlich der Begriff „Kultur“, die ohne Bindung an den Protestantismus nicht zu denken war. So schrieb er 1911: „Protestantisch bleibt unsere Kultur nur, wenn sie das Streben, ein festes Verhältnis zu dem Ewigen und Guten zu gewinnen, an die Spitze stellt und wenn sie die Erkenntnis Gottes als des Vaters in Kraft erhält.“26
Literatur Quellen Harnack, Adolf von, Das Wesen des Christentums, hg. von Trutz Rendtorff, Gütersloh 1999. –, Lehrbuch der Dogmengeschichte Bd. I, Tübingen 41909, Nachdruck Tübingen 1990. –, Marcion. Das Evangelium vom fremden Gott (Texte und Untersuchungen 44,4), Leipzig 2 1924. –, Erforschtes und Erlebtes. Reden und Aufsätze Neue Folge Bd. IV, Gießen 1923. Nowak, Kurt (Hg.), Adolf von Harnack als Zeitgenosse. Teil 1, Berlin 1996.
Forschungsliteratur Bauer, Gisa, Kulturprotestantismus und frühe bürgerliche Frauenbewegung in Deutschland. Agnes von Zahn-Harnack 1884–1950 (Arbeiten zur Kirchen- und Theologiegeschichte 17), Leipzig 2006. Zahn-Harnack, Agnes von, Adolf von Harnack, Berlin 21951.
25 Ders., Christus als Erlöser (wie Anm. 6), 116. 26 Ders., Protestantische Kultur. Herrn Professor Pöhlmann, Berlin, den 14. Juli 1911, in: ders., Aus der Friedens- und Kriegsarbeit, Gießen 1916, 205–212, hier 206; auch in: Nowak, Adolf von Harnack (wie Anm. 5), 307–328, hier 308.
Nils Ole Oermann
Wie und was glaubte Albert Schweitzer (1875–1965)?
1.
Einleitung
Wer die vermeintlich liberale Theologie des Neutestamentlers Albert Schweitzer beschreibt, beginnt mit der „Geschichte der Leben-Jesu-Forschung1“.2 Wer sein medizinisches Wirken analysieren will, arbeitet sich durch die Lambarener Operationsbücher und besucht den tropischen Ort seines medizinischen Wirkens, um den Aufwand ermessen zu können, den der Arzt Schweitzer dort betrieben hat, um ein Hospital mitten im Regenwald betreiben zu können. Wer Albert Schweitzer als homo politicus, als Gegner der atomaren Bewaffnung und in seiner Rolle als Friedensnobelpreisträger verstehen will, der liest seine umfängliche Korrespondenz mit politischen Entscheidern. Wer den Kulturphilosophen analysieren will, der findet seine einschlägigen Schriften in der Schweitzer Gesamtausgabe. Und wer den Musiker Schweitzer verstehen will, der muss sich nicht nur mit der Orgel als seinem Instrument, sondern mit Orgelbau befassen. Was aber tut derjenige, der ein Gefühl und Verständnis dafür entwickeln möchte, wie und was der Christ und lutherische Pfarrer Albert Schweitzer persönlich glaubte? Er beginne mit dem für Schweitzer wichtigsten praktischen Theologen, mit Johann Sebastian Bach. Schweitzer ist mit diesem nicht nur musikalisch oder ästhetisch, sondern vor allem auch emotional und theologisch aufs Tiefste verbunden, was er in einer Umfrage der deutschen Zeitschrift „Die Musik“ wie folgt formulierte: „Was mir Bach ist? Ein Tröster. Er gibt mir den Glauben, daß in der Kunst wie im Leben das wahrhaft Wahre nicht ignoriert und nicht unterdrückt werden kann, auch keiner Menschenhilfe bedarf, sondern sich durch seine eigene Kraft durchsetzt, wenn seine Zeit gekommen. Dieses Glaubens bedürfen wir, um zu leben. Er hatte ihn. So schuf er in kleinen, engen Verhältnissen, ohne zu ermüden und zu verzagen, ohne die Welt zu 1 Schweitzer, Geschichte der Leben-Jesu-Forschung. 2 Die folgenden Ausführungen basieren einschließlich ihrer Primärquellenanalyse auf: Oermann, Albert Schweitzer.
Wie und was glaubte Albert Schweitzer (1875–1965)?
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rufen, daß sie von seinen Werken Kenntnis nähme, ohne etwas zu tun, sie der Zukunft zu erhalten, einzig bemüht, das Wahre zu schaffen. Darum sind seine Werke so groß, und er so groß als seine Werke. Sie predigen uns: stille sein, gesammelt sein. Und daß der Mensch Bach ein Geheimnis bleibt, daß wir außer seiner Musik nichts von seinem Denken und Fühlen wissen, daß er durch keine Gelehrten- und Psychologenneugierde entweiht werden kann, ist so schön. Was er war und erlebt hat, steht nur in den Tönen. […] Seine Musik ist ein Phänomen des Unbegreiflich-Realen, wie die Welt überhaupt. Nicht sucht er zum Inhalt die Form, sondern beides entsteht zusammen. Er schafft als Schöpfer. Jede Fuge ist eine Welt. Seine Werke sind Wahrheit. Um ihn zu verstehen, bedarf es keiner Bildung und keines Wissens, sondern nur des unverbildeten Sinnes für das Wahre; und wer von ihm ergriffen ist, kann in der Kunst nur noch das Wahre verstehen“.3
Bach als Prediger und musikalischer Mystiker. In diesem Zitat spricht Schweitzer nicht nur über Bachs Musik, sondern über die darin enthaltene „Wahrheit“, ihr „Geheimnis“ und den „Glauben“ und damit immer auch über sich selbst als Rezipient. Kurz bevor Schweitzer 1913 zum ersten Mal nach Lambarene aufbrach, begann er mit seinem Lehrer Charles-Marie Widor, eine Ausgabe der Orgelwerke Bachs samt Spiel- und Interpretationsanleitung auszuarbeiten, worum Widor von dem amerikanischen Verleger Rudolph Ernst Schirmer gebeten worden war.4 Hier arbeitet er wie ein Musikwissenschaftler, so wie er sich als wissenschaftlicher Theologe mit dem historischen Jesus beschäftigt. Als praktischer Orgelkünstler und Orgelbauer sowie als ordinierter und in Lambarene sonntäglich tätiger Pfarrer sind Bach wie Jesus von Nazareth Teil seines täglichen Lebens. Bachs Noten sind nicht nur Musik, sie trösten. Das haben viele Bewunderer Bachs ebenfalls erfahren. Das Besondere bei Schweitzer scheint jedoch, dass die obige Beschreibung seines Verhältnisses zu Bach nicht unähnlich zu dem ist, wie er die Bedeutung Jesu in seinem Alltag beschreibt: Musik als Predigt, als Trost, als Mysterium.
2.
Schweitzer als moderner Mystiker und Vertreter einer universalen Ethik der „Ehrfurcht vor dem Leben“
Wie lebt ein exegetisch ausgebildeter Theologe, der wie viele andere – allerdings erst nach ihm und durch ihn – die Auferstehung Jesu nicht als historisches Ereignis beschreiben würde, ja für den das entscheidende Moment des Evangeliums Jesu in einer im Diesseits verwirklichten Ethik der „Ehrfurcht vor allem Leben“ liegt, wie lebt dieser christliche Theologe seinen christlichen Glauben? In 3 Schweitzer, Albert in: Die Musik, 5/1905–06, 75f, zit. in: Jacobi, Schweitzer und die Musik, 30– 32. 4 Vgl. GW I, 142f.
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Nils Ole Oermann
welchem Sinne versteht er sich als Christ, für den Jesus mehr ist als ein ethisches Vorbild wie etwa Mahatma Gandhi? Gibt es eine besondere Glaubenspraxis Schweitzers, die ihn zu dem macht, was manche einen „frommen Mystiker“ nannten? Wer dieser Frage näherkommen möchte, sollte zuerst betrachten, wie Schweitzer das Bild des historischen Jesus zeichnet, wie sich dies in Lambarene verändert bzw. ethisiert und wie er dann die Praxis seines eigenen, vor allem in Lambarene durchaus strukturiert, aber wenig konfessionell praktizierten Glaubens ins Verhältnis zu seinem Jesusbild setzt. Methodisch wie begrifflich problematisch scheint dabei zunächst Folgendes: Wie nähert man sich wissenschaftlich der Frage, wie genau jemand, in Schweitzers Fall ein habilitierter Neutestamentler, seinen Glauben praktiziert und als Ethiker in Lambarene zu leben versucht? Fragt man nach seiner Glaubenspraxis oder definiert man zunächst das, was manche „Spiritualität“ nennen? Gleicht man die Lehrmeinungen des theologischen Außenseiters Schweitzer mit seiner eigenen Frömmigkeitspraxis und der seiner von ihm kritisch begleiteten lutherischen Kirche ab, der er entgegen aller anderslautenden Gerüchte bis zum Lebensende angehörte? Oder nimmt man Schweitzer selbst beim Wort, für den der Begriff der „Mystik“ eine Brücke zwischen seiner Theologie, seiner Liebe zur Musik im Allgemeinen und Bach im Besonderen wie zu seiner eigenen Frömmigkeitspraxis zu sein scheint? Ad fontes – darum zunächst Schweitzers Schriften: Beginnt man mit Schweitzers Auslegung des Paulus und setzt dies in Bezug zu dem von ihm so verehrten Johann Sebastian Bach, der für Schweitzer vor allem eines ist: ein musikalischer Mystiker, wie Schweitzer selbst, dann ergibt sich folgendes Bild:5 Schweitzers Gegenposition zur historischen Suche nach Jesus von Nazareth bestand darin, den Begriff „Reich Gottes“ für die Gegenwart dadurch relevant zu machen, dass er diesen Begriff ethisierte und individualisierte. Im Kern war und blieb Schweitzer sein Leben lang ein Mystiker, und zwar in dem Sinne, dass Mystik die Einheit von Gott und Mensch jenseits der Geschichte sucht. Zentral für Schweitzers Ethik ist die Herstellung einer elementaren Verbindung zwischen dem Leben und Wirken Jesu und dem menschlichen Leben: „Das letzte Wissen, in dem der Mensch das eigene Sein in dem universellen Sein begreift, ist, sagt man, mystischer Art. Damit meint man, daß es nicht mehr in dem gewöhnlichen Überlegen zustande kommt, sondern irgendwie erlebt wird. […] Das zuende gedachte Denken führt also irgendwo und irgendwie zu einer lebendigen, für alle Menschen denknotwendigen Mystik“.6 5 Für die Ausführungen zur Mystik und der Theologie des Paulus vgl. Oermann, Albert Schweitzer, 60–63. 6 Schweitzer, Kultur und Ethik, 69f.
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Unter diesen Vorzeichen interpretierte Schweitzer später auch Bachs Musik, nämlich als die eines musikalischen Mystikers und „Trösters“, der der menschlichen Seele durch Töne und Harmonien vermittelt, dass Zeitlosigkeit ihr eigentlicher Ort ist. Und theologisch begann die Suche nach dem Reich Gottes für Schweitzer nicht beim historischen Jesus, sondern im Menschen selbst. Diese Suche ist mystisch, jedoch nicht im traditionellen Sinne christlich-mittelalterlicher Mystik.7 Für Schweitzer war Mystik eine lebensbejahende Überschreitung der Tatsachenwelt, die nicht nur einer ausgewählten Gruppe spirituell besonders begabter oder geübter Menschen zugänglich sei, sondern er verstand sie als „ethische Mystik“, die sich jedem logisch Nachdenkenden erschließt, der erkennt, dass die sittliche Tat den Kern seines Lebens ausmacht.8 Er schreibt: „Ein Mystiker lebt natürlicherweise in jedem Menschen, nur läßt man ihn verkümmern und ertötet ihn.“9 Schweitzers in diesem seinem Mystikbegriff wurzelnde Ethik fußte fundamentalethisch auf der Erkenntnis des absoluten Wertes jedes Lebens. Er entdeckte diese Form der Mystik später bei Paulus wieder, der wie er selbst eine Ethisierung der Rede vom Reich Gottes versucht habe: „Paulus ist ein Mystiker. Was ist Mystik? Mystik liegt überall da vor, wo ein Menschenwesen die Trennung zwischen irdisch und überirdisch, zeitlich und ewig als überwunden ansieht und sich selber, noch in dem Irdischen und Zeitlichen stehend, als zum Überirdischen und Ewigen eingegangen erlebt“.10 Und weiter: „Der Fundamentalgedanke der paulinischen Mystik lautet: Ich bin in Christo; in ihm erlebe ich mich als ein Wesen, das dieser sinnlichen, sündigen und vergänglichen Welt enthoben ist und bereits der verklärten Welt angehört.“11
Vor dem Hintergrund eines so verstandenen Mystikbegriffs war es darum aus Schweitzers Sicht naheliegend, nach der „Geschichte der Leben-Jesu-Forschung“ ein Buch über den Theologen Paulus als erstem mystischen Deuter des Lebens Jesu zu verfassen. Sein viel positiver aufgenommenes Werk „Die Mystik des Apostels Paulus“12 (1911/30) 13 war zunächst als ein Kapitel des Werkes „Geschichte der paulinischen Forschung“14 (1911) geplant, dessen erster Entwurf bereits auf das Jahr 1906 zurückgeht, also noch mitten in die Zeit von Schweitzers Medizinstudium fällt.
7 8 9 10 11 12 13 14
Vgl. Kümmel/Ratschow, Schweitzer als Theologe, 36. Vgl. Groos, Albert Schweitzer, 439. Schweitzer, Die Weltanschauung der Ehrfurcht vor dem Leben, 380. GW IV, 25. A. a. O., 28. Schweitzer, Die Mystik des Apostels Paulus. Vgl. dazu Cullmann, Reichsgotteshoffnung, 649. Schweitzer, Geschichte der Paulinischen Forschung.
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Das Thema hatte der Privatdozent Schweitzer bereits in seinen Straßburger Vorlesungen thematisiert, jedoch vermochte er sich der Theologie des Apostels Paulus erst wieder im Jahre 1927 zu widmen. In seinem 1930 abgeschlossenen Werk beschrieb Schweitzer den Apostel Paulus als Juden, der wie Jesus zunächst unter den Bedingungen des in der Naherwartung stehenden Judentums seiner Zeit aufwuchs und geprägt wurde. Er sah Paulus dabei weit mehr von der jüdischen Apokalyptik als vom Hellenismus beeinflusst. Die Hellenisierung des Christentums begann für Schweitzer vor allem nach Paulus und nicht mit ihm.15 Damit habe Paulus auch nach seinem Damaskuserlebnis dem Juden Jesus viel nähergestanden als dem griechischen Denken. Jesu Ethik des Dienens habe er durch den Begriff „Reich Gottes“, den er von der Naherwartung löste und ethisch auflud, auf seine Gegenwart übertragen. Paulus als erstem Theologen des Christentums sei es damit gelungen, die nicht eingetroffene Naherwartung, dass das Reich Gottes sehr bald komme, theologisch dahingehend umzudeuten, dass in Christus und in der Folge durch ein Leben in Christus das Gottesreich ethisch in uns Menschen jenseits der Zeiten bestehen kann. Ein entscheidendes Verdienst des Paulus bestehe darin, das Christentum universalisierbar gemacht zu haben, es in den Parametern der Zeitgenossen Jesu interpretiert zu haben, aber den entscheidenden Schritt darüber hinaus gegangen zu sein: Der Christus, den Paulus beschreibe, kann zu einem ethischen Erlöser jenseits unserer eigenen Geschichte werden, indem er in uns Menschen zu allen Zeiten als ethischer Lehrer lebt, Nachfolge exemplifiziert und eschatologisch fortexistiert – so sah es zumindest Schweitzer: „Mystik ist nicht etwas, das fremd an das Evangelium Jesu herangetragen wird. […] In Pauli Lehre von der Notwendigkeit des Sterbens und Auferstehens mit Christo leben die Worte weiter, in denen Jesus die Seinen beschwört, mit ihm zu leiden und zu sterben, um ihr Leben zu gewinnen, indem sie es mit ihm verlieren. […] In derselben Weise lebt in Pauli Ethik die des Evangeliums Jesu weiter. […] Durch den Gedanken der bereits Wirklichkeit gewordenen Erlösung durch Christum wandelt sich bei ihm die Ethik der Erwartung des Reiches Gottes in die der Bewährung desselben. Sie tritt aus der Abhängigkeit von der eschatologischen Erwartung heraus und verbindet sich mit der Gewißheit, daß mit Christo die Verwirklichung des Reiches begonnen hat. In der logisch einzig möglichen Weise denkt Paulus also die Ethik Jesu zur Ethik des von ihm gebrachten Reiches Gottes um. Dabei behält sie die ganze Unmittelbarkeit und Wucht der Ethik der Bergpredigt“.16
Noch stärker als seine „Geschichte der Leben-Jesu-Forschung“ spiegelt darum die „Mystik des Apostels Paulus“, wie sich der Mystiker Schweitzer als Theologe und Ethiker selbst beurteilt: Als einer, der „Nachfolge Jesu“ als praktische Um15 Vgl. GW IV, 20f. 16 A. a. O., 509f.
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setzung von dessen Liebesgebot begriff. In genau diesem nicht akademischethischen, sondern praktisch-ethischen Sinne vermag der Nazarener den Juden ein Jude, den Griechen ein Grieche und den Afrikanern ein Afrikaner zu werden.
3.
Religiös-ethische Praxis des Mystikers
Bereits an diesem Punkt sollte klar geworden sein, warum religiöse Praxis für den exegetisch arbeitenden Neutestamentler Albert Schweitzer immer auch ethische Praxis sein muss und wie der Begriff der „Mystik“, in der Art, wie Schweitzer selbst diesen versteht, Ausdruck seiner eigenen Glaubenspraxis ist, die in seinen Interpretationen Bachs genauso zum Vorschein kommt wie in seinen Andachten, Gottesdienstfeiern und Beerdigungen in Lambarene. Das Besondere von Schweitzers eigener Glaubenspraxis, seiner „Spiritualität“, wenn man das jenseits der praktisch-theologischen Theoriebildung zu diesem Begriff so nennen möchte, erweist sich wiederum aus praktisch-theologischer Sicht vor allem in Lambarene, da er dort seine Frömmigkeit über den längsten Zeitraum seines Lebens praktiziert. Denn vieles, was man von einem Pfarrerssohn aus Günsbach und einem Straßburger Vikar mit Blick auf Gottesdienste erwarten sollte, findet in Lambarene nicht statt und zwar nicht darum, weil die Möglichkeit nicht bestanden hätte, sondern weil Schweitzer sich bewusst dagegen entschied. Zuerst der Gottesdienstraum: Zwar hat Schweitzer jeden Sonntag mit einem afrikanischen Übersetzer und unter freiem Himmel auf dem Gelände seines Spitals Gottesdienst für seine und mit seinen Elsässer Krankenschwestern sowie mit allen Kranken und deren Angehörigen gefeiert. Aber er hat sich bewusst dagegen entschieden, in Lambarene eine Kirche oder eine Kapelle zu bauen.17 Gunnar Jahn, der Vorsitzende des Nobelkomitees, widmete sich in seiner Präsentation des Friedensnobelpreisträgers des Jahres 1952 ausführlich der Kindheit und Jugend des Laureaten Albert Schweitzer, und er nannte auch den Grund dafür: „Ich glaube, dass diese sein ganzes späteres Werk erklären“.18 Jahn meinte damit nicht nur, dass Schweitzers Liebe zur Orgel, zur Theologie, zur Medizin oder zu Afrika in Günsbach im Elsass ihre Wurzeln hatte, sondern vor allem, dass Schweitzers Charakter und insbesondere seine leidenschaftliche Suche nach gelebter Erkenntnis und Wahrheit durch die in seiner Jugendzeit gesammelten Erfahrungen entscheidend geformt wurde. Und zu diesen Erfahrungen eines liberalen Elsässer Pfarrhauses und des Studiums an der Universität 17 Vgl. Interview mit Christoph Wyss und Roland Wolf am 03. 04. 2009 in Lambarene. 18 Jahn, Gunnar, Presentation Speech for the Nobel Peace Prize 1952, in: www.nobelprize.org (letzter Zugriff: 01. 10. 2016).
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Straßburg, die man heute als „Reformuniversität“ bezeichnen würde und die mit Schweitzers Schwiegervater Harry Bresslau den ersten jüdischen Rektor in Deutschland berief, entsprang dieses bekannte Zitat Schweitzers als Kern seiner „Ekklesiologie“: „Wer glaubt, ein Christ zu sein, weil er die Kirche besucht, irrt sich. Man wird ja auch kein Auto, wenn man in einer Garage steht“. Mit anderen Worten: So wie die Praxis der „Ehrfurcht vor dem Leben“ für Schweitzer als seine Improvisation niemals allein an Lambarene als Ort gebunden war, war der Gottesdienst an keinen Ort oder ein konfessionelles Gotteshaus gebunden. Auch Lambarene war nicht das Weltzentrum der Ethik, denn die Ethik der Ehrfurcht vor dem Leben war für den Friedensnobelpreisträger an keinen singulären Ort gebunden. So schrieb er in einem Geburtstagsbrief vom Mai 1921 an sein großes Vorbild, den Theologen Adolf von Harnack, mit dem er seit der ersten Begegnung im Jahre 1899 lose Kontakt gehalten hatte, dass er an seiner „Kulturphilosophie“ arbeite und bald zu seinem humanitären Wirken zurückkehren wolle, „sei es in Aequatorialafrika, wo ich war, sei es irgendwo im Stillen Ocean. Aber vorher werde ich Sie sicherlich sehen. Mit besten Grüssen Ihr Prof. Dr. Albert Schweitzer“.19 Schweitzer ging am Ende nicht an den Stillen Ozean, und auch der Gedanke an eine Filiale von Lambarene in Kamerun wurde nie Wirklichkeit. Diese eigentümliche Ortlosigkeit führte zu Schweitzers theologischer Liberalität und einer daraus resultierenden interreligiösen wie wohl überlegten und aktiv begründeten Toleranz im Umgang mit religiösen Orten. So hatten sowohl die katholische als auch die evangelische Mission am Ogowe einer Gruppe muslimischer Händler die Beerdigung von Verstorbenen auf ihrem christlichem Friedhof verweigert, während Schweitzer dies sofort erlaubte, auch wenn er den Islam als Religion durchaus kritisierte. Nur eben nicht im Angesicht des Todes: Bis heute erinnern Grabsteine mit dem Halbmond die Besucher Lambarenes an diese religiöse Toleranz des Tropenarztes. Auch im Angesicht des eigenen Todes wollte Schweitzer keine Ausnahmestellung: Er wurde mit einem schlichten Kreuz auf dem Friedhof hinter dem Hospital begraben. Der medizinische Leiter Lambarenes, Walther Munz, sprach den 90. Psalm, den Schweitzer häufig am Grab von verstorbenen Kranken gelesen hatte. Danach sang die Trauergemeinde alle Strophen seines Lieblingsliedes „Ach bleib mit Deiner Gnade bei uns, Herr Jesu Christ“. Andacht, Choräle, Glockengeläut – das waren auch in Lambarene die Rhythmen tradierter Frömmigkeit, die Albert Schweitzer in seiner lutherischen Kirche bei aller Kritik zeitlebens das Gefühl von Heimat und Ordnung gegeben hatten.
19 Albert Schweitzer an Adolf von Harnack, Günsbach, den 05. 05. 1921, in: ders., Briefwechsel, 276.
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Eben diese Art der gelebten Frömmigkeit wird auch einer der Hauptgründe dafür gewesen sein, warum Schweitzer bei aller Sympathie für das freie Christentum seiner lutherischen Kirche nie den Rücken gekehrt hatte. Und dieser „Rhythmus“ liturgischer Art scheint einer der besten Wege, Albert Schweitzers religiöser Praxis näherzukommen – ganz gleich, ob man diese Frömmigkeit oder Spiritualität nennt oder als „Mystik“ qualifiziert. In seiner eigenen Beschreibung und seinen eigenen Worten, mit denen er diese Praxis schildert (vom Autovergleich bis zur Bestattung der Muslime gegen die Regeln der streng evangelisch-reformierten Pariser Mission) taucht dann auch plötzlich kein Widerspruch mehr auf zwischen dem Neutestamentler Schweitzer, der die Beschreibung der Auferstehung als „historisches Ereignis“ in Frage stellt. In einer pointiert vermittelnden Formulierung schrieb er zum historischen Jesus: „Als ein Unbekannter und Namenloser kommt er zu uns, wie er am Gestade des Sees an jene Männer, die nicht wußten, wer er war, herantrat. Er sagt dasselbe Wort: Du aber folge mir nach! und stellt uns vor die Aufgaben, die er in unserer Zeit lösen muß. Er gebietet. Und denjenigen, welche ihm gehorchen, Weisen und Unweisen, wird er sich offenbaren in dem, was sie in seiner Gemeinschaft an Frieden, Wirken, Kämpfen und Leiden erleben dürfen, und als ein unaussprechliches Geheimnis werden sie erfahren, wer er ist“.20
4.
Schluss
Dieses Geheimnis suchte und lebte er in seiner religiösen Praxis in Lambarene. Mancher mag das theologisch aufgeladen „seine Spiritualität“ nennen. Treffender scheint Schweitzers Selbstwahrnehmung: Auch und gerade ohne den historischen Jesus vor Reimarus versteht sich Schweitzer als zutiefst „fromm“ in dem Sinne, wie Bach ihm ein „Tröster“ ist. Und wenn das Nachrichtenmagazin „Der Spiegel“ in der Weihnachtsausgabe 1960 von Schweitzer aufgrund seiner Wirkung als „13. Jünger Jesu“ sprach und ihm attestierte, er sehe aus „wie ein naher Verwandter des lieben Gottes“, war damit nicht nur sein Äußeres gemeint.21 Denn diese mediale Wirkung seiner ausgestrahlten Frömmigkeit, die ihm Vergleiche zu Gandhi einbrachte und ihn bereits 1949 auf das Cover des „Time Magazine“ beförderte, wurde weltweit wahrgenommen. In dieser Frömmigkeit entschied sich Schweitzer bewusst gegen eine Kirche oder Kapelle auf dem Hospitalgelände und gleichzeitig für Psalm 90 und den Choral bei den Beerdigungen in Lambarene – inklusive seiner eigenen. Unter freiem Himmel gelebter christlicher Glaube jenseits enger Konfessions20 GW III, 887. 21 Albert Schweitzer-Mythos des 20. Jahrhunderts, 50.
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grenzen – ein solcher Glaube war für Schweitzer immer auch Ethik und Ethik immer auch Praxis. Und diese wurde täglich bei der Arbeit in Lambarene wie bei jedem Mittags- und Morgengebet wie auch beim abendlichen Bachkonzert am Tropenklavier gelebt.
Literatur Quellen Schweitzer, Albert, Theologischer und philosophischer Briefwechsel 1900–1965, hg. von Werner Zager in Verbindung mit Erich Gräßer unter Mitarbeit von Markus Aellig/ Clemens Frey/Roland Wolf/Dorothea Zager, München 2006. –, Die Weltanschauung der Ehrfurcht vor dem Leben. Kulturphilosophie III. Dritter und vierter Teil, hg. von Claus Günzler/Johann Zürcher, München 2000. –, Kultur und Ethik, München 1990. –, Gesammelte Werke in fünf Bänden, hg. von Rudolf Grabs, München/Berlin/Zürich 1974 [kurz: GW I–V]. –, Die Mystik des Apostels Paulus, Tübingen 1930. –, Geschichte der Paulinischen Forschung von der Reformation bis auf die Gegenwart, Tübingen 1911. –, Von Reimarus zu Wrede. Eine Geschichte der Leben-Jesu-Forschung, Tübingen 1906.
Forschungsliteratur Albert Schweitzer-Mythos des 20. Jahrhunderts, in: Der Spiegel, Nr. 52 vom 21. 12. 1960, 50– 61. Cullmann, Oscar, Albert Schweitzers Auffassung der urchristlichen Reichsgotteshoffnung im Lichte der heutigen neutestamentlichen Forschung, in: Evangelische Theologie 25/ 1965, 643–656. Groos, Helmut, Albert Schweitzer. Größe und Grenzen, München 1974. Jacobi, Erwin R., Albert Schweitzer und die Musik, Wiesbaden 1975. Kümmel, Werner G./ Ratschow, Carl-Heinz Albert Schweitzer als Theologe. Zwei akademische Reden, Marburg 1966 Oermann, Nils Ole, Albert Schweitzer (1875–1965). Eine Biographie, München 32010.
Martin Hüneburg
Erneuerung der Kirche durch eine neue Spiritualität: Die Spiritualität der Evangelischen Michaelsbruderschaft
Am 1. Oktober 1931 verbanden sich 22 Männer, darunter die Theologen Karl Bernhard Ritter, Wilhelm Stählin, Wilhelm Thomas, der Arzt Carl Happpich, der Musikwissenschaftler Konrad Ameln, der Verleger Karl Vötterle, der Jurist Ernst Schwebel und der Gutsbesitzer Hans von Wedemeyer – der Vater der Verlobten Dietrich Bonhoeffers – in der Kreuzkapelle der Universitätskirche Marburg zur Evangelischen Michaelsbruderschaft (EMB). Sie verstanden ihren Zusammenschluss als Dienst an der Erneuerung der Kirche. Wahrgenommen worden ist sie aber vor allem durch ihre liturgische Arbeit. Die von ihr erstellten Ordnungen für die Gestaltung von Kirchenjahr, Gottesdiensten, Tagzeiten- und Stundengebeten haben stark in die Kirche hineingewirkt und trotz mancher Ablehnung1 die zukünftige Entwicklung in vielen Punkten mitbestimmt.2 Dies hat dazu geführt, in der EMB lediglich eine liturgische Erneuerungsbewegung zu sehen.3Aus dem Blick gerät dabei, dass ihre liturgische Arbeit im Zusammenhang eines sehr viel umfassenderen Anliegens steht: dem Bemühen um eine geistliche Erneuerung der Kirche insgesamt. Dieses Anliegen erwuchs aus den Erfahrungen einer konkreten historischen Situation. Es war die Situation von Kirche am Anfang des 20. Jahrhunderts, die als Not empfunden wurde. Bereits die Jugendbewegung, aus der die meisten der Stifterbrüder kamen, hatte gezeigt, dass die Kirchen nicht in der Lage waren, überzeugende Antworten auf die Fragen zu geben, die sich insbesondere der Jugend durch die Herausforderungen der Moderne stellten.4 Die Lage wurde verschärft durch die Katastrophe des Ersten Weltkriegs. Angesichts dieser Erfahrungen musste die Notwendigkeit einer Neuordnung der evangelischen 1 Vgl. dazu etwa Kunze, Gespräch; Buchholz, Dimension. 2 Vgl. dazu Riehm, Beitrag. 3 Dass diese Sicht wegen der zeitweisen klaren Dominanz liturgischer Themen nicht ganz unberechtigt war, sei hier wenigstens angemerkt. Ein Hang zum „Liturgismus“ ist auch innerhalb der EMB immer wieder kritisiert worden. 4 Vgl. dazu Laqueur, Jugendbewegung; Schelsky, Jugend; Gieseke, Wandervogel; Götz von Olenhusen, Jugendreich.
712
Martin Hüneburg
Landeskirchen nach der Aufhebung des Staatskirchentums durch die Weimarer Reichsverfassung im Jahre 1919 zu einer Verschärfung des Krisenbewusstseins führen. Das Bemühen um eine Neuorientierung führte zu theologischen Aufbrüchen wie der Lutherrenaissance und der dialektischen Theologie und zur Entstehung geistlicher Gemeinschaften wie der Pfarrergebetsbruderschaft (1913), der Sydower Bruderschaft für Pfarrer (1922), der Hochkirchlichen St. Johannesbruderschaft (1929) und auch der Evangelischen Michaelsbruderschaft.5 Dabei entwickelte die EMB bei allen aufgenommenen Einflüssen und allem, was sie mit anderen Gemeinschaften an Gemeinsamkeiten verbindet, eine eigene Gestalt von Spiritualität, die über ihre geschichtliche Bedingtheit hinausweist.
1.
Der Weg zur Bruderschaft
1.1
Die „Beneuchener“ Konferenzen
Die Stiftung der EMB erfolgte nicht als gezielte Umsetzung eines vorab entwickelten Planes. Zwar taucht bereits 1917 bei Wilhelm Stählin, einem der maßgeblichen Stifterbrüder, der Gedanke eines protestantischen Klosters als Zentrum einer landwirtschaftlichen Siedlungsgründung im baltischen Kurland auf. Die hier entfaltete Vorstellung einer „Zufluchtsstätte des rein menschlichen persönlichen Lebens“6 beantwortet die Frage nach einer Verbindung von Religion und Leben noch ganz aus dem Lebensgefühl der Jugendbewegung heraus und unterscheidet sich wesentlich von dem, was später in der EMB Gestalt gewinnen wird. Die hier angedeutete Spannung verweist auf den Weg, der zurückgelegt werden musste und den damit einhergehenden Prozess der Transformation der Impulse des Anfangs. Der Weg begann mit der Konferenz von Angern bei Magdeburg, zu der die beiden Bundesleiter des Bundes Deutscher Jugendvereine, Wilhelm Stählin, damals Pfarrer in Nürnberg, und der Hamburger Jugendpastor Gotthold Dondorf zusammen mit dem Führer des Christdeutschen Bundes, Leopold Cordier, die Verantwortlichen der bündischen Jugend für Anfang 1923 eingeladen hatten. Es war der Versuch, einen Brückenschlag zwischen den immer weiter auseinanderdriftenden Flügeln der Jugendbewegung und der evangelischen Kirche zu erreichen und deren Errungenschaften für eine kirchliche Erneuerung fruchtbar werden zu lassen. Unüberbrückbare Gegensätze zwischen den ungefähr 100 5 Vgl. die Darstellungen bei Präger, Frei für Gott. Für den katholischen Bereich wäre auf den Quickborn zu verweisen. 6 Stählin, Siedlung im Kurland 1917, hier zit. nach Kellner, Jugendbewegung, 138.
Die Spiritualität der Evangelischen Michaelsbruderschaft
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Teilnehmern verhinderten jedoch eine Verständigung. Den tieferen Grund für dieses „klägliche Scheitern“ sah Karl Bernhard Ritter jedoch in der Gestaltlosigkeit der evangelischen Kirche. Daraus erwuchs die Einsicht: „Nur Gestaltetes gestaltet. […] In diesem hoffnungslosen Chaos von Meinungen, Erfahrungen, Strebungen wurde uns eines zur eindeutigen Gewißheit, daß hier keine Theorie, keine irgendwie gestaltete Theologie, keine ‚Lehre‘ helfen kann, sondern allein die überzeugende Gestalt einer in Gott gegründeten Gemeinschaft, die sichtbare Erscheinung des in der Wahrheit gegründeten Seins der Kirche“.7
Die Frage, wie die Kirche mit ihren verschiedenen Lebensäußerungen eine überzeugende Gestalt gewinnen könne, bestimmte fortan alle weiteren Überlegungen. Um zu echten Begegnungen zu kommen, sollte die Weiterarbeit in einem kleineren Kreis erfolgen. Dazu wurde noch für 1923 durch Vermittlung Karl Bernhard Ritters auf das Gut Berneuchen in der Neumark (heute Barnówko, Polen), den Besitz der Familie des Generals a.D. Rudolf von Viebahn, eingeladen. Die hier entstehende Bewegung wurde unter dem Namen dieses Ortes als „die Berneuchener“ bekannt. Nach der schweren Erkrankung und dem Tod des Generals von Viebahn am 30. September 1928 folgten 1928 bis 1930 drei weitere Tagungen im nahegelegenen Pätzig (heute Piaseczno) auf Einladung der Familie von Wedemeyer. Themen der Zusammenkünfte waren die Lage der Kirche in der modernen Welt, ihr Formwille, die Gestaltung ihrer Amtshandlungen und das Verhältnis zu den Aufbrüchen in der römisch-katholischen Kirche.8 Es waren nicht viel mehr als ein Dutzend Männer und Frauen, die in teils wechselnden Konstellationen hier zusammenkamen.9 Gemeinsam war ihnen die Herkunft aus der Jugendbewegung. Aber sie repräsentierten zugleich verschiedene religiöse Traditionen und vertraten unterschiedliche, zum Teil sogar gegensätzliche politische Anschauungen. Dennoch gelang es in den Referaten und Diskussionen, zu einer gemeinsamen Sicht zu kommen.10 So entstand schon auf der zweiten Konferenz 1924 der Plan, die Ergebnisse der Gespräche zu veröffentlichen. Eine dazu von Wilhelm Thomas erstellte Vorlage wurde auf der dritten Konferenz 1925 von Ludwig Heitmann, Karl Bernhard Ritter und Wilhelm Stählin überarbeitet und erschien unter der Herausgeberschaft der Berneuchener Konferenz 1926 in der
7 Ritter, Menschenalter, 187. 8 Vgl. dazu Haebler, Geschichte, 7–13. 9 Zu den regelmäßigen Teilnehmern gehörten Karl Bernhard Ritter, Wilhelm Stählin, Ludwig Heitmann, Wilhelm Thomas, seit 1924 Heinz-Dietrich Wendland, Hermann Schaft, Walter Stöckl, Anna Paulsen, Oskar Planck und ab 1925 Paul Tillich. 10 Vgl. Berneuchener Buch, 9–13 (Einführung).
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Martin Hüneburg
Hanseatischen Verlagsanstalt Hamburg unter dem Titel „Berneuchener Buch: vom Anspruch des Evangeliums auf die Kirchen der Reformation“.
1.2
Das Berneuchener Buch
Das Berneuchener Buch war der Versuch, die Not der Kirchen der Reformation zu analysieren, die in der Unfähigkeit, auf die anstehenden Fragen Antwort zu geben, offenbar wurde, und die daraus sich ergebenden Aufgaben zu formulieren im Vertrauen darauf, dass „diese Kirchen, in ihrem stellvertretenden Leiden, einen besonderen Beruf und eine besondere Verheißung haben“.11 Damit erscheint die eigene Situation als Krisis in der ursprünglichen Bedeutung des Wortes als Niedergang und Neuaufbruch. Worin diese Krisis selbst besteht und welche Ursachen sie hat, ergibt sich trotz der einführenden Beobachtungen zur damaligen Lage für die Verfasser nicht einfach aus der soziologischen Analyse. Sie wird in ihrer eigentlichen Tiefe erst deutlich durch den Anspruch des Evangeliums. Das als Wort des Gerichtes und des Heiles begegnende Evangelium wird zum Kriterium für die Wahrhaftigkeit der Kirche. Im Licht dieses Kriteriums erscheint das Versagen der Kirche im Erlahmen ihrer Sendung, zu befreien und zu gestalten. Die Ursache dafür liegt in der Aufhebung des doppelseitigen Verhältnisses von Kirche und Welt. Kirche und Welt stehen einerseits gemeinsam unter dem Wort Gottes, andererseits tritt die Kirche der Welt gegenüber, da sie als Zeuge des Wortes in Anspruch genommen ist. Zwischen ihrem welthaften Charakter, der sich in ihrer institutionellen Verfasstheit ausdrückt, und ihrem Auftrag besteht demnach eine Spannung, die nicht nach einer Seite hin auflösbar ist. Denn einerseits steht die Frage: „ob sie das ist, als das ihr Dasein Sinn hat: Kirche des Evangeliums“.12 Andererseits kann Kirche nur bestehen und ihren Auftrag erfüllen in einer welthaften Gestalt oder modern gesprochen: als Organisation. Sendung in die Welt hinein ist also immer notwendige „Formwerdung, Bildwerdung, Leibwerdung“.13 Die durch die Verwischung dieses Gegenübers14 ent11 12 13 14
A. a. O., 11. A. a. O., 16. A. a. O., 98. Die Anfänge dieser Vermischung werden schon in der Folge der Reformation gesehen. Hier zeigt sich eine kritische Sicht auf den Verlauf der Reformation. Das neue Hören des Wortes von der Rechtfertigung bedeutete zwar eine Wiedergewinnung der „Sinngebung des Lebens“ (a. a. O., 20), der im weiteren Verlauf erhobene Anspruch, die wahre Kirche zu sein, führte dann aber zu einer Verwechselung ihrer empirischen Gestalt mit der Wahrheit. Aber jede empirische Gestalt der Kirche kann nur Hinweis auf die Wahrheit und nicht diese selbst sein. Sie steht gerade auch in ihrem hinweisenden Charakter immer unter dem eschatologischen Vorbehalt.
Die Spiritualität der Evangelischen Michaelsbruderschaft
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standene Spannung äußert sich im Verdrängen des lebendigen Wortes Gottes, im Ersetzen der ewigen Hoffnung durch endliche Größen und im Verlust von Erkenntniskraft, Formwillen und Fähigkeit zur Weltdurchdringung.15 Daraus erwächst die Aufgabe: Kirche muss sich selbst wieder unter das lebendige Wort Gottes stellen, um durch die geschichtliche Begegnung mit der Wahrheit Gottes zu echter evangelischer Erkenntnis, zu neuem Formwillen und zur Durchdringung der Welt zu gelangen. Denn es ist „ihre entscheidende Aufgabe, durch das Gleichnis ihres eigenen Daseins, ihrer Lebensform und ihres Gottesdienstes den ewigen Sinn des irdischen Lebens zu deuten und dadurch die Gestaltungen dieses Lebens zu weihen“.16 Theologisch wird dabei angesetzt bei der Trinitäts- und Inkarnationslehre. „Alle irdische Wirklichkeit […] ist leibhaft; der Geist wird wirklich nur, indem er seinen Leib schafft. Leib aber ist gestaltetes Sein; Form zu haben und Form zu sein, gehört zum Wesen des Leibes. Jedes Handeln ist ein Gestalt-geben, jede Entwicklung ein Werden und Sich-wandeln von Gestalten. Darum ist das Ringen um die Form eine notwendige unentbehrliche Seite der Aufgabe, die uns aus dem Evangelium selbst erwächst.“17
Insbesondere die gottesdienstliche Gestaltung ist „Ringen um den notwendigen und symbolkräftigen Ausdruck der Wahrheit“.18 Deshalb kann die Erneuerung der Kirche nur durch die Erneuerung des Gottesdienstes erfolgen. Das Wort nimmt Gestalt an – allerdings gleichnishaft und vorläufig. Hier zeigt sich das für das Berneuchener Buch wesentliche Gleichnisdenken. Im Gleichnis oder Symbol19 tritt das Jenseitige, der Ursprung und das Kommende, im Irdischen ans Licht. Die Inkarnation wird im Zusammenhang mit Schöpfung und eschatologischer Vollendung gesehen. Welthafte Wirklichkeit wird so transparent für die zugrundeliegende Wirklichkeit. „Im Gleichnis [erschließt] ein Geschehen seine Tiefe, es öffnet den Blick für die zugrundeliegende Wirklichkeit […]. Das Wesen des Vorgangs kommt zum Bewußtsein. […] Aus dem bloßen Geschehen wird ein Ereignis. In dem Gleichnis ist immer von dem Einen die Rede in der unerschöpflichen Fülle seiner Verwirklichungen.“20
In dieser schöpfungstheologisch begründeten Gleichnisfähigkeit ist die Offenbarungsmöglichkeit der Schöpfung begründet. Wie die Sprache wird auch das
15 16 17 18 19
Damit ist die Gliederung des ersten Teils wiedergegeben. A. a. O., 137. A. a. O., 97f. A. a. O., 99. Anders als bei Tillich wird im Berneuchener Buch nicht zwischen Gleichnis und Symbol unterschieden. 20 A. a. O., 83.
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Martin Hüneburg
Wort Gottes zum Gleichnis, durch das die ganze Breite und Fülle des Lebens transparent wird für die Offenbarung.21 „Das lebendige Wort redet von aller in Raum und Zeit hineingestellten Wirklichkeit so, daß sie als endliche Wirklichkeit, die unter der Sünde steht und dem Tode verfallen ist, jedes letzten Herrschaftsanspruches über den Menschen entkleidet, aber zugleich unter den Herrschaftsanspruch Gottes gestellt wird.“22
Aus diesem Ansatz ergeben sich praktische Konsequenzen für den Auftrag der Kirche zur Weltdurchdringung. Beispielhaft wird dies unter dem Stichwort „evangelisches Werk“ verdeutlicht als Heiligung, nicht Heiligsprechung,23 von Geschlecht, Volk und Arbeit. In der Frage der Gewinnung von Form kommt dem Bereich der Liturgie zwar eine zentrale Bedeutung zu. Es handelt sich aber in Wirklichkeit – wie der Untertitel aussagt – um ein kirchenreformatorisches, nicht nur ein liturgisches Reformprogramm, das auf die umfassende Erneuerung der Kirche und darüber hinaus des gesamten religiösen und gesellschaftlichen Lebens aus der Kraft des Evangeliums zielt. So konzedierte Tillich der Berneuchener Bewegung, dass sie „am meisten von allen Reformgruppen der damaligen Zeit auf Allseitigkeit der Reform drängte und sich nicht auf das Kultische beschränkte“. Allerdings sah er im weiteren Verlauf eine Fortbewegung zum ausschließlichen Bemühen um sakramentale Verwirklichung, die es ihm unmöglich machte, diesen Weg mitzugehen.24
1.3
Von der „Programmschrift“ zur Bruderschaft
Die Berneuchener mussten bald einsehen, dass sie ihr Ziel, mit ihren Erkenntnissen in die Kirche hineinzuwirken, durch die Veröffentlichung eines Buches nicht erreichen konnten. Rückblickend resümierte Stählin: „Es fiel in die Hand der Theologen, das heißt es wurde in der unbarmherzigen Mühle theologischer Diskussion unschädlich gemacht. Die Kritik ließ den weitaus größten Teil des Buches unbeachtet“.25 Im Zentrum der Kritik stand vor allem der Symbol- und Gleichnisbegriff,26 der besonders von den Vertretern der dialektischen Theologie abgelehnt wurde. 21 A. a. O., 94. 22 A. a. O., 94. 23 „Die Welt ist nicht heilig; aber sie wird geheiligt, wo der Glaube sie unter das Wort Gottes stellt. […] Nur wo das Gericht, das über jedes irdische Werk ergeht, angenommen und dieses Werk unter die Verheißung gestellt wird, nur da wird das irdische Werk geheiligt“, a. a. O., 136. 24 Tillich, Grenze, 44. 25 Stählin, Via vitae, 320. 26 Vgl. Stählin, Rechenschaft, 105: „Nichts ist unsrer Berneuchener Arbeit theologisch so sehr
Die Spiritualität der Evangelischen Michaelsbruderschaft
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Hatte das Scheitern der Konferenz von Angern gezeigt, dass dem Suchen und dem Fragen der Moderne nicht mit einer neuen Lehre oder Theologie zu begegnen war, sondern nur durch eine überzeugende Gestalt von Kirche, so erwuchs jetzt die Einsicht, dass auch „der Kirche heute weniger denn je durch Programme und Broschüren, Gründe und Forderungen zu helfen ist, sondern allein dadurch, daß etwas geschieht, daß ein neuer Anfang gemacht, ein Zeichen aufgerichtet, eine Gestalt in die Kirche hineingebaut wird“.27 Schon während der Berneuchener Konferenzen waren dazu Ansätze gemacht und erste Erfahrungen gesammelt worden. So fanden die Treffen nicht im üblichen Tagungsstil statt, sondern waren geprägt durch das Bemühen um die Gestaltung von geistlichem Leben. Dies führte zur Wiederentdeckung oder Neuordnung und Erprobung von liturgischen Formen wie Tagzeitengebeten, Leseordnungen für das Kirchenjahr, Wochensprüchen, Beichte und Gottesdienstformen. Die dabei gewonnenen Einsichten wurden weitergegeben auf sogenannten Freizeiten, aus denen heraus sich Kreise von Interessierten bildeten. Daraus entstand der Wunsch, sich im engeren Kreis zu einer verbindlicheren Gemeinschaft, einer Bruderschaft, zusammenzuschließen. Dieser erste Versuch blieb allerdings unbefriedigend, weil er noch zu sehr auf die Konferenzarbeit ausgerichtet war. Die „Berneuchener Bruderschaft“ wurde deshalb aufgelöst, der Gedanke einer verbindlichen Gemeinschaft aber weiterverfolgt.28 Karl Bernhard Ritter lud dazu vom 29. September bis 1. Oktober 1931 nach Marburg ein. Dort kam es dann zur Stiftung der EMB. Das Ziel der Stiftung ist in der Urkunde zusammengefasst in dem – immer wieder zitierten – programmatischen Satz: „Wir können an der Kirche nur bauen, wenn wir selber Kirche sind“.29 Dass dieser Satz den Zusammenschluss zu einer Bruderschaft begründet, zeigt, dass Kirche selbst – gegen den modernen Individualismus – als verbindliche Gemeinschaft, als Bruderschaft verstanden wird.30 Sie ist die leibhafte Verkörperung des Seins in Christus, das nicht nur den Einzelnen mit Christus, sondern zugleich immer auch mit den anderen verbindet. Gelebte Bruderschaft wird so zum Bekenntnis der Christuszugehörigkeit. Daraus ergibt sich nun auch die Aufgabe von Bruderschaften: „Damit es Bruderschaft in der Kirche gibt, gibt
27 28 29 30
zum Vorwurf gemacht worden wie unsre Rede von Gleichnis und Symbol; und doch war dies nie etwas anderes als ein Versuch, die leibhafte Wirklichkeit unsres natürlichen und geistlichen Lebens ganz ernst zu nehmen und sie doch zugleich in der rechten Weise auf die Neuschöpfung Gottes in Christus zu beziehen“. Stählin, Bruderschaft, 64. Vgl. Haebler, Geschichte, 15. Urkunde I.2. „Die christliche Gemeinde ist Bruderschaft oder sie ist überhaupt nicht“ Stählin, Bruderschaft, 13 passim. Hier ergibt sich allerdings eine Spannung zu den später von Hans Dombois begründeten Einsichten in die verschiedenen Sozialgestalten von Kirche.
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es Bruderschaften in der Kirche“.31 Bei ihrem Wirken handelt es sich also um einen stellvertretenden und vorauseilenden Dienst in und an der Kirche.32 Ein solches Selbstverständnis eröffnet Freiräume für die Erprobung neuer Wege. Kirche als Bruderschaft ist zugleich aber auch „der Leib Christi, durch den Christus sein Werk in der Welt tut“.33 Ebenso wenig, wie Kirche als bloßer Rahmen für die Gestaltung individuellen Christ-Seins existieren kann, ist sie ohne Weltbezug als bloße Innerlichkeit und religiöse Gestimmtheit möglich. Von ihrer Stiftung her zielt die EMB deshalb auf die Erneuerung von Kirche in ihrer Gesamtheit. So formuliert die Urkunde: „Wir kämpfen darum, daß die Kirche in allen Bereichen des Lebens den Auftrag erfülle, der ihr im Evangelium gegeben ist“.34 Diese umfassende Ausrichtung35 fand wenig später ihren Ausdruck in der Trias Leiturgia, Martyria und Diakonia (Gottesdienst, Zeugnis und Dienst) zur Beschreibung des Auftrags der Kirche. Sie wurde wohl erstmals Mitte der 1930er Jahre vom Stifterbruder Oskar Planck bei einer Probebrüderwoche gebraucht36 und fand eine schnelle Aufnahme und Verbreitung in der Bruderschaft. Inzwischen hat sie auch, vor allem im Bereich der katholischen Kirche, eine so starke Rezeption erfahren, dass ihre Herkunft kaum mehr bekannt ist.37 Mit dieser Trias gelingt es, die kirchlichen Grundvollzüge in ihren unterschiedlichen Ausrichtungen wie auch in ihrer inneren Einheit und wechselseitigen Verwiesenheit zu erfassen und sie zugleich biblisch zu verankern.38 Damit wird einer Isolierung einzelner Bereiche des kirchlichen Auftrags gewehrt, die unweigerlich zu deren geistlicher Entleerung führen würde. Die Rezeptionsgeschichte der Trias verweist nicht zuletzt auf deren ökumenisches Potential,39 auch ohne sie, wie heute gelegentlich zu finden, durch die Einfügung von Koinonia zu ergänzen.40 31 32 33 34 35
36 37 38
39
Stählin, Bruderschaft, 19. Vgl. a. a. O., 51. Urkunde, I.2. A. a. O., I.1. Dieses von Anfang an bestehende, umfassende Anliegen einer Erneuerung der Kirche in allen Bereichen und die Weite der dabei gestalteten Spiritualität erlauben es m. E. nicht, die EMB in das Raster der Bestimmungen wie bibelorientiert-evangelistisch, charismatisch-pfingstlerisch, liturgisch-meditativ und emanzipatorisch-politisch einzuordnen, nach dem in der Forschung zwischen verschiedenen Strängen der Bemühungen um eine geistliche Erneuerung differenziert wird. Vgl. Schmidt-Lauber, Martyria. Vgl. Janßen, Herkunft, 410: „Evangelisch ‚totgeschwiegen‘ – katholisch rezipiert“. Vgl. Schmidt-Lauber, Martyria, 92f weist allerdings darauf hin, dass eine neutestamentliche Herleitung bei Leiturgia schwierig ist. Der für das Alte Testament kennzeichnende kultische Bezug fehlt im NT fast völlig (vgl. Hebr 9,21; 8,6). Vielmehr zeigt sich eine stärkere Überschneidung mit der Diakonia (2Kor 9,12; Phil 2,30; vgl. Röm 15,27). Aber gerade so wird deutlich, dass hier von einem weiteren Gottesdienstbegriff auszugehen ist. Vgl. Janßen, Herkunft, 412 verweist ausdrücklich auf die Chancen, die in einem „Re-Import
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Die Berneuchener Bewegung ist zweifellos aus der Jugendbewegung hervorgegangen. Sie nahm deren Protest gegen Erstarrung und Rückständigkeit ebenso auf wie die Suche nach einem neuen Lebensstil und die damit verbundenen Vorstellungen von Wahrhaftigkeit, innerer Einheit des Lebens, Bedeutung der Leiblichkeit und des Erlebens von Gemeinschaft. Dennoch wäre es eine Engführung, die Einflüsse darauf zu beschränken und sie und die aus ihr entstandene Michaelsbruderschaft deswegen lediglich zu einem Ableger der Jugendbewegung zu erklären. Bereits die Biographien der Stifter zeigen, dass sie schon früh von einer Vielzahl anderer Einflüsse geprägt waren, die im weiteren Verlauf wirksam wurden.41 Von nicht geringerer Bedeutung sind die Impulse, die von den theologischen Bewegungen dieser Zeit, insbesondere von der sog. Lutherrenaissance und dem daraus hervorgehenden Neuluthertum und der dialektischen Theologie, aber auch der deutschchristlichen Bewegung ausgingen. Schließlich treten noch die in der Gemeinschaft selbst gemachten Erfahrungen hinzu, die sich einerseits aus dem Bemühen um die Gestaltungsfragen und andererseits aus dem der ganzen Kirche verpflichteten Ansatz ergaben. Dies führte zwangsläufig auch zu einer intensiven Auseinandersetzung mit der Frage nach der Bedeutung der kirchlichen Tradition.42 Der sich daraus ergebende Weg von einer Phase des fast unbeschwerten Experimentierens zu einer Hinwendung zu stärker traditionsgebundenen Formen fällt aber erst in spätere Zeit. Wie also ordnet sich die Spiritualität der EMB in das Spektrum ihrer Anfangszeit ein?
vergessener Schätze in der eigenen Konfession“ bestehen, da sie „zunächst die eigene kirchliche Wirklichkeit infrage stellen, aber dann um so mehr bereichern können“. 40 In dieser Ergänzung deutet sich m. E. bereits wieder eine Isolierung der Bereiche an. Koinonia ist nicht einfach menschliche Gemeinschaft, sondern entsteht durch die gemeinsame Teilhabe an Christus, die im Gottesdienst gefeiert wird. 41 Stählin etwa war seit seiner Englandreise von 1908 stark beeindruckt von der Begegnung mit der anglikanischen Hochkirche. Dies betraf sowohl die Erfahrung der Liturgie als auch deren Retreat-Arbeit. Vgl. die ausführliche Darstellung in ders., Via Vitae, 92–105. Bei seinen Überlegungen zum protestantischen Kloster (siehe ders., Siedlung) bezieht er sich ausdrücklich darauf. Jüngst ist im Blick auf Karl Bernhard Ritter (eventuell zu stark) der Einfluss der Freimaurerei herausgearbeitet worden. Vgl. Fenske, Innerung. 42 Beispielhaft sei dazu auf Bewegung vom Tagzeitengebet zur monastischen Tradition des Stundengebetes verwiesen.
720 1.4
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Die Spiritualität der Evangelischen Michaelsbruderschaft im Horizont der Aufbrüche nach dem Ersten Weltkrieg
Den Ansatz bei einem Krisenbewusstsein teilten die Berneuchener mit den verschiedenen neuen Aufbrüchen. Ebenso besteht eine wesentliche Übereinstimmung in der Rückbesinnung auf „die gemeinsame Hinwendung zu dem jenseitigen Gott und seiner Offenbarung“.43 Zum Grundverständnis der EMB gehört es aber gerade, keine theologische Schule sein zu wollen, die ihre Theologie aus einem bestimmten Ansatz heraus entwickelt, sondern vielmehr eine Gemeinschaft, die im Vollzug des Glaubens um theologische Einsicht und angemessene Formen ringt. Vollzug geht der Reflexion voraus. Reflexion wird zum Nach-Denken. Das eigenständige Profil der Berneuchener Bewegung zeigt sich deshalb in dem Bemühen um eine Gestalt von Kirche, die es dieser ermöglicht, ihren Gestaltungsauftrag zu erfüllen. Ihre Spiritualität ist bestimmt durch das Bemühen um Konkretion und Leibwerdung. „Die reine Innerlichkeit, die der Form glaubt entbehren zu können […], ist nichts anderes als eine verhängnisvolle Selbsttäuschung.“44 Kirche hat nicht nur durch ihr Wort Zeugnis zu geben, sondern auch durch ihre Gestalt. Es war gerade das aus dieser Grundeinsicht erwachsende Drängen auf Form, das letztlich auch zum Bruch mit Dietrich Bonhoeffer führte, der den Berneuchener Ansätzen in vielen Punkten nahestand. Der Dissens zeigt sich besonders in einer Bemerkung Bonhoeffers gegenüber seiner Verlobten Maria von Wedemeyer: „Alles Stilmäßige ist dem Glauben fremd. Mein Hauptbedenken gegen die Berneuchener geht dahin, daß sie den christlichen Glauben mit einem Stil belasten und so die Menschen nicht zu ihrer vollen Freiheit unter dem Wort Gottes kommen lassen“.45 Diese Bedenken Bonhoeffers überraschen zunächst angesichts seines Wirkens in Finkenwalde. Sie erklären sich aber möglicherweise aus einer anderen Beurteilung der Situation und den daraus folgenden Überlegungen zur Diesseitigkeitsorientierung eines religionslosen Christentums, dem die Mündigkeit des Christen entspricht.46 Dies 43 44 45 46
Berneuchener Buch, 105. A. a. O., 101. Bonhoeffer, Brief an Maria von Wedemeyer, 176. Vgl. dazu den Brief an Eberhard Bethge vom 21. 07. 1944: „Wenn man völlig darauf verzichtet hat, aus sich selbst etwas zu machen – sei es einen Heiligen oder einen bekehrten Sünder oder einen Kirchenmann (eine so genannte priesterliche Gestalt!), einen Gerechten oder einen Ungerechten, einen Kranken oder einen Gesunden – und dies nenne ich Diesseitigkeit, nämlich in der Fülle der Aufgaben, Fragen, Erfolge und Misserfolge, Erfahrungen und Ratlosigkeit lebend – dann wirft man sich Gott ganz in die Arme, dann nimmt man nicht mehr die eigenen Leiden, sondern das Leiden Gottes in der Welt ernst, dann wacht man mit Christus in Gethsemane, und ich denke, das ist Glaube,– und so wird man ein Mensch, ein Christ. Ich glaube, dass Luther in dieser Diesseitigkeit gelebt hat,“ Bonhoeffer, Brief an E. Bethge, 542.
Die Spiritualität der Evangelischen Michaelsbruderschaft
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verband sich für Bonhoeffer angesichts der geschichtlichen Situation mit der Forderung nach politischem Handeln und führte zum Vorwurf kirchenpolitischer Naivität gegenüber liturgischen Bemühungen.47 Der hier aufgebrochene Gegensatz verdeutlicht aber, wie sehr die Berneuchener Bewegung von der Kirche her denkt. Die Bindung in einer geistlichen Gemeinschaft ist die Konsequenz aus der Einsicht, dass das „Kirche sein“, um an der Kirche zu bauen, der eigenen Erneuerung und der gemeinschaftlichen Einübung bedarf. So wird bei der Aufnahme das Versprechen abgegeben: „Vor Gott gelobe ich euch, meinen Brüdern: Ich füge mich gehorsam ein in die Ordnung der Bruderschaft zum Dienst an der Kirche. Ich will den Brüdern in Liebe und Achtung zugetan sein“.48 Die Spiritualität der EMB ist also weiterhin bestimmt durch das Bemühen um die geistliche Gestaltung des Lebens als Zurüstung zum Dienst in der Kirche. Sie ist damit ganz bewusst auf Kirche bezogen und an ihrem Sein und Auftrag ausgerichtet. Die von ihr gewählte Gestalt ist deshalb nicht die einer Kommunität mit gemeinsamem Leben, sondern die einer Gemeinschaft, deren Glieder in ihren lokalen, beruflichen und familiären Lebensbezügen bleiben und dort ihren Glauben gestalten. Das schließt die Zugehörigkeit zu verschiedenen Kirchen und Konfessionen ein. Der Einsatz, zu dem die Bruderschaft sich verpflichtet hat, richtet sich also immer auf die Kirche in ihrer jeweiligen konkreten Gestalt, jedoch im Glauben daran, „daß alle Einzelkirchen Glieder sind der einen Kirche Christi und ihren Beruf im gegenseitigen Empfangen und Dienen erfüllen“.49 Deshalb verbinden sich in der EMB von Anfang an der Rückgriff auf die Reformation mit ökumenischer Offenheit,50 die sich wiederum in Gestaltungsfragen niederschlägt. Die EMB setzt sich damit von dem traditionalistisch-restaurativen Ansatz des konfessionellen Luthertums ab. Ihre Spiritualität weiß sich einer evangelischen Katholizität verpflichtet. Die Formen, in denen Kirche leibhaft wird, sind welthaft. Zugleich steht Kirche der Welt in einer Distanz gegenüber, die sich aus ihrem Sendungsauftrag ergibt, zu dem sie als Teil dieser Welt in Dienst genommen ist. Diese Spannung bestimmt ihr Sein und muss nach beiden Seiten hin aufrechterhalten werden. Dabei kommt der Frage des Verständnisses von Welt als Schöpfung eine wesentliche Bedeutung zu. Dieser Bezug bestimmt neben dem Kirchenbezug die Spiritualität der EMB. Damit gerät sie in Gegensatz zur dialektischen Theologie, 47 Vgl. dazu Schödl, Bonhoeffer, der zeigen kann, dass sich die Ausrichtung auf die Gestaltung von Frömmigkeit in den unterschiedlichen Phasen seines Wirkens durchhält. 48 Urkunde, III.16. 49 A. a. O., I.1. 50 Zur EMB gehören Brüder aus den verschiedenen reformatorischen Kirchen, den Freikirchen, der anglikanischen, der römisch-katholischen, der alt-/christkatholischen und der orthodoxen Kirche.
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die mit ihrem Offenbarungsverständnis und ihrer Konzentration auf den Zweiten Artikel in der Gefahr steht, weltlos zu werden. Zugleich aber führt die Betonung des Ersten Artikels in Verbindung mit dem Gleichnisdenken, das der Schöpfung in einer bestimmten Weise Offenbarungsqualität zuerkennt, in eine nicht unproblematische Nähe zur deutschchristlichen Bewegung. Dieses Problem kommt beispielsweise bei Wilhelm Stählin deutlich zum Ausdruck, wenn er das gemeinsame Anliegen betont: „Vielleicht nehmen einige unsrer Freunde in diesen Tagen einmal wieder das Berneuchener Buch vor und lesen nach, was dort über die Heiligung des Volkes geschrieben steht, um zu empfinden, wie sehr das Erbe der Jugendbewegung uns heute mit dem besten Wollen der Deutschen Christen verbindet“.51
Trotz der Betonung des verbindenden Anliegens wird jedoch eine klare Abgrenzung vorgenommen, wenn Stählin fortfährt: „Wir erleben heute mit Beschämung, daß Diener und Führer der Kirche so reden, als gäbe es keine Sünde und keine dämonischen Mächte in den Kräften des Blutes und des Volkstums. […] Das Evangelium ist immer zugleich der Angriff Gottes auf die Welt, auch auf eine erneuerte Welt und ein erneuertes Volk; das Wort von Jesus Christus, und das heißt das Wort vom Kreuz und der Auferstehung ist dem selbstherrlichen Volk gegenüber in keiner anderen Lage als dem selbstherrlichen Individuum gegenüber“.52
Die Grenze ergibt sich aus dem oben dargestellten trinitarischen Verständnis der Schöpfung, das im Zusammenhang von Inkarnation und Vollendung gesehen wird. Bereiche der gegenwärtigen Welt können so zwar zum Gleichnis, aber nie in ungebrochener Weise zur Offenbarung werden. Spirituelle Überhöhungen von Volk, Blut etc. sind daher ausgeschlossen. In dieser Positionierung Stählins zeigt sich das charakteristische Bemühen, solange es irgend geht, das gemeinsame Anliegen über kirchenpolitische Differenzen hinweg zur Geltung zu bringen. Die Grundlage der EMB war nicht eine gemeinsame Theologie, sondern der gemeinsame Vollzug des Glaubens, aus dem ihr neue Einsichten erwuchsen. Zu ihr gehörten deshalb immer Menschen verschiedener theologischer und politischer Ausrichtung, die sich verbunden wussten in der gemeinsamen Feier der Sakramente und im Einsatz für die Kirche. So war es möglich, Impulse aus den verschiedenen Richtungen aufzunehmen und eigenständig zu verarbeiten. Dieser Ansatz konnte angesichts der kirchenpolitischen Lage als Schwäche erscheinen. Er gewann aber seine fortdauernde Bedeutung für eine Erneuerung von Kirche darin, dass Lagerkämpfe zwischen theologischen Schulen und verschiedenen Frömmigkeitstypen in der Gemeinschaft weitgehend überwunden werden konnten. 51 Stählin, Rechenschaft, 104. 52 A. a. O., 111.
Die Spiritualität der Evangelischen Michaelsbruderschaft
2.
723
Gelebte und gestaltete Spiritualität
Wurde die Spiritualität der EMB zunächst von ihrer Entstehung und den dabei wirksam gewordenen Einflüssen her betrachtet, so muss dies im Folgenden durch einen Blick auf deren spezifische Entfaltung ergänzt werden. Viele Dinge wären hier zu nennen, von der Heiligung der Zeit durch das regelmäßige Gebet in Form einer gemeinsamen Ordnung über das Bemühen um eine ganzheitliche Gestalt des Gottesdienstes bis hin zur ökumenischen Ausrichtung. Da dies den Rahmen eines solchen Beitrages sprengen würde, sollen hier nur einige ausgewählte Beispiele vorgestellt werden, an denen exemplarisch das für die Bruderschaft spezifische spirituelle Profil sichtbar wird.
2.1
Gestaltete Verbindlichkeit – Regel und Helferamt
Es gehört zur Verbindlichkeit ihrer Lebensgestaltung, dass die Glieder der EMB sich auf eine Regel verpflichten. Die Regel wurde 1934 als Entfaltung der Stiftungsurkunde von 1931 verfasst und erhielt 1937 ihre abschließende Gestalt. Spätere erforderliche weitere Konkretionen führten nicht zu erneuten Überarbeitungen, sondern wurden als Regelergänzungen angefügt. Die Notwendigkeit solcher Verbindlichkeit wird mit der Einsicht begründet, dass Kirche in dieser Welt in einem geistlichen Kampf steht und aller Dienst an der Kirche bei der eigenen Erneuerung ansetzen muss und diese nur in der Überwindung innerer Widerstände möglich ist. So formuliert die Urkunde in Satz II.3: „In dem Kampf um die Kirche bedrohen uns widergöttliche Mächte. Sie gefährden unser Werk und unseren Bund“. Daraus werden zwei Schlussfolgerungen gezogen. Da es sich um einen geistlichen Kampf handelt, steht das Gebet an erster Stelle. „Darum verpflichtet die Bruderschaft ihre Glieder zum täglichen Gebet“. Die Regel entfaltet diesen Punkt in ihrem ersten Teil (Satz 1–8) und verbindet ihn mit der Mahnung zu einer möglichst häufigen Teilnahme an der Feier des Heiligen Mahles (Satz 9). Die zweite Folgerung bezieht sich auf die Lebensführung. Satz II.5 der Urkunde: „Unser Kampf fordert von jedem Bruder eine Lebensführung, wie sie Kämpfenden ziemt,“ wird von der Regel aufgenommen (zit. als Satz 10) und leitet deren zweiten Teil ein, der überschrieben ist „Von der Selbstzucht der Brüder“. Dann erst folgen die Regelungen zum inneren Leben der Bruderschaft. Zu den für die EMB wesentlichsten Gestaltungen von Verbindlichkeit gehört neben der Verpflichtung auf die Regel das Helferamt. Dieses ist, wie Stählin feststellte: „vielleicht das Wichtigste unter den neu entstandenen Lebensord-
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nungen“.53 Jeder Bruder ist an einen anderen Bruder gewiesen, der ihn geistlich begleitet und dem er Rechenschaft schuldet. Das Helferamt kann deswegen als eine für die Bruderschaft charakteristische Form angesehen werden, weil darin ihr Anliegen einer Überwindung der Unverbindlichkeit des religiösen Individualismus in besonderer Weise zum Ausdruck kommt. „Wir wollen, zunächst in uns selbst, die protestantische Scheu vor der Konkretion abstreifen und wollen uns selbst die Flucht in die unsichtbare und unverbindliche Geistigkeit verwehren. Wir suchen die leibhafte Gestalt der Kirche, eine persönlichausführbare Lebensform der Kirche. Darin besteht die Bedeutung des Helferdienstes, daß hier die Bruderschaft jedem einzelnen Bruder im Helferbruder begegnet und unmittelbar in sein Leben hineinwirkt.“54
2.2
Gottesdienst und Welt
Die in Christus geschehene Versöhnung der bereits auf ihn hin geschaffenen Welt und deren kommende Vollendung bestimmen die Gegenwart als Anbruch der neuen Schöpfung, der durch den Geist verbürgt ist. Dieser Anbruch muss sowohl in der Kirche als auch in der Welt Gestalt gewinnen. Aus diesem trinitarisch gefassten Schöpfungsverständnis ergibt sich, dass Welt nicht nur als Adressat des Evangeliums und Ort der Diakonia in den Blick gerät, sondern ebenso in umfassender Weise auch in die Gestaltung der Leiturgia einzubeziehen ist. Gegen alle Abdrängungs- oder Abkapselungsversuche des Glaubens von der Wirklichkeit in einen eigenen Bereich des Religiösen ist „die Herrschaft Christi über die Elemente zu bezeugen, die Durchdringung der Weltwirklichkeit vom Glauben der Kirche her im Kultus repräsentativ, das heißt: als Vergegenwärtigung der in Christus uns gegebenen Verheißung zu vollziehen“.55 Mit dieser an die kosmische Christologie des Kolosser- und Epheserbriefes anknüpfenden universalistischen Sicht ist sowohl der Flucht in eine weltlose Spiritualität gewehrt als auch einer Betrachtung von Welt als bloßer Diesseitigkeit. So ist die Spiritualität der EMB bestimmt durch die doppelte Bewegung vom Gottesdienst zur Welt und von der Welt zum Gottesdienst. Mit der Trias Leiturgia, Martyria und Diakonia sind die Grundvollzüge der Kirche beschrieben, durch die aber zugleich der Raum der Kirche überschritten wird. Das Bemühen um Erneuerung der Kirche richtet sich darum auch auf ihre Fähigkeit zur Durchdringung der Welt als gelebtes Zeugnis von Christus in der Gesamtwirklichkeit des Lebens. Das Evangelium zielt auf den Menschen, will ihn 53 Stählin, Via vitae, 323. 54 Stöckl, Dienst, 72. 55 Ritter, Kirche, 39.
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verändern und durch ihn den ganzen Umkreis seines natürlichen und geschichtlichen Lebens. Bereits die Stiftungsurkunde enthielt die Verpflichtung zu aktivem Einsatz für Frieden und zur Überwindung von Hass und Ungerechtigkeit.56 Der Bedeutung dieser Verpflichtung wurde 1995 nach intensiven Gesprächen durch die Aufnahme des dritten Regelzusatzes „Von der öffentlichen Verantwortung der Brüder“ Ausdruck verliehen. Er enthält unter anderem die Forderung, Stellung zu beziehen zu politischen und sozialen Fragen und nach dem Maß der Möglichkeiten öffentliche Verantwortung zu übernehmen. Kennzeichnend für den bruderschaftlichen Ansatz ist es, dass damit gerade keine Einheit in politischen Dingen intendiert ist, sondern die Offenheit des Aufeinander-Hörens und Miteinander-Sprechens auf dem Grund der Gemeinschaft in der eucharistischen Feier, „in der leibhaft erfahren wird, wie Christus sein Werk in der Welt tut“.57 Ist die eucharistische Feier, aus der heraus geistliche Befreiung und Bevollmächtigung zum Einsatz erfolgt, die Mitte auch der öffentlichen Verantwortung, so erfordert deren Wahrnehmung gleichermaßen das Bemühen um ein hohes Maß an Weltoffenheit und an Zeitgenossenschaft. Dazu wurde schon zeitig ein Kreis von Brüdern aus der EMB und den anderen Berneuchener Gemeinschaften beauftragt, aktuelle Fragen aufzunehmen und in die Bruderschaft hineintragen oder durch Organisation von Gesprächen ein darüber hinausreichendes Forum zu bieten, um solche Fragen in Kontext einer geistlichen Sicht zu bedenken.58 Führt Glauben zur Durchdringung aller Lebensbereiche, kann umgekehrt die religiöse Übung ihrerseits nicht ohne Zusammenhang mit dem Sein in der Welt bestehen. Dieser Zusammenhang hat schon früh eine liturgische Gestalt gefunden, die über die fürbittende Aufnahme von Anliegen aus der Lebenswelt hinausgeht. Im eucharistischen Darbringungsgebet wird bewusst die Verbindung von Schöpfungswirklichkeit und Erlösung hergestellt, wenn es heißt: „Du hast alles erschaffen um deines Namens willen und hast den Menschen Speise und Trank gegeben, dich zu loben mit allen deinen Geschöpfen. So legen wir die Gaben deiner Güte nieder auf deinen Altar und bekennen, daß dein ist alles, was wir sind und haben.“ In der Antwort auf die Kritik Gerhard Kunzes an dieser Formulierung betonte Stählin: „Es geht um den Glauben, daß wirklich die Kreaturen durch Christus und auf Christus hin geschaffen sind, und daß eben in der Tat nur darum Brot und Wein als geschaffene Dinge im Sakrament als Leib und Blut Christi empfangen werden“.59 56 Urkunde, II.8. 57 Regel: 3. Regelzusatz, Satz 3. 58 Dieser „Arbeitskreis für Gegenwartsfragen“ hat in den letzten Jahren Themen aufgegriffen wie: Aussöhnung mit den Völkern der Sowjetunion, Rüstungskonversion, Bioethik, interreligiöser Dialog. Auch der Regelzusatz wurde von ihm im Auftrag des Rates erarbeitet. 59 Stählin, Berneuchen antwortet, 22.
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Diese Impulse des Anfangs für eine „Heimholung der Natur in das christliche Denken“60 und eine Annäherung an die technische Welt sind in der Folgezeit aufgenommen worden. Beispielhaft dafür stehen die Namen Hans-Rudolf Müller-Schwefe,61 Adolf Köberle,62 Günter Howe63 und neuerdings wieder Gérard Siegwalt und Norbert Müller64. So stellte Müller-Schwefe in einem Vortrag zum Michaelsfest 1979 in Kloster Kirchberg die Frage: „ob es uns gegeben wird, die Präsenz des Herrn in dieser unserer technischen Welt und ihrer Wirklichkeit zu entdecken, damit wir ihm hier nachfolgen und den geistlichen Kampf kämpfen. Könnte es nicht sein, daß wir jetzt erst zur rechten Verwirklichung der Nachfolge in der technischen Welt und ihrer Wirklichkeit antreten sollen? […] Was wir […] brauchen, ist eine Verwirklichung, eine Gestalt des Gebets, der Fürbitte, des Kontakts im Getriebe der Industriewelt“.65
Für den Physiker und Mathematiker Günter Howe ergab sich die Aufgabe, die geschaffene Welt und die durch Technik gestaltete Welt in Beziehung zu setzen, vor allem aus der geistigen Verantwortung für die Welt, d. h. aus der Notwendigkeit, mit den Folgen der technischen Entwicklung umzugehen.66 Die Möglichkeit eines Brückenschlages sah er von Seiten der Theologie67 durch das Sakrament des Abendmahls „als zentrale Brücke zur Welt der Dinge“,68 die freilich durch ein verengtes Verständnis als verbum visibile (sichtbares Wort) abgebrochen, aber durch die Epiklese in ihrem ursprünglichen Verständnis wiederzugewinnen sei. „In den verba testamenti wird ein Stück dieser Welt, eben dieses Brot und dieser Wein, ausgesondert zum Dienst von Gottes Heilshandeln. […] Die Epiklese aber […] bedeutet nicht Aussonderung aus den Fakten, sondern Zuordnung in die Zukunft hinein […],
60 61 62 63 64 65 66
67 68
So der Titel Köberle, Heimholung. Vgl. a. a. O. Vgl. Köberle, Realismus. Vgl. dazu die postum erschienene Vorlesung Gott. Weitere Aufsätze und Vorträge dazu liegen vor in Howe, Christenheit. Vgl. Siegwalt, Dogmatique Tom. III und Müller, Weg. Müller-Schwefe, Lebensstil, 78. Howe, Gott, 28 [Hervorhebung im Original]: „Wir wollen […] mit Christus in die entscheidenden Schwierigkeiten unserer Zeit hineingehen, dort wachsam sein und die Geister unterscheiden, eben um die Fähigkeit zu erlangen, auf sachgerechte Entscheidungen zu drängen, und so zu bewähren, daß Christus die Hoffnung der Welt ist. Dazu bedarf es freilich einer theologischen Zurüstung, die wir heute noch nicht besitzen. […] Nur aus einem ständigen Hin- und Hergang zwischen den Sachproblemen und dem christlichen Offenbarungsglauben. […] kann uns jene Fähigkeit zur Unterscheidung der Geister zuwachsen, die das eigentliche Ziel der von uns geforderten theologischen Interpretation des Atomzeitalters ist“. Seitens der Physik bietet sich ein Ansatz durch die Denkfiguren der Komplementarität und Nichtobjektivierbarkeit. Auch Siegwalt, Dogmatique, Tom. III, baut auf den Erkenntnisse der Quantenphysik auf. Howe, Gott, 231.
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indem sich der lebendige Gott in seinem Sakrament uns völlig preisgibt, werden auch mit ihm die Elemente frei zum reinen Dienst.“69
Solche Überlegungen sind freilich weder in der Bruderschaft noch in der Kirche bisher in hinreichendem Maße aufgenommen worden. Das Problem einer geistlichen Durchdringung der modernen Welt und die daraus folgenden Gestaltungsfragen bleiben als dauerndes Anliegen aufgegeben.70
2.3
Geistliche Übung – „der Geistliche Pfad“
Der Weg, der zur Entstehung der EMB geführt hat, beruhte auf der Einsicht, dass alle geistliche Erneuerung von Innen heraus geschehen muss und diese nur aus einer praxis pietatis erwachsen kann. Solche Praxis bedarf aber, um nicht zum Aktivismus oder zur Verausgabung zu führen, der Vertiefung und Erfahrung. Ausübung setzt Einübung voraus. Deshalb gehört es zum Grundverständnis der Bruderschaft, sich für die Erneuerung der Kirche einzusetzen, indem sie sich bemüht, „alle ihre Glieder auf einen festen Weg innerer Erfahrungen zu führen. […] Wir wissen, daß kein Dienst in der Kirche ohne solche innere Bereitung recht getan werden kann“.71 In diesem Sinne ist die Regel insgesamt als Anleitung für einen geistlichen Übungsweg zu verstehen. Damit wurde ein Aufbruch gewagt,72 der trotz der im Bereich der reformatorischen Kirchen nie ganz abgebrochenen Tradition geistlichen Übens nicht unwidersprochen blieb.73 Auf den Vorwurf einer damit intendierten Werkgerechtigkeit bzw. eines Synergismus reagierte Stählin mit dem Hinweis auf die Reformation als Spiritualitätsbewegung, die erst 69 A. a. O., 234. 70 So resümierte Günter Bransch 1988 in einem Vortrag zum Thema Apostolischer Glaube heute vor dem Gesamtkonvent der Evangelischen Michaelsbruderschaft: „Man kann nicht sagen, daß die reale Arbeitswelt der Gegenwart wirklich in die Gemeinde, in die Liturgie hineingenommen werden konnte. Das Problem scheint mir darin zu liegen, daß die industrielle Welt, soll sie in Gebetsvollzüge, in Gottesdienst und Gemeindeleben hineingenommen werden, eine andere Sprache, andere Symbole und Stilelemente braucht. Im Blick auf die Freizeitwelt gilt dies erst recht“, ders., Glaube, 145. 71 Regel, Satz 39. 72 Dass sich die Situation inzwischen wesentlich gewandelt hat, zeigen sowohl die Vielzahl der Angebote von ganz verschiedenen Seiten als auch das wissenschaftliche Bemühen um die Wiedergewinnung einer evangelischen Aszetik. Vgl. dazu die 2007 erfolgte Gründung eines Evangelischen Institutes für Aszetik in Neuendettelsau (www.aszetik-institut.de). 73 Vgl. dazu die Reaktion Stählins in ders., Bruderschaft, 41: „Sind wir nicht alle weithin der entgegengesetzten und umgekehrten Gefahr erlegen, daß wir aus Angst vor Werkgerechtigkeit, Vollkommenheitsdünkel, Selbsterlösung und wie solche Irrwege sonst genannt werden mögen, uns überhaupt nicht auf den Weg machen und uns lieber mit jeder Unlebendigkeit und Unordnung abfinden und also überhaupt nichts zu tun wagen, damit wir nur ja nicht in den Verdacht einer falschen Werkerei geraten?“.
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später infolge von „Fehlentwicklung“ eine „Verengung und Verarmung“ erfahren habe.74 Außerdem macht er deutlich, dass dem Vorwurf ein Missverständnis zugrunde liegt, denn: „Geistliche Übung ist der Inbegriff aller jener Bemühungen, in denen der Mensch dafür bereitet wird, der Wirklichkeit Gottes zu begegnen, sein Wort wirklich zu vernehmen und von der Kraft des göttlichen Geistes in Wahrheit berührt und durchdrungen zu werden“.75 Solche Übungen können in vielfältigen Formen erfolgen. Wesentlich ist die Ausrichtung auf den Menschen in seiner Ganzheit, die Betrachtung mit körperlichen Übungen, der sogenannten Leibarbeit, verbindet und unter anderem das Atmen, das Sitzen, das Gehen, die Gebetsgebärden umfasst. Von Anfang an hat Meditation als „Mittel der Menschenbildung“76 in der EMB einen wichtigen Platz eingenommen. Der zu den Stifterbrüdern gehörende Arzt und Psychotherapeut Carl Happich entwickelte seit den 1920er Jahren Meditationsformen,77 zu denen Schweigen, Entspannung, Beachtung von Atmung und Sitzhaltung, Versenkung und Imagination gehören. Darauf aufbauend, entstand in der Bruderschaft unter wesentlicher Beteiligung Karl Bernhard Ritters, der damals bereits Berührungen zu östlichen Meditationsformen hatte, eine eigenständige Form solcher Meditation in Gestalt des sogenannten Geistlichen Pfades. Wie es der bruderschaftlichen Praxis entspricht, wurde er zunächst nur intern erprobt und in einem ersten Teil nach einer ungefähr zwanzigjährigen Zeit des Erprobens 1952 im Auftrag des Rates durch Ritter veröffentlicht.78 In den folgenden Jahrzehnten trat durch den Einfluss anderer Meditationsarten wie dem christlichen Zen oder dem aus den Ostkirchen stammenden Herzensgebet der Pfad in den Hintergrund. Das neuerwachte Interesse hat dazu geführt, dass der Rat der EMB 2008 die Wiederaufnahme der Arbeit beschlossen hat, um dieses bruderschaftliche Gut der Kirche zur Verfügung zu stellen. Worin besteht nun das eigene Gepräge des Geistlichen Pfades? Meditative Erfahrung vollzieht sich in Stufen. Mit der Bezeichnung als „Pfad“ ist auf einen Weg verwiesen, der der „fortschreitenden Rezeption Christi durch den Christen, bzw. der fortschreitenden Einverleibung des Christen in das corpus Christi“79 dienen soll. Diesem Weg sind als Stationen die sieben altkirchlichen Ämter Türhüter (Ostiarius), Vorleser (Lektor), Wächter (Exorzist), Lichtträger (Akolyth), Subdiakon, Diakon und Priester zugrundegelegt. Sie repräsentieren jeweils „Gestalten, durch die uns das Wesen und der Dienst des ‚königlichen
74 75 76 77 78 79
A. a. O., 42.50. Stählin, Geistliche Übung, 11. Ritter, Meditation. Vgl. dazu Beier, Meditation. Vgl. Ritter (Hg.), Pfad. A. a. O., 7.
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Priestertums‘ verdeutlicht wird“.80 Da die Ämter nicht nur inhaltlich unterschieden, sondern auch auf unterschiedliche Orte im Kirchenraum bezogen sind, wird das Bild eines Heiligtums aufgerufen, das nach altkirchlicher Vorstellung ein Abbild des himmlischen Heiligtums ist. Der Zugang dazu wird nicht allein durch Meditationsanweisungen eröffnet. „Der Pfad verbindet meditative Übungen mit Unterweisungen, praktischen Anleitungen und liturgischen Feiern zu einem zusammenhängenden Ganzen. Mit der gebührenden Vorsicht kann man von einem Initiationsweg sprechen, […] oder auch von einem mystagogischen Weg, weil es sich um eine nachträgliche Aneignung der tieferen Dimension der Taufe handelt.“81
Führt der Weg also von der Überschreitung der Schwelle in das Heiligtum bis zum Altar, an dem Christus als wahrer Priester sich selbst hingibt, verknüpfen sich diese Stationen mit dem eigenen Lebensweg als Weg zum inneren Heiligtum. „Der ‚Geistliche Pfad‘ verbindet so auf eine komplexe Weise unterschiedliche symbolische Ebenen: Meditation des Schriftwortes, Meditation des Weges Christi, Klärung des eigenen Lebensweges, Schule des Lebens und Sterbens, Aufmerken auf die jeweils eigenen Gaben und Aufgaben im Ganzen des Leibes Christi.“82
Es geht um nichts anderes als die Einübung der durch die Taufe erfolgten Berufung zum allgemeinen Priestertum aller Gläubigen. „Die Reformation hat zwar das allgemeine Priestertum aller Gläubigen grundsätzlich behauptet, es aber im Heiligtum, d. h. im Gottesdienst und in der Gemeinde nicht zur konkreten Gestalt kommen lassen, sondern auf die Bewährung in der Welt verwiesen. Ich kann aber in der Welt nichts ausrichten, wozu ich nicht gesendet und ausgerüstet bin.“83
Wieder zeigt sich hier die Einbeziehung der Welt. Der Geistliche Pfad zielt darauf, durch lebenslange Übung zu einer „erfahrungsgesättigten Spiritualität“84 anzuleiten und das Bild des christlichen als des priesterlichen Menschen sichtbar zu machen, in allen Bezügen, in denen ein Christ steht. Die Evangelische Michaelsbruderschaft stand und steht damit für eine verbindliche, ganzheitliche, auf die eine Kirche in der Vielfalt ihrer Gestalten ausgerichtete und weltbezogene Form der Spiritualität. Auch mehr als 80 Jahre nach ihrer Stiftung sieht sie ihre Aufgabe darin, dafür zu arbeiten, dass die Kirche ihren Auftrag in allen Bereichen erfüllen kann, indem sie die Erneuerung bei sich selbst beginnen lässt, um so mit ihren Erfahrungen und ihren Entdeckungen in 80 81 82 83 84
A. a. O. Oeyen, Weg, 205f. Mielke, Erfahrungsweg, 197. Ritter (Hg.), Pfad, 7. Mielke, Erfahrungsweg, 197.
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die Kirche hineinzuwirken. Von ihrem Ursprung her weiß die Bruderschaft sich dabei an das Feiern der Gegenwart Christi als ihre Mitte gewiesen. Daraus erwächst das immer neue Bemühen, dies für das eigene Leben, das Leben der Kirche und der Welt Gestalt gewinnen zu lassen.
Literatur Quellen Bonhoeffer, Dietrich, Brief an Maria von Wedemeyer aus Tegel [ohne Datum], in ders./ Maria von Wedemeyer, Brautbriefe Zelle 92, hg. von Alice von Bismarck/Ulrich Kabitz, München 42004, 175–178. –, Brief an E. Bethge vom 21. 7. 1944, in: ders., Widerstand und Ergebung. Briefe und Aufzeichnungen aus der Haft, hg. von Christian Gremmels u. a. (DBW 8), München 1998, 541–543. Bransch, Günter, Apostolischer Glaube heute. Ruf zur Umkehr unter den Zeichen der Zeit. Überlegungen zum Thema Arbeit und Freizeit, in: Kemper, Erbe, 140–155. Das Berneuchener Buch. Vom Anspruch des Evangeliums auf die Kirchen der Reformation, hg. von der Berneuchener Konferenz, Hamburg 1926. Die Urkunde der Evangelischen Michaels-Bruderschaft, in: Hage, Michaelsbruderschaft 11–18. Haebler, Hans Carl von, Geschichte der Evangelischen Michaelsbruderschaft von ihren Anfängen bis zum Gesamtkonvent 1967, [Selbstverlag] 1975. Hage, Gerhard (Hg.), Die Evangelische Michaelsbruderschaft. 50 Jahre im Dienst an der Kirche (Kirche zwischen Planen und Hoffen 23), Kassel 1981. Howe, Günter, Gott und die Technik. Die Verantwortung der Christenheit für die technischwissenschaftliche Welt. Eine Vorlesung für Hörer aus allen Fachbereichen, mit einer Einführung von Heinz Eduard Tödt, Hamburg/Zürich 1971. –, Die Christenheit im Atomzeitalter. Vorträge und Studien, ausgewählt und mit einem Nachwort versehen von Hermann Timm (FBESG 26), Stuttgart 1970. Kemper, Claus (Hg.), Verpflichtendes Erbe. Ausgewählte Aufsätze aus „Evangelische Jahresbriefe“ und „Quatember“ (Kirche zwischen Planen und Hoffen 31), Hannover 1994. Köberle, Adolf, Heimholung der Natur in das christliche Denken, in: Quatember 37/1973, 151–158. –, Biblischer Realismus. Beiträge zum Universalismus der christlichen Botschaft, Wuppertal 1972. Kunze, Gerhard, Gespräch mit Berneuchen. Der Dienst des Pfarrers (Beihefte zur Monatsschrift für Pastoral-Theologie 12), Göttingen 1938. Mielke, Roger, Der „Geistliche Pfad“ als Erfahrungsweg, in: Quatember 72/2008, 196–202. Müller, Norbert, Der christliche Weg. Systematische Theologie am Anfang des 21. Jahrhunderts, Leipzig 2005.
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Dietrich Kuessner
Die Spiritualität der Deutschen Christen Ein Versuch
Das Verständnis von Spiritualität ist vielfältig.1 Ich gehe von folgendem biblischen Befund aus: Spiritualität ist das Erleben des Geistes Gottes, der von den großen Taten Gottes in je eigener Sprache reden lässt (Apg 2). Außer diesem „guten“ Geist Gottes bezeugt die Bibel auch einen „bösen Geist von Gott“, der König Saul überfällt (1Sam 16,14). Spiritualität ist nie eindeutig, sondern es bedarf der Gabe der Unterscheidung der Geister (1Kor 12,10). Gibt es eine Spiritualität der Deutschen Christen? War unter ihnen ein guter oder ein böser Geist von Gott am Werke? Die Deutschen Christen nahmen den Geist Gottes immer wieder für sich in Anspruch und sprachen in ihrer eigenen Sprache von den großen Taten Gottes in ihrer Zeit, wie sie diese deuteten. Erst nach einer gründlichen Darstellung kann die Bitte um die Gabe der Unterscheidung der Geister geäußert werden. Die Deutschen Christen (DC) waren ein fester Bestandteil der Deutschen Evangelischen Kirche, über deren Breitenwirkung die Ansichten in der Forschung geteilt sind. Solange die Geschichte der Kirchen im Nationalsozialismus unter dem überholten Leitgedanken des Kirchenkampfes betrachtet wird,2 endet die Darstellung der Geschichte der Deutschen Christen mit dem allmählichen Ende des sog. Kirchenkampfes 1938. Als spirituelle Bewegung hingegen erreichten die Deutschen Christen im Frühjahr 1939 einen unerwarteten Höhepunkt. Viele ihrer Grundeinsichten wurden seit 1939 in abgestufter Intensität bis 1945 zum Allgemeingut in der Deutschen Evangelischen Kirche. Die Deutschen Christen verstanden sich als „Bewegung“, nicht als Partei.3 Allerdings stellten sie 1932/33 bei den Kirchenwahlen Kandidaten auf, hielten Parteiversammlungen ab, stellten Mitgliederlisten aus und errangen im Sommer 1 Zur Definition von Spiritualität Zimmerling, Spiritualität, 16: „Ich verstehe im Folgenden unter Spiritualität in Aufnahme von Überlegungen der EKD-Studie den äußere Gestalt gewinnenden gelebten Glauben, der in der paulinischen Forderung des ,vernünftigen Gottesdienstes‘ von Röm 12,11 seine biblische Begründung besitzt.“ 2 Vgl. Strohm, Kirchen im Dritten Reich; auch Blaschke, Kirchen und der Nationalsozialismus. 3 Vgl. Böhm, Deutsche Christen, 13–27, dort ausführliche Beobachtungen zur Forschungslage.
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1933 große Mehrheiten in vielen Kirchensynoden. In dieser Zeit hatten die Deutschen Christen einen ungeheuer großen Zulauf. In einigen Landeskirchen (u. a. Thüringen, Mecklenburg, Rheinland, Hamburg, Bremen) übernahmen sie Leitungsposten und konnten auch organisatorisch ihre Landeskirche deutschchristlich beeinflussen und umgestalten. Die DC galten für kurze Zeit als der Hoffnungsschimmer der evangelischen Kirche. Sie erweckten eine reformerische Aufbruchsstimmung mit einem Gefühl für die aktuelle Thematik, eine braune Kirche in einem brauen Staat aufzubauen. Diese Aufbruchphase war jedoch schon im November 1933 seit der berüchtigten DC-Massenversammlung im Berliner Sportpalast mit Studienassessor Krause und seiner Forderung nach Abschaffung des Alten Testamentes endgültig vorbei. Zahlreiche DC-Mitglieder beendeten ihre Mitgliedschaft, aber die DC waren keineswegs am Ende. Sie wurzelten tiefer. Sie waren ja „Bewegung“. Ende 1933 verfassten sie vier schlichte Grundsätze, die unter dem Titel „Die Christusgemeinde der Deutschen“ von Pfarrer Julius Leutheuser (1900–1942) kommentiert wurden.4 In der Barmer Bekenntnissynode im Mai 1934 distanzierte sich die Bekennende Kirche (BK) schroff von den Deutschen Christen, nicht von der nationalsozialistischen Regierung, die in Folge einer irreführenden Interpretation von Röm 13 ausdrücklich als Obrigkeit anerkannt wurde. Im Herbst 1934 scheiterte der deutsch-christliche Versuch, die Evangelische Kirche zu einer zentral organisierten Reichskirche mit Pfarrer Ludwig Müller als Reichsbischof gewaltsam umzubauen, an dem stabilen, föderativen Charakter der Landeskirchen, der im Laufe der nächsten Jahre immer stabiler wurde. Nun regionalisierten sich die BK und die DC. Sie bildeten in jenen Landeskirchen, wo sie nicht die Kirchenleitung innehatten, jeweils eine spürbare BK- oder DCMinderheit. Neben diesen beiden auffälligen Akteuren eines gegenseitigen Kirchenkampfes stand die sehr große Mehrheit der kirchenpolitisch ungebundenen, neutralen, sog. Kirchlichen Mitte. In der Loyalität zur Hitlerregierung waren sich 4 Vgl. Leutheuser, Christusgemeinde. Zur Biographie: Julius Leutheuser, geb. 09. 12. 1900 in Bayreuth, gest. 24.11. 1942 in Russland, Studium in Erlangen und Tübingen, 1925 Ordination, 1926 Hilfsgeistlicher in Augsburg, 1928–1933 Pfarrer in Flemmingen/Altenburg, 1933 wie Siegfried Leffler Mitglied des 3. LKTg, LKR und Landesjugendpfarrer, 1939–1942 Soldat, 1942 Nominierung als Landesbischof, vgl. Thüringer Gratwanderungen, 282. Ein weiteres, vor allem apologetisches Grundsatzpapier stammt von seinem Nachbarpfarrer und Freund Pfarrer Siegfried Leffler (1900–1983): ders., Christus im Dritten Reich. Zur Biographie: Siegfried Leffler, 21. 11. 1900 in Atzendorf/Oberfranken, gest. 10. 11. 1983 in Hengersberg/ Bayern, 1920– 24 Studium in Erlangen Marburg, Tübingen, 1924 Hilfsprediger, Ordination 1925, Stadtvikar in Augsburg, 1928–1933 Pfarrer in Niederwiera/Altenburg; 1929 NSDAP-Mitglied, 1932 Gründer der KDC, 1934 Oberregierungsrat in Weimar, 1937 Reichsleiter der DC NB, 1939 Leiter des Eisenacher Institutes zur Erforschung und Beseitigung des jüdischen Einflusses auf das deutsche kirchliche Leben, 1939–1946 Soldat, 1945 Entlassung, 1947 Verurteilung und Internierung im Lager Ludwigsburg, 1949 Amtsaushilfe, 1952 Vikar in Deggendorf, 1953 Pfarrvikar, 1959 Pfarrer in Hengersberg, 1970 Ruhestand, vgl. Thüringer Gratwanderungen, 281.
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alle drei Gruppen einig. Sie alle begleiteten die Gewaltpolitik Hitlers (die völkerrechtswidrige Besetzung des entmilitarisierten Rheinlandes 1936, den Überfall auf Österreich und dessen „Anschluss“ an das Reich im Frühjahr 1938, den Einmarsch in die Tschechoslowakei im Herbst 1938 und Frühjahr 1939) mit Glockengeläut und Dankgottesdiensten. Durch den Zweiten Weltkrieg wuchs der Einfluss der Deutschen Christen. Dem als provisorisches Gesamtvertretungsorgan der deutschen Evangelischen Kirche gebildeten Vertrauensrat gehörten außer dem Hannoverschen Landesbischof August Marahrens und dem Berliner Oberkirchenrat Johannes Hymmen der deutsch-christliche Bischof von Mecklenburg, Walther Schultz, an. Damit war gesichert, dass während des Krieges kein Votum gegen die Deutschen Christen, aber gewiss Voten mit starkem deutsch-christlichem Akzent veröffentlicht würden. Die Deutschen Christen verbanden trotz aller Unterschiedlichkeiten regionaler und persönlicher Art folgende gemeinsame Grundeinsichten: Die im Ersten Weltkrieg entwickelte „Kriegstheologie“ wurde unkritisch fortgesetzt und zu einer grundlegenden Kampftheologie erweitert (1). Der Deutsche Christ war hitlerverbunden. Seine Gebundenheit an Person und Werk Hitlers hat in die Geschichte der Kirche tief hinabreichende Wurzeln (2). Der Kampf galt einem „Judentum“, wie es die nationalsozialistische Partei definierte, sowie dem Marxismus in seinen vielgestaltigen Ausformungen. Der Deutsche Christ war grundsätzlicher Antisemit und Antikommunist (3). Der Deutsche Christ erstrebte eine allmählich neu gestaltete Kirche im Milieu der Kameradschaft (4). Diese vier Grundeinsichten verströmten eine spezifische Art von Spiritualität.
1.
Die Fortsetzung der Spiritualität der Kriegstheologie
Die Spiritualität der Deutschen Christen stammte aus der Kriegstheologie des Ersten Weltkrieges und wird zusammengefasst in dem Lieblingslied von Kaiser Wilhelm II. und von Dr. Joseph Goebbels „Wir treten zum Beten vor Gott den Gerechten“. Das überaus beliebte, choralartige Volkslied war der bezeichnende Gesang der evangelischen Kirche zu Beginn und während des Ersten Weltkrieges. Es wurde 1877 von Joseph Weyl gedichtet und spiegelt das Triumphgefühl des militärischen Sieges über das französische Kaiserreich 1871 wider. Joseph Weyl (1821–1898) gestaltete dazu eine niederländische Vorlage („Wilt heden nu treden“) völlig um. So kam es zu dem Titel „Niederländisches Dankgebet.“ Der Text lautet: „Wir treten zum Beten vor Gott, den Gerechten/ Er waltet und schaltet ein strenges Gericht/
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Dietrich Kuessner
Er läßt von den Schlechten die Guten nicht knechten/ Sein Name sei gelobt, er vergißt unser nicht. Im Streite zur Seite ist Gott uns gestanden/ Er wollte, es sollte das Recht siegreich sein/ Da ward, kaum begonnen, die Schlacht schon gewonnen/ Du, Gott, warst ja mit uns: Der Sieg, er war dein! Wir loben Dich oben, Du Lenker der Schlachten/ und flehen, mög’st stehen uns fernerhin bei/ daß Deine Gemeinde/ nicht Opfer der Feinde/ Dein Name sei gelobt, o Herr, mach’ uns frei!“
Die Strophen gehen inhaltlich auf alttestamentliche Bilder vom „Heiligen Krieg“ zurück, in dem das Volk Gottes ein militantes Strafgericht an den umliegenden heidnischen Völkern vollzieht. Gott verleiht den Sieg und bewahrt so sein auserwähltes Volk zum Heil der Welt. Der Sieg ist für das Volk kein Anlass zum Siegesjubel, sondern zu Gotteslob und zu demütiger Bitte um weiteren Beistand. Das Lied mit seiner feierlichen getragenen Melodie wurde neben „Deutschland, Deutschland über alles“ zum Lieblingslied von Kaiser Wilhelm II. und immer wieder bei vaterländischen Anlässen gesungen. Die deutsche Bevölkerung und ihre nationale Politik verstanden den gesuchten „Platz an der Sonne“ und die herausragende Rolle unter den Weltmächten als göttliche Sendung, nämlich der demokratischen und slawischen, also unheilvollen Welt, deutsche, christliche Kultur zu bringen. Weil dabei „Gott mit uns“, also mit den Deutschen, sei, war ein Sieg vorprogrammiert. Sehr viele Gemeindeblätter stellten diese Strophen in ihre Augustausgaben 1914 ein und verwechselten vier Jahre lang in verhängnisvoller Weise den deutschen Generalstab mit einem Gott als Schlachtenlenker. Glockengeläut begleitete die anfänglichen Siegesnachrichten, die Massaker deutscher Soldaten an der belgischen Bevölkerung und die zahlreichen Brandstiftungen interpretierten Pfarrer in Predigten als Gottesgericht. Sie bezeugten die grausige Front als eine Offenbarung und den Krieg als eine „große Tat Gottes“. Das Lied verbreitete eine Spiritualität irrationaler, hybrider Siegeszuversicht, einer wahnhaften Glaubensgewissheit sowie einer verführerischen, verderblichen Verheißung auf „die Krone des Lebens“ im Himmel nach dem Erleiden des „Heldentodes“.5 Die militärische Niederlage vom November 1918 wäre für die evangelische Kirche Anlass gewesen, über ihre Haltung im Ersten Weltkrieg und die darin verschlungenen theologischen Irrwege nachzudenken. Stattdessen sickerte das Lied „Wir treten zum Beten“ in die Gesangbücher ein. Aus dem Volkslied wurde 5 Vgl. Kuessner, Der Fluch des Sieges.
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ein vaterländischer Choral. Ein vom Deutschen Evangelischen Kirchenausschuss den deutschen evangelischen Gemeinden des Auslandes dargebotenes „Deutsches evangelisches Gesangbuch“ aus dem Jahr 1921 druckte unter Nr. 380 das Lied ab und bot unter 381 eine weitere Textform nach der gleichen Melodie.6 Das Gesangbuch für die evangelisch-lutherische Landeskirche Sachsens Ausgabe 1924 nahm das Lied unter Nr. 714 auf. Der beliebte Betheler Pastor Johannes Kuhlo veröffentlichte im Volksliederbuch 1926 vier verschiedene Sätze für vierstimmigen Posaunenchor, und fügte eine weitere Textvariante hinzu.7 Dr. Joseph Goebbels nutzte die ungeheure Popularität dieses Liedes und ließ es schon ab 1933 bei Parteiversammlungen singen. Am Ende der reichsweiten Übertragung der Wiener Führerrede anlässlich des sog. Anschlusses Österreichs sang im Frühjahr 1938 ganz Deutschland auf Straßen und Marktplätzen, wo immer es der Übertragung lauschen konnte: „Wir treten zum Beten“, ein für alle Teilnehmer unvergessliches Massenerlebnis. Der Text war in den Regionalzeitungen abgedruckt: „Bitte ausschneiden und mitbringen.“
1.1
Eine Spiritualität des Kampfes
Die Deutschen Christen betonten den unablässig kampfbetonten Charakter ihres Glaubens.8 Das war ein Erbe aus der Kriegstheologie des Ersten Weltkrieges und entsprang massiven volksmissionarischen Motiven in ihren entkirchlichten thüringischen Heimatgemeinden und andernorts.9 Die Deutschen Christen verstanden sich selber als Kämpfer. „Wir marschieren, wir marschieren, uns weckte die deutsche Not/ wir kämpfen, wir kämpfen fürs heilige göttliche Recht,/ wir stürmen, wir stürmen gegen alles, was falsch und was schlecht/ wir siegen, wir siegen, denn Gottes ist die Sach/ und seinen Standarten gehn freudig und stolz wir nach./ Wir folgen dem Herzog Christus und sei es in Not und Tod/ wir sind ja des Volkes christdeutsches Aufgebot.“
6 In Strophe 2 kehrt das Motiv vom Sieg über unheilvolle Feinde reichlich holprig wieder auf: „Wohl sinnen und spinnen noch Unheil die Feinde, berücken mit Tücken was feige und schwach. Doch sicher zum Siege führet die Gemeinde der Heiland und durch Kämpfen bleibt stark sie und wach.“ 7 „Feierlich. Für einstimmigen Knabenchor, für einstimmigen Männerchor und zum Schluss fortissimo zum Text ,Herr mach uns frei‘“, Volksliederbuch, 241–244. 8 Über die „Kampfmetaphysik“ bereits bei der christlich-deutschen Bewegung Rendtorffs: Sonne, Theologie, 107–110. 9 Über die Anfänge von Leffler und Leutheuser in ihren Kirchengemeinden im Wieratal: a.a.O; zum missionarischen Eifer für den Nationalsozialismus: a. a. O., 94–96.
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So sangen die Bremer Deutschen Christen aus ihren „Liedern der kommenden Kirche“.10 Marschieren, kämpfen, siegen war der neue Dreiklang der erhofften kommenden Kirche und deren Spiritualität.11 „Als gläubige politische Soldaten Adolf Hitlers sind wir ausmarschiert“12 mit dem Ziel: Deutschland, eine Kampfgemeinschaft für Gott gegen den Satan, für die Wahrheit gegen die Lüge, für die Liebe gegen den Hass.13 In der langen Tradition der Kirche gibt es auch entgegengesetzte Bilder: die Kirche, ein Garten Gottes, „güldner Himmelsregen, schütte deinen Segen auf der Kirche Feld, lasse Ströme fließen, die das Land begießen,“14 oder: die Kirche ein großräumiges Haus Gottes, mit vielen Räumen für unterschiedliche Menschen und Tätigkeiten. Solche Bilder atmen eine andere Spiritualität aus. Deutsche Christen dagegen lebten in einem fortwährenden Kampf.
1.2
Eine pietistisch-nationalistische Spiritualität
Eine theologiegeschichtliche Einordnung der Deutschen Christen steht noch aus.15 Sie gehören in den Gesamtzusammenhang von Pietismus und Patriotismus, wie er im 18. Jahrhundert, von Halle ausgehend, das Preußen Friedrich Wilhelms I. und lange Zeit große Teile des preußischen Adels prägte.16 Unverkennbar sind die starken pietistischen Anklänge in der deutsch-christlichen Grundlagendarstellung „Die Christusgemeinde der Deutschen“ von Julius Leutheuser aus dem Jahre 1933. Sie erreichte 1938 mit der neunten Auflage das 20. Tausend. „Umkehr zu Jesus“ lautet die zentrale deutsch-christliche Parole, denn ohne Christus ist der Fromme verloren: Christus sei der Sohn Gottes, ,,der vergeben konnte aus göttlicher Erhabenheit, wie du es nicht kannst ohne ihn; der lieben konnte ohne egoistische Hintergedanken, wie du es nicht kannst ohne ihn; der tapfer sein konnte ohne Ehrsucht, wie du es nicht kannst ohne ihn; der nicht verzweifelte wie du […]; der fröhlich war in voller Natürlichkeit, wie du es nie bist; der das Reich Gottes in sich trug, wie du es nie in dir trägst ohne ihn; der Sohn Gottes war, wie du es nie sein wirst ohne ihn; der den ewigen Vater kannte, wie du 10 Weidemann (Hg.), Lieder der kommenden Kirche. 11 „Wahrer Christenglauben könne sich gar nicht anders bezeugen als entschiedene Kampfhaltung gegenüber allen Zerstörungsmächten in der Welt“, Leutheuser, Christusgemeinde, 7. 12 A. a. O., 21. 13 Vgl. a. a. O., 15. 14 EG 135,4. 15 Eine geistesgeschichtliche Einordnung in die deutsche Romantik hat Rüdiger Safranski vorgelegt: ders., Romantik, 348–370. 16 Dazu Kaiser, Pietismus und Patriotismus; Deppermann, Pietismus.
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ihn nie kennen wirst ohne ihn; der zum Vater ging, zu dem du nicht kommst ohne ihn; der auferstand, wie du nie auferstehst ohne ihn“.17
Der hämmernde persönliche Appell gilt den einfachen Leuten, dem kirchenfremden Arbeiter, dem vom Wirtschaftsstillstand bedrohten Handwerker in der Kleinstadt – sie sollen gewonnen werden für das Reich Gottes mit Christus. Niemals also ohne Christus. Mit Christus gelte es, das Reich Gottes zu bauen im Wieratal, wo Leutheusers Kirchengemeinde lag, in Thüringen und in Deutschland. „Der dir hilft, aus dem Reich der Deutschen ein Gleichnis des Reiches Gottes zu bauen“, endet dieser enthusiastische Abschnitt. Diese pseudo-pietistische Spiritualität lenkt den Blick ganz allein und alternativlos auf Christus und kennt keinen anderen Weg zum persönlichen Heil und zum Reich Gottes. Christus wird als eine Kraft gepredigt, die den einfachen Menschen pfingstartig überfällt als jemand, „der den heiligen Geist schenkt, wie du ihn nie hast ohne ihn, der den Himmel ausstrahlte in die Welt, wie du es nicht kannst ohne ihn; der aus deinem Volk eine Gemeinde Gottes macht, wie du es nicht kannst ohne ihn; der dir hilft aus dem Reich der Deutschen ein Gleichnis der Reiches Gottes zu machen“.18
„Deutschland ist unsere Aufgabe, Christus ist unsere Kraft“19, lautete das charismatische Christusverständnis. Es hob sich deutlich ab von dem traditionellen, dogmatisch korrekten Bild von Christus als einem Wundertäter, der in altkirchliche Bekenntnisse eingesperrt und agendarisch hölzern rezitiert werde. Die traditionellen Kirchen wirkten auf sie ohnmächtig und ohne Wagemut. Diese Beschreibung war ein Reflex auf das in Thüringen daniederliegende kirchliche Leben. Das Programm der deutsch-christlichen Bewegung war hochgradig volksmissionarisch: Es gelte „die Hindernisse für den Durchbruch eines Menschen zum Glauben an Gott wegzuräumen und „Anmarschlinien auf[zu]zeigen, auf denen der einzelne gottsuchende deutsche Mensch zu unserer Gemeinde stoßen kann.“ „Macht euch auf mit der Kraft des Glaubens an Gott, wie sie euch Jesus schenkt, und sammelt alle deutschen Menschen, die Gottes Gebot, Deutschland zu bauen, erfüllen wollen in einer gläubigen deutschen Gemeinde.“20
17 Leutheuser, Christusgemeinde, 9. 18 A. a. O. 19 Dieser Grundsatz war im Entwurf links und rechts von der Kanzel der Kirche in Rottleben angebracht, vgl. Böhm, Deutsche Christen, 185. 20 Leutheuser, Christusgemeinde, 19.
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Eine Heilands-Spiritualität
Das meistgebrauchte Wort für Jesus in dieser Programmschrift ist das Wort „Heiland“,21 typisch für den traditionellen Pietismus. Das erstrebte Gemeindebild „gleicht der singenden, todesmutigen, im Leben fröhlichen, untereinander verträglichen Urgemeinde des Heilands“.22 „Wir wollen glauben lernen […] an den einen Heiland, der von der Liebe Gottes und seiner Vergebung kündet als dem Reich der Kraft und der Herrlichkeit. Darum lautet schlicht und einfach der erste Satz unseres Programms: Wir Deutschen Christen glauben an unsern Heiland Jesus Christus, an die Macht seines Kreuzes und seiner Auferstehung.“23
Die Deutschen Christen bekannten darum, dass der Name Jesus „groß, gewaltig, kraftspendend, offenbarend und versöhnend genug ist, um auf ihn trauend die ewige, Licht und damit die Kraft spendende Gemeinde des Glaubens an den Sieg des Reiches Gottes zu bauen“.24 Es sei die Erfahrung in der Gemeindearbeit im Wieratal gewesen, wie der Heiland durch die Gegenwart schreitet, sichtlich auch durch die Geschichte der letzten Jahrzehnte in Deutschland. Dort wurde er unmittelbar erlebt und erkannt. Aber auch in der persönlichen Lebensgeschichte werde Christus erlebt. „Wohnt nicht mehr Christus in mir, so schlägt der Satan seine Wohnung in mir auf.“25 Der Schlusssatz der Grundsatzerklärung lautet: In der gläubigen deutschen Gemeinde „ist Christus gegenwärtig als Geist des gnädigen und vergebenden Gottes, als das Feuer heiliger Opferbereitschaft, als die Kraft des Glaubens“.26 Die Verbindung des Pietismus mit dem Nationalismus war durch Johann Gottlieb Fichtes Reden an die Deutsche Nation 1807 und die Wirksamkeit Ernst Moritz Arndts (1769–1860) während der Besetzung Deutschlands durch Napoleon vorbereitet.27 Damals entstand jene verführerische, religiöse Verklärung Deutschlands, die in der Bismarckzeit nicht etwa kritisch hinterfragt, sondern durch nationalprotestantische Predigten und Erklärungen vertieft wurde. Die Nation wurde zum Abgott und das deutsche Vaterland ein Heilsgut. Das deutsche Vaterland wurde mit göttlichen Attributen wie „ewig“ und „unvergänglich“ ausgestattet. 1913 dichtete der junge Rudolf Alexander Schröder: „Heilig Vaterland, in Gefahren. Sieh uns all entbrannt, Sohn bei Söhnen stehn/ Du sollst
21 22 23 24 25 26 27
Heiland noch a. a. O., 22f.26–31. A. a. O., 19. A. a. O., 22. A. a. O., 21. A. a. O., 25. A. a. O., 31. Dazu Staats, Ernst Moritz Arndt.
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bleiben Land. Wir vergehn.“ Daher hatte der Tod für das Vaterland Märtyrercharakter. Der Begriff eines „Dritten Reiches“ hatte an sich bereits einen eschatologischen Klang. Der Nationalsozialismus stellte sich bewusst in diese Tradition von Pietismus und Patriotismus und ließ seine Jugend anbetend singen: „Deutschland, heiliges Wort, Du voll Unendlichkeit/ über die Zeiten weit/ seist du gebenedeit.“ Der 1938 erschienene Roman von Jochen Klepper „Der Vater“, der die Persönlichkeit Friedrich Wilhelms I. beschreibt, ist ein exzellentes Beispiel dafür, dass im Hitlerreich die Verbindung von Patriotismus und Pietismus anhielt und nicht zerbrechen sollte. Der Roman verbreitet die Spiritualität der preußischen Tugenden Gottesfurcht, Pflichterfüllung, Obrigkeitstreue. In manchen Pfarrhäusern wurde König Friedrich Wilhelm I. vor allem im Zusammenhang mit dem lyrischen Werk Kleppers als Gegenbild zum „Führer“ verstanden. Aber auch Hitler empfahl den Roman der Wehrmacht zur Lektüre. An diese Traditionen knüpften ausdrücklich die Deutschen Christen an. Gottes Reich und Deutsches Reich hätten 1813 einen Bund miteinander geschlossen. Treue zu Gott und Treue zu Deutschland, Glaube an Gott und Glaube an Deutschland, Liebe zu Gott und Liebe zu Deutschland seien „unlösbar miteinander verbunden“28. Die Deutschen Christen nahmen die synkretistische Mischung von Glaube und Nation aus den Freiheitskriegen auf und verhalfen diesem irreführenden Ineinander zu einer verbreiteten, betörenden Wiederkehr. Die Lieder von Ernst Moritz Arndt gehörten zum festen Bestandteil des deutschchristlichen Liedgutes.29 Beten und Sterben für Gott und Vaterland sind nach Arndt typisch männlich. „Wer ist ein Mann? Der beten kann“, beginnt ein Lied.30 In Strophe zwei des bekannten Liedes vom Gott, der Eisen wachsen ließ, heißt es: „O Deutschland, heilges Vaterland, o deutsche Lieb und Treue […] Ihr Deutschen, alle Mann für Mann fürs Vaterland zusammen […], wir wollen heute, Mann für Mann, zum Heldentode mahnen“.31
In dieser Gedankenwelt entstand das synkretistische, von den Deutschen Christen gepflegte Ineinander von Gottesreich und Drittem Reich. Daher konnten die Deutschen Christen die Märztage 1933, in denen Hitler die Regierung im „Dritten Reich“ antrat, als einen „Wiederdurchbruch echter Glaubenshaltung“ interpretieren. Es siegte nämlich der religiöse Glaube Hitlers an
28 A. a. O., 4. Dazu Sonne, Theologie, 72–75. 29 Vgl. Weidemann (Hg.), Lieder der kommenden Kirche, Nr. 93 sowie Nr. 38 („Großer Gott wir loben dich“). 30 Weidemann (Hg.), Lieder der kommenden Kirche, Nr. 45. 31 Der neue Dom, Nr. 337, 4,
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Deutschland. Der Regierungsantritt war also eine „Glaubenstat“ gewesen.32 Diese fürchterliche Verirrung war keine Erfindung der Deutschen Christen, sondern ein jahrhundertelang nicht bearbeiteter Götzendienst am „Altar des Vaterlandes“. Trotz der schauerlichen Kriegstheologie, in der das Evangelium missbraucht, das Christusbild und Gott als „Lenker der Schlachten“ verzerrt, das Kirchenjahr zerstört und die Grundaussagen der Kirche im Kern getroffen wurden, entstand im Umfeld dieses verqueren Pietismus- und Patriotismusverständnisses eine bezeichnende, mal begeisternde, mal zerstörerische Spiritualität. Sie hatte die Absicht einer Rechristianisierung Deutschlands als Tat Gottes in der eigenen Sprache ihrer Zeit, nämlich des Nationalsozialismus.
2.
Der synkretistische Jesus-Hitler-Enthusiasmus
Diese pseudopietistisch-patriotische Religiosität der DC vermischte sich mit einem religiös gefärbten, enthusiastischen Hitlerbild. Hitler sei, so Leutheuser, „der Mund Gottes“,33 so wie es schon die Männer der Freiheitskriege, Schill, Scharnhorst, Gneisenau, Blücher und Arndt gewesen seien. Diese hätten an Deutschland geglaubt, und auch Hitler habe sich zu einem „Instrument des Glaubens an Deutschland“ machen lassen.34 Nicht nur für die Deutschen Christen war Hitler ein charismatischer Politiker. Der Hitlerenthusiasmus der deutschen Bevölkerung war eine Fortsetzung ihrer Kaiser- und Hindenburgverehrung. So wie Kaiser Wilhelm für einen großen Teil der Bevölkerung den triumphalen Aufstieg des Kaiserreiches und Hindenburg deutsche Treue und Siegeszuversicht verkörperten, so werde Adolf Hitler das nunmehr Dritte Reich zu Sieg und Glanz führen. Hitler brachte keinerlei berufliche wie charakterliche Voraussetzungen für das Amt eines Reichskanzlers mit. Er hatte nie auch nur ein Ministerium geleitet. Er hatte nichts gelernt und kein selbständiges Leben geführt. Umso wichtiger war es, dass die Begeisterung, die dem Kaiser Wilhelm und dem Reichspräsidenten Hindenburg gegolten hatten, nun auf Amt und Person Hitlers überschwappte. Hitler war mit seinen 43 Jahren im Vergleich zu seinen Vorgängern ein sehr junger Reichskanzler. Aber er markierte zugleich insbesondere in seinen dem Regierungsantritt folgenden Wahlreden den jungen, großsprecherischen Wilden. Er löste für die religiöse Wahrnehmung mehrheitlich eine pfingstähnliche Be32 Vgl. Leutheuser, Christusgemeinde, 7. 33 Leutheuser, Christusgemeinde, 23: „Es war uns so, als ob Christus durch Deutschland ging und Adolf Hitler sein Mund war“. 34 A. a. O., 6. Auch Sonne, Theologie, 90–94.
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geisterung aus. Der Regierungsantritt Hitlers wurde immer wieder von den Kirchen als eine hilfreiche, „große Tat“ Gottes verkündigt, am lautesten von den Deutschen Christen. Die Deutschen Christen waren in ihrem unbedingten Hitlergehorsam keine Ausnahme in der evangelischen Kirche. Hitler war als der vom Reichspräsidenten beauftragte Reichskanzler ab Januar 1933 für die evangelische Kirche die von Gott gesetzte Obrigkeit. Sie empfahl den evangelischen Kirchengemeinden zwölf Jahre lang Gehorsam und Treue gegenüber dem Reichskanzler und Führer. Diese Einstellung wurde im sonntäglichen Gottesdienst den Gottesdienstbesuchern mit dem traditionellen Fürbittgebet für die Obrigkeit ausdrücklich nahegebracht. In der bayerischen Landeskirche war 1935 ein Gebetbuch veröffentlicht worden, worin nicht nur allgemein „für alle, die uns regieren“ gebetet wurde, sondern für jede Kirchenjahreszeit auch ein Gebet mit ausdrücklicher Erwähnung des Führers abgedruckt war. „Lasset uns bitten für unsere Kirche, dass sie auch im neuen Jahr bei deiner reinen Lehre bleibe; für unser Volk und seinen Führer, dass Gott mit seinem Segen über ihm in Gnaden walte“ (Silvester). „Nimm unser Vaterland und seinen Führer in deinen gnädigen Schutz. Überwinde in unserm Volk die Mächte der Finsternis“ (Epiphanias). „Schenke deinen Osterfrieden aller Welt, auch unserem Volk und Land. Sei mit dem Führer unseres Volkes und aller Obrigkeit. Regiere du in unsern Häusern und Schulen“ (Ostern).35
Die Gottesdienstgemeinde wurde durch das Gebet anhaltend mit Hitler als Obrigkeit verbunden. Mit ihren Gebeten eilte die evangelisch-lutherische Kirche Woche für Woche Hitler weit entgegen, unter ihnen auch die Deutschen Christen, die ihr deutsch-christliches Hitlerbild bis weit in die Kirchliche Mitte verbreitet sehen konnten. Hitler galt als frommer Mann, wie schon Wilhelm II. und Hindenburg als fromme Oberhäupter gegolten hatten. Im Gegensatz zu beiden war Hitler aber kein Kirchgänger, außerdem römisch-katholisch. Um das Bild eines frommen Reichskanzlers in der Bevölkerung zu befestigen, wurde in vielen evangelischen Gemeindeblättern folgende Geschichte als historisch weiterverbreitet: Einige Diakonissen besuchen zusammen mit dem Betheler Posaunenvater Kuhlo auf dem Obersalzberg Hitler. Angetan von den Volksweisen, die Kuhlo über die Alpengipfel ertönen ließ, bittet er die Gesellschaft in sein Arbeitszimmer und zeigt ihr Gemälde von Luther, Friedrich d. Gr. und Bismarck. Als sich eine Diakonisse ein Herz fasst und Hitler fragt, woher er die Kraft für seine „politischen 35 Dietz, Gebet der Kirche. Kuessner, Ansichten, 324–348 („Die Bindung der Pfarrerschaft an Person und Werk Hitlers“).
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Reformen“ sammle, zieht Hitler ein abgegriffenes Büchlein aus der Rocktasche. Es ist ein Neues Testament. „Aus Gottes Wort“, erwidert Hitler der Diakonisse.36 Diese Legende verbreitete das Bild einer christlich gefestigten, persönlich gelebten spirituellen Ausstrahlung: Luthers Bild im Besuchszimmer, das Neue Testament immer griffbereit in der Rocktasche, die viermalige Erwähnung der christlichen Kirchen in seiner Antrittsregierungserklärung, die das Fundament seiner nationalsozialistischen Regierungsarbeit sein sollten – so entstanden die Umrisse eines autoritären christlichen Staatsmannes. Diese Legende kursierte im Jahre 1933 und blieb deshalb lange haften, weil Hitler selber bei seinen öffentlichen Auftritten immer wieder von Gott sprach, sogar die Gebetssprache bemühte. Nach 1945 wurde apologetisch Hitler jeder christliche Glaube abgesprochen, er habe nur vage von „einer Vorsehung“ gesprochen und die christlichen Kirchen ausrotten wollen. Diese Redeweise sollte das tatsächliche, positive Hitlerbild in der Deutschen Evangelischen Kirche verhängen.37 Je länger die Regierungszeit Hitlers dauerte und bis 1941 von außenpolitischen Erfolgen gekrönt war, vertiefte sich in der evangelischen Kirche das Bild eines von Gott gesandten und in seiner Amtsführung von Gott gesegneten deutschen Politikers. Einen Höhepunkt erlebte es zum 50. Geburtstag Hitlers am 20. April 1939. Man trete „in Freude und Dankbarkeit vor den Allmächtigen, der uns in Adolf Hitler, dem Baumeister von Gottes Gnaden, aus Not und Schande, Zerrissenheit und Ohnmacht zu Freiheit und Ehre, Einigkeit und Stärke geführt und Millionen von Volksgenossen vom Fluch der Arbeitslosigkeit erlöst“ habe, tönte es aus der badischen Landeskirche.38 Eine Diakonisse dichtete aus diesem Anlass: „Ein Volk zum Herrgott hebt die Hand: Herr segne Flamm und Schwert/ Du hast sie segnend uns gesandt, mach uns der Flamme wert/ Ihn, der das Feuer hat entfacht, laß, Herr, gesegnet sein/ sei mit ihm, wenn er hält die Wacht, erhalt die Flamme rein.“39 Der Hitlerenthusiasmus überschlug sich in Glaubenswahn. Gott möge Hitler als Feuerentfacher von Kirche und Volk segnen. Für alle, auch für Diakonissen, sichtbar, hatte Hitler 1936 ein Feuer über Guernica und im November 1938 in den Synagogen in fast allen Städten Deutschlands entzündet.
36 Braunschweiger Sonntagsgruß 28. 01. 1934; auch Pastor Nacke im Kasseler Sonntagsblatt. 37 Es dauerte lange, bis die römisch-katholische Kirche zugab, dass Hitler ein Mitglied ihrer Kirche gewesen, nicht exkommuniziert und sein Buch „Mein Kampf“ nicht auf den Index gesetzt worden war. Erst Friedrich Heer stellte in bisher nicht bekannter Dichte die sehr zahlreichen religiösen Aussagen Hitlers zusammen: ders., Der Glaube des Adolf Hitler. Ein anderer katholischer Österreicher, Rainer Bucher, befasst sich erneut mit den religiösen Aussagen Hitlers unter dem gewagten Titel: ders., Hitlers Theologie. 38 Gesetzes- und Verordnungsblatt für die Vereinigte evangelisch-protestantische Landeskirche Badens, Karlsruhe, 18. April 1939, 37. 39 Blätter aus dem evangelischen Diakonieverein 43/1939, 46.
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„Am heutigen Tag vereinen wir“ – 16.000 evangelische Geistliche – „uns mit allen unseren Gemeinden in dem Gefühl demütigen Dankes vor dem lebendigen Gott, dass er uns zur rechten Zeit den Führer geschenkt und durch ihn den Weg des deutschen Volkes aus der Tiefe der Ohnmacht und der Schmach in machtvollem Aufschwung zur leuchtenden Höhe Großdeutschlands gelenkt hat“. So gratulierte der Reichsbund der deutschen evangelischen Pfarrervereine und fügte das Bibelwort an: „Hilf du, mein Gott, deinem Knechte, der sich verlässt auf dich.“40
Die Anhänglichkeit der Kirche äußerte sich besonders innig nach den missglückten Attentaten auf Hitler im November 1939 und im Juli 1944. Die „Junge Kirche“, das Blatt der Bekennenden Kirche, sprach am 18. November 1939 von dem „tiefen Entsetzen und Empörung“, die alle Kreise des deutschen Volkes erfüllt habe. „Wir danken für die so außerordentliche Bewahrung des Führers“.41 Deutlicher waren die Danktelegramme nach dem gescheiterten Attentat am 20. Juli 1944: „Mit Dank gegen Gott für die gnädige Errettung grüßt den Führer mit dem Gelöbnis hingebenden Einsatzes und weiterer treuer Fürbitte in diesen entscheidungsvollen Stunden des Krieges Die Pommersche evangelische Kirche“.42 In einem internen Brief an seine Hannoversche Pfarrerschaft schrieb Landesbischof Marahrens am 24. Juli 1944: „Der verbrecherische Anschlag, der dem Leben des Führers galt, ist in seinen unübersehbaren Folgen, die er für unser Volk in seinem Kampf auf Leben und Tod gehabt haben würde, durch Gottes Gnade abgewandt“.43 Die Wortwahl der amtierenden Deutschen Christen ist nur eine Nuance enthusiastischer: „Über die wunderbare Errettung des geliebten Führers bringt die Evangelisch-lutherische Landeskirche Sachsens durch mich ihre herzliche Freude zum Ausdruck. In unerschütterlicher Siegeszuversicht Heil dem Führer Präsident Klotsche Ehrenzeichenträger“.44 Um die Gestalt Hitlers hatte sich für die Mehrheit der evangelischen Deutschen eine Art sakraler Strahlenkranz von Segen, Gnade, Schutz und Schirm verselbständigt, wie die Kirche ihn sonntäglich pflegte. Die Gebete und Solidaritätserklärungen entfalteten auf die Dauer einen spirituellen Hitlermythos. Die evangelische Pfarrerschaft fühlte sich in ihrer großen Mehrheit auch persönlich durch die mehrfache Eidesleistung auf die Person Hitlers und die Gesetze seiner diktatorischen Führung verpflichtet. Sie war durch die dreimalige Eidesleistung, nämlich durch den Beamteneid bei Dienstantritt, den freiwilligen Huldigungseid von 1938 und die Hälfte der Pfarrerschaft zu Beginn des Kriegsdienstes durch den Fahneneid an Hitler gebunden. 40 41 42 43 44
Deutsches Pfarrerblatt Nr. 16, 18. April 1939; Kuessner, Russlandfeldzug, 109. Junge Kirche 7. Jahrg. Heft 22, 18. November 1939. Kirchliches Amtsblatt der Kirchenprovinz Pommern, 29. Juli 1944. Kück (Hg.), Zur Lage der Kirche, 1709; Kuessner, Russlandfeldzug, 116. Kirchliches Gesetzes- und Verordnungsblatt der ev.-luth. Landeskirche des Freistaates Sachsen, 31. Juli 1944.
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Ihren musikalischen Ausdruck fand die Hitlerverehrung in der Choralrevision der in dieser Zeit in manchen Landeskirchen entstandenen Gesangbuchanhänge. Das Landeskirchenamt der sächsischen Landeskirche hatte 1935 bereits in 6. Auflage „Deutsche Kirchenlieder“ veröffentlicht. Dort heißt es in einem 1933 von Pfarrer Walter Schäfer getexteten Lied: „Die Kirche Gottes steht im Streit“, Gott habe sich wunderbar bezeugt, „des Satans böse Nacht verscheucht,“ nämlich die böse Weimarer Republik, „dem Führer hat er geholfen“.45 In einem anderen Lied vom selben Verfasser wird Gott als „die Sonne voller Gluten“ beschrieben, als ein „Gestirn der neuen Zeit“, die Schäfer offenbar mit dem 30. Januar 1933 angebrochen sah.46 Von Julius Sturm stammte das Lied „Ein Haupt hast du dem Volk gesandt“, nämlich den Kaiser. In dem „Gesangbuch der kommenden Kirche“, das der Bremer Bischof Weidemann 1939 veröffentlichte, wurde das Wort „Kaiser“ durch das andere zweisilbrige „Führer“ ersetzt. So hieß es denn von Adolf Hitler: „Mit Frieden hast du uns bedacht/ den Führer uns bestellt zur Wacht/ zu deines Namens Ehre.“ Strophe drei: „Verwirf, Gott, unser Flehen nicht/ laß auf des Führers Wegen/ dein huldvoll heilig Angesicht/ ihm leuchten uns zum Segen“.47 Bedenklicher war die Einfügung des Führers in das Lutherlied „Verleih uns Frieden gnädiglich.“ In dem von Oberlandeskirchenrat Mahrenholz besorgten Anhang zum Hannoverschen Gesangbuch lautete die zweite Strophe seit 1938: „Gib unserm Führer und aller Obrigkeit Fried und gut Regiment“.48 Auf die Melodie „Herzlich lieb hab ich dich, o Herr“ konnte in Hannoverschen Kirchengemeinden folgender Text gesungen werden. „Den Führer schütze deine Macht./ Er, der für unsre Wohlfahrt wacht,/ ist uns von dir gegeben./ Du, der in ihm so viel uns gibt/ schenk ihm, der sein Volk treulich liebt/ ein reichlich langes Leben./ Gott laß auf ihm und seinem Tun/ den allerbesten Segen ruhn/ laß deiner Räte Werk gedeihn/ Recht, Ordnung, Treu das Land erfreun!/ Herr, unser Gott, in deiner Hand/ ist unser Land./ Beglück es, segne jeden Stand.“49
Diese Verbindung zum Führer Hitler sollte von Kindheit an eingeprägt werden. Die Kindergottesdiensthilfen, die in der Thüringer Landeskirche von Landesjugendpfarrer Hugo Rönck, dem späteren Landesbischof, herausgebracht wurden, sind dafür ein treffendes Beispiel. Oft am Ende eines durchaus noch traditionell kindgemäßen Kindergottesdienstes gedachte die Kindergottesdienstgemeinde in 45 46 47 48 49
Deutsche Kirchenlieder, Dresden 1935, Nr. 55. A. a. O., Nr. 56 („Ein Feuer hat er entzündet“). Weidemann (Hg.), Gesangbuch der kommenden Kirche, Nr. 97, 1–3. Hannoversches Kirchengesangbuch 1938, Nr. 519. A. a. O., Nr. 521.
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Verbindung mit dem Schlusssegen des Führers. „Gottes Segen bleibe bei uns. Gottes Liebe geleite uns! Gottes Treue mache uns tapfer in der Treue zu Führer und Volk,“50 oder: am 15. Oktober 1939 unter dem Leitgedanken „Wir pflügen und wir streuen“ von Matthias Claudius nach dem Vaterunser „Herr, segne den Acker und segne das Brot und hilf uns allen aus der Not. Herr, segne den Führer, das Volk, das Land, gib uns den Frieden durch deine Hand“.51 So entstand eine liturgisch gefestigte Spiritualität der Hingabe, des Gehorsams, der Widerstandsunfähigkeit, des gläubigen Aufschauens, sodass ein Deutschland ohne Hitler für sehr viele Kirchenmitglieder unvorstellbar war. So wie 1918 der Kaiser ohne Alternative gedacht und verehrt worden war, so auch Adolf Hitler 1945. Auf den Tod des Ehepaares Hitler folgte in Deutschland eine massenhafte Selbstmordwelle: eine gespenstische Spiritualität.52
3.
Eine antisemitische Frömmigkeit
Punkt 4 des Parteiprogramms der NSDAP lautete: „Kein Jude kann Volksgenosse sein“. Jedes Parteimitglied war zum Antisemitismus verpflichtet. Die Deutschen Christen arbeiteten daher konsequent an einer „judenfreien“ evangelischen Kirche und gründeten dazu 1939 in Eisenach das „Institut zur Erforschung und Beseitigung des jüdischen Einflusses auf das deutsche kirchliche Leben“. Ziel war ein „arischer Jesus für eine arische Kirche“.53 Diese spezifische Spiritualität schlug sich in den von den Deutschen Christen in Eisenach und Bremen herausgegebenen Gesangbüchern sowie in Gottesdienstentwürfen, Bibelausgaben und katechetischen Vorschlägen nieder.54 Der deutsch-christliche Bremer Bischof Heinz Weidemann gab 1938 in einer ansprechenden hellen Leinenausgabe „Lieder der kommenden Kirche“ heraus und wenig später ein ausführliches „Gesangbuch der kommenden Kirche“ (1939). 1941 erschien in Thüringen das deutsch-christliche Gesangbuch „Großer Gott wir loben dich. Der neue Dom.“ Das heftige Bemühen galt einer „Eindeutschung“ jüdischer Bilder und Wörter: „Wohl dem, der einzig schauet nach Jakobs Gott und Heil“ hieß im neuen Dom: „Wohl dem, der einzig schauet nach seinem Gott und Heil“; „jedoch weil ich gehöre gen Zion in sein Zelt“ hieß im neuen Dom: „Und weil ich dem gehöre, 50 51 52 53 54
Die feste Burg, 5. A. a. O., 8. Vgl. Goeschel, Selbstmord, 230; Kuessner, Ansichten 586f. Schenk, Der Jenaer Jesus, 223. Vgl. Weidemann (Hg.), Lieder der kommenden Kirche; Heinonen, Anpassung und Identität, 181–199 („Lieder als Träger deutsch-christlicher Bestrebungen“; Gregor, Von jüdischem Einfluss befreit; Kück, Kirchenlied im Nationalsozialismus, 193–211 („Die deutsch-christliche Gesangbuchreform“).
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der alles trägt und hält“.55 Die vierte Strophe von Neanders „wunderbarer König“ beginnt mit einem zweifachen Halleluja – die Strophe wurde im neuen Dom kurzerhand gestrichen; dessen dritte Strophe „Er ist Gott, Zebaoth, er nur ist zu loben“ lautete: „Er ist Gott, unser Gott, er ist nur zu loben“.56 Die zweite Strophe des Adventsliedes „Wie soll ich dich empfangen“ besingt in Erinnerung an den Einzug in Jerusalem: Psalmen und Palmen; im neuen Dom lauteten die beiden Verse: „Wir brechen grüne Zweige und zünden Lichter an, viel Freud wird uns zu eigen und fängt zu blühen an“.57 Statt „von Jesse war die Art“ singt man im neuen Dom „von wunderbarer Art“; „das Röslein, das ich meine, davon Jesaja sagt“, hieß nun „das Röslein, das ich meine, davon die Kunde sagt“.58 Es sind keineswegs nur redaktionelle Änderungen, sondern Bausteine für die Fiktion eines arischen Jesus. Sie bedeuten einen fundamentalen Eingriff in die vom Alten Testament ausgehende Spiritualität. Auch in den Entwürfen für die deutsch-christlichen Gottesfeiern wurde penibel auf die Vermeidung von jeder jüdischen Vokabel geachtet. Geradezu verheerend jedoch wirkte sich der Verzicht auf die Verwendung von Psalmen in den sog. gottesdienstlichen Entwürfen aus. An die Stelle der farbigen, mit Gott hadernden und streitenden und ihn lobenden Psalmen traten platte deutsche Prosaverse. Als Lobgesang bietet die Ordnung der Gottesfeier zum Pfingstfest folgendes Wechselgebet zwischen Pfarrer und Gemeinde an: „P. Wir preisen das stolze Morgenlicht/ G. Wir grüßen der Erde Angesicht/ P. Wir preisen die Engel und seligen Geister/ G. Wir grüßen die Menschen und Führer und Meister/ P. Wir preisen den Kampf und den letzten Schrei/ G. Wir grüßen den Tag und des Abends Schalmei. / P. Wir wandern durch singende, siegende Zeit/ G. Wir preisen dich Gott in Ewigkeit.“59
Außer den deutsch-christlichen Resolutionen, Zeitungen, Gesangbüchern, Gottesdienstentwürfen ist der Kirchbau ein exzellentes Beispiel für deutsch-christliche Spiritualität. Der Kirchbau zur Zeit des Nationalsozialismus ist ein wenig behandeltes Thema, weil es die Vorstellung eines Kirchenkampfes erheblich stört. Insgesamt 1.000 katholische und evangelische kirchliche Gebäude, Gemeindesäle, Friedhofskapellen sind zwischen 1933 und 1945 in fast allen Landeskirchen errichtet oder umgebaut worden. Das Berliner Forum für Geschichte 55 56 57 58 59
Der neue Dom, Nr. 5,2.4. A. a. O., Nr. 11,3. A. a. O., Nr. 133,2. A. a. O., Nr. 145,1.2. Die Gottesfeier o. J. Dazu das platte, gestelzte Pfingstgebet: „Herr, dein Wort segnet jeden Winkel im Land. Es kreiset in aller Zeit deine Kraft heilig im Volke, Allschaffender, Gott und Vater.“
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und Gegenwart hat in einer umfassenden Ausstellung in der Gedenkstätte Deutscher Widerstand in Berlin und danach in München, Braunschweig, Düsseldorf seit 2008 auf diesen Tatbestand aufmerksam gemacht.60 Der Kirchbau ging, zwar erheblich eingeschränkt, sogar im Krieg weiter, wie z. B. die heutige Wichernkirche in Braunschweig-Lehndorf zeigt, die am Erntedankfest 1940 eingeweiht wurde. Ein besonders prägnantes Beispiel ist die von Luftangriffschäden verschonte Martin-Luther-Gedächtniskirche in Berlin-Mariendorf. Das Relief eines Soldaten in Uniform trägt den hohen Sockel des Taufsteines, ein heroischer Christus ist als Altarkreuz abgebildet, in einem Triumphbogen wechseln christliche und nationalsozialistische Symbole ab. Das Altarbild der Lübecker Lutherkirche „Die Deutsche Familie“ wurde nach dem Krieg in einen Vorraum umgesetzt. Ein Kreuzigungsfresko der Offenbacher Lutherkirche bildet einen der Schächer als Juden ab in der Art der zeitgenössischen Karikatur. Für die katholische Pfarrkirche in Starnberg stiftete der NSDAP-Kreisleiter und Bürgermeister ein großes Wandbild mit der Muttergottes als „Helferin der Christenheit gegen den Bolschewismus.“ Die 1938 fertiggestellte Nürnberger Reformationskirche als monumentaler Zentralbau mit drei martialischen Türmen interpretierte der Architekt als Ausdruck „herber, kämpferisch-heldischer Zeit“.61 Die Breite des kirchlichen Bauens zwischen 1933 und 1945 ist ein weiteres Kennzeichen der Ausbreitung von deutsch-christlicher Spiritualität in der ganzen Deutschen Evangelischen Kirche.
4
Eine Spiritualität des Antikommunismus
Die große Mehrheit der deutschen Bevölkerung empfand die ersten sechs Jahre der Hitlerherrschaft als Friedensjahre. Tatsächlich aber waren es wegen der massiven Aufrüstung Kriegsjahre und dienten zur „Reinigung“ der Bevölkerung von Kommunisten und Sozialdemokraten, bürgerlichen Widerständlern und Juden, die terrorisiert, verhaftet, ausgeplündert, ermordet oder zur Ausreise gezwungen wurden. 1933–1938 waren daher schon Kriegsjahre. Trotz Bedrückung und Einschränkungen war laut der Volkszählung 1939 die Zahl der evangelischen Kirchenmitglieder leicht angestiegen. Hitler propagierte es als seine Aufgabe, in den nächsten Jahren nun auch ganz Europa von Juden und Kommunisten zu reinigen. Diese Mordidee stieß bei den Deutschen Christen 60 Siehe Endlich/Geyler von Bernus/Rossie (Hg.), Sakrale Kunst im Nationalsozialismus; Rammler/Strauss (Hg.), Kirchenbau im Nationalsozialismus; auch: Böhm, Kirchbau, 171– 195. 61 Alle Beispiele nach Rossie, Kirchenkunst und Ideologie, Zit. 45.
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auf grundsätzliche Zustimmung. Im Sieg über den Bolschewismus liege der letzte Sinn unseres Handelns, in dieser Auseinandersetzung stehen sich Teuflisches und Göttliches gegenüber.62 Die Deutschen Christen, die sich von Anfang an zum Antisemitismus und Antikommunismus bekannt hatten, erlebten in den folgenden sechs Jahren einen ungeahnten Zuspruch zu ihren Grundsätzen, auch wenn sich der kirchenfremde Teil der nationalsozialistischen Partei feindselig von ihnen abwandte. Der tief sitzende Antikommunismus kam im Sommer 1941 mit dem Überfall der deutschen Wehrmacht auf die Sowjetunion zu einem Höhepunkt. Die evangelische Kirche versicherte Hitler ihre uneingeschränkte Unterstützung. Der Herr der Weltgeschichte, der „um das namenlose Verbrechen, das der Bolschewismus als organisierte Macht der Gottlosigkeit auf sich geladen“ habe, vollziehe nun sein Gericht durch die siegreiche Wehrmacht. „Wir zweifeln nicht, dass diese weltgeschichtliche Stunde für den Todfeind völkischen Lebens, aber auch der Kultur und Gesittung, des Glaubens und des Christentums, geschlagen hat“.63 Landesbischof Marahrens gelobte für die evangelische Kirche, sie werde ihre Kraft restlos einsetzen in dem geistlichen Ringen gegen die widergöttlichen Mächte des internationalen Kommunismus und Atheismus für die gottgeschenkten Kräfte des Glaubens, des Volkstums und der heimatlichen Erde.64 Es ist „ein Kampf für ein neues Europa“, so das Deutsche Pfarrerblatt.65 „Herr Gott, Dir danken wir. Für den Führer, für alle Männer, die Du unserm Volk gegeben hast, dass sie unsere Wehrmacht zum Siege führen“, tönt das Evangelische Deutschland.66 Die Allgemeine Ev.-Luth. Kirchenzeitung stellte sich hinter das Kriegsziel einer „Vernichtung“ des Gegners. Die Vernichtung sei das „eigentliche Gesetz des Krieges“.67 Die Kirche trat diesem Kriegsziel nicht entgegen, sondern Hanns Lilje lobte den Krieg in dieser Zeit „als geistige Leistung“.68 Die zweiten sechs Kriegsjahre erzeugten keine neue Spiritualität, die es nicht auch schon im Ersten Weltkrieg gegeben hatte. Dämonisierung des Gegners, Vernichtung als Kriegsziel, der Soldat als Vollzieher eines Gottesgerichtes waren bereits 1914 ausgeprägt. Das Feldgesangbuch enthielt im ersten Teil bekannte, traditionelle, von Hebraismen gereinigte Choräle und in einem zweiten Teil vaterländische Gesänge, wie sie in den deutsch-christlichen Gesangbüchern bereits verzeichnet waren, 62 Vgl. Meier, Die Deutschen Christen, 255. 63 Landesbischof Tügel in: Gesetze, Verordnungen und Mitteilungen aus der Hamburgischen Kirche, Jg 1941, Nr. 14, Hamburg 25. Juni 1941, 53; Kuessner, Russlandfeldzug, 27. 64 Vgl. Kück (Hg.), Zur Lage der Kirche, 1494; Kuessner, Russlandfeldzug, 33. 65 Deutsches Pfarrerblatt 27. Juli 1941, Kuessner, Russlandfeldzug, 34. 66 Das Evangelische Deutschland, Berlin 10. August 1941 67 Allgemeine Ev.-Luth. Kirchenzeitung vom 28. 3. 1941, 143f; Kuessner, Russlandfeldzug, 37. 68 Lilje, Der Krieg als geistige Leistung; Reaktionen dazu in: Kuessner, Russlandfeldzug, 74f.
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darunter auch „Wir treten zum Beten vor Gott, den Gerechten“.69 Es sind dieselben Lieder und eine wachsende Spiritualität der Selbstrechtfertigung und der Vernichtung, mit denen die Freischärler 1813, die Kürassiere 1870/71, die kaiserliche Armee 1914 und nun die deutsche Wehrmacht 1939 auf das „Schlachtfeld“ geschickt wurden.
5.
Die Spiritualität der Kameradschaft
Die höchste Form deutsch-christlicher Gemeinschaft war die Kameradschaft. „Kamerad“ war die Anrede im alltäglichen und auch dienstlichen Verkehr, verschiedene deutsch-christliche Gruppen schlossen sich zu einer Kameradschaft zusammen. Das war innerhalb der Pfarrerschaft eine neue Anrede, die ein Dorfpfarrer bisher eher von der örtlichen Feuerwehr kannte. In dieser Nennung schwang vieles mit: die Erinnerung an den Fronteinsatz im Ersten Weltkrieg, an das entbehrungsreiche Leben im Schützengraben, wo sich einer auf den anderen unbedingt verlassen konnte und für ihn einsetzte. Literarisches Vorbild wurde die verklärte Schützengrabenfreundschaft zwischen Walter Flex und dem Theologiestudenten Ernst Wurche, die Flex in den Mittelpunkt seines Büchleins „Wanderer zwischen beiden Welten“ stellte. Das WalterFlex-Buch war nach „Im Westen nichts Neues“ das meistgelesene Buch über den Ersten Weltkrieg.70 Es waren auch Erinnerungen an die Gemeindeabende im Wieratal, wenn sie nach Diskussionen über die Weltlage einen Schlusskreis bildeten, sich an den Händen anfassten und sangen „wahre Freundschaft soll nicht wanken“. Es wurde auch das letzte Lied im deutsch-christlichen Thüringer Gesangbuch „Großer Gott wir loben dich. Der neue Dom“ von den insgesamt 13 „Lieder[n] der Kameradschaft“, mit denen das Gesangbuch beendet wurde. Kameradschaft war die Sehnsucht nach einer heilen Welt, in der in später Zukunft alle Konflikte überwunden sind, weil alle Menschen endlich Nationalsozialisten und Christen seien. Die Kameradschaft versprühte eine intensive Spiritualität unbedingter Gruppenzugehörigkeit abseits von Familie und Elternhaus, von Hingabe und Einsatzbereitschaft, von dem unbeugsamen, todesbereiten Willen zur Durchdringung der Welt mit nazistischen und christlichen Ideen und Werten. Emanuel Hirsch dichtete von dieser Kameradschaft folgendes Lied: „Wir schritten lange Seit an Seit./ In Kampf und Arbeit, Freud und Leid/ warst du mein Kamerad./ 69 Vgl. Heinonen, Anpassung und Identität, 197–199; Kuessner, Das Braunschweigische Gesangbuch, 96–98. 70 Vgl. Böhm, Deutsche Christen, 62–64.
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Nun wartet dein das stille Grab/ des Höchsten Wille rief dich ab/ leb wohl mein Kamerad.// Du hast dein Tagwerk ausgericht,/ es leuchte dir das ewge Licht/ es leucht dir Gottes Gnad./ Uns heilge Gott die Pflicht aufs neu/ und du, hab Dank für deine Treu/ leb wohl mein Kamerad“.71
Allerdings hielt die differenzierte Alltagswelt dem schlichten Frontmuster von Kommandieren und Parieren nicht stand. Manche erhofften Kameradschaften gingen an diesem Schema in die Brüche. Die damit verbundene Unfähigkeit, einen andersdenkenden Pfarrer in der Landeskirche gewähren zu lassen, führten zu Dienstentlassungen und einem rohen Umgang. Das Kameradschaftsschema lässt nur das Vernichten oder Befördertwerden zu, aber kein charakterliches Wachsen und förderliches Entwickeln der Persönlichkeit. Insofern haftet ihm ein infantiler, regressiver Wesenszug an. Nach der totalen militärischen Niederlage der deutschen Wehrmacht wurde die evangelische Kirche vom deutsch-christlichen wahnhaften Unwesen nicht befreit. Die Deutschen Christen waren ja Bewegung und bewegten ihre Grundsätze in abgestufter Intensität insbesondere in den westdeutschen lutherischen Landeskirchen weiter.72
6.
Schluss
Die Abhandlung über eine Spiritualität der Deutschen Christen stand unter der eingangs erhobenen Frage, ob ein guter Geist von Gott oder ein böser Geist von Gott über die Deutschen Christen und mit ihnen über die Deutsche Evangelische Kirche gekommen sei. Ich halte diesen biblischen Verweis für fruchtbarer als das naheliegende Urteil des Reichskirchenausschusses, der den Thüringer Deutschen Christen jede Form von Spiritualität absprach. Wer macht sich zum Meister der Unterscheidung der Geister? Der weiterführende Gedanke lautet nämlich: Müsste die Geschichte der ganzen evangelischen Kirche zur Zeit des Nationalsozialismus nicht als Verstockungsgeschichte bedacht werden? Ich schließe mit der Gebetsstrophe aus dem Thüringer Gesangbuch von 1929 Nr. 104: „O beßre Zions wüste Stege/ und was dein Wort im Laufe hindern kann/ das räum, ach räum aus jedem Wege/ 71 Weidemann (Hg.), Gesangbuch der kommenden Kirche, Nr. 185. 72 Vgl. Anders Meier, Deutsche Christen, 554.
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vertilg, o Herr, den falschen Glaubenswahn/ und mach uns bald von jedem Mietling frei/ daß Kirch und Schul ein Garten Gottes sei“.
Diese wichtige siebente Strophe aus dem Lied „Wach auf, du Geist der ersten Zeugen“ (EG 241), stand noch im EKG (216) und ist der Gesangbuchreform von 1990 zum Opfer gefallen.
Literatur Quellen Deutsche Kirchenlieder, Dresden 1935. Die feste Burg. Entwürfe und Hilfen für die Gottesfeier Deutscher Jugend. Bearbeitet von Landesjugendpfarrer Rönck, Weimar 1939. Die Gottesfeier. Entwürfe und Hilfen zur Feiergestaltung in den Gemeinden „Deutscher Christen, Nationalkirchliche Einung“, 7. Lieferung, Weimar o.D. Dietz, Otto, Gebet der Kirche, München 1935. Großer Gott wir loben dich. Der neue Dom, Weimar 1941. Kück, Thomas Jan (Hg.), Zur Lage der Kirche. Die Wochenbriefe von Landesbischof D. August Marahrens, Bd. 3, Göttingen 2009. Leffler, Siegfried, Christus im Dritten Reich der Deutschen. Wesen, Weg und Ziel der Kirchenbewegung „Deutsche Christen“, Weimar 1935. Leutheuser, Julius, Die Christusgemeinde der Deutschen, Weimar 1938. Lilje, Hanns, Der Krieg als geistige Leistung, Furche-Schriften Nr. 26, Berlin 1941. Volksliederbuch III. Teil, Gütersloh 51926. Weidemann, Heinz (Hg.), Gesangbuch der kommenden Kirche, Bremen 1939. –, Lieder der kommenden Kirche, Bremen 1939.
Forschungsliteratur Blaschke, Olaf, Die Kirchen und der Nationalsozialismus, Stuttgart 2014. Böhm, Susanne, Deutsche Christen in der Thüringer evangelischen Kirche (1927–1945), Leipzig 2008. –, Kirchbau in der Thüringer Landeskirche, Leipzig 2008. Bucher, Rainer, Hitlers Theologie, Würzburg 2008. Deppermann, Klaus, Pietismus und moderner Staat, in: Kurt Aland (Hg.), Pietismus und moderne Welt (Arbeiten zur Geschichte des Pietismus 12), Witten 1974, 75–99. Endlich, Stefanie/Geyler von Bernus, Monica/Rossie, Beate (Hg.), Christenkreuz und Hakenkreuz. Kirchbau und Sakrale Kunst im Nationalsozialismus, Berlin 2008. Goeschel, Christian, Selbstmord im Dritten Reich, Berlin 2011.
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Gregor, Birgit, Von jüdischem Einfluss befreit: „Großer Gott wir loben dich“. Ein deutschchristliches Gesangbuch aus dem Jahre 1941, in: Thüringer Gratwanderungen, 124–143. Heer, Friedrich, Der Glaube des Adolf Hitler. Anatomie einer politischen Religiosität, Frankfurt/Main 1989. Heinonen, Reijo E., Anpassung und Identität. Theologie und Kirchenpolitik der Bremer Deutschen Christen 1933–1945 (Arbeiten zur kirchlichen Zeitgeschichte B5), Göttingen 1978. Kaiser, Gerhard, Pietismus und Patriotismus im literarischen Deutschland, Wiesbaden 1961. Kück, Cornelia, Kirchenlied im Nationalsozialismus. Die Gesangbuchreform unter dem Einfluß von Christhard Mahrenholz und Oskar Söhngen, Leipzig 2003. Kuessner, Dietrich, Der Fluch des Sieges, in: 1914 … Schrecklich kriegerische Zeiten [Katalog zur Ausstellung im Braunschweiger Landesmuseum], hg. von Wulf Otte/Heike Pöppelmann/Ole Zimmermann, Braunschweig 2014, 72–80. –, Ansichten einer versunkenen Stadt. Die Braunschweiger Stadtkirchen 1933–1945, Wendeburg 2012. –, Das Braunschweigische Gesangbuch. Anfragen und Beobachtungen zu seiner Geschichte und Gestalt von der Reformation bis heute, Wolfenbüttel 2007. –, Die Deutsche Evangelische Kirche und der Russlandfeldzug. Eine Arbeitshilfe, Offleben 2 1991. Meier, Kurt, Art. Deutsche Christen, in: TRE Bd. 8, Berlin/New York 1981, 552–554. –, Die Deutschen Christen, Göttingen 1964. Rammler, Dieter/ Strauss, Michael (Hg.), Kirchenbau im Nationalsozialismus. Beispiele aus der braunschweigischen Landeskirche, Hermannsburg 2009. Rossie, Beate, Kirchenkunst und Ideologie, in: Rammler/Strauss (Hg.), Kirchenbau im Nationalsozialismus, 44–49. Safranski, Rüdiger, Romantik. Eine deutsche Affäre, Frankfurt 2007. Schenk, Wolfgang, Der Jenaer Jesus. Zu Werk und Wirken des völkischen Theologen Walter Grundmann und seiner Kollegen, in: Peter von der Osten-Sacken (Hg.), Das mißbrauchte Evangelium. Studien zu Theologie und Praxis der Thüringer Deutschen Christen (Studien zu Kirche und Israel. Bd. 20), Berlin 2002, 167–259. Sonne, Hans Joachim, Die politische Theologie der Deutschen Christen, Göttingen 1982. Staats, Reinhart, Ernst Moritz Arndt – ein neuprotestantischer Heiliger?, in: ders., Protestanten in der deutschen Geschichte, Leipzig 2004, 98–129. Strohm, Christoph, Die Kirchen im Dritten Reich, München 2011. Thüringer Gratwanderungen. Beiträge zur fünfundsiebzigjährigen Geschichte der evangelischen Landeskirche Thüringens, hg. von Thomas A. Seidel im Auftrag der Evangelischen Akademie Thüringen und der Gesellschaft für Thüringische Kirchengeschichte e.V., bearb. von Dietmar Wiegand, Leipzig 1998. Zimmerling, Peter, Evangelische Spiritualität Wurzeln und Zugänge, Göttingen 22010.
Ferdinand Schlingensiepen
Spiritualität in der Bekennenden Kirche
Wer zu diesem Thema etwas sagen will, wird gleich zu Beginn mit zwei Schwierigkeiten konfrontiert. Er muss sich darauf festlegen, welche Gruppe für ihn die „Bekennende Kirche“ ist, wer also nach seinem Urteil dazugehört und wer nicht. Und dann muss er sich mit der Frage auseinandersetzen, ob es „Spiritualität“ in einer Kirche, die diesen Begriff nicht nur nicht gekannt hat, sondern ihn vermutlich auch zurückgewiesen hätte, überhaupt gegeben haben kann. Nun hat aber Christian Löhr in seinem Artikel über die Spiritualität Dietrich Bonhoeffers gezeigt, dass jedenfalls bei diesem Vorkämpfer der Bekennenden Kirche, der ihre Grenzen besonders klar gezogen hat, das, was man heute unter Spiritualität versteht, in eindrucksvoller Weise zu finden ist.
1.
Dietrich Bonhoeffer – eine spirituelle Ausnahmeerscheinung in der Bekennenden Kirche?
Für Bonhoeffer gehörten nur die Pfarrer und Gemeinden zur Bekennenden Kirche, die ohne Einschränkung an den Beschlüssen der Bekenntnissynode von Dahlem im Oktober 1934 festhielten und für die die dort eingesetzte Leitung die rechtmäßige Leitung der Kirche war. Sein Satz: „Wer sich wissentlich von der Bekennenden Kirche trennt, trennt sich vom Heil“1, hat seinerzeit selbst bei einigen seiner Freunde Widerspruch hervorgerufen. Bei anderen konnte sie noch nach dem Kriege Empörung auslösen. Wir werden auf die von ihm in aller Schärfe gezogenen Grenzen zurückkommen. Als Bonhoeffer 1935 aus England zurückkehrte, um die Leitung eines Predigerseminars der Bekennenden Kirche zu übernehmen, hatte Hitler einen seiner alten Kämpfer zum „Reichskirchenminister“ gemacht und ihm befohlen, die Streitigkeiten in der Evangelischen Kirche zu beenden. Der neue Minister, 1 DBW 14, 676.
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Hanns Kerrl, hatte als Kirchenleitung einen Ausschuss unter Leitung des pensionierten westfälischen Generalsuperintendenten Wilhelm Zoellner eingesetzt, in dem Deutsche Christen, sogenannte Neutrale, die sich für keine der kämpfenden Parteien entscheiden konnten oder wollten, und Männer der Bekennenden Kirche zusammen die Deutsche Evangelische Kirche leiten sollten. Dafür war der mit Hitlers Hilfe 1933 zum „Reichsbischof“ gekürte und ungewöhnlich törichte Militärpfarrer Ludwig Müller kaltgestellt worden. Die Leitung der Bekennenden Kirche konnte in dem neu geschaffenen Gremium nicht mitarbeiten, weil sie sich in ihrem Bekenntnis klar von jeder Zusammenarbeit mit den „Deutschen Christen“ distanziert hatte. Die lutherischen Landeskirchen Hannover, Bayern und Württemberg erklärten diese Zusammenarbeit aber für möglich, weil der Staat ihre Kirchen intakt gelassen hatte. (Man nannte sie darum die „intakten Kirchen“.) Die Bekenntnispfarrer innerhalb dieser Kirchen – unter ihnen vor allem eine große Gruppe in Württemberg – hielten das zwar für falsch; denn es war ein Verrat an den Beschlüssen von Dahlem; aber da sie in ihrer Arbeit nicht behindert wurden, nahmen sie es hin, bildeten aber eine innerkirchliche Opposition. Und die vielen kleineren lutherischen Landeskirchen und die Kirchen, in denen die „Deutschen Christen“ die Macht übernommen hatten, waren mit dieser Lösung ohnehin zufrieden. Des Tages Last und Hitze im Kirchenkampf der kommenden Jahre haben darum nur die Kirchenprovinzen der altpreußischen Union und einsame Streiter – wie der tapfere bayerische Pfarrer Karl Steinbauer – getragen, die von den staatlichen Stellen im Laufe der Zeit mehr und mehr bedrängt und verfolgt wurden. Keiner hat klarer gesehen und beschrieben, dass hier eine scharfe Grenze gezogen werden musste, als Dietrich Bonhoeffer. Die ökumenischen Stellen in Genf, von denen er verlangte, sie müssten den Kontakt mit der hitlerhörigen Reichskirche abbrechen, haben aber ebenso wenig auf ihn gehört wie die „Lutheraner“ innerhalb der intakten Kirchen in Deutschland. Das änderte sich erst, als der Holländer Willem Visser ’t Hooft in Genf die Verantwortung übernahm und konsequent für die Bekennende Kirche Partei ergriff. Dass man ausgerechnet bei dem konsequentesten aller „Dahlemiten“ von Spiritualität sprechen kann, könnte auf den ersten Blick verwundern. Die Spiritualität, die in Finkenwalde entstand, war nicht zuletzt ein Ausdruck der dort eingeübten und gelebten Gehorsamstheologie, und es war kein Zufall, dass Bonhoeffer entscheidende Anregungen dafür 1934 bei einem Besuch anglikanischer Klöster gefunden hatte. Er war für eine klösterliche Form der Ausbildung von Pfarrern und dazu gehörte für ihn die gemeinschaftliche Form der Frömmigkeit, wie sie sich über Jahrhunderte in den Klöstern der katholischen Kirche herausgebildet und bewährt hatte. Es ist ja alles andere als ein Zufall, dass Bonhoeffers „Gemeinsames Leben“ in der großen Bonhoeffer Werkausgabe neben Albrecht Schönherr auch Kardinal Gerhard Ludwig Müller zum Heraus-
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geber hat und dass Bonhoeffers Lobpreis der Psalmen in dem kleinen Buch ebenfalls zu finden ist.2 Nur muss man zur gleichen Zeit beachten, dass die meisten leitenden Männer in der Bekennenden Kirche hier völlig anders dachten als Bonhoeffer. Karl Barth, der den Entwurf der Theologischen Erklärung der Bekenntnissynode von Barmen im Mai 1934 geschrieben und damit den Weg der Bekennenden Kirche entscheidend geprägt hatte, hat sein Unbehagen gegenüber dem Finkenwalder Modell in einem langen Brief an Bonhoeffer zur Sprache gebracht, und er war in der Bekennenden Kirche keineswegs der einzige, der Bonhoeffers Weg damals mit Skepsis betrachtet hat. Barth hatte eine Finkenwalder Anweisung zur Schriftmeditation in die Hand bekommen und schreibt am 14. Oktober 1936 an Bonhoeffer: „[Mich störte] in jenem Schriftstück ein schwer zu definierender Geruch eines klösterlichen Eros und Pathos, das allerdings eine gegenüber den bisherigen Erfahrungen auf diesem Feld neue Möglichkeit darstellen würde, für die ich aber vorläufig noch nicht das positive Sensorium und auch noch keine Verwendung habe“.3
Andere haben damals weniger vorsichtig geurteilt, denn katholisierende Tendenzen – und was sollten Bonhoeffers Versuche anderes sein – waren in der evangelischen Kirche äußerst unpopulär. Wie kann man zu einem gültigen Bild von „gemeinsam gelebter Frömmigkeit“ in der Bekennenden Kirche kommen, wenn man erkannt hat, dass es sich bei Finkenwalde um eine Ausnahmeerscheinung handelte? Man müsste alle Gruppen in den Blick nehmen, bei denen es ein gemeinsames Leben gegeben hat. Dazu gehören die anderen Predigerseminare der Bekennenden Kirche und die Theologischen Hochschulen, die damals gegründet worden sind oder die sich, wie das Kirchliche Auslandsseminar in Ilsenburg, nach der Synode von Dahlem der Leitung der Bekennenden Kirche unterstellt haben. Dort hat es gemeinsame Morgen- und Abendandachten gegeben; und auch die Kirchenmusik, die zu den besonders wichtigen spirituellen Gemeinschaftserfahrungen gehören kann, wird dort, wie in Finkenwalde, eine Rolle gespielt haben, aber der Akzent lag doch deutlich auf der Ausbildung zur gemeindenahen Predigt und Seelsorge. Es dürfte kein Zufall sein, dass in der großen Biographie Hans Joachim Iwands, die Jürgen Seim vorgelegt hat, ein gemeinsames Leben in Bloestau, dem Predigerseminar, das Iwand geleitet hat, kaum erkennbar wird, sondern dass der Einfluss, den dieser große theologischen Lehrer auf die dortigen Kandidaten hatte, deutlich im Vordergrund steht.4 Das heißt nicht, dass es in Bloestau keine mit Bonhoeffer vergleichbare Spiritualität gegeben hat, sondern dass das gemeinsame Leben in 2 Vgl. DBW 5. 3 DBW 14, 253. 4 Vgl. Seim, Iwand, 153.160f.168f.174–177.182f.186–195.
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den Unterlagen, die erhalten geblieben sind, nicht so erkennbar ist, wie in denen aus Finkenwalde.
2.
Spirituelle Gruppen außerhalb der Bekennenden Kirche
Es darf im Zusammenhang dieser Erkundungen nicht verschwiegen werden, dass die meisten kirchlichen Institutionen und Gruppen, in denen es eine ausgeprägte Spiritualität längst vor den 1930er Jahren gegeben hat, gerade nicht der Bekennenden Kirche angehört haben. Evangelische Orden gab es damals noch nicht; aber die Diakonissenmutterhäuser und die Diakonenanstalten waren seit mehr als 100 Jahren Prägestätten kirchlicher Gemeinschaften mit eigenen Formen von Spritualität. Von den vielen Mutterhäusern in Deutschland hat aber nur das kleine Haus in Detmold zur Bekennenden Kirche gehört. Ähnliches gilt für die Ausbildungsstätten für Diakone und für die gesamte „Innere Mission“, die heutige „Diakonie“. Die Verbindung zum Staat, der die Krankenhäuser und die meisten anderen Einrichtungen finanziell unterstützte, war zu stark, als dass man den Schritt in eine wie auch immer geartete Opposition gewagt hätte. Das gilt gerade auch für die größte dieser Institutionen, für Bethel, dessen Leiter, Friedrich von Bodelschwingh, 1933 zum „Reichsbischof“ gewählt worden war, das Amt aber wegen der Hetze der „Deutschen Christen“ nach wenigen Wochen entnervt aufgegeben hatte. Obwohl er persönlich eine Haltung wie die Leiter der Bekennenden Kirche einnahm, hat er Bethel, auch wenn er sich dafür verbiegen musste, aus den Kämpfen um die Kirche herauszuhalten versucht. Es gab in Deutschland eine kirchliche Gruppe, die die spirituelle Erneuerung der Evangelischen Kirche auf ihre Fahnen geschrieben hatte: die „Berneuchener“. Aber ihre leitenden Theologen betrachteten die Bekennende Kirche als „unnötig fanatisch“ und hielten sich von ihr fern. Das Bonhoeffer zugeschriebene Diktum: „Nur wer für die Juden schreit, darf gregorianisch singen“,5 ist deutlich gegen ihren Versuch gerichtet, in einer Zeit, in der zum Bekenntnis des Glaubens politische Entscheidungen gehören mussten, unpolitisch zu bleiben. Das heißt aber, dass wer nach der Spiritualität der Bekennenden Kirche fragt, danach suchen muss, ob die Bekennende Kirche außer in Finkenwalde weitere Formen von „gemeinsam gelebter Frömmigkeit“ hervorgebracht hat.
5 Bethge, Bonhoeffer, 685.
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3.
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Weitere Formen von gemeinsam gelebter Frömmigkeit in der Bekennenden Kirche
Evangelische Pfarrer waren und sind „Einzelkämpfer“, bei deren Arbeit die sonntägliche Predigt einen besonderen Rang einnimmt. Die Vorbereitung einer Predigt ist ein einsamer Vorgang. Freilich kann eine schriftgemäße Predigt nur entstehen, wo darum gebetet wird; aber wir fragen nach Formen gemeinsam gelebter Frömmigkeit und da scheidet die Predigtvorbereitung aus. Der Gottesdienst, in dem eine Predigt gehalten wird, kann zu einem Akt gemeinsam erlebter Frömmigkeit werden, gerade aus dem Kirchenkampf gibt es dafür beeindruckende Beispiele. Das Vaterunser, das vor 1933 vom Pfarrer allein gesprochen wurde, ist damals zum Gebet der Gemeinde geworden. Auch das Glaubensbekenntnis spricht der Pfarrer seither nicht mehr stellvertretend für die Gemeinde, sondern die Gottesdienstbesucher bekennen ihren Glauben gemeinsam. Aber dass eine Predigt die Hörer spürbar miteinander verbindet, war auch damals ungewöhnlich. Sie wurde und wird von lauter einzelnen denkenden Menschen angehört. Das kann man häufig beschrieben finden. Ich nenne zwei charakteristische Beispiele aus der damaligen Zeit: Sophie Scholl beschreibt 1941 in einem Arbeitsdienstlager, dass sie mit anderen jungen Frauen zusammensitzt und plötzlich wird ihr in der dezidiert unchristlichen Umgebung bewusst, dass es ein Karfreitag ist. Sie fährt fort: „Der so ferne gleichmütige Himmel machte mich traurig. […] Ich möchte gerne einmal in die Kirche, nicht in die evangelische, wo ich kritisch den Worten des Pfarrers zuhöre, sondern in die andere, wo ich alles erleide, nur offen sein muss und hinnehmen“.6
Ein etwas anderes, aber auch predigtkritisches Urteil findet sich in Moltkes „Briefen an Freya“. Er hört mit anderen zusammen in einem Berliner Gottesdienst eine Predigt von Hanns Lilje und schreibt: „Die Predigt war sehr gut, über das Grauen in der Geschichte und über den Ernst der Geschichte. Eine große Adventspredigt. […] Trotzdem muss ich sagen, dass mich der Kirchgang in Gräditz mehr befriedigt, weil das Gemeinschaftsgefühl eben sehr viel wärmer ist“.7 Gräditz war das zu Kreisau gehörende Kirchdorf.
Eine Predigt bleibt neben allem, was sie sonst noch ist, die individuelle Leistung eines Einzelnen. Sie kann nur in besonderen Augenblicken eine spirituelle Erfahrung bei den Hörern auslösen, aber das dürfte ein seltener Vorgang sein. Man 6 Siehe Schlingensiepen, Biografien, 42. Ich habe mir diesen Satz bei der Vorbereitung eines Vortrags über Sophie Scholl notiert, konnte aber die für evangelische Predigthörer so bezeichnende Stelle in der umfangreichen Literatur, die ich damals zurate gezogen habe, nicht wieder auffinden. 7 A. a. O., 87f. Siehe auch Moltke, Briefe an Freya, 576.
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erzählt, dass Paul Humburg, der Präses der Bekennenden Kirche im Rheinland, bei einer Synode, die in einer äußerst kritischen Situation tagte, statt einer Predigt Mt 8, 23–27, die Geschichte von der Stillung des Sturms, vorgelesen und dadurch eine spirituelle Erfahrung unter den Hörern ausgelöst habe. Wenn es trotz dieser ungünstigen Ausgangslage in der Geschichte der Bekennenden Kirche Aufbrüche zu Formen von Spiritualität gegeben hat, so hat das eine dafür entscheidend wichtige Vorgeschichte. Im 19. Jahrhundert war es von England und den USA aus in Deutschland zu einer Erweckungsbewegung gekommen, bei der es vor allem zu neuen Formen der Jugendarbeit gekommen ist. Der CVJM in seinen Gliederungen für die männliche und die weibliche Jugend war ein deutschlandweiter neuer Aufbruch; und besonders wichtig für die spätere Bekennende Kirche wurde die Deutsche Christliche Studentenvereinigung (DCSV), die, etwas verspätet, auch einen Zweig für Studentinnen bekam. Der entscheidende Beitrag, der vor allem dieser Gruppierung zu verdanken war, war der Zusammenschluss von Studierenden aller Fakultäten zu wöchentlichen Bibelstunden und zu Freizeiten in den Ferien. Weil die DCSV Studenten zu Christus führen wollte, entstanden in den deutschen Universitätsstädten kleine Kreise mit eigenen Frömmigkeitsformen. Die Vorsitzenden der DCSV, zuerst Graf Pückler, dann Georg Michaelis und nach ihm Reinold von Thadden waren kirchlich engagierte Laien, während die Generalsekretäre – nach dem ersten Weltkrieg Paul Humburg, Hermann Weber, Hanns Lilje und Eberhard Müller – Theologen waren, die die Arbeit entscheidend geprägt und damit die Mitglieder der DCSV nicht zuletzt auch auf die Zeit des Kirchenkampfs vorbereitet haben. Es gab mit ihnen Kreise in der Evangelischen Kirche, in denen Theologen und Laien seit langem daran gewöhnt waren, Probleme miteinander zu diskutieren und zusammen Gottesdienste zu feiern, miteinander zu beten und das Abendmahl zu halten. Viele Menschen, die sich im Kirchenkampf besonders bewährt haben, sind aus diesen Kreisen hervorgegangen.8 Spontane Äußerungen gemeinsamer Frömmigkeit gab es seit 1933 an vielen Orten, an denen Pfarrer verhaftet worden waren und Gemeindekreise vor den Polizeigefängnissen Choräle sangen. Als 1933 ein Gottesdienst im Berliner Dom kurz vor Beginn verboten worden war, versammelte sich die Gemeinde vor den 8 Siehe Kupisch, Studenten entdecken die Bibel. Das Buch ist eine sehr lebendige Darstellung der Geschichte der DCSV, die in den Jahrzehnten ihres Bestehens bemerkenswerte Wandlungen gerade auch in ihrer Spiritualität erfahren hat. Besonders interessant zu lesen ist die Verwirrung im Frühjahr 1933, wo einflussreiche Mitglieder energisch den Anschluss an die „Glaubensbewegung Deutsche Christen“ fordern, aber die DCSV sich weigert, judenchristliche Mitglieder auszuschließen, und bis zur gewaltsamen Auflösung durch die Gestapo 1938 wichtige Mitarbeiter für die Bekennende Kirche stellt. Aus der DCSV kamen Menschen, die Erfahrungen mit „gemeinsam gelebter Frömmigkeit“ hatten. Unter ihnen waren zahlreiche Pfarrer.
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verschlossenen Türen des Doms und sang Luthers Lied „Ein feste Burg ist unser Gott.“ Dass Chorproben mit einer Andacht begannen und die in vielen Gegenden besonders beliebten Posaunenchöre bewusst evangelistisch eingesetzt werden wollten, gehört mit in das Bild der damaligen Zeit. Die großen Versammlungen im Ulmer Münster und in der Dortmunder Westfalenhalle, die 1934 zur Bildung der Bekennenden Kirche führten, trugen zu deren Spiritualität entscheidend bei, weil volle Hallen oder überfüllte Kirchen mit Posaunenchören und einer großen singenden Gemeinde nicht nur das Zusammengehörigkeitsgefühl stärken, sondern vor allem auch dazu Mut machen, der Gewalt nicht einfach zu weichen. Bei Reinold von Thadden, der 1934 Vorsitzender des Bruderrates der Bekennenden Kirche in Pommern geworden war, hat die damalige Erfahrung bewirkt, dass er nach dem Zweiten Weltkrieg die „Deutschen Evangelischen Kirchentage“ ins Leben gerufen hat. Die DCSV und die Bekennende Kirche gehören also zur Vorgeschichte dieser Großveranstaltungen, deren Spiritualität viele Christen in Deutschland bis heute besonders anzieht. Bischof Kurt Scharf, der als junger Pfarrer Präses des Rates der Bekennenden Kirche in Brandenburg geworden war, hat geschildert, wie er mit seinem Konvent in Brandenburg versucht hat, neue Kreise bekennender Christen ins Leben zu rufen. Dafür sei ein längeres Zitat angeführt, in dem er von Lehrern berichtet, die Religionsunterricht in den Schulen gaben und sich spontan zu Arbeitskreisen zusammengefunden hatten. Er hat damals einen Brief an alle evangelischen Lehrer in Brandenburg gerichtet, in dem es heißt: „Die evangelische Kirche kann sich die Verantwortung für das innere Werden der deutschen Jugend nicht abnehmen lassen, und zwar wird sie diese Verantwortung in erster Linie durch die evangelischen Lehrerinnen und Lehrer ausüben müssen. Wir reichen denjenigen Lehrern und Lehrerinnen, die sich ihrer heiligen Aufgabe bewusst sind, in großer Dankbarkeit die Hand. Aber wir bitten sie auch, dazu zu helfen, daß der Kreis der evangelischen Lehrkräfte größer und die Arbeit evangelischer Erziehung noch ernster und tiefer werde als vorher. In einigen Kreisen unserer Provinz finden sich Lehrer und Geistliche, die zur Bekennenden Kirche gehören oder ihr doch nahe stehen, in regelmäßigen Abständen zu gemeinsamem theologischem und pädagogischem Austausch zusammen. Diese Zusammenkünfte haben sich als sehr fruchtbar erwiesen. Sie werden heute in anderer innerer Verbundenheit gehalten, als das früher möglich war. Wir würden es sehr begrüßen, wenn solche regelmäßigen Zusammenkünfte auch in denjenigen Kreisen eingerichtet würden, in denen sie bisher noch nicht bestehen. Auch für die Mitteilung weiterer Namen von Lehrern und Lehrerinnen, die zur Bekennenden Kirche stehen, würden wir herzlich dankbar sein“.9
Interessant ist an diesem Text, dass Scharf auf die neuen Anzeichen von Spiritualität hinweist. Zu der inneren Verbundenheit, von der er spricht, gehörte 9 Scharf, Gewissen der Kirche, 54.
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damals, dass solche Zusammenkünfte mit Bibellese, Gebet und einem Liedvers begonnen wurden. Ein wichtiges Hilfsmittel dafür, dass man an vielen Orten die gleichen Texte lesen konnte, waren die im Losungsbüchlein der Brüdergemeine angegebenen Texte aus dem Neuen Testament. Gemeindekirchenräte (in Rheinland und Westfalen „Presbyterien“) begannen damals an manchen Orten ihre Sitzungen nicht nur mit Gebet und Lied, sondern mit einer gemeinsamen Bibelarbeit. Dann folgte der „Bericht zur Lage“, in dem die Teilnehmer über die neuesten Ereignisse im Kirchenkampf unterrichtet wurden, und danach „trat man in die Tagesordnung ein“, wie es hieß. Der Kirchenkampf hat – vor allem an Orten, an denen es schon einen festen „Gemeindekern“ gab – für ein regeres geistliches Leben in den Gemeinden gesorgt. Die Bibelstunden in den Pfarrhäusern und die wöchentlichen Zusammenkünfte der Frauenhilfe wurden zum Ausdruck einer erneuerten Spiritualität – wobei die Angriffe auf die Pfarrer der Bekennenden Kirche dafür sorgten, dass die Suche nach einer stärkeren Gemeinschaft im Glauben zunahm. In Siegen in Westfalen habe ich (F.Schl.) das selbst miterlebt. Nachdem mein Vater kurz nach seiner Wahl zum Pfarrer der Bekenntnisgemeinde in der Altstadt ins Gefängnis kam und vor Ausbruch des Zweiten Weltkriegs entlassen worden war, stieg nicht nur der Kirchenbesuch, sondern auch die Teilnahme an den Bibelstunden im Pfarrhaus, an denen plötzlich Menschen teilnahmen, von denen man das nicht erwartet hatte. Es war sicher eine Art von ungefährlichem Protest gegen die Mehrheit der Parteigenossen und Mitläufer; aber es war eben auch ein Kennenlernen von Spiritualität. Einen großen „Anstieg von Spiritualität“, wenn dieser Ausdruck erlaubt ist, hat damals die Hitlerjugend bewirkt, als sie dafür sorgte, dass den kirchlichen Jugendgruppen alle Formen von Jugendarbeit außer den „rein kirchlichen“ Zusammenkünften verboten wurden. Um es drastisch zu sagen: man hat uns damals gezwungen zu entscheiden, welches Lied uns einleuchtete: „Ich weiß, woran ich glaube“ oder „Es zittern die morschen Knochen“. Für eine erstaunlich große Gruppe in unserer Stadt war die Entscheidung klar: Gezwungenermaßen ging man „zum Dienst“, freiwillig nahm man an den Bibelstunden teil. Nur muss man sehen, dass das – je nach Gegend – im damaligen Deutschland sehr verschieden aussehen konnte. Wo es im 19. Jahrhundert eine Erweckungsbewegung gegeben hatte, dürfte das häufiger vorgekommen sein als in Gegenden, wo es kaum noch eine Bindung an die Kirche gab. Einen wichtigen Neuanfang hat die Kirche in Ost und West direkt nach dem Krieg erlebt. Da sah es eine Zeit lang so aus, als würde es einen christlichen Aufbruch in Deutschland geben. Die Kirchen waren voll wie nie zuvor. Es gab unter den Theologiestudenten nicht nur die 25 Prozent, die aus Pfarrhäusern der Bekennenden Kirche kamen, sondern nicht wenige „Neubekehrte“, junge Kriegsheimkehrer, die erkannten, dass man sie verführt hatte und die bewusst einen Neuanfang in der Kirche suchten. Wer sich an das Leben der Studenten-
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gemeinden in den Nachkriegsjahren erinnern kann, der weiß, dass es da eine sehr eigene und neue Form von Spiritualität gegeben hat, die einerseits aus der alten DCSV herkam, aber ganz neue Impulse durch das Erbe der Bekennenden Kirche empfangen hatte.
4.
Schluss
Der kurze Artikel hat zu zeigen versucht, dass man von einer „Spiritualität der Bekennenden Kirche“ durchaus sprechen kann, obwohl der Begriff damals unbekannt war und vermutlich von vielen Theologen der Bekennenden Kirche kritisch gesehen oder gar abgelehnt worden wäre. Das Thema verdiente es, anhand von Lebenserinnerungen, Texten in Gemeindebriefen und anderen schwer zugänglichen Quellen gründlich erforscht zu werden.
Literatur Bethge, Eberhard, Dietrich Bonhoeffer. Theologe – Christ – Zeitgenosse. Eine Biographie, Gütersloh 92005. Dietrich Bonhoeffer Werke, hg. von Eberhard Bethge u. a., München/Gütersloh 1986ff [kurz: DBW]. Kupisch, Karl, Studenten entdecken die Bibel, Hamburg 1964. Moltke, Helmuth James von, Briefe an Freya, München 1991. Scharf, Kurt, Für ein politisches Gewissen der Kirche, Stuttgart 1972. Schlingensiepen, Ferdinand, Vom Gehorsam zur Freiheit. Biografien aus dem Widerstand, München 2014. Seim, Jürgen, Hans Joachim Iwand. Eine Biografie, Gütersloh 1999.
Christian Löhr
Dietrich Bonhoeffers (1906–1945) Entdeckung einer zweckgebundenen Spiritualität
1.
Anmerkungen zu Form und Inhalt der Spiritualität Bonhoeffers1
Dieser Beitrag bringt den seit einiger Zeit in unseren Kirchen gern verwendeten, aber sehr schillernden Begriff „Spiritualität“ in Zusammenhang mit dem Lebenszeugnis Dietrich Bonhoeffers. Bonhoeffer hat diesen Begriff so nie verwendet.2 Das weist sogleich auf ein erstes Problem hin: Vieles von dem, was heute mit dem Stichwort „Spiritualität“ bezeichnet wird, hat im Lebenszeugnis Dietrich Bonhoeffers auf den ersten Blick keinen Anhalt. Und auch der zweite etwas gründlichere Blick liefert eher einen negativen als einen positiven Bezug zu diesem Stichwort. Das hat einen guten Grund. Entsprechen doch viele der mit „Spiritualität“ bezeichneten Erscheinungsformen religiösen Lebens genau jenem von Bonhoeffer in seinen späten brieflichen Äußerungen aus der Haft verworfenen individualisierten Verständnis von Religion.3 Auch das sachlich nächstverwandte Wort „Frömmigkeit“ hilft uns nicht weiter. Bonhoeffer sah darin vor allem einen Ausdruck menschlichen Bemühens um ein Verhältnis zu Gott, weshalb auch dieses Wort für ihn eher negativ konnotiert ist. Ein zweites Problem tritt hinzu. Bonhoeffer zeigt eine in seinem Werdegang begründete große Scheu und Zurückhaltung (fast möchte ich das etwas altmodisch klingende Wort „Keuschheit“ benutzen) gegenüber allen öffentlichen Äußerungen über persönliche Empfindungen und Emotionen und also auch über persönliche Frömmigkeit. Nur in den Briefen an Eberhard Bethge und teilweise auch an seine Braut Maria sowie – nicht zufälligerweise! – in den sog.
1 Alle Bonhoefferzitate und -verweise sind mit Nummer des Bandes der Gesamtausgabe (DBW) und Seitenzahl im Text nachgewiesen. 2 Im Sachwortverzeichnis DBW 17 findet sich das Stichwort nicht. 3 Vgl. die sog. „theologischen Briefe“ in Widerstand und Ergebung (DBW 8) beginnend mit dem Brief vom 30. 04. 1944 (401–408) und endend mit dem Brief vom 28. 07. 1944 (548–549) sowie dem „Entwurf einer Arbeit“ (556–561).
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Gedichten aus der Haftzeit4 vermochte er ganz offen „Ich“ zu sagen und sich damit ein Stück weit preiszugeben. Dennoch gibt es gerade unter den zu Bonhoeffers Lebzeiten von ihm veröffentlichten Arbeiten zwei Titel, die fraglos auf die vorderen Plätze einer Liste spiritueller Literatur des zwanzigsten Jahrhunderts gehören. Es handelt sich um das Buch „Nachfolge“ von 1938, das nicht zufällig schon im Titel an die „Imitatio Christi“ von Thomas a Kempis,5 einen Klassiker spiritueller Literatur, erinnert, und um die kleine Schrift „Gemeinsames Leben“ von 1939 (DBW 5). Beide Arbeiten haben bis heute eine prägende Wirkung und gehören zu den am weitesten verbreiteten und am meisten wieder aufgelegten Werken Bonhoeffers. Das gilt dann auch von der posthum erschienenen und von Eberhard Bethge herausgegebenen Briefsammlung „Widerstand und Ergebung“ (DBW 8), die sich über Jahrzehnte als ein spiritueller Bestseller weit über den deutschen Sprachraum hinaus erwiesen hat. Schließlich ist da noch die seit neuestem bestens dokumentierte mehrjährige spirituelle Praxis in den Kursen des von Bonhoeffer geleiteten Predigerseminars der Bekennenden Kirche in Finkenwalde und dem ihm verbundenen Bruderhaus zu nennen.6 Das alles lässt sich ohne Zweifel auch unter dem Stichwort „Spiritualität“ beschreiben, fügt dem aber eine ganz eigenständige Form hinzu, wobei vorerst offen bleiben muss, ob diese Form als im konfessionellen Sinne typisch evangelisch / protestantisch / reformatorisch verstanden werden kann. Wenn wir im Folgenden nach Formen und Inhalten von „Spiritualität“ im Lebenszeugnis Dietrich Bonhoeffers fragen, benutzen wir bewusst einen unspezifischen Begriff von „Spiritualität“. Wir verstehen diesen Begriff als Ausdruck für die im weitesten Sinne äußere Gestalt einer inneren Haltung bzw. Überzeugung, derzufolge der Mensch sich seines göttlichen bzw. transzendenten Ursprungs bewusst ist und seine Verbundenheit mit anderen, mit der Natur, mit dem Göttlichen usw. spürt. Das schlägt sich nieder in dem praktischen Bemühen um die konkrete Verwirklichung der mit jener inneren Haltung bzw. Überzeugung verbundenen Lehren, Erfahrungen oder Einsichten sowohl im individuellen wie im gemeinschaftlichen Leben. Lebensführung und Lebensgestaltung sind davon ebenso betroffen wie die ethischen Vorstellungen und die gesellschaftlichen Aktivitäten des Menschen. Verbunden damit ist auch die Suche nach dem Sinn und der Bedeutung des eigenen Lebens bzw. dessen, was einem Menschen widerfährt.7 Im Blick auf in diesem Sinne spirituelle Elemente im Lebenszeugnis 4 5 6 7
Vgl. die unübertroffene Interpretation dieser Gedichte durch Henkys, Geheimnis der Freiheit. Vgl. Thomas von Kempen, Nachfolge Christi, Leipzig 1975. Vgl. Finkenwalder Rundbriefe. Zur Begriffsbestimmung vgl. zum einen Büssing/Ostermann/Glöckler/Matthiessen, Spiritualität; Zimmerling, Signaturen. Zimmerling bezieht sich seinerseits u. a. auf: Evangelische Spiritualität, 54.
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Dietrich Bonhoeffers ergeben sich drei Fragen, die wir im Folgenden zu beantworten suchen: (1) Welche spirituellen Erfahrungen haben Bonhoeffer möglicherweise geprägt? (2) Welchen theologischen Ort hat das, was uns im Lebenszeugnis Dietrich Bonhoeffers als Spiritualität begegnet? (3) Welche Gestalt und welche Ausdrucksformen hat Bonhoeffers persönliche spirituelle Praxis gehabt?
2.
Welche spirituellen Erfahrungen haben Bonhoeffer möglicherweise geprägt?
Wir schreiben das Jahr 1920. Dietrich Bonhoeffer ist 14 Jahre alt. Sein Berufswunsch steht zu diesem Zeitpunkt für ihn schon fest. Er will Theologie studieren. Das ist in dieser Familie durchaus etwas Besonderes. Mit diesem Berufsziel fällt der junge Dietrich auf.8 In der Familie wird folgende Szene überliefert: „Als die Brüder ihm vorhielten, was für ein kleinbürgerliches, langweiliges und schwächliches Gebilde die Kirche sei, für die er sich verwende – ‚Du gehst eben den Weg des geringsten Widerstandes!‘, antwortete er selbstbewusst: ‚Dann werde ich eben diese Kirche reformieren‘“9! Auch der Vater hielt zunächst von dieser Berufswahl wenig, hat dann jedoch unter dem Eindruck des Kirchenkampfes seine Meinung revidiert (13, 89f). Bonhoeffers Entscheidung für das Theologiestudium gründete offenbar in sehr persönlichen, sich dem öffentlichen Zugriff entziehenden Erfahrungen. Einflüsse der über alles geschätzten Erzieherin Maria Horn (die selbst in der Herrnhuter Frömmigkeit verwurzelt war) können ebenso eine Rolle gespielt haben wie die Erfahrung des Todes seines Bruders Walter, unmittelbar nachdem dieser im Frühjahr 1918 noch eingezogen worden war. Aus den Erinnerungen der Zwillingsschwester Sabine wie der jüngsten Schwester Susanne geht hervor, dass die drei jüngsten Bonhoefferkinder von der übrigen Familie wohl weitgehend unbemerkt und offensichtlich unter dem Eindruck des Weltkrieges und der häufigen Todesnachrichten eine kleine religiöse Gemeinschaft10 mit eigenen kindlichen Exerzitien lebten. Wohl gab es in der mütterlichen Linie unter den 8 Bethge spricht von einer „in jugendlicher Eitelkeit ergriffenen ‚Berufung‘“ und davon, dass Bonhoeffer sich mit „intellektueller Neugierde auf die Theologie als Wissenschaft“ gestürzt habe, ohne dabei allerdings aus den Augen zu verlieren, dass er einmal in der Kirche Dienst tun wollte. Vgl. dazu Bethge, Bonhoeffer, 69 und im Rückblick Bonhoeffer selbst (14,112– 114). 9 Bethge, Bonhoeffer, 61; vgl. auch Schlingensiepen, Bonhoeffer, 23ff. 10 Vgl. Schlingensiepen, Bonhoeffer, 25
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Vorfahren durchaus Theologen, doch erlebte Bonhoeffer vom Elternhaus her keine engere kirchliche Bindung. In die Kirche ging man in diesen Kreisen nicht, nicht einmal zum Heiligen Abend. Doch legte die Mutter Wert darauf, ihren Kindern eine Art biblischen Unterricht zu geben, wozu das Auswendiglernen von Gesangbuchliedern gehörte. Auch gab es, wie man aus den Erinnerungen von Sabine weiß, feste häusliche Riten etwa zu Weihnachten.11 Bonhoeffer war also kein Kirchenchristentum in die Wiege gelegt, sondern eine aufgeklärte, liberale Bürgerlichkeit, die sich ihrer öffentlich wahrzunehmenden Verantwortung für das Gemeinwohl stets bewusst war. Wir können das persönliche, selbst verantwortete und selbst gestaltete Frömmigkeit nennen. Auf diesem Hintergrund ist die frühe Entscheidung Bonhoeffers für das Theologiestudium zu interpretieren. Dabei zeichnet sich Bonhoeffer durch ein waches Gespür für die Probleme sowohl der traditionellen Kirchlichkeit als auch eines unverbindlichen Kultur-Christentums aus. Später wird er das in seiner Dissertation „Sanctorum Communio“ (DBW 1) bearbeiten. Die Kirche, nicht nur als eine institutionell verfasste Gemeinschaft, sondern zugleich als communio sanctorum, begegnete Bonhoeffer praktisch das erste Mal bei seinem Rom-Aufenthalt und hier sogleich in ihrer weltweiten und prachtvollsten Gestalt. Im Tagebuch seiner Romreise schreibt er: „Der Tag war herrlich gewesen, der erste Tag, an dem mir etwas Wirkliches vom Katholizismus aufging, nichts von Romantik usw. sondern ich fange an, den Begriff ‚Kirche‘ zu verstehen“ (9, 89). Es spricht für sich, dass sich Bonhoeffer noch in der Haft an seine Eindrücke von der Feier der Karwoche und der Ostertage in Rom erinnerte (8, 334). Unter dem Einfluss dieser Erlebnisse wird ihm „die Kirche“ zu einem Gegenstand intensiven Nachdenkens. Das schlägt sich zunächst einmal in der Entscheidung zu seinem Promotionsthema nieder. Von da an lässt ihn die Frage nach der „Kirche“ nicht mehr los. Sie wird sein Lebensthema. Das hat zwei Gründe: 1. Die Gestalt der Kirche ist für Bonhoeffer eine Antwort auf die Frage, die ihn immer wieder umtreibt, „wer Jesus Christus eigentlich für uns heute ist“ (8, 402). 2. Die Gestalt der Kirche ist das Einzige, womit das quälende Zurückgeworfensein des Einzelnen auf die Unsichtbarkeit Gottes überwunden werden kann (11, 32–34). Alle anderen Themen und Probleme bewegen Bonhoeffer nur insofern, als sie jeweils konkrete Bewährungsfelder für die Kirche sind. Die folgenden, zum Teil ganz praktischen Erfahrungen Bonhoeffers mit Kirche sind sehr unterschiedlicher Natur. Sie haben entweder mit Notwendigkeiten seines beruflichen Werdeganges zu tun oder ergeben sich aus seiner ökumenischen Tätigkeit. Eine erste landeskirchliche Bindung erlebte Bonhoeffer 1925 parallel zur Arbeit an seiner Dissertation. Um in den Ausbildungsgang der Landeskirche zu gelangen, musste er ein Zeugnis des für ihn zuständigen Su11 Vgl. Leibholz-Bonhoeffer, Weihnachten.
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perintendenten über die Beteiligung an der örtlichen Gemeindearbeit vorlegen. So übernimmt er mit Erfolg eine Kindergottesdienstgruppe in Berlin-Grunewald, aus der sich später ein relativ fester Jugendkreis bildet, der sog. Donnerstagskreis.12 Von nicht zu überschätzender Bedeutung ist es, dass Bonhoeffer Kirche beinahe von Anfang an in ihrer alle nationalen Grenzen überschreitenden Ökumenizität erlebt (Vikariat in Barcelona 1928, einjähriger Studienaufenthalt in den USA 1930). In den USA erlebte Bonhoeffer ein ganz anders geprägtes Christentum, als er es aus Deutschland kannte. Er war fasziniert von den schwarzen Kirchgemeinden in den USA. Begegnungen mit Christen aus Ländern der ehemaligen Kriegsgegner, wie etwa dem Franzosen Jean Lasserre, prägten ihn nachhaltig. Hier entdeckte er die Bergpredigt. Durch sie sah er sich zu einfältigem Gehorsam gegenüber dem jeweils konkreten Gebot Gottes gerufen. Anfang der 1930er Jahre war dies das Gebot des Friedens. Weil sich am Gehorsam gegenüber dem jeweils konkreten Gebot entschied, ob Kirche überhaupt Kirche ist, rief er in seiner großen Friedensrede von Fanö 1934 die Kirchen der Welt zum Frieden auf (13, 298ff). Dem für ihn zuständigen Superintendenten Max Diestel war es zu danken, dass Bonhoeffer, nachdem er aus den USA zurückgekehrt war, sofort in die internationale ökumenische Arbeit als dessen Mitarbeiter einsteigen konnte. Auf der Tagung des Weltbundes für Freundschaftsarbeit der Kirchen Anfang September 1931 in Cambridge wurde er zu einem der drei europäischen Jugendsekretäre des Weltbundes gewählt. Bonhoeffer nutzte diese neue und einmalige Arbeitsaufgabe, um beharrlich die Frage nach dem Kirchesein der Ökumene zu stellen. Kriterium dafür war ihm das Bekenntnis, weil erst das Bekenntnis die ökumenische Gemeinschaft verbindlich Kirche sein lässt. Solche Verbindlichkeit bedeutete im konkreten Fall Parteinahme. Darum musste Bonhoeffer die werdende Ökumene in den Kirchenkampf in Deutschland hineinziehen und von ihr eine klare und unzweideutige Entscheidung zugunsten der BK fordern. Wahre Kirche ist eine Existenzform des Wortes Gottes, die sich dieses selber schafft. Weil die verfasste Kirche in Gestalt der Deutschen Evangelischen Kirche mit ihren Landeskirchen diese Existenzform verlassen hatte, musste sich notwendig eine neue Gestalt bilden: die Bekennende Kirche. Im Blick auf sie schrieb Bonhoeffer jene Sätze, die ihm selbst Freunde übel genommen haben: „Außerhalb der Kirche ist kein Heil. […] Die Grenzen der Kirche sind die Grenzen des Heils. Wer sich wissentlich von der Bekennenden Kirche in Deutschland trennt, trennt sich vom Heil“ (14, 676). Neben seiner ökumenischen Tätigkeit und der Privatdozentur wollte sich Bonhoeffer auch auf jeden Fall den Weg ins Pfarramt seiner Landeskirche offen 12 Vgl. Bethge, Bonhoeffer, 126f.
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halten. Noch unmittelbar vor seinem USA-Aufenthalt hatte er darum das zweite theologische Examen abgelegt. Aber die Ordination wurde wegen seines jugendlichen Alters und wegen des USA-Studienaufenthaltes aufgeschoben bis in den Spätherbst 1931. Gemäß der landeskirchlichen Ordnung musste er sodann das auf die Ordination folgende Hilfsdienstjahr absolvieren. Er trat es im Herbst 1931 mit einer Doppelverpflichtung an: als Stadtsynodalvikar mit der Abordnung als Studentenpfarrer an der Technischen Hochschule Charlottenburg und in Absprache mit Generalsuperintendent Karow zu Gemeindediensten. So übernahm er von November 1931 bis März 1932 eine Konfirmandengruppe, engagierte sich in der kirchlichen Sozialarbeit bei der Gründung der „Charlottenburger Jugendstube“ und predigte immer wieder in Berliner Kirchen. Wieder, wie schon bei seinem Gemeindepraktikum in der Kindergottesdienstarbeit vor sechs Jahren, zielte sein Engagement auf Gemeinschaft. Und auch in seiner universitären Tätigkeit findet sich dieses Grundmotiv wieder. Unter seinen Hörern bildete sich der sog. Bonhoefferkreis. Ähnlich wie die Entscheidung zum Theologiestudium entzieht sich auch die wichtigste spirituelle Erfahrung Bonhoeffers weitgehend der Öffentlichkeit. Bonhoeffer selbst deutet erst rückblickend in einigen Briefen an, dass ihm um das Jahr 1930 herum, wohl im Zusammenhang mit seinem Studienaufenthalt in den USA, etwas widerfahren ist, was durchaus als eine Bekehrung bezeichnet werden kann. So schreibt er in einem Brief an eine Bekannte im Jahr 1936: „Ich stürzte mich in die Arbeit in sehr unchristlicher und undemütiger Weise. Ein wahnsinniger Ehrgeiz, den manche an mir gemerkt haben, machte mir das Leben schwer und entzog mir die Liebe und das Vertrauen meiner Mitmenschen. […] Dann kam etwas anderes, etwas, was mein Leben bis heute verändert und herumgeworfen hat. Ich kam zum ersten Mal zur Bibel. […] Ich hatte schon oft gepredigt, ich hatte schon viel von der Kirche gesehen, darüber geredet und geschrieben – und ich war noch kein Christ geworden, sondern ganz wild und ungebändigt mein eigener Herr. Ich weiß, ich habe damals aus der Sache Jesu Christi einen Vorteil für mich selbst, für meine wahnsinnige Eitelkeit gemacht. […] Ich hatte auch nie, oder doch sehr wenig gebetet. Ich war bei aller Verlassenheit ganz froh an mir selbst. Daraus hat mich die Bibel befreit und insbesondere die Bergpredigt. Seitdem ist alles anders geworden. […] Das war eine große Befreiung. Da wurde es mir klar, daß das Leben eines Dieners Jesu Christi der Kirche gehören muß“ (14, 112–114).
Einmal auf diese Wende im eigenen Leben aufmerksam gemacht, finden sich jedoch durchaus zeitnähere Äußerungen Bonhoeffers dazu, freilich nicht autobiographischer Art, sondern in einer Handreichung für Theologiestudierende. Dort spricht er von der „Wende [vom Selbst] zur theologischen Sachlichkeit“ (12, 416–19).13 An die Stelle „der selbstmächtigen ethischen Verantwortung“ tritt nun 13 Vgl. dazu Woyke, Ich kam zum ersten Mal zur Bibel, bes. 11f.
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der „einfältige Glaubensgehorsam“.14 Bonhoeffer hatte offensichtlich entdeckt, dass seine Existenz als akademischer Theologe und sein Engagement als Mann der Kirche einerseits und persönlicher Glauben und Christsein im Alltag andererseits auseinandertreten können. Die Entdeckung dieser existenziellen Spaltung und deren Überwindung, die sein Leben nun in ein Davor und ein Danach gliederte, hatte für ihn weitreichende Folgen. Neben der klaren Aussage, es sei die Bibel, insonderheit die Bergpredigt, die zu jener Umkehr in seinem Leben geführt habe, fällt besonders seine Schlussfolgerung auf: Als Diener Christi müsse sein Leben der Kirche gehören. Diese Entscheidung wird zum Auslöser seines Kampfes gegen den heraufziehenden Nationalsozialismus. Bonhoeffer erkennt, dass die überkommene bürgerliche Kirchlichkeit und Religiosität dem, was hier geschieht, nicht standhält. Zugleich scheinen die Konturen jener „neuen Kirche“ auf, die allein die Chance hat, in diesem Kampf zu bestehen: eine im einfältigen Gehorsam der Nachfolge lebende Gemeinschaft, die ohne Wenn und Aber das Wort tut und darauf vertraut, dass sich dieses Wort in der Verkündigung seine eigene Existenzform als Kirche immer neu schafft (14, 478–480). Bonhoeffer spricht von „einer Art neuen Mönchtums“, „das mit dem alten nur die Kompromisslosigkeit eines Lebens nach der Bergpredigt in der Nachfolge Christi gemeinsam hat“ (13, 273). Das alles wird schließlich überformt von der letzten Erfahrung Bonhoeffers mit der Kirche. Es ist das Versagen der Volkskirche als Organisation angesichts der Herausforderungen, die sich mit dem Aufkommen des Nationalsozialismus und der im Widerstand dagegen begründeten ethischen Neuorientierung unter den Bedingungen der Konspiration stellen. Diese Erfahrung, zusammen mit der Gewissheit, dass ihm verantwortliches Handeln geboten ist, brachte ihn auf den Weg des politischen Widerstandes und letztlich in die Einsamkeit der Gefängniszelle. Hier liegt auch der Schlüssel für das Verständnis der nachgelassenen Briefe in „Widerstand und Ergebung“, die die Situation des nun Isolierten und auf sich selbst Zurückgeworfenen in der Haft reflektieren (8, 428–436, bes. 435f.). In ihnen zog Bonhoeffer das Fazit aus all seinen Erfahrungen: Weil die Institution Kirche in ihrer überlieferten Gestalt versagt hat, weil weder die traditionelle Kirchlichkeit noch eine allgemeine Religiosität Kräfte des Widerstandes freizusetzen vermögen, und weil auch der Rückzug auf sich selber, wie ihn die Bekennende Kirche praktiziert, so tapfer er ist, keine Zukunft eröffnet, muss Bonhoeffer sich auf die Suche machen nach dem, was angesichts dessen noch trägt: eine persönlich gelebte Christusnachfolge, grundiert von jener im Elternhaus und unter Freunden erlebten eigen verantworteten und eigen gestalteten Frömmigkeit, verbunden mit der Hoffnung auf eine neue Gemeinschaft, die aus 14 A. a. O., 20.
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der Wahrheit gelebter Christusnachfolge erwächst und deren Gestalt er zusammen mit den Kandidaten in Finkenwalde exerziert hat.
3.
Welchen theologischen Ort hat das, was uns im Lebenszeugnis Dietrich Bonhoeffers als Spiritualität begegnet?
Bonhoeffers Lebensthema ist „die Kirche“. Das, was wir als spirituelle Praxis bei Bonhoeffer wahrnehmen können, entwickelt er unter dem Druck der Notwendigkeit, die Kirche – wie er sie versteht – zuzurüsten für den Kampf gegen den Nationalsozialismus. Für unsere Frage nach der besonderen Gestalt dieser „Spiritualität“ bedeutet das: Sie ist gemeinschafts- und zweckgebunden. Bonhoeffer hat sie eigens für die Ausbildung der jungen Vikare der Bekennenden Kirche (BK) entwickelt und dabei ganz verschiedene Einflüsse und Anregungen aufgenommen. Bekannt ist, dass er unmittelbar vor der Rückkehr aus London nach Deutschland im April 1935 noch eine Reihe anglikanischer Klöster besucht hat. Bekannt ist, dass er sich für Gandhi und dessen spirituelle Praxis interessierte, ja dass er einiges daran gesetzt hatte, eine Einladung von Gandhi zu bekommen, um sie selber vor Ort studieren und erleben zu können – ein Wunsch, der sich dann wegen der ihm übertragenen Leitung des Predigerseminars in Finkenwalde nicht erfüllt hat. Und natürlich hat Bonhoeffer auch die Tradition der alten Kirche gekannt. Noch in den Briefen aus der Haftzeit wird er über das Arkanum bzw. die Arkandisziplin nachdenken (8, 405.415). Aus verschiedenen Schilderungen können wir ziemlich genau rekonstruieren, welche Elemente spiritueller Praxis den Alltag in Finkenwalde prägten.15 Jeder Tag war umschlossen von einer Morgen- und einer Abendandacht mit einem festen Ablauf. Der bestand aus einem chorischen Psalmgebet. Ihm folgten ein frei gewähltes Lied und die Lesung eines alttestamentlichen Kapitels. Daran schlossen sich ein feststehender Liedvers an (für jeweils einige Wochen), die Lesung eines neutestamentlichen Kapitels und ein ausführliches freies Gebet mit dem Vaterunser. Zum Schluss wurde wieder ein feststehender Liedvers gesungen.16 Der Morgenandacht folgte täglich eine halbstündige Meditation über einen Bibeltext. Außerdem ermutigte Bonhoeffer die Kandidaten dazu, sich einen persönlichen „Beichtvater“ zu suchen und die Beichte regelmäßig zu praktizieren. Um dieser geistlichen Praxis Kontinuität angesichts der halbjährlich wechselnden Kurse des Predigerseminars zu verleihen, beantragte Bonhoeffer bei der 15 Für den folg. Abschnitt vgl. vor allem Bethge, Bonhoeffer, 490–493. 16 Vgl. Bethge, Bonhoeffer, 491 verweist auf anglikanische Vorbilder.
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Kirchenleitung die Erlaubnis, ein Bruderhaus zu gründen als Ort des gemeinsamen Lebens und als Rückzugs- und Fluchtort mit Rüstzeitangeboten für die indessen im Amt befindlichen Brüder mit dem Ziel der Erneuerung ihrer Gemeinschaft. Dabei kam den vom Bruderhaus versandten Rundbriefen mit verschiedenen Arbeitshilfen und den Vorschlägen für die Meditation eine ganz wichtige Rolle zu. Beinahe vom ersten Brief an lesen wir immer wieder, wie die im Dienst befindlichen Brüder ermahnt und gefragt werden: „Wie haltet ihr es durch mit der Meditation, der Fürbitte, dem Bibellesen und den Besuchen? Laßt euch doch bitten und ermahnen, hierin nicht matt zu werden! Wir bitten täglich darum. dass wir in einer Gemeinschaft des Glaubens bleiben und dass ihr stark sein möchtet in aller Arbeit, bei dem zu bleiben, was wir hier miteinander gelernt haben und täglich wieder lernen“.17
Solche immer wiederkehrenden Mahnungen und dringlichen Bitten haben ihren Grund in der Überzeugung, dass nur in der Gemeinschaft der durch die alltägliche spirituelle Praxis raum-übergreifend Verbundenen der Kampf um die wahre Kirche zu bestehen ist.18 Als Zurüstung zum Kampf ist diese Spiritualität im strengen Sinne zweckgebunden und findet ihre Erfüllung darin, dass sie das Bestehen des Kampfes möglich macht. 1939, die Predigerseminare sind längst von staatlicher Seite verboten, brachte Bonhoeffer die Quintessenz dieser seiner Erfahrungen in Finkenwalde in dem am weitesten verbreiteten geistlichen Werk aus seiner Feder unter dem Titel „Gemeinsames Leben“ zu Papier. Nach dem Kriege wurde dieses Buch zu einer Quelle der Inspiration für sehr verschiedene Versuche, kommunitäres Leben im Raum der evangelischen Kirche und in der Ökumene neu zu beleben und zu verwirklichen. Nach Bonhoeffer ist gemeinsames Leben ein entscheidendes Kennzeichen christlichen Glaubens. Seine Notwendigkeit begründete er nicht mit soziologischen und anderen allgemein-menschlichen Nützlichkeits-Überlegungen. Streng orientiert an der Heiligen Schrift entfaltet Bonhoeffer in fünf programmatischen Abschnitten das notwendig in der Gemeinschaft mit Christus begründete gemeinsame Leben der Christen als ein „Geschenk aus dem Reiche Gottes“ (4, 17). Er beginnt mit einem Lob der „Gemeinschaft“ (5, 15–34). Daraufhin beschreibt er anhand eines festen geistlichen Tagesablaufes die innere Struktur des gemeinsamen Lebens unter der Überschrift „Der gemeinsame Tag“ (5, 35–64). In dem Abschnitt, „Der einsame Tag“ (5, 65–76) warnt er auf eine durchaus elitär und 17 Finkenwalder Rundbriefe, 121. 18 Vgl. a. a. O., 74. Welche zentrale Rolle in dieser Praxis gerade auch die tägliche halbstündige Schriftmeditation spielt, zeigt ein fast katechechismusartiger Text, der unter dem Namen Eberhard Bethges als „Anleitung zur Schriftmeditation“ dem 8. Finkenwalder Rundbrief beiliegt (Finkenwalder Rundbriefe, 145ff = DBW 14, 945–950).
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aristokratisch zu nennende Weise vor den besonderen Gefahren, denen das gemeinsame Leben ausgesetzt ist. Die äußere Gestalt des gemeinsamen Lebens interpretiert Bonhoeffer als „Dienst“ (5, 77–92), um schließlich mit dem letzten Abschnitt zurückzukehren zum inneren geistlichen Kern, aus dem heraus sich gemeinsames Leben immer wieder erneuert: „Beichte und Abendmahl“ (5, 93– 102). Das zeigt: Diese Spiritualität gründet und erneuert sich in der Feier des Gottesdienstes, in dem wir unseres Heils vergewissert werden. Da Heil ist extra nos in der Lebensgeschichte Jesu verankert. An ihm bekommen wir Anteil durch das Hören auf das Wort und die gehorsame Nachfolge (5, 46). Wenn Bonhoeffer später vor allem in seiner Haftzeit ein geregeltes spirituelles Leben übt, tut er das zwar alleine, aber er tut es im Horizont der Gemeinschaft aller Christen. Nur weil er sich in dieser Gemeinschaft verwurzelt und von ihr getragen weiß, kann er in der Einsamkeit und also individuell seinen Glauben leben. Schon 1938 hatte Bonhoeffer außerdem mit dem Buch „Nachfolge“ (DBW 4) die Frucht seiner Entdeckung der Bergpredigt vorgelegt. Hier verbindet er auf unnachahmliche Weise exegetische Erkenntnisse mit einem direkten Zugriff auf das Wort Gottes und sein konkretes Gebot jetzt. Bonhoeffer spannt seine Auslegung der Bergpredigt ein in den Rahmen einer grundsätzlichen Beschreibung dessen, was gegenwärtig unter Nachfolge zu verstehen ist und was ihre Konsequenzen für die Kirche sind. Gleich die ersten Sätze sind ein Aufruf zum Kampf um die „teure Gnade“ und eine Absage an die „billige Gnade“. Für Bonhoeffer ist „billige Gnade“ „Gnade als Lehre, als Prinzip, als System“, „Sündenvergebung als allgemeine Wahrheit“, „Liebe Gottes als christliche Gottesidee.“ Es ist „Gnade ohne Preis, ohne Kosten“, „Rechtfertigung der Sünde und nicht des Sünders.“ „Teure Gnade“ hingegen „ist das Evangelium, das immer wieder gesucht, die Gabe um die gebeten, die Tür, an die angeklopft werden muss“, über die wir also nicht verfügen. Sie ist teuer, „weil sie die Sünde verdammt; weil sie den Sünder rechtfertigt“. Teuer ist sie, „weil sie Gott das Leben seines Sohnes gekostet hat“ (DBW 4, 29–43). Allein die Erkenntnis der teuren Gnade befreit zur Nachfolge. Den „Ruf Gottes“ in die Nachfolge legt Bonhoeffer sodann anhand der Nachfolge-Geschichten aus den Evangelien aus. Er ergeht in Jesus an die Menschen und begründet das neue Leben der ihm Nachfolgenden. Dieser Ruf löst sie aus der Menge des Volkes, das Bonhoeffer mit der Volkskirche seiner Zeit gleichsetzt. Zugleich werden die solchermaßen Herausgerufenen zu einer neuen Gemeinschaft verbunden. Als „Fremdlingsgemeinde“ tritt diese sowohl dem Volk als auch der Welt gegenüber. An sie richten sich die nun folgenden Seligpreisungen und die ganze weitere Bergpredigt. Deren Zusagen und Weisungen fordern unmittelbaren „einfältigen“ Gehorsam. Im Blick auf die Konsequenzen der Nachfolge für die Kirche interpretiert Bonhoeffer dann Abschnitte aus den Paulusbriefen. Als Scharnier zwischen beiden Teilen dient eine Auslegung der sog.
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Aussendungsrede Jesu (Mt 10) unter der Überschrift „Die Boten“, die sich direkt an seine Kandidaten im Predigerseminar und an die Brüder und Schwestern in der Bekennenden Kirche richtet (4,193). Diese in den aktuellen Kirchenkampf eingreifende und klar Stellung beziehende Auslegung erlaubte es ihm zum Beispiel, das Volk von Mt 5 mit der Volkskirche seiner Zeit gleichzusetzen (4, 99). Auch bei der Auslegung anderer biblischer Texten ging Bonhoeffer so vor, wie seine Predigten, aber auch die Vorlesung „Schöpfung und Fall“ eindrücklich belegen (DBW 3). Bonhoeffer hatte mit der schriftgebundenen Meditation, die er in Finkenwalde einübte, „einen eigenständigen meditativen Zugang [zum biblischen Text gefunden] neben dem an der Philologie und anderem orientierten bibelwissenschaftlichen [Zugang] und neben dem Hörer und Situation in den Blick nehmenden homiletischen“ Zugang.19 Bonhoeffer las nun die Bibel als das Wort, in dem Gott zu ihm spricht. Er fragte danach, „was Gott hier zu uns sagen will“ (DBW 14, 147). Seinem Schwager Rüdiger Schleicher beschrieb er diese seine Neuentdeckung der Bibel damals wie folgt: „Das liegt eben daran, daß in der Bibel Gott zu uns redet. Und über Gott kann man eben nicht so einfach von sich aus nachdenken, sondern man muß ihn fragen. Nur wenn wir ihn suchen, antwortet er […]. Nur wenn wir es einmal wagen, uns so auf die Bibel einzulassen, als redete hier wirklich der Gott zu uns, der uns liebt und uns mit unsern Fragen nicht allein lassen will, werden wir an der Bibel froh“ (14, 144–148, bes. 145).
Dieses neue Hören auf die Schrift spiegelt sich auch in der für Bonhoeffer charakteristischen „Losungsfrömmigkeit“.20 So wie er die Schrift auslegend auf die aktuellen politischen Ereignisse Bezug nimmt, tut er dies auch ganz persönlich und lässt Tag für Tag sich das Wort der Herrnhuter Losungen gesagt sein. Ein berühmtes Beispiel für diesen Bibelgebrauch ist die Tagebuchnotiz vom 26. Juni 1939 aus dem Amerikatagebuch.21 Mit dem Abstand von sechs Jahren und unter dem Eindruck der Hafterfahrung auf die „Nachfolge“ zurückblickend, schrieb Bonhoeffer: „Heute sehe ich die Gefahren dieses Buches, zu dem ich allerdings nach wie vor stehe, deutlich.“ Dieses Buch sei der Endpunkt jenes geistlichen Weges, der einst in den USA um 1930 begonnen hatte. Damals habe er sich bemüht, „glauben zu lernen, indem ich selbst so etwas wie ein heiliges Leben zu führen versuchte“ (8, 542). Dieser Weg sei 19 Vgl. Woyke, Ich kam zum ersten Mal zur Bibel, 24. Bonhoeffer vergleicht Gottes Wort in seiner Wirkung und Bedeutung für uns mit dem Wort eines uns liebenden Menschen. (14, 947). Das war überhaupt nicht selbstverständlich. Vielmehr löste Bonhoeffer damit eine heftige Kontroverse auch innerhalb der Bekennenden Kirche und unter den ihr nahestehenden Theologen aus. 20 Vgl. Zimmerling, Losungen. 21 „Heute las ich zufällig aus 2.Tim 4 ‚komme noch vor dem Winter!‘ […] Das geht mir den ganzen Tag nach. […] ‚Komme noch vor dem Winter‘. Es ist nicht Missbrauch der Schrift, wenn ich das mir gesagt sein lasse. Wenn mir Gott Gnade dazu gibt“ (15, 234).
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nun mit der Hafterfahrung an sein Ende gekommen. Das bedeutet, dass Bonhoeffer in der Haft noch eine neue spirituelle Erfahrung gemacht hat. Auf die Frage nach dem theologischen Ort von „Bonhoeffers Spiritualität“ können wir nun antworten: Der theologische Ort dieser Spiritualität ist die Kirche. Diese Spiritualität ist Ausdruck und Kraftquelle ihres innersten Lebens. Es handelt sich um eine in der Gemeinschaft gelebte und diese für den Widerstandskampf zurüstende, also zweckgebundene Spiritualität, die Bonhoeffer in Finkenwalde eingeübt und praktiziert hat. Persönliche Gottes- und Sinnsuche als Ausdruck einer sich selbst genügenden Spiritualität hingegen war nicht Bonhoeffers Thema, auch nicht in der Zeit der Haft.
4.
Welche Gestalt und welche Ausdrucksformen hat Bonhoeffers persönliche spirituelle Praxis gehabt?
Noch einmal kommt es für Bonhoeffer zu einer neuen, sehr persönlichen spirituellen Erfahrung durch seine Haft in Tegel. Es ist die alltägliche Praxis persönlichen geistlichen Lebens, wiederum zweckgebunden als Überlebensstrategie und verbunden mit dem Versuch, dem, was ihm widerfährt, einen Sinn zu geben. Am 21. November 1943 schreibt er aus der Haft an seinen Freund Eberhard Bethge (8, 197) – es ist der erste Brief, der an der Zensur vorbei geschmuggelt werden kann: „Zweierlei aber muß ich Dir doch noch sagen, was Dir vielleicht verwunderlich vorkommt: 1. ich entbehre sehr die Tischgemeinschaft; jeder ‚materielle‘ Gruß, den ich von Euch kriege, verwandelt sich hier in eine Erinnerung an die Tischgemeinschaft mit Euch. Ob sie nicht darum doch ein wesentlicher Bestandteil des Lebens ist, weil sie eine Realität des Reiches Gottes ist? 2. Ich habe die Anweisung Luthers sich ‚mit dem Kreuz zu segnen‘ bei Morgen- und Abendgebet ganz von selbst als eine Hilfe empfunden. Es liegt darin etwas Objektives, nach dem man hier besonders Verlangen hat. Erschrick nicht! ich komme bestimmt nicht als ‚homo religiosus‘ von hier heraus! ganz im Gegenteil, mein Misstrauen und meine Angst vor der ‚Religiosität‘ sind hier noch größer geworden als je“.
Später – längst haben die massiven Bombenangriffe auf Berlin begonnen, von denen auch die Haftanstalt Tegel betroffen ist – wird Bonhoeffer unter anderem erwähnen, dass er es angesichts von Ach-Gott-Rufen eines Häftlings bei einem Angriff nicht über sich gebracht hätte, diesen „irgendwie christlich zu ermutigen und zu trösten“. Vielmehr habe er ihm nach einem Blick auf die Uhr gesagt: „Es dauert höchstens noch zehn Minuten“ (8, 301). Und wieder in einem ganz anderen Zusammenhang verweigert sich Bonhoeffer dem Ansinnen von Marias Großmutter und Mutter, er solle Maria bei ihren Besuchen im Gefängnis zuerst einmal eine Andacht halten und sie solle sich Fragen zu religiösen Problemen
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aufschreiben, die sie dann mit ihm besprechen könne, wo es ihm doch daran läge, wie er Bethge schreibt, „mit einem Stück wirklichen Lebens in Berührung zu kommen“ (8, 375). Diese Zitate samt ihrem Umfeld machen deutlich, auf welch schwieriges Gelände wir uns begeben, wenn wir nun nach den Formen der persönlichen Spiritualität Bonhoeffers fragen. Seine Erfahrungen im Widerstandskampf als auch mit den Mithäftlingen hatten Bonhoeffer zu der Erkenntnis geführt, dass Religion keinerlei Zukunft mehr hat. Religion stand ihm für Metaphysik, für Innerlichkeit. Sie ist etwas Partielles, etwas von der Welt Abgegrenztes. Ihr steht der Glaube gegenüber, dem es immer ums Ganze geht, der nicht Teil von etwas sein kann, dem die Fülle eignet – weshalb Bonhoeffer in diesem Zusammenhang dann von der Mitte des Lebens, von den Stärken der Menschen als dem Ort des Glaubens sprach und sich dagegen verwahrte, erst am Rande bzw. Ende des Lebens und angesichts der Schwächen des Menschen von Gott zu reden. Überhaupt war ihm jede Rede von Gott, die in diesem vornehmlich die Lösung von menschlichen Problemen sieht, zutiefst verdächtig (8, 407f). Diese Absage an die Religion hinderte Bonhoeffer aber offensichtlich nicht daran, mit strenger Disziplin im Rahmen eines ganz regelmäßigen Tagesablaufes in seiner Zelle geistliches Leben zu praktizieren. Die damit notwendig verbundene Ritualisierung des Alltags empfand er als große Hilfe und empfahl sie darum dringlich seinem Freund Eberhard Bethge auch in dessen Situation (8, 242f). Was die Gestalt dieses persönlichen geistlichen Lebens betrifft, so finden wir alle Elemente wieder, die in Finkenwalde das gemeinsame Leben bestimmt haben: Psalmengebet und regelmäßige Schriftlesung zusammen mit der schriftgebundenen Meditation. Bonhoeffer hält seine Morgen- und Abendandacht, ergänzt diese mit „objektiven“ Zeichen wie dem Sich-mit-dem-Kreuzsegnen. Nehmen schon im „Gemeinsamen Leben“ das Gebet und die Fürbitte eine zentrale Stellung ein, so verstärkt sich das noch einmal in der Haftzeit. Vor allem im brieflichen Gespräch mit Eberhard Bethge bittet er um dessen Fürbitte und versichert ihn seinerseits seiner Fürbitte. Selbst die Beichte praktiziert er gegenüber Bethge, freilich in der den Umständen angepassten brieflichen Form: „Sei Du mein Pfarrer und hör mich an!“ (8, 186). Auch die Herrnhuter Losungen und das Gesangbuch mit seinen Liedern spielen wieder eine wichtige Rolle.22 Was in Finkenwalde gemeinschaftliche Einübung in den Kampf um die wahre Kirche war, ist nun eine individuelle Überlebensstrategie für den auf sich selbst zurückgeworfenen Glaubenden. Auch wenn Bonhoeffer in der Haft schwere Folterung erspart geblieben ist, hat er Tiefen der Anfechtung und des Leidens durchmessen. Hingeworfene Notizen auf einem „Blockzettel“ vom Meldeblock 22 Zur Losungs- und Gesangbuchfrömmigkeit vgl. Zimmerling, Signaturen.
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der Tegeler Wachstube, verfasst im Mai 1943, lassen uns ahnen, was in ihm vor allem in den ersten vier Wochen wirklich vorging (8, 60–64).23 Erst im Rückblick auf diese Zeit kann Bonhoeffer später an Eberhard Bethge schreiben: „Ich bin in diesen Tagen vor allen schweren Anfechtungen bewahrt worden. Du bist der einzige Mensch, der weiß, dass die ‚acedia‘ – ‚tristitia‘ mit ihren bedrohlichen Folgen mir oft nachgestellt hat, […]. Aber ich habe mir von Anfang an gesagt, dass ich weder den Menschen noch dem Teufel diesen Gefallen tun werde“ (8, 187).
Obwohl ihn die Hafterfahrungen in den ersten vier Wochen an die Grenzen seiner Belastbarkeit geführt hatten, scheute sich Bonhoeffer vor einer Dramatisierung seines Leidens: „ich schäme mich manchmal fast, wie viel wir von unseren eigenen Leiden gesprochen haben. Nein, Leiden muss etwas ganz anderes sein, eine ganz andere Dimension haben, als was ich bisher erlebt habe“ (8, 356f). Worunter Bonhoeffer nach eigenem Bekunden „litt“, das nannte er „seelisches“ Leiden und stellte sofort fest, dass Christus uns dieses eigentlich abgenommen haben sollte. Dennoch musste er sich mit eben dieser Art Leiden herumschlagen. Was ihn quälte, war die Sehnsucht nach Maria24 und die Anfechtung, ob denn das, was ihm da widerfahren ist, um Christi willen geschehe (8, 187f). Seine Angelegenheit dürfe nicht zu einer Sache der Berechnung und der menschlichen Vorsicht gemacht werden – schrieb er Eberhard Bethge. Nur wenn sie eine Sache des Glaubens ist, könne er sich dessen trösten, das alles, was geschieht, wenn schon nicht „einfach ‚Gottes Wille‘“ ist, so doch schließlich „nichts ‚ohne Gottes Willen‘“ (geschieht), denn dann gäbe es „durch jedes Ereignis, und sei es noch so ungöttlich, hindurch einen Zugang zu Gott“ (8, 242). Wenig später heißt es: „Ich möchte Dir irgendwie sagen, dass für mich die Führung meiner ganzen Angelegenheit ganz entscheidend eine Glaubensfrage ist“. Und weiter: „Ich muss die Gewissheit haben können, in Gottes Hand und nicht in Menschenhänden zu sein“ (8, 252). Hier tritt nun unübersehbar neben die spirituelle Praxis, die ihre Wurzeln in der Finkenwalder Zeit hat und von dem Gemeinschaftserlebnis damals getragen wird, noch ein ganz anderes Element: das persönliche Wissen um Gottes Führung in seinem Leben. Für sie war ihm insonderheit die Begegnung mit Maria ein deutliches Zeichen.25 Diese persönliche Führungsgewissheit zusammen mit dem Bild von den Händen Gottes überrascht, weil sie gleichzeitig 23 Nur in diesem Zusammenhang taucht bei Bonhoeffer Selbstmord als eine Möglichkeit auf, zum einen aus Verantwortung für die, die draußen sind – er fragt sich, ob er standhaft bleiben und sie in den Verhören (auch unter möglicher Folter) nicht belastet –, zum anderen als ganz persönliche Anfechtung, einfach Schluss zu machen, weil es nicht mehr lohnt und weil dies vielleicht die letzte und einzige noch frei zu wählende Tat ist. Ähnliche Überlegungen finden sich auch in den Zettelnotizen zum Dramenentwurf aus den „Tegeler Fragmenten“ (7, 252– 259, bes. 258) sowie in der Ethik (6, 192–199). 24 Vgl. hier vor allem das Gedicht „Vergangenheit“ (8, 468–471). 25 Vgl. Brautbriefe, 38.
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und zuweilen sogar in unmittelbarem Zusammenhang jener Briefe von Bonhoeffer begegnen, in denen er seine Zeitdiagnose vom Heraufkommen einer völlig religionslosen Zeit entfaltete und von der notwendigen nichtreligiösen Interpretation des Evangeliums sprach. Sein selbstverständlicher „Glaube an die Allwissenheit und die von Güte, Gnade und Treue bestimmte Allmacht- und Allwirksamkeit Gottes“26 standen für ihn nicht im Gegensatz zu seiner Absage an die Religion. Bonhoeffers Vorsehungsglaube ist eingespannt in einen eschatologischen Gesamtrahmen. Demzufolge muss Gottes Führung immer als „eine Führung zu ihm selbst hin“ verstanden werden. Auch steht er nicht im Gegensatz zu einem tätigen und selbst verantworteten Leben. Er befreit überhaupt erst dazu.27 Was uns als Gegensatz erscheint zwischen persönlicher Glaubensgewissheit und Rede von der Religionslosigkeit der modernen Welt samt der Forderung, sich darauf im Glauben einzulassen, löst sich in dem Moment auf, in dem wir die nichtreligiöse Interpretation des Evangeliums nicht als ein theologisches Programm oder eine hermeneutische Methode verstehen, sondern als das Zeugnis vom selbstverständlichen und darin ganz selbstlosen Leben des Glaubens unter allen Umständen.28 So jedenfalls formulierte Bonhoeffer im Brief vom 21. Juli 1944 die neue spirituelle Erfahrung, die er in der Haftzeit und zuvor schon im Widerstand gemacht hat: „Später erfuhr ich und ich erfahre es bis zur Stunde, dass man erst in der vollen Diesseitigkeit des Lebens glauben lernt. Wenn man völlig darauf verzichtet hat, aus sich selbst etwas zu machen – […] und dies nenne ich Diesseitigkeit, nämlich in der Fülle der Aufgaben, Fragen, Erfolge und Misserfolge, Erfahrungen und Ratlosigkeiten leben, – dann wirft man sich Gott ganz in die Arme, dann nimmt man nicht mehr die eigenen Leiden, sondern die Leiden Gottes in der Welt ernst, dann wacht man mit Christus in Gethsemane, und ich denke, das ist Glaube, das ist Buße/Umkehr/Umsinnung; und so wird man ein Mensch, ein Christ“ (8, 542).
Davon Zeugnis abzulegen, nicht im Sinne einer Heiligenlegende, das ist es, was Bonhoeffer nichtreligiöse Interpretation des Evangeliums nennt: die schlichte Erzählung29 davon, wie das Leben im Glauben unter den Bedingungen von Widerstand, Konspiration und Haft aussieht. Bonhoeffer nannte das einen Weg in die volle Diesseitigkeit und damit auch in die Gottesferne. Er konnte diesen Weg gehen, weil er sich der allzeit gegenwärtigen Hand Gottes absolut sicher war. So erweist sich Bonhoeffers Vorsehungsglaube als die Voraussetzung dafür, dass er die Anfechtungen der Haftzeit überwinden konnte. Seine Praxis geistlichen Le26 27 28 29
Vgl. Krötke, Gottes Hand und Führung, 401. A. a. O., 402. Vgl. zu dieser These Löhr, Von der Schwierigkeit, „Ich“ zu sagen. Die Tegeler Fragmente (DBW 7) belegen, dass Bonhoeffer noch einen Versuch gewagt hat, davon zu erzählen. Er ist aber daran insofern gescheitert, als er noch nicht die Form gefunden hatte, die es ihm erlaubte, „Ich“ zu sagen.
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bens aber diente der Vergewisserung dessen, dass Gottes Führung immer ein Führen hin zu ihm selber ist.30 Unsere Suche nach Elementen von Spiritualität im Lebenszeugnis Dietrich Bonhoeffers wäre unvollständig ohne den Hinweis auf jenen ganz und gar persönlichen Aspekt spirituellen Lebens, der sich wie ein roter Faden zunächst eher unbewusst, später, vor allem in der Haftzeit, ganz bewusst durch Bonhoeffers Leben zieht: sein Ergriffensein von Musik, hier besonders von geistlicher Musik und Gesangbuchliedern. Ferdinand Schlingensiepen hat in einem umfassenden Essay deutlich gemacht, welche zentrale Bedeutung dieser Aspekt als persönliche Glaubensvergewisserung für Bonhoeffer hatte. Dies gilt besonders von den Liedern Paul Gerhardts, aber auch von den geistlichen Konzerten und Motetten eines Heinrich Schütz oder den Kantaten und Oratorien von Johann Sebastian Bach, wie viele Äußerungen in „Widerstand und Ergebung“ belegen.31 Das eindrücklichste Zeugnis hierfür bleibt Bonhoeffers Brief vom 18. Dezember 1943 an Eberhard Bethge, wo er erstmals im Hinblick auf das Paul Gerhardt-Lied „Ich steh an deiner Krippen hier“ (EG 37) von dem doch auch erlaubten „Ich und Christus“ (8, 246) spricht. Dieser Brief bildet eine Brücke zu den alsbald entstehenden „Gedichten“, in denen er zum ersten Male unverstellt und offen „Ich“ zu sagen vermag.32 Setzen wir Bonhoeffers Lebenszeugnis in Beziehung zu dem Begriff „Spiritualität“, so lassen sich abschließend drei Aspekte benennen: Als Bonhoeffers spirituelle Prägung begegnet uns eine persönliche, selbst verantwortete und selbst gestaltete Frömmigkeit, die gesellschaftliche Verantwortung einschließt. Diese Prägung wird zweimal überformt: Zunächst entdeckt Bonhoeffer die Bibel, insonderheit die Bergpredigt und verbunden damit seine Bindung an die Kirche. Daraus erwächst eine zweckgebundene, allein auf „das Leben, Sterben und Auferstehen Jesu Christi“ (auch im Sinne des „Vorbildes“) ausgerichtete, an der Schrift orientierte und in Gemeinschaft praktizierte Spiritualität, die zum Widerstand befähigt. Sie wurzelt in der gottesdienstlichen Feier und wird geübt in Beratung, Gespräch und Beichte unter Brüdern, im tägliche Gebet und der schriftgebundenen Meditation. In Finkenwalde übt Bonhoeffer sie mit den Kandidaten des Predigerseminars ein. Später, unter dem Eindruck der Haft, kann Bonhoeffer auch seine eigene ihn tragende Gewissheit aussprechen, dass alles, was ihm geschieht, unter der Hand und Führung Gottes geschieht. Dessen vergewissert er sich durch eine an den
30 Vielleicht gehört ja für Bonhoeffer das Erzählen von der Führung Gottes in den Bereich des Arkanum und wäre damit dem öffentlichen Zugriff entzogen. Dazu passt es, dass ihm in zunehmendem Maße der Umgang Israels mit dem Gottesnamen zum Vorbild wird (8, 226). 31 Vgl. Schlingensiepen, Glaube und Leben. 32 Vgl. parallel dazu seine Briefe an Maria.
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Finkenwalder Erfahrungen orientierte Praxis persönlichen geistlichen Lebens, die zurückgebunden bleibt an die weltweite christliche Bruderschaft. Uns begegnet damit eine hoch reflektierte, konfessionell nicht klassifizierbare, ökumenische Spiritualität unter den besonderen Bedingungen des Kirchenkampfes in der Zeit des Nationalsozialismus in Deutschland. Verortet in der Gemeinschaft der Kirche und auf gemeinschaftliche Praxis zwingend angewiesen, rüstet sie die Kirche zum Kampf. In extremen Situationen kann sie auch vom einzelnen Gläubigen allein praktiziert werden als eine Überlebensstrategie, wenn sich der einzelne Gläubige damit bewusst hineinstellt in die weltweite Gemeinschaft der Christenheit. Eine direkte Rezeption dieser gemeinschaftlich praktizierten Spiritualität setzt eine Kampf- und Entscheidungssituation für die Kirche bzw. für den einzelnen Gläubigen voraus. Wo solch eine Situation gegeben ist, kann jene von Bonhoeffer für Finkenwalde entworfene Spiritualität helfen, diesen Kampf zu bestehen. Das erklärt die besondere Bedeutung, die Bonhoeffers Lebenszeugnis für die Kirchen und für viele Menschen in der DDR hatte, ebenso wie seine Rezeption zum Beispiel in Südafrika und Südamerika.33 Blicken wir hingegen auf die individuelle Praxis geistlichen Lebens, die Bonhoeffer während seiner Haftzeit übte, so bieten sich für deren Rezeption natürliche Anknüpfungsmöglichkeiten in allen Situationen, wo Christen aus welchen Gründen auch immer in ihrem Glaubensleben auf sich selbst gestellt sind. Entscheidend bleibt die Bindung an die Gemeinschaft. Wenn es einen Aspekt dieser Spiritualität gibt, der im engeren Sinne als reformatorisch bzw. protestantisch klassifiziert werden kann, dann ist es ihre unbedingte Schriftgebundenheit.34
Literatur Quellen Brautbriefe Zelle 92. Dietrich Bonhoeffer und Maria von Wedemeyer, 1943–1945, hrsg. von Ruth-Alice von Bismarck/Ullrich Kabitz, München 1992.
33 Albrecht Schönherr, einer der ältesten Schüler Bonhoeffers, hat Elemente dieser Spiritualität nach dem Zweiten Weltkrieg als Leiter des Predigerseminars in Brandenburg aufzunehmen versucht, wohl wissend, dass eine direkte Übernahme wegen der Situationsgebundenheit nicht möglich ist, vgl. Schönherr, … aber die Zeit war nicht verloren, 174–185. Andererseits finden wir im Umfeld der sog. Befreiungstheologie das Konzept „Kontemplation und Kampf“. 34 Weiterführende und z. T. eigene Akzente setzen zum Thema: Mayer/Zimmerling (Hg.), Bonhoeffer – Mensch; Mayer/Zimmerling (Hg.), Bonhoeffer – Beten; Biewald (Hg.), Bonhoeffer; Biewald/Beckmann, Bonhoeffer Werkbuch; Schramm, Unterwegs mit Bonhoeffer; Zimmerling, Bonhoeffer; Süselbeck, Spiritualität.
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Dietrich Bonhoeffer Werke, hg. von Eberhard Bethge u. a., München/Gütersloh 1986ff [kurz: DBW]. Die Finkenwalder Rundbriefe. Briefe und Texte von Dietrich Bonhoeffer und seiner Predigerseminaristen 1935–46, hg. von Ilse Tödt (DBW Ergänzungsband), Gütersloh 2013. Leibholz-Bonhoeffer, Sabine, Weihnachten im Hause Bonhoeffer, Gütersloh 1992.
Forschungsliteratur Bethge, Eberhard, Bonhoeffer, Berlin 1986. Biewald, Roland (Hg.), Dietrich Bonhoeffer lesen und verstehen, Leipzig 2005. Biewald Roland/Beckmann, Jens, Bonhoeffer Werkbuch. Spurensuche – didaktische Überlegungen – Praxisbausteine, Gütersloh 2007. Büssing, Arndt/Ostermann, Thomas/Glöckler, Michaela/Matthiessen, Peter F., Spiritualität, Krankheit und Heilung. Bedeutung und Ausdrucksformen der Spiritualität in der Medizin. Referate einer Tagung im Oktober 2005 in Arlesheim, Frankfurt/Main 2006. Evangelische Spiritualität. Überlegungen und Anstöße zu einer Neuorientierung, vorgelegt von einer Arbeitsgruppe der Evangelischen Kirche in Deutschland, hg. von der Kirchenkanzlei im Auftrag des Rates der Evangelischen Kirche in Deutschland, Gütersloh 2 1980. Henkys, Jürgen, Geheimnis der Freiheit, Gütersloh 2005. Krötke, Wolf, Gottes Hand und Führung, in: ders., Barmen – Barth – Bonhoeffer. Beiträge zu einer zeitgemäßen christozentrischen Theologie, Bielefeld 2009, 381–402. Löhr, Christian, Von der Schwierigkeit, „Ich“ zu sagen, in: Dietrich Bonhoeffers Christentum. Festschrift für Christian Gremmels, hg. von Florian Schmitz/Christiane Tietz, Gütersloh 2011, 156–175. Mayer, Rainer/Zimmerling, Peter (Hg.), Dietrich Bonhoeffer – Beten und Tun des Gerechten, Gießen 1997. –, (Hg.), Dietrich Bonhoeffer – Mensch hinter Mauern, Gießen 1993. Schlingensiepen, Ferdinand, Glaube und Leben in den Gedichten Dietrich Bonhoeffers und seine Liebe zur Musik, in: Mitteilungen der Internationalen Bonhoeffergesellschaft. Deutschsprachige Sektion. Bonhoeffer Rundbrief Nr. 106, August 2014, 9–50. –, Dietrich Bonhoeffer, München 2005. Schönherr, Albrecht, … aber die Zeit war nicht verloren, Berlin 1993. Schramm, Martin, Unterwegs mit Bonhoeffer, Witten 2013. Süselbeck, Heiner, Spiritualität für eine andere Welt? – Das Beispiel Dietrich Bonhoeffers, in: Mitteilungen der Internationalen Bonhoeffergesellschaft. Deutschsprachige Sektion. Bonhoeffer Rundbrief Nr. 109, Mai 2015, 35–45. Woyke, Johannes, Ich kam zum ersten Mal zur Bibel, Vortrag vor der Jahrestagung der Internationalen Bonhoeffergesellschaft. Deutschsprachige Sektion 2014, in: Mitteilungen der Internationalen Bonhoeffergesellschaft. Deutschsprachige Sektion. Bonhoeffer Rundbrief Nr. 10, Februar 2015, 7–35. Zimmerling, Peter, Signaturen evangelischer Spiritualität, in: Zeitschrift für Theologie und Gemeinde 17/2012, 126–143.
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–, Die Losungen. Eine Erfolgsgeschichte durch die Jahrhunderte, Göttingen 2014. –, Bonhoeffer als Praktischer Theologe, Göttingen 2006.
Reinhard Hempelmann
Ein Überblick über die evangelische Spiritualität in der Nachkriegszeit
Der vieldeutige und heute inflationär gebrauchte Begriff Spiritualität mit seinen Äquivalenten in anderen Sprachen ist auch im Kontext von Kirche und Theologie intensiv rezipiert worden. Seit den 1970er Jahren trat er mehr und mehr an die Stelle des spezifisch deutschen Wortes Frömmigkeit, dessen Sinn mitzuhören ist. Eine allgemein anerkannte Definition gibt es nicht. Assoziierte Begrifflichkeiten sind religiöse Haltung und Einstellung, Religiosität, Meditation, Mystik, Erfahrung, Gestaltung, rituelle Praxis usw. Der Begriff wird Religionen, konfessionellen Traditionen, neuen religiösen Bewegungen, ebenso besonderen Praktiken zugeordnet (islamische oder buddhistische, römischkatholische, lutherische, orthodoxe, östliche, westliche Spiritualität, Spiritualität des Pilgerns, des Kampfes, der Befreiung, des Alltags etc.). Im christlichen Kontext bezieht sich Spiritualität vor allem auf das individuell und gemeinschaftlich gestaltete Leben im Credo der Christenheit, das sich an der göttlichen Selbstmitteilung in Jesus Christus und im Heiligen Geist orientiert. Evangelische Spiritualität unterstreicht den Antwortcharakter geistlichen Lebens, die Voraussetzungslosigkeit göttlicher Gnadenmitteilung, den Zusammenhang von Rechtfertigung und Heiligung, von Gebet, Fürbitte, Gottesdienst mit einer Ethik der Verantwortung. In der Grundthese der Freiheitsschrift hat Martin Luther dies 1520 klassisch und wirkungsmächtig formuliert und in das rechtfertigungstheologische Schema von Glaube aus Gesetz und Evangelium, Liebe in Nächstendienst und Leidensgehorsam eingeordnet. Die anthropologische Orientierung der Rechtfertigungsbotschaft, wie sie in dieser Schrift des Reformators zum Ausdruck kommt, bleibt freilich bezogen auf das Handeln Gottes, das in trinitarischer Perspektive als Schöpfungshandeln, als offenbarendes Handeln und als vergewisserndes und neuschaffendes Handeln Gottes wahrzunehmen und zu verstehen ist. Das Wirken des spiritus sanctificator bleibt bezogen auf das Wirken des spiritus creator. Evangelische Spiritualität als Leben aus Gottes Geist und individuelle und gemeinschaftliche Glaubenspraxis kann in Meditation, Gebet, Gottesdienst, Diakonie vielfältig Gestalt gewinnen und ist dabei mitbestimmt von kultu-
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rellen Kontexten und lebensgeschichtlichen Entwicklungen und Erfahrungen. In der Vielfalt der Gestaltungsformen stellt die Bezogenheit auf die göttliche Weltzuwendung in seinem Wort und das Hören auf die Worte der Heiligen Schrift die Mitte evangelischer Spiritualität dar. Evangelische Identitätsbildung geschieht durch den Umgang mit der Heiligen Schrift, in der Feier der Sakramente und in der Gemeinschaft der Christen. Ein Überblick über mehr als 70 Jahre kann nur eklektisch geschehen und das Augenmerk auf einzelne Impulse richten, die nachhaltigere Wirksamkeit entfalteten. Christliche Spiritualität kennt eine Fülle von Ausdrucksformen und bleibt auf konfessionelle Traditionen bezogen, auch wenn deren Bedeutung zurückgetreten ist. Innerhalb des evangelischen Spektrums gibt es vielfältige Gestalten individuellen und gemeinschaftlichen Lebens aus dem Geist Gottes, wenn beispielsweise von lutherischer, reformierter, methodistischer, baptistischer Spiritualität die Rede ist. Neben konfessionellen Einflussfaktoren entwickelten sich in der Nachkriegszeit konfessionsüberschreitende Bewegungen. Ökumenische Lernerfahrungen – etwa im Zusammenhang des Zweiten Vatikanischen Konzils (1962–1964) und der Leuenberger Konkordie (1973) – beeinflussten die Spiritualitätsdiskurse in den evangelischen Kirchen nachhaltig. In befreiungstheologischen und feministischen Spiritualitäten wurde die Kontext- und Weltbezogenheit der christlichen Glaubenspraxis unterstrichen. Bereits nach 1968 – auch hier das Einschnittsdatum – spricht man vom Aufkommen neuer religiöser Bewegungen oder der Suche nach einer neuen Religiosität und Spiritualität, die sich inhaltlich weithin an christlichen Orientierungen vorbei vollzieht. Seit den 1990er Jahren treten die buddhistische und vor allem die muslimische Präsenz zunehmend in das Licht der Öffentlichkeit. Die grundsätzlichen Veränderungen der politischen Landschaft mit dem Datum 1989, ebenso dem 11. September 2001, haben die Chancen und Gefährdungen geschichtlicher Entwicklungen offengelegt und gezeigt, dass Religionen zur Versöhnung und zum Frieden beitragen, aber auch konfliktverschärfende Wirkungen haben können. Begegnungen im interreligiösen Dialog, Diskurse über Multireligiosität und das Schöpfen aus verschiedenen religiösen Quellen, die Rezeption spiritueller Praktiken aus nichtchristlichen religiösen Traditionen verschärften Fragen nach christlicher Identität und evangelischer Spiritualität. Esoterisch geprägte spirituelle Bewegungen entwerfen „vormoderne“ und antisäkularistische Weltkonzeptionen, die in ihrem Protest jedoch an die Determinanten der Moderne gebunden bleiben. Auch im Kontext atheistischer Weltdeutungen kann von einzelnen Vertreterinnen und Vertretern der Spiritualitätsbegriff aufgegriffen werden, wenn etwa von säkularen Spiritualitäten oder einer „weltlich-humanistischen Spiritualität“ als „Seele
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des Atheismus“ gesprochen wird.1 In den Ausweitungen des Spiritualitätsbegriffs zeigen sich zugleich Tendenzen der Sakralisierung und Divinisierung des Profanen. Der Gebrauch des Spiritualitätsbegriffs in nahezu allen religiösen und weltanschaulichen Kontexten hat ihn unbestimmt gemacht, zugleich freilich zu einem Zentralbegriff interreligiöser und weltanschaulicher Begegnungen. Evangelische Spiritualität kann den Erweiterungen des Begriffs nicht allein integrativ begegnen, sie ist vielmehr auch zur Unterscheidung herausgefordert.
1.
Die Entdeckung geistlicher Gemeinschaften und kommunitärer Lebensformen
Nach der reformatorischen Kritik am Ordensleben gab es in den Kirchen der Reformation eine große Distanz gegenüber zölibatären Verpflichtungen und kommunitären Lebensformen. Sie galten als unevangelisch. Dies änderte sich im 20. Jahrhundert grundlegend. Bereits „im Zusammenhang mit der Gemeinschaftsbewegung und dem Protest der Jugendbewegung […] angesichts der Erschütterungen des Ersten Weltkrieges […] und der Neuorientierung der Theologie“ war es zur Entstehung einzelner Bruderschaften ohne vita communis gekommen.2 Es entstanden die Bahnauer Bruderschaft für Diakonie (1906), die Pfarrer-Gebetsbruderschaft (1913), die Sydower Bruderschaft für Pfarrer (1922), die hochkirchliche Johannesbruderschaft (1929), die 1931 gegründete und einflussreiche Evangelische Michaelsbruderschaft (Wilhelm Stählin, Karl Bernhard Ritter u. a.). Während und nach dem Zweiten Weltkrieg kam es im Kontext des Protestantismus zur Anknüpfung an vorreformatorische Traditionen und ordensmäßige Regeln. Die klassischen Gelübde Armut, Ehelosigkeit und Gehorsam wurden erneuert, und Impulse für ein gestaltetes Leben vor Gott wurden wirksam, indem die Betenden zugleich leidenden und unterdrückten Menschen nahe sein wollten. Charakteristisch ist die 1949 bei Cluny unter der Leitung von Frère Roger Schutz gegründete ökumenisch ausgerichtete Communauté de Taizé. In Deutschland erwies sich u. a. die pietistische Tradition als fruchtbarer Boden für kommunitäre Lebensformen, hinzu kamen Impulse aus der katholischen Ordenstradition: Marienschwesternschaft (1947), Communität Christusbruderschaft Selbitz (1949), Communität Casteller Ring (1950), Jesusbruderschaft Gnadenthal (1961). Verbindliche Lebensgemeinschaften zielen darauf ab, den Alltag zu unterbrechen, ein Leben coram Deo zu führen, sich dem beschauenden 1 Kahl, Joachim, Weltlich-humanistische Spiritualität, http://www.kahl-marburg.privat.t-online.de/Kahl_Spiritualitaet_1.pdf (letzter Zugriff: 27. 04. 2016). 2 Verbindlich leben, 12.
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Betrachten der Bibel zu widmen und Wegweisung für das Leben in einer säkularisierten Gesellschaft zu suchen. Kommunitäre Lebensformen sind darauf ausgerichtet, aus dem gemeinsamen Leben in Gebet und Gottesdienst gewissermaßen den Weg von innen nach außen zu gehen. Beide Ausprägungen ergänzen sich und treten neben die Gestalt der Kirche als Ortsgemeinde und Personalgemeinde. Als dritter Typus kommen Ende der 1960er Jahre Familiengemeinschaften hinzu. Ein zentraler biblischer Bezugspunkt dieser Lebensform ist u. a. Apg 2,42. Geistliche Gemeinschaft soll gemäß der Schrift als Bruder- und Schwesternschaft gelebt werden. Geistliche Gemeinschaften verstehen sich als Orte geistlichen Lebens und als Konkretion der Nachfolge Christi, nicht als kirchenpolitische Gruppen, auch nicht als Aktionsgruppen oder Orte, wo besondere theologische Schulrichtungen gepflegt werden. Bruder- und Schwesternschaften wie auch Kommunitäten wollen das christliche Leben im Hören auf das Wort der Bibel, im regelmäßig praktizierten Gebet und in der Gemeinschaft beim Herrenmahl und im Dienst für den Nächsten praktizieren. Der Kirchenrechtler Hans Dombois unterschied vier Sozialgestalten von Kirche: die universale Kirche, die partikulare Kirche, die Ortsgemeinde, die Orden bzw. Klöster. Ortsgemeinde wie auch Gesamtkirche werden dabei als gleich ursprünglich angesehen, was bereits im neutestamentlichen Sprachgebrauch dadurch zum Ausdruck kommt, dass ekklesia gleichermaßen Ortsgemeinde und Gesamtkirche heißen kann. „An der Wende vom dritten zum vierten Jahrhundert entstand schließlich eine vierte Sozialgestalt von Kirche, die später unter der Bezeichnung um Orden bzw. Kloster begrifflich zusammengefasst wurde.“3 Eine nachhaltige Wirkung auf die evangelische Spiritualität in der Nachkriegszeit hat die Taizé-Bewegung ausgeübt. Taizé versteht sich als Bewegung, die Brücken baut zwischen Ost- und Westeuropa, aber auch darüber hinaus. Das Leben in Taizé ist gekennzeichnet durch den Stil des einfachen Lebens, durch bewussten Verzicht auf perfekte Organisation, durch Offenheit für Spontaneität und Improvisation, durch die Vision eines gerechten Lebens. Es ist die zeichenhafte gemeinschaftliche Lebensform der Brüder, die Glaubwürdigkeit und Konstanz ihres Engagements, die Taizé für viele Menschen anziehend macht. Dabei bezieht sich der Zeichencharakter vor allem auf zwei Aspekte: Es geht um ein Zeichen für die Einheit der getrennten Christen und zugleich um ein unbesorgtes geschwisterliches Miteinander-Leben und -Teilen als Zeichen für alle Menschen. Alles, was zur Gründungsgeschichte einer Kommunität gehört, ist in der Taizé-Gemeinschaft von Anfang an vorhanden: eine charismatische Stifterpersönlichkeit, ein „heiliger“ Ort, eine zeichenhaft gemeinschaftliche Lebensform; zugleich eine einfache wie weitreichende Programmatik – Kontemplation und Kampf –, die von vornherein deutlich macht, dass der „spirituelle Pilgerweg“ 3 Dombois, Recht der Gnade, 35–51.
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nicht mit dem Rücken zur Leidensgeschichte der Welt gegangen wird, sondern in Solidarität mit den Nöten der Menschen. Das kleine Dorf Taizé ist mittlerweile zu einem zentralen Jugendwallfahrtsort Europas geworden. In einem gesellschaftlichen und zum Teil auch kirchlichen Kontext, für den die abnehmende Akzeptanz von Werten mit hoher Bindungsbereitschaft kennzeichnend ist, bei offensichtlich wachsender Akzeptanz von Werten, die Selbstentfaltung und Selbsterfahrung in den Vordergrund stellen, wirken die lebenslangen Verpflichtungen von Orden und Kommunitäten wie eine Provokation, die für viele nicht nachvollziehbar ist. Zugleich leuchtet in solchen Lebensformen etwas Wichtiges auf. Die Lebensform der Ehelosigkeit eröffnet die besondere Verfügbarkeit für Gott und die Menschen. Die Gemeinschaft der Güter und Gaben des Lebens ist „Protest gegen die Diktatur des Habens“4 und zielt auf die Freiheit, im „Heute Gottes“ (Roger Schutz) zu leben. Der Gehorsam begrenzt ein individualistisches und egoistisches Lebenskonzept, wobei sich in Taizé Bruderrat und Prior ergänzen und das „demokratische“ und „hierarchische“ Element dem gemeinsamen Fragen nach dem göttlichen Willen zugeordnet ist. In der „Regel von Taizé“ wird deutlich, dass der Schritt in diese Lebensform nicht aus gesetzlichem Zwang erfolgen kann, sondern aus der Freude am Evangelium, aus dem Geist der Seligpreisungen der Bergpredigt. Bewusst vermeidet man es, feste Strukturen zu bilden. Das Provisorium des Pilgerweges entspricht dem Unterwegssein der Menschen. Die Wendung nach „innen“ und die Wendung nach „außen“ werden gleichermaßen betont: Kraft schöpfen in der Stille, im Gebet, im Hören auf Worte der Schrift und Handeln im Einsatz für Frieden und Versöhnung. Die Annäherung an den christlichen Glauben geschieht vor allem fragend und suchend. Welche Orientierungshilfen gibt der Glaube in einer sich schnell wandelnden und komplizierten Welt? Wie kann der Freiheit ein Sinn gegeben werden? Welche Wege gibt es heraus aus den Zwängen verkürzter, egoistischer Lebensziele? Welche ethischen Orientierungen sind Ausdruck der Verantwortung für die Lebensmöglichkeiten kommender Generationen? Mit der Weite und Offenheit der Taizé-Bewegung korrespondieren die Verbindlichkeit des Engagements der Brüder und die Konzentration der Gebete auf den auferstandenen Christus. Taizé setzt dabei nicht auf eine intellektuell-kognitiv orientierte Vermittlung der Quellen des Glaubens. Es geht um ein Lernen durch Teilhabe und Vollzug, um Ermutigung zum Gebet und Engagement. Taizé vermittelt kein politisches Programm für die Zukunft Europas und ist dennoch ein auch in politischer Hinsicht hoffnungsvolles Zeichen für die Möglichkeit eines von Respekt und Achtung voreinander geprägten Zusammenlebens von Menschen verschiedener ethnischer, kultureller und konfessioneller Zugehörigkeit. Die 4 Metz, Zeit der Orden?, 50.
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Brüder von Taizé haben sich auch hier gleichsam auf die Grenzlinien zwischen Ost und West gestellt, um der „vorrangigen Option für die Versöhnung“ Ausdruck zu verleihen. Überhaupt scheint die fortwährende Faszination von Taizé u. a. darin begründet zu sein, dass man sich auf solche Grenzlinien begibt und Zeichen der Versöhnung setzt: zwischen den Generationen, zwischen den Konfessionen, zwischen Reichen und Armen. Dieses „Zwischen“ kann freilich auch ein risikoreicher und missverständlicher Ort sein, der sich vor Vereinnahmungen schützen muss. Die Taizégemeinschaft erinnert an die Bedeutung, die Kommunitäten, Bruder- und Schwesternschaften für die Gestaltwerdung des Glaubens unter den Bedingungen der Modernität haben können. Für die Aufgabe der Erneuerung unserer Kirchen aus dem Geist des Evangeliums dürften sie eine nicht zu unterschätzende Bedeutung haben. Ortsgemeinden, Dienstgemeinschaften, Aktions- und Erneuerungsgruppen, Kommunitäten gehören zur Vielfalt der Gestaltung ekklesialer Sozialität.
2.
Transkonfessionelle und neue geistliche Bewegungen
In einer ökumenischen Studie zu transkonfessionellen Bewegungen aus dem Jahr 1976 wurde darauf hingewiesen, dass quer zu der traditionellen konfessionellen Aufgliederung Bewegungen und Gruppierungen entstanden sind, die die bestehenden Grenzen der Konfessionen überschreiten.5 Insbesondere drei transkonfessionelle Bewegungen werden dabei dargestellt: die evangelikale Bewegung, die aktionszentrierte Bewegung und die in verschiedenen konfessionellen Kirchen aufbrechenden charismatischen Bewegungen. Die Fragen, die von Evangelikalen und Charismatikern an etablierte Kirchen und Gemeinden gestellt werden, müssen ernst genommen werden. Die religiösen Bedürfnisse, auf die solche Bewegungen eingehen, deuten auf Vernachlässigtes hin. Ihr Engagement stellt kirchliches Leben vor die Frage nach seiner Erneuerungsfähigkeit und Offenheit gegenüber einer heutigen „Reformation“ aus dem Geist Christi. „Die Herausforderung evangelikaler Bewegungen an unsere Kirchen liegt darin, […] angesichts einer oft formellen, unverbindlichen Christlichkeit […] in den großen traditionellen Kirchen die Notwendigkeit persönlicher Entscheidung und Verpflichtung zu erkennen und zu betonen; […] alle Formen kirchlichen Lebens, christlichen Zeugnisses und kirchlichen Dienstes […] unter die Norm der Heiligen Schrift zu stellen […]. Die Herausforderung der charismatischen Bewegung an die Kirchen besteht darin, die oft unpersönlichen, konventionellen und starren Formen des Gottesdienstes zu verlebendigen, […] angesichts einer oft einseitig zweckorientierten, intellektualisierten Frömmigkeit der Dimension des 5 Vgl. Gassmann/Meyer, Neue transkonfessionelle Bewegungen.
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Lobpreises – bis an die Grenzen unserer Sprachstrukturen – ein größeres Recht einzuräumen; […] nicht nur in theologischen Aussagen, sondern auch im Leben der Gemeinschaft dem Wirken des Heiligen Geistes mehr Raum zu geben, damit […] das Glaubensleben des einzelnen wie der Gemeinschaft gestärkt wird.“6 Im Blick auf die aktionszentrierte Bewegung wird festgehalten, dass deren Herausforderung darin liege, „sich von einer falschen […] Innerlichkeit […] zu lösen“ und sich zu fragen, „inwieweit und in welcher Form sie aufgrund ihrer Verflochtenheit mit gesellschaftlichen Strukturen und von ihrem Auftrag her eine aktive und verändernde Rolle im Blick auf die gesellschaftlichen Strukturen überall in dieser Welt zu erfüllen hat“.7 Diese Sätze bringen auch heute noch Treffendes zum Ausdruck. Die in der Studie vorgenommene Deutung transkonfessioneller Bewegungen geht davon aus, dass diese auch dann, wenn sie in Einzelfragen kritisch zu beurteilen sind, als Indikatoren kirchlicher Defizite zu betrachten sind und deshalb als Herausforderung ernst genommen werden müssen.8 „Geistliche Bewegungen“, wie sie sich innerhalb des römischen Katholizismus entwickelten, überschneiden sich teilweise mit dem Phänomen transkonfessioneller Bewegungen. Jenseits der Wahrnehmung solcher Bewegungen in ihrer Verschiedenheit lassen sich gemeinsame, häufig vorkommende Merkmale und Leitelemente benennen: Spiritualität und ganzheitliche Glaubenserfahrung finden eine konkrete Gestalt im persönlichen Gebet, in Meditation und Glaubensgespräch. Verbindliche Wahlgemeinschaften auf Zeit ermöglichen neue Formen religiöser Vergewisserung in Bibellektüre, gottesdienstlichen Vollzügen und schaffen Räume des Austausches von Erfahrungen. Die Gemeinschaftsbildung geschieht in flexiblen Strukturen und in der Pflege eines kommunikativen Gemeinschaftslebens. Die Glaubensvermittlung erfolgt unter Berücksichtigung der Glaubensbiographie und alltagsbezogen. Die Verantwortung der Laien wird in zahlreichen geistlichen Bewegungen besonders hervorgehoben. Der Heilungsauftrag der christlichen Gemeinde, etwa im Kontext pentekostaler Bewegungen, in anderen Gemeinschaften die ganzheitliche Evangelisierung in der engen Verknüpfung von sozialem Dienst und missionarischer Praxis erfahren eine besondere Betonung. Einführungskurse in den christlichen Glauben und die Akzentuierung der missionarischen Praxis sind wesentliche Ausdrucksformen der Glaubensvermittlung. 6 A. a. O., 39. 7 A. a. O., 38f. 8 Vgl. a. a. O., 39.
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Modernitätskritik ist ebenso ein Merkmal dieser Frömmigkeitsformen wie das Bemühen um eine neue Inkulturation des Christlichen in den Kontext von Moderne und Postmoderne, in der die kontingenzverarbeitende Funktion der Religion ebenso in Erscheinung tritt wie die Sehnsucht nach Emotionalität und beziehungsreichen Gemeinschaftserfahrungen. Attraktivität beziehen geistliche Bewegungen nicht nur aus der Intensität ihrer religiösen Erfahrung und ihrem Sendungsbewusstsein, sondern auch aus den Ambivalenzen gesellschaftlicher Modernisierungsprozesse und den nicht zu übersehenden „innovativen Schranken“ (Karl Gabriel) des institutionell verfassten Christentums. Während die Systeme institutioneller Absicherung des Glaubens heute zunehmend in Frage stehen, wächst die Bedeutung „emotional getragener Gemeinschaftlichkeit“ (Daniéle Hervieu-Léger) für gemeindliches und christliches Leben, ja für die Zukunftsfähigkeit der Kirchen überhaupt. Fortschreitende Individualisierungsprozesse moderner Gesellschaften rufen paradoxe Effekte hervor. Je mehr sich Glaubenssysteme individualisieren, desto größer wird das Bedürfnis nach Bestätigung des eigenen Glaubens durch eine Gemeinschaft. Die Chancen dieser Bewegungen liegen darin, dass sie Profilierungshilfen für das christliche Anliegen und für die Konkretion der Nachfolge anbieten, dass sie die Sozialität des Glaubens verdeutlichen und Erneuerungsperspektiven für die Gesamtkirche aufzeigen können. Sie ermöglichen geistliche Erfahrungen gegenüber einem bloßen Gewohnheitschristentum und dem weitgehenden Ausfall einer gelebten Spiritualität. Geistliche Aufbrüche unterliegen zugleich spezifischen Gefahren, nämlich das „Wir“ des Glaubens zu eng, zu begrenzt zu verstehen, sich auf das eigene Thema zu fixieren, sich gegenüber anderen Gruppen elitär abzugrenzen und abzuspalten, sich selbst nicht genügend zu relativieren oder auch sich auf das eigene Milieu zurückzuziehen und gleichsam homogen zu werden. Homogenität aber ist kein Merkmal für eine christliche Gemeinschaft. Christliche Gemeinschaftsbildungen können sich zwar ausdifferenzieren, auch im Blick auf verschiedene Zielgruppen, aber sie müssen etwas von der Kulturgrenzen überschreitenden Kraft des Evangeliums verdeutlichen, zielgruppenübergreifend sein und die Vielfalt des Leibes Christi dokumentieren. Die Ausbreitung geistlicher Bewegungen resultiert nicht nur daraus, dass sie Bewegungen zur Wiedergewinnung urchristlicher Glaubenserfahrung sind, sie hängt auch mit ihrer Kommunikationsfähigkeit in den jeweiligen kulturellen Kontext zusammen. Sie profitiert von verschiedenen Entwicklungen und Rahmenbedingungen: vom Schwinden der Selbstverständlichkeit und der kulturellen Abstützung christlicher Glaubenspraxis, von den antiinstitutionellen Affekten junger Menschen, vom Rückgang konfessioneller Bindungen. Für den Aufbau religiöser Identität hat die Mitgliedschaft in Gruppen häufig eine wichtigere Bedeutung als die Konfessionszugehörigkeit. Die offiziellen Lehren der Kirchen
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erhalten eine geringere Bedeutung und Zustimmung als die Erfahrung und theologische Ausrichtung, die konfessionsübergreifend mit Gruppen in anderen Kirchen geteilt werden können. Man wird aber auch berücksichtigen müssen, dass geistliche Bewegungen, die sich aus dem Gegenüber zu kirchlichen Strukturen herauslösen, selbst unweigerlich Verkirchlichungsprozesse durchmachen. Geistliche Bewegungen, die die innere Dynamik ihres Interaktionsverhältnisses zu den verfassten Kirchen aufheben, werden selbst zu Institutionen bzw. müssen es werden. Damit aber verlieren sie ihren Charakter eines geistlichen Aufbruches, konfessionalisieren sich und werden Teil des von ihnen kritisierten Zustandes von Kirche. Soziologische Außenperspektiven erkennen in diesen Entwicklungen die fortschreitende Fragmentierung des Christentums, die eine Schwächung seiner missionarischen Präsenz in der Gesellschaft bedeutet.
3.
Anstöße zur Neuorientierung (1979) und die Vielfalt evangelischer Spiritualität
Aus dem Bereich der EKD stellt der Text „Evangelische Spiritualität“9 nicht nur eine aussagekräftige Analyse der damaligen Gegenwartsdiskurse dar, er enthält auch Perspektiven einer spirituellen Erneuerung und Empfehlungen des Rates der EKD, in denen bleibende Aufgaben für den Bereich theologischer Ausbildung und kirchlicher Bildung ausgesprochen werden. Er kann insofern als Kristallisationspunkt für einen Überblick evangelischer Spiritualität in der Nachkriegszeit gelten. Er formuliert Anliegen evangelischer Spiritualität und verbindet sie mit einer Analyse des gesellschaftlichen und geistigen Umfelds. Die Stellungnahme ist im Titel allgemein gehalten, bleibt auf die Vielfalt evangelischer Spiritualitäten bezogen und spricht von „drei Strängen erneuerter Spiritualität“. Der Typ A wird als bibelorientiert, evangelistisch, charismatisch-pfingstlich charakterisiert, Typ B als liturgisch-meditativ, Typ C als emanzipatorisch-politisch. Unterstrichen wird die rechtfertigungstheologische Orientierung, zugleich wird als protestantisches Defizit, das sich auch innerhalb der Praktischen Theologie zeigt, festgehalten: Es fehlt „das systematische Nachdenken über Frömmigkeit und geistliches Leben“.10 Die enge Verbindung zwischen Glaube, Frömmigkeit, Lehre und Kirche sei „seit Anfang des 19. Jahrhunderts zurückgetreten, bzw. den erwecklichen Bewegungen, den Gemeinschaften und Gruppen überlassen worden“.11 Mit Recht wird auf den Traditionsabbruch der 1960er Jahre und die 9 Vgl. Evangelische Spiritualität. 10 A. a. O., 32. 11 A. a. O.
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daraus erwachsene Kirchenaustrittswelle verwiesen und konstatiert, dass in den Gemeinden „eine weithin gestaltlose defensive Kirchlichkeit und ein gefährlich unausdrückliches Christentum“ vorherrsche.12 Die Faszination neureligiöser Angebote in Gestalt zenbuddhistischer Meditation oder Transzendentaler Meditation (TM) oder in Gestalt von Neureligionen (so genannter Jugendreligionen) wird als „Signal und Herausforderung“ bezeichnet. Letztere „sammeln sich um einen heiligen Meister“, der „Garant der neuen Weltgesellschaft“ ist. Die entfalteten theologischen „Koordinaten“ betonen, dass die Kirche des Wortes einer Theologie des Heiligen Geistes bedarf, dass geistliche Übung und die Rechtfertigung sola gratia keinen Gegensatz darstellen, sie betonen die Glaubenserfahrung unter dem Kreuz und die grundlegende Bedeutung der Bibel für das christliche Leben. Der Text würdigt das missionarische Engagement, sieht in christlichen Gemeinschaften und Kommunitäten „Kristallisationskerne spiritueller Übung“ und unterstreicht die kirchliche und soziale Dimension christlichen Lebens. Er erinnert an die Notwendigkeit, eine angemessene „Elementarisierung christlicher Lehre“ zu betreiben, und setzt dabei einen engen Zusammenhang zwischen Bildungsarbeit und Verkündigungsdienst voraus. Einzelne Empfehlungen des Rates der EKD aus dem Jahre 1979 können auch heute unterstrichen werden: „Der Pflege und Einübung evangelischer Spiritualität kommt in der Bildungs-, Ausbildungs- und Fortbildungsarbeit der Kirche eine bisher nicht immer hinreichend beachtete Bedeutung zu“.13 In der weiteren Entwicklung hat sich gezeigt, dass zahlreiche neue Formen christlicher Spiritualität in Gemeinden, in „Häusern der Stille“, in Klöstern auf Zeit, im Zusammenhang von Kirchentagen und Akademien aufgegriffen und erprobt wurden. Geist-, Selbst- und Körpererfahrung spielen eine zentrale Rolle. Wechselseitige Beeinflussungen von evangelischer und katholischer Spiritualität sind charakteristisch. Im Protestantismus werden Themen wie Pilgern und Wallfahren entdeckt. Katholische Spiritualität zeichnet sich aus durch „liturgisch-rituelle Dominanz“, ebenso durch die Integration von Volksfrömmigkeit und die nachhaltige Bedeutung der Orden.14 Evangelische Spiritualität bewegt sich im Spannungsfeld zwischen individueller Verantwortung und gemeinschaftlichen Gestaltungsprinzipien. Gleichzeitig darf das evangelische Freiheitsverständnis nicht individualistisch eingeengt werden.
12 A. a. O., 13. 13 A. a. O., 60. 14 Vgl. Ludwig Mödl, Nachwort, in: Dahlgrün, Spiritualität, 639.
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4.
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Im Gespräch mit kombinatorischen Formen von Spiritualität
Der zunehmende weltanschauliche und religiöse Pluralismus der Gegenwart manifestiert sich in einer Vielzahl von spirituellen Ansätzen und Suchbewegungen, die außerhalb und innerhalb des institutionalisierten Christentums einflussreich sind. Der weltanschauliche Wandel in pluralistischen Gesellschaften lässt sich nicht mithilfe eines einzigen Mottos beschreiben. Bezeichnend ist vielmehr die Gleichzeitigkeit, das Nebeneinander und die Gegenläufigkeit unterschiedlicher Entwicklungen: fortschreitende Säkularisierung und Respiritualisierung, Relativierung und Fundamentalisierung religiöser Wahrheit, forcierte Individualisierung und neue Gemeinschaftsbildung. In pluralistischen Gesellschaften stehen Religionsdistanz, Religionsfundamentalismus und Religionsfaszination gleichzeitig nebeneinander. Auf der individuellen Ebene gibt es unverkennbar eine Zunahme von kombinatorischen Formen von Spiritualität. Immer mehr Menschen praktizieren einen überaus individuell geprägten, auswählenden Religionsvollzug. Er kann als „expressiver Individualismus“15 beschrieben werden, der allerdings „keineswegs nur eine individuelle Anpassung an den religiösen Pluralismus darstellt“,16 denn er bleibt auf kulturelle Vorgaben bezogen, insbesondere auf Modelle und Agenten eines esoterischen, meist theosophisch geprägten Synkretismus. Zahlreiche Menschen schöpfen in Sachen Religion aus verschiedenen Quellen, vermeiden die Beheimatung in einer einzigen Tradition und weichen endgültigen Festlegungen aus. Auch zahlreiche Mitglieder unserer Kirchen verstehen sich als spirituelle Wanderer und zeigen sich fasziniert vom Fremden und Unbekannten, zum Beispiel vom Buddhismus. Nur bei wenigen entwickelt diese Faszination eine Kraft, die zur Konversion führt. Die Buddhismusbegeisterung ist groß, die Anzahl der Konversionen bleibt gering. Heutige Religionsfaszination verkennt den bindenden Charakter der religiösen Überlieferung und versteht Religionen und Weltanschauungen anders als diese sich selbst verstehen. Die spielerischästhetische Annäherung an religiöse Rituale kann ein erster Schritt zu einer tieferen Bindung sein, muss es aber nicht. Kombinatorische Spiritualität spielt sich in Netzwerken und Szenen ab. Sie ist als „Publikum“ und „Kundschaft“ organisiert. Die Kraft ihrer Gemeinschaftsbildungen ist begrenzt, ebenso ihr Beitrag zur religiösen Identitätsbildung. Ein wichtiger Bestandteil kombinatorischer Spiritualität ist eine überaus facettenreiche und alternativ geprägte Heilungspraxis, die sich in deutlicher Distanz zur modernen Medizin begreift. Während das Thema Heilung aus dem Kontext christlicher Glaubenspraxis teilweise ausgewandert und Gegenstand säkularer Medizin und Therapie ge15 Taylor, Formen des Religiösen, 71.79. 16 Hummel, Synkretismus, 33.
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worden ist, rückt es in alternativen spirituellen Szenen beherrschend in den Vordergrund. Prospekte und Werbezettel laden ein zur Heilung durch den Geist, zur Heilung durch Farben, zur Heilung aus früheren Leben (Reinkarnationstherapie), zur Heilung durch die Heilkraft der Gedanken, zu heilsamen TranceRitualen. „Geistiges Heilen“ ist ein wichtiges Schlagwort und das Interesse an der eigenen Heilung ist für viele das entscheidende Tor des Eingangs in die vielfältigen Ausprägungen von Spiritualität. Erst eine Lebenswelt, die durch weltanschaulich-religiöse Vielfalt gekennzeichnet ist, hat diese Formen von Spiritualität möglich gemacht. Kombinatorische Spiritualität profitiert von den antiinstitutionellen Affekten der Menschen und steht im Zeichen der Verarbeitung religiöser Vielfalt und weltanschaulicher Differenzerfahrungen. Man ist darum bemüht, eine nichttheistische, in vielen Fällen nachchristliche religiöse Erfahrung zu vermitteln und schreibt zugleich die Kategorien Emotionalität und Intuition groß. Die spirituelle Erfahrung zielt auf Überwindung von Grenzen; zum Beispiel auf die Entgrenzung des Ichs in ein kosmisches Bewusstsein, ebenso auf die Revitalisierung archaischer Kulte und Riten. Im Blick auf esoterische Spiritualitätsformen wurde in Forschungen gezeigt, dass sich in diesen ein neuer Typ säkularer Religion ausdrückt, für den die Verselbstständigung der „Spiritualität“ gegenüber traditionellen Religionen und Weltanschauungen und seine direkte Einbindung in die säkulare Kultur charakteristisch ist.17 Insofern kann gesagt werden, dass Spiritualität nicht gleichzusetzen ist mit Religiosität.
5.
Selbstsäkularisierung und Spiritualität
Das Wort „Selbstsäkularisierung“ hat zeitweilig in kirchlichen Diskussionen große Resonanz gefunden. Darunter versteht man jene Vorgänge, durch die Kirchen und Gemeinden religiös konturlos werden und schließlich nur noch auf ihre ethische und soziale Kompetenz setzen. Manche Zeitgenossinnen und Zeitgenossen sind gegenüber den Kirchen religiös und spirituell erwartungslos geworden. Die anhaltende Nachfrage nach spirituellen Erfahrungen deutet gleichermaßen auf elementare Bedürfnisse wie auf unübersehbare Defizite hin. Die Erfahrungsarmut des Alltags in säkularisierten Gesellschaften und der weitgehende Ausfall einer gelebten christlichen Spiritualität unterstützen die Empfänglichkeit für spirituelle Alternativen. Abgrenzung allein ist sicher keine geeignete Strategie des Umgangs mit dieser Situation. Die Kirchen werden heute an die Notwendigkeit ihrer eigenen religiösen und spirituellen Profilierung erinnert. Auf dem Weg in die Moderne haben evangelische Kirchen viel an reli17 Vgl. Hanegraaff, Esotericism.
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giöser Praxis, religiöser Erfahrung und Kompetenz verloren.18 Religiöse Erfahrung, Meditation, Spiritualität, Heilung – das sind Themen und Praxisfelder, zu denen aus christlicher und evangelischer Perspektive etwas gesagt werden kann und muss. Sie erscheinen im Katholizismus integrierter als im Bereich protestantischer Theologie und Kirche. Der Selbstsäkularisierung kann freilich nicht durch Selbstesoterisierung begegnet werden. Gestaltlos bleibende Religionsbegeisterung ist keine aussichtsreiche Alternative zu einer entspiritualisierten Kultur. Fraglos muss es auch eine neue Inkulturation des Christlichen in den Kontext spiritueller Suchbewegungen geben. Von der Weisheit anderer Religionen kann gelernt werden. Moderne Plädoyers für Lebensdeutungen und Praktiken, die zumeist eher esoterisch als mystisch sind, stellen eher Problemanzeigen als -lösungen dar. Evangelische Spiritualität weiß davon, dass Religion heilen und verletzen kann, befreien und unterdrücken. Deshalb gehören Religions- und Magiekritik zu ihren ureigensten Aufgaben. Zur Praxis evangelischer Spiritualität gehört insofern die Förderung einer Kultur der Aufklärung – eine religionskritische Aufgabe, die gleichermaßen nach außen und nach innen gerichtet ist. Mit prophetischem Vorausblick hat der römisch-katholische Theologe Karl Rahner 1966 formuliert: „der Fromme von morgen wird ein ,Mystiker‘ sein, einer, der etwas ,erfahren‘ hat, oder er wird nicht mehr sein“.19 Er wies früh darauf hin, dass die gesellschaftlichen Stützmechanismen für die christliche Spiritualität in Europa im Schwinden begriffen sind, dass sich die über Jahrhunderte selbstverständliche Verknüpfung von Volkszugehörigkeit und Kirchenmitgliedschaft lockert und die konstantinische Gestalt des Christentums zurücktritt. Der exzessiv zitierte Satz steht in einem Aufsatz, der weitere wichtige Hinweise für die Frömmigkeit der Zukunft enthält, die ihre Gültigkeit nicht verloren haben: „Die neue Frömmigkeit wird christlich und kirchlich sein, wie sie in der Kirche schon immer gelebt wurde“.20 „Solche Mystagogie muss uns konkret lehren, es auszuhalten, diesem Gott nahe zu sein, zu ihm ,Du‘ zu sagen. […] Solche christliche Mystagogie muss natürlich auch wissen, wie Jesus von Nazareth, der Gekreuzigte und Auferstandene, in sie hineingehört.“21
18 Formuliert im Anschluss an Reinhart Hummel, der dabei insbesondere den Protestantismus im Blick hat. Vgl. ders., Pluralismus, 92. 19 Rahner, Frömmigkeit früher und heute, 39. 20 A. a. O., 33. 21 A. a. O., 40.
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6.
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Theologie der Spiritualität
Im Kontext katholischer Theologie entwickelten sich in Wien und Münster Institute, deren Forschungsschwerpunkt die Theologie der Spiritualität ist, teils angesiedelt in der Praktischen Theologie, teils der Historischen Theologie und der Liturgiewissenschaft zugeordnet. Insofern zur theologischen Existenz die persönliche Aneignung des christlichen Glaubens gehört, gehören Theologie und Spiritualität zusammen. Theologie kann sich auch jenseits der oft konstatierten Entfremdung zwischen wissenschaftlicher Theologie und lebendiger Spiritualität bewegen. Dafür sind Karl Rahner und Karl Barth als bedeutende Theologen des 20. Jahrhunderts eindrucksvolle Beispiele. Beide sind in ihrem Wirken, auch in ihrer Publizistik, als Denker, Theologen und betende Christen erkennbar. In der theologischen Ausbildung, so wurde 1979 von Seiten der Evangelischen Kirche empfohlen, soll die Praxis des Glaubens „beschrieben und eingeübt werden und die damit gemachten Erfahrungen durchdacht und besprochen werden“.22 Dies ist zwar hinsichtlich des Theologiestudiums nur begrenzt realisiert worden. Themen wie geistliche Begleitung, Exerzitien, Einführungen in Kontemplation und Meditation haben dagegen in Fortbildungen für Pfarrerinnen und Pfarrer im evangelischen Kontext ihren Platz gefunden und sind vielfältig aufgenommen worden. Es gehört zu den Grundlagen evangelischen Glaubens und evangelischer Spiritualität, sich an den Impulsen reformatorischer Rechtfertigungstheologie und ihren Unterscheidungsperspektiven (zwischen Gott und Mensch, Gesetz und Evangelium, Person und Werk, Glaube und Liebe) zu orientieren. Glaube ist ein Geschenk des Heiligen Geistes. Es ist der Geist, der den Leben verändernden Glauben schenkt, der sich an die Verheißung des Evangeliums hält und den Menschen dazu ermächtigt, Gottes sich in Christus selbst mitteilende Liebe als solche zu erkennen und sich ihrer zu erfreuen. Glaube ist folglich nicht das Ergebnis menschlicher Leistung, kein religiöser Kraftakt, sondern ein Wunder der göttlichen Liebe. „Der Geist erweist sich als Heiliger Geist, also als Geist Gottes dadurch, dass er Jesus Christus als den Sohn, d. h. als den Offenbarer Gottes zu sehen, zu verstehen und anzuerkennen lehrt.“23 Das Wirken des Geistes geht jedoch über die Begründung der Glaubensgewissheit hinaus. Für eine evangelische Theologie ist in diesem Zusammenhang grundlegend, die unumkehrbare Zuordnung von Rechtfertigung und Heiligung und den Wegcharakter der Glaubensexistenz hervorzuheben. Die Heiligung gründet in der Rechtfertigung und mutet dem Menschen einen nie endenden Transformationsprozess zu. In dem Maße, in dem Gottes zuvorkommende Gnade in Christus erkannt wird, 22 Evangelische Spiritualität, 59. 23 Härle, Dogmatik, 371.
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erkennt der Mensch auch seine schuldhaften Verstrickungen (Spiritualität von unten). Gemeinden und Ausbildungsstätten sollten ihre Verantwortung ernst nehmen, Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter für den Dienst in einer durch religiöse und weltanschauliche Vielfalt geprägten Welt vorzubereiten. Dazu gehört auch, sich zu einem tieferen Verstehen und einer deutlicheren Artikulation des eigenen Glaubens herausfordern zu lassen. Es gehört allerdings zu den Essentials christlichen Glaubens, dass der Mensch sich Sinn und Ziel des Lebens nicht selbst schaffen kann. Wenn es um die Erfahrung der göttlichen Gnade geht, ist er Empfangender. Dialog mit vagabundierender Religiosität bedeutet nicht Verzicht auf Auseinandersetzung. Die kirchliche Vielfalt der Frömmigkeitsformen bietet mit Recht einen großen Raum für individuelle Suchbewegungen. Sie darf jedoch nicht mit Beliebigkeit verwechselt werden. Zeugnis und Dialog sind elementare Weisen der Kommunikation der christlichen Wahrheit. Zum Dialog aber gehört immer beides: die Bereitschaft, den anderen wahrzunehmen, ihn zu hören und mit ihm zu streiten, wie auch der Wille, die eigene Glaubensüberzeugung gegenüber dem Anderen auszusprechen. Selbstrelativierungen oder das ästhetische Collageprinzip sind kein Weg, mit der Krise der Kirchen in der Krise der Moderne umzugehen. Die christliche Glaubensgewissheit beendet allerdings nicht das fragende Unterwegssein. Sie ist nicht fester, verfügbarer Besitz und kein Rückzug in autoritativ gesicherte Eindeutigkeiten. Ihre Aneignung hat eine eschatologische Dimension. Sie bleibt angewiesen auf die Selbstbezeugung Gottes gemäß seiner Verheißung. „Nicht, dass ich’s schon ergriffen hätte oder schon vollkommen sei; ich jage ihm aber nach, ob ich’s wohl ergreifen könnte, weil ich von Christus ergriffen bin“ (Phil 3,12), so lautet der paulinische Hinweis zum Verständnis geistlichen Lebens. Die Bibel zeigt die Wahrheit nicht als festen Besitz, sondern den von der Wahrheit ergriffenen Menschen. Dieser Mensch hat keine schnellen Antworten auf das, was ihm selbst und anderen in ihrer Lebensgeschichte zugemutet wird. Er bleibt ein Fragender und Angefochtener, der um seine abgründige Entfremdung von der Wahrheit weiß, sich von dieser selbst aber auf einen Weg gestellt sieht.
7.
Schlüsselfragen
In einem beachtenswerten Buch des Soziologen Hans Joas werden vier „intellektuelle Herausforderungen“genannt, die für das Christentum in Europa und seine Zukunftsmöglichkeiten bedeutsam sind.24 Zu diesen Herausforderungen 24 Joas, Glaube als Option, 202.
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zählt er 1) die Infragestellung des universalistischen christlichen Liebesethos durch einen expressiven oder utilitaristisch geprägten Individualismus, 2) die durch einen reduktionistischen Naturalismus bestimmte Verständnislosigkeit gegenüber dem christlichen Personverständnis, 3) die pointiert individuell bestimmte Rezeption spiritueller Traditionen und die fundamentale Infragestellung der Gemeinschaftlichkeit des Religionsvollzuges und schließlich 4) die Skepsis gegenüber der Konzentration der Spiritualität auf die Gottesoffenbarung in Jesus Christus. Mit Recht sagt Joas, dass das Christentum gegenüber allen vier Herausforderungen gut gerüstet sein könnte. „Es muss aber aus seiner Defensive heraus, in die es seit Jahrzehnten fortschreitender Säkularisierung vornehmlich in Europa geraten ist oder sich selbst zurückgezogen hat, und zeigen, dass es seine Botschaft im Angesicht dieser Herausforderungen neu und überzeugend artikulieren kann.“25 Es gehört zu den Grundfragen heutiger Spiritualitätsdiskurse, in welcher Weise das christlich-theologische Nachdenken die Verhältnisbestimmung zu den weltanschaulichen und geistigen Herausforderungen des Säkularismus und des religiösen Pluralismus vollziehen soll. Die Extreme lauten hier: entschlossener Gegenkurs, deutliche Antithese, autoritatives Geltendmachen der christlichen Wahrheit; oder aber: Annäherung bzw. Anpassung an säkularistische oder/und spirituelle Wirklichkeitsdeutungen unter den Bedingungen der Moderne. Zwischenpositionen führen zwangsläufig dazu, im kritischen Dialog mit zwei Seiten zu stehen. Auf dieses Zwischenfeld müssen sich Theologie und Kirche heute jedoch begeben. Sie dürfen sich weder auf eine so genannte interreligiöse Öffnung durch Selbstrelativierung noch auf einen Abwehrkampf gegen alles religiös Fremde und Andersartige konzentrieren. Es kommt darauf an, beides zusammenzuhalten: dialogische Offenheit und Standfestigkeit, Gesprächsbereitschaft und den Mut zur Unterscheidung, gegebenenfalls auch den Protest und Widerspruch gegenüber verletzender und vereinnahmender Spiritualität. Begrüßenswert ist es, wenn der wissenschaftliche Diskurs über nichtchristliche Religionen, spirituelle Bewegungen und atheistische Religionskritik im europäischen Kontext verstärkt geführt wird und die Religions- und Spiritualitätsthematik in sozialwissenschaftlicher, psychologischer, religionssoziologischer, religionspolitischer und religionsrechtlicher Hinsicht erforscht wird. Die christlichen Kirchen verbinden ihr eigenes Bekenntnis mit der Achtung fremder religiös-weltanschaulicher Orientierungen und treten für eine aktive Toleranz ein, die freilich die Unterscheidung der Geister einschließt. Harmonisierungsstrategien sind als Antwort auf die Situation einer nicht aufhebbaren weltanschaulichen Vielfalt ebenso untauglich wie fundamentalistische Abwehrreaktionen. Zur aktiven Toleranz gehört die Anerkennung widerstreitender Überzeugungen. Religiöse 25 A. a. O., 218.
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Aufklärung muss angesichts der Vielfalt religiöser und weltanschaulicher Orientierungen die Wahrnehmung für den fremden und den eigenen Glauben gleichermaßen schärfen. Zwei Beispiele dafür seien genannt: Durch die Rezeption nicht-personaler Vorstellungen von Gott in buddhistischen und esoterischen Kontexten, ebenso durch die muslimische Kritik an einer trinitarischen Rede von Gott, wird das christliche Gottesverständnis angefragt. Das Reden von Gott in personalen Kategorien, das in der Sprache der Bibel und im Vollzug des christlichen Gottesdienstes vorausgesetzt wird, bedarf in der Begegnung mit Menschen anderer Religionen und Weltanschauungen der Klärung und Verdeutlichung.26 2015 erschien der Text „Christlicher Glaube und religiöse Vielfalt in evangelischer Perspektive“.27 Er wurde von der Kammer für Theologie im Auftrag des Rates der EKD verfasst und legt dar, dass aus evangelischer Perspektive religiöse Vielfalt nicht nur als Kontext des christlichen Zeugnisses zu akzeptieren, sondern als begrüßenswerte Folge von Religionsfreiheit anzusehen sei. Er enthält auch eine Stellungnahme zum „Beten mit anderen“. Es wird betont, dass Menschen anderer Religionszugehörigkeit nicht nur als gleichberechtigte Bürgerinnen und Bürgern zu respektieren sind, vielmehr ist ihnen in der Hoffnung zu begegnen, „dass Gottes schöpferischer Geist keinem von ihnen ferne ist. Darum anerkennt die evangelische Kirche, dass auch in anderen Formen der Religion überzeugende Ausdrucksformen humanen Selbstverständnisses, authentische Formen der Spiritualität und verantwortliche Gestaltungen ethischer Überzeugungen zu finden sind. An der Eigenart des christlichen Glaubens, dass ihm solche Erwartung in Kreuz und Auferstehung Jesu von Nazareth gewiss wird, ändert das nichts“.28 An solchen Formulierungen wird deutlich, dass andere Glaubenspraktiken nicht herabgesetzt werden sollen, die eigene Perspektive jedoch deutlich artikuliert wird.
8.
Abschließende Bemerkungen
Spirituelle Suche kann in Offenheit und Verschlossenheit gegenüber der göttlichen Wirklichkeit geschehen. Im Kontext evangelischer Spiritualität gibt es ein Wissen darüber, dass auch der religiöse Mensch Gott verfehlen und im Vollzug seiner Religiosität bei sich selbst bleiben und seine Freiheit verlieren kann, etwa durch die Hingabe an umstrittene religiöse Führergestalten. In der Begegnung mit spirituellen Bewegungen sind evangelische Theologie und Kirche zu diffe26 Vgl. dazu: Beintker/Heimbucher (Hg.), Mit Gott reden – Von Gott reden. 27 Christlicher Glaube und religiöse Vielfalt. 28 A. a. O., 30.
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renzierenden Stellungnahmen herausgefordert, zu dem, was die Bibel „Unterscheidung der Geister“ nennt. Hinter dem Phänomen spiritueller Suche stehen unterschiedlich zu bewertende Ausdrucksformen menschlicher Sehnsucht nach Sinn und Transzendenz: das ständige Suchen ohne Ziel, die Überzeugung von einem heilen Selbst, das durch Meditation und Therapie gefunden werden kann, Vertrauen auf apersonale kosmische Kräfte, Sehnsucht nach dialogischer Gotteserfahrung und Suche nach Wahrheit, Sinn und Heil. In pastoraler Hinsicht geht es vor allem darum, suchende Menschen zu begleiten, unterschiedliche Motive und Gesprächssituationen wahrzunehmen und die eigene spirituelle Kompetenz zu vertiefen. Die „spirituelle Unruhe des menschlichen Herzens“, seine Exzentrizität und Suche nach Selbsttranszendenz gehören „zu den Spuren des Wirkens des Geistes in der Schöpfung“.29 Zum christlichen Zeugnis gehört die Fähigkeit, sich auf andere religiöse und spirituelle Glaubensorientierungen unterscheidend und kritisch zu beziehen. In der Auseinandersetzung schulden die Christen ihren Gesprächspartnern die Darlegung des Elementar-Christlichen und des Unterscheidend-Christlichen. Zur Bestimmung dieses UnterscheidendChristlichen aber gehört die Orientierung am trinitarischen Bekenntnis, an der Rechtfertigungslehre und am Ethos der Nächstenliebe. Das trinitarische Bekenntnis zielt darauf ab, das Handeln Gottes nicht isoliert, fixiert und reduziert auf einzelne Aspekte zu verstehen, sondern im Zusammenhang als Schöpfung, Erlösung und Neuschöpfung. Außerdem hat es eine Unterscheidungsfunktion inmitten vielfältiger, teilweise auch problematischer Beanspruchungen des göttlichen Wirkens. Die Rechtfertigungslehre enthält in nuce das christliche Verständnis von Gott, Mensch und Welt. Sie ist im Selbstverständnis der Reformationskirchen das Kriterium für die Explikation des Christlichen und redet von Gottes gnädiger Zuwendung zur Welt, seinem heilvollen Handeln im Leben, Sterben und Auferstehen Jesu Christi. Sie bezeugt, dass Gottes Liebe unverdient zum Menschen kommt und durch das Wirken des Geistes als Geschenk empfangen wird. Das mit Recht beklagte Erfahrungsdefizit in theologischer Ausbildung und kirchlicher Praxis kann nicht so bewältigt werden, dass sich das individuelle und das gemeinschaftliche christliche Leben unreflektiert spirituellen Erfahrungen ausliefert, deren weltanschaulich-religiöse Implikationen vergleichgültigt werden. Der christliche Glaube weicht der denkerischen Durchdringung seiner Erfahrungen nicht aus.30 Ratio und fides gehören zusammen. Die Unmittelbarkeit des göttlichen Wirkens bleibt vermittelt durch sein Wort.
29 Schwöbel, Geist Gottes, 356. 30 Vgl. dazu den grundlegenden Aufsatz von Ratschow, Christentum als denkende Religion.
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Peter Zimmerling
Pfingstlich-charismatische Spiritualität
Der Fokus der folgenden Überlegungen zur pfingstlich-charismatischen Spiritualität liegt auf dem deutschsprachigen Raum.1 Entsprechend wird primär deutschsprachige Literatur berücksichtigt. Bei deren Großteil handelt es sich allerdings um Übersetzungen aus dem angelsächsischen Raum, was angesichts der globalen Ausbreitung und internationalen Vernetzung der charismatischen Bewegungen nicht verwundert. Mindestens fünf Aspekte scheinen mir für pfingstlich-charismatische Spiritualität typisch zu sein: die pneumatische, erfahrungsmäßige, hymnologische und poimenische Orientierung, daneben die Orientierung an Heiligung und Mission. Diese fünf Aspekte bilden das Gliederungsschema meiner Ausführungen. Methodisch gehe ich dabei folgendermaßen vor: Ich unterscheide zwischen einer pfingstlichen bzw. neopentekostalen und einer charismatisch-innerkonfessionellen Position. Nach der jeweiligen Darstellung formuliere ich theologischen Klärungsbedarf und frage nach Impulsen für die traditionelle evangelische Spiritualität. Vorgeschaltet ist eine Begriffs- und Standortbestimmung der Bewegungen.
1.
Begriffs- und Standortbestimmung
Pfingstlich-charismatische Bewegungen bilden nach dem übereinstimmenden Urteil von Beobachtern den am schnellsten wachsenden Zweig der Weltchristenheit, wobei sich dieses Wachstum regional sehr unterschiedlich darstellt: Gegenwärtig stellen Lateinamerika, Afrika und bestimmte Regionen Asiens (wie
1 Ich habe mich zur Theologie und Spiritualität der pfingstlich-charismatischen Bewegungen bereits häufiger geäußert. Im Folgenden nenne ich nur die wichtigsten Veröffentlichungen: Zimmerling, Die charismatischen Bewegungen; eine gekürzte Neuauflage mit aktualisierten Literaturangaben stellt dar: ders., Charismatische Bewegungen; auch: ders., Evangelische Spiritualität, 169–182.
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etwa Südkorea) ihre Zentren dar.2 Im deutschsprachigen Raum sind die Bewegungen immer klein geblieben.3 Eine Ausnahme bilden Migrationsgemeinden. Entsprechend stellen pfingstlich-charismatische Migrationsgemeinden die einzigen Gemeinden dar, die im deutschsprachigen Raum signifikant wachsen.4 Eine fast unüberschaubare Vielzahl von Kirchen, Gruppierungen, Bewegungen und sozial-diakonischen Einrichtungen in allen Erdteilen sind von pfingstlich-charismatischer Spiritualität geprägt.5 Um der Vielschichtigkeit des Phänomens Rechnung zu tragen, spreche ich durchweg von charismatischen Bewegungen im Plural. Dabei lassen sich drei bzw. vier Hauptströmungen ausmachen:6 1) Die traditionellen selbstständigen Pfingstkirchen, hervorgegangen aus dem Aufbruch der modernen Pfingstbewegung 1906 in Los Angeles.7 Diese können als vierte Denomination neben Orthodoxie, Katholizismus und den reformatorischen Kirchen betrachtet werden. 2) Die neuere, am Beginn der 1960er Jahre in den USA entstandene charismatische Bewegung, die im Rahmen der traditionellen Kirchen und Freikirchen verblieb.8 Die Initiatoren und viele führende Mitglieder erlebten ihre charismatische Grunderfahrung im Zusammenhang mit den traditionellen Pfingstkirchen. Das gilt sowohl für den episkopalen Pfarrer Dennis Bennett, durch den die innerkirchliche charismatische Bewegung in den USA 1959/60 ausgelöst wurde, als auch für Pastor Larry Christenson, lange Zeit der leitende Theologe der charismatischen Bewegung innerhalb der lutherischen Kirchen. 3) Die sog. „Dritte Welle“, die vor allem mit den Namen von C. Peter Wagner, John Wimber und P. Yonggi Cho verbunden ist. Wagner z. B. bezeichnet sich trotz eigener charismatischer Erfahrungen nicht als Charismatiker, sondern weiterhin als Evangelikalen. Die Anhänger der „Dritten Welle“ haben bestimmte Aspekte charismatischer Frömmigkeit kennengelernt, wozu vor allem die Betonung der Charismen einschließlich des Gebets für Kranke gehört, die sie in ihre Theologie 2 Vgl. dazu Barrett, World Christian Encyclopedia; Anderson u. a. (Hg.), Studying Global Pentecostalism, 1f. 3 Vgl.Kay/Dyer (Hg.), European Pentecostalism nennen im Anhang für Deutschland 1.660.000, für Österreich 240.000 und für die (gesamte) Schweiz 290.000 Mitglieder. Die Auflistung insgesamt zeigt, dass die pfingstlich-charismatischen Bewegungen in Europa insgesamt ein marginales Phänomen darstellen. 4 Zum Phänomen pfingstlich-charismatischer Migrationsgemeinden vgl. Fischer, Pfingstbewegung zwischen Fragilität und Empowerment. 5 Vgl. Hollenweger, Handbuch der Pfingstbewegung; Burgess/Maas (Hg.), Dictionary of Pentecostal and Charismatic Movements. 6 Vgl. im Einzelnen Zimmerling, Charismatische Bewegungen, 21–28; Hollenweger, Handbuch der Pfingstbewegung; Burgess/ Maas, Dictionary of Pentecostal and Charismatic Movements. 7 Dazu immer noch grundlegend Hollenweger, Enthusiastisches Christentum, bes. 20–27; zur neueren Diskussion des Ursprungs der traditionellen Pingstbewegung vgl. Bergunder, Erforschung der weltweiten Pfingstbewegung. 8 Vgl. Reimer, Wenn der Geist.
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und Spiritualität integrierten.9 4) Ein schnell wachsendes, aber schwer zu fassendes Neupfingstlertum, das lehrmäßig den traditionellen Pfingstkirchen nahesteht, sich aber in unabhängigen Zentren und Gemeinden organisiert. Frühe Vertreter in Deutschland waren in den 1970er Jahren der amerikanische Jugendpastor David Wilkerson, der in den USA die Teen-Challenge-Arbeit begründet hatte, und der ehemalige Berliner Jesus-People-Pastor Volkhard Spitzer. Ein wichtiger Vertreter heute ist der Pastor der „Christlichen Glaubensgemeinde“ in Stuttgart, Peter Wenz. Die neopentekostalen Gruppen legen – wie die traditionelle Pfingstbewegung – großen Wert auf die Zungenrede als äußerlich sichtbares Zeichen des Erfülltseins mit dem Heiligen Geist und vertreten ein stark fundamentalistisch geprägtes Bibelverständnis. Den Anfang jedes neuen charismatischen Aufbruchs bestimmten ungewöhnliche Geisterfahrungen. Bis heute liegen die charismatischen Charakteristika vor allem im Bereich der Spiritualität: Man erwartet eine persönliche Erfahrung mit dem Heiligen Geist, betont die neutestamentlichen Charismen und pflegt Anbetung und Lobpreis als wesentliche Bestandteile des Gottesdienstes. Damit einher gehen gemeinsame theoretische Überzeugungen: die Entdeckung eines besonderen Wirkens des Heiligen Geistes neben Jesus Christus, die Kritik an einem geschlossenen rationalistischen Wirklichkeitsverständnis und das Selbstverständnis, Teil eines geistlichen Aufbruchs zu sein, der weltweit und ökumenisch ist und dem eine heilsgeschichtliche Bedeutung zugesprochen wird. Insgesamt zeichnen sich charismatische Bewegungen weniger durch theologische Neuentwürfe als durch eine Fülle von theologisch durchdachten Glaubenserfahrungen aus.
2.
Pneumatische Orientierung
2.1
Geistestaufe als Ursprungserfahrung
Die Ersterfahrung des Geistes stellt die conditio sine qua non pfingstlich-charismatischer Spiritualität dar.10 Allerdings wird sie von den einzelnen Bewegungen theologisch sehr verschieden interpretiert, was schon am Gebrauch unterschiedlicher Begriffe erkennbar ist. Traditionelle Pfingstler sprechen meist von „Geistestaufe“ als einem punktuellen und damit datierbaren Ereignis, das als zweites fundamentales Glaubenserlebnis von Bekehrung und Wiedergeburt unterscheidbar ist. Begleitet vom „initial sign“ der Glossolalie ist die Geistestaufe 9 Vgl. Wagner, Der gesunde Aufbruch; ders., Gaben des Geistes; Wimber/Springer, Vollmächtige Evangelisation. 10 Vgl. im Einzelnen Zimmerling, Charismatische Bewegungen, Kap. 3 (mit Belegen).
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von außen wahrnehmbar und kann prinzipiell von jedem Christen erfahren werden, vorausgesetzt, er ist offen dafür. Indem sie in Parallele zur Wassertaufe gesetzt wird, bekommt sie sakramentalen Rang und eine Sonderstellung für den Glaubensvollzug. Die innerkirchlichen charismatischen Bewegungen, aber auch Vertreter der „Dritten Welle“, haben von Anfang an sowohl die pfingstliche Verknüpfung der Geisterfahrung mit einer scharfen Zwei-Stufen-Lehre als auch deren Normierung durch die Zungenrede relativiert. Besonders die katholische charismatische Bewegung hat darauf hingewiesen, dass außerordentliche Durchbruchserfahrungen nicht für alle Christen verbindlich gemacht werden dürfen. Darüber hinaus waren innerkirchliche Gruppen gezwungen, die Grunderfahrung des Geistes zu Wassertaufe bzw. Firmung in Beziehung zu setzen, die als Ort des Geistempfangs in ihren Konfessionen theologisch feststanden. Lutherische und katholische Charismatiker sind gemeinsam der Überzeugung, dass der Geist nicht durch die Geistestaufe verliehen wird, sondern bereits vorher im Getauften bzw. Gefirmten anwesend ist. Die Grunderfahrung stellt als Tauf- bzw. Firmerneuerung ein Bewusst- und Wirksamwerden des Geistes auf der Erfahrungsebene dar. Fragt man nach dem neutestamentlichen Befund, wird in den Texten schnell eine Fülle von sehr unterschiedlich geprägten Geisterfahrungen erkennbar. Allerdings wird nirgends, auch in der Apg nicht, eine allgemeine Lehre von der Geistestaufe entwickelt. Insgesamt überwiegen im Neuen Testament Begriffe, die auf einen nicht-spektakulären Geistempfang deuten. Paulus zeigt in 1Kor 12,30 aufgrund des vorher von ihm für die christliche Gemeinde entfalteten LeibModells, dass nicht alle Glieder der Gemeinde in Zungen reden. Spätestens in 1Kor 14,5 wird deutlich, dass er vom Kriterium der Nützlichkeit für den Gemeindeaufbau her die Glossolalie im Gottesdienstgebrauch relativieren will. Es gibt acht verschiedene Konstellationen, in denen das Verhältnis von Wassertaufe und Geistempfang in der Apg gedacht wird.11 Wie Apg 2,38 und 41 anzudeuten scheinen, können Wassertaufe und Geistestaufe auch zusammenfallen. Die Erfüllung mit dem Geist geschieht inmitten der Gemeinde und führt zu bewusster Gemeindezugehörigkeit. Der Geist will seinen Empfänger über sich selbst hinausführen in dem Sinne, dass dieser nicht mehr für sich selbst lebt, sondern anfängt, die Bedürfnisse seines Nächsten zu sehen. Gefährlich wird der Empfang des Geistes für den Geistträger, wenn er nicht zu selbstlosem sozialem Engagement führt. Das zeigt z. B. die Geschichte von Simon Magus (Apg 8,18–24). Lukas widerspricht also nicht der paulinischen Verknüpfung von Glaubensakt, Was-
11 Vgl. Pesch, Apostelgeschichte, 283.
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sertaufe, Geistempfang und Gemeindezugehörigkeit.12 Die lukanische und die paulinische Geistauffassung sind ekklesiologisch ausgerichtet.13
2.2
Bedeutung der Charismen
Pfingstlich-charismatische Bewegungen haben die Charismen, einschließlich der spektakulären Gnadengaben wie Zungenrede, Heilung und Prophetie, wiederentdeckt.14 Für sämtliche Strömungen ist eine grundsätzliche Offenheit für die Praxis aller im Neuen Testament genannten Charismen charakteristisch. Unterschiede werden in der Bedeutung der einzelnen Gaben für den Frömmigkeitsvollzug und in ihrer theologischen Bewertung sichtbar. Die traditionelle Pfingstbewegung hat mit den transrationalen Geistphänomenen Zungenrede, Heilung und Prophetie in Vergessenheit geratene biblische Erfahrungsbereiche in Theologie und Spiritualität zurückgeholt. Vor allem am Beginn ihres Auftretens am Anfang des 20. Jahrhunderts unterschied sie sich damit vom Mainstream der Weltchristenheit. Mit der Erwartung des „Übernatürlichen in der Gegenwart“ stand sie im Gegensatz sowohl zum vom Glauben an das „Übernatürliche in der Vergangenheit“ geprägten christlichen amerikanischen Fundamentalismus als auch zur stark intellektuell bzw. ethisch geprägten volkskirchlichen Religiosität in Europa.15 Traditionelle Pfingstler verstehen den Geist nach dem Pfingstbericht in Apg 2 – dem Basistext der Bewegung – als „Kraft aus der Höhe“.16 Die Charismen werden als Ausweis der Geisterfülltheit von ihrer Bedeutung für die Steigerung der Frömmigkeit des Einzelnen her interpretiert. Die nicht-spektakulären Charismen treten zurück, ebenso ihre ekklesiologische und gesellschaftliche Dimension. Ein anders akzentuiertes Charismenverständnis als die traditionellen Pfingstkirchen lassen die innerkirchlichen charismatischen Bewegungen erkennen. Zwar stand auch hier am Anfang die Erfahrung spektakulärer Charismen. In deren Gefolge haben die Bewegungen jedoch die ekklesiologische Ausrichtung der Charismen bei Paulus entdeckt.17 Zum Basistext wurde 1Kor 12–14, 12 Vgl. 1Kor 12,3.13: „niemand kann Jesus den Herrn nennen außer durch den heiligen Geist“; „Denn wir sind durch einen Geist alle zu einem Leib getauft“. 13 Vgl. Pesch im Hinblick auf die lukanische Geistauffassung, ders., Apostelgeschichte, 285. 14 Vgl. im Folgenden Zimmerling, Charismatische Bewegungen, Kap. 4 Geistesgaben (mit Belegen). 15 Hutten, Seher, Grübler, Enthusiasten, 354. 16 So Hans-Diether Reimer in einem Brief an Lorenz Hein vom 14. 12. 1989 (Kopie in meinem Privatarchiv). 17 Welche Rolle Ernst Käsemann mit seiner Neuinterpretation des Amtes vom Charisma her dabei gespielt hat, vermag ich nicht zu sagen, vgl. dazu ders., Amt und Gemeinde im Neuen Testament.
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zum Ziel des Charismengebrauchs die Verwirklichung der charismatischen Gemeinde.18 Die Bemühungen der innerkirchlichen Charismatiker um eine charismatische Erneuerung der Kirchen und Gemeinden seit Anfang der 1970er Jahre entsprachen etwa zeitgleichen Entwicklungen in Theologie, Kirche und Gesellschaft, die in Richtung von mehr Partizipation führten.19 Mit der Wiederentdeckung der Charismen haben pfingstlich-charismatische Bewegungen einen Beitrag zur praktischen Umsetzung der reformatorischen Erkenntnis vom „allgemeinen Priestertum“20 geleistet. Damit dieser Prozess mit Hilfe der Charismen in der Gesamtkirche vorankommen kann, ist eine Reihe von Erkenntnissen zur Geltung zu bringen, die in den Bewegungen nur teilweise berücksichtigt werden: dass Charismen einen ekklesiologischen Zielhorizont haben, dass spektakuläre Charismen entzaubert werden müssen, dass die Charismen ein identitätsstiftendes Potenzial besitzen, dazu aber ihre Integration in die Gesamtpersönlichkeit notwendig ist, dass eine Theorie und Praxis der Erweckung von Charismen zu entwickeln ist und dass Charismen eine gesellschaftliche Dimension haben können. Voraussetzung dafür, dass die Charismen den angemessenen Platz im Rahmen des individuell und gemeinsam gelebten Christseins bekommen, ist paradoxerweise ihre Relativierung. Sie gehören systematisch-theologisch in den Bereich der Heiligung, sind der Frage nach der Erlösung also nachgeordnet; sie stehen unter eschatologischem Vorbehalt und werden darum mit der Neuschöpfung aufhören; sie sind dem kulturellen Wandel unterworfen, wodurch sich ein schablonenhaftes Repristinieren der urchristlichen Charismen verbietet. Von dem allen ist in charismatischen Bewegungen kaum die Rede. Statt der üblichen pneumatologischen möchte ich eine trinitätstheologische Begründung der Charismenlehre vorschlagen. Sie bietet die Möglichkeit, Einseitigkeiten des in pfingstlich-charismatischen Bewegungen anzutreffenden Charismenverständnisses im Ansatz theologisch zu überwinden. Bereits bei Paulus lässt sich in 1Kor 12,4–11 eine triadische Sicht des Charismenursprungs erkennen, indem der Apostel die verschiedenen Charismen gleichermaßen auf den Geist, auf Christus und auf Gott den Schöpfer zurückführt.21 Der pneumatische Ursprung der Gaben offenbart, dass der Geist die Gaben souverän austeilt (V 11). Paulus will damit Manipulation und Suggestion im Zusammenhang mit dem Charismenempfang ausschließen. Das Bild von der Gemeinde als Leib Christi, deutet auf den christologischen Ursprung der Charismen (1Kor 12,12– 18 Vgl. dazu die „Theologischen Leitlinien der Charismatischen Gemeinde-Erneuerung in der Evangelischen Kirche“ von 1976, Würzburger Leitlinien genannt, in: Kopfermann, Charismatische Gemeindeerneuerung, 21. 19 Vgl. den Slogan der damaligen sozial-liberalen Koalition: „Mehr Demokratie wagen“. 20 Zum Begriff vgl. Härle, Allgemeines Priestertum, 66f. 21 Vgl. Lang, Korinther, 168.
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30). Damit ist die Wertschätzung der scheinbar unbedeutenden Charismen christologisch begründet: Wie der irdische Jesus die Zöllner und Sünder geliebt hat, so gehören gerade die Träger unbedeutender Gaben zur christlichen Gemeinde. Der Ursprung der Charismen im Schöpfer wird sichtbar in der Analogie zwischen der schöpfungsmäßigen Verschiedenheit der Glieder eines natürlichen Leibes und der Verschiedenheit der Charismen des Leibes Christi.
2.3
Konzentration auf das Wirken des Geistes
Für pfingstlich-charismatische Theologie und Spiritualität ist die Konzentration des Wirkens der Trinität auf den Geist charakteristisch. Dafür verantwortlich ist zum einen die besondere Erfahrung des Geistes in der Geistestaufe, die zu einer neuen Sicht des Heiligen Geistes führt: Für den Geistgetauften ist dieser aus seiner Verborgenheit hinter Christus hervorgetreten. Dass der Geist bei der Geistestaufe einmal seine Anonymität verlassen hat, lässt den Geistgetauften auf weitere konkrete Geisterfahrungen, etwa in den Charismen, hoffen. Zum anderen hängt die Konzentration charismatischer Frömmigkeit auf den Geist mit einer bestimmten heilsgeschichtlichen Sicht der Gegenwart zusammen. Charismatiker sind der Überzeugung, dass in der Zeit nach Pfingsten die anderen trinitarischen Personen hinter den Heiligen Geist zurückgetreten sind. Das gelte insbesondere seit dem Beginn der Pfingstbewegung am Anfang des 20. Jahrhunderts. Damals sei der Heilige Geist zum letzten Mal vor der unmittelbar bevorstehenden Wiederkunft Jesu Christi in überwältigender Weise auf die Gläubigen ausgegossen worden.22 Problematisch ist nicht die pneumatische Ausrichtung als solche. Indem jedoch das ökonomische Handeln der göttlichen Personen ohne Rücksicht auf ihre Einheit gefasst wird, wird die altkirchliche Regel opera trinitatis ad extra sunt indivisa vernachlässigt.23 Damit wird nicht mehr erkennbar und nachvollziehbar, auf welche Weise der Geist heute zusammen mit den beiden anderen trinitarischen Personen wirkt. Das führt zum einen zu einer Überbetonung des Geistes und seines Wirkens. Zum anderen wirft die scharfe Unterscheidung zwischen immanenter und ökonomischer Trinität die Frage auf, ob es sich bei der ökonomischen Trinität, d. h. dem de facto allein handelnden Geist, wirklich noch um die gleiche Gottheit wie bei der immanenten Trinität handelt. Indem das offenbarungstheologisch verstandene Wirken des Geistes ohne Berücksichtigung 22 „[…] early Pentecostals believed that they were participating in the latest movement of the Holy Spirit which would ultimately sweep the entire church“, Robeck, Pentecostals and the Apostolic Faith, 63. 23 Vgl. zu der Regel Seeberg, Dogmengeschichte, 145; ebenso Beyschlag, Dogmengeschichte, 272–275.
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des Handelns der beiden anderen göttlichen Personen in den Vordergrund gestellt wird, gerät die Einheit der Trinität in Gefahr. Nur wenn ökonomische und immanente Trinität aufeinander bezogen werden, d. h. Gott in seinem Handeln nach außen kein anderer ist als in sich selbst, kann es zur Erlösungsgewissheit kommen.24 Die fehlende Verortung des Geistes in der ökonomischen Trinität und die damit verbundene Überbetonung seines Wirkens haben Auswirkungen auf die gelebte Frömmigkeit in charismatischen Bewegungen. Beides führt dazu, dass Menschen auf den Geist regelrecht fixiert sind.25 Charismatiker streben nach einer persönlichen Beziehung zum Heiligen Geist, ohne dessen Beziehung zum Ersten und zum Zweiten Glaubensartikel genügend im Auge zu haben.
2.4
Erfahrungsbezogene Spiritualität
Im Zentrum pfingstlich-charismatischen Christseins steht die Erfahrung.26 Das führt in pfingstlich-charismatischen Bewegungen zu einer Betonung der fides qua creditur gegenüber der fides quae creditur. Den Bewegungen geht es nicht primär um die Inhalte des Glaubens wie Dogmen und Bekenntnisse, sondern um den gelebten Glauben mit dem Ziel, die Wirkungen des Geistes Gottes zu erfahren. Der Erfahrungsbegriff gehört zu den umstrittensten und unklarsten Begriffen überhaupt. Gleichwohl ist er unersetzbar. In den meisten theologischen, philosophischen und lebensweltlichen Diskursen der Gegenwart lässt sich ein Doppeltes beobachten: Der Begriff ist meist positiv konnotiert; gleichzeitig wird er vom bloßen „Erlebnis“ im Sinn eines reflektierten und fruchtbar gemachten Erlebens unterschieden. Die pfingstlich-charismatische Betonung der Erfahrung sollte nicht grundsätzlich abgelehnt werden – allerdings unter der Voraussetzung, dass sie sich deren Reflexion in rechtfertigungstheologischer Perspektive nicht verschließt. Die Betonung der pneumatischen Erfahrung darf nicht zur Vermeidung oder gar Verhinderung theologischer Reflexion führen. Beides bedingt und befruchtet sich gegenseitig. Pfingstlich-charismatische Spiritualität bleibt unbegriffen, 24 Vgl. in diesem Zusammenhang die Bemühungen auf dem Weg zu einer konsequent trinitarischen Theologie im protestantischen Bereich in den vergangenen Jahrzehnten: Jüngel, Gott als Geheimnis der Welt; Moltmann, Trinität und Reich Gottes; Boff, Der dreieinige Gott; Joest, Dogmatik, §15: Der dreieinige Gott. 25 Vgl. dazu Heribert Mühlen, der sich um eine Abgrenzung der von ihm positiv interpretierten Faszination von der negativen Fixierung bemüht, in: ders., Erneuerung des christlichen Glaubens, 108–161. 26 Vgl. z. B. Warrington, Pentecostal Theology, 15f.
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dunkel und vage, wenn sie nicht reflektiert und artikuliert wird. Die Bewegungen brauchen die Theologie als kritische Instanz, um nicht dem Sog des Faktischen zu erliegen.27 Es gibt eine Übermacht der Erfahrung, die jede kritische Distanz zu sich selbst auflöst und eine Selbstkorrektur unmöglich macht. Analog zu ähnlichen Entwicklungen im postmodernen säkularen Lebensraum28 lässt sich in den pfingstlich-charismatischen Bewegungen eine Überschätzung von Erfahrungen beobachten. Das gilt nicht zuletzt im Hinblick auf Gewichtung und Deutung der spektakulären Charismen Zungenrede, Prophetie und Heilung. Selbst außergewöhnliche Geisterfahrungen verbürgen weder Freude noch Gesundheit oder Erfolg. Emotional geprägte Geisterfahrungen sind im Glaubensalltag in das Nichtfühlen hinein zu überschreiten. Zum Glauben gehören Nachterfahrungen konstitutiv dazu.29 Das entspricht paulinischen Einsichten in das Wesen christlicher Existenz: „Wir haben aber diesen Schatz in irdenen Gefäßen, damit die überschwengliche Kraft von Gott sei und nicht von uns“ (2Kor 4,7); „Wir wandeln im Glauben und nicht im Schauen“ (2Kor 5,7). Martin Luther nimmt diese Erkenntnisse auf, indem er von Gottes Offenbarung sub specie contraria spricht.
3.
Hymnologische Orientierung
Lob und Anbetung Gottes spielen für die charismatisch geprägte Spiritualität eine herausragende Rolle.30 Das gilt gleichermaßen im Hinblick auf die private Frömmigkeit wie den Gottesdienst.31 Auch in der Außenwahrnehmung stellen Lobpreis und Anbetung ein wichtiges Kennzeichen charismatischer Bewegungen dar: Als typisches Bild von charismatischen Zusammenkünften werden in den Medien Menschen mit zur Anbetung erhobenen Händen gezeigt. Konkret sehen Lob und Anbetung im charismatischen Gottesdienst so aus, dass die Gottesdienstteilnehmer entweder sitzen, knien, stehen oder tanzen, die Hände falten 27 Das versucht in vorbildlicher Weise der folgende Sammelband, in dem pfingstliche und nichtpfingstliche Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler zu Wort kommen: Welker (Hg.), The Work of the Spirit. 28 Gerhard Schulze scheint eine Krise der Erlebnisgesellschaft anzudeuten, wenn er schreibt: „Die gegenwärtige Krise des Subjekts ist durch fürsorgliche Entmündigung jedoch nicht zu entschärfen. Wir, das Publikum, müssen erkennen, daß wir die Situation, in der wir uns befinden, nicht anders verdienen“, ders., Erlebnis-Gesellschaft, 549. 29 Mühlen, Von der Anfangserfahrung zum Alltag des Glaubens; vgl. auch ders., Charismatische Gemeinde-Erneuerung. 30 Vgl. im Folgenden Zimmerling, Die charismatischen Bewegungen, 209–212. 31 Die Bedeutung von Lob und Anbetung Gottes für die charismatischen Bewegungen wird an einer Fülle von Literatur sichtbar, die inzwischen zu diesem Thema erschienen ist. Ich nenne eine kleine Auswahl: Kopfermann, Das Geheimnis von Lobpreis; Schmieder, Lobpreis Gottes; Aschoff/Dippl/Schönheit, Werkstattheft Lobpreis; Kendrick, Anbetung.
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oder erheben, in einem längeren Zeitraum zwischen 30 und 60 Minuten vor allem in jüngster Zeit entstandene, meist einstrophige Chorusse singen, die durch einen Overhead- oder Digitalprojektor für alle sichtbar an die Wand geworfen werden.32 Das Singen wird immer wieder unterbrochen von Zeiten der Stille oder Gebeten in freier Form. Neben dem eigentlichen Lobpreisteil kann es auch an anderen Stellen im Gottesdienst spontan zu weiteren kurzen Lobpreiszeiten kommen. Vergleicht man die charismatischen Lobpreiszeiten mit dem Lob Gottes in der traditionellen Liturgie, so werden die Charakteristika charismatischen Lobpreises erkennbar. Im Gegensatz zum traditionellen evangelischen Gottesdienst, aber auch zur katholischen Messe, ist bei den Teilnehmerinnen und Teilnehmern eine Vielfalt von körperlichen Ausdrucksmöglichkeiten zu beobachten. Während das Lob Gottes die ganze traditionelle Liturgie durchzieht, ist es im charismatischen Gottesdienst in einer einzigen Anbetungsphase konzentriert, was de facto einer Aufwertung von Lobpreis und Anbetung gleichkommt. Am auffälligsten ist das Bemühen, im Lobpreisteil dem spontanen Wirken des Geistes Raum zu geben, indem keine ein für alle Mal festgelegt Ordnung für die Lieder und anderen Beiträge vorgesehen ist. Jeder Gottesdienstteilnehmer soll die Möglichkeit haben, das einzubringen, wozu der Geist ihn unmittelbar bewegt. In der charismatischen Lobpreisliteratur, in Lobpreisseminaren und im gottesdienstlichen Lobpreisteil wird häufig auf bestimmte biblische Aussagen Bezug genommen, um damit die eigene Lobpreispraxis zu legitimieren. Dazu gehört Ps 22,4, wo es heißt: „Du aber bist heilig, der du thronst über den Lobgesängen Israels“. Charismatiker begründen mit diesem Vers die epikletische und offenbarungstheologische Funktion von Lobpreis und Anbetung. Indem Gott gelobt und angebetet wird, entsteht ein Raum seiner Gegenwart, in dem er sich im Geist offenbart.33 Ähnlich häufig wird Ps 50,23 zitiert: „Wer Dank opfert, der preiset mich, und da ist der Weg, dass ich ihm zeige das Heil Gottes“.34 Charismatiker sind überzeugt, dass durch Loben und Danken göttliche Kräfte in das Leben des Betenden hineinströmen. Gebet ist für Charismatiker ein pneumatisches Geschehen, ein Charisma.35 32 Vgl. hier und im Folgenden Aschoff/Dippl/Schönheit, Werkstattheft Lobpreis, 7. 33 Das hat Hans-Diether Reimer richtig beobachtet: „Wir sehen, dass bei den ‚Charismatikern‘ Gebet in besonderem Maße Anbetung ist: lobpreisende Anbetung Gottes. Hierbei bildet sich nicht nur ein Bezug zu Gott, sondern eröffnet sich auch erfahrbar ein Raum seiner Gegenwart. Das Zungengebet, das hingebenden und anbetenden Charakter hat, weist in dieselbe Richtung“, ders., Wenn der Geist, 86. 34 Vgl. etwa Schönemann, Loben und Danken öffnet dem Segen die Tür, 7. 35 „Auch christliches Gebet ist nicht natürliche Möglichkeit – das wäre das Plappern der Heiden –, sondern Geschenk des Geistes, das im Glauben aufgenommen wird […]. Wir bleiben während unserer Gebete immer vom Geist Gottes abhängig“, Christenson, Komm Heiliger Geist!, 299.
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Hinter der Wiederentdeckung der Körpersprache für die Anbetung36 steht ein Plädoyer für ein Christentum mit Leib und Seele: „Der Betende soll auch in seiner Gestik zum Ausdruck bringen dürfen, was ihn innerlich bewegt“.37 Charismatiker weisen in diesem Zusammenhang auf Claus Westermann hin, der schon vor Jahren im Hinblick auf das alttestamentliche Gotteslob festgestellt hat: „Schroff ausgedrückt: der Intellekt kann nicht Gott loben, nur der atmende, sich freuende, singende Mensch“.38 Die charismatischen Lobpreis- und Anbetungslieder haben ein theozentrisches Gefälle. Der Lobpreisgottesdienst soll nach charismatischer Auffassung zur Anbetung Gottes um seiner selbst willen führen.39 Diesem Ziel entspricht der Charakter des überwiegenden Teils des genuin charismatischen Liedgutes. Die Lieder sind geprägt von der Freude an Gott, der Dankbarkeit über sein Heilshandeln und dem Aussprechen seiner Größe.40 Lob und Anbetung Gottes verleihen der charismatischen Spiritualität eine österlich-pfingstliche Grundstimmung. Schon häufig sind die Freude und ein damit verbundener Festcharakter als deren Merkmale hervorgehoben worden.41 Charismatiker interpretieren das Pfingstereignis als Intensivierung der Gemeinschaft mit Gott. Diese hätte sich für die Jünger „in der Kraft, die ihre Gebete belebte“, gezeigt.42 Eine andere Ursache für die österlich-pfingstliche Grundstimmung liegt in einer Eigenart des charismatischen Gebetsverständnisses, das mit der Religionspsychologie als „affirmatives Gebet“ bezeichnet werden kann.43 Charismatiker wollen durch das Gebet die charismatischen Kräfte des Geistes Gottes für sich in Anspruch nehmen. Indem sie auf die großen Möglichkeiten des Geistes verweisen, tritt der Gedanke an Schuld und Versagen zurück. Wie sind die skizzierten charismatischen Überlegungen zu Lobpreis und Anbetung zu beurteilen? Das Programm einer ganzheitlichen Lobpreispraxis stellt einen wichtigen Schritt auf dem Weg zur Überwindung der Intellektualisierung des herkömmlichen evangelischen Gottesdienstes und damit der Spiritualität insgesamt dar.44 Das entspricht biblischen Überzeugungen, die davon 36 37 38 39 40 41 42 43 44
Vgl. a. a. O., 293. Reimer, Wenn der Geist, 79. Westermann, הללpi. loben, 495f; zit. z. B. bei Christenson, Komm Heiliger Geist, 293. Vgl. Bially, Tips für Anbetungsleiter, 43: „Im Allerheiligsten [dem Ziel der Anbetung] fällst du vor ihm nieder und kannst nur noch von ihm singen, Jesus, Jesus, Jesus.“ Eine repräsentative Auswahl charismatischen Liedguts bietet: Trömel/Trömel (Hg.), Du bist Herr; vgl. hier und im Folgenden die Untersuchung von Aumann, Liedgut der Charismatischen Erneuerung. So etwa von der katholischen charismatischen Bewegung: Blatter, Charismen und Liturgie. Christenson, Komm Heiliger Geist, 299. Mit Hans-Diether Reimer, Wenn der Geist, 90. Zu einer zunehmenden Intellektualisierung war es nach dem Krieg durch eine Fehlinterpretation der dialektischen Theologie gekommen: Man meinte, dass das Wort Gottes sich
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ausgehen, dass der Mensch von seinem Schöpfer mit unterschiedlichen Sinnen und Ausdrucksmöglichkeiten begabt ist.45 Die Lobpreiskultur charismatischer Bewegungen betont zu Recht die Bedeutung von Gesang und Musik für den Glauben. Dabei stellt sie vor allem die pneumatische Dimension des Singens heraus, die in der evangelischen Tradition lange übersehen worden ist.46 Indem sich im Singen Erkenntnisse auf eine Weise erschließen, in der die Emotionen integriert sind, erfolgt eine Vergewisserung des Glaubens.47 Charismatiker weisen schließlich zu Recht auf die Bedeutung von Lob und Anbetung Gottes als Quelle von Ermutigung, Lebenskraft und Heilung hin.48 Dass diese Erkenntnisse längst überfällig waren, wird durch eine Reihe von Überlegungen von nicht-charismatischen Theologen der Gegenwart bestätigt. Claus Westermann hat herausgefunden, dass das Loben Gottes für den alttestamentlichen Frommen „eine Weise des Daseins“ ist, „nicht etwas, was es im Leben geben kann oder nicht“: „Wie der Tod charakterisiert ist dadurch, dass es in ihm nicht mehr das Loben gibt, so gehört zum Leben das Loben“.49 Die Erfüllung findet das Lob des Alten Testaments in der neutestamentlichen Gemeinde: In der Nachfolge Jesu Christi soll der Mensch mit seiner ganzen Existenz Gott loben, wobei das gesungene Lob nur eine Weise des Gotteslobs ist.50 Problematisch an der charismatischen Anbetungspraxis scheint vor allem eines: Die Klage kommt darin nicht vor. Das hat zwei Gründe: Die Konzentration auf das spontane Wirken des Geistes in der Gegenwart lässt nicht nur die Dankbarkeit für sein vergangenes Wirken zurücktreten; auch die Hoffnung auf sein zukünftiges Wirken wird unwichtig. Weil aber die Klage von der Hoffnung auf das eschatologische Wirken des Geistes lebt, hat sie in der charismatischen Anbetungskultur keinen Raum. Zudem erlaubt das ausschließlich österlichpfingstliche Verständnis des Geisteswirkens in charismatischen Bewegungen
45
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allein an den Verstand richtete und begriff nicht mehr, dass es den Menschen im Herzen, d. h. in seinem Personzentrum, also ganzheitlich ansprechen will. Vgl. dazu Grethlein, Abriß der Liturgik, 76, der eine Berücksichtigung dieser Erkenntnisse in der Geschichte der evangelischen Liturgik seit der Aufklärung bis heute vermisst. Die Forderung nach einer ganzheitlichen Anbetungspraxis entspricht auch neueren Erkenntnissen der Hirnforschung, die die enge Vernetzung der einzelnen Sinne untereinander aufweisen. Die für Calvin eine wichtige Rolle gespielt hat (so Möller, „Ein neues Lied wir heben an.“), bei Luther eher unausgesprochen vorausgesetzt ist. Luthers Interesse liegt mehr an der Bedeutung der Musik als Schöpfungsgabe Gottes (a. a. O., 25). Vgl. Heymel, Singen als Gabe des Heiligen Geistes; Christian Möller sprach auf dem gleichen Seminar davon, dass das Singen „in die Tiefenschichten der Seele eindringt“ (in: ders., „Ein neues Lied wir heben an“, 29). So Rolf Gürich, in: Rebecca Keller, Gott loben macht die Seele hell. 10 Jahre Lobpreisgottesdienste in der Johannesgemeinde, in: Evangelische Kirchenzeitung. Das Sonntagsblatt für Hessen und Nassau 7/1996, 24. Westermann, Loben Gottes in den Psalmen, 121. A. a. O., 123f.
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keine theologische Begründung der Klage: Die fehlende Berücksichtigung des Geisteswirkens im Leiden und Sterben Jesu Christi führt zu einem triumphalistisch eingefärbten Geistverständnis. Die Konzentration auf das machtvolle, spektakuläre Geisteswirken, die klassisch in den spezifisch charismatischen Lobpreis- und Anbetungsliedern sichtbar wird, verhindert, dass charismatische Bewegungen einen positiven Sinn des Leids erkennen und in das Geistverständnis integrieren können. Weil in der charismatischen Anbetung das Leid nur als zu überwindendes oder bereits überwundenes, nicht aber in Form der Klage zur Sprache kommt, muten viele charismatische Lieder auffallend wirklichkeitsfern, regelrecht erd- und weltlos an. Das Fehlen der Klage führt zu einem weiteren Problem charismatischer Gottesdienstkultur: Alle Gottesdienste sind geprägt von einer emotional erhöhten Stimmungslage. Auch wenn diese Grundstimmung von Charismatikern mit der freudigen Erwartung des spontanen Wirkens des Geistes begründet wird, kann man sich des Eindrucks nicht erwehren, dass sie weniger inhaltlich begründet als vielmehr durch ständige Wiederholung der gleichen Anbetungslieder und durch Lautstärke auf manipulativem und suggestivem Wege erzeugt wird.51 Im Gegensatz zur charismatischen Gottesdienstkultur hebt Claus Westermann die Bedeutung hervor, die der gottesdienstlichen Klage nach den biblischen Texten zukommt: „Im Alten wie im Neuen Testament gehört die Klage ganz selbstverständlich zur menschlichen Existenz; im Psalter ist die Klage ein wichtiger, gar nicht wegzudenkender Bestandteil des Gottesdienstes und der gottesdienstlichen Sprache“.52 Westermann betont darüber hinaus, dass die Klage sowohl im Alten als auch im Neuen Testament integrativer Bestandteil gerade auch der gelingenden Beziehung zu Gott ist.53 Inzwischen haben verschiedene Theologen, die zur traditionellen amerikanischen Pfingstbewegung zählen, selbstkritisch soziologische Kategorien zur Erklärung der Dominanz von „happy songs“ in charismatischen Gottesdiensten herangezogen.54 Die Pfingstbewegung stellt diesen Untersuchungen zufolge ein getreues Spiegelbild der amerikanischen Gesellschaft dar und liefere mit der Ausblendung der Klage aus dem Gottesdienst die religiöse Legitimation der in dieser Gesellschaft vorherrschenden Lebensphilosophie.55 Deshalb fordern die Autoren, dass die charis51 Meine Bedenken beziehen sich vor allem auf die traditionelle Pfingstbewegung und auf Gruppen der „Dritten Welle“. 52 Westermann, Rolle der Klage, 254. Vgl. auch Martin Luthers Vorrede zum Psalter: „Wiederum, wo findest du tiefere, kläglichere, jämmerlichere Worte von Traurigkeit, als die Klagepsalmen haben? Da siehest du abermals allen Heiligen ins Herz, wie in den Tod, ja wie in die Hölle. Wie finster und dunkel ist’s da von allerlei betrübtem Anblick des Zornes Gottes“ (Luther, Vorreden zur Heiligen Schrift, 19). 53 Vgl. Westermann, Rolle der Klage, 254. 54 So Adams, Inclusivenes of the Lament. 55 Vgl. a. a. O., 3ff.
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matische Anbetungskultur das Leid nicht verdrängt, sondern ihm in der Klage eine Stimme verleiht.56 Weil in Jesus Christus Gott selbst gelitten hat, muss im christlichen Gottesdienst das menschliche Leiden zur Sprache kommen.
4.
Poimenische Orientierung
Für pfingstlich-charismatische Spiritualität, vor allem für die der innerkirchlichen Charismatiker, ist eine seelsorgerliche Ausrichtung charakteristisch. Im Mittelpunkt steht das gemeinsame Gebet von Seelsorger bzw. Seelsorgerin und Ratsuchenden.57 Durch das Gebet soll Gottes machtvolles Handeln für das seelsorgerliche Bemühen in Anspruch genommen werden.58 Während des gemeinschaftlichen Gebets werden aufgrund innerer Einsicht oder Schau häufig seelsorgerliche Ratschläge in Form der verkündigenden Direktzusage gegeben.59 Charismatiker verstehen dieses die Situation erhellende, eine spezifische Weisung enthaltende oder auch Verborgenes ansprechende Wort als Prophetie im Sinne von 1Kor 14,1–5 bzw. als Wort der Erkenntnis (1Kor 12,8; wörtlich übersetzt). Beides wird in charismatischer Seelsorge häufig während des Sprachengebets empfangen. Charismatiker erwarten zudem, dass der Geist durch Visionen und Träume wirkt, die verdeutlichen, worin das Problem der Seelsorgesuchenden besteht.60 Dadurch sollen Einsichten in Probleme ermöglicht werden, die auf rationalem Wege nicht zu gewinnen sind. Schließlich hat die charismatische Seelsorge die Sehnsucht vieler moderner Menschen nach symbolischer und ritueller Vergewisserung des Glaubens aufgenommen und mit der Betonung von Segnung und Salbung als Mittel der Seelsorge beantwortet.61 Das gesprochene Segenswort wird durch Handauflegung und Salbung unterstützt. Unter den Feldern charismatischer Seelsorge stand mehrere Jahrzehnte lang die Erwartung der körperlichen Heilung im Vordergrund.62 Dabei ist das charismatische Gebet um Heilung nicht mit der Bitte für die Kranken im Fürbit56 „Therefore, the song/worship leaders who continually choose songs that image a society where there is no pain, no sorrow, no hurt (and that is what most of the contemporary choruses imagine), must take the appropriate measures to be inclusive of the realities of the cross […]. When the community gathers on Sunday, and we prefer to rehearse (whether in word or song), only the memory of blessing and the grandeur of majesty in our liturgy we negate the power of compassion, justice, mercy, etc“, a. a. O., 6. 57 Vgl. hier und im Folgenden Dam, Seelsorge in der Kraft des Geistes; Reimer, Wenn der Geist, 81–92. 58 Vgl. Reimer, Wenn der Geist, 90. 59 Vgl. a. a. O., 67. 60 Dam, Seelsorge in der Kraft des Geistes, 12. 61 Vgl. a. a. O., 32–38. 62 Vgl. Hollenweger, Enthusiastisches Christentum, 396–423.
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tengebet des herkömmlichen Gottesdienstes zu verwechseln. Das charismatische Krankengebet ist ein persönliches Gebet, in dem unter Handauflegung, häufig von Salbung begleitet, um die spontane Heilung durch den Geist Gottes gebetet wird. Neben der Heilung von körperlichen Krankheiten ist in den vergangenen Jahren verstärkt das Angebot der sog. inneren Heilung, d. h. der Heilung unterschiedlichster seelischer Störungen wie Depressionen und Sexualproblemen thematisiert und praktiziert worden.63 Das Konzept der inneren Heilung geht auf die Amerikanerin Agnes Sanford zurück, die es unter dem Namen „Heilung der Erinnerungen“ bekannt machte.64 Sie hat darin Erkenntnisse aus der Psychoanalyse Carl Gustav Jungs mit dem Gebet um Heilung verbunden, was einer Aufnahme psychoanalytischer Elemente in die charismatische Seelsorge gleichkam. Zur Heilung der Erinnerungen müssen drei Phasen durchlaufen werden, die manchmal auch als ineinander übergehend beschrieben werden.65 Die erste Phase umfasst die Bewusstmachung der Erinnerungen einschließlich der begleitenden Gefühle in der Begegnung mit dem Seelsorger. Die zweite Phase prägt das gezielte Heilungsgebet, das Herzstück der inneren Heilung. Die dritte Phase beinhaltet das Ablegen alter Verhaltens- und Denkmuster und das Einüben neuer heiler Gewohnheiten. Neben Krankenheilung und innerer Heilung spielt schließlich der sog. Befreiungsdienst eine herausragende Rolle,66 dem eine bestimmte Auslegung biblischer Aussagen über das Böse zugrunde liegt. Charismatiker lehnen die „Entmythologisierung“ des Bösen entschieden ab. Stattdessen verstehen sie die biblischen Aussagen über Satan und Dämonen wörtlich und rechnen mit deren Einfluss im Alltag. Charismatisch geprägte Christen sind überzeugt, dass viele Menschen in irgendeiner Form dämonisch belastet sind. Der zur charismatischen Bewegung gehörende anglikanische Bischof Geoffrey Graham Dow schreibt: „Bis vor wenigen Jahren glaubte ich, kaum eine Person in England habe mit bösen Geistern zu tun. Nun aber bin ich überzeugt, dass es ein weitverbreitetes Phänomen ist“.67 Daraus folgt für ihn die Notwendigkeit, gegen solche Geister anzugehen. Sein Ziel ist ein unspektakulärer und routinierter Befreiungsdienst, der so selbstverständlich ist wie Beichte, Seelsorge, medizinische und psychische Behandlung. Die Begründung für diese Vorstellung meint er dem 63 Im Hinblick auf homosexuelle Probleme vgl. Payne, Krise der Männlichkeit. 64 Vgl. ihre Bücher: Sanford, Heilendes Licht; dies., The Healing Gifts. 65 Vgl. Seamands, Heilung der Erinnerungen, 22–29. Andere Vertreter untergliedern differenzierter: vgl. z. B. McClung, Das Vaterherz Gottes, 45–60. 66 Vgl. im einzelnen Dow u. a., Werkstattheft Befreiungsdienst; Suenens, Erneuerung und die Mächte der Finsternis; Baumert, Gaben des Geistes Jesu, 171–176; Dam, Seelsorge in der Kraft des Geistes, 48–59. 67 Vgl. hier und im folgenden Dow, Werkstattheft Befreiungsdienst, 7.
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Neuen Testament entnehmen zu können: Die Berichte aus den synoptischen Evangelien zeigen, dass der Umgang mit Geistern zum „Routineprogramm“68 Jesu und seiner Jünger gehöre. Ein entsprechender Befreiungsdienst sei Aufgabe der heutigen Christenheit. Bei aller Berechtigung charismatischer Erkenntnisse zur Seelsorge im Einzelnen, drängt sich ein grundsätzlicher kritischer Einwand auf. Aufgrund ihrer pneumatischen Ausrichtung droht ihr trotz Betonung des Glaubens der Verlust der Rechtfertigungserfahrung. Mit der Konzentration auf emotionale und körperliche Geisterfahrungen geht häufig eine Abwertung des verbum externum, des zugesprochenen Wortes einher. Charismatische Seelsorge droht zu vergessen, dass einem Menschen primär dadurch geholfen wird, dass Gott ihn im Evangelium von Jesus Christus anspricht und seine Gnade zusagt. Eine daraus folgende Veränderung der Einstellung und des Tuns ist wichtiger als jede unmittelbare emotionale oder körperliche Manifestation des Geistes. Christliche Existenz kann sich nicht vom Glauben an das Wort Gottes emanzipieren. Erfahrungen des wunderhaften Wirkens Gottes im Geist machen den Glauben an das Evangelium nicht überflüssig, sondern können ihn höchstens kräftigen und erneuern. Der Heilige Geist bleibt trotz emotionaler oder leiblicher Manifestationen ein Artikel des Glaubens. Das schränkt seine Wirkungsmöglichkeiten aber nicht etwa ein, sondern erweitert sie. Reformatorischer Glaube, der sich am Wort Gottes festmacht, eröffnet den Zugang zu einer Wirklichkeit, die jede Erfahrung weit überbietet. Christian Möller formuliert prägnant: „Die geglaubte Wirklichkeit des Heiligen Geistes ist ungleich größer als die erlebte oder an Zeichen festgemachte Wirklichkeit“.69 Außerdem stellt sich die Frage, ob ein Verständnis des Geistes als „Kraft, die den Menschen über seine Möglichkeiten hinausreißt“,70 auch Raum für Gottes Handeln durch Leiden und Ohnmacht lässt. Viele Charismatiker haben Schwierigkeiten, ausbleibende Wundererfahrungen etwa bei chronischen körperlichen oder psychischen Krankheiten mit dem Willen Gottes in Einklang zu bringen. Christliche Frömmigkeit ist jedoch nicht mit Power-Religiosität zu verwechseln.
5.
Orientierung an der Heiligung
Aus dem charismatischen Pneumatozentrismus resultiert auch die Lehre vom Wohlstandsevangelium. Im Mittelpunkt dieser Lehre steht die Überzeugung, dass Christus den Menschen vom Fluch der Armut befreit habe, als er ihn vom 68 A. a. O., 12. 69 Möller, Gottesdienst als Gemeindeaufbau, 12. 70 Reimer, Wenn der Geist, 84.
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Fluch des Gesetzes erlöste.71 Die sog. Glaubensbewegung und die auf sie zurückgehende Lehre vom Wohlstandsevangelium stammen ursprünglich nicht aus dem traditionellen Pfingstlertum, sondern gingen aus dem sog. Neuen Denken und der Christlichen Wissenschaft hervor. Ihr Vater ist der bereits 1948 verstorbene Baptist Essek William Kenyon. Erst Kenneth E. Hagin, viele Jahre lang Pastor der Assemblies of God, hat das Denken der Glaubensbewegung im Rahmen der charismatischen Bewegungen bekannt gemacht.72 Hagin beruft sich auf Gal 3,13f.29. Er meint, dass der Fluch des Gesetzes in Armut, Krankheit und dem zweiten Tod bestehe.73 Durch Christus bekomme der Gläubige jedoch Anteil am Segen Abrahams: „Die erste Verheißung, die Gott Abraham gab, war, daß Er ihn reich machen würde“.74 Hagin wendet sich allerdings gegen das Missverständnis, als ob nun alle Christen Millionäre werden würden. Es geht ihm um das richtige Verständnis des Wortes „reich“. Er meint, es mit „umfassend“ angemessen wiedergeben zu können. Wenn schon nicht Millionen, so habe Gott seinen Kindern doch Reichtum verheißen: „Gott hat nicht verheißen, daß wir eine spärliche Versorgung haben würden, sondern eine reichliche Versorgung. Wir werden im Überfluß versorgt!“75 Dem Einwand, dass die biblischen Texte dem Reichtum sehr skeptisch gegenüberstehen, begegnet Hagin auf folgende Weise: „Es ist keine Sünde, Geld zu besitzen, aber es ist falsch, wenn das Geld dich besitzt. Wenn Geld einen Menschen beherrscht, so ist es falsch. Ein Mensch kann Geld so sehr lieben, daß er es bei jeder Gelegenheit an sich rafft und es sich auf jede nur mögliche Art und Weise beschafft“.76 Entscheidend für den Umgang mit Geld ist für Hagin also nicht der Besitz als solches, sondern die innere Haltung des Besitzers. Es gibt allerdings auch innercharismatische Kritik an der Lehre vom Wohlstandsevangelium. Vor allem wenden sich innerkirchliche Charismatiker, inzwischen aber auch traditionelle Pfingstler, mit dem Hinweis auf die wohlstandskritischen Aussagen des Neuen Testaments und den unbiblischen Kausalzusammenhang zwischen eigener Spendefreudigkeit und materieller Segnung durch Gott gegen die Lehre.77
71 „Ich wusste, dass es wahr war, aber kein anderer predigte, dass Gott uns vom Fluch der Armut befreit hatte“, Hagin, Erlöst von Armut, Krankheit und Tod, 10. 72 Einzelheiten über seinen Werdegang in: McConnell, Ein anderes Evangelium?, 83ff. 73 Vgl. Hagin, Erlöst von Armut, Krankheit und Tod, 5. 74 A. a. O., 9. 75 A. a. O.; ähnlich auch Cho: „Ich glaube, daß es Gottes Wille ist, daß wir geistlich, leiblich und finanziell im Wohlstand leben“, ders., Nicht nur Zahlen, 35. 76 Hagin, Erlöst von Armut, Krankheit und Tod, 12. 77 Vgl. McConnell, Ein anderes Evangelium? 214ff; vgl. auch Bühne, Spiel mit dem Feuer, 235.
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6.
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Missionarische Orientierung
Ein wesentlicher Aspekt pfingstlich-charismatischer Spiritualität ist schließlich ihre missionarische Orientierung. Zwar gibt es aufgrund der vielen Spielarten pfingstlich-charismatischen Christentums kein einheitliches missionstheologisches Konzept. Dennoch lassen sich bestimmte Spezifika ausmachen. Im Vordergrund stehen übernatürliche „Zeichen und Wunder“, „sichtbare Erweise der Macht Gottes“.78 Pfingstliche Theologen sind der Überzeugung, dass Menschen primär durch sichtbare Demonstrationen der Macht des Geistes in Form von spektakulären Krankenheilungen und durch Austreibung von Dämonen zum Glauben an Jesus Christus kommen.79 Hinter dieser Auffassung steht zunächst ein Erfahrungsargument: Die Erfahrung von Zeichen und Wundern sei die entscheidende Ursache für das Wachstum der Kirchen in der Dritten Welt.80 Außerdem berufen sich pfingstlich-charismatische Theologen für ihre Konzeption auf das Urchristentum und die Rolle, die Zeichen und Wunder im Verlauf der Kirchengeschichte gespielt haben. Schon das Wirken Jesu und der Apostel sei vorrangig von Zeichen und Wundern geprägt worden. Eine wesentliche Belegstelle dafür ist Mk 16,14–20, hier besonders V 17f, wo von den Gläubigen „mitfolgenden Zeichen“ die Rede ist.81 Die missionstheologischen Überlegungen pfingstlich-charismatischer Bewegungen kritisieren zu Recht ein verengtes, rationalistisch geprägtes Wirklichkeitsverständnis, das Menschen daran hindert, charismatische Erfahrungen zu machen, die die Alltagswirklichkeit überschreiten.82 Eine ihrer Stärken liegt darin, dass sie der westlichen Tendenz entgegentreten wollen, die biblischen Berichte über Zeichen und Wunder von einer eingeschränkten volkskirchlichen Erfahrungsebene her zu lesen, wodurch die in den Texten bezeugten Erfahrungen von vornherein unter den Verdacht geraten, nicht wirklich geschehen zu sein. Stattdessen bemühen sich Pfingstler um ein neues Ernstnehmen der biblischen Texte, um auf diese Weise den Menschen von heute auch nicht-rationalistische Erfahrungsdimensionen zu erschließen. Trotz dieser Kritik stellt pfingstlich-charismatische Spiritualität eine ernstzunehmende Herausforderung für die traditionelle evangelische Spiritualität 78 „‚Power evangelism‘ ist eine spontane, vom Geist eingegebene und bevollmächtigte Darlegung des Evangeliums. Übernatürliche, sichtbare Zeichen der Gegenwart Gottes gehen ihr voraus und unterstützen sie“, Wimber/Springer, Vollmächtige Evangelisation, 45. 79 Vgl. a. a. O., 50. 80 Vgl. als Standardwerk des Gemeindeaufbaus: McGavran, Gemeindewachstum verstehen, bes. das Kap. 11 „Krankenheilung und Gemeindewachstum“. 81 Wimber/Springer, Vollmächtige Evangelisation, 113–117. 82 Vgl. dazu bes. Wimber, Power Evangelism, 11ff („Weltanschauung und geistliche Kraft“); ähnlich ders./Springer, Vollmächtige Evangelisation, 49ff.
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dar. Das gilt vor allem für die in den innerkirchlichen charismatischen Bewegungen praktizierten Formen. Sie bemühen sich z. B. um eine Relektüre biblischer Texte, in denen vom Wirken des Geistes Gottes die Rede ist, ohne diese automatisch von der volkskirchlichen Erfahrungsebene zu bewerten. Das eröffnet die Möglichkeit, den Erfahrungsraum und die Formen traditioneller evangelischer Spiritualität zu erweitern.
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Personenregister
Ambrosius von Mailand 107, 190, 193 Andrewes, Lancelot 178 f Arndt, Johann 35, 193, 197, 204, 208, 213– 235, 263, 265, 278, 282, 288–290, 293, 299 f, 302 f, 305–308, 315 f, 322, 330, 341 f, 359 f, 382, 384, 394–396, 631, 656 Arnold, Gottfried 246, 248, 254, 262, 339– 354, 380, 442, 518 Augustin von Hippo 72, 77, 81 f, 84, 86 f, 107, 122, 175, 190, 193, 230, 235, 263, 274, 594, 698–700 Bach, Johann Sebastian 281, 702–705, 707, 709, 779 Barth, Karl 25, 440, 588, 603, 624, 757, 796 Bayly, Lewis 300, 305, 307 Bengel, Johann Albrecht 400–417, 552, 612 Bernhard von Clairvaux 107, 190, 193, 199 f, 219, 230, 235, 266, 269, 272, 274, 277, 294 Blumhardt, Johann Christoph 407, 559 Böhme, Jakob 239–256, 342 f, 345, 347 f, 351 f, 608 Bonhoeffer, Dietrich 7, 25–27, 292, 294, 711, 720 f, 755–758, 764–780 Calov, Abraham 187–189, 247, 283, 393 Calvin, Johannes 34, 38, 136–158, 174, 176, 217, 285, 314, 815 Cranmer, Thomas 169–173 de Labadie, Jean 342, 420, 424, 427, 656, 659 f Diener, Michael 677, 681–684
Dippel, Johann Konrad 340, 350 Doddridge, Philip 488–491 Ehler, Ludwig Otto 614–617, 624 Erasmus von Rotterdam 119 f, 169 f Fénelon, François 462 Francke, August Hermann 248, 302, 324, 328, 330, 336, 359–375, 377, 384, 392, 395 f, 402, 556, 632, 657 Franz von Assisi 385, 700 Gerhard, Johann 35, 189, 195 f, 198–200, 205, 207, 213, 216, 219 f, 222, 228, 232– 234, 261–278, 282, 291, 300, 305–307, 313, 316, 393 Gerhardt, Paul 7, 35, 190, 197, 230, 281– 296, 310, 432, 697, 779 Gichtel, Johann Georg 225, 247–253, 255, 348, 351 Gryphius, Andreas 190, 197, 203, 282, 288, 294 Guyon, Jeanne Marie 343, 424 Habermann, Johann 193 f, 308, 316 Hahn, Johann Michael 254 f, 557 Hamann, Johann Georg 511–526, 554 Harms, Ludwig 606–608, 611, 614, 619 f, 622–626 Heermann, Johannes 197, 201, 281 Hegel, Georg Wilhelm Friedrich 255, 524 f, 534, 541, 554, 592 Heimbucher, Kurt 673–675, 677, 681
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Personenregister
Ignatius von Loyola
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Jellinghaus, Theodor 677, 679 f Jerusalem, Johann Friedrich Wilhelm 493, 496 Johannes vom Kreuz 349, 385 Kähler, Martin 590, 684 Kant, Immanuel 485, 492 f, 496, 517–520, 523 f, 532 f, 544, 546 f Karlstadt, Andreas 72, 90 f Kierkegaard, Søren 517, 526 Lampe, Friedrich Adolf 421, 434 Leibniz, Gottfried Wilhelm 373, 502 Leutheuser, Julius 734, 737–739, 742 Locke, John 177, 485, 488 f, 496 Löhe, Wilhelm 560, 562, 643 Löscher, Valentin Ernst 381, 395–397 Luther, Martin 6–8, 23 f, 27–32, 38, 42, 45, 48, 50, 52–58, 63 f, 66, 68–70, 72–74, 81– 96, 98, 100, 102–104, 108, 112, 115, 149, 169, 172, 187, 192, 196 f, 199–201, 203, 205, 214 f, 217, 219, 226, 230, 261, 263, 266 f, 269, 271 f, 276 f, 281 f, 285 f, 292 f, 304–306, 308, 311, 315, 332, 335, 361, 369, 380 f, 384, 392 f, 395, 432, 443, 456, 463, 491, 512, 521, 526, 539, 554, 569, 574, 579, 590, 621, 623, 639, 642, 644, 698– 700, 720, 743 f, 761, 775, 783, 812, 815 f Meister Eckhart 41, 51, 82, 89, 95 Melanchthon, Philipp 34, 38, 89, 91, 94, 98–116, 214, 263, 282 Moller, Martin 196 f, 206, 230, 271, 306 Morgner, Christoph 672, 675–677, 681– 684, 690, 692 Mosheim, Johann Lorenz 488, 492 f Mott, John Raleigh 683 Müller, Heinrich 207 f, 305, 310, 607 Müller, Julius 549, 591 f Müller, Ludwig 734, 756 Müntzer, Thomas 53, 90, 109 Musculus, Andreas 192–195, 230
Nicolai, Philipp
204–206, 230, 299, 305
Oetinger, Friedrich Christoph 254 f Oncken, Johann Gerhard 614, 653, 662– 665 Petersen, Johann Wilhelm 248, 254, 333, 340, 343, 350 Petersen, Johanna Eleonora 248, 254, 333, 343, 350 Petri, Ludwig Adolf 620 Rahner, Karl 795 f Rambach, Johann Jakob 488 Ritschl, Albrecht 195, 282, 292, 550 Ritter, Karl Bernhard 711, 713, 717, 719, 724, 728 f, 785 Sattler, Georg Wilhelm 615–618 Saxer, Justus Alexander 615, 617–619 Schamelius, Johann Martin 35, 377–398 Schlatter, Adolf 684, 686 f Schlatter-Bernet, Anna 567–586 Schleiermacher, Friedrich Daniel Ernst 25, 35, 446, 493, 495 f, 529–547, 554, 590, 599, 618 Schütz, Johann Jakob 310, 340, 408 Schutz, Roger 785, 787 Schweitzer, Albert 35, 702–710 Schwenckfeld, Kaspar 163 Semler, Johann Salomo 24, 485 Spalding, Johann Joachim 491, 493, 496, 498–509 Spener, Philipp Jakob 35, 189, 214 f, 219, 226, 231, 301, 306, 309, 313, 320–337, 340, 344, 350, 368, 372, 383 f, 395, 442, 631, 656–660 Spitta, Carl Johann Philipp 559, 620–622 Stählin, Wilhelm 711–713, 716–719, 722– 725, 727 f, 785 Tauler, Johannes 82, 86, 89, 91, 219–221, 223 f, 235, 250, 332 f, 342 Tersteegen, Gerhard 419–435, 584 f, 656, 659 f, 664, 680
828 Tholuck, Friedrich August Gottreu 35, 549, 552, 563 f, 588–604, 614 f, 618, 620 f, 624 Thomas von Kempen 42, 45, 219 f, 273, 332, 342, 424, 462, 631, 765 Troeltsch, Ernst 24, 351 Überfeld, Johann Wilhelm 248, 250–253, 256 Undereyck, Theodor 302, 306, 340, 342, 419 f, 655, 660 von Buttlar, Eva Margaretha 340, 351 f, von Goethe, Johann Wolfgang 525, 544 f, 698–700 von Harnack, Adolf 35, 695–701, 708 von Herder, Johann Gottfried 493 f, 496, 511, 519, 523, 544
Personenregister
von Staupitz, Johann 34, 38, 42, 63–78, 81 f, 84–87, 90, 219 von Thadden-Trieglaff, Adolf 552 von Thadden-Trieglaff, Reinhold 760 f von Zinzendorf, Nikolaus Ludwig 254, 295, 415, 432, 435, 438–458, 532, 544, 656 f, 681, Watts, Isaac 488–490 Wesley, Charles 461, 474 f, 555 Wesley, John 35, 461–482, 555 Westermann, Claus 814–816 Whitefield, George 461–463 Wycliff, John 168 Wichern, Johann Hinrich 35, 552, 557, 561, 564, 622, 629–649, 672 Zwingli, Huldrych 34, 38, 72, 92, 118–134, 172, 217, 285, 313