Handbuch Evangelische Spiritualität: Band 3: Praxis [1 ed.] 9783666564604, 9783525564608


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Handbuch Evangelische Spiritualität: Band 3: Praxis [1 ed.]
 9783666564604, 9783525564608

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66 mm

Peter Zimmerling (Hg.)

Vandenhoeck & Ruprecht

Handbuch Evangelische Spiritualität

Der Herausgeber Dr. theol. Peter Zimmerling ist evangelischer Theologe und ­Professor für Praktische Theologie an der Theologischen Fakultät der Universität Leipzig.

Mit Beiträgen von J. Bilz, S. Bobert, Chr. Brödel, G. Büttner, C. Coenen-Marx, C. Dahlgrün, A. Deeg, A. Ebert, H. Eschmann, K. Fechtner, P. Geck, Chr. Gestrich, A. Giebel, Chr. Grethlein, G. Häuser, M. Herbst, M. Honecker, K. L. Ihmels, W. Ilg, M. Kießig, K. Klek, R. Kunz, A. Kusch, H.-J. Kutzner, Chr. Lehnert, D. Meyer, R. Mielke, K. Nagorni, G. Nogrady, K.-H. Ostmeyer, T. Popp, M. Printz, W. Ratzmann, J. Rehm, T. Roser, R. Sachau, M. Schmidt, H. Schroeter-Wittke, Í. Sipos, H. Treutmann, F. Walldorf, M. Wolf, H. Wrogemann, J. Ziemer und P. Zimmerling.

ISBN: 978-3-525-56460-8

9 783525 564608

Zimmerling (Hg.)  Handbuch Evangelische Spiritualität  Band 3

Das »Handbuch Evangelische Spiritualität« erschließt in drei Bänden den Reichtum evangelischer Spiritualität. Der dritte Band ermöglicht einen Überblick über die Praxis evangelischer ­Spiritualität. Die Autorinnen und Autoren zeigen, dass es die evangelische Spiritualität in den vergangenen Jahrzehnten geschafft hat, neben den traditionellen Praxisfeldern ganz neue Formen zu erschließen.

Band 3: Praxis

Peter Zimmerling (Hg.)

Handbuch Evangelische Spiritualität Band 3: Praxis

Vandenhoeck & Ruprecht

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek: Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über https://dnb.de abrufbar. © 2020, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Theaterstraße 13, D-37073 Göttingen Alle Rechte vorbehalten. Das Werk und seine Teile sind urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung in anderen als den gesetzlich zugelassenen Fällen bedarf der vorherigen schriftlichen Einwilligung des Verlages. Umschlagabbildung: Maria Einert, Leipzig, „aufbruch“, 2014 Satz: 3w+p, Rimpar Vandenhoeck & Ruprecht Verlage | www.vandenhoeck-ruprecht-verlage.com ISBN 978-3-666-56460-4

Danksagung

Mit dem vorliegenden 3. Band zur Praxis der Evangelischen Spiritualität findet das Handbuch seinen Abschluss. Ich bin froh und dankbar, dass fast 50 Beiträgerinnen und Beiträger an dem Band mitgewirkt und einen Artikel verfasst haben. Dass ich über Leipzig hinaus viele Kolleginnen und Kollegen aus der wissenschaftlichen Praktischen Theologie im deutschsprachigen Raum gewinnen konnte, freut mich besonders. Zu großem Dank bin ich auch meinen Mitarbeitern verpflichtet, hier besonders Herrn cand. theol. Paul Geck (Rom) und Herrn stud. theol. Kevin Stilzebach (Leipzig), ohne deren unermüdlichen Einsatz der Band nicht hätte erscheinen können. Sie haben nicht nur alle anfallenden redaktionellen Arbeiten erledigt, sondern auch einen Großteil der Korrespondenz mit den Autorinnen und Autoren geführt. Paul Geck hat sogar selber einen Artikel beigesteuert. Der Leipziger Künstlerin Frau Maria Einert danke ich dafür, dass sie auch das Titelbild für den dritten Band des Handbuchs bereitgestellt hat. Wie immer übernahm Frau Margitta Berndt (Herrnhut) das abschließende Korrekturlesen. Besondere freue ich mich, dass Wolfgang Huber, der frühere Ratsvorsitzende der Evangelischen Kirche in Deutschland, ein Geleitwort verfasst hat. Schon während seiner Amtszeit als Bischof in Berlin und später als Ratsvorsitzender der EKD hat er sich für die Förderung der evangelischen Spiritualität eingesetzt. Seine Diagnose von der „Selbstsäkularisierung“ des deutschen Protestantismus bis in die Mitglieder der Kerngemeinden hinein ist immer noch gültig. Die folgenden Kirchen, Stiftungen, Vereine und Institutionen haben das Gesamtprojekt finanziell unterstützt, wofür ich von Herzen dankbar bin: EKD (Evangelische Kirche in Deutschland), Evangelische Kirche Berlin-Brandenburgschlesische Oberlausitz, Evangelische Kirche in Hessen und Nassau, Evangelische Landeskirche in Baden, Evangelisch-lutherische Landeskirche Sachsen, Dr. Heinz-Horst Deichmann Stiftung, Evangelische Diaspora e.V., Förderverein der Theologischen Fakultät Leipzig e.V., Stiftung Geistliches Leben.

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Danksagung

Schließlich gilt mein Dank Herrn Christoph Spill und Frau Dr. Elisabeth Hernitscheck vom Verlag Vandenhoeck & Ruprecht für die ausgesprochen konstruktive und angenehme Zusammenarbeit. Mein Wunsch und Gebet ist es, dass das nun abgeschlossen vorliegende Handbuch zur kräftigen Förderung der Spiritualität – nicht nur im Raum des Protestantismus – beiträgt. Leipzig, im Frühjahr 2019

Peter Zimmerling

Wolfgang Huber

Geleitwort

Die verstärkte Aufmerksamkeit für die Praxis der Spiritualität, sowohl in der Wiederaneignung alter Traditionen wie in der Entwicklung neuer Formen, gehört zu den Hoffnungszeichen in der religiösen und kirchlichen Landschaft unserer Zeit. Das gilt gerade für Deutschland, das viele im unaufhaltsamen Sog von Säkularisierung und Entkirchlichung sehen. Bei einer solchen Beurteilung wird freilich nicht zureichend bedacht, dass die Entwicklung in Deutschland und vergleichbaren Ländern aus einer globalen Perspektive als atypisch bezeichnet werden muss. Denn weltweit nimmt der Anteil der Menschen ohne religiöse Bindung nicht zu, sondern ab; und ebenso wie der Islam wächst auch das Christentum. Unberücksichtigt bleibt bei einer solchen Sichtweise auch, dass eher eine fortschreitende Pluralisierung die religiös-weltanschauliche Lage prägt, nicht so sehr dagegen eine unaufhaltsam um sich greifende Säkularisierung. Der Soziologe Hans Joas spricht in solchen Zusammenhängen von sich überlagernden Prozessen der Sakralisierung und der Desakralisierung. In ähnlicher Weise überlagern sich ein neues Interesse für spirituelle Ausdrucksformen des Glaubens und eine verbreitete Gleichgültigkeit ihnen gegenüber. Viele Menschen stehen genau zwischen diesen beiden Polen. Im Bild gesprochen: Sie wollen, dass die Kirche im Dorf bleibt, gehen aber nie hinein. Ebenso wie im Fall der Kirchengebäude die entscheidende Antwort darin besteht, dass sie so oft wie möglich offen stehen und zum Schauen, Verweilen und Innehalten einladen, besteht im Bereich der Spiritualität die wichtigste Aufgabe darin, ihre Formen zugänglich zu machen und Menschen dabei zu helfen, ihre eigene Form zu finden. Denn bestreiten lässt sich nicht: Das Wachsen des spirituellen Interesses ist auch von Wildwuchs begleitet. Das ist verständlich, ja sogar zu begrüßen. Denn ungeordnetes Wachstum ist gerade in diesem Fall toter Dürre vorzuziehen. Doch manche Formen vagabundierender Spiritualität tragen auch ihre Gefahren in sich. Die neue Spiritualität, von der die nötige Widerstandskraft gegen die Verzweckung unseres Lebens und gegen die Instrumentalisierung unserer Seele erhofft wird, gerät selbst in den Sog des Konsumismus. Menschen auf der Suche

8

Wolfgang Huber

nach Spiritualität werden als Kunden entdeckt. Ihre Zahlungsfähigkeit verführt dazu, Spiritualität als Ware anzubieten. Spiritualität vermischt sich mit Wellness und Kommerz. Die Frage nach der Wahrheit wird dabei ausgeblendet; richtig ist, was nützt – und was sich verkauft. Aber auch noch diese vagabundierende Spiritualität enthält Hinweise auf eine Sehnsucht, die Menschen ohne kirchliche Bindung mit solchen verbindet, die kirchlich engagiert sind. Sie suchen nach Erfahrungen, die stärker sind als die verwirrenden und kräftezehrenden Eindrücke des Alltags; sie suchen nach einer Mitte für ihre Lebenspraxis, die zu klarer Orientierung verhilft. Sie halten Ausschau nach Hinweisen dafür, dass das Leben „mehr als alles“ ist. Jede Spiritualität bezieht sich auf einen „Höchstwert“, auf etwas Absolutes, auf die Gottheit oder ihre Offenbarung, auf das Nichts oder die Leere, auf das, was die Welt im Innersten zusammenhält. Im evangelischen Raum wurde diese Dimension lange Zeit vernachlässigt, weil der Glaube einseitig mit dem Handeln verknüpft wurde. Bestärkt wurde dies durch die öffentliche Meinung: Diakonische Werke finden mehr Anklang als Gottesdienste, soziales Engagement ist beliebter als Beten. Diese Verengung haben viele verinnerlicht; sie haben deshalb angenommen, dass sich am Handeln die „Glaubwürdigkeit“ der Gottesbeziehung ablesen lasse. Darüber wurde bisweilen verlernt, in Gott zu ruhen, sich in seiner Liebe zu bergen und seine Gegenwart zu erahnen. Nun aber fangen viele wieder an, dem Einkehren in Gottes Licht, dem Heimkehren in seinen Geist, dem Staunen vor seinem Geheimnis Raum zu geben. Angesichts eines solchen Wandels kommt es darauf an, dieser neuen Spiritualität eine klare biblische Orientierung zu geben und christliche Existenz in ihrer Ganzheit zu sehen: in der Einheit von Beten, Tun des Gerechten und Warten auf Gottes Zeit, wie Dietrich Bonhoeffer auf unüberholte Weise gesagt hat. Soll so verstandene Spiritualität in der persönlichen Glaubenspraxis wie im Leben der Kirche tiefer verwurzelt werden, um sich breiter entfalten zu können, so muss das Thema auch in der Theologie einen festen Ort gewinnen. Dafür haben der Herausgeber Peter Zimmerling und die Mitarbeiter dieses dreibändigen Handbuchs einen entscheidenden Beitrag geleistet. Nach der Geschichte und der Theologie der Spiritualität wird in diesem dritten Band deren Praxis behandelt. Dabei wird zu Recht ein weiter Begriff der Praxis zugrunde gelegt. Gottesdienst und persönliches Gebet, Pilgern und Enneagramm, die interkulturelle Ökumene und die evangelischen Denkschriften sowie viele weitere, zum Teil weit voneinander entfernte Aspekte kommen zur Sprache. Ich wünsche diesem Handbuch aufmerksame Leserinnen und Leser, die zu Multiplikatoren einer theologischen Durchdringung und praktischen Gestaltung evangelischer Spiritualität werden.

Inhalt

Danksagung

. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

5

Wolfgang Huber Geleitwort . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

7

Peter Zimmerling Das Handbuch Evangelische Spiritualität. Idee und Vorgeschichte

. . . .

15

Peter Zimmerling Zur Praxis der Evangelischen Spiritualität. Eine Einführung in Band 3 des Handbuchs Evangelische Spiritualität . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

22

Erster Teil: Kirche und Gemeinde Roger Mielke Gemeinde als Ort von Spiritualität . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

43

Karl Ludwig Ihmels Evangelische Jugendarbeit. Spiritualität entdecken, deuten, üben . . . . .

61

Thomas Popp/Michael Wolf Bibelbezogen und biografienah. Hauskreise als Erfahrungsräume evangelischer Spiritualität . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 101 Harald Schroeter-Wittke Einladung an Unbekannt und nicht-identitäre Frömmigkeit. Die Bedeutung von Kirchentagen für die Praxis evangelischer Spiritualität . . 116

10

Inhalt

Írisz Sipos Kommunitäten und geistliche Gemeinschaften. Experimentierfeld für kreative Formen verbindlicher Spiritualität . . . . . . . . . . . . . . . . . 133 Manfred Kießig Spiritualität und Institution. Die Bedeutung übergemeindlicher Institutionen für die Praxis evangelischer Spiritualität . . . . . . . . . . . 150 Henning Wrogemann Zur Bedeutung der interkulturellen Ökumene für eine Praxis evangelischer Spiritualität . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 171

Zweiter Teil: Gottesdienst und liturgisches Leben Christian Lehnert Herab. Hinauf. Der evangelische Gottesdienst als spirituelle Bewegung . . 185 Alexander Deeg Ereignis des äußeren Wortes. Die Bedeutung der Predigt für die Praxis evangelischer Spiritualität . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 205 Traugott Roser Welche Bedeutung hat die Taufe für die Praxis evangelischer Spiritualität? 231 Christof Gestrich (†) Welche Bedeutung hat das Abendmahl für die Praxis einer evangelischen Spiritualität? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 252 Wolfgang Ratzmann Kasualien (Konfirmation, Trauung, Bestattung) als spirituelle Gelegenheiten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 259 Holger Eschmann Die Bedeutung des Segens für die Praxis evangelischer Spiritualität . . . . 277 Markus Schmidt Salbung. Eine neue Form evangelischer Spiritualität Konrad Klek Spiritualität und Lied

. . . . . . . . . . . . 294

. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 320

11

Inhalt

Christfried Brödel Kirchenmusik als Brücke in die Welt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 341 Kristian Fechtner Evangelische Spiritualität im Kirchenjahr . . . . . . . . . . . . . . . . . . 357 Peter Zimmerling Kirchenräume als Orte der Verlässlichkeit. Zur Bedeutung des Raumes im Rahmen evangelischer Spiritualität . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 374 Holger Treutmann Lichterbäume. Brücke zu agnostischer Spiritualität?

. . . . . . . . . . . . 395

Ralph Kunz Welche Bedeutung haben Ritual und Symbol für die Praxis der evangelischen Spiritualität? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 401

Dritter Teil: Gebet und Bibellese Karl-Heinrich Ostmeyer Die Bedeutung des Gebets für die Praxis evangelischer Spiritualität. Persönliches, gemeinsames, öffentliches und Tagzeitengebet . . . . . . . . 421 Andreas Kusch Das evangelische Gebet. Sehnsucht, Vielfalt und Zugänge

. . . . . . . . . 436

Peter Zimmerling „Dass man der Heiligen gedenken soll.“. Die Bedeutung der Heiligen für die evangelische Spiritualität . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 454 Dietrich Meyer Bibellese und Stille Zeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 476 Dietrich Meyer Die Herrnhuter Losungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 481 Sabine Bobert Den Himmel überall finden. Die Rolle von Schweigen und Meditation . . 494

12

Inhalt

Vierter Teil: Seelsorge und Begleitung Peter Zimmerling Trinitarisch geprägte Seelsorge. Skizze der Beziehung zwischen evangelischer Spiritualität und Poimenik . . . . . . . . . . . . . . . . . . 517 Peter Zimmerling Die Beichte als Mittel evangelischer Spiritualität. Ein Plädoyer für ihre Wiederentdeckung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 537 Andreas Ebert Beichtspiegel und Anstiftung zum spirituellen Wachstum. Das Enneagramm und die evangelische Spiritualität . . . . . . . . . . . . . . . 561 Gaston Nogrady Der Exorzismus. Ein vergessenes Seelsorgemittel der Kirche . . . . . . . . 575 Corinna Dahlgrün Exerzitien und geistliche Begleitung

. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 598

Jürgen Ziemer Spiritual Care. Spirituelle Begleitung im Kontext von Palliative Care Astrid Giebel Die Praxis evangelischer Spiritualität in der Diakonie

. . . 616

. . . . . . . . . . . 636

Fünfter Teil: Lebenswelt und Bildung Cornelia Coenen-Marx Familie als Wiege der Spiritualität . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 657 Markus Printz Evangelische Spiritualität und Gemeindepädagogik . . . . . . . . . . . . . 676 Götz Häuser Glaubenlernen auf dem Weg. Glaubenskurse als Stationen geistlichen Lebens . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 693 Wolfgang Ilg Spiritualität bei Freizeiten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 708

13

Inhalt

Klaus Nagorni „Kommt, Kinder, lasst uns gehen…“. Pilgern als Ausdrucksmittel protestantischer Spiritualität . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 725 Gerhard Büttner Spiritualität im Evangelischen Religionsunterricht

. . . . . . . . . . . . . 741

Johannes Rehm „In Gottes Namen fang ich an …“. Arbeit als Berufung

. . . . . . . . . . 760

Martin Honecker Denkschriften und Spiritualität . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 783 Johannes Bilz, Rüdiger Sachau Das Politische und das Fromme. Evangelische Akademien und Spiritualität . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 810 Michael Herbst Welche Bedeutung hat Evangelisation für die Praxis evangelischer Spiritualität? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 828 Friedemann Walldorf Transparenz und Transformation. Historische und gegenwärtige Aspekte evangelischer Missionsspiritualität . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 847 Hans-Jürgen Kutzner „Das Bild sie sollen lassen stahn“. Erwägungen zum Anteil Bildender Kunst an evangelischer Spiritualität . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 867 Paul Geck Vom Werden und vom Sein. Evangelische Spiritualität und Belletristik am Beispiel Dietrich Bonhoeffers . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 888 Christian Grethlein Die Bedeutung von Medien (Presse, Radio, Film, Fernsehen, Internet/soziale Medien, Künstliche Intelligenz) für die christliche Lebensform . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 895 Autorinnen und Autoren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 914 Personenregister . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 922

Peter Zimmerling

Das Handbuch Evangelische Spiritualität Idee und Vorgeschichte

Die Idee, ein Handbuch Evangelische Spiritualität zu edieren, hat – wie wohl alle derartigen Projekte – eine längere Vorgeschichte. Seit meiner Habilitationsschrift über das pfingstlich-charismatische Christsein von 20011 haben mich spirituelle Fragestellungen nicht mehr losgelassen. Dabei konzentrierte ich mich mehr und mehr auf das Phänomen evangelischer Spiritualität.2 Mir war deutlich geworden: Im Raum der römisch-katholischen Theologie existiert eine Fülle von Publikationen zur christlichen Spiritualität. Auch die beiden Handbücher zur christlichen Spiritualität, die in den vergangenen Jahrzehnten erschienen, sind katholischer Provenienz.3 Währenddessen führt die Spiritualität im Bereich der wissenschaftlichen evangelischen Theologie trotz einer in den vergangenen Jahren zu beobachtenden Zunahme an Veröffentlichungen zum Thema immer noch weithin ein Schattendasein. Im wissenschaftlich-theologischen Bewusstsein sind konkrete Kenntnisse über die mannigfachen Erscheinungsformen evangelischer Spiritualität häufig nur ansatzweise vorhanden. Diese Feststellung korrespondiert mit dem Befund, den aktuelle empirische Studien aus dem Bereich der Religionssoziologie erbracht haben, wonach sich das spirituelle Interesse selbst vieler Kirchenmitglieder eher auf esoterische und fernöstliche Spiritualitätsformen richtet, und dass, wenn überhaupt, vor allem charismatische und fundamentalistische Erscheinungsformen von Spiritualität im Rahmen des Protestantismus an Vitalität gewinnen. Wenn die Theologie jedoch nicht auf die Spiritualität bezogen ist, schneidet sie sich selbst von ihrem Wurzelboden ab. Ohne

1 Die charismatischen Bewegungen. Theologie, Spiritualität, Anstöße zum Gespräch, 22002; Charismatische Bewegungen, UTB 3199, Göttingen 2009. 2 2003 konnte mein Buch „Evangelische Spiritualität. Wurzeln und Zugänge“, 2015 „Evangelische Mystik“ erscheinen. 3 Geschichte der christlichen Spiritualität, Bd.1–3, hg. von Dupré, Louis/Saliers, Don E. in Verbindung mit Meyendorff, John, Würzburg 1993–1997; Waaijman, Kees, Handbuch der Spiritualität. Formen, Grundlagen, Methoden, Bd. 1–3, Mainz 2004–2007.

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Peter Zimmerling

Wurzelboden aber wird sie nicht nur merkwürdig ortlos, sondern auch steril und ist auf Dauer nicht überlebensfähig.4 Angesichts dieser Beobachtungen lag es nahe, ein Handbuch Evangelische Spiritualität zu erarbeiten, zumal die Reformationsdekade zusätzlich zur Selbstreflexion und Selbstdarstellung evangelischen Christseins herausforderte. Das Projekt eines solchen Handbuchs ließ sich naturgemäß nur als Gemeinschaftswerk und im interdisziplinären Diskurs durchführen. Darum arbeiteten daran sowohl Fachvertreterinnen und -vertreter aus den unterschiedlichen theologischen Disziplinen (Bibelwissenschaften, Kirchengeschichte, Systematische Theologie, Praktische Theologie und Diakonik) und solche aus den Humanwissenschaften, den Kulturwissenschaften, aber auch aus den Wirtschaftsund Naturwissenschaften mit. Um der innerprotestantischen Vielfalt Rechnung zu tragen, habe ich mich darum bemüht, ausgewiesene Fachvertreter zu Wort kommen zu lassen, die den unterschiedlichsten spirituellen, theologischen und kirchlichen Traditionen angehören.

1.

Ziel

Ziel des auf drei Bände angelegten Handbuchs Evangelische Spiritualität ist es, die reichen Traditionen evangelischer Spiritualität in das theologische Bewusstsein zu bringen und für gegenwärtige wissenschaftliche Diskurse zur Verfügung zu stellen. Das Handbuch soll die Frage klären helfen, inwiefern es eine genuin evangelische Spiritualität gibt und worin ihre Konstitutionsbedingungen und theologischen Grundlagen, ihre Erscheinungsformen, ihre geschichtlichen Veränderungen, ihre Praxis und aktuelle Relevanz, aber auch ihre Gefährdungen bestehen. Eine wichtige Leitfrage lautet: Worin besteht der spezifische Beitrag der evangelischen Tradition im Hinblick auf Geschichte, Theologie und Praxis christlicher Spiritualität? Es waren vor allem zwei Spiritualitätslehrer aus dem Bereich der Orthodoxie und des römischen Katholizismus, der Mönch Mitrophan vom Berg Athos und Abt Emmanuel Jungclaussen von der Benediktinerabtei Niederaltaich, die mich für das besondere Profil und die besonderen Gestaltungsformen evangelischer Spiritualität sensibilisierten. Sie machten mir deutlich, dass diese spirituelle Prägung in der Weltchristenheit nicht verloren gehen dürfe, sondern stärker als bisher zur Geltung gebracht werden sollte. Der Grund dafür lag bei beiden darin, dass sie durch die evangelische Spiritualität nachhaltige Impulse empfangen hatten.

4 So auch Reich, Christa, Evangelium: klingendes Wort. Zur theologischen Bedeutung des Singens, hg. von Möller, Christian in Verbindung mit der Hessischen Kantorei, Stuttgart 1979, 105.

Das Handbuch Evangelische Spiritualität

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In meiner Antrittsvorlesung an der Theologischen Fakultät der Universität Leipzig im Jahr 2005 plädierte ich für eine Integration der Spiritualität in das Studium der Evangelischen Theologie.5 Inzwischen haben die meisten Landeskirchen und viele Theologische Fakultäten erkannt, dass die Theologiestudierenden auf dem Weg zur Gewinnung einer eigenen reflektierten Spiritualität nicht alleingelassen werden dürfen und entsprechende Angebote entwickelt.6 Die wissenschaftliche Theologie war in der Vergangenheit gut darin, Studierenden zu helfen, die Enge und Beschränktheit ihres mitgebrachten Kinderglaubens in Frage zu stellen und zu überwinden. Meist blieben sie jedoch ohne Hilfe, wenn es darum ging, einen lebendigen und gereiften Glauben einschließlich konkreter Gestaltungsformen zu entwickeln.7 In Leipzig dient u. a. das von Zeit zu Zeit durchgeführte Studium spirituale diesem Ziel. Auch das dreibändige Handbuch Evangelische Spiritualität möchte einen Baustein im Rahmen dieser Aufgabe zur Verfügung stellen. Als profundes Sammelwerk soll es neben Theologiestudierenden vorwiegend für Fachwissenschaftler, aber auch für Theologen und theologisch gebildete, in der kirchlichen Praxis engagierte Laien als wissenschaftliches Nachschlagewerk und als Einstiegslektüre in das vertiefende Studium der evangelischen Spiritualität fungieren.

2.

Zum Begriff „evangelische Spiritualität“

Der Siegeszug des Begriffs „Spiritualität“ im Protestantismus begann mit der Fünften Vollversammlung des Ökumenischen Rates der Kirchen in Nairobi 1975. Im Schlusskommuniqué der Vollversammlung hieß es: „Wir sehnen uns nach einer neuen Spiritualität, die unser Planen, Denken und Handeln durchdringt“.8 In Deutschland wurde der Begriff durch die Ende 1979 erschienene EKD-Studie

5 Vgl. Zimmerling, Peter, Plädoyer für eine neue Einheit von Theologie und Spiritualität, in: PTh 97/2008, 130–143. 6 Vgl. Hermisson, Sabine, Modelle zur Förderung von Spiritualität in Vikariat und kirchlicher Studienbegleitung. Eine qualitativ-empirische Analyse, in: Kunz, Ralph/Kohli Reichenbach, Claudia (Hg.), Spiritualität im Diskurs. Spiritualitätsforschung in theologischer Perspektive, Zürich 2012, 143–157. 7 So vor Jahren schon Ruhbach, Gerhard, Theologie und Spiritualität. Beiträge zur Gestaltwerdung des christlichen Glaubens, Göttingen 1987, 17. 8 Krüger, Harald/Müller-Römheld, Walter (Hg.), Bericht aus Nairobi 1975. Ergebnisse, Erlebnisse, Ereignisse. Offizieller Bericht der Fünften Vollversammlung des Ökumenischen Rates der Kirchen. 23. Nov. bis 10. Dez. 1975 in Nairobi/Kenia, Frankfurt a.M. 21976, 1, hier wird „spirituality“ noch mit „Frömmigkeit“ übersetzt; anders bereits 321ff, dem Bericht über den Workshop „Spiritualität“.

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„Evangelische Spiritualität“ kirchlich anerkannt.9 Mit ihr vollzog die evangelische Kirche einen Paradigmenwechsel: Sie nahm das Problem der Spiritualität als eine für das Christsein in der modernen Welt wesentliche Fragestellung auf. Der Begriff besitzt gegenüber „Frömmigkeit“, „Religiosität“ und „Glaube“ verschiedene Vorteile: Er ist im Bereich der gesamten Ökumene verständlich; er macht deutlich, dass es Spiritualität nur im Plural gibt;10 er bringt das in der abendländischen Theologie lange ungenügend berücksichtigte Wirken des Geistes neu zu Bewusstsein;11 der Aspekt der Gestaltwerdung macht deutlich, dass die soziale Dimension zum Glauben untrennbar dazugehört. Schließlich spricht für die Verwendung des Begriffs „Spiritualität“, dass er im Gegensatz zu den traditionellen Begriffen „Frömmigkeit“, „Religiosität“ und „Glaube“ für junge und ältere Menschen, auch für solche, die dem christlichen Glauben fernstehen, einen positiven Klang besitzt. Während viele Menschen in einer postchristlichen Gesellschaft meinen, mit dem altbekannten Christentum fertig zu sein, weist der Begriff „Spiritualität“ auf Unbekanntes. Gerade die häufig konstatierte Vagheit macht neugierig, verlockt dazu, sich mit den damit bezeichneten Phänomenen näher zu beschäftigen. Weil „Spiritualität“ einen Containerbegriff darstellt, sollte derjenige, der ihn verwendet, sagen, was er darunter versteht. Das tun die meisten der am Handbuch beteiligten Autorinnen und Autoren mehr oder weniger ausführlich zu Beginn ihrer Beiträge. Als Herausgeber habe ich keine weitergehenden Vorgaben gemacht, was ein Autor unter dem Begriff verstehen soll, um ihn nicht zu stark einzuengen. Zudem birgt eine zu starre Begriffsbildung die Gefahr in sich, den Blick für die konkreten spirituellen Phänomene eher zu verstellen als zu schärfen. Die Beschäftigung mit den geschichtlichen Erscheinungsformen der Spiritualität bietet die beste Chance dafür, dem, was Spiritualität ist, auf die Spur zu kommen. Ich habe allerdings immer wieder auf mein Buch „Evangelische Spiritualität“ verwiesen, in dem ich in Aufnahme von Überlegungen der genannten EKDStudie von folgendem weiten Spiritualitätsbegriff ausgehe: Ich verstehe unter Spiritualität den äußere Gestalt gewinnenden gelebten Glauben, der die drei Aspekte rechtfertigenden Glauben, Frömmigkeitsübung und Lebensgestaltung umfasst. Evangelische, d. h. vom Evangelium geprägte, Spiritualität wird dabei durch den Rechtfertigungsglauben sowohl motiviert als auch begrenzt. Die Er9 Evangelische Spiritualität. Überlegungen und Anstöße zu einer Neuorientierung, vorgelegt von einer Arbeitsgruppe der Evangelischen Kirche in Deutschland, hg. von der Kirchenkanzlei im Auftrag des Rates der Evangelischen Kirche in Deutschland, Gütersloh 21980. 10 Fahlbusch, Erwin u. a., Art. Spiritualität, in: Evangelisches Kirchenlexikon, hg. von ders. u. a., Bd. 4, Göttingen 31996, 402–419; Wiggermann, Karl-Friedrich, Art. Spiritualität, in: TRE, Bd. 31, Berlin/New York 2000, 708–717. 11 Vgl. dazu im Einzelnen Zimmerling, Peter, Charismatische Bewegungen, Göttingen 2009, 29– 33.

Das Handbuch Evangelische Spiritualität

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fahrung, durch Gott gerechtfertigt zu sein, befreit dazu, den Glauben in immer neuen Formen einzuüben und in der alltäglichen Lebensgestaltung zu bewähren. Umgekehrt bewahrt der Rechtfertigungsglaube davor, das eigene spirituelle und ethische Streben zu überschätzen. Eine so verstandene Spiritualität vermag einerseits den heutigen Reichtum an spirituellen Möglichkeiten positiv aufzunehmen. Die seit einigen Jahren zu beobachtende Erweiterung von spirituellen Formen im Raum des Protestantismus sollte als Bereicherung des evangelischen Glaubens anerkannt werden, auch wenn die neuen Formen häufig aus dem Bereich der katholischen (wie z. B. das Pilgern), der orthodoxen (wie z. B. das sog. Jesusgebet) und zum Teil aus anderen religiösen Traditionen (wie z. B. die Meditation) stammen. Spirituelle Suchbewegungen der Gegenwart können auf diese Weise gewürdigt werden. Andererseits geht mit der neuen spirituellen Vielfalt häufig eine Patchwork-Spiritualität einher, verbunden mit einer spirituellen Überanstrengung des Subjekts. In dieser Situation ermöglicht der Glaube, dass Gott mir in Jesus Christus auch ohne mein eigenes spirituelles Tun und Streben gnädig ist, mich in spiritueller Hinsicht zu begrenzen. Ich kann und brauche mir durch mein spirituelles Streben den Himmel nicht zu verdienen. Dass mir meine Gerechtigkeit von außen als iustitia aliena, als fremde Gerechtigkeit, zugeeignet wird, ist keine spirituelle Beschränkung, sondern hilft mir, dass ich meine Selbstbegrenzung als Geschöpf auch in spiritueller Hinsicht bejahen kann. Ich muss nicht mehr sein als ich vor Gott und Menschen bin: ein heilsam begrenzter Mensch. Auf diese Weise ist sichergestellt, dass spirituelle Übungen – wie die Zugehörigkeit zu einem Hauskreis oder die Inanspruchnahme von geistlicher Begleitung oder die Teilnahme an der Aktion „Sieben Wochen ohne“ – nicht unter der Hand zum Ausweis von Christsein werden. Da meine Seligkeit nicht an einer bestimmten spirituellen Praxis hängt, ist für evangelische Spiritualität ein Raum der Freiheit konstitutiv.

3.

Inhalt

Die drei Bände des Handbuches „Evangelische Spiritualität“ sind inhaltlich folgendermaßen gegliedert: Im ersten Band werden die geschichtlichen Erscheinungsformen evangelischer Spiritualität von der Reformation bis in die Gegenwart dargestellt. Der Protestantismus bildete seit seiner Entstehung im ersten Drittel des 16. Jahrhunderts eine Fülle von Erscheinungsformen der Spiritualität aus. Diese Vielfalt war ein wesentlicher Grund für seine Vitalität. Gleichzeitig erlebte der Protestantismus im Lauf seiner Geschichte mehrere schwere Krisen: z. B. die Gegenreformation, den 30jährigen Krieg, das Dritte Reich, die SEDHerrschaft. Dabei stellte sich mir die Frage, ob bestimmte Formen evangelischer

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Peter Zimmerling

Spiritualität diese Krisen begünstigt haben. Ich hoffe, dass der zweite Band des Handbuchs, in dem es um die Theologie der evangelischen Spiritualität geht, hierauf Antworten gibt. Im zweiten Band wird die Theorie evangelischer Spiritualität entfaltet. Dabei geht es darum, theologische Kriterien zu entwickeln, um eine evangelische Spiritualität zu konturieren, die rechtfertigungstheologisch orientiert und im Kontext der spätmodernen Gesellschaft lebbar ist. Von hier aus lässt sich auch der Ort evangelischer Spiritualität im Kontext der Ökumene und des interreligiösen Dialogs näher bestimmen. Im dritten Band sind die vielfältigen Praxisformen evangelischer Spiritualität darzustellen. Dabei geht es neben der Entfaltung ihrer Gestalt und der Untersuchung ihrer Beziehungen zueinander um ihre kritische Würdigung. Die Unterteilung in Geschichte, Theologie und Praxis erlaubt, sich dem Phänomen der evangelischen Spiritualität aus drei unterschiedlichen Perspektiven anzunähern. Dadurch ist es möglich, voneinander verschiedene Aspekte wahrzunehmen. Zusammengenommen erlauben sie eine Gesamtschau evangelischer Spiritualität.

4.

Evangelische Spiritualität im ökumenischen Kontext

Um Missverständnissen vorzubeugen: Die Konzentration des Handbuchs auf die evangelische Spiritualität ist nicht in konfessionalistischem oder gar antiökumenischem Sinne gemeint, war doch die gelebte Spiritualität immer schon das Feld, auf dem der ökumenische Austausch zwischen den Konfessionen am besten funktionierte. Das Gleiche gilt für alle praktischen Fragen wie den Einsatz für Gerechtigkeit, Frieden und Bewahrung der Schöpfung. Zu allen Zeiten beeinflussten sich die Mitglieder der verschiedenen Konfessionen auf diesem Gebiet – häufig ohne sich entsprechender Abhängigkeiten bewusst zu sein. Offensichtlich wirkt gerade die Unterschiedlichkeit der gelebten Spiritualität anziehend. Fremder Reichtum fasziniert! Ihn möchte man selbst ausprobieren; an ihm möchte man selbst Anteil haben. Zeiten, in denen die offizielle Ökumene stagniert, tun deshalb gut daran, das ökumenische Potenzial gelebter Spiritualität zu entdecken. Vielleicht kann in Zukunft über diesen Umweg die organisierte Ökumene neue Dynamik gewinnen. Evangelische, katholische und orthodoxe Spiritualität zeichnen sich durch je besondere Prägung und eigene Schwerpunkte aus. Meine These ist: Die einzelnen Traditionen gewinnen an Reichtum und Relevanz, wenn sie bereit sind, voneinander zu lernen. Außerdem ermöglicht der gegenseitige Austausch, falsche Einseitigkeiten zu überwinden. Voraussetzung dafür ist allerdings, dass auch der Protestantismus bereit ist, sich seiner eigenen Spiritualität bewusst zu werden,

Das Handbuch Evangelische Spiritualität

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diese zu pflegen und an die nachwachsende Generation weiterzugeben. Obwohl bei dem Handbuch der Akzent auf der Selbstvergewisserung und Selbstdarstellung der evangelischen Spiritualität liegt, besteht das übergreifende Ziel darin, auf der Basis der eigenen Identität ein qualifiziertes Gespräch mit den ökumenischen Partnern zu ermöglichen. Evangelische Spiritualität sollte in Zukunft an den Stellen weiterentwickelt werden, wo sie sich angesichts der Herausforderungen der Gegenwart als defizitär erweist. Dabei ist vor allem die Bedeutung von Emotionalität und Sinnlichkeit, aber auch die Frage nach einer Pluralisierung der Formen zu bedenken. Menschen wollen den Glauben heute nicht nur denken, sondern auch mit Leib und Seele erfahren.12 Die fortschreitende Ausdifferenzierung der ästhetischen Milieus in unserer Gesellschaft lässt nicht länger zu, sämtliche Kirchenmitglieder oder gar alle Mitglieder der Gesellschaft auf einige wenige traditionelle Spiritualitätsformen der eigenen Konfession festzulegen. Eine Erweiterung der Formenvielfalt ist dringend geboten. Die unterschiedlichen Konfessionen tun angesichts dieser Situation gut daran, bei den anderen Konfessionen in die Schule zu gehen, um spirituelle Formen zu entdecken, die zur Bereicherung des eigenen spirituellen Profils beitragen. Dass darüber hinaus auch nichtchristliche religiöse Traditionen als Inspirationsquelle für neue spirituelle Formen fungieren können, hat die Entwicklung der christlichen Meditationsbewegung nach dem Zweiten Weltkrieg gezeigt.

12 So auch Meyer-Blanck, Michael, Inszenierung des Evangeliums. Ein kurzer Gang durch den Sonntagsgottesdienst nach der Erneuerten Agende, Göttingen 1997, 133.

Peter Zimmerling

Zur Praxis der Evangelischen Spiritualität Eine Einführung in Band 3 des Handbuchs Evangelische Spiritualität

1.

Ziel des Bandes

Der vorliegende dritte Band des Handbuchs Evangelische Spiritualität möchte einen Überblick über die Formen geben, in denen evangelische Spiritualität heute praktisch gelebt wird. Bei der Konzeption des Bandes wurde schnell deutlich, dass sich die Praxisformen evangelischer Spiritualität inzwischen so stark ausdifferenziert haben,1 dass es selbst in einem Handbuch unmöglich sein würde, alle darzustellen, sodass eine Auswahl getroffen werden musste. Ein Kriterium dabei war, möglichst alle grundlegenden Formen evangelischer Spiritualität in einem eigenen Artikel zu behandeln. Darüber hinaus sollten wenigstens auch die bekannteren neueren Formen berücksichtigt werden (wie Segnung, Salbung, Kirchenräume, Lichterbäume, Meditation, Enneagramm, Exerzitien, Geistliche Begleitung, Spiritual Care, Glaubenskurse, Pilgern etc.), ohne Vollständigkeit zu erstreben. Die Vielfalt der Formen evangelischer Spiritualität hat ihre Ursache nicht zuletzt darin, dass der reformatorische Glaube sich von Anfang an durch eine „Begeisterung für das Alltägliche“2 auszeichnete und das ganze Leben durchdringen wollte: sowohl das individuelle als auch das gesellschaftliche. Im Laufe der weiteren Geschichte traten in der Praxis evangelischer Spiritualität immer wieder neue und andere Formen in den Vordergrund. Es gibt eine Biografie der Frömmigkeitsformen – man denke nur an die Rolle des freien Gebets oder auch des Abendmahls. Diese hängt mit Veränderungen der gesellschaftlichen Strukturen, aber auch mit solchen der gesellschaftlichen Gemütslage, mit

1 Die Fülle an Formen evangelischer Spiritualität zeigt bereits der flüchtige Blick in das Jahresprogramm eines Spiritualitätszentrums wie das Haus Eckstein in Nürnberg. 2 Christian Möller, Begeisterung für das Alltägliche. Das Charisma am Werktag, Evangelische Kommentare 18 (1985), 72–75.

Zur Praxis der Evangelischen Spiritualität

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theologischen Neuentdeckungen und mit Wandlungen des Gottesbildes zusammen. Ich habe mich auch in diesem Band darum bemüht, Autorinnen und Autoren unterschiedlicher theologischer Richtungen (soweit man davon heute noch sprechen kann), zu Wort kommen zu lassen. Dass es Fachleute für die jeweilige Form evangelischer Spiritualität sein sollten, versteht sich von selbst. Darüber hinaus ging es mir darum, verstärkt solche Experten zu gewinnen, die aus der Praxis der Spiritualität kamen. Inhaltliche Vorgaben habe ich keine gemacht, außer auf mein eigenes Buch „Evangelische Spiritualität. Wurzeln und Zugänge“, das in zweiter Auflage 2010 erschienen ist, und auf die beiden ersten Bände des Handbuchs (2017 und 2018) hinzuweisen. Fast alle Verfasserinnen und Verfasser haben meine Definition von evangelischer Spiritualität aufgegriffen, die ich in Anlehnung an die Denkschrift der EKD zu „Evangelischer Spiritualität“ aus dem Jahr 1979 formuliert habe. Danach sind für diese drei Aspekte konstitutiv: der reformatorisch verstandene Rechtfertigungsglauben, die geistliche Übung und das verantwortliche Handeln aus dem Glauben.

2.

Grundlegendes

2.1

Rehabilitation der Erfahrung

Gerhard Schulze hat in einer groß angelegten soziologischen Untersuchung Anfang der 1990er-Jahre die These aufgestellt, dass die postmoderne Gesellschaft eine durchgängige Erlebnisorientierung auszeichnet.3 Seine Überlegungen sind noch heute aktuell: „Der kleinste gemeinsame Nenner von Lebensauffassungen in unserer Gesellschaft ist die Gestaltungsidee eines schönen, interessanten, subjektiv als lohnend empfundenen Lebens.“4 Nicht mehr die Außenorientierung auf eine zu vollbringende Leistung bestimmt den Lebensentwurf, sondern die Innenorientierung auf das „Projekt des schönen Lebens“: „Das Projekt des schönen Lebens ist das Projekt, etwas zu erleben.“5 Der heutige Mensch will Leid vermeiden, um dadurch Zeit zu sparen und das Leben voll auszukosten: „Der Zeitgewinn der rasenden Lebensart beruht gerade darauf, dass der Mensch die annehmlichen Seiten des Lebens abschöpft und die schmerzvollen eliminiert.“6 Der Erwartungshaltung, etwas Schönes zu erleben, korrespondiert ein immer 3 Gerhard Schulze, Die Erlebnis-Gesellschaft. Kultursoziologie der Gegenwart, Frankfurt a. M./ New York 21992. 4 A. a. O., 37. 5 A. a. O., 38. 6 Marianne Gronemeyer, Das Leben als letzte Gelegenheit. Sicherheitsbedürfnisse und Zeitknappheit, Darmstadt 21996, 122.

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reicher werdendes Angebot an Erlebnismöglichkeiten. Angebot und Nachfrage sind dabei strukturell auf eine immer größere Entfaltung hin angelegt. Die Erlebnissehnsucht vieler Menschen ist nur zu verständlich. Sie wird bedingt durch den allgemeinen Erfahrungsverlust aufgrund der Überlagerung der Natur durch die technische Zivilisation. Dazu tritt die zunehmende Vermassung des Menschen, der nicht mehr als Person, sondern nur noch quantitativ, von seiner Funktion her – etwa als Konsument – interessant ist.7 Eine weitere Ursache der Erlebnisorientierung besteht im Zurücktreten der Face-to-face-Kommunikation und Begegnung aufgrund massenmedial vermittelter virtueller Kommunikation und Begegnung. Es kommt zu einer „ästhetische[n] Inszenierung des Universums“ durch die Massenmedien.8 Die Erlebnissehnsucht wird schließlich noch dadurch verstärkt, dass die westlichen Informationsgesellschaften der Gegenwart eine ausgesprochene Experimentierlust prägt:9 Das Prinzip der Machbarkeit hat das der Denkbarkeit abgelöst. In der Spätmoderne ist an die Stelle der Sehnsucht nach Weltveränderung – im Sinne der Beherrschung durch Wissenschaft und Technik – die eher indifferente Wahrnehmung der Welt getreten. Welche Konsequenzen hat die starke Erlebnisorientierung der Gesellschaft für die evangelische Spiritualität? Die Erlebnisorientierung allein scheint den heutigen Zeitgenossen noch nicht zu genügen. Erst wenn Erlebnisse eine Sakralisierung erfahren, sind sie mit der nötigen Weihe versehen, die ein geglücktes Leben erfordert. Spirituelle Erlebnisse haben einen hohen Erlebniswert. Die Möglichkeit, Nicht-Alltägliches zu erfahren, fasziniert viele Zeitgenossen. Religiöse Erlebnisse bieten den „Kick“, den viele ersehnen. In ihnen findet ihre Suche nach „dem Transzendenten“ eine Antwort. Menschen wollen den Glauben heute nicht nur denken, sondern auch spüren. Ob sie in Zukunft Zugang zum christlichen Glauben bekommen, ist nicht zuletzt davon abhängig, ob ihre Emotionalität und ihre Körperlichkeit darin vorkommen. Evangelische Spiritualität sollte in Zukunft stärker als bisher Emotionalität und Sinnlichkeit integrieren. Dem steht jedoch die das 20. Jh. über weite Strecken prägende – und bis heute nachwirkende – theologische Tradition Karl Barths und seiner Freunde entgegen: Sie ging davon aus, dass evangelischer Glaube keinen Raum für Erfahrung lässt, d. h. immer Glaube gegen die Erfahrung ist. Das Glaubensverständnis vor allem der frühen dialektischen Theologie war von Sören Kierkegaard inspiriert, der den Glauben als 1000 Klafter „über dem Abgrunde erbaut“10 definierte: Man muss auch den Glauben glauben. Von dieser Definition her wird verständlich, 7 Mit Eugen Biser, Glaubensprognose. Orientierung in postsäkularistischer Zeit, Graz/Wien/ Köln 1991, 27ff. 8 Vgl. zur neueren, kontroversen Diskussion zum Thema: Biser, Glaubensprognose, 37. 9 A. a. O., 31. 10 Sören Kierkegaard, Philosophische Brocken. Gesammelte Werke, Bd. 10, Düsseldorf 1967, 95.

Zur Praxis der Evangelischen Spiritualität

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wieso der Glaube beim frühen Barth nirgends Bodenhaftung gewinnen, d. h. zur Erfahrung werden konnte.11 Luthers Spiritualität ist demgegenüber erfahrungsbezogene Spiritualität. Obwohl der Reformator – wie die dialektische Theologie – davon ausgeht, dass der Mensch durch den Heiligen Geist keine neue sittliche Qualität verliehen bekommt,12 geht er gleichzeitig davon aus, dass der Rechtfertigungsglaube dem Menschen zur gelebten Erfahrung wird. Mit Paul Althaus gesprochen: „Der Glaube ist nicht nur in sich selber Erfahrung, sondern ihm wird auch Erfahrung im Leben zuteil. Der Christ erfährt, dass er im Glauben an das Wort Gottes wirklich Christus bei sich hat mit seiner Macht, die Sünde, den Teufel, die Todesangst zu überwinden […]. Die Gnade selber ist verborgen und daher zu glauben, aber ihre Wirkungen bleiben nicht verborgen, sondern sind offenkundig und als solche ein Erweis für die Gegenwart der Gnade.“13

Für eine solche Interpretation Luthers existieren eine Reihe von Belegen: „Da mus nu angehen die erfarung, das ein Christ koenne sagen: Bisher hab ich gehoret und gegleubt, das Christus mein heiland sey, so meine sund und tod überwunden habe, Nu erfare ichs auch, das es also sey, Denn ich bin itzt und offt inn tods angst und des Teuffels stricken gewesen, Aber Er hat mir heraus geholffen und offenbaret sich mir also, das ich nu sehe und weis, das er mich lieb habe, und das es war sey, wie ich glewbe.“14

In diesen Zusammenhang gehört auch das bekannte Lutherwort: „Das christliche Leben ist nicht Frommsein, sondern ein Frommwerden, nicht Gesundsein, sondern ein Gesundwerden, nicht Sein, sondern ein Werden, nicht Ruhe, sondern eine Übung. Wir sinds noch nicht, wir werdens aber. Es ist noch nicht getan und geschehen, es ist aber im Gang und Schwange. Es ist nicht das Ende, es ist aber der Weg. Es glühet und glänzt noch nicht alles, es bessert sich aber alles.“15

Dieses Wort bringt sowohl die Paradoxie als auch die Dynamik von Luthers Erfahrungsbegriff in anschaulicher Weise zum Ausdruck. Auch wenn der Christ 11 Erst der späte Karl Barth hat die Frage nach der Erfahrbarkeit Gottes als theologisch legitim anerkannt (vgl. Schleiermacher-Auswahl, besorgt von Heinz Bolli. Mit einem Nachwort von Karl Barth, Gütersloh 31983, 311f). 12 Wilfried Joest, Martin Luther, in: Gestalten der Kirchengeschichte, Bd. 5: Die Reformationszeit 1, hg. von Martin Greschat. Stuttgart u. a. 1981, 140. Der Christ wird „gerade aus seinem eigenen Sein- und Können-wollen […] wieder und wieder herausgerufen in das Zusammensein mit Christus, in das, was Christus kraft dessen, dass er mit ihm ist, in ihm, seinem Tun und Leben ‚kann‘. Das geschieht in dem Maß, als der Mensch glaubt, d. h. sich an Christus hält […] was in seinem Leben und Tun geschieht, geschieht nicht aus ihm selbst, sondern aus der Gegenwart und Kraft des Gottes, der in Christus mit ihm ist“ (a. a. O., 140f). 13 Paul Althaus, Die Theologie Martin Luthers, Gütersloh 1962, 63. 14 WA 45, 599, 9–15. 15 WA 7, 336, 31–36 (Schreibweise modernisiert).

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seine eschatologische Vollendung noch vor sich hat, beginnt der neue Mensch bereits in diesem Leben in ihm Gestalt zu gewinnen. Für Luther ist dabei die Anfechtung, die tentatio, der primäre Ort der Gotteserfahrung. Gott offenbart sich dem Menschen nämlich sub specie contrario, unter seinem Gegenteil,16 was schon an der Offenbarung Gottes in Jesus Christus erkennbar wird. „Das Kreuz Christi gibt den Maßstab für die rechte Erkenntnis der Wirklichkeit Gottes, seiner Gnade, seines Heils, des Christenstandes, der Kirche Christi.“17 „Diese gaben unnd wolthat Gottes sind unter dem kreutz verporgen, das sie die gotlosen weder sehen noch erkennen kuennen, sunder haltens nur fuer eytel ungeluecke unnd plagen.“18 Auf diese Weise gelingt es Luther, die gesamte Lebenswirklichkeit des Menschen für die spirituelle Erfahrung zu öffnen: „Siehe, er steht hinter der Wand und sieht durch die Fenster. Das ist so viel wie: Unter den Leiden, die uns gleich von ihm scheiden wie eine Wand, ja eine Mauer, steht er verborgen und sieht doch auf mich und lässt mich nicht. Denn er steht und ist bereit zu helfen in Gnaden und durch die Fenster des dunklen Glaubens lässt er sich sehen.“19

Der Gläubige hat die Chance, in der Gewissheit zu leben, es immer und überall mit Gott zu tun zu haben – gerade auch in den Erfahrungen bzw. Widerfahrnissen, die ihn, mit dem gesunden Menschenverstand betrachtet, von Gott trennen müssten. Indem der evangelische Glaube Erfahrungen macht, gewinnt er Raum in der Welt und vermag den ganzen Menschen in allen Lebensbereichen zu erfassen. Das schließt nicht aus, dass der Glaube immer wieder auch in das Nicht-Sehen, d. h. das Nicht-Erfahren hinein überschritten werden muss: „Dennoch bleibe ich stets an dir, denn du hältst mich bei meiner rechten Hand, du leitest mich nach deinem Rat und nimmst mich am Ende mit Ehren an. Wenn ich nur dich habe, so frage ich nichts nach Himmel und Erde. Wenn mir gleich Leib und Seele verschmachtet, so bist du doch, Gott, allezeit meines Herzens Trost und mein Teil“ (Ps 73,23–26).

16 17 18 19

Belege bei Althaus, Theologie, 58–65; vgl. auch 34–42. A. a. O., 38. WA 31, I, 51, 21–24. WA 6, 208 [Von den guten Werken, 1520; im Original: „‚Sich, er steht hinder der wandt und sicht durch die fenster,‘ das izt szo vil, unter dem leidenn, die uns gleich von ym scheyden wollen wie eine wand, ja eine maurenn, steht er vorborgen unnd sicht doch auff mich und lesset mich nit. Dan er steht und ist bereit, zuhelffen in gnaden, unnd durch die fenster des tunckeln glaubens lesset er sich sehen.“]

Zur Praxis der Evangelischen Spiritualität

2.2

27

Notwendige Gestaltwerdung des Glaubens

Nicht nur jeder Theologe, sondern jeder Christ sollte in Zukunft eine persönliche, reflektierte und gestaltete Spiritualität ausbilden. Dazu ist eine Einführung in elementare spirituelle Vollzüge unerlässlich. Voraussetzung dafür ist, dass evangelische Spiritualität endgültig ihre Phobie vor geprägten Formen überwindet. Im Laufe der Geschichte des Protestantismus, verstärkt im 20. Jh., sind geprägte spirituelle Symbole und Rituale mehr und mehr verloren gegangen. Bis vor wenigen Jahren konnte der Eindruck aufkommen, als sei die Gestaltlosigkeit geradezu ein Markenzeichen des Protestantismus.20 Die protestantische Angst vor der toten Form führte zu einer regelrechten Phobie vor festen Formen.21 Angesichts der Konkurrenz von einer Fülle nicht-christlicher religiöser Angebote, aber auch allgemein des Lebens in einer Risikogesellschaft „[bedarf] die Bewahrung und Weitergabe von grundlegendem Orientierungswissen […] einer Absicherung durch Symbole und Riten.“22 Für die Zukunft des Protestantismus wird entscheidend sein, ob es gelingt, der nachwachsenden Generation Zugänge zu alltagsverträglichen spirituellen Praxisformen wie z. B. Tischgebeten und ZuBett-Bring-Ritualen zu eröffnen.

2.3

Wiederentdeckung der Glaubensübung

Untrennbar mit der Gestaltwerdung des Glaubens ist die Glaubensübung verbunden. Der Glaube bedarf der Übung. Schon Hebr 5,14 spricht davon, dass zur Voraussetzung eines reifen Glaubens „durch Gewohnheit geübte Sinne“ notwendig sind. Dietrich Bonhoeffer ist wohl der im In- und Ausland bekannteste deutsche Theologe des vergangenen Jh. Er war einer der ersten evangelischen Theologen, der wiederentdeckte, dass der Aspekt der Übung für die Gestaltwerdung des Glaubens unerlässlich ist. Bonhoeffer ist der Überzeugung, dass die spirituelle Übung den Geschenkcharakter des Glaubens nicht schwächt, sondern ihn gerade umgekehrt erst zur persönlichen Erfahrung werden und so zur Entfaltung kommen lässt.23 Mit dieser Ansicht kann Bonhoeffer sich auf Martin Luther berufen, für den die Zusammengehörigkeit von Gnade und Übung 20 Christian Grethlein, Christliche Lebensformen – Spiritualität, in: Glaube und Lernen 6 (1991), 114. 21 Vgl. z. B. Fulbert Steffensky, Was ist liturgische Authentizität, in: Pastoraltheologie 89 (2000), 105–116. 22 Grethlein, Christliche Lebensformen, 115. 23 Dietrich Bonhoeffer, Illegale Theologenausbildung: Finkenwalde (1935–1937), hg. von Otto Dudzus/Jürgen Henkys, Dietrich Bonhoeffer Werke (DBW), Bd. 14, Gütersloh 1996, 236f (Brief vom 19. 9. 1936).

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selbstverständlich war. Er hat diese Zusammengehörigkeit in vielen seiner Schriften, besonders eindrucksvoll im Kleinen und Großen Katechismus, immer wieder eingeschärft, auch in seinem Gebetskurs „Wie man beten soll. Für Meister Peter den Barbier“.24 Die geistliche Übung stellt für Luther einen unverzichtbaren Aspekt des Glaubens dar. Ja, es lässt sich mit Fug und Recht sagen, dass die geistliche Übung für die Gestaltwerdung des Glaubens und damit für die Erfahrung des Glaubens im Leben eines Menschen für den Reformator unerlässlich ist.

2.4

Neue Verhältnisbestimmung zwischen Kontemplation und Aktion

In der evangelischen Kirche herrschte längere Zeit die Ansicht vor, dass diakonische und sozialethische Aufgaben im Zentrum ihrer Aktivitäten stehen müssten und demgegenüber die Pflege einer spirituellen Praxis zurückzutreten hätte. Diese wurde teilweise als überflüssig oder gesetzlich diffamiert. Sichtbar wurde diese Akzentsetzung daran, dass die evangelische Kirche einen wesentlichen Teil ihrer Legitimation nach innen und außen aus der diakonischen und sozialethischen Arbeit bezog. Über der Ausrichtung auf die Früchte des Glaubens verkümmerte vielerorts deren spiritueller Wurzelboden. Wolfgang Huber spricht darum seit Jahren von der „Selbstsäkularisierung“25 des Protestantismus in Deutschland bis in die Kerngemeinden hinein. Seit der 5. Vollversammlung des Ökumenischen Rates der Kirchen in Nairobi 1975 setzte im Protestantismus weltweit ein Umdenken ein.26 Angesichts der gesellschaftlichen und geistigen Erschütterungen durch Studentenunruhen und Erdölkrise hatte seit Anfang der 1970er-Jahre die Frage nach Religion und Spiritualität neu öffentliches Interesse erlangt. Die 1979 erschienene EKD-Studie „Evangelische Spiritualität“27 vollzog in Deutschland einen notwendigen Paradigmenwechsel: Sie nahm das Problem der Spiritualität als eine für das Christsein in der spätmodernen Welt wesentliche Fragestellung auf. Fortan war klar: In der 24 Hg. von Ulrich Köpf/Peter Zimmerling, Göttingen 2011. 25 Wolfgang Huber, Kirche in der Zeitenwende Gesellschaftlicher Wandel und Erneuerung der Kirche, Gütersloh 1998, 10. 26 Bericht aus Nairobi. Ergebnisse – Erlebnisse – Ereignisse. Offizieller Bericht der Fünften Vollversammlung des Ökumenischen Rates der Kirchen. 23. Nov. bis 10. Dez. 1975 in Nairobi/ Kenia, hg. von Harald Krüger/Walter Müller-Römheld, Frankfurt a. M. 21976, vgl. 1, hier wird „spirituality“ noch mit „Frömmigkeit“ übersetzt; anders bereits 321ff., dem Bericht über den Workshop „Spiritualität“. 27 Vgl. dazu: Evangelische Spiritualität. Überlegungen und Anstöße zu einer Neuorientierung, vorgelegt von einer Arbeitsgruppe der Evangelischen Kirche in Deutschland, hg. von der Kirchenkanzlei im Auftrag des Rates der Evangelischen Kirche in Deutschland, Gütersloh 2 1980, 54.

Zur Praxis der Evangelischen Spiritualität

29

evangelischen Spiritualität gehören beide Pole: Kontemplation und Aktion, Gottesliebe und Nächstenliebe, Ewigkeitshorizont und Hinwendung zur Welt untrennbar zusammen. Das Leben aus der Stille bewahrt vor Kurzatmigkeit und verhindert, dass christliches Handeln zum Aktionismus verkommt.

3.

Pluralisierung und Individualisierung der Frömmigkeitspraxis

3.1

Gesellschaftliche Pluralisierung und Individualisierung

Trotz ansonsten gegensätzlicher Positionen in der Postmoderne-Debatte lässt sich als Konsens festhalten: Die Postmoderne kennt nicht mehr den Boden einer gemeinsamen Überzeugung. Bereits die Definition der Grundüberzeugungen ist in den unterschiedlichen sozialen Gruppen und Kleingruppen verschieden. Zum postmodernen Denken gehört wesentlich, „dass der Anspruch von ‚Wahrheit‘ grundsätzlich zu bestreiten ist“,28 ohne dass deswegen die postmoderne prinzipielle Skepsis wahrheitsfeindlich sein müsste. „Pluralität ist […] das Herzwort der Postmoderne […]. Indem die Postmoderne nicht nur unsere Höhen, sondern auch unsere Tiefen betrifft, entfaltet sie eine Pluralität, die – anders als im lauen herkömmlichen Pluralismus – auf Elementarfragen durchschlägt. Sie ist nicht mehr durch den Boden einer gemeinsamen Überzeugung getragen und entschärft, sondern tangiert die Definition noch eines jeden solchen Bodens.“29

Gegenüber dem Pluralitätsverständnis der Moderne findet damit eine signifikante Radikalisierung statt. Bezogen auf die Spiritualität heißt das: Anstelle des Religionsprivilegs der Volkskirchen und der säkularen Heilsgewissheiten der Moderne ist die Gleichzeitigkeit und Unübersichtlichkeit sich widersprechender säkularer und religiöser Orientierungsangebote getreten.30 Im Hinblick auf die evangelische Spiritualität zeigt sich die Pluralisierung in der zunehmenden Ausdifferenzierung der Frömmigkeitsformen und damit einhergehend auch der individuellen Frömmigkeitspraxis.

28 Gottfried Küenzlen, Kirche und die geistigen Strömungen der Zeit – Grundaufgaben heutiger Apologetik, in: EZW-Texte, Impulse Nr. 39, IX/1994, 14–23 (das Zit. 19). Vgl. dazu die Vordenker der Postmoderne wie Leslie A. Fiedler (Überquert die Grenze, schließt den Graben! Über die Postmoderne, schließt den Graben! Über die Postmoderne, in: Wolfgang Welsch, Wege aus der Moderne. Schlüsseltexte zur Postmoderne-Diskussion, Berlin 21994, 57–74) und Jean-François Lyotard (Beantwortung der Frage: Was ist postmodern?, in: Welsch, Moderne, 193–203; ders., Die Moderne redigieren, in: Welsch, Moderne 204–214). 29 Welsch, Wege aus der Moderne, 13f. 30 Vgl. dazu Küenzlen, Kirche und die geistigen Strömungen, 15.

30

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Neben der Pluralisierung zeichnet sich die spätmoderne Situation durch eine fortschreitende Individualisierung aus. Ulrich Beck konstatierte für die letzten Jahrzehnte einen Individualisierungsschub bisher ungekannten Ausmaßes in den westlichen Industriegesellschaften.31 Dieser Prozess hat eine Reihe von gewichtigen Folgen für die Gesellschaft und den Einzelnen. Dazu gehören die Fragmentierung der Gesellschaft in eine Vielzahl von sozialen Subgruppen und ein damit verbundener Schwund der Bindekraft von Institutionen, der auch vor den Kirchen nicht Halt macht. Das Handeln des Einzelnen wird nicht mehr von einer gesellschaftlichen Klasse bestimmt, sondern von ihm selbst. Die Konjunktur, die persönliche spirituelle Erlebnisse haben, entspricht dem Subjektivismus der Postmoderne. Eine Konsequenz besteht z. B. darin, dass Institutionen und hierarchische Amtsträger für die Spiritualitätspraxis nur noch eine untergeordnete Rolle spielen. Es kommt zu einer zunehmenden Entinstitutionalisierung der Religion.

3.2

Ökumenische Annäherungen

Im Zweiten Vatikanischen Konzil hat sich die katholische Kirche viele reformatorische Anliegen zu eigen gemacht. In der Folge kam es zu einer signifikanten Annäherung zwischen den beiden großen Kirchen in Deutschland und zu einer verstärkten ökumenischen Zusammenarbeit zwischen evangelischer und katholischer Theologie. Darüber hinaus erhielt eine Reihe von ursprünglich in der katholischen Tradition beheimateten Spiritualitätsformen Heimatrecht in evangelischer Spiritualität. Das gilt z. B. für das Pilgern, die Entdeckung des Kirchenraumes als Mittel der Spiritualität (einschließlich der Lichterbäume) und für die Exerzitien unterschiedlichster Provenienz bzw. für die Geistliche Begleitung. Zudem kam es in den vergangenen Jahrzehnten zu einer verstärkten Beschäftigung mit Formen orthodoxer Spiritualität. Das gilt neben den Ikonen vor allem für das Jesusgebet, das inzwischen von einer Reihe evangelischer Christen praktiziert wird.32 Die mystisch geprägte orthodoxe Spiritualität zielt auf eine ganzheitliche Erfahrung Gottes, die neben dem Denken auch das Gefühl und den Körper einbezieht. Sie wertet nicht den Intellekt als solchen ab, sondern einen einseitigen Intellektualismus. Viele Menschen der westlichen Kultur sind auf der Suche nach ganzheitlichem Leben. Dadurch, dass evangelische Spiritualität 31 Hartmut Beck, Risikogesellschaft. Auf dem Weg in eine andere Moderne, Frankfurt a.M. 12 1996, 121ff. 32 Aufrichtige Erzählungen eines russischen Pilgers, hg. und eingeleitet von Emmanuel Jungclaussen, Freiburg i.Br. 171987; Kallistos Ware/Emmanuel Jungclaussen, Hinführung zum Herzensgebet, Freiburg i.Br. 61992.

Zur Praxis der Evangelischen Spiritualität

31

weithin rational bzw. ethisch ausgerichtet war, ließ sie viele Menschen mit ihren spirituellen Wünschen unbefriedigt. Sie wanderten in neue religiöse Bewegungen ab, wo ihr Bedürfnis nach ganzheitlicher Frömmigkeit eher gestillt wurde. Die Orthodoxie vermag die evangelische Tradition zu inspirieren, neben den rationalen und ethischen Aspekten der Spiritualität verstärkt deren emotionale und sinnliche Dimensionen zu berücksichtigen.

3.3

Rezeption von Formen fernöstlicher, esoterischer, charismatischer und fundamentalistischer Spiritualität

Seit den 1968er-Jahren erfolgte im Rahmen evangelischer Spiritualität ein Traditionsabbruch mit hohen Traditionsverlusten.33 Viele religiös interessierte Europäer meinten, in der Folge ganz auf abendländische spirituelle Traditionen verzichten zu können. Stattdessen importierten sie spirituelle Traditionen aus anderen Kulturkreisen, meist aus dem Fernen Osten, wie dem Hinduismus und dem Buddhismus. Eine seit einigen Jahren zunehmende Internationalisierung und Globalisierung aller Gebiete des menschlichen Lebens verstärkte die Beschäftigung mit nicht-christlichen spirituellen Praktiken noch. Diese Entwicklung, die durch die audiovisuellen Massenmedien eingeleitet wurde, schreitet durch Migrationsbewegungen und durch das Internet verstärkt voran. Bereits Ende der 1960er-Jahre setzte ein breiteres Interesse an fernöstlichen Meditationspraktiken ein.34 Ein zunehmender Teil der Bevölkerung empfand ein Unbehagen gegenüber der Leistungsgesellschaft, die als Fremdbestimmung erlebt wurde. Die Meditation wirkte wie ein lang ersehntes Gegenprogramm, indem sie Besinnung auf die eigene Existenz und als Folge davon die Gewinnung von Unabhängigkeit verhieß. Aufgrund permanenter Reizüberflutung durch die Medien sehnten sich Menschen nach Ruhe und Schweigen. Die Meditation erwies sich als wichtiges Werkzeug zur Wiedergewinnung der Stille. Meditation ist ein neutrales Instrument der Glaubensübung. Erst ihre Inhalte und Ziele lassen erkennen, ob es sich um christliche oder allgemein religiöse Meditation oder lediglich um eine Entspannungsübung handelt. Inzwischen hat sich ein regelrechter Markt der religiösen Möglichkeiten gebildet.35 Er bietet in einer vom Individualismus geprägten Gesellschaft jedem

33 S. hier und im Folgenden: Peter Zimmerling, Charismatische Bewegungen, UTB 3199, Göttingen 22018, 33–43. 34 Vgl. im Einzelnen: Peter Zimmerling, Evangelische Spiritualität. Wurzeln und Zugänge, Göttingen 2010, 146–155. 35 Vgl. dazu Gottfried Küenzlen, Das Unbehagen an der Moderne. Der kulturelle und gesellschaftliche Hintergrund der New Age-Bewegungen, in: Hansjörg Hemminger (Hg), Die

32

Peter Zimmerling

„das Vergnügen, seine eigene Religion zu haben“.36 Der Einzelne wählt sich seine Religion aus einem reichen Warenhausangebot an Sinndeutungsmustern frei aus.37 Esoterische Gruppen, Strömungen und Tendenzen verheißen dem Menschen eine sinnvolle Existenz, Orientierung und eine ganzheitliche Sicherung des Ichs.38 Die Vergewisserung geschieht über das subjektive, emotional geprägte religiöse Erlebnis, und nicht mehr – wie im traditionellen Christentum – über ein verbindliches Glaubenswissen:39 Nicht Dogmen, sondern religiöse Erlebnisse bilden den Kern der neuen Religiosität.40 Ort der religiösen Vergewisserung ist das Individuum, das die religiösen Erfahrungen macht. Die Erlebnisse sehen sehr unterschiedlich aus: Es geht um Bewusstseinserweiterung, Selbsterfahrungen, Selbstverwirklichung, Psychedelik und kosmische Einheitserfahrung.41 In jedem Fall ist damit jedoch eine Privatisierung der Religion verbunden. Persönliche Erlebnisse lassen sich nämlich kaum, wie etwa Dogmen, für alle verbindlich erklären. Zudem lenkt die Ausrichtung auf persönliche Erlebnisse den Blick von der Gesellschaft weg auf den Einzelnen. Das Religiöse wird zunehmend in Nischen und „Randzonen der Gesellschaft“ abgedrängt.42 Charakteristika der esoterischen Religiosität sind: 1. Verankerung der Religion in der Erfahrung. 2. Ort der religiösen Vergewisserung ist jeweils das Individuum, das die religiösen Erfahrungen macht. 3. Die Anhänger esoterischer Religiosität zeichnet ein institutionskritischer Zug aus. 4. Die Esoterik vertritt keine klaren theologischen Wahrheitsansprüche. Die Esoterik entwickelte sich im Wesentlichen neben den Kirchen und an ihnen vorbei, auch wenn ein beachtlicher Teil ihrer Mitglieder auf diesem Gebiet Erfahrungen aufzuweisen hat.43

36 37

38 39 40 41 42 43

Rückkehr der Zauberer. New Age – Eine Kritik (Rororo-Sachbuch 8712), Reinbek bei Hamburg 1990, 204ff. Barbara Frischmut, zit. nach: Küenzlen, Das Unbehagen an der Moderne, 215. A. a. O., 206; vgl. auch Peter L. Berger, Pluralistische Angebote. Kirche auf dem Markt?, in: Leben im Angebot – Das Angebot des Lebens. Protestantische Orientierung in der modernen Welt, Synode der Evangelischen Kirche in Deutschland, im Auftrag des Rates der Evangelischen Kirche in Deutschland, hg vom Kirchenamt der EKD, Gütersloh 1994, 33–48. Mit Küenzlen, Das Unbehagen an der Moderne, 206. Vgl. a. a. O., 215. Zum Problem der naiven Berufung auf „Erfahrung“ aufschlussreich Reiner Wiehl, Metaphysik und Erfahrung. Philosophische Essays, Frankfurt a. M. 1996, 9ff. Helmut Aichelin, Das Wiedererwachen des Mythos. Was ist neu an der „Neuen Religiosität“?, Information Evangelische Zentralstelle für Weltanschauungsfragen, Nr. 56, Stuttgart 1974, 24–26. So Hermann Lübbe, Religion nach der Aufklärung, Graz/Wien/Köln 1986, 96–106. Z. B. zeigt die EKD-Mitgliedschaftsuntersuchung von 1993, dass 28 % der westdeutschen Kirchenmitglieder eigene Erfahrungen mit einem bunten Spektrum religiöser, esoterischer und spiritueller Praktiken und Weltanschauungsangebote gemacht haben. Bei den jüngeren Befragten zwischen 18 und 39 Jahren liegt der Anteil sogar bei 34 % (Fremde Heimat Kirche.

Zur Praxis der Evangelischen Spiritualität

33

Neben dieser esoterisch geprägten Religiosität haben in den vergangenen Jahrzehnten auch fundamentalistisch und charismatisch geprägte christliche Gruppen an Attraktivität gewonnen. Der moderne religiöse Fundamentalismus stellt im Gegensatz zu den esoterisch geprägten Formen der neuen Religiosität eine hoch organisierte, in den Glaubensbeständen festgelegte und auf abrufbares objektives Heilswissen angelegte Form gegenwärtiger Religiosität dar.44 Fundamentalistische Gruppen bieten ihren Mitgliedern „die Sicherheit und Geborgenheit einer auf fest gefügter, verbindlicher Autorität ruhenden Glaubensgemeinschaft“.45 Eine herausragende fundamentalistische Sicherungsinstanz stellt neben dem Glauben an ein irrtumsloses Heilswissen und neben der festen Gruppenzugehörigkeit die allseits anerkannte Führungspersönlichkeit dar. Charismatische Bewegungen verbinden klare theologische Wahrheitsansprüche auf der intellektuellen Ebene mit starken Erlebnisangeboten auf der persönlichen Ebene. Diese Verbindung scheint der Grund zu sein, warum sich charismatische Gruppen besonders unter Jugendlichen und jungen Erwachsenen wachsender Beliebtheit erfreuen.46

4.

Kennzeichen gegenwärtiger evangelisch-volkskirchlicher Spiritualitätspraxis

4.1

Weihnachtsspiritualität statt Kirchenjahr

Martin Luther war der erste neuzeitliche Weihnachtschrist. Der theologisch motivierten Konzentration von Luthers Spiritualität auf das Weihnachtsfest entspricht in der Gegenwart ein seit Jahren zu beobachtender gesamtgesellschaftlicher Trend. Die Bezeichnung volkskirchlicher Spiritualität als „Weihnachts-Christentum“ oder als „Heiligabend-Religion“ stammt von Matthias Morgenroth.47 Eine Reihe von Beobachtungen deuten darauf hin, dass die Orientierung am Weihnachtsfest ein herausragendes Merkmal volkskirchlicher Spiritualität darstellt. Empirische Untersuchungen bestätigen dieses Urteil.

44 45 46 47

Ansichten ihrer Mitglieder, erste Ergebnisse der dritten Umfrage über Kirchenmitgliedschaft, Studien- und Planungsgruppe der EKD, Hannover 1993, 10f). Gottfried Küenzlen, Kirche und die geistigen Strömungen der Zeit – Grundaufgaben heutiger Apologetik, in: EZW-Texte, Impulse Nr. 39, IX/1994, 19. Ebd. Hansjörg Hemminger, Religiöses Erlebnis – Religiöse Erfahrung – Religiöse Wahrheit. Überlegungen zur charismatischen Bewegung, zum Fundamentalismus und zur New-AgeReligiosität, EZW-Texte, Impulse Nr. 36, VI/1993, 7. Vgl. dazu Matthias Morgenroth, Weihnachts-Christentum. Moderner Religiosität auf der Spur, Gütersloh 22003; ders., Heiligabend-Religion. Von unserer Sehnsucht nach Weihnachten, München 2003.

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Peter Zimmerling

Stand früher der Karfreitag im Protestantismus an der Spitze der Wertschätzung, ist an dessen Stelle in den vergangenen beiden Jahrhunderten mehr und mehr das Weihnachtsfest getreten.48 Das Weihnachtsfest ist für die meisten evangelischen Kirchenmitglieder als einziges Fest des Kirchenjahres übriggeblieben. In gesellschaftlicher Hinsicht zeigt sich die Bedeutung des Weihnachtsfests daran, dass eine Reihe von Wirtschaftszweigen ohne das Weihnachtsgeschäft zum Niedergang verurteilt wäre. Das gilt, nebenbei bemerkt, auch für die meisten, von Spenden getragenen evangelischen Hilfswerke. Empirische Untersuchungen belegen, dass sich das Wissen um den spirituellen Gehalt des Weihnachtsfests umgekehrt proportional zu seiner wirtschaftlichen Bedeutung verhält: Während immer weniger Menschen den spirituellen Grund des Weihnachtsfestes kennen und ihn allein an Liebe und Mitmenschlichkeit festmachen,49 boomen die im Zusammenhang mit dem Weihnachtsfest stehenden Wirtschaftszweige. Die Frage ist, wie Kirche und Theologie mit dem Phänomen der Weihnachtsspiritualität umgehen sollen. Ob der damit einhergehende spirituelle und theologische Paradigmenwechsel ohne Einschränkung zu begrüßen ist, wie Morgenroth meint, ist mir zweifelhaft. Hat ein einziges Fest im Jahr die Kraft, Menschen Halt im Glauben zu geben? Überdies scheint sich der spirituelle Gehalt des Weihnachtsfestes auch im innerkirchlichen Raum mehr und mehr abzuschwächen.

4.2

Festtagsspiritualität statt Sonntagsheiligung

Weihnachtsspiritualität, Kasualfrömmigkeit und Kirchentage sind Ausdruck für die in der evangelischen Kirche heute vorherrschende Festtagsspiritualität. Damit sind wichtige Merkmale dieser besonderen Spiritualitätsprägung impliziert. Der Heidelberger Praktische Theologe Gerhard Rau stellte bereits 1977 die These vom „Festtagskirchgänger“ auf.50 Für die überwiegende Mehrheit der evangelischen Kirchenmitglieder hat sich in den vergangenen Jahrhunderten der Wochenrhythmus zum Jahresrhythmus hin verändert.51 Dem entspricht die

48 Vgl. Peter Zimmerling, Die Bedeutung der Volksfrömmigkeit für die evangelische Spiritualität – am Beispiel der Advents- und Weihnachtsfrömmigkeit, in: ders. (Hg.), Handbuch Evangelische Spiritualität, Bd. 2: Theologie, Göttingen 2018, bes. 276–287. 49 Morgenroth, Weihnachts-Christentum, 27–30 (mit Belegen). 50 Gerhard Rau, Rehabilitation des Festtagskirchgängers, in: Manfred Seitz/Lutz Mohaupt (Hg), Gottesdienst und öffentliche Meinung. Kommentare und Untersuchungen zur Gottesdienstumfrage der VELKD, Stuttgart 1977. 51 Vgl. dazu Christian Grethlein, Grundfragen der Liturgik: Ein Studienbuch zur zeitgemäßen Gottesdienstgestaltung. Gütersloh 2001, 41–43 (dort auch weiterführende Literatur).

Zur Praxis der Evangelischen Spiritualität

35

Veränderung des Bewusstseins, dass Heilig-Abend-Kirchgänger sich bei Kirchgangsbefragungen als „regelmäßige Kirchgänger“ einstufen. Dieser Befund ist in den vergangenen Jahren in sehr unterschiedlicher Weise theologisch aufgenommen und interpretiert worden. Rau versuchte, den „Festtagskirchgänger“ zu rehabilitieren. Er machte darauf aufmerksam, dass sich die äußerst unterschiedliche Gottesdienstfrequenz sozialpsychologisch erklären lasse.52 Es hänge vom Menschentypus ab, welche Gottesdienstfrequenz ein Mensch für sich wählt. Der wöchentliche Kirchgänger gehöre zum Typus Gemeinschaftsmensch, während der „Festtagskirchgänger“ enge Gruppengemeinschaft verabscheut. Zeittheoretische Untersuchungen53 deuten darauf hin, dass der „Festtagskirchgänger“ Kirche und Religion einer anderen Ebene zuordnet als der wöchentliche Kirchgänger: „Religion in einer Beziehung zur Gesamtgesellschaft […] und zur individuellen Person – Ja! Religion bzw. Kirche in bezug auf konkrete soziale Gruppen mit ihren Zwängen – Nein!“54 Inzwischen ist die Entwicklung weitergegangen. Die Gruppe der „Festtagskirchgänger“ ist noch größer geworden – parallel zur Zunahme der Freizeit und zur Ausdifferenzierung der Angebote der Freizeitindustrie. Inzwischen ist die Festtagsspiritualität die spirituelle Normalform des weit überwiegenden Teils der Kirchenmitglieder. Bei aller Würdigung des Phänomens der „Festtagsspiritualität“ sollte man – allein aus pragmatischen Gründen – aus der Not keine Tugend machen. Denn ohne eine Gruppe regelmäßiger Gottesdienstbesucher sind die meisten Gemeindeangebote, geschweige denn ein wirklicher Gemeindeaufbau, gar nicht möglich. In exegetischer Hinsicht lässt das Neue Testament nirgends ein Glaubensverständnis erkennen, das mit heutiger Festtagsspiritualität kompatibel wäre.

4.3

Losungsspiritualität statt Bibellese

Nach meiner Beobachtung ist die kontinuierliche Bibellese in den vergangenen Jahren selbst bei den traditionell pietistisch geprägten Jugendgruppen der Kirche mehr und mehr in den Hintergrund getreten. Sie wurde, wenn es gut ging, ersetzt durch die Herrnhuter Losungen.55 Der entscheidende Grund für deren Siegeszug liegt in ihrer Kürze – in einer Leistungsgesellschaft, in der die Zeit zum teuersten Gut geworden ist, ein unschätzbarer Vorteil. Überdies bildet die Betrachtung der drei Losungstexte die komprimierteste Form eines Gottesdienstes. Dabei besteht 52 53 54 55

Vgl. dazu Gerhard Schmidtchen, Protestanten und Katholiken, Bern 1973, 300. Nachweise bei Grethlein, Grundfragen, 42. Rau, Rehabilitation des Festtagskirchgängers, in: Seitz/Mohaupt, Gottesdienst, 92. Vgl. dazu Peter Zimmerling, Die Losungen. Eine Erfolgsgeschichte durch die Jahrhunderte, Göttingen 2014.

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Peter Zimmerling

der Vorteil in Zeiten des Individualismus darin, dass dieser Gottesdienst von jedem für sich alleine gefeiert werden kann. Inwiefern stellt das Lesen der Losung eine kleine Liturgie, einen kleinen persönlichen Gottesdienst dar? Luther hat in seiner Kirchweihpredigt von 1544 für die Torgauer Schlosskirche, den ersten evangelischen Kirchenneubau, den evangelischen Gottesdienst definiert als Wechselgeschehen zwischen Hören auf Gottes Wort in der Predigt und Reden mit Gott in Gebet und Lobgesang.56 Mit Hilfe von Losung und Lehrtext vermag der Losungsleser auf Gott zu hören. Im Dritttext kann er sich das Gehörte zu eigen machen bzw. Gott mit Gebet oder Liedstrophe antworten.

4.4

Event-Orientierung zwischen Inkulturation und Konter-Kulturation

Für die zukünftige Praxis evangelischer Spiritualität ergibt sich das Problem, wie die verbreitete – und verständliche – Sehnsucht nach Erlebnisebenen berücksichtigt werden kann, ohne dass es dadurch zur bloßen Anpassung an den modernen Erlebniskult kommt.57 Z. B. haben Gottesdienste in neuer Form die Eigenschaft, sich angesichts immer kürzerer Halbwertszeiten von Trends selbst zu verbrauchen, d. h. immer schneller zu veralten. Die Konsequenz ist, dass Veranstalter immer ausgefallenere Ideen benötigen, um Menschen in den Gottesdienst zu locken. Von daher gilt: Inkulturation und Konter-Kulturation müssen bei der liturgischen Gestaltung des Gottesdienstes wechselseitig aufeinander bezogen werden. Ohne Inkulturation muss die Konter-Kulturation ins Leere gehen. Ohne Konter-Kulturation bleibt die Inkulturation ohne Konsequenzen.

4.5

Aesthetic turn: Hochschätzung von Kunst und Kirchenmusik

Johann Sebastian Bachs geistliche Musik, ja die Kirchenmusik überhaupt, erfreut sich seit Jahren ungebrochener zunehmender Beliebtheit.58 In Sachsen hat die Synode der Landeskirche darum vor einigen Jahren beschlossen, trotz abnehmender Mitgliedszahlen an dem sog. Dreigespann der Verkündigungsberufe Pfarrer, Gemeindepädagoge und Kirchenmusiker in jeder Gemeinde festzuhalten. 56 Martin Luther, WA, Bd. 49, 588, 15ff. 57 Vgl. im Einzelnen Karl-Heinrich Bieritz, Erlebnis Gottesdienst. Zwischen ‚Verbiederung‘ und Gegenspiel: Liturgisches Handeln im Erlebnishorizont, in: WzM 48 (1996), 488–501; s. auch Manfred Josuttis, Die Einführung in das Leben. Pastoraltheologie, Gütersloh 1996, 89. 58 Vgl. im Einzelnen den Beitrag von Christfried Brödel in diesem Band.

Zur Praxis der Evangelischen Spiritualität

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Bachs Oratorien und Passionen thematisieren das menschliche Leben in seiner ganzen Fülle: Geburt und Tod, Erwachsenwerden und Altern, Gesundheit und Krankheit, tiefste Trauer und höchste Freude, bitterer Hass und innigste Liebe, schreckliches Leiden und völliges Glück. Deshalb fühlen sich im Kosmos von Bachs Musik viele Menschen angesprochen. Bach lässt selbst den säkularen Zeitgenossen ahnen, dass es jenseits des eigenen Ichs noch eine andere, ewige Welt gibt. Persönlichen Glaubenserfahrungen vermag gerade Bachs geistliche Vokalmusik Ausdruck und Stimme zu verleihen. Indem die Musik mit den gesungenen Worten korrespondiert, verstärkt und vertieft sie den Inhalt der Worte. Dadurch werden Tiefenschichten im Menschen durch das Evangelium angesprochen, die vom gesprochenen Wort nicht erreicht werden. Z. B. vermittelt die häufig wiederholte Botschaft der Arien der stressgeplagten Seele eine unvergleichliche Ruhe und Gelassenheit. Dabei ist Bachs Kirchenmusik so tief und reich, dass die Hörer immer Neues entdecken, sich immer wieder andere Perspektiven eröffnen.

5.

Zukünftige Herausforderungen der Praxis evangelischer Spiritualität

Die Praxis evangelischer Spiritualität sollte in Zukunft an den Stellen weiterentwickelt werden, wo sie sich angesichts der Herausforderungen der Gegenwart als defizitär erweist. Die traditionelle Konzentration auf einige wenige spirituelle Formen – Gottesdienst, Taufe, Beichte, Abendmahl, Bibel, Gesangbuch, Katechismus, Kasualien – ist angesichts zunehmender Individualisierung und Pluralisierung nicht ausreichend. Die fortschreitende Ausdifferenzierung der ästhetischen Milieus in unserer Gesellschaft lässt es nicht mehr zu, sämtliche evangelischen Christen oder gar alle Mitglieder der Gesellschaft auf einige wenige Formen der Spiritualität festzulegen. Es geht um die Gewinnung einer Vielfalt von Formen. Evangelische Frömmigkeit tut gut daran, auch weiterhin bei der römisch-katholischen und der orthodoxen spirituellen Tradition in die Schule zu gehen. Das ist in den Jahrzehnten seit dem Zweiten Vatikanischen Konzil bereits in vielerlei Weise geschehen. Darüber hinaus ist zu fragen, wo evangelische Spiritualität von den Traditionen anderer Religionen lernen könnte. Im Hinblick auf die Wiedergewinnung der Meditation für die christliche Frömmigkeit ist dies mit gutem Erfolg praktiziert worden. Die Praxis evangelischer Spiritualität ist traditionellerweise demokratisch und alltagsverträglich, ja mehr noch: Sie ist alltagsorientiert. Da ihre primären Verwirklichungsfelder Familie, Beruf und Ortsgemeinde darstellen, zeichnet sie sich durch Kontinuität und Ortsverbundenheit aus. Ihre Formen sind für jedermann

38

Peter Zimmerling

zugänglich und verständlich, wobei traditionellerweise der Sonntagsgottesdienst, der evangelische Choral und der Katechismus im Vordergrund standen. Den Charakter einer „Schwarzbrot-Spiritualität“59 sollte evangelische Spiritualität bei allen notwendigen Veränderungen auf keinen Fall aufgeben. Eine ungelöste Aufgabe stellt die Didaktisierbarkeit von Spiritualität dar. Ein wesentliches Problem liegt in der unauflösbaren Spannung zwischen Lehrbarkeit und Unverfügbarkeit. In der deutschsprachigen religionspädagogischen Landschaft ist – anders als im angloamerikanischen und französischen Kontext – der Begriff Spiritualitätsdidaktik noch weitgehend unentdeckt.60 Hinter diesem Mangel steht die reformatorische Überzeugung, dass Lebenssinn nur als Geschenk Gottes empfangen werden könne. Überdies wirken Vorbehalte nach, dass mit dem Begriff der Spiritualität die Gefahr einer individualistischen und privaten Verengung des Glaubens verbunden sei. Höchste Zeit, eine evangelische Spiritualitätsdidaktik zu entwickeln, die die Sackgasse von Machbarkeitsdenken und Rückzug ins Private vermeidet. Entscheidend ist dabei der Gestus der Einladung. Damit ist ein Wechselspiel aus Vermittlungs- und Aneignungsdidaktik begründet. Im Hinblick auf die zu entwickelnde Spiritualitätsdidaktik sind drei bildungstheoretische Grundüberlegungen wesentlich: Spiritualität ereignet sich zuerst in einem wechselseitigen Erschließungsprozess von Subjekt und Inhalt, sodann unter Anerkennung der Fragmentarität und Unverfügbarkeit gelingender Lehr- und Lernprozesse und schließlich in gelebten Formen alltäglicher Bewährungen. Entscheidend für die Spiritualitätsdidaktik ist ein beziehungsorientierter Ansatz: indem ich die Spiritualität der anderen beobachten und befragen kann, finde ich zu einer selbst verantworteten Spiritualität.

59 Fulbert Steffensky, Schwarzbrot-Spiritualität, Stuttgart 2005. 60 Vgl. dazu im Einzelnen: Stefan Altmeyer/Reinhold Boschki/Joachim Theis/Jan Woppowa (Hg.), Christliche Spiritualität lehren, lernen und leben, Göttingen 2006, darin besonders den Beitrag von Reinhold Boschki und Jan Woppowa, in dem sie speziell der Frage nach der Didaktisierbarkeit von Spiritualität nachgehen: Kann man Spiritualität didaktisieren? Bildungstheoretische und beziehungsorientierte Grundlegungen spirituellen Lehrens und Lernens, 67–84. Schon einige Zeit zurück liegt ein Versuch von Martin Nicol: ders., Spiritualität als Lernelement christlichen Glaubens, in: Gottfried Adam/Gisela Fähndrich/Martin Nicol/Hans G. Ulrich (Hg.), Kirche in der Gegenwart des Geistes. Glauben und Lernen im Konfirmandenunterricht, Hannover 1986, 61–72; vgl. neuerdings katholischerseits: Volker Malburg, Glauben lernen?! Inhaltliche Mindestanforderungen an die Sakramentenkatechese, Studien zu Spiritualität und Seelsorge, Bd. 1, Regensburg 2010, der darin die Chancen und Grenzen einer inhaltsorientierten Katechese im Zusammenhang mit der Erstkommunion heute auslotet.

Zur Praxis der Evangelischen Spiritualität

6.

39

Zum Aufbau von Bd. 3: Praxis des Handbuchs Evangelische Spiritualität

In fünf Kapiteln wird die Weite der gegenwärtigen Praxis evangelischer Spiritualität dokumentiert. Dabei setzen die einzelnen Kapitel jeweils mit den Basics ein und führen von dort in die Weite. Im ersten Kapitel werden Gemeinde und Kirche als primärer Resonanzraum evangelischer Spiritualitätspraxis beschrieben. Die Erkenntnis, dass vier Sozialgestalten für die Kirche essenziell sind (Ortsgemeinde, Regionalkirche, Universalkirche, besondere Gemeinschaften wie Kommunitäten),61 verbietet eine Engführung auf die Parochie als einzig legitime Gestalt von Kirche. Das zweite Kapitel geht vom Gottesdienst als dem traditionellen Zentrum der Praxis evangelischer Spiritualität aus. Nach CA, Art. 5 und 7 ist die Versammlung der Gläubigen, in der gepredigt wird und die Sakramente gefeiert werden, nicht nur der Ort, wo Kirche ist, sondern auch der Ort, an dem Gott den Gläubigen seinen Geist gibt – ubi et quando visum est deo, wo und wann es ihm gefällt. Die gottesdienstliche Gemeinschaft bekommt auf diese Weise für die Praxis evangelischer Spiritualität orientierenden Charakter. Die einzelnen Artikel dieses Kapitels beschreiben je unterschiedliche Aspekte der gottesdienstlich begründeten gemeinschaftlichen Praxis evangelischer Spiritualität. Im dritten Kapitel werden ausgehend von den Grundformen Gebet und Bibellese vor allem Formen der individuellen Spiritualitätspraxis beschrieben. Schon im Neuen Testament fungiert das persönliche Gebet als Merkmal des Christseins. Nach der Bekehrung des Paulus heißt es von ihm: „Siehe, er betet“ (Apg 9,11). Für Luther bilden „oratio, meditatio, tentatio“ – Gebet, Bibellese, Anfechtung – die entscheidenden Merkmale theologischer Existenz,62 wobei für ihn jeder Christ Theologe ist. Das vierte Kapitel beschreibt die Bedeutung gelebter Spiritualität für unterschiedliche Formen der Seelsorge (und umgekehrt). Dieses Kapitel steht exemplarisch für die Öffnung der Praxis evangelischer Spiritualität für katholische Formen (am Beispiel von Exerzitien und Geistlicher Begleitung), aber auch für Erkenntnisse aus den Humanwissenschaften (im Zusammenhang mit einer trinitarischen Seelsorgekonzeption) und gleichzeitig für die zaghafte Wiederentdeckung vergessener Formen evangelischer Spiritualität (Exorzismus). Umgekehrt wird deutlich, dass evangelische Spiritualität eine Bereicherung für die Humanwissenschaften bedeuten kann (Spiritual Care, Diakonie).

61 Hans Dombois, Das Recht der Gnade. Ökumenisches Kirchenrecht II, Bielefeld 1974. 62 Martin Luther, Vorrede zu Bd. 1 der Wittenberger Ausgabe von 1539, in: WA 50, 658, 13–660, 16.

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Peter Zimmerling

Die Artikel des letzten Kapitels zeigen, wie evangelische Spiritualität in den verschiedenen Feldern heutiger Lebenswelten praktiziert wird. Ausgehend von traditionellen Verwirklichungsfeldern wie Familie, Schule, Beruf und Kunst werden auch neu gewonnene Felder wie Freizeit und Gesellschaft thematisiert. Dabei zeigt sich, dass schon die traditionellen Bewährungsfelder heute einer enormen Ausdifferenzierung unterliegen. Den Abschluss des Kapitels bildet eine Spurensuche: Welche Rolle spielen alte und vor allem neue elektronische Medien für (evangelische) Spiritualität? Dabei wird erkennbar, dass auf die Praxis evangelischer Spiritualität an dieser Stelle ganz neue Herausforderungen zukommen, aber auch große Chancen und Möglichkeiten liegen.

Erster Teil: Kirche und Gemeinde

Roger Mielke

Gemeinde als Ort von Spiritualität

1.

Verortete Spiritualität – Zugänge

1.1.

Orte der Intensität

Wenn wir über Gemeinde als Ort von Spiritualität nachdenken, müssen wir schon zu Beginn festhalten: Spiritualität ist überhaupt nur als „verortete“ Spiritualität vorstellbar. Das heißt: Spiritualität ist gebunden an leibhafte Menschen, an Beziehungen zwischen diesen Menschen, an Gemeinschaften – und damit auch an Städte und Dörfer, an Quartiere, Plätze und Häuser. Unsere Aufmerksamkeit richtet sich damit auf die Art und Weise, wie Überzeugungen und Praktiken des gelebten Glaubens in Beziehungen verankert sind und damit ihre jeweils besonderen Orte haben. Von „verorteter“ Spiritualität zu sprechen, heißt dann aber auch, Rechenschaft zu geben über den eigenen Ort, das heißt: den besonderen Ort unseres eigenen theologischen Nachdenkens, Redens und unseres eigenen persönlichen und gemeinschaftlichen Zugangs zu Spiritualität. Machen wir uns also an einigen Beispielen klar, worüber und an welchem Ort wir reden, wenn wir über Spiritualität in der Gemeinde sprechen: Im Kirchenvorstand herrscht eine gewisse Resignation: Man sei meistens mit Verwaltung beschäftigt, viel mit schrumpfenden Mitteln und Möglichkeiten, manchmal mit Event-Management. Kaum einmal, dass die geistliche Dimension des Leitungshandelns hervortritt. Es fehlt etwas, so der gemeinsame Eindruck. Aber was fehlt? Im Gottesdienst bringt eine Familie ihr Kind zur Taufe. Vater und Mutter, Patin und Pate und noch einige Kinder aus dem Kreis der Familie stehen mit der Pfarrerin am Taufstein, im Blickfeld der Gemeinde. Es fällt auf, wie unsicher die Tauffamilie ist und wie schwer es ihr fällt, sich im Gottesdienst zurechtzufinden. In der Liturgie wird das Glaubensbekenntnis gesprochen. Die Familie kann es nur mit Mühe mitsprechen. Mit einer gewissen Distanz betrachtet die Gemeinde das Geschehen. Manche denken: Da passt etwas nicht. Aber was passt nicht?

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Roger Mielke

In der „Tafel“-Arbeit der Gemeinde steht eine Gruppe von Frauen zusammen und tauscht sich aus. Die Tafel hat sich verändert. Weniger einheimische Menschen kommen, weniger alte Menschen mit kleinen Renten, dafür viele geflüchtete und zugewanderte Menschen, einzelne, überwiegend junge Männer und ganze Familien. Viele Frauen mit ihren Kindern stehen in der Lebensmittelausgabe an. Unter den Mitarbeiterinnen ist man der Ansicht, dass es in der Arbeit der Tafel nicht nur um das Verteilen von Lebensmitteln und auch nicht nur um Unterstützung im Erlernen der deutschen Sprache gehen kann. Eine der Frauen erzählt von einer anderen Tafelgruppe, die begonnen hat, einen Raum für Gebet und Segnung anzubieten. Das sei gut und hilfreich gewesen, deutlich habe man das starke Bedürfnis vor allem der Frauen und Kinder nach Zuwendung und Nähe gespürt. Eine Mitarbeiterin fragt: „Können wir so etwas auch?“ Drei Situationen, Erfahrungen, Beschreibungen. Was ist das Gemeinsame daran? Und: In welchem Sinne geht es hier um verortete Spiritualität? Die Frage nach Spiritualität meldet sich hier zunächst aus der Erfahrung eines Mangels. Etwas fehlt, man weiß vielleicht nicht genau, was. Aber man ahnt: Es geht auch anders. Mit der Erfahrung eines Defizits verbunden ist die Erwartung und Hoffnung, dass es etwas gibt, was diesem Mangel aufhilft. Wenn wir unser Nachdenken über Spiritualität an diesen Orten beginnen lassen, dann wird deutlich, dass Spiritualität auch ein Platzhalter für dieses andere, Fehlende, Erhoffte ist. Mit der Thematisierung von Spiritualität kommt ein die jeweilige Situation überschreitendes Momentum, ein Überschuss, ins Spiel. Dieses Mehr zielt auf geistliche Erfahrung, auf geformten, eingeübten und ausgeübten Glauben, auf die Gestaltung sozialer Zusammenhänge. Im Spiegel unserer Beispiele: Der Kirchenvorstand gibt sich nicht mit bloßem Verwaltungshandeln zufrieden, er sucht seine Zusammenkünfte ausdrücklich für eine geistliche Dimension zu öffnen, vielleicht mit einem Abendgebet in der Kirche und einer Zeit der Stille und des Hörens. Die Gemeinde übernimmt Verantwortung für die Tauffamilie – in vorbereitender Begleitung und nachgehender, aufsuchender, öffnender Beziehungspflege. Die Mitarbeiterinnen der Tafel erproben, wie respektvolle Kommunikation geistlicher Erfahrung dazu beitragen kann, tiefe Fremdheit zu überwinden und auf Bedürfnisse nach Wahrnehmung, Anerkennung und Nähe zu antworten. In die Konturen dieser sozialen Beziehungen eingezeichnet, heißt Spiritualität dann: Sehnsucht nach und Versprechen von Intensität – einer Intensität,1 die öffnet und nicht abschließt, die öffnet für die Nähe Gottes und die Begegnung mit 1 Lyotard, Intensitäten. Vgl. auch: Milbank, Augustininanism, 226: „If subjects and objects only are, through the complex relations of a narrative, then neither objects are privileged, as in premodernity, nor subjects, as in modernity. Instead, what matters are structural relations which constantly shift; the word ’subject’ now indicates a point of potent ’intensity’ which can re-arrange given structural patterns.“

Gemeinde als Ort von Spiritualität

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denjenigen, die mit da sind, mit am Ort sind; starke, ermutigende und öffnende Erfahrungen, die Beziehungen und Individuen, Organisationen und Situationen verändern. Allerdings: diese Intensität ist dann etwas anderes als die Orientierung an einem – gegenwärtig zweifellos boomenden – spirituellen Markt, auf dem ebenfalls mit Intensitäten gehandelt wird: intensiven Gefühlen, intensiven Erlebnissen, je nach Geschmack als herausfordernde Grenzüberschreitung oder Regression in die Geborgenheit. In der Frage nach verorteter Spiritualität geht es zumindest nicht zuerst um selbstgewisse Subjekte, die in freier Kreativität ihr Leben gestalten und ihre individuellen Präferenzentscheidungen treffen. Spiritualität ist mehr und anderes als Lebenskunst und Sorge um sich selbst.2 Spiritualität hat zwar die Dimension des unvertretbar Individuellen und des ganz und zutiefst Persönlichen, des „Einsamen“, aber gerade so ist sie eingebettet in die andere und entsprechende, die komplementäre Dimension des „Gemeinsamen“.3 Wenn wir diesen Zusammenhang von Einsamem und Gemeinsamem betonen, ist zugleich die spiegelbildliche Gefährdung anzusprechen: Dass Spiritualität in umgrenzten Gemeinschaften trennscharf objektiviert und eng an vermeintlich vorgegebene Traditionen angeschlossen werden könnte: liturgisch, charismatisch, ökumenisch oder friedensbewegt. Der gemeinschaftlich zu beschreitende Pfad der geistlichen Erfahrung wäre dann so etwas wie eine abgegrenzte „Kultur“, die man sich durch Übernahme, vielleicht gar „Abrichtung“, aneignet – und nicht durch reflexive Bildungsprozesse. In den Kontexten gegenwärtiger pluralistischer westlicher Gesellschaften verortete Spiritualität ist aber, ebenso wie diese Gesellschaften selbst, umfassenden und rapiden Wandlungen unterworfen. Spiritualität ist daher nicht durch einfache Appelle an Traditionen, alte oder nicht ganz so alte, wiederzugewinnen. Welche Bilder und Praktiken von Spiritualität plausibel und akzeptiert sind und als sinnvolle Lebens- und Glaubensgestalten ausgewählt werden können, ist umstritten; die Szene ist in Bewegung. Spiritualitäten, hier bewusst im Plural, sind durchaus auch Spiegel gesellschaftlicher Machtverhältnisse. Manche Optionen geistlichen Lebens scheiden aus, andere kommen neu ins Blickfeld. Das Herzensgebet der orthodoxen Tradition wird neu entdeckt, die Leidensmystik der lutherischen Passionslieder eines Paul Gerhardt wird kaum mehr verstanden. Aber: gerade unter diesen nicht gewählten, sondern vorgegebenen Bedingungen verortet sich Spiritualität. Gleichwohl ist damit der Raum geprägter Sprache und wie auch immer gebrochener Kontinuitäten von tradierter Erfahrung nicht verlassen. Es gibt keine 2 Foucault, Ästhetik. 3 „Evangelische Spiritualität hat einen individuell-personalen und einen ekklesiologischen Aspekt, die beide komplementär aufeinander zu beziehen sind.“ (Zimmerling, Theologie, 37).

46

Roger Mielke

gänzlich traditionslose Spiritualität. In dieser Ambivalenz von Tradition und Wandel stehen auch Gemeinden als Ort von Spiritualität, als Orte, an denen der Glaube in der doppelten Intensität der Nähe Gottes und der Mit-Seienden, der „Nächsten“, Gestalt gewinnt. Dieser Glaube ist gleichermaßen verankert in einer Geschichte gemeinsamer Erfahrung und bezogen auf die Bedingungen der Gegenwart.

1.2

Ein biblisches Leitbild: Apg 2,42

Nennen wir zu Beginn die gewichtigste aller Quellen der geistlichen Erfahrung und der Weitergabe dieser Erfahrung in Überzeugungen und Praktiken gelebten Glaubens. Gemeinde als Ort von Spiritualität findet sich immer schon im Wirkraum der Heiligen Schrift und im Horizont der Wirkungsgeschichte der Heiligen Schrift vor. In der Mitte des sonntäglichen Gottesdienstes stehen die Lesung der Heiligen Schrift und die als Entfaltung des Schriftwortes vollzogenen Feiern der Heiligen Taufe und des Heiligen Abendmahls. Dieser empirische Fund heißt theologisch gedeutet: Gemeinde existiert, weil sie durch das Wort der Verkündigung ins Leben gerufen wird. Dieses lebendige und gegenwärtige gepredigte Evangelium kommt zu Wort aus den Worten der Heiligen Schrift. Die Bibel ist in einer verorteten Spiritualität nicht ein geschichtlich abständiger Text, der erst durch menschliche Leistung und Auslegungsbemühung zu vergegenwärtigen wäre. Die Selbstvergegenwärtigung des Wortes Gottes geschieht, mehr oder weniger einleuchtend und gelingend, dort, wo Gemeinde Gottesdienst feiert. Die Gemeinde selbst wird erst durch dieses Geschehen der Selbstvergegenwärtigung des Wortes Gottes konstituiert, sie ist creatura verbi divini, Geschöpf des Wortes Gottes.4 In diesem Sinne nennen wir das Leben mit der Heiligen Schrift und die aus der Heiligen Schrift geschöpfte, den Glauben wirkende Verkündigung die Kernpraxis5 des Lebens der Gemeinde. Von dieser Kernpraxis ausgehend, bilden sich distinkte und vielfältige Gestalten von Gemeinde und von dieser Kernpraxis strahlt alle soziale Wirksamkeit erst aus. Dieses Geschehen von Gemeinde kann von biblischen Mustern und Konstellationen her beschrieben werden – und umgekehrt werden Gemeinden sich, gerade als gottesdienstliche Gemeinden, selbst im Horizont dieser biblischen Muster und Konstellationen von Gemeinde verstehen. 4 Zu dieser klassischen Bestimmung lutherischer Theologie, die Kirche sei „creatura verbi divini“, Geschöpf des Wortes Gottes, vgl. etwa Martin Luther, WA 2, 430, 6f.: „Ecclesia enim creatura est Evangelii.“ 5 In Aufnahme einer Wortprägung von Reinhard Hütter, der von „Kernpraktiken“ des Glaubens spricht: Hütter, Theologie.

Gemeinde als Ort von Spiritualität

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Machen wir uns dies an einem wirkungsgeschichtlich prominenten Text deutlich, der wie kaum ein anderer als Modell für das Geschehen von Gemeinde gelesen wurde und wird: In Apg 2,42 wird Gemeinde als Ort sozial wirksamer und anschlussfähiger Intensität beschrieben: „Sie blieben aber beständig beieinander in der Lehre der Apostel und in der Gemeinschaft und im Brotbrechen und im Gebet.“ Dieser kurze Text über das Leben der ersten Generation der Gemeinde in Jerusalem ist zugleich deskriptiv und normativ zu lesen. Er hat den Anspruch, das Leben der Gemeinde zu beschreiben und gibt in dieser Beschreibung gleichzeitig eine Liste von Kriterien vor, durch die Kirche und Gemeinde6 in Kontinuität mit der apostolischen Gestalt von Gemeinde bleiben:7 Gemeinde ist der Ort, wo Lehre der Apostel geschieht (Didache), Menschen in die apostolische Nachfolge und Gemeinschaft berufen werden (Koinonia) und in der Feier der Sakramente und im Gebet beieinander sind und „beständig“ bleiben (Leiturgia). Luke Timothy Johnson nennt dies in seiner Auslegung der Apostelgeschichte „continuing and consistent patterns of behavior“8 und verweist damit auf die Ebene der Praktiken des gelebten Glaubens, die hinter den lukanischen Formulierungen stehen und in jeder Generation von lokal verankerten Gemeinschaften neu gehört, gelesen und angeeignet werden. Erst dort, wo „Tradition“ von diesem Vorgang der „Weitergabe“ her gedacht wird, im paulinischen Sinne als „Paradosis“ (1Kor 11,23), wird deutlicher, wie bei allem Wechsel und Wandel der Bedingungen des Lebens der Kirche doch die eine Aufgabe bleibt, die „der Kirche als Leib Christi nach Ostern und Pfingsten eigentümlichen Lebensvollzüge und Existenzdimensionen“9 zu verstehen und zu gestalten: Die Taufe als Berufung in die Zugehörigkeit zu Jesus Christus und zur Gemeinschaft derjenigen, die ihm nachfolgen; die „Lehre der Apostel“ als sachlichen und identitätsstiftenden Inbegriff der Verkündigung; die „Gemeinschaft“ als Miteinander-Sein und solidarisches Eintreten füreinander; das Herrenmahl als „das wechselseitige Teilhaben der Gemeindeglieder aneinander und vor allem aller zusammen an Jesus“;10 das Gebet in Danksagung, Bitte und 6 Ohne die weitgespannte Debatte aufnehmen zu können, verwenden wir für unseren Zweck ein ekklesiologisches Modell, das drei Dimensionen des Begriffs der Kirche unterscheidet: 1. die geglaubte Kirche als geistlich gewirkte Gemeinschaft der Glaubenden, 2. die durch Taufe, Abendmahl und Predigt des Evangeliums konstituierte und in ihrem Gemeinschaftshandeln tätige und daran erkennbare Christenheit und 3. schließlich die konfessionsbestimmt partikulare, rechtlich verfasste Kirchenorganisation. „Gemeinde“ betont das Sein der Kirche als lokal verankerte, personal bestimmte Erfahrungs- und Handlungsgemeinschaft (vgl. dazu: Reuter, Botschaft, 40ff.199ff). 7 Dazu: Pelikan, Acts, 57–61. 8 Mit Verweis auf: Johnson/Harrington, Acts, 58. 9 Kühn, Kirche, 174. 10 Ebd.

48

Roger Mielke

Fürbitte. Diese elementaren Lebensvollzüge der Gemeinde haben im Einzelnen wie als Gesamtheit einen ebenso dynamisch-pneumatisch-charismatischen Charakter wie eine institutionelle Regelmäßigkeit und Regelhaftigkeit. In dieser Spannung bewegt sich verortete Spiritualität.

1.3

Der Rahmen: Das rettende Handeln Gottes

Innerhalb dieses biblischen Horizonts wird dann auch deutlich, in welchem Sinne die Gemeinde Ort von Spiritualität sein kann: Nicht in erster Linie in der Fluchtlinie menschlicher Bedürfnisse nach Gemeinschaft, Sinn oder Lebensgewissheit oder in der Suche kirchlicher Organisationen nach Selbstvergewisserung oder struktureller Selbsterhaltung. Gemeinde ist Ort von Spiritualität, weil sie der Ort ist, an dem das „soteriologische Telos“11 der Kirche zu Darstellung und Wirksamkeit kommt. „Soteriologisches Telos“ heißt: Gemeinde ist der konkrete Ort, an dem Menschen durch die Kraft des Heiligen Geistes berührt werden, um in der Nachfolge Jesu, auf dem durch Jesus ermöglichten und eröffneten Weg, in die Gemeinschaft mit dem Vater zurückzukehren und so Anteil zu erhalten an der Fülle des Lebens, das der dreieinige Gott in sich selbst ist. Dieses auf Rettung des Menschen zielende Handeln Gottes ist die innere Mitte alles kirchlichen Handelns. Deutlich ist, dass dieses Handeln auf bestimmte Menschen in ihrer Ganzheit als Leib, Seele und Geist zielt, auf Menschen an einem bestimmten Ort und einer bestimmten Zeit. Daher ist dieses Handeln gebunden an den leibhaften Empfang der Taufe, die leibhafte Feier des Heiligen Mahles und das leibhafte Verkündigen und Hören des Evangeliums. Spiritualität hat ihren distinkten und umgrenzten Ort in der vielleicht kleinen und unscheinbaren Gemeinschaft, in der gleichwohl das Ganze des Evangeliums lebendig, kräftig und präsent ist, weil diese Gemeinschaft ihren bestimmten Ort und ihre bestimmte Zeit im rettenden Handeln Gottes hat.12 Darin kommen auch die tiefsten menschlichen Bedürfnisse nach Gemeinschaft, Sinn und Lebensgewissheit zu ihrem Recht – weil das rettende Handeln Gottes nicht an der Wirklichkeit seiner Geschöpfe vorbeigeht. Spiritualität lebt aus der Bindung an eine leibhafte, verortete Gemeinschaft – und 11 Hütter, Theologie, 172.219ff. 12 „The local Church, therefor, derives its meaning from a combination of two basic ecclesiological principles: a. The catholic nature of the eucharist. This means that each eucharistic assembly should include all the members of the Church of a particular place, with no distiction whatsoever with regard to ages, professions, sexes, races, languages, etc. b. The geographical nature of the eucharist, which means that the eucharistic assembly – and through it the Church – is always a community of some place (e. g. the Church of Thessalonika, of Corinth, etc. in the Pauline letters)“ Zizioulas, Being, 224.

Gemeinde als Ort von Spiritualität

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dient der Erbauung13 der Gemeinschaft (1Kor 14,24 u. ö.). Spiritualität als Leben aus dem Geist Gottes14 hat diese zutiefst „konstruktive“, die Gemeinschaft und die Individuen auferbauende Dynamik. In diesem theologischen Rahmen können wir Spiritualität in einer sehr konkreten, alle Dimensionen von Erfahrung integrierenden Weise beschreiben und verstehen. So kann Gemeinde von der Mitte geistlicher Erfahrung her Gestalt gewinnen – nicht in erster Linie als strategisches „Projekt“ von Kirchenreform, sondern im behutsamen Hinhören, im responsiven Nachzeichnen dessen, was von Gott her geschieht.

2.

Gemeinde als Ort zwischen Parochialgemeinde und Handlungsgemeinschaft

In einem ersten Zugang haben wir versucht, Phänomene, in denen die Frage nach verorteter Spiritualität aufbricht, im Horizont des biblischen Zeugnisses und der christlichen Tradition15 zu beschreiben. Gerade wenn wir Gemeinde als konkreten Ort zu einer bestimmten Zeit verstehen, gilt es einer doppelten Gefahr zu begegnen: Eine empiriefreie normative Ekklesiologie wäre ebenso wenig hilfreich wie das Gegenbild einer theologiefreien empirischen Kirchensoziologie. Faktisch brauchen wir die Vermittlung beider Ebenen: Innerhalb des soteriologischen Rahmens brauchen wir die harte Widerständigkeit der empirisch vermessenen Sozialgestalten des gegenwärtigen christlichen Lebens. Und umgekehrt: im Horizont empirisch arbeitender Erforschung religiöser Vergemeinschaftungsformen16 sind die theologischen Selbstbeschreibungen bedeutsam zum Verständnis der zu erforschenden Gegenstände. Vor dem Hintergrund dieser Überlegungen wird deutlich, dass ein Verständnis von Gemeinde als „Parochialgemeinde“, wie es sich von der kirchlichen Realität im deutschsprachigen Raum her wie selbstverständlich nahelegt, voraussetzungsvoll ist. An der Vorstellung der Gemeinde als Gebietskörperschaft mit umgrenzter und organisationsgebundener Mitgliedschaft kann man sehr gut die formende Kraft rechtlich konzipierter Begriffe und der nach diesen Begriffen modellierten sozialen Gebilde studieren. Obwohl es die parochiale Gliederung schon seit dem frühen Mittelalter gab, ist die Parochialgemeinde in ihrer uns geläufigen Form ein Produkt der Verwaltungsstrukturen des 19. Jh. Ausbildung moderner Staatlichkeit und Ausprägung der Parochialgemeinde als Verwal13 Kitzenberger, Bau; Slenczka, Erbauung, 78–91. 14 Peng-Keller, Einführung, 29 u. ö. 15 In der Figur des „soteriologischen Telos“ ist ein im weiten Sinne „nizänischer“ Rahmen gesetzt, der mit seinen trinitarischen Grundbestimmungen ebenso die Mitte reformatorischer Theologie markiert wie er diese ökumenisch öffnet. 16 Vgl. Bedford-Strohm/Jung, Vielfalt, 5.

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tungseinheit können als parallele Geschichte erzählt werden.17 Die administrative Seite des Kirchentums, die Führung etwa von Registern für Taufen, Trauungen und Beerdigungen, gehört genauso in die Vorgeschichte der uns gewohnten Gestalt von Gemeinde wie sie in die Vorgeschichte moderner Verwaltung gehört. Die Parochialgemeinde ist die Gestalt von Gemeinde, die wir zunächst vor Augen haben, wenn wir von Gemeinde als Ort von Spiritualität sprechen. Denn im Horizont der Parochialgemeinde kommt die Gemeinde als lokale Handlungsgemeinschaft von Menschen, die an einem Ort verbunden sind, in den Blick. Vom interessanten Fall „virtueller“ oder „digitaler“ Gemeinden, die vielleicht ihre eigenen leibhaften Praxisformen ausprägen, können wir in diesem Zusammenhang nicht weiter sprechen. Die Gemeinde als Handlungsgemeinschaft18 ist nicht deckungsgleich mit den organisatorischen Grenzen der Parochialgemeinde, gleichwohl sind beide Größen nicht voneinander zu trennen, die Grenzen sind unscharf.19 Diese Unschärfe programmatisch zu betonen ist wichtig – und leuchtet auf der Ebene der Alltagserfahrung unmittelbar ein: Zur lokalen Handlungsgemeinschaft gehören diejenigen, die nur noch aus Konvention Mitglieder der Organisation Kirche sind, diejenigen, die aus einer bewussten Glaubensentscheidung leben und auch diejenigen, die für Projekte oder die Vertretung bestimmter Anliegen im Gemeinwesen zur Gemeinde hinzutreten, und darüber hinaus bleiben, vielleicht aber auch wieder Abschied nehmen. Was wissen wir nun aus der empirischen Gemeindeforschung über den besonderen Ort Gemeinde? In dem im Jahr 2015 vom Sozialwissenschaftlichen Institut der EKD (SI) veröffentlichten „Ersten Kirchengemeindebarometer“20 wird zunächst einmal festgestellt, dass man über die Parochialgemeinde erstaunlich wenig weiß. Die seit den 1970er-Jahren durchgeführten großen Kirchenmitgliedschaftsstudien hatten andere Schwerpunkte, die einzig belastbaren Daten stammen aus den 1950er-Jahren!21 Wie die gegenwärtige Bedeutung der Parochialgemeinden einzuschätzen ist, wird sehr unterschiedlich, ja gegensätzlich, bewertet: Gilt sie den einen als Form des Rückzugs in verengte und sozial hochgradig selektive Milieus,22 so ist sie für die anderen der innovativste Ort religiöser Kreativität an der sozialen Basis mit einem, auch im Vergleich zu anderen Organisationen, ausgesprochen hohen Maß an sozialer Inklusion.23 17 Reinhard, Staatsgewalt, v. a. 259ff. 18 Vgl. zum Begriff von Kirche (!) als Handlungsgemeinschaft: Zirker, Ekklesiologie, 112. Bei Zirker begegnet der Begriff als Teil der Trias Traditionsgemeinschaft, Erzählgemeinschaft, Handlungsgemeinschaft. 19 In praxistheoretischer Perspektive macht Andreas Reckwitz die Unschärfe von kulturellen Grenzziehungen stark: Reckwitz, Grenzen. 20 Rebenstorf/Ahrens/Wegner, Potenziale, vgl. auch Horstmann/Park, Gott. 21 Rebenstorf/Ahrens/Wegner, Potenziale, 22. 22 So etwa: Pohl-Patalong, „Gemeinde“. 23 Dies die Einschätzung von: Karle, Reformstress.

Gemeinde als Ort von Spiritualität

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Die Daten des „Kirchengemeindebarometers“ führen vor Augen, wie unterschiedlich Gemeinden je nach lokalem Kontext die Schwerpunkte ihres Lebens und ihrer Arbeit setzen. Die Studie des SI unterscheidet auf der Ebene von „Inhalten“ der Gemeindearbeit kulturelle, religiöse und soziale Schwerpunktsetzungen. Spiritualität ließe sich am ehesten zu den explizit „religiösen Angeboten und Aktivitäten“ in Beziehung setzen. Für fünf Arbeitsformen gilt diese religiöse Ausrichtung im Besonderen: Gottesdienste, Konfirmandenunterricht, Gesprächskreise, Glaubenskurse und Hauskreise.24 Unter den drei möglichen inhaltlichen Ausrichtungen (religiös, kulturell, sozial) besitzt eine „soziale“ Ausrichtung der Gemeinde25 den höchsten Stellenwert, was in der Einschätzung der befragten Kirchenältesten auch heißt, dass die „Stärkung des Zusammenhalts“, der „Gemeinschaftsgedanke“26 ein zentrales Anliegen des Gemeindelebens ist. Dieser Befund kann in Beziehung gesetzt werden zu den Arbeitsformen, die im Urteil der Kirchenältesten am wichtigsten sind: Konfirmandenarbeit, Gottesdienst, Arbeit mit Kindern und Jugendlichen und der Gemeindebrief.27 Legen wir diese Folien übereinander, so ergibt sich auch in der Selbsteinschätzung der gemeindlich Engagierten eine Schnittmenge von explizit „religiösen“ und gemeinschaftsbezogenen Angeboten oder Arbeitsformen, die im Zentrum der Parochialgemeinde liegen. Als wichtigste Sozialform von Gemeinschaft kann im Bereich der Kirchengemeinden die (Klein-)gruppe gelten28. Allerdings gilt auch hier, dass Gruppen sehr unterschiedlich sind – und damit auch die gruppen- und gemeinschaftsbezogenen Spiritualitäten in Parochialgemeinden sich unterscheiden. Verschiedene Vergemeinschaftungsformen stehen komplementär zueinander und sind mit unterschiedlichen Teilnahmeformen verbunden. Dem entsprechen unterschiedliche Grade von Verpflichtung und unterschiedliche Ausmaße von Durchlässigkeit oder Anschlussfähigkeit über die Gruppengrenzen hinweg – denken wir etwa an Frauenkreis, Seniorengruppe oder einen Unterstützendenkreis für geflüchtete Menschen. In all dieser Diversität scheint sich aber die zentrale Bedeutung der Kirchengemeinde als Parochialgemeinde durchzuhalten: „Auch unter den Bedingungen moderngesellschaftlicher Diffe24 Rebenstorf/Ahrens/Wegner, Potenziale, 104. An der Studie haben sich 803 Gemeinden im Raum der EKD beteiligt. Die Studie unterscheidet ländliche Dörfer, städtische Dörfer, Kleinstädte, Mittelstädte und Großstädte. Die Zuordnung einzelner Arbeits- oder „Angebots“-Formen erfolgt über eine Matrix, in der Inhalte (kulturell, religiös, sozial) drei „Mechanismen sozialer Koordination“ zugeordnet sind: Markt, Organisation, Gemeinschaft (a. a. O., 34–41). 25 A. a. O., 110. 26 A. a. O., 11. 27 A. a. O., 10. 28 Hauschildt/Pohl-Patalong/Grözinger, Kirche, 150. Wichtig die Frage: „Wie kann sich gelebte christliche Gruppen-Gemeinschaft konstruktiv auf die individualisierte Gesellschaft und auf die mit der Gruppe nicht identische Großkirche beziehen?“, 151.

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renzierung, religiöser Vielfalt und biographischer Mobilität scheint Kirche vor Ort aus der Sicht der Mitglieder von hoher, ja gelegentlich identitätsstiftender Bedeutung zu sein.“29

3.

Gemeinde als Communio und Ort von Spiritualität

Aufschlussreich ist, dass sich bei der Sichtung der empirischen Forschung zu Kirchengemeinden und ihrer kirchentheoretischen Reflexion30 gemeinsame Perspektiven und Konvergenzen zwischen den empirischen Befunden und einer Theologie der Spiritualität ergeben. Wenn in den Antworten der Kirchenältesten der Gemeinschaftsbezug der Kirchengemeinde zentral ist und die wichtigsten Arbeitsformen der Gemeinde darauf zielen, dass Räume zum Glauben geöffnet werden, „Förderung von und Begleitung im Glauben“31 geschieht, dann sind die Übergänge zu den Kernpraktiken des Glaubens und zur theologischen Selbstbeschreibung der Kirche leicht zu finden. Hier kommt die lokale Versammlung der Christinnen und Christen in den Blick, die ihre Mitte im leibhaften Zusammen-Kommen hat. Dieses Zusammen-Kommen wird gestiftet durch Christi Präsenz in der Mitte der zu ihm Gehörenden, in Wort und Sakrament. Zwischen den drei Dimensionen des Kirchenbegriffs muss zwar unterschieden werden, diese Unterscheidung darf aber keinesfalls zu einer Trennung, zu einer scharfen Dissoziation werden: Wenn wir von der Kirche des Glaubensbekenntnisses, der Kirche als aus Wort und Sakrament lebender Handlungsgemeinschaft und von der rechtlich verfassten Parochialgemeinde sprechen, dann konvergieren diese Redeweisen darin, dass erst in der Mehrdimensionalität die Kirche als Ort des Glaubens und damit als Ort von Spiritualität einsichtig wird. Damit sind wir am Quellort von Spiritualität angelangt: Ausgehend von der Begegnung mit dem lebendigen Wort des Evangeliums, von der Teilhabe an der Person und am Weg Jesu Christi in den Sakramenten werden Menschen eingewiesen in einen Raum des Lebens mit dem lebendigen Gott. Die Gemeinde als Ort von Spiritualität wird aus dieser Quelle leben, sie wird sich nicht von ihren Grenzen her, sondern von dieser Mitte her verstehen. Diese Mitte ist die Teilhabe an der Communio des dreieinigen Gottes, der als der beziehungsreiche Gott Menschen an seiner Fülle teilhaben lässt: Berührt durch den Heiligen Geist in Wort und Sakrament gehen Menschen den Weg der Nachfolge. Dieser Weg ist 29 Hermelink/Kretzschmar, Ortsgemeinde 68; vgl. auch Herpich/Lindner, Kirche. 30 Zum Programm einer „Kirchentheorie“ als Vermittlungsform zwischen empirischer Kirchensoziologie und dogmatischer Ekklesiologie vgl. Preul, Kirchentheorie. 31 Hauschildt/Pohl-Patalong/Grözinger, Kirche, 280.

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eröffnet durch Jesu eigenen Weg,32 und so gehen die Jesus Christus Zugehörigen geleitet durch den Gekreuzigten und Auferstandenen und mit ihm zum Vater. Die geistliche Dynamik dieses Weges der Nachfolge kann nur in diesem umfassenden, theologisch zu beschreibenden Horizont verstanden werden – und zielt doch auf die konkrete soziale Wirklichkeit der lokalen Gemeinde, die rechtlich verfasst ist und empirisch vermessen werden kann. Der Weg der Nachfolge kann nur gemeinschaftlich begangen werden, so wie er auch im Kern auf Gemeinschaft, auf „Koinonia“ zielt: Ausgangspunkt ist der innere Beziehungsreichtum des dreieinigen Gottes, der als Vater, Sohn und Heiliger Geist seinen Geschöpfen Anteil gibt an seinem eigenen Leben – und dies auf eine Weise tut, die Gemeinschaft stiftet unter denjenigen, die den von Jesus eröffneten Weg gehen. Die Gemeinde ist als Leib Christi „leiblich-soziale Erfahrungsgemeinschaft“. Wichtig ist dabei zu sehen, dass es sich bei der Rede vom „Leib Christi“ nicht einfach um eine organologische Metapher handelt, die längst vergangene soziale Verhältnisse spiegeln und damit einen vollkommen unzeitgemäßen Konformitäts- und Homogenitätsdruck ausüben würde. Im Gegenteil verankert die Leib-Metapher die Selbsterfahrung und Selbstbeschreibung der Gemeinde in der Kernpraxis des geistlichen Lebens der Gemeinde, in der Feier des Heiligen Abendmahls. Das vorfindliche und mehr oder weniger zufällige Zusammensein von Individuen an dem einen Ort der Gemeinde wird in der Feier des Sakraments gewandelt zur Gemeinschaft, Communio. Und so wie die trinitarischen Personen ihr personales Sein nur in der Gemeinschaft des gegenseitigen Anteilgebens und -nehmens haben, wird analog dazu die Personalität der Glaubenden als ein „Sein in Christus“ konstituiert. Erst im gegenseitigen Geben und Nehmen der eucharistischen Communio gewinnt der personale Weg des Glaubens seine Tiefe: „Die Gemeinschaft mit Jesus Christus ist also eine dreifache: Da ist einmal die Christusgemeinschaft in Seinem Wort und Sakrament. Da ist zum anderen die Christusgemeinschaft, die wir raum- und zeitübergreifend in der Gemeinschaft mit allen Christenmenschen erfahren, in denen seine tragende und sorgende Macht leibhaftig Gestalt gewinnt, sofern sie selber von ihm leben. Und da ist schließlich die Christusgemeinschaft, die er uns in der Begegnung mit seinen armen und elenden Geschwistern gewährt“.33

Die Leibhaftigkeit christlicher Spiritualität bekommt aus dieser eucharistischen Quelle den Charakter einer Gemeinschaft gegenseitiger sozialer Verantwortung.34 Spiritualität ist nur als diakonische Spiritualität in der Verantwortung für 32 Wohlmut, Weg. 33 Bauer, Gemeinschaft, 56f. 34 Die politische Dimension und die ethischen Implikationen der Kernpraktiken des Glaubens werden von John Howard Yoder sehr praktisch beschrieben: Yoder, Politik; mit besonderem

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die Bedürftigen und im Blick auf die sehr unterschiedlichen Bedürftigkeiten der „Armen“ und der „Reichen“ denkbar. Nicht zuletzt im Engagement vieler Kirchengemeinden für geflüchtete Menschen und den daraus sich ergebenden neuen Gemeinschaftsformen über Mitgliedschaftsgrenzen hinweg hat sich dieser Zusammenhang bewährt. Die „Leibhaftigkeit“ christlicher Spiritualität zu betonen ist auch wichtig, um zu verdeutlichen, dass es in der Spiritualität nicht in erster Linie um „Diskurse“, um Bedeutungen und Deutungen, auch nicht um Selbstdeutungen geht. Spiritualität ist sozialtheoretisch am ehesten zu erfassen mit dem Begriff der „Praktiken“:35 Praktiken sind im Sinne der soziologischen Praxistheorie physische Vollzüge, sind leibhaftes Verhalten, leibhaft auch in dem Sinne, dass „Artefakte“, Dinge, in Verhalten einbezogen werden und selbst eine aktive Rolle spielen (Kirchengebäude, Gesangbücher, Konfirmationsanzüge und manches andere). Erst in diesem Zusammenspiel kann die Rolle von gemeinsamen und individuellen Überzeugungen verstanden werden. In markanter Differenz zu Schleiermachers einflussreicher Handlungstheorie sind Praktiken nicht als „Ausdruck“ eines „Inneren“, als „darstellendes Handeln“ beschreibbar. Sie sollen vielmehr begrifflich den Vorrang einer leibhaft verfassten und über Alltagsroutinen vermittelten Teilhabe an überindividuellen Sozialformen markieren. Praktiken werden, der Praxistheorie folgend, den Körpern und der Psyche „eingeschrieben“ und formen auf diese Weise „Subjekte“,36 die an „Lebensformen“ teilhaben.37 Gerade in dieser praxeologischen Sichtweise kann Spiritualität als „Lebensform“ beschrieben werden. Allerdings gilt, dass die Lebensform des gestaltgewordenen Glaubens nicht im Singular begegnet, als ein vorgegebenes oder gar vorgeschriebenes Konzept des geistbestimmten Lebens, sondern nur im Plural einer Vielfalt von verantworteten Lebensgestalten. Die Bedeutung einer Pluralität von Glaubensgestalten und Lebensformen können wir uns von zwei Seiten her verdeutlichen: Gottes Geist handelt auf vielfältige Weise, je nach der Art und Bedürftigkeit der angesprochenen und gerufenen Person, die als Geschöpf immer schon im Wirkraum des dreieinigen Gottes lebt. Und: das Wirken des Heiligen Geistes38 wird immer auf je unterschiedene Weise angeeignet und in das Ganze eines Lebensweges eingebettet, der

35 36 37 38

Blick auf den Gottesdienst als Ort politischer Öffentlichkeit in einer demokratischen Gesellschaft vgl. Wannenwetsch, Gottesdienst. Grundlegend dazu: Hillebrandt, Praxistheorien. Reckwitz, Subjekt. „Bei Lebensformen handelt es sich um Ensembles sozialer Praktiken, ‚eingelebter‘ Verhaltensweisen und normativer Orientierungen, die ethisch-moralische Spielräume für bestimmte Weisen der Lebensführung eröffnen und umgrenzen“ (Laube, Religion, 46). Plathow, Geist, 166 beschreibt die „Kondeszendenzstruktur“ der Pneumatologie Martin Luthers, das schöpferische, die Person konstituierende Wirken des Heiligen Geistes in „Selbstzurücknahme und herabneigende[r] Selbstbindung in liebender Freiheit“.

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erst in der Vermittlung des schöpferischen und berufenden Handelns Gottes mit der freien Antwort des glaubenden Menschen als Einheit verstanden werden kann.39 In der Gemeinde verortete Spiritualität kann als „Lebensform“ des Glaubens beschrieben werden, in die Menschen hineinwachsen, indem sie lernen, die Sprache(n) des Glaubens zu sprechen: „Glaubenssprache wird erlernt, indem man sie zu gebrauchen lernt: lernt, im Glauben und auf Hoffnung hin zu sprechen.“40 In diesem Sinne ist die Gemeinde Lernort des Glaubens und Lernort von Spiritualität – und auch die familiäre Primärsozialisation ist in hohem Maße angewiesen darauf, dass es Gemeinde gibt als Ort der Einübung in die Glaubenssprache und in die Lebensformen des Glaubens. Gemeinde ist so eine „community of practice“,41 in der der in den Lebensgestalten und Sprachformen der Tradition inkorporierte praktische Sinn des Glaubens dechiffriert, variiert und so neu angeeignet wird. Gemeinde erscheint als Ort relationalen Lernens, wo Personwerdung in Beziehung geschieht – und zwar so, dass Selbstwerden und Selbstsein nur in der Bezogenheit auf andere mitseiende Personen gelingt und durch die noch beziehungsreichere Wirklichkeit Gottes umgriffen wird: „Lernen ist […] wesentlich als Prozess der Partizipation, des Zugehörigwerdens und des Sich-Bindens an andere zu verstehen.“42 Eine Schlüsselfrage für verortete Spiritualität wird sein: Wie können Gemeinden relationale Lernorte werden, die ihre Gestalt aus der verwandelnden Gegenwart Gottes und den auf diese Gegenwart bezogenen Praktiken gewinnen?

4.

Spiritualität in der Gemeinde – „gemeinsam und einsam“

Die Frage nach der Gemeinde als Ort von Spiritualität ist ein wesentlicher Aspekt der Frage nach einem notwendigen Gestaltwandel der Kirchen. Ist es so, dass die gegenwärtige Gestalt der verfassten Kirchen es eher verhindert, dass Gemeinden Orte der Intensität werden können? Wie ist es möglich, dass Gemeinden relationale Lernorte für die Gegenwart Gottes werden – ohne in heilloser Selbstüberforderung ihre geschichtlich gewordene Gestalt einfach hinter sich zu lassen? 39 Vgl. zum Verständnis der biografisch-lebensyzyklischen Dimension von Spiritualität: Köster, Einführung, zusammenfassend mit Bezug auf das Konzept der psychosozialen Entwicklung in der Theorie des Lebenszyklus bei Erik Erikson: Klessmann, Pastoralpsychologie, 331–336. 40 Sauter, Zugänge, 125. 41 Wenger, Communities. 42 Künkler, Skizze, 24, auch 25: „Lernen bedeutet dementsprechend nicht nur eine beobachtbare, nachhaltige Verhaltensänderung, sondern als radikales Beziehungsgeschehen betrachtet, ist der Prozess des Lernens eine Verschiebung im Ineinander des Relationsgefüges und resultiert darin, dass man sich zu etwas oder jemandem verändert verhält.“.

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Deutlich ist, dass diese Frage nicht sinnvoll auf der Ebene von Programmen der Kirchenreform bearbeitet werden kann, die in erster Linie die administrative Selbstumkreisung stärken. Gerade auf der Ebene der Gemeinde, an der sozialen Basis des Kircheseins, ist es möglich, eine Offenheit für das gegenwärtige Wirken Gottes wiederzugewinnen, eine Art von kontemplativer Achtsamkeit für die überraschenden Möglichkeiten – und die alles andere als triviale Wahrnehmung dessen, was von Gott her geschieht. Zumindest für die Möglichkeit dieser Öffnung Sorge zu tragen, muss die vornehmste Aufgabe kirchenleitender Verantwortung, einer ebenso evangelischen wie ökumenischen „Episkopé“ sein. Die darin sich eröffnenden Räume zu betreten, zu begehen, zu bebauen wird vor allem in der Verantwortung der Pastorinnen und Pastoren und der gemeindlichen Leitungsorgane liegen.43 Diese Konzentration auf die Ursprungsrelationen von Spiritualität in der theologischen und sozialen Communio darf allerdings nicht um den Preis eines Rückzugs aus den sozialen, lokalen, regionalen Kontexten von Gemeinden erkauft sein, sondern muss vielmehr auch auf dieser Ebene zu einem vertieften Sein in Beziehungen führen: Eingebettet in gesellschaftliche Verantwortung wird Spiritualität im Gemeinwesen zu buchstabieren sein – und dort wie von selbst zu überraschenden Grenzüberschreitungen und zu neuen, vielleicht gar nicht intendierten Koalitionen mit sozialen Akteuren führen.44 Im Zentrum des Lebens der Gemeinde wird nach wie vor der Gottesdienst stehen. Aus Wort und Sakrament nimmt das geistbestimmte Leben seinen Ursprung, von dort strahlt es aus in alle Lebensbereiche. Die bekannte, auf die Berneuchener Bewegung zurückgehende, ökumenisch verwurzelte Trias „Martyria, Leiturgia, Diakonia“ drückt die Zusammengehörigkeit von zum Glauben rufendem Zeugnis, gefeierter Verehrung Gottes und diakonischem Dienst aus. In dieser Zusammengehörigkeit zeigt sich ein viertes: Koinonia, Gemeinschaft als Quelle und Ziel des geistlichen Lebens.45 Gerhard Sauter fasst die Bedeutung der Kernpraktiken des Glaubens zusammen: „Zum geistlichen Leben gehören das Gebet, die Feier der Gegenwart Gottes im Gottesdienst und das fortdauernde Bibellesen, die lectio continua. Aus der Verschränkung dieser Lebensformen mit ihren Rhythmen und Pausen, ihrem Wechsel von Hören, Reden und Schweigen, den Gebärden des Gestelltseins vor Gott und der Zuwendung zueinander in diesem Stehen vor Gott: aus alledem bildet sich das Wahrnehmungsgefüge des Glaubens, das Bestimmtes zu erkennen erlaubt“.46

43 44 45 46

Kusch, Entscheiden; Hartmann/Knieling, Gemeinde. Dazu sehr eindrücklich: Horstmann/Park, Gott. Vgl. dazu: Janssen, Herkunft. Sauter, Zugänge, 128.

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Spiritualität hat dann ihren Ort im gemeinsamen und im einsamen Leben, ist verankert im Beziehungsnetzwerk einer lokal verankerten Gemeinschaft und hat die biografische Dimension personaler Reifungs- und Verwandlungsprozesse. Im gemeinsamen Leben werden sich die biblischen Texte als Schule der Wahrnehmung und Erwartung der Gegenwart Gottes bewähren. Das Leben mit der Bibel hat seinen Ort in einer von der gottesdienstlichen Lesung her inspirierten und angeleiteten bibellesenden Praxis der Gemeinde. Das ist keine Frage der Zahl derjenigen, die am Gottesdienst teilnehmen und den Gottesdienst in den Alltag mitnehmen. Die Zahl mag klein sein – wenn aber eine kontinuierliche, Sonntag und Werktag umspannende Praxis des Lebens mit der Bibel sich in einer erwartungsvollen und achtsamen, einer meditativen und auf Kontemplation angelegten Grundhaltung ausprägt, dann wird von dieser Praxis eine verändernde Kraft ausgehen. Diese Praxis des Umgangs mit der Heiligen Schrift wird ihrerseits in einem Netzwerk von weiteren Praktiken stehen, in denen sich das Bibelwort verleiblicht. Die Bibel hat ihren Ort im Zusammenhang von Gebet und Lobpreis, sie leitet dazu an, in „Zeugnis und Dienst“ den empfangenen Segen weiterzugeben. Das reicht vom Gebet für die Kranken und Erschöpften bis hin zu gemeinwesenorientierter Sozialarbeit, in der die Gemeinde im eigentlichen Sinne des Wortes ein politischer Faktor ist. Von hier aus werden Schnittstellen mit der Umgebungskultur in den Blick kommen und bewusst geschaffen werden. Rückzug in homogene Binnengruppen wird dabei keine Option sein, so sehr auch hier vor Selbstüberforderungen zu warnen ist und gerade Spiritualität auf Beheimatung in verlässlichen Beziehungen, auf Vertrauen und Vertrautes, angewiesen ist. Mit den rasch voranschreitenden sozialen Veränderungen werden Gemeinden, wenn sie sich nicht in den Restbeständen des immer schon Gewohnten verschließen, weniger homogen sein. Die Fragen von Spiritualität und Interkulturalität und die Erfahrungen von Hybridisierung und der Überlagerung sehr verschiedener Traditionen werden dringender. Gerade in den im Gemeinwesen tätigen Dienstgemeinschaften werden sich über dem gemeinsamen Engagement die Zeiten und Orte ergeben, an denen Spiritualität als wichtige Ressource unmittelbar einleuchtend wird – dann aber auch sensibler und kraftvoller Gestaltung bedarf. Die im gemeinsamen Leben der Gemeinde eingeübte Spiritualität benötigt die individuelle, personale und persönliche Praxis. Die einzelne Person ist dazu berufen, Anteil zu gewinnen an der Fülle Gottes, leben zu lernen und, wenn es an der Zeit ist, auch Leiden anzunehmen47 – und sterben zu lernen. In dieser Perspektive hat die Gemeinde auch eine Aufgabe der Initiation auf dem Glaubens-

47 Vgl. etwa zur „Askese des Kreuzes“ Bouyer, Einführung, 155.

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weg, eine Aufgabe der „mystagogischen Katechese“,48 in welcher es gilt, das Handeln Gottes in der Taufe auf dem Weg des eigenen Lebens anzueignen. Die persönliche Berufung anzunehmen und in den Weg der Umkehr und der Nachfolge Jesu Christi zu integrieren, ist eine lebenslange Aufgabe. Für Gemeinden und christliche Gemeinschaften wird es angesichts des sich vertiefenden Traditionsabbruchs noch wichtiger, einzelne Menschen mit Gespür für ihren jeweils eigenen Weg zu begleiten.

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Karl Ludwig Ihmels

Evangelische Jugendarbeit Spiritualität entdecken, deuten, üben

1.

Einleitung

1.1

Spiritualität im Kinder- und Jugendalter

Die Kinder- und Jugendzeit ist für die Ausprägung der eigenen Spiritualität von kaum zu überschätzender Bedeutung.1 Dabei ist zu differenzieren zwischen einer Offenheit für spirituelle Erfahrungen und einer praktizierten Spiritualität als Ausdruck des eigenen (christlichen) Glaubens. Beides ist zwar aufs engste miteinander verbunden und bedingt und fördert sich bis zu einem gewissen Grad gegenseitig, ist aber doch voneinander zu unterscheiden.2 Es ist davon auszugehen, dass alle Kinder und Jugendliche spirituelle Erfahrungen machen.3 Dabei ist offenbar nicht entscheidend, ob sie in einer religiös geprägten oder religiös indifferenten Umgebung aufwachsen.4 Die Frage, ob der Mensch „unheilbar 1 Von Gontard, Spiritualität, 78, stellt übereinstimmend mit Good u. a., Spiritual Development, fest, dass die Adoleszenz noch wichtiger als die Kindheit für die Entwicklung der eigenen Spiritualität ist. 2 Die Definitionen von Spiritualität, die bei Roehlkepartain, handbook, 1–5, überblicksartig dargestellt und von von Gontard, a. a. O., 21, aufgenommen werden, haben das spirituelle Erleben, weniger die Glaubenspraxis im Blick. 3 Von Gontard, a. a. O., 22: „Studien […] legen nahe, dass alle Kinder solche Erfahrungen haben oder hatten.“ Vgl. auch a. a. O., 5.21f und öfter. Eine qualitative und quantitative Erhebung der Evangelischen Kirche von Westfalen (EKvW) stellt ebenfalls fest, „dass viele Jugendliche offen sind für transzendente Erfahrungen“ (empirica, Spiritualität von Jugendlichen, 36). Praktische Konsequenzen aus der Studie stellt Bußmann, Jugendliche vor. Einen aktuellen Überblick über empirische Studien zur Religiosität und Kirchenbindung Jugendlicher gibt Rothgangel, Überblick. 4 In den Langzeitstudien von Szagun, Sprache, und Szagun/Fiedler, Heimaten, wird erkennbar, dass und wie Kinder aus religiösen oder religiös indifferenten bis ablehnenden Hintergründen ein Gottesverständnis und eine Gottesbeziehung entwickeln können. Eine EKD-Studie beklagt dagegen im Blick auf Berufsschüler vor gesamtdeutschem und damit immerhin mehrheitlich

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religiös“ oder ein wachsender Teil der Bevölkerung „religiös unmusikalisch“ ist,5 erscheint dadurch in einem neuen Licht. Spirituelle Erfahrungen sind wesentlich weiter verbreitet als allgemein angenommen wird.6 Sie werden ausgelöst oder begünstigt durch bestimmte äußere Ereignisse, spielen sich jedoch hauptsächlich im Inneren (Emotionen, Bewusstsein) ab und beziehen sich auf „überpersönliche Transzendenz“.7 Da sie insbesondere in einer areligiösen Umgebung als ungewöhnlich empfunden werden, finden die Betroffenen kaum Worte, sie zu beschreiben. Das kann dazu führen, dass solche Erfahrungen nicht positiv in die Biographie integriert werden,8 sondern in Vergessenheit geraten oder schlimmstenfalls zur Vereinsamung führen.9 In einem religiösen Umfeld werden solche Erfahrungen selbstverständlich eher für möglich gehalten. Zudem bietet dieses Umfeld entsprechende Sprach- und Denkmuster, die helfen können, das Erfahrene zur Sprache zu bringen und zu reflektieren.10 In einer konfessionslosen oder religiös indifferenten Umgebung müssen dagegen – wenn die Scheu vor der Mitteilung über-

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religiös geprägtem Hintergrund: „Immer weniger Jugendlichen gelingt es, religiöse Dimensionen sprachlich zu kommunizieren und religiöse Verweise oder Prägungen in kulturellen Ausdrucksformen zu entziffern.“ (Rat der Evangelischen Kirche in Deutschland, Kirche und Jugend, 14). Die bereits erwähnte Studie der EKvW stellt diese Behauptung freilich in Frage (empirica, 15) und kommt zum gegenteiligen Schluss (a. a. O., 29): „In […] leitfadengestützten Interviews überraschte die Sprachfähigkeit der Jugendlichen. Jeder konnte etwas […] sagen und damit seinem Glauben Ausdruck verleihen.“ Zum gleichen Ergebnis kommt eine weltweite Jugendstudie, in der auch die Unterscheidung zwischen Religion und Spiritualität thematisiert wird (Roehlkepartain u.a, Voices, 25–28). Die begriffliche Differenzierung könnte ein Schlüssel zur Erklärung der gegensätzlichen Einschätzung sein. Einen Überblick über die Erforschung der Spiritualität von Kindern und Jugendlichen bietet von Gontard, Spiritualität, 26–32. Vgl. Tiefensee, Anmerkungen. Huber untersucht die Religionsmonitore von 2008 und 2013 und kommt zu dem Schluss „Religiöse Erfahrungen nehmen zu!“, so der Titel seines Aufsatzes. „Ein deutlicher hochsignifikanter Anstieg ist bei der religiösen Erfahrung beobachtbar […] 28 Prozent der jungen Erwachsenen in Westeuropa [machen] ‚oft‘ oder ‚sehr oft‘ religiöse Erfahrungen […]. Bei 87 Prozent ist dies zumindest ‚selten’ der Fall“, und zwar unabhängig von der Zugehörigkeit zu einer Religionsgemeinschaft (Huber, Längsschnittanalysen, 70f). Huber sieht durch seine Analyse die Säkularisierungstheorie widerlegt und die Individualisierungstheorie „durch die Daten eindrücklich bestätigt. […] Dies spricht für anthropologisch begründete Transzendenzerfahrungen, die auch unabhängig von religiöser Sozialisation ihre Wirksamkeit entfalten.“ (a. a. O., 75). Von Gontard, Spiritualität, 21: „Spiritualität ist eine individuelle Fähigkeit und ein Bedürfnis einer Person nach überpersönlicher Transzendenz; sie ist ein intrinsischer, biologischer Aspekt menschlicher Entwicklung. Sie kann sich in positiven, wie auch negativen – leichten, aber auch intensiven Erfahrungen zeigen.“ A. a. O., 24f. A. a. O., 25f und 80–85. Kaiser, Erleben, 39, beschreibt diesen Vorgang für gottesdienstliche Musik.

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wunden wird – individuelle Ausdrucksformen gefunden werden.11 Traditionelle Religiosität kann insofern als Sprach- und Deutungshilfe, aber freilich auch als einengendes Korsett eigener spiritueller Erfahrungen betrachtet werden.12 Paradigmatisch lässt sich der Sachverhalt an der biblischen Erzählung von Samuels Berufung verdeutlichen (1Sam 3,1–18), auch wenn es sich dabei um eine außergewöhnliche Erfahrung handelt: Samuel diente von klein auf im Jerusalemer Tempel. Eli, der Priester, leitete mit seinen Söhnen die Opfer und das gottesdienstliche Leben. Eines Nachts fühlt sich Samuel mehrfach gerufen. Gehorsam findet er sich bei Eli ein, der ihn jedoch nicht gerufen hat. Beim dritten Mal erkennt Eli, dass Gott nach Samuel ruft. Und so rät er ihm, beim nächsten Mal zu antworten: „Rede, Herr, denn dein Knecht hört“. So hört Samuel, welche Strafe Gott über Eli und seine Söhne kommen lassen wird. Obwohl Samuel mit den religiösen Riten und Lehren im Tempel von Kindheit an vertraut ist, bleibt das spirituelle Erlebnis doch zunächst unklar und missverständlich. Es bedarf der Deutung durch einen Erfahrenen und der Empfehlung eines angemessenen Verhaltens. Die eigentliche Begegnung, in diesem Fall die Audition, geschieht dann im Verborgenen ohne Beteiligung des Einweisenden. So betrachtet, meint Spiritualität zunächst eine allgemein menschliche Disposition insbesondere im Kinder- und Jugendalter. Damit sie nicht verkümmert, muss sie zur Sprache gebracht und geübt werden.13 Dafür stellt traditionelle Religiosität einen Deutungsrahmen und Sprachformen zur Verfügung, die die Kommunikation erleichtern. 1.1.1 Christliche Spiritualität als Begegnung mit dem dreieinigen Gott Christliche Spiritualität und Religiosität ist nicht einfach auf „Numinoses“ als etwas überpersönlich Unbestimmtes bezogen, sondern letztlich Begegnung mit dem dreieinigen Gott. Inhalt einer solchen Begegnung ist es, der Gegenwart des dreieinigen Gottes inne zu werden und das Leben danach auszurichten. „Inne werden“ meint nicht einfach „wahrnehmen“, sondern vielmehr einen wie auch immer gearteten inneren Vorgang, an dessen Ende sich die Gewissheit einstellt, dass Gott hier und jetzt, wenn auch verborgen, geheimnisvoll und unfassbar für 11 Vgl. die Rostocker Langzeitstudien von Szagun, Sprache und Szagun/ Fiedler, Heimaten. 12 Von Gontard, Spritualität, 21: „Religiosität ist ein überindividuelles System transzendierender Werte, formal strukturiert in Institutionen, Glauben, Theologien und Ritualen; sie wird beeinflusst durch soziale und historische Faktoren.“ Mit Bezug auf europäische Studien stellt von Gontard fest: „Spiritualität ist bei jungen Menschen häufiger als die tatsächlich praktizierte Religiosität […].“ (a. a. O., 20) Ähnlich unterscheidet Stucki, Spiritualität zwischen Spiritualität und Religion, 52–55). Vgl. auch die Unterscheidung von Spiritualität und Religion bzw. Religiosität bei Bucher, Jugendtheologie, 49. Religiosität als einengende und „schmerzhafte“ Erfahrung beschreibt autobiografisch Szagun, Sprache, 22f. 13 Vgl. Von Gontard, Spiritualität, 15.

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mich da ist. Dabei kann ein Bereich des trinitarischen Wirkens (Schöpfung, Erlösung, Vollendung/Heiligung) besonders hervortreten. Auch wenn solch ein Vorgang zunächst Furcht und Erschrecken auslöst, steht doch am Ende eine gewisse Gelassenheit und gelassene Gewissheit: Gott ist für mich da, auf ihn kann ich mich verlassen.14 Insofern wirkt eine solche Erfahrung orientierend, weil damit ein Bezugspunkt – außerhalb der eigenen Person – für das eigene Denken und Handeln gegeben ist.15 Für christliche Spiritualität gehört der „Eindruck“ des Glaubens mit dessen Ausdruck (Sprachgestalt, Bekenntnis, Haltung) und mit dem Handeln aus Glauben zusammen. Christliche Spiritualität bezeichnet also den Punkt, an dem das Vertrauen zum dreieinigen Gott entsteht, vertieft oder (neu) bewusst wird, und gleichzeitig das Bemühen, durch bestimmte Riten und Übungen, wenn schon nicht an diesen Punkt zurückzukehren, so doch Gelegenheiten für ähnliche vertiefende Erfahrungen zu schaffen.16 Zugleich drängt christliche Spiritualität über diese auf die eigene Person bezogenen Vorgänge hinaus zu einem Handeln am Nächsten und in der Welt.17 1.1.2 Merkmale evangelischer Spiritualität Das Besondere evangelischer Spiritualität ist mit Zimmerling im Bezug auf die Rechtfertigung aus Glauben zu sehen. Dieser Bezug befreit im Wissen um die Irrtumsfähigkeit und Schuldverflechtung menschlichen Entscheidens und Handelns und die Unverfügbarkeit spiritueller Erfahrung zu neuen Formen der Verantwortungsübernahme und der Frömmigkeitsübung. Zugleich aber bewahrt die Rechtfertigungserfahrung vor der Überschätzung des eigenen spirituellen und ethischen Strebens.18 Als weiteres Merkmal evangelischer Spiritualität ist der Bezug auf die biblische Überlieferung zu nennen.19 Im Resonanzraum der Bibel kommt evangelische Spiritualität zur Sprache und zum Klingen. Darin erfährt sie aber auch Korrektur und Neuausrichtung.

14 Im Sinne Meister Eckarts, vgl. Bordat, Grundbegriff. 15 Samuel wusste am Ende, was er zu tun hatte. 16 Roehlkepartain, Voices, 4, benennt als Merkmal allgemeiner spiritueller Entwicklung: „Spiritual development involves both an inward journey (inner experiences and/or connections to the infinite or unseen) and an outward journey (being expressed in daily activities, relationships, and actions).“ 17 Spiritualität „ist damit im besten Sinne praxis pietatis als (Aus-)Übung von Frömmigkeit und als praktische Erfahrung im (Glaubens)alltag“ (Freitag, Bestandsaufnahme, 4). 18 Zimmerling, Handbuch, 33f. Vgl. auch ders., Protestantische Spiritualität. 19 Vgl. Wiggermann, Spiritualität, 710.

Evangelische Jugendarbeit

1.2

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Evangelische Jugendarbeit als Resonanzraum für Spiritualität

Spirituelle Erfahrungen brauchen in der Regel die Hilfestellung durch andere Christen. Daher hat die Evangelische Jugendarbeit die Aufgabe, in der für spirituelle Erfahrungen besonders offenen Kindheits- und Jugendphase Bedingungen zu schaffen, die solchen Erfahrungen förderlich sind, und für eine Atmosphäre zu sorgen, in der diese zur Sprache gebracht und im Lichte des biblischen Zeugnisses gedeutet und eingeordnet werden können.20 Evangelische Jugendarbeit verhilft aber nicht nur zur eigenen Spiritualität, sie prägt zugleich zu einem bemerkenswerten Teil die künftige Spiritualität der Kirche. Viele Elemente des geistlichen Lebens der gegenwärtigen Gemeinden haben – was noch zu zeigen sein wird – ihren Ursprung in der Evangelischen Jugend. Das ist der natürliche Gang der Dinge: Im besten Fall wachsen Jugendliche mit ihrer spirituellen Prägung in die Erwachsenengemeinden hinein und bereichern sie. Im Idealfall nimmt die Erwachsenengemeinde die Impulse der Jugend gern auf, lässt sie also nicht nur gewähren, sondern eignet sich ihre Formen ganz oder teilweise an. Gelingt diese Integration nicht, führt dies zur Verselbstständigung von „Jugendgemeinden“, die dann miteinander altern. Glaubensweitergabe und Einübung in Spiritualität soll nach Überzeugung der Reformatoren in der Familie und im Unterricht durch die Pfarrer stattfinden (vgl. Martin Luther, Kleiner Katechismus). Als sich die Jugendphase als eigenständiger Lebensabschnitt herausbildete, begannen Anfang des 19. Jh. christliche Vereine mit der Jugendfürsorge im diakonischen wie im geistlichen Sinne.21 Erst später haben einzelne Gemeinden und schließlich auch Landeskirchen ihre Verantwortung für die evangelische Jugend erkannt. Das spannungsreiche Miteinander von verbandlicher, überwiegend ehrenamtlich getragener, und kirchlicher Jugendarbeit wurde beendet, als die evangelischen Jugendvereine und -verbände der drohenden Gleichschaltung im Dritten Reich nur dadurch entgehen konnten, dass sie sich 1933 selbst auflösten und ihre Arbeit unter dem schützenden Dach der verfassten Kirchen fortsetzten. Die äußerlichen Merkmale 20 Schöll, Statuspassagenmodell, 158: „Ob Jugendliche in diesen Lebenslagen auf religiöse Semantiken zugreifen, ist allerdings nicht mehr eine Frage der Tradition, sondern der Wahl. Die Option für oder gegen Religion wird entschieden im Kontext von Kommunikationsmilieus und aufgrund lebensgeschichtlicher bedeutsamer Ereignisse.“ Vgl. Zimmerling, Peter, Spirituelle Angebote, a. a. O. 445–478 und Bucher, Anton A., Jugendtheologie und Spiritualität, (s. Anm. 21). Schwab erachtet die Begleitung Jugendlicher bei ihrer spirituellen Entwicklung als „hoch bedeutsame religiöse Bildungsaufgabe, der sich die Kirche in ihrer Bildungsverantwortung zu stellen hat“ (Schwab, 5). 21 Einen gestrafften Überblick gibt Affolderbach, Jugend, insbesondere 416–423, wobei er sich für die Zeit des geteilten Deutschlands auf die Entwicklung in der Bundesrepublik beschränkt. Eine ausführlichere Darstellung bietet Jürgensen, Jünglingsverein; ders., Selbstständigkeit. Vgl. auch Ueberschär, Junge Gemeinde, 24–42, und Münchmeier, Geschichte.

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der Jugendvereine wie Mitgliedsausweise, Abzeichen, Uniformen und Fahnen mussten aufgegeben werden. Die inhaltlichen Spezifika und Arbeitsformen flossen mehr oder weniger in die „Gemeindejugend“ oder „Junge Gemeinde“ ein.22 Insbesondere die Bekennenden Gemeinden bzw. Kirchen erkannten ihre Verantwortung für die evangelische Jugendarbeit und schufen mit den „Jugendkammern“ Leitungsorgane für ein geordnetes Miteinander der nunmehr innerkirchlichen Jugendwerke (ehemalige Jugendverbände) und der kirchlichen Jugendarbeit. Während in den östlichen Landeskirchen dieser Zustand im Wesentlichen bis zur Friedlichen Revolution 1989/1990 erhalten blieb,23 gründeten sich in Westdeutschland schon bald nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges die Jugendvereine und -verbände wieder.24 Nach dem Vorbild der Bekennenden Kirche war bereits 1946 die Jugendkammer der EKD aus Landesjugendpfarrern und Vertretern der Jugendwerke eingerichtet worden. Diesem Beispiel folgten fast alle Landeskirchen. Aus der EKD-Jugendkammer und der Jugendarbeit der Freikirchen bildete sich 1949 die Arbeitsgemeinschaft der Evangelischen Jugend.25 Im Folgenden werden – ohne Anspruch auf Vollständigkeit – Formen der Spiritualität vorgestellt, die sich in der evangelischen Jugend herausgebildet haben. Sie lassen sich fünf Schwerpunkten zuordnen: der Gemeinschaftspflege, der Beschäftigung mit der Bibel, der liturgischen Gestaltung, dem Dienst an der Gesellschaft und am Nächsten und schließlich der Mission, wobei jeweils die anderen Aspekte unterschiedlich stark mitschwingen können.

22 „Ab 1935 hieß die Fachzeitschrift des Ev. Reichsverbandes Weiblicher Jugend ‚Junge Gemeinde‘ […]. Das war Otto Riethmüllers Zielbegriff für eine ev. […] Jugendarbeit, die sich nicht mehr in Verbänden organisieren durfte und ihren Ort stattdessen in der Gemeinde fand.“ Henkys, Junge Gemeinde, 698. 23 Die ehemaligen Verbände formierten sich als „Werke der Kirche“ und erlangten übergemeindlich und landeskirchenweit eine gewisse Selbstständigkeit: „Jungmännerwerk“, „Mädchenarbeit“, „Schülerinnen- und Schülerarbeit“, vgl. Ueberschär, Junge Gemeinde, 98– 169. 24 Die getrennte Entwicklung beschreiben Dogerloh, Junge Gemeinde, Becker, Geschichte, Koch, Junge Gemeinde und Ueberschär, Junge Gemeinde, für Ostdeutschland und Schwab, Wiederaufbau, für Westdeutschland. 25 Vgl. die Zeittafel bei Bemm/Schmucker u. a., Glauben, 158.

Evangelische Jugendarbeit

2.

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Schwerpunkt: Gemeinschaft

Der Gemeinschaftsaspekt spielt in der Jugendarbeit von jeher eine herausragende Rolle. Für Jugendliche werden die Gruppen Gleichaltriger wichtiger als familiäre Zusammenhänge. Dieses Bedürfnis wurde und wird in der Evangelischen Jugendarbeit aufgegriffen und fruchtbar gemacht.

2.1

Junge Gemeinde / Gemeindejugend

2.1.1 Entwicklung in der DDR Aufgrund der unterschiedlichen Voraussetzungen verlief die Entwicklung der Jugendspiritualität in Ost und West unterschiedlich. Während sich in Westdeutschland die Jugend in Vereinen und Gemeindejugendgruppen frei entfalten konnte, versuchten staatliche Stellen in Ostdeutschland Einfluss auf die Gemeindejugendarbeit zu nehmen und deren Aktivitäten auf „das Geistliche“ zu beschränken. Da verfassungsgemäß Glaubens- und Gewissensfreiheit gewährt wurde, war gegen die Ausübung der Religion zwar nichts einzuwenden. Das „frohe Jugendleben“ aber sollte ausschließlich in der staatlichen „Freien Deutschen Jugend“ verwirklicht werden. Immer wieder wurden daher kirchliche Aktivitäten, die scheinbar nicht in unmittelbarem Zusammenhang mit der „Religionsausübung“ standen, wie zum Beispiel Freizeiten oder Jugendtage, verboten bzw. aufgelöst. Folglich achteten die Gemeinden bei allen Veranstaltungen auf einen erkennbaren Bezug zum christlichen Glauben. In der Gemeinde trafen sich nicht „Jugendgruppen“, sondern die „Jungen Gemeinden“.26 Die Herrnhuter Losung, ein Bibelwort mit kurzer Auslegung, Lied und Gebet gehörte bei den wöchentlichen Zusammenkünften, aber auch bei Spiel- oder Tanzabenden selbstverständlich dazu. Man lud nicht zu „Freizeiten“, sondern in Anlehnung an biblische Formulierungen (Eph 6,10–18) zu „Rüstzeiten“, insbesondere zu „Bibelrüstzeiten“ ein (so bereits im Dritten Reich). Jede thematische Arbeit wurde biblisch begründet. Umweltthemen nahmen Bezug auf die Schöpfung. Gesellschaftliche Mitverantwortung wurde z. B. anhand des Jeremiabriefes an die Exilierten in Babylon (Jer 29) diskutiert. Die Wehrdienstfrage, die Beteiligung am Wehrkundeunterricht oder an vormilitärischen Übungen wurden im Lichte des 5. Gebotes erörtert usw. Lange Zeit fassten sich 26 Damit wurde die von Riethmüller 1935 programmatisch eingeführte Bezeichnung übernommen. Sie war von ihm übrigens von Anfang an mit dem Kreuz auf der Weltkugel als Symbol verbunden. Ueberschär, Junge Gemeinde, 36. Vgl. auch Henkys, Junge Gemeinde (s. Anm. 23), 698 und Jürgensen, Kreuz.

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Jugendliche zum Abendabschluss im Kreis stehend über Kreuz bei den Händen und sagten dazu: „Schließet die Reihen, treu lasst uns sein, trifft uns auch Spott, treu unserem Gott!“ Dieses Ritual lässt etwas von der damaligen Atmosphäre erahnen. Es war als Stärkung und wechselseitiges Versprechen in kirchenfeindlicher Umwelt gedacht und wurde auch so erlebt.27 Zugleich konnte die angestrebte Verbundenheit aber auch als Rückzug in eine sichere Nische und Abgrenzung nach außen missverstanden werden.28 Auf Grund der Integration der verbandlichen Jugendarbeit, die traditionell hauptsächlich ehrenamtlich agierte, und der notorischen Finanzknappheit der östlichen Landeskirchen, die sich nur verhältnismäßig wenige Jugendmitarbeiter leisten konnten, bildete sich das Ideal der ehrenamtlich geleiteten Jungen Gemeinde heraus. Dafür war es notwendig, ehrenamtliche Mitarbeiter und Mitarbeiterinnen zu gewinnen und zu schulen. Dies geschah schwerpunktmäßig durch die Landeszentralen des Jungmännerwerks, der Mädchenarbeit und der Schülerarbeit.29 Dabei spielten, wenn auch in unterschiedlicher Intensität, geistliche Fragen wie die nach der eigenen Berufung und einer verantwortlichen Lebensführung eine Rolle. Die Ehrenamtlichen lernten Andachten, Bibelarbeiten und Themenabende zu halten, Gebete zu formulieren und Gebetsgemeinschaften zu leiten. Sie verfügten über bibelkundliches und kirchengeschichtliches Grundwissen und verstanden es, gesellschaftliche Fragen vom christlichen Standpunkt aus zur Diskussion zu stellen und zu beurteilen. Paradoxerweise sorgten so die antikirchlichen Kräfte der DDR dafür, dass die evangelische Jugendarbeit ihrer Sache (Bibelbezug, Gebet) und die Kirche ihrer Verantwortung für die Jugend treu blieben. Diese Verantwortung erstreckte sich zunächst auf die Getauften und Konfirmierten, nahm aber bald schon in diakonischer oder missionarischer Absicht auch Außenstehende in den Blick. Die Prägung durch diese Art der Gemeindejugendarbeit ist auch drei Jahrzehnte nach der Friedlichen Revolution in den Gemeinden noch spürbar. Die Ehrenamtlichen von damals tragen jetzt Verantwortung in den Kirchenvorständen und Synoden.

27 Vgl. Wergin, Geschichte, 2. 28 Darauf macht Friederike von Kirchbach aufmerksam. Vgl. Brummer/Weitz, Religion. 29 Auf diese Weise haben die Jugendwerke die kirchliche Jugendarbeit nachhaltig geprägt.

Evangelische Jugendarbeit

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2.1.2 Entwicklung in der Bundesrepublik Deutschland In den westlichen Landeskirchen verlief die Entwicklung der Gemeindejugendarbeit freier und daher differenzierter. Zunächst trafen sich auch hier Jugendliche in gemeindlichen Gruppen.30 Daneben gründeten sich Gruppen wieder, die bereits vor dem Ersten Weltkrieg bestanden und unter dem schützenden Dach landeskirchlicher Gemeinden die nationalsozialistische Zeit unter Preisgabe selbstständiger Strukturen überdauert hatten. Dazu gehörten z. B. Gruppen des Christlichen Vereins Junger Menschen (CVJM), des Verbandes der Christlichen Pfadfinderinnen und Pfadfinder (VCP) oder auch des Jugendverbandes Entschieden für Christus (EC). „Charakteristisch […] ist […] trotz der unterschiedlichen Organisationsformen, dass Kinder und Jugendliche, ehrenamtliche Mitarbeitende in großer Selbstständigkeit eigenverantwortlich Jugendarbeit gestalten können.“31 Im Mittelpunkt stand zunächst wie vor und während des Krieges die Beschäftigung mit der Bibel. In den 1950er-Jahren zeichnet sich dann aber ein deutlicher Wandel ab. „Lediglich in pietistisch geprägten Verbänden steht Bibelarbeit noch regelmäßig auf dem Programm. Die Themen des Alltags erscheinen brisanter als die Texte der Bibel.“32 Dennoch bleibt die Bibel „im Spiel“. „Der Übergang von der ‚formellen‘ zur ‚informellen Bibelarbeit‘ vollzieht sich in mehreren Schritten und ist um 1960 weitgehend abgeschlossen. […] Zwischen Jugendverbänden, die der formellen Bibelarbeit treu bleiben, und denen, die zuerst auf die Tagesordnung der Welt und dann auf die Bibel blicken, öffnet sich eine immer breitere Kluft.“33 Diese wird durch die Diskussion um die historischkritische Bibelauslegung noch vertieft.34 So werden Jugendliche in diesen Gruppen einerseits spirituell unterschiedlich geprägt, andererseits führen unterschiedliche spirituelle Bedürfnisse und Angebote Jugendliche in unter-

30 Dabei scheint die Bezeichnung „Junge Gemeinde“ für diese Zusammenkünfte in den westlichen Landeskirchen kaum verbreitet gewesen zu sein. Bereits 1959 stellte Rott, Junge Gemeinde, 1065, fest: „An manchen Orten nennen sich die jungen ev. Christen auch im Bereich der BRD ‚J[unge. ]G[emeinde.]“. Der aktuelle Wikipedia-Artikel kennt „Junge Gemeinde“ ebenfalls nur als ostdeutsches Phänomen (Wikipedia, Die freie Enzyklopädie. Junge Gemeinde, verfügbar unter https://de.wikipedia.org/w/index.php?title=Junge_Gemeinde_(evan gelisch)&oldid=175664166, überprüft am 26. April 2018.). Im Bericht der Arbeitsgemeinschaft für die Evangelische Jugendarbeit von 2014 kommt der Begriff „Junge Gemeinde“ nicht vor. Vgl. Corsa/Freitag, Jung und evangelisch. 31 Hörtling, Selbstorganisiert, 110. 32 Schwab, Wiederaufbau, 85. 33 A. a. O., 86. 34 Ebd.

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schiedliche Gruppen.35 „[S]olche Gruppen [bleiben] für Jugendliche attraktiv – trotz oder gegen alle Individualisierungstendenzen“,36 was zuletzt (2007) durch eine breit angelegte Studie der Arbeitsgemeinschaft der Evangelischen Jugend erneut nachgewiesen wurde.37 Freilich stellen die Treffen örtlicher Jugendgruppen nur einen Teil der Angebote evangelischer Jugend dar, mit denen insgesamt 30 % aller Getauften und damit 10 % aller Jugendlichen in ihrer Biografie in Berührung kommen. Zu den Angeboten gehören außerdem Jugendgottesdienste, Jugendkirchen, Projektarbeit, sozialdiakonische/offene Jugendarbeit und vieles mehr.38

2.2

Evangelische Studierendengemeinde

Evangelische Studentengemeinden entstanden ab 1938. Als die Deutsche Christliche Studenten-Vereinigung (DCSV) wie die anderen Studentenvereinigungen verboten wurde, schlossen sich an den Hochschulorten deren Mitglieder mit Studentengruppen der Bekennenden Kirche zu mehr oder weniger illegalen Studentengemeinden zusammen.39 Nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges entwickelten sich die Studierendengemeinden ähnlich wie die Jungen Gemeinden im Osten anders als im Westen Deutschlands. Die frühere Verortung vieler Studierendengemeinden Westdeutschlands im linken politischen Spektrum, die durchaus auch geistliche Gründe haben konnte, ist heute so eindeutig kaum noch zu beobachten. Das dürfte im Wesentlichen seinen Grund in den unterschiedlichen Einstellungen der Gemeindeglieder haben. Im Osten blieben die Studierendengemeinden aus den bereits genannten Gründen wesentlich kirchennäher. Da sie Studierenden die Möglichkeit eines relativ freien Gedankenaustausches boten, erfreuten sie sich eines erstaunlichen Zuspruchs. Probleme der Gesellschaft, der Politik, aber auch der Wissenschaft wurden im Lichte der biblischen Botschaft erörtert, und mit der gebotenen Vorsicht, nach entsprechenden Handlungsmöglichkeiten gesucht. So wird man den Studierendengemeinden Ost wie West für die Zeit der Trennung wie auch für die Zeit im wiedervereinigten Deutschland insgesamt eine hohe politische Wachheit und ein überdurch35 Auf Grund der äußeren Bedingungen wurden in ostdeutschen Landeskirchen die durchaus wahrnehmbaren unterschiedlichen spirituellen Bedürfnisse und Prägungen von Jugendlichen in den Jungen Gemeinden weitgehend zusammengehalten. 36 Rat der Evangelischen Kirche in Deutschland, Kirche und Jugend, 47. Cares und Schalla, stellen im Anschluss an Fauser, Verband, 17f, fest, dass trotz vielfältigeren Angeboten an übergemeindlichen Arbeitsformen, Projekten und Kooperationen, „die Gruppe die zentrale Gesellungsform evangelischer Jugendarbeit“ bleibt (Cares/Schalla, Jugendarbeit, 307). 37 Fauser u. a., Verband und dies., Porträts. 38 Vgl. Rat der Evangelischen Kirche in Deutschland, Kirche und Jugend, 47. 39 Vgl. Schnapka-Bartmuß, Studentengemeinden; Petermann, Anfänge.

Evangelische Jugendarbeit

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schnittliches Engagement für Gerechtigkeit im sozialen Nahbereich wie auch im globalen Horizont bescheinigen können. Die ca. 120 Evangelischen Studierendengemeinden in Deutschland (ESG) arbeiten heute in einem eigenen Verband zusammen. Der Verband hat seine Zentrale seit 2008 in der Geschäftsstelle der Arbeitsgemeinschaft der Evangelischen Jugend (aej) in Hannover.40 In den ESG versammeln sich junge Menschen und z. T. auch Hochschulangehörige, um auf der Basis des christlichen Glaubens Fragen zu besprechen, die sich aus der persönlichen Situation oder dem Studium ergeben. Sie leben in den evangelischen Landeskirchen als Gemeinde auf Zeit fast immer in ökumenischer Offenheit. Vorträge, Arbeitsgemeinschaften, Gottesdienste, Rüst- und Freizeiten, Abendmahlsfeiern und Andachten prägen das Bild. Die Spiritualität dieser Gemeinden wird jeweils durch die Anwesenden geprägt und kann sich daher schnell ändern.41 Gegenwärtig scheint das Interesse an intellektueller Auseinandersetzung rückläufig zu sein und stattdessen die Geselligkeit und wechselseitige Vergewisserung im Vordergrund zu stehen. Liturgische Formen gewinnen an Bedeutung. So finden sich im ersten bundesweiten Gesangbuch für die Evangelischen Studierendengemeinden „Durch Hohes und Tiefes“42 neben 444 Liedern43 zahlreiche liturgische Stücke,44 eine kurze Anleitung für eine Andacht45 sowie Glaubensbekenntnisse, Gebete und Segensworte, darunter auch Luthers Morgen- und Abendsegen.46 Das „Lebens- und Arbeitsbuch“47 schließt mit biblischen Hymnen, Gesängen und Psalmen, die mit einer kurzen Einführung versehen und nach alten und neueren Psalmodie-Modellen zum Singen eingerichtet sind.48 Vom aktuellen Interesse an liturgischen Gestaltungen zeugt auch das Handbuch 40 Verband der Evangelischen Studierendengemeinden in Deutschland (ESG), Bundes-ESG, verfügbar unter https://www.bundes-esg.de/bundes-esg/bundes-esg, überprüft am 24. Oktober 2017. 41 Rat der Evangelischen Kirche in Deutschland, Präsenz, 2: „Die Präsenz der evangelischen Kirche an der Hochschule bietet Raum für bewährte und neue Formen der Spiritualität.“ 42 Eckert u. a., Hohes und Tiefes. Die Gesamtauflage umfasst mittlerweile 30.000 Exemplare, vgl. Verband der Evangelischen Studierendengemeinden in Deutschland, Hohes und Tiefes, verfügbar unter https://www.bundes-esg.de/bundes-esg/publikationen/hohesundtiefes/, überprüft am 26. April 2018. 43 „Da die Herausgeber davon ausgingen, dass der Schatz des Evangelischen Gesangbuches überall verfügbar ist und genutzt wird“, wurden Lieder aus dem Stammteil des Evangelischen Gesangbuches nicht aufgenommen (Eckert u. a., Hohes und Tiefes, Einführung) – ein Zeichen der Verbundenheit mit den evangelischen Landeskirchen. 44 Missa popularis von Andy Lang (501–507) und die Messe „Wie das Licht des neuen Tages“ von Eugen Eckert und Gerd-Peter Münden (508–513). 45 Eckert u. a., Hohes und Tiefes, Nr. 514. 46 A. a. O. Nr. 514–535 (mit Untergliederungen). 47 A. a. O., Einleitung, 2. 48 Neben Gesängen und Hymnen des Neuen Testaments (Nr. 602–617) finden sich, anders als im Evangelischen Gesangbuch, alle Wochen- und Festtagspsalmen (Nr. 618–693).

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für Liturgie und Gottesdienst mit dem Titel „kraft gottes“.49 Die gestiegene Nachfrage von Studierenden an Glaubensinhalten wird an der noch in Arbeit befindlichen Sammlung von Glaubenskursen sichtbar.50 Bemerkenswert ist auch, dass Studierenden eine einwöchige Teilnahme am kommunitären Leben im Kloster angeboten wird – ein noch junges Angebot, das sich aber steigender Beliebtheit erfreut.51 All dies vermittelt einen Eindruck von der spirituellen Vielfalt in den Studierendengemeinden.52

2.3

Freizeiten/Rüstzeiten53

Der Begriff „Freizeit“ als Bezeichnung für eine Reise Jugendlicher, die fern des Alltags neue Eindrücke, geistliche Zurüstung und körperliche Erholung suchen, wurde erstmals in der Evangelischen Jugend verwendet.54 Bis in die 1960er-Jahre wurden unter dieser Bezeichnung fast ausschließlich kirchliche, insbesondere evangelische Veranstaltungen verstanden.55 Das Konzept verbreitete sich so erfolgreich, dass später auch andere, nichtreligiöse Träger für ihre Veranstaltungen den Begriff verwendeten. Im katholischen Bereich setzten sich dagegen die Begriffe Einkehrtage, Retraiten oder Exerzitien durch. Sie unterschieden sich 49 Hirschberg u. a., kraft gottes. 50 Verband der Evangelischen Studierendengemeinden in Deutschland, Glaubenskurse für die ESGn, verfügbar unter https://www.bundes-esg.de/them-esg/glaubenskurse/datenbank-glau benskurse, überprüft am 4. November 2018. 51 Verband der Evangelischen Studierendengemeinden in Deutschland (ESG), Kloster auf Zeit für Studierende, verfügbar unter https://www.bundes-esg.de/fileadmin/user_upload/aej/Stu dium_und_Hochschule/Downloads/Allgemein/KaZ_2018_web.pdf überprüft am 4. November 2018. 52 Am Rande ist zu erwähnen, dass die Hochschul- und Studierendenarbeit der Landeskirchen durch die Studierendenarbeit evangelischer Freikirchen und freier Werke ergänzt wird, z. B. durch die Studentenmission in Deutschland als freies Werk der Kirche (vgl. Studentenmission in Deutschland, Über uns, verfügbar unter https://www.smd.org/de/smd/ueber-uns/ ueber-die-smd/ überprüft am 24. Oktober 2017) und Campus für Christus, „eine überkonfessionell geprägte Missionsbewegung“ auf der Basis der evangelischen Allianz (Campus für Christus, Auf einen Blick, verfügbar unter https://www.campus-d.de/ueber-uns/wer-wirsind.html#c10, überprüft am 24. Oktober 2017). 53 Vgl. auch Gremmels, Freizeit; Lübking, Freizeiten und Thierfelder, Rüstzeit. S. auch den Beitrag von Wolfgang Ilg, Spiritualität bei Freizeiten, im vorliegenden Band. 54 1913 lud Hulda Zarnack, Oberin des Burckhardthauses, erstmalig zu einer solchen Veranstaltung nach schwedischem Vorbild nach Tambach in Thüringen ein und bezeichnete sie nach dem Vorschlag von Guida Diehl, Reisesekretärin im Evangelischen Verband für die weibliche Jugend Deutschlands als „Freizeit“. Zarnack, Geschichte. – In die Freizeitbewegung flossen Gedanken ein, die in der Wandervogelbewegung als einem Teil der Jugendbewegung aufgenommen worden waren. Regelmäßig brachen Jugendliche aus Städten und industrialisierten Zonen in die Natur zu „echten und wahren“ Erlebnissen auf. 55 Vgl. Brockhaus Enzyklopädie, Art. Freizeiten, Bd. 7 191988, 643.

Evangelische Jugendarbeit

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konzeptionell durch eine stärkere Betonung geistlicher Übungen von ihrem evangelischen Pendant, für das stärker der wechselseitige Austausch und die gemeinsame Erarbeitung von Einsichten und Erkenntnissen (z. B. die Bibelarbeit) im Mittelpunkt standen. Mittlerweile ist es bei Inhalten und Methoden nicht nur zur Annäherung, sondern zu wechselseitigem Austausch und fruchtbarer Zusammenarbeit gekommen. Der besondere Reiz von Freizeiten besteht im Abstand von der gewohnten Umgebung und vom vertrauten Rhythmus, in der Ermöglichung von (Natur-) Erlebnissen in einer erlebnisarmen Gesellschaft, im längeren Zusammensein mit Gleichaltrigen oder mit Menschen gleicher oder ähnlicher Interessenlagen oder Lebenssituationen und in der Möglichkeit zur vertieften und methodisch vielgestaltigen Beschäftigung mit einem Thema. Die Tage werden durch Andachten oder Gebetszeiten strukturiert, Mahlzeiten werden mit Tischgebet eröffnet und beendet – eine Übung, die auch in christlichen Familien keineswegs selbstverständlich ist. Das gemeinsame Singen hat seinen festen Platz, gelegentlich auch die „Stille Zeit“ in kleinen Gruppen. Biblische Bücher oder Themen werden gemeinsam bedacht, Lebensthemen werden im Licht der Bibel erörtert. Natürlich unterscheiden sich die Freizeiten verschiedener evangelischer Träger in ihrem geistlichen Anspruch und in ihrer Gestaltung erheblich voneinander. Von entscheidender Bedeutung ist aber das Zusammensein, in dem nicht nur vieles gemeinsam erlebt wird, sondern auch manches zur Sprache kommen kann, was im Alltag keinen Platz findet. Auf diese Weise wird durch Austausch, Beispiel und Vorbild ganz nebenbei mehr und nachhaltiger gelernt (informelle Bildung), als je durch formale oder nonformale Bildung in vergleichbarer Zeit erreicht werden könnte. Insofern entsprechen Freizeiten wie auch andere Angebote der Jugendarbeit in besonderer Weise einem Bildungsverständnis, das Bildung als einen „eigenständigen Prozess des Subjekts“ versteht.56 Je nach Träger können auf Freizeiten/Rüstzeiten seelsorgerliche Einzelgespräche bis hin zur Beichte angeboten werden. Auch besteht die Möglichkeit, sich privat oder öffentlich (erneut) zu Jesus Christus zu bekennen und sich in seine Nachfolge zu stellen. Dass hierbei besonders verantwortlich vorzugehen und alles Manipulative zu vermeiden ist, versteht sich von selbst. Häufig steht am Ende der Freizeit ein besonderer Gottesdienst, eine Lobpreis-, Gebets- oder Segnungszeit. Das Zusammensein in der Gruppe, die ungewohnte Umgebung, die intensive thematische Beschäftigung hinterlassen tiefe, auch spirituelle Eindrücke – und häufig den Wunsch zum Nachtreffen. Letzteres wird freilich nicht selten als enttäuschend erlebt, weil sich die Freizeiterfahrungen nicht wiederholen lassen. Deshalb kommt es darauf an, die Teilnehmenden noch während der Freizeit auf 56 Mack, Bildungsorte, 183.

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den Abstieg vom „Berg der Verklärung“ zu den Mühen der Ebene und das Leben im Alltag vorzubereiten, wo zwar Jesus und der durch ihn geöffnete Himmel (die besondere Erfahrung) nicht zu sehen ist, aber doch seine Worte zu hören sind (vgl. Mk 9,2–13).

2.4

Kommunitäre (Jugend-)bewegungen

2.4.1 Taizé57 Nach dem Zweiten Weltkrieg gründete Frère Roger Schutz die Communauté von Taizé. Sie war von ihren Ursprüngen her evangelisch (reformiert), hatte aber von Anfang an das Anliegen, Christen verschiedener Konfessionen zu versöhnen. Ein wesentliches Element ist die „Liturgie der Gottesdienste […, die so gestaltet ist], dass Christen aus allen Konfessionen bekannte Elemente darin wiedererkennen“.58 1966 fand das erste Jugendtreffen in Taizé mit ca. 1.400 Teilnehmenden statt. Angesichts zunehmender Spannungen in den Gesellschaften und unter den Jugendlichen Westeuropas lud die Gemeinschaft zu einem Konzil der Jugend ein, an dem 1974 40.000 Jugendliche aus über hundert Nationen teilnahmen.59 Das Konzil, das der politischen und ökumenischen Versöhnung und der Erneuerung der Kirchen (als „arme Kirche“) dienen sollte und als längerer Prozess geplant war, scheiterte letztlich, wie Frère Roger zwei Jahre vor seinem Tod meinte.60 Das Anliegen wurde jedoch seit 1979 im „Pilgerweg des Vertrauens“ aufgenommen. Er wird geprägt durch die alle zwei Jahre zum Jahreswechsel stattfindenden europäischen Jugendtreffen an verschiedenen Orten. Daneben ziehen die wöchentlichen Treffen in Taizé Jugendliche aus Europa und der ganzen Welt an. Für die Spiritualität von Taizé sind die Lieder charakteristisch. Den einfachen, meist mehrstimmigen Gesängen liegen Bibeltexte und christliche Aussagen zugrunde, die abwechselnd oder zugleich in verschiedenen Sprachen gesungen werden können. Sie werden bei den Gottesdiensten sehr oft wiederholt und variiert. Der Kirchenraum ist mit angenehmem Licht schwach erleuchtet. Jugendliche berichten immer wieder von der besonderen Atmosphäre, die sie bei diesen gottesdienstlichen Feiern und besonders bei der Nacht der Lichter erlebt haben und die sie bleibend beeindruckt hat.

57 Vgl. zum Folgenden Engelschalk, Taizé. Die Ausstrahlung von Taizé auf Jugendliche untersucht Höglauer, Einfluss. 58 A. a. O., 57. 59 A. a. O., 66. 60 A. a. O., 68.

Evangelische Jugendarbeit

75

Aber nicht nur das Gefühl wird in Taizé angesprochen,61 vielmehr begleiten die Lieder die Jugendlichen in ihren Alltag,62 wobei sich die Bedeutung der Texte in unterschiedlichen Lebenssituationen weiter erschließt. Auch die täglichen Bibelarbeiten mit Einführungen durch die Brüder, anschließende Gruppengespräche und abschließende Präsentation der Ergebnisse im Plenum,63 sowie insbesondere die Zeiten der Stille,64 führen zu mancher persönlichen Einsicht und hinterlassen tiefe Eindrücke. Insgesamt kann man feststellen, dass Taizé für viele Jugendliche zu einem Ort spiritueller (Schlüssel-)Erfahrung und Einübung geworden ist. Bei Zusammenkünften an Wohn- oder Studienorten werden durch TaizéLieder Erinnerungen an diese besonderen Erfahrungen und Sehnsucht nach einer Wiederholung geweckt. Auch ohne die Erinnerung an einen Taizé-Besuch entfalten die Lieder ihre Wirkung. Folgerichtig wurden sie und die „Ordnung des gemeinsamen Gebets nach Taizé“ ins Evangelische Gesangbuch und viele seiner Regionalteile aufgenommen.65 2.4.2 Offensive Junger Christen66 Die Wurzeln der Offensive Junger Christen (OJC) reichen zurück in die bewegte Zeit um 1968 in Westdeutschland. Horst-Klaus Hofmann, CVJM-Sekretär in Mannheim, und seine Frau Irmela versuchten, unterstützt von den Darmstädter Marienschwestern, durch Schüler- und Studierendentagungen unter dem Thema „Alle reden von Revolution – wir auch“ christliche Orientierung zu geben. Als praktische Folge nahm das Ehepaar einige junge Menschen, überwiegend Studierende, zunächst in ihr Mannheimer und später in ihr Bensheimer Haus auf. Es entstand eine Art christliche Kommune – in bewusstem Gegensatz zu manchen der neuen „revolutionären“ und freizügigen Kommunen. Daraus entwickelte sich die „Offensive Junger Christen“, seit 2008 eine ökumenische Kommunität, deren „geistliche Wurzeln […] im Umfeld von CVJM (Christlicher Verein Junger Menschen), der Oxford-Gruppenbewegung und Dietrich Bonhoeffers Vision vom gemeinsamen Leben“67 zu suchen sind. Die Kommunität hat ihren Sitz in Reichelsheim im Odenwald.

61 62 63 64 65 66

So der Vorwurf von Lienau-Becker, Triumph. Höglauer, Einfluss, 239–245. A. a. O., 153–160. A. a. O., 246–258. Z. B. EG 178.12 und 181.6; EG Sachsen, 789. Offensive Junger Christen – OJC, Entstehung und Entwicklung der OJC, verfügbar unter https://www.ojc.de/kommunitaet/leitbild/geschichte, überprüft am 27. April 2018. 67 Ebd.

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Bis heute ist es das Anliegen der Bewegung, im gemeinsamen Dialog persönliche und politische Fragen junger Menschen aufzugreifen und nach lebbaren Antworten im Evangelium zu suchen. Zu diesem Zweck betreibt die Kommunität mit rund 100 Mitlebenden und Mitarbeitenden verschiedener Konfessionen mehrere Tagungs- und Gästehäuser. Für Jugendliche gibt es das Angebot, im sog. Jahresteam ein Freiwilliges Soziales Jahr oder einen anderen Freiwilligendienst zu absolvieren. Durch die enge Gemeinschaft und den strukturierten Tagesablauf mit geistlichen Einheiten wie Gebetszeiten, Andachten und Austauschrunden prägt diese Zeit viele junge Menschen für ihr weiteres Leben. 2.4.3 Kommunitäres (Mit-)leben auf Zeit Kommunitäres (Mit-)Leben auf Zeit speziell für Jugendliche, wie in Taizé und in der Offensive Junger Christen praktiziert, wird mittlerweile von etlichen Trägern in unterschiedlicher Ausprägung angeboten. Der Wörnersberger Anker wurde 1980 in einem kleinen Ort im Schwarzwald gegründet.68 Er bietet u. a. jährlich elf Jugendlichen die Möglichkeit gemeinsamen Lebens und Arbeitens („Lebensschule – FSJ mit Mehrwert“).69 Von dort ausgehend, entstanden an verschiedenen Orten kleine Lebensgemeinschaften. 1991 wurde nach dem Wörnersberger Vorbild die Lebensgemeinschaft „Brunnen e.V.“ als „Zentrum für ganzheitliche Mitarbeiterbildung“ im westsächsischen Oberalbertsdorf gegründet.70 Die Zahl der Jugendlichen, die an diesen Programmen teilnehmen, ist naturgemäß klein. Die Bedeutung dieser Angebote liegt weniger in der unmittelbaren Beteiligung als vielmehr in der Ausstrahlung: Gerade die entgegen dem allgemeinen Trend praktizierte Verbindlichkeit des Zusammenlebens, der zeitweise Ausstieg aus Erfolgs- und Konsumorientierung und die konsequente Gestaltung eines geistlichen Lebens, wirkt auf viele anziehend, weckt Fragen an die eigene Lebensführung und hält die Sehnsucht nach einem gelingenden Leben in der Verantwortung vor Gott und im Engagement für Mitmenschen wach.

68 Vgl. Wörnersberger Anker – Christliches Lebens- und Schulungszentrum, Ankerhistory, verfügbar unter http://ankernetz.de/upload/Ankergeschichte.pdf und Geschichte und Vision, verfügbar unter http://ankernetz.de/anker/geschichte-vision.htm, beides überprüft am 26. April 2018. 69 Vgl. Wörnersberger Anker – Arbeitsschwerpunkte, verfügbar unter http://ankernetz.de/up load/2013-Arbeitsschwerpunkte.pdf, überprüft am 26. April 2018. 70 Vgl. Brunnen – Christliche Lebensgemeinschaft, Geschichte, verfügbar unter https://www. brunnen-gemeinschaft.de/ueber-uns/geschichte, überprüft am 26. April 2018.

Evangelische Jugendarbeit

3.

77

Schwerpunkt: Bibel

Das Wort Gottes, wie es in der Bibel überliefert ist, wird überall in der evangelischen Gemeindearbeit, wenn auch unterschiedlich intensiv, zur Sprache gebracht. Die Evangelische Jugendarbeit hat in bestimmten Phasen und auf neue Weise die Beschäftigung mit der Bibel in den Mittelpunkt gerückt.

3.1

Bibellesepläne, Jahreslosung und Monatssprüche

Otto Riethmüller (1889–1938), der als Leiter des Burckhardthauses und des Reichsverbandes der weiblichen Jugend 1935 den Vorsitz in der Jugendkammer der Bekennenden Kirche übernahm, schuf nach der Tradition der „seit über 50 Jahren in der evangelischen Jugendarbeit erprobt[en]“ Bibellesepläne „eine einheitliche Bibelleseordnung“.71 Zur lectio continua, der kontinuierlichen Lektüre ganzer biblischer Bücher, fügte er für jeden Monat einen biblischen Spruch (aus den für die Lesung vorgesehenen Abschnitten) und ein Monatslied hinzu, die beide auswendig gelernt wurden. Bereits seit 1930 hatte er in Absprache mit den evangelischen Jungmännerbünden jeweils ein Bibelwort als Jahreslosung herausgegeben.72 Damit war das Grundgerüst für die „planmäßige Arbeit“73 in den Gemeindejugendgruppen gegeben. Daran orientierten sich die Veröffentlichungen für Jugendliche wie auch die Materialangebote für die Jugendleiter. Die so entstandenen „Werkpläne“ ermöglichten durch „[i]hre einfache Struktur, die Thema und Ablauf einer Jugendstunde vorgab […], bibelzentrierte Jugendarbeit auch dort, wo keine ausgebildeten Jugendmitarbeiter und -mitarbeiterinnen zur Verfügung standen“.74 Das Gesamtkonzept war außerordentlich erfolgreich. Bald beteiligten sich auch der Männerdienst der Bekennenden Kirche sowie die methodistische Kirche und Baptistengemeinden daran. Die Monatssprüche wurden in Plakatform in einer Auflage von bis zu 500.000 Exemplaren gedruckt – und schließlich durch die Reichsregierung verboten.75 Die Bibelleseordnung und die Werkpläne konnten jedoch in allen Kriegsjahren an die Pfarrämter verteilt werden.76 Jahreslosung, Monatssprüche und Bibellesepläne werden heute von der Ökumenischen Arbeitsgemeinschaft für Bibellesen (ÖAB) herausgegeben und 71 Riethmüller, Jugendführung, 36. 72 Vgl. Ökumenische Arbeitsgemeinschaft für Bibellesen (ÖAB), Geschichte, verfügbar unter http://www.oeab.de/index.php?id=geschichte, überprüft am 28. August 2017. 73 Riethmüller, Jugendführung, 35. 74 Ueberschär, Junge Gemeinde, 37. 75 Vgl. Ökumenische Arbeitsgemeinschaft für Bibellesen, Geschichte. 76 Ueberschär, Junge Gemeinde, 38.

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millionenfach gedruckt.77 Sie sind in allen deutschsprachigen evangelischen, katholischen und vielen Freikirchen selbstverständlich und stellen wohl das nachhaltigste Geschenk der Evangelischen Jugend an die ökumenische Gemeinschaft der Kirchen dar. Heute scheinen in der Evangelischen Jugend Bibellesepläne und Monatssprüche ihre strukturierende Funktion weitgehend verloren zu haben. Unter den zahlreichen Lesehilfen, auf die die ÖAB verweist,78 finden sich zwar etliche für den privaten Gebrauch von Kindern und Jugendlichen, aber nur sehr wenige, die auf die gemeinschaftliche Verwendung in der Jugendarbeit ausgerichtet sind.79 So wird auch auf diesem Gebiet die Individualisierung erkennbar. Immerhin gibt die Arbeitsgemeinschaft der Landesjugendpfarrerinnen und Landesjugendpfarrer jährlich „Bibel AnDenken“ mit „Betrachtungen zu Jahreslosung und Monatssprüchen“ heraus.80

3.2

Bibelarbeit81 und Bibelwoche

Evangelische Christen haben sich von jeher intensiv mit der Heiligen Schrift befasst, hatte doch Martin Luther das Priestertum aller Getauften wiederentdeckt und den Gemeinden eine grundsätzliche Urteilsfähigkeit in Bezug auf die rechte 77 „Die Jahreslosung wird auf Titelblättern, Spruchkarten, Kalendern, in Losungsbüchern und auf Wandplakaten in einer Auflage von ca. sieben Millionen veröffentlicht. Auch die Lesepläne mit den Monatssprüchen werden jährlich in einer Auflage von mehreren Millionen gedruckt.“ (Ökumenische Arbeitsgemeinschaft für Bibellesen, Geschichte, verfügbar unter https://www.oeab.de/index.php?id=geschichte, überprüft am 4. November 2018). Monatslieder werden nicht mehr vorgeschlagen. Aber die Idee, für jeden Monat ein Lied auszuwählen, wird verschiedentlich aufgenommen u. a. vom Zentrum Verkündigung der Evangelischen Kirche in Hessen und Nassau (Zentrum Verkündigung der EKHN, Monatslied, verfügbar unter https://www.zentrum-verkuendigung.de/unsere-themenbereiche/kirchen musik/musikvermittlung/monatslied.html, überprüft am 23. Oktober 2017) und dem Fachbereich Popularmusik der Evangelisch-Lutherischen Kirche in Norddeutschland (Fachbereich Popularmusik der Evangelisch-Lutherischen Kirche in Norddeutschland, Monatslied, verfügbar unter https://www.monatslied.de/de/, überprüft am 23. Oktober 2017.). 78 Ökumenische Arbeitsgemeinschaft für Bibellesen, Produkte, verfügbar unter http://www. oeab.de/index.php?id=produkte, überprüft am 23. Oktober 2017. 79 Z. B. CVJM-Jungschararbeit-Werkbuch mit seinen wöchentlichen Andachten und die CVJMJungschararbeit-Bibellese, die jedoch beide 2016 aufgegeben worden zu sein scheinen (CVJM Gesamtverband, Das Jungschar Werkbuch, verfügbar unter http://www.jungschar.de/materi al-links/werkbuch/, überprüft am 26. April 2018.). Schmidt, Wegbegleitung, 94, benennt für die Zeit bis 1999 eine weit größere Vielfalt. 80 Die Ausgaben bieten „Andachtsentwürfe, Materialien für Gruppenstunden und Freizeiten, Lieder, Informationen zur Jahreslosung und Monatssprüchen“ (Arbeitsgemeinschaft der Evangelischen Jugend Deutschlands (aej), Bibel AnDenken, verfügbar unter https://www. evangelische-jugend.de/nc/publikationen/bibel-andenken/, überprüft am 26. April 2018). 81 Vgl. zum Folgenden Henkys, Bibelarbeit, ebenso Wegenast, Bibelarbeit.

Evangelische Jugendarbeit

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Lehre anhand der Heiligen Schrift zuerkannt.82 So verwundert es nicht, dass es in den evangelischen Jugendvereinen, die zur Erneuerung und Vertiefung des Glaubens und einer entsprechenden Lebensführung gegründet worden waren, von Anfang an Bibelstunden bzw. Bibelbesprechstunden gab.83 Hatten diese zunächst eher Zeugnischarakter – der Zeuge gibt Anteil an seiner Erkenntnis –, entsteht nach dem Ersten Weltkrieg durch den Einfluss der Arbeitsschulbewegung, einer Spielart der Reformpädagogik, in der weiblichen Evangelischen Jugend die „Bibelarbeit“. Die Teilnehmenden erarbeiten sich unter Anleitung einen Bibeltext und fragen nach seiner Relevanz in ihrem Leben. Der Leiter steht nicht mehr vermittelnd zwischen dem Text und den Teilnehmenden, sondern ermutigt die Teilnehmenden, ihre eigenen Fragen an den Text zu stellen und nach Antworten zu suchen. Das wird am besten durch Schülergespräche realisiert, in die der Leiter nur bei Bedarf eingreift.84 Dafür werden vom Evangelischen Reichsverband weiblicher Jugend mit seiner Zentrale des Burckhardthauses in BerlinDahlem entsprechende Arbeitshilfen herausgegeben, die schnell eine weite Verbreitung finden.85 In den Krisenjahren der Zwischenkriegszeit erfährt die Bibelarbeit als neue Orientierungsmöglichkeit beachtlichen Zuspruch. Selbst nicht-pietistische Jugendvereine, die traditionell nicht bibelzentriert arbeiteten und die Beschäftigung mit der Bibel zunächst sogar abgelehnt hatten, entdecken zu Beginn der 1930er-Jahre hier eine neue Aufgabe.86 Das bereits erwähnte Ende der Verbandsjungend fördert zusätzlich die Konzentration auf die Bibel. Hier findet ab 1935 die Bibelwoche ihren fruchtbaren Boden. Da sie – anders als andere kirchliche Veranstaltungen – staatlicherseits nicht verboten wird, entwickelt sie sich deutschlandweit bis zum Ende des Krieges zur „einzige[n] größere[n] und flächendeckende[n] Veranstaltungsreihe außerhalb des Gottesdienstes“.87 Seit 1964 veranstalten die Kirchen Bibelwochen in ökumenischer Gemeinschaft und verbinden damit auch in Zeiten des Kalten Krieges ost- und westdeutsche Gemeinden.88 Die Bibelarbeit als eine Form der eigenständigen Beschäftigung mit der Heiligen Schrift in Gruppen verliert seit dem Streit um die historisch-kritische Bibelauslegung in den 1960er- und 1970er-Jahren in einigen Kreisen ihre Selbstverständlichkeit und dominierende Stellung. Sie bleibt aber als ein we82 Vgl. Luther, Versammlung. 83 Henkys, Bibelarbeit, 15. 84 Die „Arbeit mit der Bibel an der Jugend“ wird durch die „Arbeit mit der Jugend an der Bibel“ abgelöst. Vgl. Henkys, Bibelarbeit, 72f u. ö. 85 Henkys, a. a. O., 114–143 nennt Guida Diehl, Adelheid Crome und Wilhelm Thiel als besondere Wegbereiter der Bibelarbeit. 86 Wegenast, Jugendarbeit, 1446. 87 Bährend, Bibelwoche, 5. 88 Vgl. a. a. O, 7.

80

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sentlicher Strang evangelischer Jugendarbeit in Gruppenstunden und Freizeiten erhalten und wird mit neuen Methoden wie Bibliodrama und Bibliolog angereichert. Auch neue exegetische Erkenntnisse und Methoden fließen ein.

4.

Schwerpunkt: Liturgie

Das Verhältnis vieler Jugendlicher zur sonntäglichen Gottesdienst-Liturgie ist spannungsreich. Das hindert Jugendliche aber nicht, sondern beflügelt sie eher, eigene liturgische Formen zu entwickeln und zu praktizieren – auch wenn sie diese selbstverständlich nie als „Liturgie“ bezeichnen würden.

4.1

Jugendgottesdienst

Schon Martin Luther hatte in der Vorrede zur „Deutschen Messe“ Zielgruppengottesdienste vorgeschlagen. Neben dem Gottesdienst in deutscher Sprache für die „einfältigen Laien“, sollte ein Gottesdienst für die Jugend in lateinischer Sprache gehalten werden, damit diese die Sprache lerne und auch „ynn frembden landen kunden Christo nuetze sein und mit den leuten reden“.89 In heutiger Diktion: die Gottesdienste sollten der Sprach- (und Fremdsprach-)fähigkeit im Glauben dienen. Ob eine solche Verzweckung des Gottesdienstes angemessen ist, darf bezweifelt werden. Bemerkenswert bleibt, dass Luther unterschiedliche Gottesdienste und Gottesdienstformen für Menschen unterschiedlicher Bildung und Lebensalter – also nicht immer für die ganze Gemeinde – für sinnvoll hielt. Kinder sollen auf kindgemäße Weise angehalten werden, biblische Sprüche und Lehren aus dem Gottesdienst nach Hause zu bringen. Luther begründet das mit der Menschwerdung Christi: „Christus, da er menschen zihen wollte, muste er mensch werden. Sollen wyr kinder ziehen, so mussen wyr auch kinder mit yhn werden.“90 Dies könnte als Leitmotiv der heutigen Zielgruppengottesdienste bezeichnet werden.91 Sieht man von Katechismusgottesdiensten und vereinzelten anderen Ansätzen ab,92 wurden spezielle Jugendgottesdienste erst seit Beginn des 19. Jh. – also mit Herausbildung einer eigenständigen Jugendphase – veranstaltet.93 Zunächst war es die Absicht, die Jugend an den „normalen“ Gemeindegottesdienst „her89 Luther, Messe, 74. 90 A. a. O., 78. 91 Karcher, Jugendkultur, führt den Gedanken der Inkarnation des Evangeliums kurz für das Beispiel der Jugendkirchen aus. 92 Frör, Jugendgottesdienst, 1029. 93 Vgl. Wiggermann, Jugendgottesdienst, 668.

Evangelische Jugendarbeit

81

anzuführen“. Erst in der zweiten Hälfte des 20. Jh. wurden solche Gottesdienste nicht nur für, sondern mit und von Jugendlichen gestaltet und auf diese Weise Jugendkultur und jugendliche Lebenswelt(en) einbezogen. Mittlerweile „sind Jugendgottesdienste ein fester und profilbildender Bestandteil evangelischer Jugendarbeit“, auch wenn verlässliche Zahlen deutschlandweit fehlen.94 Jugendgottesdienste werden wohl ausnahmslos durch Teams der Zielgruppe in Begleitung weniger Hauptamtlicher vorbereitet und meist am Wochenende abends, kaum am Sonntagvormittag, durchgeführt. Die hauptamtliche Begleitung des Teams sorgt für Kontinuität, da auf Grund von Ausbildung und Studium die jugendlichen Mitarbeitenden schnell wechseln. Zudem beraten Hauptamtliche das Team in theologischer und liturgischer Hinsicht. Jugendliche bringen vor allem ihre Lebenswelt und Kultur in die Überlegungen ein. Im Gottesdienst sind sie die wesentlichen Akteure. Ausgangspunkt für die Vorbereitung ist meist ein bestimmtes Thema, das Jugendliche bewegt, selten ein vorgegebener Bibeltext. Wichtig ist jugendgemäße Musik durch eine Band, wobei die Auswahl auf Grund der Vielfalt jugendmusikalischer Stile nicht einfach ist. Gesungen werden vielfach englischsprachige Lobpreislieder, deren Texte an eine Leinwand projiziert werden, mit eingängigen Melodien und häufigen Wiederholungen. Der lebensweltliche Bezug der Liedtexte spielt eine untergeordnete Rolle,95 wichtiger ist die positive emotionale Erstbegegnung, die sich bevorzugt in größerer Runde einstellt.96 Selbst wenn die Erstbegegnung kaum noch bewusst ist, erzeugen die Lieder auch später eine positive Gestimmtheit oder Be-Geist-erung. Ähnlich wie bei einem Ritual geht es dabei um die „Wieder-Holung eines vergangenen Ursprungsereignisses, das heute neu inszeniert und aufgeführt wird als gegenwärtige soziale und religiöse Wirklichkeit“.97 Die Verkündigung wird häufig durch ein kurzes schauspielerisches Anspiel eingeleitet oder durch Video-Einspielungen veranschaulicht (Filmausschnitte, eigens angefertigte Animationen, Texttafeln oder Powerpoint-Präsentationen). Kommunikative Elemente bereichern die Gottesdienste; überhaupt spielt das Erleben der Gemeinschaft im Gottesdienst und danach (gemeinsames Essen) eine wichtige Rolle. Der Aufwand für Vorbereitung und Durchführung von Jugendgottesdiensten ist nicht nur inhaltlich, sondern auch logistisch (Podest, Bühne, Beschallung, 94 Kaupp/Wildermuth, Jugendgottesdienst, 379. 95 „Könige“, „Throne“, „sühnendes Blut“, die in diesen Liedern häufiger besungen werden (z. B. Shine, Jesus, shine; deutsche Übersetzung: Herr, das Licht deiner Liebe leuchtet auf, Evangelisch-Lutherische Landeskirche Sachsens, Hoffnung, Nr. 23), kommen in der Lebenswelt Jugendlicher eher selten vor. 96 Vgl. Kaiser, Erleben, 75f. 97 A. a. O., 22.

82

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Beleuchtung usw.) so groß, dass sie allenfalls monatlich, eher in zwei- oder dreimonatigen Abständen durchgeführt werden können. Überwiegend finden Jugendgottesdienste in Gemeindekirchen statt. Das erhöht zwar den organisatorischen Aufwand, rückt aber den gemeindlichen Bezug deutlich ins Bewusstsein. Um der Lebenswelt Jugendlicher näherzukommen, werden Jugendgottesdienste auch an „neutralen“ Orten, wie z. B. in Turnhallen, Schwimmbädern oder Fitness-Studios,98 angeboten. Das verringert Hemmschwellen, erschwert aber die lokale Verortung und Erinnerung spiritueller Erlebnisse.

4.2

Jugendkirchen99

Den umgekehrten Weg geht das Konzept der Jugendkirchen: Eine vorhandene Kirche wird ausschließlich Jugendlichen zur Verfügung gestellt. Der auratische und etwas geheimnisvolle Ort wird von Jugendlichen ihren Bedürfnissen entsprechend umgestaltet und so in Besitz genommen. Natürlich ist dazu die Begleitung durch Baufachleute und Jugendarbeiter erforderlich; der finanzielle Aufwand ist meist sehr groß. Die erste evangelische Jugendkirche entstand 1997 in Chemnitz,100 die erste römisch-katholische im Jahr 2000 in Oberhausen.101 Diesen Beispielen folgend oder auch unabhängig davon wurden sehr viele Jugendkirchen ins Leben gerufen. Das Jugendkirchenverzeichnis der Arbeitsgemeinschaft Evangelischer Jugend in Deutschland listet 302 Jugendkirchen in landeskirchlicher, freikirchlicher oder römisch-katholischer Trägerschaft bzw. in verschiedenen Kooperationen auf.102 Auch wenn diese Zahlen nicht sehr verlässlich erscheinen, ist in jedem Fall eine erhebliche Zunahme der Jugendkirchen festzustellen. Zum einen führen rückläufige Gemeindegliederzahlen dazu, dass insbesondere in den Innenstädten Kirchen leer stehen, die auf diese Weise sinnvoll genutzt werden können. Zum anderen haben die Kirchenleitungen die 98 Z. B. Jugendgemeinde in Kirchheim/Teck, vgl. Evangelisches Jugendwerk in Württemberg (Hg.) JUGENDKIRCHE, 55. 99 Vgl. zum Folgenden die erste umfangreichere Veröffentlichung zum Thema (2006): Freitag/ Scharnberg, Innovation. Eine erste Bilanz wurde 2012 in Freitag u. a., Lebensraum, gezogen; kritisch (2010): Krebs, Jugendkirche. Schwab bietet einen aktuellen und instruktiven Überblick, leider unter Ausblendung der ostdeutschen Entwicklung, die bereits schon früher einsetzte (Schwab, Jugendkirche). 100 Evangelisch-Lutherisches Jugendpfarramt Chemnitz, Jugendkirche. 101 Vgl. Bistum Essen, Tagbha, außerdem Hobelsberger/Kuld/Hamachers-Zuba, Evaluation. 102 Arbeitsgemeinschaft der Evangelischen Jugend Deutschlands, Jugendkirchenverzeichnis. 2010 waren es noch 150 Jugendkirchen. Von den 54 verzeichneten evangelischen Jugendkirchen waren jedoch zu diesem Zeitpunkt nur 20 aktiv (Krebs, Jugendkirche, 154). Ein grober Überblick zeigt, dass auch heute viele laufende oder in Planung befindliche Projekte zu Unrecht als Jugendkirche bezeichnet werden bzw. bereits wieder eingestellt wurden.

Evangelische Jugendarbeit

83

Notwendigkeit eines stärkeren Einsatzes für die Jugend erkannt, wenn sie diese nicht verlieren bzw. überhaupt erst für den Glauben gewinnen wollen. Von daher gehen die Impulse, Jugendkirchen zu gründen, nicht immer von Jugendlichen selbst, sondern häufig auch von kirchenleitenden Gremien aus. Auf Grund der Gegebenheiten (Demographie, soziale Differenzierung, Erreichbarkeit, hauptund ehrenamtliches Potenzial) sind die meisten Jugendkirchen in Städten und nur selten im ländlichen Raum angesiedelt. Erfolgreich sind solche Unternehmungen nur dann, wenn Jugendliche entscheidend an der Konzeptionsentwicklung und -umsetzung beteiligt sind.103 Ein großer Vorteil von Jugendkirchen ist, dass darin Jugendgottesdienste perfekt inszeniert und in einigen Fällen dadurch sogar wöchentlich angeboten werden können. Beleuchtung und Beschallung, überhaupt die Bühnentechnik, können genau auf diesen Zweck zugeschnitten und fest eingebaut werden. Je nach baulicher Situation können Jugendkirchen aber auch anderen Zwecken dienen: als offener Treff (sozialdiakonische Jugendarbeit ggf. mit Beratungsangebot), als Gruppen- und Beratungsraum, Vortrags- und Konzertsaal, Übungsraum, Verwaltungszentrale usw.104 Nicht selten entwickeln sich Jugendkirchen zu Jugendzentren mit einem Einzugsgebiet, das die Stadt(teil)grenzen weit überschreitet. Die inhaltlichen Erwartungen an Jugendkirchen sind hoch. Sie sollen Jugendkultur und christliche Kultur verknüpfen, Evangelium im Raum jugendlicher Ästhetik inszenieren, kirchendistanzierte Jugendliche anziehen und gemeindliche Beheimatung bieten. Sie sollen Räume sein zur Entfaltung eigener Spiritualität und Lernfelder diakonischen Handelns.105 Die Gefahr der Überforderung ist unverkennbar. Die Probleme, die auch aus Jungen Gemeinden/Gemeindejugendgruppen bekannt sind, stellen sich bei Jugendkirchen verschärft:106 Wie wird die Verbundenheit zu Ortsgemeinde und Kirche sichtbar? Wohin wenden sich Teilnehmende, wenn sie dem Zielgruppenalter entwachsen?107 Wie finden Hinzukommende Zugang zu bereits vorhandenen Gruppen? Letzteres Problem löst sich häufig mit dem Wegzug der bisher Teilnehmenden, wobei unklar bleibt, ob diese einen passenden Anschluss in der neuen Heimat finden. 103 Schwab, Jugendkirche (s. Anm. 106) unterstreicht mehrfach, dass Jugendkirchen von der Planung bis zur laufenden Arbeit partizipatorisch strukturiert sein müssen, wenn sie Erfolg haben sollen. Letztlich gilt das freilich für jede Jugendarbeit. 104 Was Jugendliche von einer Jugendkirche erwarten, wird exemplarisch an einer Befragung deutlich, die eine Schülergruppe der BBS Hannover durchgeführt hat (Schülergruppe der BBS Hannover, Vorstellungen). 105 Krebs, Jugendkirche, 154. 106 Vgl. Winter, Jugendkirche; Schwab, Projektlaufzeit und Evangelisches Jugendwerk in Württemberg, Jugendkirchen (s. Anm. 103). 107 A. a. O., 38. – Ähnliche Probleme, wie im Folgenden geschildert, werden auch bei römischkatholischen Jugendkirchen sichtbar, vgl. Stams, Experiment.

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Dies hängt nicht selten davon ab, wie das erste Problem gelöst wurde, wie also in der heimatlichen Jugendkirche ein Bezug zu einer Parochialgemeinde und deren Art, Gottesdienst zu feiern und Glauben zu leben, erkennbar wurde.108 Hierzu gibt es vielfältige Kooperations- und Vernetzungsmöglichkeiten besonders im Bereich der Konfirmandenarbeit, aber auch bei der Unterstützung parochialer Aufgaben wie der musikalischen oder schauspielerischen Mitwirkung des Jugendkirchenteams in Gemeindegottesdiensten, Übernahme von Aufgaben in der Arbeit mit Kindern usw. Wird Jugendkirche dagegen als solitäre Jugendgemeinde inszeniert und erlebt, fällt der Anschluss andernorts häufig schwerer. Zu groß ist die Differenz zwischen der erlebten Spiritualität und dem (parochialen) Gemeindeleben. Das Nachrücken junger Jahrgänge und deren Integration mit ihrer jeweiligen jugendkulturellen Prägung, die Ausprägung einer belastbaren Pluralitätsfähigkeit bedürfen in jedem Fall kontinuierlicher Aufmerksamkeit und Anstrengung. Gerade darin könnten Jugendkirchen aber für die Entwicklung in den Ortsgemeinden und Kirchen vorbildlich sein.

4.3

Kreuzweg der Jugend109

Der in der römisch-katholischen Tradition verankerte Kreuzweg beschreibt in 14 Stationen den Leidensweg Jesu. Seit dem Katholikentag 1958 war diese Tradition verschiedentlich für Jugendliche adaptiert und der Kreuzweg in vielen römischkatholischen Gruppen und Gemeinden durchgeführt worden. Seit 1972 wird der Kreuzweg der Jugend von einer ökumenischen Arbeitsgemeinschaft verantwortet. Diese Gruppe arbeitete trotz aller Schwierigkeiten grenzüberschreitend zusammen. Die 14 Stationen waren der besseren Durchführbarkeit wegen bereits zuvor auf sieben reduziert worden. Das erleichterte nun die Verschmelzung mit der evangelischen Tradition der sieben Passionsandachten. Jahr für Jahr werden seither sieben anspruchsvolle zeitgenössische Grafiken mit entsprechenden Texten, Liedern und Gestaltungsvorschlägen für Andachten für und mit jungen Menschen veröffentlicht. Die umfangreiche Materialsammlung verknüpft auf vielfältige und eindringliche Weise den Leidensweg Jesu mit aktuellen sozialen, politischen und persönlichen Problemen und Fragestellun-

108 „Brücken zwischen Lebensweltgemeinden und Parochialgemeinden entstehen durch Beziehungen zwischen einzelnen Gemeindemitgliedern und Gemeinden, nicht durch gemeinsame Musik oder Gottesdienstkultur, um nur zwei Beispiele zu nennen.“ (A. a. O., 45). 109 Vgl. zum Folgenden: Pilz, Kreuzweg, und Arbeitsstelle für Jugendseelsorge der Deutschen Bischofskonferenz (afj), Kreuzweg.

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gen.110 In vielen Jugendgruppen hat die Durchführung des Kreuzweges inzwischen eine lange und vielfältige Tradition, an der sich zunehmend die ganze Gemeinde beteiligt. Die nachdenkliche und meditative Art spricht viele Menschen an und hilft ihnen, die Bedeutung der Passion Jesu für ihr eigenes Leben zu erkennen. Wo immer möglich, werden die Kreuzwegandachten gemeinsam in ökumenischer Gemeinschaft durchgeführt. Einige Gruppen führen ihre besonders gestalteten Andachten auf öffentlichen Plätzen durch, was nicht selten irritierend und anziehend zugleich wirkt.

4.4

Visionssuche111

Anfang der 1990er-Jahre wurde eine alte Form, sich für spirituelle Erlebnisse zu öffnen und Lebensübergänge zu gestalten, aus Amerika kommend, auch in Deutschland angeboten.112 Nach einer Zeit der Vorbereitung verbringen die Teilnehmenden, die sich meist in einer Phase der (Um-) Orientierung befinden, bis zu vier Tage fastend allein in der Wildnis. In der Einsamkeit, ganz auf sich gestellt, hoffen sie, Antworten auf Lebensfragen, die eigene Bestimmung, zu sich selbst oder auch zu einer sinngebenden Vision zu finden. „Da die Visionssuche nicht an eine bestimmte Ideologie, Kultur oder Glaubensgemeinschaft gebunden ist, arbeitete jede/r Anbieter/in unabhängig und individuell“.113 Unter den Anbietern sind auch Vertreter der Evangelischen Jugend, z. B. das bayerische Landesjugendpfarramt,114 oder auch der evangelischen Kirche, z. B. das Männerforum der Nordkirche,115 und das „spirituelle zentrum im eckstein“ in Nürnberg. Die inhaltliche Unbestimmtheit öffnet das Ritual für mancherlei pantheistische und neuheidnische Vorstellungen.116 Bei der Aufnahme in evangelische 110 Die Materialsammlung wird herausgegeben von der Arbeitsstelle für Jugendseelsorge der deutschen Bischofskonferenz (afj), dem Bundesvorstand des Bundes der Deutschen Katholischen Jugend (BDKJ) und der Arbeitsgemeinschaft der Evangelischen Jugend in Deutschland e. V. (aej). 111 Vgl. zum Folgenden Verein für Visionssuche und Naturrituale, Über uns, verfügbar unter https://www.visionssuche.net/ueber-uns, überprüft am 28. April 2018. 112 Seit den 1970er-Jahren waren Rituale in Anlehnung an alte Formen von Passageriten (Eskimos, Indianer u. a.) in der School of Lost Borders entwickelt und angeboten worden, vgl. School of Lost Borders, History of the school, verfügbar unter http://schooloflostborders. org/content/history-school, überprüft am 4. November 2018). Die School of Lost Borders ist in Deutschland in dieser Szene besonders einflussreich. 113 Verein für Visionssuche und Naturrituale, Über uns, s. Anm. 111). 114 Amt für Jugendarbeit der Evang.-Luth. Kirche in Bayern, Visionssuche. 115 Männerforum Nordkirche, Spiritualität. 116 Vgl. Knepper, Drachenzeit.

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Programme ist daher besondere Sorgfalt und eine gründliche Klärung der Erwartungen geboten.

5.

Schwerpunkt: Dienst

Viele Jugendliche sind bereit, sich in besonderer Weise für andere einzusetzen. Situationen, die sie als ungerecht oder unbefriedigend empfinden, fordern sie dazu verstärkt heraus. So engagieren sich Jugendliche aus christlicher Verantwortung für ihre Nächsten und in politischen und gesellschaftlichen Problemfeldern.

5.1

Freiwilliges diakonisches/soziales Jahr

Am 9. Mai 1954 rief der Vorsteher des Diakonissenmutterhauses in Neuendettelsau, Hermann Dietzfelbinger, junge Frauen auf: „Wagt ein Jahr eures Lebens für die Diakonie!“117 250 junge Frauen folgten dem Aufruf und unterbrachen dafür z. T. ihre Berufstätigkeit. Aus der Aktion, die ursprünglich dem Arbeitskräftemangel in der Diakonie abhelfen, aber auch die persönliche Entwicklung der Frauen unterstützen sollte, entwickelte sich eine Bewegung, der sich (frei-) kirchliche und nichtkirchliche Träger anschlossen. 1964 wurden im westdeutschen „Gesetz zur Förderung eines freiwilligen, sozialen Jahres“ einheitliche Standards formuliert. Seither wurde dieses Modell vielfach weiterentwickelt und durch unterschiedliche Träger weit über den konfessionellen Kontext hinaus ausdifferenziert. Auch unter den ganz anderen Verhältnissen Ostdeutschlands gab es „diakonische/missionarische Jahre“. Viele Jugendliche nutzten nach ihrer Schulausbildung die Chance zur beruflichen und/oder geistlichen Orientierung bei christlichen Trägern.

5.2

Aktion Sühnezeichen Friedensdienste

Die Frage nach der Erhaltung des Friedens hat Jugendliche immer wieder bewegt. Mit der Einführung der Wehrpflicht in West- (1956) und Ost-Deutschland (1962) im Rahmen der Wiederbewaffnung war das zumindest für männliche Jugendliche eine sehr existenzielle Frage. Sie führte freilich die Jugendarbeit über die Frage der Kriegsdienstverweigerung aus Glaubens- und Gewissensgründen 117 Vgl. Evangelische Freiwilligendienste gGmbH/Diakonisches Jahr im Ausland (DJiA), Geschichte und Gohde, Freiwilliges Soziales Jahr.

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hinaus zu Überlegungen, wie ein gerechter Friede erreicht werden kann und welcher persönliche Einsatz dafür erforderlich ist. Lothar Kreyssig, der vor 1945 in der Bekennenden Kirche dem Nationalsozialismus widerstanden hatte, setzte sich nach dem Krieg für eine tätige Erinnerungsarbeit ein. Ihm ging es um ein „anhaltendes und sichtbares Zeichen der Anerkennung und Reue der deutschen Schuld gegenüber den jüdischen und europäischen Opfern […] und freiwillige Friedensdienste als Mittel einer internationalen Versöhnungsarbeit“.118 Auf seinen Aufruf, den er als Präses der EKD-Synode 1958 in Spandau verlas, geht die Gründung der „Aktion Sühnezeichen“ zurück: „Wir bitten heute, Deutsche die Deutschen, dass sich um Gottes Willen arbeitsfähige Frauen und Männer aller Stände und Konfessionen bereitfinden möchten, je auf ein Jahr nach Polen, Russland oder Israel zu gehen, um dort gemeinsam ein Friedenszeichen zu errichten.“119 Dem Aufruf folgten bis heute zahllose Jugendliche. Sie leisten durch ihren Einsatz in den genannten Ländern – inzwischen auch darüber hinaus – einen Beitrag zur Versöhnung. Die internationale Zusammensetzung der Gruppen fördert zudem die Verständigung zwischen den Völkern.120 Mittlerweile gibt es eine Fülle von Freiwilligendiensten, die Jugendlichen für kürzere oder längere Zeit (bis zu einem Jahr, z. B. als Freiwilliges Soziales Jahr) die Gelegenheit bieten, ihren Beitrag für eine gerechtere Welt und die Stabilisierung des Friedens zu leisten.121 Für viele Jugendliche ist das ein bewusster Ausdruck ihres christlichen Glaubens und ihrer persönlichen Verantwortung. Zu verschiedenen Anlässen (27. Januar – Internationaler Holocaust-Gedenktag, 10. Sonntag nach Trinitatis – Israelsonntag, ökumenische Friedensdekade – s. u.) stellt die Aktion Sühnezeichen Friedensdienste Arbeitshilfen für Gottesdienste und Gemeindeveranstaltungen zur Verfügung. Der Impuls zur Friedens- und Versöhnungsarbeit wird in vielen Gemeinden aufgenommen.

5.3

Friedensdekade122

Die Unterzeichnung der Schlussakte von Helsinki im Jahre 1975 als Ergebnis der Bemühungen der Konferenz für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa einerseits und der Nato-Doppelbeschluss von 1983 sowie die Stationierung neuer Atomwaffen in der Bundesrepublik, in der DDR und in der CSSR andererseits 118 119 120 121

Aktion Sühnezeichen Friedensdienste (asf), Geschichte. Aktion Sühnezeichen Friedensdienste (asf), Gründungsaufruf. Vgl. zum Ganzen: Kammerer u. a., Aktion. Dem Friedens- und Versöhnungsgedanken besonders verpflichtet ist der bereits 1957 gegründete Internationale Christliche Friedensdienst Eirene. Vgl. Thamm, Friedensdienst. 122 Vgl. zum Folgenden Ökumenische FriedensDekade, Geschichte.

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markierten die dramatische Spannung zwischen Sehnsucht nach Frieden und Normalisierung und bedrohlicher Hochrüstung. In dieser Situation empfahl der Ökumenische Jugendrat in Europa 1979 allen Mitgliedern, die Idee einer Friedenswoche aus den Niederlanden aufzugreifen.123 Die verantwortlichen Jugendgremien in Ost- und Westdeutschland entwickelten daraus 1980 in ökumenischer Gemeinschaft die Friedensdekade, die am drittletzten Sonntag des Kirchenjahres begann und am Buß- und Bettag endete.124 „Was als eine ein- oder zweimalige Aktion vorgesehen war, entwickelte sich durch das Echo aus Jugendgruppen und Gemeinden zu einer ständig wiederkehrenden Einrichtung, die wichtige Anliegen des christlichen Friedensdienstes aufgenommen hat. Von einem Unternehmen der kirchlichen Jugendarbeit ist die FriedensDekade [sic] zu einer Sache der gesamten Gemeinde geworden, die zunehmend in ökumenischer Zusammenarbeit auf Ortsebene Ausdruck fand und nach der ‚Ökumenischen Versammlung für Gerechtigkeit, Frieden und Bewahrung der Schöpfung‘ 1988/89 auch von der Römisch-Katholischen Kirche mit vorbereitet und durchgeführt wurde.“125 Im Zusammenhang der Friedensarbeit entstand 1980 das Signet „Schwerter zu Pflugscharen“, das zum bekanntesten Symbol der DDR-Friedensbewegung wurde. Es zeigt mit Bezug auf Micha 4,3 das Denkmal von Jewgeni Wiktorowitsch Wutschetitsch, das die Sowjetunion 1959 der UNO in New York geschenkt hatte. Der Gebrauch dieses Zeichens durch Friedensgruppen wurde vom SED-Staat als Affront gegen die DDR/UdSSR-Politik verstanden, die auf Aufrüstung zielte und sich im Slogan „Je stärker der Sozialismus, desto sicherer der Friede“ widerspiegelte.126 Durch die abendlichen Andachten während der Friedensdekade breitet sich die Idee rasch aus, sich auch über die Friedensdekade hinaus wöchentlich an einem Abend zum Friedensgebet zu versammeln, wie das bereits in Erfurt und Dresden geschah.127 Am bekanntesten sind die Friedensgebete in der Leipziger Nikolaikirche geworden, von denen schließlich entscheidende Impulse zur Friedlichen Revolution in der DDR ausgingen. Aber auch in vielen kleineren Gemeinden wurden und werden Friedensgebete gehalten und insbesondere dann neu belebt, wenn der Friede konkret bedroht erscheint, wie etwa 1990 im Vorfeld und Verlauf des zweiten Golfkrieges. Auch beim Anschwellen gesellschaftlicher Spannungen und bei Bedrohung des inneren Friedens, markiert z. B.

123 124 125 126 127

Ökumenische FriedensDekade, Geschichte, Entwicklung in der DDR. Ebd. Evangelisch-Lutherische Kirchgemeinde St. Nikolai Leipzig, Friedensgebete. Vgl. Bretschneider, Friedensdekaden. Evangelisch-Lutherische Kirchgemeinde St. Nikolai Leipzig, Friedensgebete.

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durch das Auftreten der PEGIDA-Bewegung,128 wurde die Form der (wöchentlichen) Friedensgebete wieder aufgegriffen. „Aufgabe der Friedensgebete bleibt es, zu informiertem und zu verantwortlichem Gebet aufzurufen und einzuladen.“129

6.

Schwerpunkt: Mission

Jugendliche, die vom christlichen Glauben ergriffen und durchdrungen sind, sind häufig bereit, diesen Glauben anderen weiterzugeben. Dabei suchen und finden sie authentische Ausdrucksformen für ihre Generation, die Ältere freilich z. T. befremden. Mit Worten (Verkündigung, Lieder, Theater …) und Taten (diakonische Einsätze) versuchen sie, das Evangelium auszubreiten.

6.1

Mitarbeiterbildung und Missionseinsätze

Das Konzept, Jugendlichen für eine bestimmte Zeit die Möglichkeit eines gemeinsamen Lebens nach verbindlichen Regeln mit dem Ziel anzubieten, sich auf ein christliches Leben im Alltag oder auch für besondere missionarische oder diakonische Einsätze vorzubereiten, wurde und wird in verschiedenen Formen praktiziert. Zahlenmäßig am bedeutsamsten ist wohl „Jugend mit einer Mission“, eine 1972 aus Anlass der Olympischen Spiele in München als deutscher Ableger von „Youth With A Mission“ (YWAM) gegründete und seither gewachsene Organisation.130 In neun deutschen Zentren können Jugendliche an Kurzzeitbibelschulen teilnehmen oder sich in sog. Jüngerschaftsschulen auf einen zweiwöchigen bis viermonatigen internationalen Einsatz vorbereiten.131 Verbindliches Zusammenleben, Abenteuer und missionarischer und diakonischer Einsatz verbinden sich hier auf eine Weise, die viele Jugendliche anzieht. Organisationen, die sich ebenfalls der Mission unter Jugendlichen verpflichtet fühlen und z. T. nach ähnlichen Konzepten wie „Jugend mit einer Mission“ arbeiten, kooperieren im netzwerk-m. Das Netzwerk wurde 1974 als „Ring missionarischer Jugendbewegungen“ gegründet. Es verbindet 70 Mitgliedsorganisationen.132 128 Patriotische Europäer gegen Islamisierung des Abendlandes, seit Herbst 2014 in Dresden und wenig später unter anderen Namen auch in anderen Städten und Regionen. 129 Evangelisch-Lutherische Kirchgemeinde St. Nikolai Leipzig, Friedensgebete. 130 Jugend mit einer Mission – Deutschlandverband, Geschichte. 131 Jugend mit einer Mission, Mission. 132 Vgl. Netzwerk-m, Geschichte, verfügbar unter https://www.netzwerk-m.de/netzwerk-m/ge schichte/ überprüft am 26. April 2018.

90 6.2

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Jesus Freaks133

1991 rief Martin Dreyer, damals Vorstadt-Missionar in Hamburg, die JesusFreaks-Bewegung als eine außerkirchliche christliche Glaubensbewegung ins Leben. Ziel der Jesus-Freaks-Bewegung ist eine konsequente christliche Lebensweise und Mission in jugendgemäßer Form. „Wir folgen Jesus und an ihm hängt unser Herz. PUNKT. Unsere Vision ist es, dass in unserem Land, in Europa und überall auf der ganzen Welt Menschen für Jesus aufstehen, weil ein kompromissloses Leben mit Jesus das coolste, heftigste, intensivste und spannendste überhaupt ist.“134 Die Mitglieder bringen sich mit ihrer jugendkulturellen Prägung ein, was nicht ohne Spannungen zwischen den Gruppen blieb und schließlich 2006 zu einem „Konzil“ genannten Prozess führte, der 2008 mit einer gemeinsamen Charta endete:135 „Was uns zusammenhält sind weder gleiche Lebens- und Musikstile, noch gemeinsame theologische Lehrmeinungen. Uns verbindet die erlebte Liebe unseres genialen Gottes. Er demonstriert an einem Haufen völlig unterschiedlicher Freaks, dass ER durch Ergänzung Einheit in gigantischer Vielfalt schaffen kann – nicht auf Kompromiss-, sondern auf Wunderbasis.“136 Der jugendgemäße Slang wirkt auf Erwachsene nicht selten befremdlich, steigert aber das mediale Interesse und erreicht viele Jugendliche, auch wenn die tatsächliche Mitgliedschaft eher gering ist (ca. 2.000 Mitglieder).137 Weite Verbreitung fand dagegen die „Volxbibel“, die im Zusammenhang der Jesus-FreaksBewegung entstand. Dreyer hat eine Bibelübersetzung bzw. -übertragung in jugendgemäßer Sprache in Gang gesetzt, an der jeder im Internet mitarbeiten kann.138 Sie umfasst mittlerweile beide Testamente. Nach einer gewissen Zeit wird der jeweils erreichte Stand der Onlineversion als Druckausgabe veröffentlicht.139 Die Bewegung hat evangelische Wurzeln. Dreyer war seit 1995 Pastor der Anskar-Kirche Deutschland e.V., die sich 1988 auf Initiative des damaligen Pfarrers Wolfram Kopfermann von der Ev.-Luth. Kirche getrennt hatte. Nach schweren Krisen und zwischenzeitlichem Zerwürfnis mit den Jesus Freaks ist Dreyer jetzt freischaffend als Schriftsteller und Theologe tätig. Die Jesus Freaks selbst sind an einer konfessionellen Einordnung nicht interessiert. Die radikale 133 134 135 136 137

Vgl. zum Folgenden: Dreyer, Jesus-Freak. Jesus Freaks International (Hg.), Visionen. Ebd. Ebd. Gemeinsame Redaktion der mitteldeutschen Kirchenzeitungen, Einmal Jesus Freak, immer Jesus Freak. – Die Kommunikationsplattform der deutschen Jesus Freaks weist 3.887 Mitglieder aus. (Jesus Freaks Deutschland, Mitgliederverzeichnis, https://jesusfreaks.de/netz werk/user/, überprüft am 22. Oktober 2017). 138 Wiki-Volxbibel, verfügbar unter http://wiki.volxbibel.com/, überprüft am 26. April 2018. 139 Dreyer, Volxbibel.

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Orientierung an der Lebenswelt der Jugendlichen, die konsequente Aufnahme ihres Slangs in Verkündigung und gottesdienstlichen Feiern lässt Parallelen zur reformatorischen Bewegung („dem Volk aufs Maul schauen“) erkennen. Einige Gruppen arbeiten punktuell mit der evangelischen Kirche zusammen und JesusFreaks-Veranstaltungen, wie z. B. das jährliche Festival Freakstock, werden auch von „traditionellen“ evangelischen Jugendlichen besucht, die von dort Impulse in „ihre“ Jugendarbeit mitnehmen. „Freakstock … ist das Jesus Festival. Der Name ist Programm. Jesus steht an erster Stelle, dann kommt ganz lange nichts, und dann kommen Kunst, Kultur und die Freude am Leben.“140 So beschreiben die Veranstalter das Programm. Seit 1995 findet das Festival jährlich (außer 2017) an wechselnden Orten statt. Ca. 60 christliche Bands auf fünf Bühnen bieten überwiegend Lobpreismusik. In 90 Workshops werden christliche Themen vertieft, täglich finden sog. Hauptseminare statt, die im Wesentlichen aus Lobpreis und Predigt bestehen. Daneben gibt es zahllose kreative Angebote, Theateraufführungen, Lesungen usw. Bis zu 6.000 Personen nehmen an den Festivals teil, darunter auch viele Familien. Mitglieder und Sympathisanten der Jesus Freaks sind in neun Regionalgruppen eingeteilt. Sie treffen sich zu unterschiedlichen Aktivitäten (Freizeiten, Arbeitsgruppen), wöchentliche Treffs gibt es nur an wenigen Stellen.

6.3

Christival141

Angesichts der gesellschaftlichen Unruhen und der anhaltenden Suche nach Neuorientierung – als Stichworte seien genannt: Studentenrevolte, Hippie- und Flower-Power-Bewegung – entschlossen sich auf dem Hintergrund der JesusBewegung aus den USA Vertreter der missionarischen Jugendarbeit, einen Kongress für Mitarbeitende durchzuführen. So wurde das erste Christival 1976 in Essen organisiert. An der Schlussveranstaltung mit Billy Graham nahmen 40.000 Menschen teil. Bis 2016 fanden sechs Christivals in unregelmäßigen Abständen statt: „Ziel […] ist es, jede Generation das zu ihr passende Christival erleben zu lassen.“142 Die Wirkung des Festivals ist vor allem im Kennenlernen spiritueller

140 Das Festival, mittlerweile „Europas größtes alternatives Jesus-Festival“, findet jeweils vom letzten Mittwoch im August bis zum darauffolgenden Sonntag statt. Jesus Freaks Deutschland e.V., freakstock/über uns Jesus Festival, verfügbar unter https://www.freak stock.de/, überprüft am 3. November 2018. 141 Christival, Historie, verfügbar unter https://christival.de/ueber-christival/historie, überprüft am 23. Oktober 2017. 142 Christivals fanden statt: 1988 Nürnberg, 1996 Dresden, 2002 Kassel, 2008 Bremen, 2016 Karlsruhe (Ebd.).

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Entwicklungen, im Austausch aktueller Arbeitsformen sowie der Vergewisserung der Teilnehmenden zu sehen.

6.4

Jesushouse143

1993 fand mit ProChrist zum ersten Mal in Europa eine Evangelisation via Satellit statt: Die Hauptveranstaltungsreihe mit Billy Graham in der Essener Gruga-Halle wurde an 1.500 Orte übertragen. Fast 1.000 Gemeinden hatten sich dazu angemeldet und die Übertragung in ein entsprechendes Begleitprogramm eingebettet. Diese Idee wurde vom gleichen überkonfessionellen Trägerverein 1998 für Jugendliche unter dem Titel „Jesushouse“ adaptiert und bisher mehrfach wiederholt.144 Das Konzept, Satelliten-Übertragung der zentralen Veranstaltung mit Musik, Talkshow-Elementen und evangelistischer Ansprache sowie lokaler Rezeption mit eigenem Rahmenprogramm in ca. 500 Orten wurde ab 2010 verändert. Nunmehr wird die eigentliche Evangelisationsübertragung in einem Aktionszeitraum durch eine fünftägige Veranstaltungsreihe, JesusHouse lokal, vorbereitet. Dafür vermittelt der Verein Verkündigerinnen und Verkündiger. Mit einer Fülle von Anregungen und Materialien wird die lokale Arbeit unterstützt. Kleinere Gemeinden erhalten so die Möglichkeit, ansprechende und ausstrahlende Veranstaltungen mit professionellen Mitteln zu bewerben und durchzuführen. Im Umfeld der Evangelisation wird vielfältiges Material angeboten (Liederbücher, Entwürfe für Gruppenstunden, Glaubenskurse und besondere Veranstaltungen), das in Jugendgruppen verwendet werden kann.

7.

Fazit

Viele der spirituellen Formate, die heute in evangelischen Gemeinden selbstverständlich sind, wurden in der evangelischen Jugend entwickelt. Auffällig ist, dass die nachhaltigsten Formate in besonders bewegten Zeiten entstanden: Kurz vor dem Ersten Weltkrieg wurde der Grund für die Freizeit- und Rüstzeitarbeit gelegt. Zwischen den Weltkriegen wurde die Bibel neu in den Blick genommen (Bibellesepläne, Monatssprüche, Jahreslosungen, Bibelarbeit, Bibelwoche). Nach dem Zweiten Weltkrieg formte sich besonders im Osten die Junge-GemeindeArbeit aus. In Taizé verbanden sich junge Männer zu einer Bruderschaft, die 143 ProChrist, Jesushouse, verfügbar unter https://www.prochrist.org/jesushouse, überprüft am 23. Oktober 2017. 144 In den Jahren 2000, 2004, 2007, 2011.

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schon bald Jugendliche anzog, begeisterte und prägte. Mitten im Kalten Krieg trugen Jugendliche mit der Aktion Sühnezeichen zur Versöhnung zwischen den europäischen Völkern bei. In den Unruhen der 1968er-Jahre versuchte in Westdeutschland die Offensive Junger Christen Orientierung zu geben. Angesichts der atomaren Aufrüstung in den 1980er-Jahren entstanden grenzüberschreitend Friedendekaden und Friedensgebete. Letztere wurden ein knappes Jahrzehnt später im Osten zum Kristallisations- und Ausgangspunkt der Friedlichen Revolution. Man wird dieses auffällige zeitliche Zusammentreffen nicht für einen Zufall halten, sondern einen Zusammenhang vermuten. Möglicherweise nehmen Jugendliche gesellschaftliche und politische Spannungen frühzeitig und sensibel wahr. Bei der Verarbeitung und zur Bewältigung dieser Spannungen entwickeln sie neue spirituelle Formen oder greifen alte Formen, wie z. B. das Stundengebet, wieder auf. Welche Rolle dabei herausragende Personen wie Otto Riethmüller, Hulda Zarnack, Roger Schutz, Horst-Klaus und Irmela Hofmann oder Martin Dreyer oder eben auch namentlich nicht bekannte Begleiterinnen und Begleiter von Jugendgruppen spielen, wäre einer eigenen Untersuchung wert. Pole, die auch sonst im geistlichen Leben energiereiche Spannungsbögen bilden, sind auch in der evangelischen Jugend zu beobachten. Wird einer der Pole isoliert bzw. verabsolutiert, so droht die fruchtbare Spannung zusammenzubrechen. Ein Pol der Jugendarbeit ist das Gemeinschaftserlebnis, wie es sich bei Rüst- und Freizeiten und bei mehr oder weniger einmaligen Großevents einstellt. Ehren- und hauptamtliche Mitarbeitende, die Verantwortung für regelmäßige Treffen tragen, kritisieren das nicht selten.145 Bei eingehender Betrachtung ist allerdings festzustellen, dass Jugendliche neben der verlässlichen Kleingruppe auch von Zeit zu Zeit größere Veranstaltungen zur Herausbildung und Festigung ihres Glaubens benötigen – und umgekehrt. Die beiden Pole, punktuelle Höhepunkte und kontinuierliche Beziehungsarbeit, die im Grunde die gesamte Jugendarbeit bestimmen, dürfen nicht gegeneinander ausgespielt, sondern müssen sinnvoll aufeinander bezogen werden.146 Ein Beispiel dafür stellt die Taizéarbeit dar. 145 Vgl. Freitag, Events. Eine Zusammenfassung der Diskussion findet sich bei Freitag. 146 Vgl. zur Problematik Schilke, Jugendarbeit. Beispiele für regelmäßig stattfindende evangelische Großveranstaltungen für Jugendliche sind u. a. das oben erwähnte FreakstockFestival, Christival und Jesushouse, aber auch das Pfingsttreffen in Bobengrün mit ca. 10.000 Teilnehmenden (vgl. CVJM Bobengrün, Geschichte, verfügbar unter https://pfingsttagungbobengruen.de/veranstaltung/geschichte, überprüft am 25. April 2018), das Internationale Allianzjugendtreffen mit ca. 1.700 Teilnehmenden (vgl. Evangelisches Allianzhaus Bad Blankenburg gGmbH, Allianzkonferenz, verfügbar unter https://allianzkonferenz.de/konfe renz-2017/, überprüft am 28. April 2018) sowie die Landes- und Bundestreffen der Verbände der Evangelischen Jugend. Auch bei dem stark auf Abenteuer und Naturerlebnis ausgerichteten jährlichen Pfadfinder-Bundeslager mit ca. 5.000 Teilnehmenden (Bund der

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Die Betonung des Erlebens und der Emotionalität muss von Anregungen zur Reflexion des Erlebten und des Glaubensinhaltes begleitet sein. Umgekehrt braucht die intellektuelle Beschäftigung mit Fragen des Glaubens und der Gesellschaft die Ergänzung durch liturgische Vollzüge, wie die Entwicklung der Studierendengemeinden zeigt. Schließlich ist auch die Spannung zwischen Kontemplation und Aktion zu nennen, wie sie besonders in Freiwilligendiensten und ihrer geistlichen Begleitung greifbar wird. Insgesamt bietet die Evangelische Jugendarbeit Kindern und Jugendlichen vielfältige Gelegenheiten, ihre eigene Spiritualität wahrzunehmen, zu entfalten und zu üben, und die Freiheit, mit neuen Formen zu experimentieren. Es ist zu wünschen, dass die evangelischen Kirchen auch künftig die spirituelle Entwicklung in der Kinder- und Jugendphase durch Hauptamtliche und die Ausbildung Ehrenamtlicher begleiten. Dies erscheint angesichts zurückgehender spiritueller Vorprägung durch das familiäre Umfeld besonders nötig. Durch das eigene Erleben können junge Menschen Zugang und Verständnis zu überkommenen Formen gelebten Glaubens, aber auch neue Formen für den Ausdruck ihres eigenen Glaubens finden. Wenn die Formen der Spiritualität, die Jugendliche für sich entdecken und entwickeln, Heimat in den bestehenden Gemeinden finden, wird das der Lebendigkeit und Attraktivität der evangelischen Kirche auch in Zukunft dienen.

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Thomas Popp/Michael Wolf

Bibelbezogen und biografienah Hauskreise als Erfahrungsräume evangelischer Spiritualität

Hauskreise sind eine zeitgemäße Form mit langer Tradition, um evangelische Spiritualität im Alltag erfahrungsorientiert zu leben.1 Zunächst werden im Anschluss an Peter Zimmerling Kennzeichen evangelischer Spiritualität skizziert, um dann vor dem Hintergrund der Bedeutung von Hauskreisen in Geschichte und Gegenwart die aktuelle spirituelle Praxis anzuvisieren.

1.

Evangelische Spiritualität

Evangelische Spiritualität zeichnet sich dadurch aus, dass sie vor allem aus der Inspirationsquelle des Wortes Gottes und der Sakramente Taufe und Abendmahl schöpft und lebt. Sie tut gut daran, sich in zeitgemäßer Fortschreibung an dem in den vier Exklusivpartikeln konzentriert zur Sprache gekommenen reformatorischen Rechtfertigungsverständnis zu orientieren:2 (1) Für eine erneuerte evangelische Spiritualität besteht die Herausforderung der Christuszentrierung (solus Christus) in der Wiedergewinnung des Glaubens an den dreieinigen Gott und somit in einer trinitarisch geprägten Spiritualität.3 Das bedeutet im Blick auf den dritten Glaubensartikel, dass in der vom Geist begabten Gemeinde Diversität der unterschiedlichen Begabungen und Einheit in Liebe einander bedingen.

1 Vgl. Herbst, Hauskirche, 1482: „Neben der sonntäglichen ‚Vollversammlung‘ im Gottesdienst ermöglichen Hauskreise persönliche Gemeinschaft, Einübung in christliche Spiritualität und gegenseitige Hilfe und Seelsorge.“ Zur gemeinsamen Einübung einer elementaren Spiritualität mit dem gemeinsamen Hören im Zentrum vgl. ders., Gemeindeaufbau, 354f; ders., Volkskirche, 91f; Zimmermann, Gemeinde, 476–498. 2 Vgl. Zimmerling, Spiritualität, 27–48; ders., Potential, 33f; zu den auf die Konkordienformel (Epitome III; Solida Declaratio III) zurückgehenden particulae exclusivae (= ausschließende Kurzformeln) vgl. auch Leppin, Ausschließlichkeitsformeln, 90–94. 3 Vgl. Zimmerling, Spiritualität, 27–31.

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(2) Die Konzentration auf die Bibel (sola scriptura) ist nicht als Traditionsvergessenheit misszuverstehen.4 Die Bibel will nicht museal verehrt werden, sondern als lebendige Stimme des Evangeliums (viva vox evangelii) den Menschen unmittelbar ansprechen. Damit korreliert ein Verständnis von Theologie als wesentlich existenziell und erfahrungsbezogen.5 (3) Die Überwindung der billigen Gnade ist die Herausforderung, vor der eine Konzentration auf Gottes voraussetzungslose Annahme des Menschen (sola gratia) steht.6 Sie ist mit Dietrich Bonhoeffer nicht im Sinne der billigen Gnade zu verstehen, sondern mit Blick auf die Bergpredigt als in die Nachfolge Jesu rufende teure Gnade.7 (4) Die Konzentration auf den Glauben (sola fide) steht vor der Herausforderung der Reintegration von Sozialität und Erfahrung.8 Das bedeutet, das gemeinsame Leben unter den Gemeindegliedern über die Gottesdienstgemeinschaft hinaus zu fördern. Hauskreise gehören zu den aktuellen Ansätzen für gemeinsames, verbindliches und erfahrungsbezogenes Christsein.9

2.

Blick zurück nach vorn: Was sind Hauskreise?

Dem Neuen Testament zufolge zieht Glaube auf vielfältige Weise Kreise. In einigen neutestamentlichen Entwürfen spielt das Haus als Ort des Glaubens eine zentrale Rolle.10 Hausgemeinden waren beispielsweise eine basale Lebens- und Organisationsform der Jerusalemer Urgemeinde sowie des paulinischen und johanneischen Gemeindeverbandes. Der durch den Glauben an Christus egalitärfreundschaftlich geprägte Lebensstil der sich hausweise gruppierenden frühen Christen war in der hierarchisch strukturierten antiken Gesellschaft eine attraktive Alternative. Dieser Lebensstil lässt sich als konvivial bezeichnen.11 4 5 6 7 8 9 10 11

Vgl. a. a. O., 31–34. Vgl. a. a. O., 31f.38f.; zur Beziehung von Theologie und Spiritualität vgl. a. a. O., 16–22. Vgl. Zimmerling, Spiritualität, 34–36. Vgl. dazu im Rekurs auf Bonhoeffers Buch „Nachfolge“ a. a. O., 35; vgl. auch Schödl, Bonhoeffer, 109–183; Hennecke, Kirche, 235–244. Vgl. Zimmerling, Spiritualität, 36–39; zur Gemeinschaftsdimension evangelischer Spiritualität vgl. auch a. a. O., 228–242; zur Spiritualität in Gemeinschaft aus katholischer Perspektive vgl. Hennecke, Kirche, 220–226. Vgl. Zimmerling, Spiritualität, 37f.237. Zu den Hausgemeinden im NT vgl. nur Klauck, Gemeinde; Blohm, Weise, 31–42; Pompe; Atem, 11–107; Popp, Freunde, 70–83; Schönheit, Gemeinde, 264–266; Moynagh, Expressions, 21–25. Zum Begriff der Konvivenz vgl. im Anschluss an Sundermeier Popp, Konvivenz, 17–27; zur Bedeutung des ‚Hauses‘ als Ort der Konvivenz vgl. Zimmermann, Gemeinde, 478f.482.

Bibelbezogen und biografienah

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Konvivenz umfasst drei Ebenen: (1) gegenseitige Hilfe, (2) wechselseitiges Lernen, (3) gemeinsames Feiern. Das ideale lukanische Gemeindemodell führt die frühen Christen so vor Augen, dass sie einander mit ihren Gütern halfen, voneinander lernten und miteinander feierten (vgl. Apg 2,42–47). Im Kern sind vier Aspekte spiritueller Konvivenz konstitutiv (Apg 2,42): Beständiges Bleiben (1) in der Lehre, (2) in der Gemeinschaft, (3) im Brotbrechen, (4) im Gebet. Diese Basiselemente einer gemeindlich-geerdeten Spiritualität lassen sich unschwer mit den vier bzw. – unter Einbeziehung der Paideia – fünf Dimensionen der Kommunikation des Evangeliums korrelieren:12 (1) Martyria (Verkündigung und Zeugnis), (2) Koinonia (Gemeinschaftsbildung), (3) Diakonia (helfendes Handeln), (4) Leiturgia (Gottesdienst), (5) Paideia (Bildung). Martin Luther plädierte – ohne expliziten Bezug auf neutestamentliche Hausgemeinden – in seiner Schrift „Deutsche Messe und Ordnung des Gottesdienstes“ (1526) nach dem lateinischen und deutschen Gottesdienst für eine „dritte Weise“ für „diejenigen, die mit Ernst Christen sein wollen und das Evangelium mit der Tat und mit Mund bekennen“.13 Dieses Plädoyer bedeutet nicht, dass die ersten beiden Gottesdienstformen insuffizient wären und die nur in dieser Schrift skizzierte dritte Form ausschlaggebenden Vorbildcharakter hätte.14 Luthers Vision zufolge müssten sich Menschen für die dritte Weise „mit Namen (in einer Liste) einzeichnen und sich etwa in einem Haufen für sich allein versammeln zum Gebet, (die Schrift) zu lesen, zu taufen, das Sakrament zu empfangen und andere christliche Werke zu üben.“15 Der Reformator sah dafür aber noch keine geeigneten Personen: „Denn wir Deutschen sind ein wildes, rohes, tobendes Volk, mit dem nicht leicht etwas anzufangen ist, es treibe denn die höchste Not.“16 Alle Getauften und Glaubenden sind grundsätzlich Priester (vgl. 1Petr 2,5.9) bzw. Gottgelehrte (vgl. Joh 6,45), sodass der Familie bzw. dem häuslichen Gottesdienst ein hoher Stellenwert für die Kommunikation des Evangeliums zu-

12 Zu diesen Grunddimensionen vgl. Zimmermann, Gemeinde, 140–142; Zippert, DiakonInnenamt, 96f.; Noller, Diakonat, 398–404; zu den Kommunikationsmodi des Evangeliums vgl. auch Grethlein, Theologie, 163–167.253–326.493–571 (Lehren und lernen; gemeinschaftliches Feiern; Helfen zum Leben). 13 WA 19, 75, zit. n. Aland, Luther Deutsch 6, 89; zur dritten Weise des Gottesdienstes vgl. Blohm, Weise, 17–30; Herbst, Gemeindeaufbau, 350f.354; ders., Hauskirche, 1482; Masemann, Hauskreise, 14–16; Douglass, Reformation, 181f. 14 Vgl. Hofmann, Hauskreise, 17 (in kritischer Auseinandersetzung mit Blohm); zur Kritik an einer evangelikalen Inanspruchnahme Luthers als Vater der Hauskreis-Idee vgl. ders., Luther, 150–157. 15 WA 19, 75, zit. n. Aland, Luther Deutsch 6, 89. 16 A. a. O., 90.

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kommt.17 In einer adäquaten Gestaltung der kirchlichen Praxis blieb Luther jedoch hinter seiner biblisch-theologischen Einsicht zurück. Immerhin hat der Reformator eine Form von Hausgemeinde mit regelmäßigen Andachten geschaffen, zu der alle Mitglieder einer Großfamilie gehörten. Die Hauskreisbewegung ist in Deutschland seit etwa 1975 in Schwung gekommen.18 Hauskreise nehmen Aspekte auf, die in den im Neuen Testament vorhandenen sowie von Luther visionär angedachten Hausgemeinden prototypisch angelegt sind: Eine überschaubare Kleingruppe (ca. fünf bis fünfzehn Personen), in der Regel ein Privathaus bzw. eine Wohnung mit persönlicher Atmosphäre als Treffpunkt, ein spiritueller Ort des Bibellesens, Betens, Singens und Segnens, ein Raum für Abendmahls- und Agapefeiern, ein Stück Lebensgemeinschaft, wechselseitige Solidarität, missionarische Möglichkeiten und diakonisches Engagement.19 Dabei kann je nach Akzentuierung der Beziehung zu Gott, untereinander und zur Mitwelt zwischen vertiefenden und missionarischen Hauskreisen differenziert werden.20 Die Hauskreisarbeit der aus der Gemeinschaftsbewegung entstandenen landeskirchlichen Gemeinschaften räumt der intensiven Gemeinschaftspflege, dem persönlichen Gebet und der Beschäftigung mit der Bibel zentrale Bedeutung ein. Die moderne Hauskreisbewegung nimmt diese Anliegen auf. Allerdings bildet sich hier eine größere Diversifizierung der Interessen und Milieus ab. Persönliche Glaubens- und Persönlichkeitsentwicklung, gesellschaftliche Fragestellungen und sozialräumliches Denken kommen zunehmend in den Blick. Entsprechend motivieren auch aus der anglikanischen Kirche kommende, unter „fresh expressions of church“ firmierende Gemeindeentwicklungsimpulse zu einer stärkeren missionarisch-diakonischen Sozialraumorientierung.21 Hauskreise sind insofern paradigmatisch für ein vernetztes Miteinander der Verschiedenen, dass in ihnen sehr oft Menschen aus unterschiedlichen Gemeinden und Konfessionen zusammenfinden.22 Sie sind somit Keimzellen der Ökumene. 17 Vgl. Zimmerling, Potential, 34f. 18 Vgl. Herbst, Gemeindeaufbau, 406; Douglass, Reformation, 183. 19 Zu Kennzeichen einer lebendigen Gemeinde bzw. ganzheitlicher Kleingruppen im Anschluss an Apg 2,42–47 vgl .auch Douglass, Reformation, 188–192; ders., Idealbild, 6–10: (1) Festhalten an der Lehre der Apostel, (2) intensive Gemeinschaft, (3), Feier des Abendmahls, (4) leidenschaftliche Spiritualität, (5) Freude und Begeisterung, (6) Interesse an den Menschen und (7) missionarische Wirkung bzw. Glaube, der Kreise zieht; zu einer von Hingabe, Begeisterung und Strahlkraft geprägten Spiritualität unter besonderer Berücksichtigung der Gottesliebe vgl. auch ders., Reformation, 67–85. 20 Vgl. Herbst, Gemeindeaufbau, 407f; zu den verschiedenen Typen vgl. auch Hofmann, Hauskreise, 18f.; Schönheit, Gemeinde, 45–53. 21 Zu Fresh Expressions of Church vgl. Herbst (Hg.), Mission; Pompe u. a. (Hg.), Kirche; Moynagh, Expressions. 22 Vgl. Popp, Hauskreise, 18–21.

Bibelbezogen und biografienah

3.

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Erfahrbare evangelische Spiritualität in Hauskreisen

Ein Hauskreistreffen durchläuft idealtypisch sieben Phasen:23 (1) Lieder-Zyklus, (2) Gegenseitiges Blitzlicht, (3) Gemeinsames Dank-Gebet, (4) Impulse aus der Bibel, (5) Bitt- und Fürbitt-Gebet, (6) Wunschlied-Runde, (7) Festhalt-Runde. In diesen Phasen vollziehen sich Grundschritte einer elementaren gemeinsamen Spiritualität:24 (1) Kommen (Begrüßung, erste Wortwechsel, Singen), (2) Schweigen (Einstimmung auf das Hören), (3) Hören (auf das biblische Wort), (4) Austauschen (über das Gehörte), (5) Antworten (auf das Gehörte im Gebet), (6) Feiern (Feste in der Freizeit; Abendmahl), (7) Gehen (in die Alltagswelt als Gesandtwerden). Die Beschäftigung mit biblischen Texten oder Themen bildet bei aller Bandbreite der spirituellen Praxis von Hauskreisen mehrheitlich das Zentrum.25

3.1

Bibel

Hauskreise bieten Raum, um der Bibel, sich selbst und Anderen biografienah zu begegnen: „In solchen kleinen Gruppen gelingt es leichter, die persönliche Lebens- und Glaubensbiographie der einzelnen, also ihre eigene ‚Glaubensbiographie‘ ausdrücklich zur Sprache zu bringen. […] Dies geschieht v. a. durch das gemeinsame Gespräch über den Glauben und seine Beziehung zum Leben, durch Bibelgespräche, durch persönlich gestaltete Gebete und Gottesdienste, durch gemeinsames Meditieren und Beten, aber auch durch daraus erwachsende Initiativen für die Gemeinde, für Notleidende oder für aktuelle gesellschaftliche Fragen.“26

Der Kontakt mit den fremden Geschichten der Bibel und den Lebens- und Glaubensgeschichten der Anderen ermöglicht, neue Blickwinkel auf die eigene 23 Vgl. Plinke, Phasen, 41–43; zur festen Grundstruktur der meisten Hauskreise vgl. auch Blohm, Weise, 121.123 (Singen zum Beginn – Anfangsgebet – Bibellese und Austausch darüber – Gebet oder Gebetsgemeinschaft); zu weiteren, an verschiedenen Stellen einfügbaren Elementen vgl. a. a. O., 121f. (stille Zeit – Austausch über persönliche Gebetsanliegen – Austausch über Erlebnisse oder Probleme einzelner Mitglieder – Vater unser und Segenswunsch – gemütliches Beisammensein und/oder Lieder zum Abschluss); zum Grundmuster eines Hauskreises mit der Entwicklung einer eigenen ‚Liturgie‘ vgl. ferner Herbst, Gemeindeaufbau, 354f.408; Reininghaus, Religion, 108f; zur Affinität der Phasen eines Gottesdienstes und eines Hauskreises vgl. Popp, Elemente, 32–39. 24 Vgl. Herbst, Gemeindeaufbau, 354f. 25 Vgl. dazu im Rekurs auf eine empirische Erhebung Blohm, Weise, 123–125.206; zur intensiven Bibelarbeit als Kennzeichen eines guten Hauskreises vgl. a. a. O., 190–194.220.227; zur zentralen Bedeutung der Arbeit mit der Bibel in Hauskreisen vgl. auch Herbst, Gemeindeaufbau, 354f; Schönheit, Gemeinde, 107–123. 26 Kehl, Kirche, 151; zu diesem Biografiebezug vgl. auch Hofmann, Hauskreise, 18f.

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Biografie kennenzulernen. Christliche Spiritualität offeriert dabei die Perspektive, die eigene Lebensgeschichte und die der Anderen im Gebet in den Blick der göttlichen Güte zu stellen.27 Für die Arbeit mit der Bibel stehen Hauskreisen ein breites Spektrum an Büchern, Zeitschriften (z. B. „Bibel aktuell“; „HauskreisMagazin“) sowie Rundbriefe und Arbeitshilfen zur Verfügung. Sie helfen, das intensive Hören auf das in der Bibel zu vernehmende Wort Gottes mit anschließendem Austausch der Gedanken, Assoziationen, Impressionen und Fragen auf methodisch abwechslungsreiche Weise zu gestalten. Ein in Hauskreisen bzw. im katholischen Kontext in „Kleinen Christlichen Gemeinschaften“ praktizierter Klassiker ist „Bibel teilen“.28 Dabei handelt es sich nicht nur um eine partnerschaftliche Methode der Bibelarbeit, sondern um eine in sieben Schritten erfolgende Form, gemeinsam auf Gottes Wort zu hören und es im eigenen Lebenskontext zu praktizieren. Aus der Fülle der kreativen Möglichkeiten im Hauskreis sei die erfahrungsbezogene Bibelarbeit mit bibliodramatischen bzw. bibliologischen Elementen, Identifikationen, Aktualisierungen, Körpererfahrungen sowie kreativen Formen des Lesens (z. B. chorisches Lesen, Stimmencluster, Echolesen, szenisches Lesen) genannt.29 Eine inzwischen vielfach praxiserprobte Form der biografienahen und leibhaftigen Begegnung mit biblischen Texten ist deren Begehung.30 Von Zeit zu Zeit macht sich so mancher Hauskreis auf den Weg, um biblische Geschichten zu begehen, d. h., sie gemeinsam im Gehen im Herzen zu bewegen. Dabei werden die Teilnehmenden durch wenige Impulse angeleitet, schweigend, hörend, redend und singend den einzelnen Szenen des Textes auf einem Stationenweg in der Natur nachzusinnen.

3.2

Tauferinnerung, Abendmahl, Agapefeier und weitere liturgische Formen

Das Grunddatum christlicher Spiritualität ist die Taufe (vgl. Röm 6).31 In ihr wird das ‚sola gratia‘ und ‚sola fide‘ sinnenfällig erfahrbar. Die heilsame Erinnerung an die unbedingte göttliche Anerkennung kann in Begehungen zu auf die Taufe 27 Zum Gebet als „Flucht in den Blick der Güte“ vgl. Steffensky, Charme, 11–30. 28 Zu diesem Modell im Rahmen Kleiner Christlicher Gemeinschaften vgl. Hirmer/Steins, Gemeinschaft; Hennecke, Gemeinschaften, 16–21; zur Rezeption in der Evangelischen Kirche vgl. Gesangbuch, 1524. 29 Vgl. dazu Pols, Chancen, 16–24; dies., Bibelarbeit, 25–28; zu kreativ-sinnlichen Beispielen der Bibelarbeit im Hauskreis vgl. Schönheit, Gemeinde, 114–122. 30 Vgl. Popp, Bibel, 28–31. 31 Zur Bedeutung der Taufe für die evangelische Spiritualität vgl. Zimmerling, Spiritualität, 216– 219; zur Tauferinnerung vgl. Grethlein, Taufpraxis, 142–149; in Bezug auf Kleingruppen vgl. Sachs, Wegzehrung, 98–100.

Bibelbezogen und biografienah

107

bezogenen Texten integriert werden.32 Besonders geeignet ist ein Weg durch die Landschaft, der ruhig ist und an einer Wasserstelle als Station für die Tauferinnerung vorbeiführt. Solche Tauferinnerungswege bringen im Konnex mit dem Abendmahl und der Agapefeier in Hauskreisen die konvivial-sakramentale Dimension evangelischer Spiritualität zum Ausdruck. Es ist gängige Praxis, dass insbesondere gemeindliche Hauskreise die Abendmahlsgottesdienste der Gemeinde mitfeiern. Die Wertschätzung der spirituell-gemeinschaftlichen Kraft des Abendmahls zeigt sich in der wachsenden Sehnsucht, Sakramentsgemeinschaft im Hauskreis eigenverantwortlich zu gestalten und so die geistliche Gemeinschaft leibhaftig zu vertiefen.33 Da im landeskirchlichen Kontext eine ordentliche Beauftragung für die Sakramentsverwaltung nötig ist, laden Hauskreise entsprechend beauftragte Menschen ein, um die Abendmahlsfeier zu leiten, oder feiern das Abendmahl nach einvernehmlicher Absprache mit der Gemeindeleitung.34 Dabei wird die Frage der eigenständigen Feier des Abendmahls im Hauskreis nicht nur auf der Ebene von Kirchen- und Gemeindeleitungen, sondern auch in Hauskreisen kontrovers diskutiert.35 Wie in den frühchristlichen Gemeinden (vgl. 1Kor 11,17–34) wird das Abendmahl im Hauskreis gelegentlich mit einem Sättigungsmahl verknüpft. Inspirationsquelle für diese Verbindung von Abend- und Agapemahl war u. a. die Wiederentdeckung des Feierabendmahls durch den Deutschen Evangelischen Kirchentag.36 Im Blick auf den biblischen Befund dürfen Abend- und Agapemahl nicht einander entgegengesetzt werden.37 Beide Feiern können selbstständig praktiziert werden. Das Agapemahl ohne Abendmahl lässt sich als liturgisch gestaltetes festliches Essen im Anschluss an die jesuanische Praxis des gemein-

32 Zur rechtfertigenden Gnade als unbedingter Anerkennung vgl. nur Popp, Konvivenz, 57– 63.458–461.471–473; zu einem Tauferinnerungsweg vgl. exemplarisch ders., Freunde, 231– 233 (zu Joh 19,25; 20,1f.11–18). 33 Vgl. Blohm, Weise, 141.145f.190–192.220; zur Bedeutung des Abendmahls für die evangelische Spiritualität vgl. Zimmerling, Spiritualität, 219–222; in Bezug auf Kleingruppen vgl. Sachs, Wegzehrung, 101–107. 34 Zum Abendmahl im Hauskreis unter Berücksichtigung der umstrittenen Frage der Leitung von Abendmahlsfeiern durch erfahrene Gemeindeglieder bzw. ausgebildete und beauftragte Hauskreisverantwortliche vgl. Blohm, Weise, 140–151.226f; Plinke, Abendmahl, 55–64; ders., Gottesdienstliches, 12–21; Douglass, Reformation, 190; ders., Liebe, 201–206. 35 Vgl. Blohm, Weise, 140.226. 36 Vgl. Zimmerling, Spiritualität, 221; zum Feierabendmahl vgl. auch Grethlein, Abendmahl, 129.156.185–190.202f.222–224; zur frühchristlichen Agapefeier vgl. a. a. O., 25–28; Söding, Agapefeier, 178. 37 Zur problematischen dogmatischen Setzung einer Entgegensetzung von Abend- und Agapemahl vor allem durch die VELKD-Leitlinien vgl. Grethlein, Abendmahl, 152.160f. 167.203.214.220.254.

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samen Essens und Trinkens feiern.38 Für die Gestaltung der Agapefeier ist im Unterschied zur Einsetzung des Abendmahls in der verfassten Kirche keine Beauftragung notwendig. Dadurch eröffnen sich für Hauskreise auch ohne Beteiligung ordinierter oder entsprechend beauftragter Personen Spielräume, um im landeskirchlichen Kontext in den Spuren Jesu intensive Gemeinschaft in Gestalt von festlichen Mahlzeiten zu erfahren.39 In Analogie zu den Tauferinnerungswegen können auch Begehungen zu biblischen Texten zum gemeinsamen Essen und Trinken mit einem Abendmahl und/oder einer Agapefeier verknüpft werden.40 Zudem gibt es eine Fülle von Formen, durch die in Hauskreisen eine liturgisch geprägte Spiritualität praktiziert wird. Impulse aus unterschiedlichen Bewegungen vertiefen die praxis pietatis, indem der Alltag durch kleine liturgische Formen rhythmisiert wird. Dieser alte Schatz wird unter dem Begriff „new liturgy“ neu gehoben, indem er mit aktuellen Texten und Musik verknüpft wird.41 Hauskreise eignen sich sehr gut, um solche alten und neuen liturgischen Formen zu praktizieren. Anfang und Ende oder von Zeit zu Zeit ein ganzes Hauskreistreffen können liturgisch gestaltet sein. Eine beliebte Form ist die „Sonntagsbegrüßung“ im Rekurs auf die jüdische Tradition der Sabbatbegrüßung.42 Speziell für Hauskreise und Kleingruppen wurde ein Handbuch konzipiert, das die Themen Sabbat, Sabbatjahr und Schalom theologisch und liturgisch entfaltet.43

3.3

Gebet

Das Gebet spielt in vielen Hauskreisen eine große Rolle.44 Viele sind Lern- und Experimentierorte gemeinsamen Betens. Menschen lernen im geschützten Rahmen, eigene Worte zu finden und verschiedene Gebetsformen auszuprobieren. Traditionell wird in zahlreichen Hauskreisen Gebetsgemeinschaft praktiziert, indem eigene Worte verwendet werden. Diese Form ist für viele Menschen 38 Vgl. dazu Gesangbuch, 1507f; Tergau-Harms, Agape, 173f. 39 Zur Agapefeier im Hauskreis vgl. Popp, Agapefeier, 49–54; zu Grundlagen und Modellen der Agapefeier vgl. Eigenmann u. a. (Hg.), Agape; Fuchs, Agape-Feiern, 43–107; Tergau-Harms, Agape, 173–180. 40 Vgl. dazu exemplarisch Popp, Freunde, 160–162 (Abendmahl und/oder Agapefeier zu Joh 21,1–14) 41 Vgl. exemplarisch Steinbach, Lebensliturgie Tagzeitengebete für den Alltag (http://www.church convention.de/cc/wp-content/uploads/2015/04/lebensliturgie_tagzeitengebete.pdf, abgerufen am 26.09. 2018). 42 Vgl. Amt der VELKD (Hg.), Sonntagsbegrüßung; Joest, Sonntag. 43 Vgl. Rößner, Lebensstil; vgl. auch Plinke, Seele, 20–23. 44 Vgl. Blohm, Weise, 132–134.208f; Schönheit, Gemeinde, 125–144.

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schwierig, weil sie nicht eingeübt ist und eine intime Ausdrucksweise des persönlichen Glaubens darstellt.45 Daneben gibt es viele andere Arten des Gebets, die im Hauskreis praktiziert werden, z. B. das Jesusgebet, der Lobpreis, die Psalmen und das schweigende Beten mit oder ohne Gebärden.46 Auch zum Thema Gebet ist ein Kleingruppen-Handbuch entwickelt worden, das mit dem Vaterunser als Leittext zu neuen Zugängen zum Gebet einlädt.47 Nicht zuletzt bietet Dietrich Bonhoeffers Klassiker „Gemeinsames Leben“ für Hauskreise geistvolle Impulse zur Theologie und Praxis des Gebets in der Spannungseinheit von Kontemplation und Aktion.48

3.4

Gemeinschaft

Verbindliche Gemeinschaft ist das Herzstück vieler Hauskreise.49 Damit stehen sie zum einen in der Wirkungsgeschichte von Apg 2,42, wonach geistliche Gemeinschaft (Koinonia) als soziale Gotteserfahrung zu den vier Wesensmerkmalen der Jerusalemer Urgemeinde gehörte. Zum anderen sind Hauskreise eine Antwort auf die aktuelle Herausforderung, Individualität und Sozialität im Glauben miteinander zu verbinden. Die in Alltag und Freizeit erlebte Gemeinschaft ist mehrdimensional: „Sie verknüpft in ansprechender Weise die thematisch-inhaltliche, die persönliche und geistliche Ebene im Hauskreis zu einem Ganzen. Qualifiziert wird dieses Ganze von Vertrauen, Verbindlichkeit, Persönlichkeit, Vertrautheit, Offenheit und Intensität.“50 Hauskreise sind gut beraten, sich von Dietrich Bonhoeffers Buch „Gemeinsames Leben“ heilsam „ent-täuschen“ zu lassen.51 Es befreit aus der verklärendromantischen Täuschung, in einer christlichen Gemeinschaft wie etwa einem Hauskreis müssten alle ein Herz und eine Seele sein: „Christliche Gemeinschaft heißt Gemeinschaft durch Jesus Christus und in Jesus Christus. […] Von der einmaligen Begegnung bis zur langjährigen täglichen Gemeinschaft ist christli-

45 Vgl. Douglass, Beten, 160f. 46 Vgl. a. a. O.; ders., Liebe, 117f; Brusche, Singen, 34f; Pols, Beten, 8–15. 47 Vgl. Römer, Lebenszeichen; zum Vaterunser mit allen Sinnen im Hauskreis vgl. auch Schubert, Vaterunser, 54–57. 48 Vgl. Bonhoeffer, Gemeinsames Leben, 35–76; zu Bonhoeffers Buch ‚Gemeinsames Leben‘ als starkem Impuls für evangelische Spiritualität heute vgl. Zimmerling, Spiritualität, 37.41.122– 124.231.235f.; ders., Bonhoeffer, 45f.57–76; Schödl, Bonhoeffer, 185–256. 49 Vgl. Blohm, Weise, 134–137.190–195.209.220f.224; Schönheit, Gemeinde, 85–105. 50 Blohm, Weise, 135. 51 Zur heilsamen Enttäuschung vgl. Bonhoeffer, Gemeinsames Leben, 23–26, im Blick auf Hauskreise vgl. Popp, Ent-Täuschung, 14–16.

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che Gemeinschaft nur dieses. Wir gehören einander allein durch und in Jesus Christus.“52 Eine spezifische Gemeinschaftsform ist die von Christus selbst in der Mitte der johanneischen Abschiedsreden zugesprochene Freundschaft mit ihm (Joh 15,13–15). Entsprechend kann das johanneische Gemeindemodell als „die Gemeinschaft der Freunde Jesu“ (J. Roloff) bzw. als „Freundeskreis Jesu“ (T. Söding) klassifiziert werden.53. Dieser christologisch-ekklesiologische Entwurf eines geistlichen Freundschaftsnetzwerks ist auch für Hauskreise modellhaft.54 Sie kultivieren eine mystische Spiritualität der Gottesfreundschaft und animieren zugleich ihre Mitwelt auf gastfreundliche Weise zu dieser innigen Beziehung.55

3.5

Gesang

In Hauskreisen bietet sich die Chance, miteinander zu singen, eigene Liedwünsche einzubringen und in ökumenischer Weite Liedgut aus unterschiedlichen kirchlichen Traditionen kennenzulernen.56 Je nach Tradition und Prägung werden Lieder aus dem Evangelischen Gesangbuch oder aus anderen Liederbüchern oft zu Beginn oder zum Abschluss gesungen. Gerade im Bereich der Lobpreis- und Anbetungslieder ist neues geistliches Liedgut entstanden, das in vielen Hauskreisen Anklang gefunden hat. Die Wiederentdeckung des Lobes ist im Zusammenspiel mit Bitte, Fürbitte, Dank und Klage ein großer Gewinn für evangelische Spiritualität.57 Die Erfahrung mit unterschiedlichem Liedgut kann auch das gemeindliche Leben bereichern, z. B. durch Mitgestaltung von Gottesdiensten, Glaubenskursen und Gemeindefreizeiten. 52 Bonhoeffer, Gemeinsames Leben, 18; zu dieser Christozentrik vgl. pointiert auch a. a. O., 22.34. Mit seiner exklusiven Trennung von menschenzentrierter seelischer und christuszentrierter geistlicher Gemeinschaft räumt Bonhoeffer – zeitgeschichtlich mehr als verständlich – der zum Menschsein genuin gehörenden Emotionalität als in die christliche Gemeinschaft zu inkludierender Dimension nicht den nötigen Raum ein; vgl. dazu Zimmerling, Spiritualität, 231.235f. 53 Vgl. Roloff, Kirche, 290–309; Söding, Blick, 155–163; zur Kirche als Freundesgemeinschaft im NT unter besonderer Berücksichtigung der johanneischen Schriften vgl. Klauck, Gemeinde, 95–123. 54 Vgl. Popp, Freunde; zur Tendenz christlicher Gemeinschaft zur Freundschaft in Bezug auf Hauskreise vgl. auch Herbst, Volkskirche, 89f.95. 55 Nach Sundermeier, Mission, 53, ist Mission im johanneischen Sinn „Einladung zur Gottesfreundschaft und kennt deshalb keinen Zwang.“ 56 Vgl. Blohm, Weise, 131.208; zum Singen im Hauskreis vgl. auch Reininghaus, Religion, 87–93; Brusche, Singen, 32. 57 Vgl. Douglass, Liebe, 123–138.

Bibelbezogen und biografienah

3.6

111

Segen

Ursprünglich hat der Segen seinen Sitz im Leben nicht im Kultus, sondern im Familienverband der Sippe. Im Alten Testament segnen neben den Priestern auch Propheten und vor allem Väter.58 Hauskreise sind passende Orte, um das Priestertum der Getauften und Glaubenden zu leben. Jeder Christ empfängt Segen und ist zugleich berufen, Andere zu segnen. Deswegen wird in vielen Hauskreisen der Segen am Ende zugeprochen und das Segnen mit Handauflegung praktiziert. Persönlicher Segenszuspruch mit Handauflegung ist für viele Menschen ermutigend und berührend.59 Das gilt besonders für den Gesegneten, aber auch für den Segnenden.60 In manchen Hauskreisen wird zudem die Salbung praktiziert.61 Als Orte des Segnens und Salbens erweisen sich Hauskreise als heilende Gemeinschaft.62 Darüber hinaus befruchten Hauskreismitglieder eine gemeindliche Kultur des Segens, indem sie z. B. an Segnungsgottesdiensten mitwirken oder zu Segnungsteams im Rahmen von Glaubenskursen und Gemeindefreizeiten gehören. Die in Hauskreisen praktizierte heilsame Spiritualität zieht so über den eigenen Kontext hinaus Kreise. Sie ist daher im Sinne der Missio Dei auch eine der Mitwelt dienende missionarische Spiritualität.

4.

Fazit

Hauskreise sind eine biblisch inspirierte und zeitgemäße Form für die Praxis einer sich an Apg 2,42 sowie den vier Exklusivpartikeln orientierenden und die gegenwärtigen Herausforderungen berücksichtigenden evangelischen Spiritualität: (1) Die Gemeinschaft bzw. Freundschaft mit Jesus Christus begründet das gemeinschaftliche bzw. freundschaftliche Miteinander mündiger, unterschiedlich begabter sowie konfessionell verschiedener Christinnen und Christen. (2) Da die Begegnung mit der Bibel im Zentrum vieler Hauskreise steht, zählen sie auf dem Feld der Gemeindefrömmigkeit zu den Ansätzen der Wiederentdeckung der Bibel als Quelle evangelischer Spiritualität. Hauskreise eig58 59 60 61

Vgl. a. a. O., 214. Vgl. Douglass, Beten, 291f. Vgl. Douglass, Liebe, 208. Zu dieser Segnungspraxis vgl. Douglass, Beten, 295f; zur sinnlich spürbaren emotionalen und somatischen Erfahrung durch Segnung und Krankensalbung vgl. auch Zimmerling, Spiritualität, 39. 62 Zum Hauskreis als heilender Gemeinschaft vgl. Schönheit, Gemeinde, 145–162.

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nen sich ausgezeichnet als Orte der Einübung in das Bibellesen und Beten. Sie leben die für evangelische Spiritualität wesentliche Einheit von Individualität und Sozialität. Die eigene Lebensgeschichte wird mit der biblisch bezeugten Geschichte Gottes und den Lebensgeschichten der Anderen ins Gespräch, ins Beten, ins Singen und Segnen gebracht und so der Glaube biografiebezogen gestärkt. (3) Die in Hauskreisen praktizierte Spiritualität ist in Entsprechung zur basalen Bedeutung von Wort und Sakrament in der evangelischen Theologie und Kirche außer durch die Konzentration auf die Bibel auch durch den bewussten Bezug auf die Taufe sowie auf Abendmahl und Agapefeier geprägt. (4) Hauskreise begnügen sich in der Regel nicht mit der internen Beziehungspflege, sondern strahlen die geschenkte Gnade durch vielfältiges Engagement missionarisch aus. Summa summarum: Hauskreise sind als konviviale und kreative spirituelle Erfahrungsräume ein Stück kirchlicher Zukunft mit neutestamentlicher Herkunft.63 In dieser ganzheitlichen Kleingruppenform kommen alle fünf Grunddimensionen der Kommunikation des Evangeliums zum Ausdruck (Martyria, Koinonia, Diakonia, Leiturgia, Paideia). Sie eignen sich als Lernorte, um Grundvollzüge evangelischer Spiritualität einzuüben. Menschen werden in Hauskreisen bibelkundig und sprachfähig im Glauben, lernen eine Vielfalt von spirituellen Formen kennen und können auf diese Weise als von Gott unbedingt Anerkannte eine authentische Spiritualität entwickeln, die Kreise zieht. Weil sie im gemeinsamen Bibellesen, Beten und Singen mit Christen aus anderen Konfessionen in der wechselseitigen Anerkennung geübt sind, können sie die Ökumene vor Ort stärken – verbunden durch Jesus Christus als die Mitte mit geistesgegenwärtiger Weite.

63 Zu Hauskreisen als Gemeinschaftsform postmoderner Zeiten vgl. Römer, Individualität, 46– 49; zur Relevanz postmoderner christlicher Kleingruppen vgl. Kurz, Kirche, 25–27.37–40.113; zur Bedeutung von Hauskreisen bzw. Kleingruppen für eine zukunftsfähige Gemeindeentwicklung vgl. Douglass, Reformation, 188–192; Zimmermann, Gemeinde, 465–485.497f.; Härle u. a., Wachsen, 325–327; zu Hauskreisen als einer Form der Kleingruppenarbeit bzw. einer wichtigen Form in der Vielfalt der Ausdrucksgestalten des einen Glaubens vgl. Herbst, Volkskirche, 100; Hofmann, Hauskreise, 20.

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Harald Schroeter-Wittke

Einladung an Unbekannt und nicht-identitäre Frömmigkeit Die Bedeutung von Kirchentagen für die Praxis evangelischer Spiritualität

Das Thema hat drei Dimensionen, die die Spiritualität auf den Ebenen der Strukturen, der Geschichte sowie der Individuen des Kirchentags beschreiben.1 1. Spiritualität wird gemeinhin Individuen zugeschrieben. Dennoch geschieht Spiritualität nicht ausschließlich in der Privatsphäre von Individuen, sondern äußert sich notwendig in Gemeinschaften. Dies führt zu der Frage, ob Organisationen und Institutionen eine bestimmte Spiritualität mit sich führen. Tatsächlich zeigt der Kirchentag eine bestimmte Spiritualität, die gemeinhin als „Kirchentagsatmosphäre“2 beschrieben wird. Ich zeige solche Strukturen anhand einer Kirchentagsbeschreibung seines Gründers Reinold von Thadden-Trieglaff auf. 2. Im Gefolge dieser Strukturbenennung kirchentäglicher Spiritualität stellt sich die Frage, ob sie sich im Laufe seiner Geschichte durchgehalten hat und wie sie in den einzelnen Phasen Gestalt gefunden hat. Dazu skizziere ich die liturgische Geschichte des Kirchentags. 3. Die dritte Ebene fragt danach, ob und inwiefern die Spiritualität auf Kirchentagen auch für den Kirchenalltag fruchtbar gemacht werden konnte. Hier kommen die Individuen zu Wort, wie sie sich in den soziologischen Befragungen zum Kirchentag zeigen.

1.

Spiritualität des Kirchentags im Anschluss an seinen Gründer Reinold von Thadden-Trieglaff

„Kirchentag, Deutscher Ev. Sammlung der ev. Christen in Deutschland in eigenem Auftrag, um ein neues Bewusstsein für öffentl. Verantwortung unter den ev. Christen zu entwickeln und die Voraussetzung für ein wirksames Laienzeugnis 1 Zum aktuellen Stand der (praktisch-theologischen) Kirchentagsforschung vgl. SchroeterWittke, Kirchentag (mit weiterer und jeweils aktualisierter Literatur). 2 Degenhardt, Rituale, 5.

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vor der Welt zu schaffen. […] Die Einladung zu diesen Tagungen ergeht an Unbekannt mit dem Ziel, die Eingeladenen unmittelbar zu Trägern der Verantwortung und zu freiw. Helfern bei der organisat. und geist. Vorbereitung zu machen. So zeichnet sich der DEKTaus durch seine Nähe zur Welt und durch sein Bemühen, die ev. Christenheit zum Bekenntnis ihres Glaubens und zum Gehorsam im Alltag zu ermutigen. Er nimmt die Zeit ernst, in die wir hineingeboren sind, die Welt, in der wir leben, den Menschen, der uns zugehört, und die christl. Gemeinde, die die Bruderschaft der Kirche Christi sichtbar macht. […] Stark ausgeprägt ist der universalkirchl. Charakter der DEKT-Bewegung“.3 Dieser Kirchentagsartikel seines Gründers Reinold von Thadden-Trieglaff (1891–1976), der 1954 im Evangelischen Soziallexikon (hg. i. A. des DEKT) erschien und eine erste Summe der Kirchentagserfahrungen der frühen 1950erJahre darstellt, macht die spirituellen Dimensionen des Kirchentags als Sammlung und Sendung deutlich: 1. Die Sammlung erfolgt „in eigenem Auftrag“,4 also nicht aufgrund von Aufrufen anderer Institutionen, z. B. von Kirchenleitungen. Der Kirchentag ist damit unabhängig – auch und gerade in seiner spirituellen Dimension, die durch diese Unabhängigkeit von Beginn an ökumenisch, universalkirchlich war. Andersgläubige waren daher immer mit einbezogen, sodass Begegnungen auf Augenhöhe stattfinden konnten, was sich später auch auf andere Religionen ausweiten ließ.5 Diese Begegnung auf Augenhöhe, die den bewussten Verzicht auf eigene Vormachtstellung impliziert, gilt dem Kirchentag als Kennzeichen ev. Spiritualität. 2. Diese Unabhängigkeit lässt sich der Kirchentag etwas kosten, wie der Berliner Kirchentagspräsident 1989, Helmut Simon, aufzeigt: „Seine besondere Chance ist, dass er sterben kann und nicht unter Überlebenszwang steht.“6 Diese Sterblichkeit des Kirchentags ist Bedingung seiner „freiwilligen“ Lebendigkeit und lässt ihn zu einem Übergangsort werden. Der Kirchentag kommt und geht. Er bespielt und besetzt eine Stadt für fünf Tage und zieht danach wieder weiter. Seine Spiritualität ist dem Zelt, dem Zirkus verwandt, weniger dem Tempel, dem Kirchengebäude. Seine Zelte werden wieder abgebrochen. Als Event eignet ihm keine stabilitas loci, sondern er fordert und fördert mobilitas loci, Bewegung, Aufbruch. Seine Spiritualität ist zeitgemäß und von dort aus raumgreifend, füllend und gestaltend. Thadden-Trieglaffs Stichworte haben daher folgende signifikante Reihenfolge: „Zeit“ – „Welt“ – „Mensch“ – „Gemeinde“, wobei letztere ihren Clou in ihrer „Sichtbarkeit“ hat. 3 Thadden-Trieglaff, Kirchentag, 593f. 4 Die im Folgenden begegnenden Stichworte in Anführungszeichen ohne Anmerkung finden sich alle in Thadden-Trieglaffs Kirchentagsartikel wieder. 5 Für den christlich-jüdischen Dialog vgl. Kammerer, Haare. 6 Simon, Abenteuer, 5.

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3. Der Kirchentag als „evangelische Wallfahrt“7 hat nichts Heiliges im Zentrum, sondern er wird heilig durch seine „unmittelbare“ Ingebrauchnahme von Menschen. Sein Brauchtum steht daher weniger in der Gefahr zu erstarren – auch dies ein Kennzeichen evangelischer Spiritualität überhaupt. 4. Der Kirchentag versteht sich schließlich als „Laienzeugnis“, als Laienbewegung, was auch seine Spiritualität prägt. Die Laien werden bei ThaddenTrieglaff im Konsens mit der damaligen ökumenischen Bewegung verstanden als „Nahtstelle zwischen Kirche und Welt“.8 Streng genommen ist der Laie evangelisch ein unmöglicher Begriff. Dennoch wird er nicht aufgegeben, weil er die Gemengelage des Spannungsmoments seiner verschiedenen Bedeutungen so mit sich trägt, dass sich viele Menschen zur Mitwirkung ermuntert fühlen. Dabei bleibt unklar, welche der folgenden Oppositionen jeweils gemeint ist: Priester – Laie / Theologe – Nichttheologe / Kirchenbeamter – Gemeindeglied / Experte – Laie. Diese spezifische Unschärfe hält den Kirchentag spannend. Im Laienbegriff Thadden-Trieglaffs kommen acht Anliegen zur Sprache, die Spiritualität und Ethik miteinander verbinden: der Anspruch Gottes auf alle Bereiche des Lebens (Barmer Theologische Erklärung Art. 2 ), die Rolle der Christen in der Welt, die Mündigkeit der Christen in der modernen Welt, die Bedeutung der Beziehungsebene gegenüber der Inhaltsebene, die Probleme um das kirchliche Amt, die Frage nach der Glaubwürdigkeit der Kirche, die diakonische Dimension der Kirche sowie das ökumenische Eingebundensein der Kirche.9 Die Laien haben in ihrem christlichen Leben und Alltag zwei Pole miteinander in Verbindung zu halten. Ihre Spiritualität ist daher alles andere als eine identitäre Bewegung; sie wird vielmehr fragmentarisch gedacht, inszeniert und erlebt.10 Dies äußert sich in der „Einladung an Unbekannt“, die die Lust auf Entdeckung des Fremden sowie die Freude an Spannung und Spannkraft, an Anspannung und Entspannung betont.

2.

Zur Geschichte der Spiritualität auf dem Kirchentag

Die Geschichte der Spiritualität auf Kirchentagen spiegelt sich in seiner liturgischen Geschichte wider. Dabei hat der Kirchentag verschiedene Interpretationen erfahren, die alle wesentliche Aspekte dieser Massenversammlung beschreiben, ohne sie jeweils als Ganzes auf den Begriff bringen zu können: z. B. Kirche in Bewegung, evangelische Laienversammlung, Forum des Protestantismus, Fest 7 8 9 10

Schröer, Wallfahrt. Thadden-Trieglaff, Laienfrage, 331. Vgl. dazu ausführlicher Schroeter, Gestalt, 184f. Vgl. dazu grundlegend Luther, Identität.

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und Manifest, Evangelische Zeitansage. Dem Kirchentagsgeschehen kann insgesamt eine liturgische Struktur unterstellt werden, wie das Interpretament der evangelischen Wallfahrt zeigt, das einhergeht mit dem Begriff „Lebendige Liturgie“,11 der nicht allein auf die vielen Kirchentags-Gottesdienste beschränkt werden kann, sondern auch dem spirituellen Erleben Ausdruck verleiht. In der liturgischen Geschichte des Kirchentages lassen sich wesentliche Veränderungen erkennen, die für die evangelische Gottesdienstlandschaft in Deutschland sowie die Spiritualität des Protestantismus insgesamt prägend geworden sind. Die bisherige Kirchentagsgeschichte lässt sich in sieben Phasen einteilen, in denen es jeweils zu typischen Wahrnehmungen und Veränderungen des spirituellen Geschehens kommt. 1. Von 1949 bis 1961 steht die gesamtdeutsche Klammerfunktion des Kirchentags im Zentrum der öffentlichen Aufmerksamkeit: Kirche in Bewegung mit der Losung „Wir sind doch Brüder“ (Berlin 1951).12 Der Kirchentag wird vorwiegend als Kundgebung erlebt, der versucht, Antworten auf die Fragen von Laien zu geben und diese so in ihrem Dienst an der Schnittstelle von Kirche und Welt zu stärken. Musikalisch werden die Kirchentage öffentlichkeitswirksam vor allem von Posaunenchören geprägt, die zum einen die Laienbewegung und zum anderen eine volkskirchliche Frömmigkeit repräsentieren. Die liturgischen Formen des Kirchentags sind weitgehend selbstverständlich. In der Wahrnehmung von Theologie und Presse werden liturgische Fragen vor allem konfessionell thematisiert, was sich z. B. an der anfangs umstrittenen Namensgebung Kirchentag zeigt, gegen die sich der bayerische Bischof Hans Meiser wandte, weil er dadurch unerlaubte gemeinsame Abendmahlsfeiern zwischen Lutheranern, Reformierten und Unierten befürchtete, die in Deutschland flächendeckend erst mit der Leuenberger Konkordie von 1973 erlaubt waren. So wird der Kirchentag zunächst von konfessionell getrennten Gottesdiensten geprägt. 2. Von 1963 bis 1969 steht das kirchenreformerische Anliegen des Kirchentags, gepaart mit einer intensiven Diskussionskultur, im Zentrum der öffentlichen Wahrnehmung: Protestantisches Forum unter der Losung „Mit Konflikten leben“ (Dortmund 1963). Waren in den 1950er-Jahren an den Rändern schon Klagen laut geworden über den großen Abstand zwischen kirchlicher Verkündigung und alltäglicher Lebenswelt, so beginnt mit Dortmund 1963 die Geschichte der Gottesdienste in 11 Ruddat/Schröer, Liturgie. 12 Zur ersten Dekade der Kirchentagsbewegung vgl. den neuesten Forschungsstand bei Ueberschär (Hg.), Kirchentag.

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neuer Gestalt. Kirchenreform macht vor dem Gottesdienst nicht halt. Die Gottesdienstreform der 1960er-Jahre führte weniger zu einer Veränderung der Gottesdienststruktur als vielmehr zu einer Veränderung der Gottesdienstsprache, der Gottesdienstatmosphäre, der Gottesdienstthemen und der Gottesdienstbeteiligungen. Der Gottesdienst konnte so als „Lernprozess“13 verstanden werden. Diese Veränderungen betrafen auch die Kirchenmusik.14 Mit gezielten Veranstaltungen macht der Kirchentag sowohl Spirituals und Gospels als auch das neue geistliche Lied populär, das Anfang der 1960er-Jahre mit „Danke“ sogar in die Charts der deutschen Hitparade kam. Die Bedeutung des neuen geistlichen Liedes lässt sich für den neueren Protestantismus kaum überschätzen, da diese Lieder in ganz anderer Weise als bisher, z. B. körperlich, Partizipationsmöglichkeiten bieten, sodass sie für junge Menschen fortan das wichtigste Antizipationselement des Gottesdienstes darstellen. 3. Von 1973 bis 1979 etablieren sich die bis heute prägenden Partizipationsstrukturen des Kirchentags, die ihn wieder zu einer Massenversammlung machen: Markt der Möglichkeiten mit der Losung „Nicht vom Brot allein“ (Düsseldorf 1973). An seinem Tiefpunkt mit nur noch knapp 10.000 Dauerteilnehmenden in Düsseldorf führt der Kirchentag eine grundlegende Erneuerung seiner Partizipationsstrukturen ein. Mit dem KIZ – Kommunikations- und Informationszentrum, ab 1975 Markt der Möglichkeiten genannt – und der legendären Liturgischen Nacht in Düsseldorf 1973 nimmt die Erfolgsgeschichte des heutigen Kirchentags ihren Anfang. Seit 1979 hat der Kirchentag wieder regelmäßig über 100.000 Dauerteilnehmende und lebt von deren Darstellungslust und -möglichkeiten. Die Liturgische Nacht wurde 1973 von über 4.000 Teilnehmenden gefeiert. Zum einen transformierte sie das gottesdienstliche Geschehen in eine vierstündige Feststruktur, zum anderen das Politische Nachtgebet aus einer vorwiegenden Informations- in eine Festveranstaltung, vom Manifest zum Fest.15 Die Liturgische Nacht war sofort in aller Munde. Wie so häufig waren die Teilnehmenden überwiegend begeistert, während die meisten Kritiker sie gar nicht miterlebt hatten. Ein Auslöser für die heftigen Gegenreaktionen auf die Liturgische Nacht war die Etablierung der Popkultur als spirituell-gottesdienstlicher Kultur. Die Band-Musik als einzige Kirchenmusik stieß bei vielen Protestanten ebenso auf starken Vorbehalt wie der Tanz als liturgisches Ausdrucksmittel. Symptomatisch für die Kritik ist die Bemerkung des Düsseldorfer Kirchentagspräsidenten Heinz Zahrnt, dass „auch künftig die Erkenntnis der protestanti13 Trautwein, Lernprozess. 14 Vgl. Bubmann, Wandlungen. 15 Vgl. Cornehl, Sölle.

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schen Theologie nicht nur ertanzt“16 werden könne. Ebenso war die Tradition politischer Gottesdienste, die einen Grundzug der Liturgischen Nacht darstellte, für viele Protestanten problematisch. Mit der Liturgischen Nacht sind zwei Themen- und Problemfelder erfolgreich etabliert, die den Kirchentag seitdem beschäftigen: einerseits sein Verhältnis zur Popkultur mit ihrer Leitwährung Unterhaltung und andererseits sein Verhältnis zur politischen Dimension gelebten und gefeierten Glaubens. Der Kirchentag zeigt: Evangelische Spiritualität sucht den Anschluss an die Popkultur und besitzt unaufgebbar eine politische Dimension. Beide Problemkreise werden auch in der zweiten liturgischen Innovation der 1970er-Jahre virulent, im Feierabendmahl, das erstmals 1979 in Nürnberg gefeiert wurde.17 Es ist ebenso Feier-Abendmahl wie Feierabend-Mahl. In den gastgebenden Gemeinden wird am Freitagabend ein Abendmahl in kommunikativer Gestalt mit den Kirchentagsteilnehmenden gefeiert. Musikalisch hat es einen Stilmix etabliert, in dem neben neuen geistlichen Liedern auch klassische Kirchenmusik bzw. Taizé-Gesänge eine Rolle spielen. Seit dem Dortmunder Kirchentag 1963 formiert sich bei evangelikalen Christen in Deutschland ein auch öffentlich deutlich vernehmbarer Widerstand gegen den Kirchentag, der sich gegen die „Präsentation des Pluralismus evangelischen Glaubens und Wirkens“18 auf Kirchentagen richtet, was sich vor allem an den Bibelarbeiten entzündet, die nun auch von Exegeten der Bultmannschule gehalten werden. 1967 ruft die Bekenntnisbewegung Kein anderes Evangelium zum Boykott des Kirchentags in Hannover auf. Im Vorfeld des Düsseldorfer Kirchentags veranstaltet sie am 31. Mai 1973 den „Gemeindetag unter dem Wort“ in Dortmund, der mehr Teilnehmende verzeichnet als der Düsseldorfer Kirchentag Dauerteilnehmende hat. Diese Gegenbewegung pluralisiert sich allerdings seit den 1980er-Jahren selber zunehmend – auch in ihrer Kritik am Kirchentag. 4. Von 1981 bis 1989 steht der processus confessionis im Vordergrund, der sich an den gesellschaftspolitischen Themen Ost-West-Konflikt, Umweltproblematik, Nord-Süd-Konflikt entzündet: Neue Soziale Bewegung mit der Losung „Umkehr zum Leben“ (Hannover 1983). In den 1980er-Jahren werden zwei repräsentative Umfragen zum Kirchentag durchgeführt, 1983 bei Jugendlichen,19 1985 bei allen Kirchentagsteilnehmenden.20 Das wesentliche Ergebnis lautet: Die Teilnehmenden suchen auf Kirchentagen mit 16 17 18 19 20

Schröer, Gottesdienst, 71. Vgl. Kugler, Abendmahl; Christiansen/Cornehl, Alle; Lindner, Feierabendmahl. Bauer, Evangelikale, 610. Schmieder/Schuhmacher, Jugend. Feige u. a., Kirchentag.

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überwältigender Mehrheit eine Verbindung von politischen und religiösen, von gesellschaftlich bewegenden und spirituellen Ausdrucksformen. Alle Versuche, diese beiden Dimensionen des Glaubens gegeneinander auszuspielen, werden von ihnen nicht goutiert. Der Kirchentag wird zu einer neuen sozialen Bewegung, deren Kennzeichen die Inszenierung öffentlichkeitswirksamer, gewaltfreier Aktionsformen als Mittel der politischen Auseinandersetzung ist.21 Spiritualität und politische Ethik gehen zusammen. Dies gelingt dem Kirchentag auf der einen Seite mit seinen großen Friedensdemonstrationen in Hamburg 1981 und in Hannover 1983, die beide von unten in den Kirchentag eindrangen und mit dem lila Kirchentagsschal ein prominentes Zeichen generierten, das den Schlussgottesdienst 1983 zu einem lila Meer werden ließ. Auf der anderen Seite wird Spiritualität zu einem immer wichtigeren Thema, wie z. B. die Etablierung einer „Halle der Stille“ oder die Beteiligung von Klöstern und Kommunitäten auf Kirchentagen zeigen. Die Schlussversammlung wird nun endgültig zum Schlussgottesdienst, weil seit Hannover 1983 darin auch Abendmahl gefeiert wird. In den 1980er- und 1990er-Jahren fanden mehrere vom Kirchentag initiierte Tagungen statt,22 auf denen die gegenwärtigen Herausforderungen der Kirchenmusik im Horizont „populärer Religion“ (Hubert Knoblauch)23 und ihrer Spiritualität diskutiert wurden. Beim neuen geistlichen Lied werden zugleich Stagnation und Inflation festgestellt: Stagflation. Gleichwohl hat der Kirchentag von Anfang an die allgemeine Chor- und Gesangbuchentwicklung in Deutschland vorangetrieben, sodass einige Kirchentagsliederhefte zum offiziellen Beiheft mancher gastgebenden Kirche wurden. Schließlich beginnt in den 1980er-Jahren die Mitwirkung sogenannter kommunikativer Gruppen, die über Ausschreibungsverfahren am Kirchentag beteiligt werden, sodass der Kirchentag liturgisch, kulturell und spirituell immer stärker zu einer Mitmachbewegung wird. 5. Nach dem Mauerbau 1961 entwickelte sich in der DDR parallel zur westdeutschen Entwicklung eine deutlich anders strukturierte Kirchentagsarbeit. Regionale Kirchentage, vorwiegend in Form von Kongressen, übernahmen Bildungsverantwortung in einem totalitären Regime und wurden zu einem stärkenden, öffentlichen, evangelischen Erlebnis mit der Losung „Vertrauen wagen“ (Kirchentage im Lutherjahr 1983).24 Für die Gottesdienstformen lassen sich ähnliche Entwicklungen wie in Westdeutschland namhaft machen, wenn auch in kleineren Formaten und mit ge21 22 23 24

Vgl. Schroeter-Wittke, Bewegung; Tripp, Fromm. Degenhardt, Funktionen; Essen, Singen; ders., Musik. Knoblauch, Religion. Vgl. Schröder/Peter, Vertrauen.

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ringerer allgemeiner Medienresonanz. Viele dieser liturgischen und spirituellen Erfahrungen flossen in die Friedensgebete ein, die 1989 mit zum friedlichen Umsturz in der DDR beitrugen. 6. Von 1991 bis 1999 ist der Kirchentag vor allem mit der Integration von west- und ostdeutschen Erfahrungen und Strukturen befasst: Manifest des Protestantismus mit der Losung „Auf dem Weg der Gerechtigkeit ist Leben“ (Leipzig 1997). Dies betrifft einerseits die Integration unterschiedlicher Kulturen in Ost- und Westdeutschland, andererseits die Integration unterschiedlicher theologischer Strömungen. Außerdem wird in einer Erlebnisgesellschaft die Erlebnisdimension entscheidend für die individuelle Lebensgestaltung. Auch auf Kirchentagen gewinnen daher ästhetische Fragen immer stärker an Bedeutung, sodass Fragen der Kunst ebenso wie Fragen des Designs bis in Spiritualitätskulturen hinein eine Rolle spielen. Dazu kommt die Integration unterschiedlicher Frömmigkeitskulturen. Die seit den 1960er-Jahren sich vielfach befehdenden Gruppen der politischen und der erwecklichen Christen arbeiten seit den 1990er-Jahren wieder stärker zusammen. So gibt es neben der Mitwirkung Evangelischer Klöster auf Kirchentagen eine breite Sacro-Pop-Kultur, aber auch Taizé-Gottesdienste und evangelistisch-missionarische Großveranstaltungen. 2015 fand der im schwäbischen Pietismus beheimatete Christustag im Rahmen des Stuttgarter Kirchentags statt. Schließlich trägt das ökumenische Anliegen des Kirchentags spirituelle Früchte. Seit 1993 gibt es gemeinsame ökumenische Feiern an den Donnerstagen, die entweder Christi Himmelfahrt oder Fronleichnam begehen. Seit 1997 werden von Kirchentagsseite her Tagzeitengebete entwickelt und in das Tagesgeschehen integriert. 7. Die Kirchentage des 21. Jh. werden vorwiegend wahrgenommen als popkultureller Event und als ökumenisches Ereignis vor dem Horizont bedrängender Fragen der Globalisierung sowie zunehmender Pluralisierung von Religion bei gleichzeitiger Marginalisierung der christlichen Großkirchen in Deutschland: Event-Kirche mit der Losung „Lebendig und kräftig und schärfer (Hebr 4,12)“ (Köln 2007). Mit dem 1. Ökumenischen Kirchentag (ÖKT) in Berlin 2003 geht der Kirchentag auch organisatorisch neue Wege, die mit dem 2. ÖKT München 2010 und dem 3. ÖKT Frankfurt 2021 weitergeführt werden und die Mut gemacht haben für andere organisatorische Neuerungen beim 36. DEKT Berlin/Wittenberg 2017 in Zusammenarbeit mit dem Reformationsjubiläum oder bei der Planung einer European Christian Convention, die in den 2020er-Jahren Gestalt finden soll. Betrachtet man Ökumene als weltweite Gemeinschaft aller Christinnen und Christen, also als erste umfassende Globalisierungsbewegung, so nimmt es nicht wunder, dass auch Kulturformen der Globalisierung den Kirchentag prägen,

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insbesondere die Popkultur. Mit seinen formal neuartigen Losungen seit Hannover 2005, seinem jeweiligen Mottolied, aber auch den Merchandising-Produkten des Kirchentagshops ist der Kirchentag endgültig in der Popkultur angekommen. Liturgisch und kirchenmusikalisch lässt sich eine immer stärkere Differenzierung und Pluralisierung feststellen, was den Marktcharakter auch dieser Formate verstärkt. So gab es in Hannover 2005 eine Gottesdienst-Werkstatt, bei der in drei Kirchengebäuden gleichzeitig Gottesdienste unterschiedlicher Kulturen, Zielgruppen und Formate im Zweistundentakt gefeiert und präsentiert wurden. In Bremen 2009 wurde dieses sehr erfolgreiche Format auch für kirchenmusikalische Veranstaltungen durchgeführt. Die Popkultur hat im neuen Jahrhundert auf Kirchentagen zu drei wesentlichen liturgischen Veränderungen geführt. 1. Aufgrund der durch die Fußball WM 2006 kleiner gewordenen Fußballarenen können Kirchentagsschlussgottesdienste, die auf mindestens 100.000 Personen angelegt sind, nicht mehr im Stadion stattfinden, sondern werden seit Berlin 2003 wieder auf freien Plätzen gefeiert, wodurch sie atmosphärisch weniger dicht und zugleich medienorientierter sind. Ausnahmen wie der Dortmunder Kirchentag 2019 bestätigen die Regel. 2. Aufgrund der neuen riesengroßen Messehallen ohne Stützpfeiler als Träger hat der Kirchentag das Format der Themenhallen erfunden, die 10.000 Menschen Platz bieten, interdisziplinär zu bespielen sind und dabei auf eine deutlich stärkere liturgisch-atmosphärisch-spirituell-künstlerische Gestaltung als bisherige Hallenformate angewiesen sind. In einigen Städten (Bremen 2009, Dresden 2011, Stuttgart 2015, Dortmund 2019) hat sich der Kirchentag bewusst gegen eine Messenutzung entschieden, um die Innenstädte besser einbeziehen zu können. Die Kirchentagsstadt soll als Ganze als spiritueller Raum erlebbar bleiben. 3. Schließlich hat sich das Pilgerwesen auf Kirchentagen etabliert und eigenständige Formen spiritueller Teilhabe freigesetzt. Z. B. gibt es Gruppen von Teilnehmenden, die aus ihren Heimatorten zu Fuß zum Kirchentag pilgern.

3.

Spiritualität zwischen Kirchentag und Kirchenalltag

Angesichts des Reformationsjubiläums 2017 hat das Kirchentagspräsidium ein Grundsatzstatement verfasst, welches sein Selbstverständnis in 12 Thesen formuliert. Jede dieser 12 Thesen mit der Überschrift „Hoffnung, die uns antreibt“ impliziert Gestaltungsspielräume für die spirituelle Dimension des Kirchentags:

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„1. Der Kirchentag ermöglicht Begegnung und Gemeinschaft aller, die nach dem christlichen Glauben offen, neugierig oder kritisch fragen. 2. Der Kirchentag hält gelebten Glauben und Weltverantwortung zusammen. 3. Der Kirchentag befähigt Laien zur Übernahme von Verantwortung in Kirche und Gesellschaft. 4. Der Kirchentag ist angewandte Reformation. 5. Der Kirchentag lebt von Partizipation. 6. Der Kirchentag ist ein Fest des Glaubens. 7. Der Kirchentag lebt inländische und weltweite Ökumene. 8. Der Kirchentag treibt den interreligiösen Dialog voran. 9. Der Kirchentag ist ein kulturelles Ereignis. 10. Der Kirchentag ist Bildungserlebnis. 11. Für den Kirchentag ist Barrierefreiheit ein Qualitätsmerkmal. 12. Der Kirchentag fühlt sich dem Grundanliegen der Bewahrung der Schöpfung verpflichtet“.25

Seit knapp 70 Jahren prägt der Kirchentag nunmehr die spirituelle Landschaft des Protestantismus in Deutschland entscheidend mit. Das blieb nicht ohne Kritik. Von Beginn an, verstärkt aber seit den 1960er-Jahren, wird dem Kirchentag unzulässige Politisierung des Christentums vorgeworfen,26 was oft einhergeht mit der Kritik, der Kirchentag würde das Zentrum des Christentums nicht angemessen zur Geltung bringen.27 Diese Kritik wird häufig von Personen vorgetragen, die ein anderes Verständnis des Zusammenhangs von Politik und Christentum haben als das, was sich im Gefolge der Barmer Theologischen Erklärung, die Thadden-Trieglaff mit verabschiedet hat, auch und besonders durch den Kirchentag in den evangelischen Landeskirchen in Deutschland Bahn gebrochen hat. Erschwerend kommt hinzu, dass viele dieser Kritiker den Kirchentag vor allem aus den Medien rezipieren, was damit einhergehen mag, dass Formen und Geist der Kirchentagsspiritualität ihren Vorstellungen und Vorlieben nicht entsprechen. So resumiert etwa Burghard Affeld zum Kirchentag Hannover 1983: „Das Schlimmste des Kirchentages aber war die Vermittlung eines Gemeinschaftsgefühls, das alle Kirchentagsteilnehmer zur Gemeinde Jesu 25 Deutscher Evangelischer Kirchentag, Hoffnung. 26 Vgl. dazu Affeld/v.Padberg, Kirchentag. 27 So z. B. jüngst erneut Mai, Kirche, der allein anhand des Titels einer Programmschrift der ehemaligen Generalsekretärin Ellen Ueberschär „ganz unbefangen“ (10) meint fragen zu können, „ob es nicht mindestens den Kirchentagen inzwischen weniger um Glauben als vielmehr um sogenannte ‚Zivilreligion‘ geht“ (13).

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Christi machte.“28 Damit einher geht ein sich durchziehender Pluralismusvorwurf: „So geht es also nicht um das Ringen um die eine Wahrheit, sondern um den letztlich unverbindlich bleibenden Dialog. […] Hinter der Pluralismusthese verbirgt sich heute zunehmend die ideologische Tendenz der Uniformität, die sich auf dem Kirchentag als Dialogfähigkeit darstellt. Sie ist geprägt von dem neomarxistischen Diskursmodell, das Identitätsaufgabe fordert, um in der Gruppe die neue Wahrheit finden zu können“.29

Diesem Vorwurf ist auf argumentativer Ebene kaum zu begegnen, weil er dem/ der/den Anderen keine Anerkennung gewähren kann. Es ist richtig, dass nur dann ein Dialog geführt werden kann, wenn die Partner sich aufeinander einlassen und bereit sind zu lernen, d. h., sich verändern zu lassen. Aber diese Einsicht wird hier rein technizistisch missverstanden, sodass der Dialog unverbindlich bleibt, als Identitätsaufgabe verstanden wird und Pluralismus als rein formale Kategorie – nämlich mehr als die eine Wahrheit – negativ besetzt wird, ohne dass es zu inhaltlichen Auseinandersetzungen und Relativierungen, InBeziehung-Setzungen kommen könnte, die Spiritualität als Begegnungskategorie allererst ermöglichen. Eine solchermaßen identitäre Frömmigkeit kann und wird auf Kirchentagen kaum Heimstatt finden. Was an diesen Kritiken für den Kirchentag allerdings wichtig ist, ist die Mahnung, dass sich der Kirchentag weder politisch noch theologisch, kirchlich, spirituell, ästhetisch oder ökonomisch abhängig machen lassen darf und jeweils mit dem Risiko, sterben zu können, zu leben hat. Die 70jährige Spiritualitätsgeschichte des Kirchentags blieb nicht ohne Auswirkungen auf den Kirchenalltag, auch wenn Kirchentage eine andere Erlebnisform darstellen als dieser. So begleitet den Kirchentag die Frage, wie lebendige Liturgie auch an anderen Lebensorten spirituell Gestalt finden kann. Für die Entwicklung, die 1999 zum Evangelischen Gottesdienstbuch führte, war die Pluralisierung von Gottesdienstformen und Gottesdienstkulturen, die auf Kirchentagen eine Bühne hatten, entscheidend. Von Jugendgottesdiensten über politische Gottesdienste bis hin zu missionarischen Gottesdiensten hat der Kirchentag ein breites liturgisches Spektrum entwickelt und gepflegt. Er beförderte damit ein liturgisches Aufbrechen der Diastase von U- und E-Kultur und schuf neue Integrationsmodelle von Gottesdiensten, die auch in einer fortgeschrittenen Medienlandschaft wahrgenommen wurden. Für Fragen nach Medienliturgien und medial vermittelter Spiritualität leistet der Kirchentag mit seinen Gottesdiensten Pionierarbeit. An der Etablierung politischer Liturgien hat er wesentlichen Anteil, deren „Frömmigkeit“ ihn

28 Affeld/v. Padberg, Kirchentag, 176. 29 Ebd., 216–218.

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zu einer „originären Gestalt öffentlicher Christentumskultur“ macht,30 was durch die Daten der jüngsten Umfragen in Dresden 2011 und Hamburg 2013 bestätigt wird.31 Der Kirchentag wird stark von Jugendlichen und jungen Erwachsenen geprägt, die ein hohes Bildungsniveau aufweisen. Dabei lassen sich drei Typen von Teilnehmenden identifizieren: die erfahrenen Religiösen, die aktiven Gemeinschaftsorientierten sowie die jungen Neugierigen, für die alle gilt: „Ohne den religiösen Charakter gäbe es keine Kirchentage mehr, ohne den politischen und eventartigen schon – nur mit weniger Besuchern“ (175). Eindrucksvoll zeigt diese Studie, dass der Kirchentag weder „zu einem reinen Massenevent verkommt“ noch „Politik mit anderen Mitteln“ (56) betreibt. Fromm und politisch – diese Charakterisierung der Teilnehmenden aus den empirischen Untersuchungen der 1980er-Jahre trifft auch in der Gegenwart zu und wird durch den Faktor Spaß bzw. Event erweitert. Die Teilnehmenden gehören mehrheitlich zu den kritischen und gleichwohl hoch Engagierten in ihren Kirchengemeinden und vielfach auch darüber hinaus. Die religiöse Identität, die hier ausgebildet wird, ist keine ausgrenzende, sondern eine integrierende. Der Kirchentag bildet ein religiöses wie gesellschaftliches Sozialkapital, das vom Face-to-face-Kontakt herkommend bei den Teilnehmenden Vertrauen aufbaut, die dieses über den engeren Kontakt hinaus in fremde Kontexte hinein investieren. So lässt sich der Kirchentag als „Schule der Demokratie“ (88) beschreiben,32 der sich für seine Teilnehmenden als eine „Quelle sozialen Vertrauens für die Gesellschaft“ (111) erweist. In Bezug auf einzelne spirituelle Gestaltungsfelder hat der Kirchentag deutliche Spuren hinterlassen: 1. Für die neue geistliche Liedkultur ist der Kirchentag seit den 1960er-Jahren ein wesentlicher Multiplikator. Insbesondere diese Tradition hat von Beginn an starke ökumenische Akzente sowohl gehabt als auch gesetzt. Was in der Hymnologie seinen Anfang nahm, wird heute in der Integration unterschiedlichster kirchenmusikalischer Traditionen weitergeführt. Weitgehender Konsens besteht darin, dass auf Kirchentagen ein auch massen- und medientauglicher kirchenmusikalischer Stilmix in Szene gesetzt werden muss. 10.000 Mitwirkende pro Kirchentag allein in Sachen Musik (4000 Bläserinnen und Bläser, 3000 Sängerinnen und Sänger, 3000 weitere Musizierende) sprechen eine deutliche Sprache. 30 Steck, Praktische Theologie, 81. 31 Vgl. Pickel u. a., Kirchentag. Die Seitenzahlen im laufenden Text beziehen sich auf diese empirische Studie. 32 Im Hintergrund dieser Beobachtung steht der Ansatz von Putnam, Bowling, der den Bridging-Effekt des Sozialkapitals betont. Der von anderen Forschern hervorgehobene Bonding-Aspekt von religiösen Gruppen als Sozialkapital, der Identität stark in abgrenzenden Formen fördert und fordert, spielt beim Kirchentag so gut wie keine Rolle. Eine klare Abgrenzung gibt es im Wesentlichen nur Rechtsradikalen gegenüber.

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2. Mit seiner Feierabendmahltradition hat der Kirchentag eine neue, fröhlichere Atmosphäre für das Abendmahl-Feiern in Gemeinden geschaffen, in deren Gefolge es zu einer Abendmahlsbewegung im Protestantismus kam. Wesentlich für das Verständnis des Feierabendmahls sind jüngere exegetische Einsichten zum Abendmahl, welche die Sozialität dieses Geschehens als Gleichnis für einen evangelischen Gottesdienst im Alltag der Welt (Römer 12,1f) zur Geltung bringen und damit den Charakter und die Atmosphäre des Abendmahls nicht wie bis dato ausschließlich vom Gedanken der Sündenvergebung her bestimmen, sondern den Gemeinschaftscharakter des Abendmahls in den Vordergrund rücken. Dies korrespondiert mit Anfragen der Exegese, insbesondere im Hinblick auf das für viele Menschen problematische Opferverständnis des Mahlgeschehens, wie sie vor allem in der feministischen Theologie formuliert wurden und in den 1980er-Jahren auf Kirchentagen zunehmend Gehör fanden. Dadurch wurde die evangelische Sakraments-Spiritualität transparenter für ethische Dimensionen des gefeierten Glaubens.33 3. Kirchentage sind in der „Pfingstlichen Zeit“ verortet, die mit Konfirmation, Himmelfahrt, Pfingsten und Urlaub den „Aufbruch ins Leben“ feiert.34 Der Kirchentag stellt ein öffentlichkeitswirksames Pendant zu Weihnachten dar. Dabei wachsen ihm jedoch die Teilnehmenden nicht wie an Weihnachten aus der Sozialisationsform Familie zu, sondern aus Gruppen: Jugendgruppe, Schulklasse, Frauenkreis, Posaunenchor usw. In der Risiko- und Erlebnisgesellschaft, die weitgehend von Wahlfreiheit geprägt ist, stellt er als konfirmierendes Handeln eine öffentliche Kasualie dar, in der Pneumatologie und Ekklesiologie auf neue Art und Weise Gestalt gewinnen.35 Vergleichbar mit einem Gemeindefest auf parochialer Ebene stellt der Kirchentag „paradigmatische Festpraxis“36 auf gesamtkirchlicher Ebene dar. All dies kulminiert in der Deutung des Kirchentags als evangelische Wallfahrt. 4. Der Kirchentag ist einer der wichtigsten Orte für eine angemessene liturgische Didaktik für Laien. Von Liturgischen Nächten über Liturgische Tage, in denen eine historische Person oder ein gottesdienstliches Element einen ganzen Tag liturgisch strukturieren, bis hin zu Liturgischen Wochen37 werden auf und im Umfeld von Kirchentagen Formate für lebendige Liturgie angeboten, die auch einen liturgischen Bildungsauftrag wahrnehmen. Insbesondere die liturgischen Großveranstaltungen in Messehallen, Stadien oder auf Plätzen, deren Gestaltung

33 Vgl. Begerau u. a., Abendmahl; Bieler/Schottroff, Abendmahl; Lindner, Feierabendmahl; Naumann, Abendmahl. 34 So Fechtner, Rhythmus, 111–123. 35 Vgl. Bubmann, Pfingst-Wallfahrt. 36 Ruddat, Feste, 141 37 Ruddat, Woche.

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notgedrungen mit zunehmender Professionalisierung einhergeht, haben zu einer Elementarisierung von Liturgie und Musik geführt.38 Der Kirchentag hat sich mit den Theologien, die ihn geprägt haben, an neue Projekte der Bibelfrömmigkeit gewagt, z. B. die Kirchentagsübersetzungen der Bibeltexte oder die Durchbuchstabierung von Einsichten der feministischen und Befreiungs-Theologien für Bibelarbeiten,39 von denen einige als Dialog und Trialog zwischen Religionen gestaltet werden und damit interreligiöse spirituelle Begegnungen befördern. Seit 1989 werden die jeweiligen Bibeltexte für Gottesdienste und Bibelarbeiten neben der Lutherübersetzung von 1984 bzw. 2017 auch in einer kirchentagseigenen Übersetzung im Programmheft abgedruckt. Durch diese Übersetzungen entwickelten sich Kriterien, die auch die Bibel in gerechter Sprache von 2006 bestimmen.40 Darüber hinaus erschloss der Kirchentag mit den Übersetzungen der Bibeltexte sowie Großgottesdiensten in Leichter Sprache spirituelles Neuland.41 Schließlich prägt die ästhetisch-liturgische Dimension zunehmend spezifische Bibelarbeitsformate, die nun mit bibliodramatischen oder künstlerischen Mitteln gegenüber einer reinen Vortragsveranstaltung eine andere spirituelle Gestalt erhalten. So werden seit den 1990er-Jahren musikalische, literarische, getanzte, filmische, kabarettistische, bibliodramatische Bibliolog- oder Bibelarbeiten auf dem Wege gehalten. Umgekehrt werden die Bibeltexte als Partitur des Kirchentages wahrgenommen und dienen bei vielen spirituellen Formaten als liturgisches Drehbuch. Insgesamt wird der Kirchentag im 21. Jh. so als Event42 beschreibbar, der eine bestimmte Festival-Spiritualität gestaltet. Im Gegensatz zu den meisten religiösen oder ideologischen Events regieren beim Kirchentag dabei weniger die Regressionswünsche, die mit Events in einer Übergangsgesellschaft bedient werden. Vielmehr ist er ein Mittel, mit dem, „was Masse ist und sein kann, Ideen zu ‚verleiblichen‘“,43 weil er nicht autoritär daherkommt, sondern Opposition zulässt. In unserer „Sehnsucht danach bei sich und bei anderen zu Hause zu sein“, schafft der Kirchentag „einen zwar realen Ort, der aber zugleich ein symbolischer Ort ist, der über alle realen Orte hinaus auf eine transzendente ‚himmlische‘ Heimat verweist“44. Als solcher ist er „Sprachschule der Spiritualität“45.

38 39 40 41 42 43 44 45

Vgl. Bubmann, Bildungsangebot. Vgl. Godel, Gegenreden. Vgl. Köhler, Sprache. Vgl. dazu Bauer/Keuchen, Evangelium. Vgl. Gilster, Ich; Mittmann, Identität; Schroeter-Wittke, Eventkultur. Heintel, Event, 70. Zapp, Rituale, 103. Ueberschär, Tage, 407.

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Literatur Affeld, Burghard/Padberg, Lutz von, Umstrittener Kirchentag. Berichte, Analysen und Kommentare zum Deutschen Evangelischen Kirchentag von 1949 bis 1985, Wuppertal 1985. Bauer, Dieter/Keuchen, Marion, Das Evangelium in leichter Sprache mit leichten Bildern. Ein Projekt im Bereich Inklusion, in: DtPfrBl 116 (2016), 214–216.221–222. Bauer, Gisa, Evangelikale Bewegung und evangelische Kirche in der Bundesrepublik Deutschland. Geschichte eines Grundsatzkonflikts (1945 bis 1989), Göttingen 2012, bes. 610–637. Begerau, Christiane/Schomburg, Rainer/Essen, Martin von (Hg.), Abendmahl – Fest der Hoffnung. Grundlagen – Liturgien – Texte, Gütersloh 2000. Bieler, Andrea/Schottroff, Luise, Das Abendmahl. Essen, um zu leben, Gütersloh 2007. Bubmann, Peter, Pfingst-Wallfahrt und Konfirmationsritual. Der Kirchentag als Zeitansage in der Erlebnisgesellschaft, in: Ratzmann, Wolfgang (Hg.), Der Kirchentag und seine Liturgien. Auf der Suche nach dem Gottesdienst von morgen, Leipzig 1999, 33–55. –, Wandlungen in der kirchlichen Musik in den 1960er und 70er Jahren, in: Hermle, Siegfried/Lepp, Claudia/Oelke, Harry (Hg.), Umbrüche. Der deutsche Protestantismus und die sozialen Bewegungen in den 1960er und 70er Jahren, Göttingen 2007, Umbrüche 2007, 303–324. –, Der Kirchentag als Bildungsangebot, in: Adam, Gottfried/Lachmann, Rainer (Hg.), Neues Gemeindepädagogisches Kompendium, Göttingen 2008, 413–424. Christiansen, Rolf/Cornehl, Peter (Hg.), Alle an einen Tisch. Forum Abendmahl 2, Gütersloh 1981. Cornehl, Peter, Dorothee Sölle, das „Politische Nachtgebet“ und die Folgen, in: Hermle, Siegfried/Lepp, Claudia/Oelke, Harry (Hg.), Umbrüche. Der deutsche Protestantismus und die sozialen Bewegungen in den 1960er und 70er Jahren, Göttingen 2007, Umbrüche 2007, 265–284. Degenhardt, Reiner (Hg.), Funktionen der Kirchenmusik zwischen künstlerischem Anspruch und gemeindlicher Wirklichkeit. Ein Symposion des Deutschen Evangelischen Kirchentages in Zusammenarbeit mit dem Präsidenten der Musikhochschule Hamburg 23.–25. Januar 1987 (als Manuskript verbreitet). –, Rituale bei Kirchentagen, in: EvTh 58 (1998), 6–11. Deutscher Evangelischer Kirchentag, Hoffnung, die uns antreibt. Grundsatzstatement des Kirchentages zum Reformationsjubiläums 2017. 12 Thesen, in: Der Kirchentag. Das Magazin Ausgabe 04/2015, 22–24. Essen, Martin von (Hg.), Dokumentation zur Tagung „Das Singen auf Kirchentagen“ in Fulda, 24.-25. 11. 1995 (als Manuskript verbreitet). Essen, Martin von (Hg.), Musik auf Kirchentagen. Dokumentation zur Tagung in Berlin, 22.–23. März 1996 (als Manuskript verbreitet). Fechtner, Kristian, Im Rhythmus der Zeit. Vom Sinn der Feste und Zeiten, Gütersloh 2007. Feige, Andreas/Lukatis, Ingrid/Lukatis, Wolfgang, Kirchentag zwischen Kirche und Welt. Auf der Suche nach Antworten. Eine empirische Untersuchung auf dem 21. Deutschen Evangelischen Kirchentag Düsseldorf 1985, Berlin 1987.

Einladung an Unbekannt und nicht-identitäre Frömmigkeit

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Harald Schroeter-Wittke

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Írisz Sipos

Kommunitäten und geistliche Gemeinschaften Experimentierfeld für kreative Formen verbindlicher Spiritualität

Kloster auf evangelisch – so lautet der Titel eines Buches zum Reformationsjahr 2017. Darin schildern evangelische Christen, die sich mit anderen zu einer gemeinsam zu gestaltenden Spiritualität und zu einem geistlichen Auftrag verbunden haben, ihren persönlichen Glaubensweg.1 Die Vielfalt, die dabei zutage tritt, verdankt sich zum einen der Vielfalt geistlicher Prägung und liturgischer Praxis, zum anderen der Unterschiedlichkeit der Lebensbereiche, in denen die Verbindlichkeit konkret wird. Das Spektrum reicht vom Zusammenschluss von Männern oder Frauen zu einer Glaubens-, Lebens- und Dienstgemeinschaft in Ehelosigkeit unter weitgehendem Verzicht auf persönlichen Besitz über ein verbindliches Zusammenleben und Engagement von Ehepaaren mit oder ohne Kindern und Ledigen bis zu netzwerkartigen Gebilden, die sich zu einer bestimmten Form, zu bestimmten Inhalten und/oder Rhythmen des Gebets verpflichten und deren Mitglieder regelmäßig in Konventen zusammenkommen – eine Vielzahl von Kombinationen und Mischformen inbegriffen.2 Fast ebenso breit ist das Vokabular bei der Selbstbenennung; allerdings können Begriffe wie Kommunität, Schwestern- oder Bruderschaft, Gemeinschaft, Konvent, Gilde, Kollegiat, Orden je nach Milieu und Prägung unterschiedlich gefüllt sein.3 Nach dem Zweiten Weltkrieg gelangte die von Lateinisch: communitas abgeleitete Bezeichnung „Kommunität“ über den englisch- und französischsprachigen Raum in den deutschen Sprachgebrauch und bot sich als christliches Pendant zur politisch konnotierten „Kommune“ an. Als Kommunität verstehen sich vorwiegend die ordensartig strukturierten zölibatär lebenden Frauen- und Männergemeinschaften, aber auch einige der Familiengemeinschaften. Jene ohne vita communis nennen sich in der Regel „geistliche Ge1 Lilie/aus der Wiesche, Kloster auf evangelisch. 2 Die EKD zählt etwa 200 Gemeinschaften im Raum ihrer Gliedkirchen. Die im Buch versammelten gehören zur Konferenz evangelischer Kommunitäten (KevK) oder zum Treffen Geistlicher Gemeinschaften (TGG). Als eine dritte, offene Plattform für junge Initiativen versteht sich das Communio-Forum. 3 Vgl. Zimmerling, Evangelische Spiritualität, 156.

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meinschaft“. Die beiden Bezeichnungen haben sich im Austausch untereinander und mit der Amtskirche wie auch in der Fachliteratur als Oberbegriffe etabliert und werden auch im Folgenden in diesem Sinne verwendet. Alle Gemeinschaften, die in diesen Berichten aus dem gemeinsamen Leben im eingangs genannten Buch porträtiert sind, wissen sich den aus der Reformation hervorgegangenen Konfessionen verbunden – die meisten ihrer Mitglieder gehören einer Landeskirche an. Gleichzeitig greifen sie auf Erfahrungen jenseits volkskirchlich organisierter Gemeinschaftsbildung zurück. Dies können Impulse aus der Tradition der Ordensbewegungen in der frühen Kirche und im ausgehenden Mittelalter sein, aber auch aus bruderschaftlichen und kommunitären Aufbrüchen vor und während der Reformation, im Zuge der Gegenreformation bzw. im zunehmend parochial geprägten Protestantismus.4 Stets wird dabei Bezug genommen auf die im Neuen Testament dokumentierten Ausprägungen von geteiltem Leben in der noch jungen Christenheit. Damit wäre bereits ein, vielleicht sogar das grundlegende Merkmal dieser Spiritualität umrissen: Sie verbindet die reformatorische Suche nach Inspiration und Wegweisung unmittelbar aus der Heiligen Schrift mit den besonderen Formen der Christusnachfolge, die erst im Zuge der wechselvollen Geschichte der Kirche Gestalt gewonnen haben. Um aufzuzeigen, wie das kommunitäre Anliegen für eine Spiritualität jenseits der „Klostermauern“ bereits fruchtbar werden konnte, soll zunächst die (Selbst-) Verortung von geistlichen Gemeinschaften und Kommunitäten und das historisch-geistige Umfeld ihrer Entstehung skizziert werden. Danach ist zu fragen, was sie konkret beizutragen haben: als eine Gestalt von Kirche nach reformatorischem Selbstverständnis, als ein Dienst an der Kirche durch geistliche Angebote und Engagement und als Impulsgeber für Erneuerung in die Kirche5 hinein.

1.

Evangelisch gegen den konfessionellen Strich – eine Standortbestimmung im reformatorischen Umfeld

Die augenzwinkernde Provokation des Titels Kloster auf evangelisch zielt in mehrere Richtungen und markiert den als prekär und marginalisiert empfundenen Standort. Zuallererst zielt sie in die eigene evangelische Kirche, deren leitende und lehrende Institutionen diese römisch-katholisch konnotierte Spiritualität erst nach langem Fremdeln wahrzunehmen und theologisch zu wür4 Zum Rückbezug auf das frühe Mönchtum vgl. Joest, Spiritualität, 95–232. 5 Vgl. Kießig, Manfred, Geistliche Gemeinschaften in der Kirche – als Kirche, in: Lilie/aus der Wiesche, Kloster auf evangelisch, 167.

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digen lernten.6 Zum Zweiten sendet sie ein Signal über die konfessionelle Grenze und gewährt Einblick in ein ins Evangelische gewendetes Verständnis gemeinschaftlicher Christusnachfolge, die Katholiken im Protestantismus gemeinhin nicht vermuten.7 Zum Dritten verweist das Augenzwinkern auf die schwierigen, oftmals kontroversen Bemühungen um eine Standortbestimmung im eigenen Umfeld, ja selbst innerhalb der Gemeinschaft. Noch immer gelten „Kloster“, „evangelische Räte“, „Regel“ oder „Profess“ als Reizwörter, an denen sich Identifikation und Abgrenzung entzünden und folglich auch Ähnlichkeiten und Unterschiede im Selbstverständnis gut buchstabieren lassen. So ist kommunitär gestaltete Spiritualität gelebte Ökumene nicht nur in dem Sinne, dass viele den Austausch mit Gemeinschaften und Orden in anderen Kirchen pflegen oder dass sich in der eigenen Mitgliedschaft ein immer breiteres Spektrum an Kirchenzugehörigkeit findet. Es ist vor allem eine nach innen gewendete Ökumene, die sich ausdrücklich in der eigenen Konfession des Verbindenden untereinander und der Einheit in Christus, dem Stifter aller Verbundenheit, zu vergewissern sucht: Katholizität im evangelischen Sinn des Wortes.

1.1

Die Frage der Legitimation als konstituierendes Moment

Die Aufgabe, ihre Existenz geistlich und theologisch zu legitimieren, ist dieser Ausformung evangelischer Frömmigkeit seit der Reformation ins Stammbuch geschrieben: Kann eine als Berufung und innere Notwendigkeit verstandene geistliche Selbstverpflichtung über das Taufbekenntnis und -versprechen hinaus vereinbar sein mit der Absage der Reformation an das Streben nach höheren Graden geistlicher und ethischer Vollkommenheit, was vor allem Luther als ehemaliger Augustinereremit dem traditionellen Mönchsideal anlastete? Wird nicht das Bekenntnis zum Heil als reinem Gnadengeschenk und zum Priestertum aller Gläubigen relativiert durch eine Spiritualität, die asketischen Regeln und feststehenden Liturgien folgt? Welche Berechtigung haben Sonderformationen in einem Kirchenverständnis, in dem die oberste Prämisse die Durchdringung sämtlicher ziviler Lebensbereiche durch den Glauben ist und in der die Tätigkeit zum Broterwerb als Beruf im geistlichen Sinne gilt? Erst recht, seit sich die

6 So wurde Johannes Halkenhäuser mit der Arbeit Kirche und Kommunität 1976 nicht an einer evangelischen, sondern an einer katholischen Theologischen Fakultät promoviert. 7 Das Buch erschien im Münsterschwarzacher Vier-Türme-Verlag und wurde am 12. 03. 2017 nach dem ökumenischen Buß- und Versöhnungsgottesdienst mit katholischen Ordensoberen und Vertretern evangelischer Kommunitäten in Kloster Triefenstein präsentiert, zusammen mit Heft 1/2017 der Ordenskorrespondenz zum Protestantischen Ordensleben im deutschsprachigen Raum.

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Ortsgemeinde zum zentralen Ort der Versammlung ihrer mündigen Glieder um Verkündigung und Sakrament und zum Gebet emanzipiert hat? Die Fokussierung auf diese Vorbehalte ließ die durchaus vorhandene Wertschätzung der Reformatoren für das Potenzial monastischen und verbindlichen geistlichen Lebens aus dem Blick geraten.8 Dabei hat bereits Luther die Berufung zur Ehelosigkeit um des Himmelreiches willen als eine Gabe Gottes gelten lassen. Auch suchte er nach einer „dritten Weise“ im Gefüge der Gottesdienste – jenseits von lateinischer und deutscher Messe –, zu der sich jene, die „mit Ernst Christen zu sein begehrten“9 als Lese-, Gebets- und Abendmahlsgemeinschaft einfinden und sich in guten Werken üben. Tatsächlich ist die Ordens- und Klostertradition, die sich etwa in den Evangelischen Stiften und anderen Formen10 fortsetzte, während und nach der Reformation11 nie ganz zum Erliegen gekommen. Sie lebte darüber hinaus immer wieder auf, so im frühen Pietismus und in der Zinzendorfschen Herrnhuter Brüdergemeine, mit jeweils großer Ausstrahlung, später in den diakonischen Schwesternschaften und Bruderschaften, die im ausgehenden 19. Jh. und bis vor einigen Jahrzehnten wie selbstverständlich zum Bild der evangelischen Kirche und ihrer sozialen Einrichtungen gehörten. In dieser Kontinuität sieht sich auch die Generation von Gründungen der letzten rund einhundert Jahre. Was dazu an systematisch-theologischer Durchdringung geleistet wurde, stammt zum Großteil aus der Feder der jeweiligen Gründer, Mitglieder und Unterstützer12 und hat einen zugleich rechtfertigenden und appellativen Charakter: Jede Initiative zur besonderen Formierung versteht sich als Neuaufbruch der Kirche als ganzer aus einem erneuerten Verständnis des 8 Laut Halkenhäuser bewirkte die Reduktion auf ein rein parochiales Gemeindeverständnis eine „häretische Monostruktur“ in den Kirchen der Reformation. Vgl. ders., Kirche und Kommunität, 135. 9 Luther, Deutsche Messe, 72. 10 Die Johanniter als protestantischer Zweig alter Spitalorden sind seit 1947 korporativ Bestandteil der EKD. 11 Eine eigene Traditionslinie bilden Täuferbewegungen wie die Hutterer sowie die Böhmischen Brüder, deren Nachfahren die Herrnhuter Brüdergemeine begründeten. An ersterer orientierte sich der 1920 von Eberhard und Emmy Arnold gegründete Bruderhof in Sannerz. Das Schrifttum der vor der NS-Diktatur nach Übersee geflohenen Familienkommunität inspirierte nach dem Krieg Gemeinschaftsgründungen in Europa und in den USA. 12 Zimmerling konstatierte noch 2003, die theologische Auseinandersetzung würde „weithin von Insidern geführt“. Vgl. ders., Evangelische Spiritualität, 156. Als Grundlagenwerk mit Ausstrahlung sowohl in die kommunitäre Praxis als auch in die Theologie gilt die wegweisende Schrift Bruderschaft von Wilhelm Stählin aus dem Kriegsjahr 1940. Kurioserweise stammt eine der frühesten Bestandsaufnahmen der Nachkriegszeit von dem französischen Dominikaner François Biot, 1961 als Evangelische Ordensgemeinschaften auch auf Deutsch erschienen. Bemerkenswert ist die (sozial-)pädagogische Analyse Lebensformen christlicher Gemeinschaften von Günter Krüger von 1969. Erhellend ist auch die gründliche Analyse der unorthodoxen Reflexionen von Stählin und Bonhoeffer zu Luthers Kritik am Monastischen von Thomas A. Seidel in Luther, Bonhoeffer, Stählin, S. 14ff.

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Evangeliums in der konkreten gemeinsamen Nachfolge. Dem tragen, obgleich mit Verzögerung, auch die akademische Theologie und die verfasste Kirche13 zunehmend Rechnung. Ein Paradigmenwechsel zeichnete sich in den späten 1970er-Jahren ab. Der Kirchenrechtler Hans Dombois hatte schon vorher Orden und Klöster als eine auch nach protestantischem Verständnis legitime „vierte Sozialgestalt“ von Kirche identifiziert. In ihr gelange das Wesen und die Essenz von Kirche ebenso zur Ausprägung wie in der universellen Ekklesia und in der Ortsgemeinde, als die sich Kirche von Beginn an manifestiert, und wie in der sich bereits in biblischer Zeit abzeichnenden Gestalt der partikularen bzw. regionalen Kirche.14 1979 würdigte der Rat der EKD die geistlichen Gemeinschaften in der Denkschrift „Evangelische Spiritualität“ als „legitime Ausprägung biblisch-reformatorischen Christseins“.15 Seither beruft er einen Bischof oder Altbischof als Beauftragten für den Kontakt mit ihnen, den diese mittlerweile als ihren „Kommunitätenbischof“ bezeichnen und der als Berater, Prediger und Liturg gern gesehener Gast bei Gemeinschaftsfeiern und Tagungen ist. Bis heute maßgeblich für die Standortbestimmung ist das Dokument „Verbindlich leben“, EKD-Texte 88 von 2007, das in enger Zusammenarbeit mit Vertretern der Gemeinschaften und dem Leipziger Praktischen Theologen Peter Zimmerling erstellt wurde. Im Geleitwort des damaligen EKD-Ratsvorsitzenden Bischof Wolfgang Huber heißt es: „Heute stellt sich die Lebensweise von Kommunitäten und geistlichen Gemeinschaften offenkundig als eine verbindliche Lebensform derer dar, die sich gegen manche diffuse Unverbindlichkeit geistlich konzentrieren und die Freiheit des Glaubens in Gottes Gegenwart aus christlichen Wurzeln heraus gestalten wollen. Sie sind ein Schatz der evangelischen Kirche, den es zu fördern und zu festigen gilt.“16

1.2

Entstehungsumfeld und Gründungscharisma

Die Tektonik der kommunitären „Landschaft“,17 wie sie sich im Raum der Gliedkirchen der EKD darstellt, formte sich entlang der gesellschaftlichen und weltanschaulichen Verwerfungen des 20. Jh. und der Erschütterungen durch die 13 In den meisten Gliedkirchen der EKD ist der Dialog mit den Kommunitäten bestimmten Ressorts zugewiesen, die EKM und die ELKB berücksichtigen sie sogar in der Kirchenverfassung. 14 Vgl. Dombois, Gnade, 35–51. 15 Kirchenkanzlei (Hg.), Evangelische Spiritualität, 53. Dem war 1976 eine Begegnung von Bischöfen der VELKD mit den Kommunitäten auf dem Schwanberg vorausgegangen. Das Schlusskommuniqué würdigt diese „als eine Kraft zur kirchlichen Erneuerung“. In: Mohaupt, Modelle, 142f. 16 EKD-Texte 88, Verbindlich leben, 5. 17 Vgl. Joest, Landschaft, 14.

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Weltkriege. Abgesehen von Strömungen im Protestantismus wie die Gemeinschaftsbewegung oder die Oxford-Gruppen-Bewegung, wird der ökumenische Aufbruch zu Beginn des Jahrhunderts zu einem wichtigen Bezugspunkt. Viele Christen beklagten die Schwächung des christlichen Zeugnisses durch konfessionelle Zerstrittenheit, vor allem angesichts der fortschreitenden Säkularisierung, auch im Raum der Kirche, und der Dominanz areligiöser Ideologien. Große Wirkung hatte auch die Friedensbewegung angesichts des Schreckens der Kriege und der atomaren Aufrüstung. Schließlich lassen sich kommunitäre Gründungen als mehr oder weniger explizite Auseinandersetzung mit Experimenten sozialistischer Kommune-Bewegungen weltweit verstehen.18

1.2.1 Erste große Entstehungswelle: Vor- und Zwischenkriegszeit Die Entstehung der neuen evangelischen Gemeinschaften erfolgte in drei größeren Wellen.19 Den ersten Schub nach dem Ersten Weltkrieg bildeten Bruderschaften ohne gemeinsames Leben, in denen sich meist Männer (oft, aber nicht nur Pfarrer), zum regelmäßigen Gebet und zu persönlicher Bibellese verbanden, um für eine Erneuerung ihrer Kirche einzutreten und einander in Fürbitte und bei Rüstzeiten bzw. Konventen zu stärken.20 Noch heute bestehen u. a. der 1913 gegründete Pfarrergebetsbund – PGB (heute Pfarrerinnen- und Pfarrer-Gebetsbund), die 1929 aus der Hochkirchlichen Vereinigung hervorgegangene Evangelisch-Katholische Eucharistische Gemeinschaft (heute Hochkirchliche St.-Johannes-Bruderschaft) und die 1931 innerhalb der Berneuchener Bewegung entstandene Evangelische Michaelsbruderschaft. Die beiden letztgenannten knüpfen an die Tradition der Tagzeitengebete an und bemühen sich um ein vertieftes Verständnis von Liturgie und Sakramenten. Im April 1935, mitten im eskalierenden Kirchenkampf, wurde Dietrich Bonhoeffer von der Bekennenden Kirche mit der Leitung des Predigerseminars Finkenwalde betraut, aus dem bald das sog. Bruderhaus, bestehend aus sechs bis zehn Theologen, die erste neuere evangelische Kommunität mit gemeinsamem Leben, erwuchs. Andachten und Gebet gliederten den Tag im Bruderhaus, es gab Zeiten des Austausches, des Rückzugs und die Möglichkeit zur Beichte. 1937 wurden Seminar und Bruderhaus durch die Gestapo aufgelöst. 18 Vgl. Vollmer, Antje, Neuwerkbewegung. Zwischen Jugendbewegung und religiösem Sozialismus, Freiburg i.B. 2016, 24f. 19 Vgl. Zimmerling, Evangelische Spiritualität, 156. 20 Die Charakterisierung der Gemeinschaften im Folgenden beschränkt sich auf Teil-Aspekte, die für diese Übersicht sinnvoll erscheinen und basiert auf der frühen Zusammenstellung in Präger (Hg.), Frei für Gott und die Menschen, sowie auf den jüngst veröffentlichten Darstellungen in Ordenskorrespondenz 1(2017) und Lilie/aus der Wiesche u. a. (Hg.), Kloster auf evangelisch.

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Auch einige der Bruderschaften wie die Hochkirchlichen wurden verboten, andere waren geduldet, ihre Mitgliedschaft blieb kirchenpolitisch gespalten. Keine drei Jahre später reichte in der Schweiz der reformierte Theologiestudent Roger Schutz eine Seminararbeit über das Mönchsideal von Benedikt ein, um danach im französischen Taizé ein gemeinschaftstaugliches Haus zu beziehen. 1949 gründete er dort die Communauté de Taizé, die mit ihrem ökumenischen und völkerverbindenden Engagement sowie ihrer Öffnung für jugendliche Besucher aus der ganzen Welt eine neue Ära der kommunitären Bewegungen einläutete.

1.2.2 Zweite Welle: Nachkriegszeit und Wiederaufbau Nach dem Zweiten Weltkrieg entstanden zönobitische Kommunitäten mit Ausrichtung an den evangelischen Räten „Ehelosigkeit, Gütergemeinschaft und mündiger Gehorsam“.21 Die Bandbreite der spirituellen Ausprägungen und des damit eng verbundenen Auftrags spiegelt im Kleinen die verzweigte katholische Ordenstradition wider.22 Aus der Fülle der Gründungen seien hier beispielhaft einige genannt, die diesen Aufbruch geprägt haben. Die Evangelische Marienschwesternschaft ging 1947 aus einer Gruppe junger Frauen hervor, die sich nach der Darmstädter Bombennacht zur Lebenshingabe an Jesus Christus, zur Buße, zur Versöhnung zwischen den Völkern, insbesondere mit dem Volk Israel, und zur Evangelisation verpflichteten. Eigenes Liedgut, eigene Gottesdienstformen und Tagzeitengebete prägen bis heute die Konferenzen und geistlichen Feiern auf dem weitläufigen Gelände „Kanaan“ und in mehreren „Wiegen“ der ökumenisch und international zusammengesetzten Schwesternschaft. Seit 1967 tragen die Kanaan-Franziskusbrüder den Auftrag mit. 1948/49 formte sich die Christusbruderschaft Selbitz mit zwei Zweigen: Die Communität der ledigen Frauen und Männer und die Tertiärgemeinschaft von Ehepaaren. Schon in der Begrifflichkeit deutet sich an, dass sie sich dem franziskanischen Geist der Geschwisterlichkeit mit allen Menschen verpflichtet weiß und bereit ist, Christus besonders in den Schwachen zu begegnen. Entschieden am benediktinischen Auftrag von ora et labora knüpft die 1950 von Frauen gegründete Communität Casteller Ring an. Sie halten das viermalige Stundengebet und empfangen Gäste und ihre „Oblaten“, die selbst nach benediktinischem Grundsatz, aber bewusst in der Welt leben, im Geistlichen Zentrum Schwanberg. Einem missionarisch-diakonischen Dienst verpflichten sich die seit 1961 in Deutschland, der Schweiz und an vielen Orten in Entwicklungsländern engagierten Christusträger Brüder und Schwestern. Seit die Brüder 1986 ihr 21 In der Formulierung der Communität Casteller Ring auf www.schwanberg.de/CCR, abgerufen am 13. 04. 2018. 22 Vgl. Joest, Spiritualität, 387–390.

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Zentrum nach Kloster Triefenstein am Main, einem ehemaligen Augustiner Chorherrenstift, verlegt haben, ist das gregorianische Gebet Teil ihres Tagesrhythmus. Die ökumenische Jesus-Bruderschaft hat seit 1961 u. a. um das ehemalige Zisterzienserkloster Gnadenthal ein geistliches Zentrum mit Seminarangeboten für Gäste und ökologischer Landwirtschaft errichtet, das von drei Zweigen: den Brüdern, seit 1964 den Schwestern und seit 1968 auch einer Familienkommunität getragen wird. Die 1962 gegründete Kommunität Adelshofen mit Brüdern und Schwestern unterhält in ihrem Lebenszentrum ein theologisches Seminar und gestaltet das geistliche Leben mit den Studierenden und dem jährlich wechselnden Freiwilligenteam. Ganz anders die Gethsemanebruderschaft Koinonia, in der sich 1963 Seminaristen der Hermannsburger Mission zu einem kontemplativen Leben verabredeten und in deren Nachfolge 1975 unter anderem eine Fraternität entstanden ist. Die Wiederentdeckung gemeinschaftlicher Spiritualität, die aus dem monastischen Erbe schöpft, belebte auch viele in der Reformationszeit evangelisch gewordenen Klöster und Stifte: ob durch die Wiederaufnahme der Tagzeitengebete, wie in der zisterziensischen Gründung Kloster Mariensee, oder durch die Bildung von sich zu Gebet und Konventen verpflichtenden Gemeinschaften, wie die Familiaritas Kloster Amelungsborn (1960), oder durch den Einzug von Ablegern anderer Gemeinschaften, wie in den Frauenklöstern Barsinghausen und Wülfinghausen. 1.2.3 Dritte Welle: Studentenunruhen und (Vor-)Wendezeit Bevor im Zuge der Studentenbewegung die dritte Entstehungswelle begann, hatte der 1959 gegründete Laurentiuskonvent als kommunitäre Gruppe katholischer und evangelischer Christen bereits kleine Haus- und Dienstgemeinschaften in Falkenburg, Berlin und Bonn gegründet, später kamen andere u. a. in Wethen und Laufdorf hinzu. Dem Konziliaren Prozess für Gerechtigkeit, Frieden und Bewahrung der Schöpfung verpflichtet, versteht sich der Laurentiuskonvent bis heute als eine Form konkreter Gemeinde Jesu. Dem Impuls mit ökumenischer Ausrichtung und friedens- und gesellschaftspolitischem Engagement folgten 1968 gleich mehrere Initiativen: Der oben schon genannte Familienzweig der Jesus-Bruderschaft in Gnadenthal; die Offensive Junger Christen (OJC) in Bensheim und Reichelsheim mit dem apologetischen Anliegen, die brennenden Fragen nach Frieden, Freiheit und Gerechtigkeit auf biblischer Grundlage zu reflektieren und sie im konkreten Lebensvollzug zu verwirklichen; das Lebenszentrum für die Einheit der Christen, das sich auf Schloss Craheim aus Familien, einer katholischen Ordensgemeinschaft und einer Schwesternschaft zusammenfügte; das Ökumenische Lebenszentrum Ottmaring in Kooperation von katholischen Fokolaren, der evangeli-

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schen Bruderschaft vom gemeinsamen Leben und der Evangelischen Kreuzbruderschaft. Der kommunitäre Aufbruch ebbte bis zur Wendezeit nicht ab. Es entstanden familiäre Strukturen um bereits bestehende monastische, wie die Communität Koinonia (1976), die mit der verstreut lebenden Geschwisterschaft (1988) und der Dienstgemeinschaft Koinonia Gethsemane den kontemplativen Auftrag im Einüben von Herzensgebet und betrachtendem Gebet der Bruderschaft mitträgt. Es kamen neue, evangelikal inspirierte Formen hinzu, wie die Basisgemeinde Wulfshagenerhütten (1973) oder die Jesus-Gemeinschaft in Marburg mit dem Christustreff (1981/92). Seit der Wiedervereinigung haben sich auch in den neuen Bundesländern Gemeinschaften geformt, sei es durch Neugründungen wie der Familienkommunität SILOAH in Neufrankenroda (1990) und der ökumenischen Via Collegiata Christiana, sei es durch Ableger von bereits im Westen aktiven Gruppen oder dadurch, dass Gemeinschaften, die in der DRR weitgehend unbeachtet blieben, sich neu konstituierten, wie die Bruderschaft Liemehna (1973), die Schniewind-Haus-Schwesternschaft (1914/1957), die Schwestern- und Bruderschaft der Malche und der in Erfurt gegründete St. Georgs-Orden (1987).

2.

„Menschen sammeln“ – das Experiment als geistlicher Lebensvollzug

Immer wieder berufen sich Kommunitäten und geistliche Gemeinschaften auf Dietrich Bonhoeffers Vision von einer geistlichen Erneuerung des in die Krise geratenen, kirchlich verfassten Christentums, wie er sie in einem Brief an seinen Bruder Karl Friedrich prägnant auf den Punkt brachte: „Die Restauration [d. h. Erneuerung] der Kirche kommt gewiß aus einer Art neuen Mönchtums, das mit dem alten nur die Kompromißlosigkeit eines Lebens nach der Bergpredigt in der Nachfolge Christi gemeinsam hat. Ich glaube, es ist an der Zeit, hierfür Menschen zu sammeln“.23

Die programmatische Formel neues Mönchtum diente und dient seither über konfessionelle und geografische Grenzen hinweg als wichtiger Referenzpunkt, sowohl bei experimentellen Gründungen als auch bei deren wissenschaftlicher Beschreibung und Zuordnung.24 Dabei ist dieses „Mönchtum“ weder Selbstzweck

23 Bonhoeffer, Dietrich, Brief an Karl-Friedrich Bonhoeffer. London, 14. 01. 1935, in: DBW 13, 273. 24 Im angelsächsischen Raum etablierte sich „New Monasticism“ als Label für ein breites Spektrum von Formierungen aus diversen Konfessionen. Vgl. insb. Stock, Jon/Otto, Tim/ Wilson-Hartgrove, Jonathan, Inhabiting the Church. Biblical Wisdom for a New Monasti-

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noch die neue Norm. Bonhoeffer betont, dass ein aus der geistlichen Ödnis „der Welt“ herausgenommenes Leben mit Geschwistern keine Idealform christlichen Lebens, sondern einen besonderen Anruf und ein Geschenk in der Zeit, auf Zeit, darstellt.25 Er verweist auf das eschatologische Signal: Es soll zum einen die Freude auf das kommende Reich wecken, zum anderen eine Gnadenfrist gewähren, in der Christen Gemeinschaft einüben, um sich auch in der Zerstreuung, ja selbst in der „tiefsten Einsamkeit“, noch im Leib Christi verbunden zu wissen. Heute sind die meisten Kommunitäten und geistlichen Gemeinschaften auf Dauer angelegt, und viele haben schon mehrere Generationswechsel erlebt. Die Erfahrung der Jahre lehrt, dass weder „die Welt“ noch „die Einsamkeit“ Halt vor Klostermauern machen, einfach, weil Menschen beides in sich tragen, mitten in das Zusammenleben hinein. So bleibt Gemeinschaft als geistliche Realität noch im engagierten Miteinander ein unverfügbares Gnadengeschenk. Erst im Wissen um den Grund von Gemeinschaft: Christus, und unter der Prämisse, sich nicht allzu fest einzurichten, sondern immer neu auf ihn auszurichten,26 kann verbindliche Gemeinschaft die Sehnsucht nach Beständigkeit, Zugehörigkeit und Beheimatung erfüllen – eben weil sie bereit ist, diese aus einer anderen als der selbst hergestellten Realität zu empfangen. Daraus schöpfen Kommunitäten die Freiheit und den Mut zum Experiment. Denn vor allem das begründet und legitimiert ihr Dasein als eine vierte Gestalt von Kirche: Experimentierraum27 zu sein für praktisch und innovativ gelebten Glauben nach dem Evangelium.

2.1

Identität finden und Identität stiften im Über-sich-hinaus-Leben

Mag der Ruf zur kompromisslosen Christusnachfolge ein wichtiger Aspekt kommunitärer Gründungen sein; als Unterscheidungskriterium taugt er nicht, da die Bergpredigt für jeden Getauften maßgeblich ist. Ansporn ist vielmehr der dringliche Appell, „hierfür Menschen zu sammeln“, dem um der „Restauration der Kirche“ willen Folge zu leisten ist. Es geht also nicht um ein möglichst effizientes oder auf die eigenen Bedürfnisse zugeschnittenes Design von Nachfolge im passenden Ambiente und mit passenden Gefährten – im Gegenteil! Fokus und Ziel geistlicher Gemeinschaft muss letztlich das Absehen von sich selbst sein: das Absehen von dem Einzelnen im Blick auf das Ganze ebenso wie das Absehen von der eigenen Gemeinschaft im Blick auf das Ganze der Kirche. Nur so wird eine in sich selbst verliebte oder verhakte, korrumpierte Kirche cism, Eugene, Oregon 2006, sowie Dreher, Rod, The Benedict Option, A Strategy for Christians in a Post-Christian Nation, New York 2017. 25 Vgl. Bonhoeffer, Gemeinsames Leben, 15–18. 26 Vgl. Klenk u. a., Gefährten, 77. 27 EKD-Texte 88, Verbindlich leben, 18.

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„restauriert“, also fähig, von sich selbst ab und ganz auf Christus zu sehen, der selbstlos Menschen und Kirche im Blick hat. Ihre Erneuerung beginnt mit der Reintegration des Einzelnen in das Gefüge des Leibes Christi: „Ein neuer Mensch werden heißt in die Gemeinschaft kommen, Glied am Leibe Christi werden. Wer allein ein neuer Mensch sein will, bleibt beim alten.“28 Im neuen Mönchtum geht es darum, dem allgemeinen Ruf, sich „in dieser Welt sichtbar um Gottes Wort und Sakrament [zu] versammeln“,29 in verbindlicher Zugehörigkeit zu einer konkreten Gemeinschaft nachzufolgen. Dabei wird sowohl der Aspirant als auch die Gemeinschaft nüchtern zu prüfen haben, ob dieser gemeinsame Weg eine Option ist. In der Regel haben Gemeinschaften dafür vereinbarte und begleitete Zeiträume und Grade der Verbindlichkeit, die entweder der klösterlichen Terminologie folgen wie Postulat, Noviziat und Profess, oder – je nach Prägung – Prüfungsphase, Eintritt, Aufnahme, Versprechen, Zusage, Bundesschluss. Ausschlaggebend für die Entscheidung jenseits von Vorlieben, Sympathien und Vorstellungen ist, ob sich in dieser konkreten Formation die Freude am Gemeinsamen vertieft und ob die Liebe wächst: zu Jesus Christus und zu seiner Kirche, die konkret in den Geschwistern Gestalt gewinnt. Dieser Anspruch, an dem sich geistliche Gemeinschaften in besonderer Verbindlichkeit messen lassen müssen, ist zugleich ihr ureigenster Auftrag: Sie bilden ein durch Rhythmen des Gebets, durch Ausrichtung des Lebens am Evangelium, wachsende Vertrautheit und Solidarität zueinander und durch den gemeinsam verrichteten Dienst gestaltetes Umfeld, in dem der Einzelne als „neue Kreatur“ ganz er oder sie selbst sein und zu seiner oder ihrer ureigenen Bestimmung finden kann – die sich darin erfüllt, mit anderen ein solches Umfeld zu bilden. Das jeweils Besondere daran macht die Vielgestaltigkeit von Nachfolge augenfällig und den „schöpferischen Pluralismus“30 von und in der Kirche zum Programm.

2.2

Räume, Zeiten und Beziehungen gestalten

2.2.1 Kommunitäten als „geistliche Gnadenorte“ Das Erste, was Menschen wahrnehmen, wenn sie eine Kommunität aufsuchen, ist oft der gestaltete und belebte Raum: in der Architektur, den Außenanlagen, der Einrichtung, vor allem aber in der Konzentration des Raumes auf das, was den dort Lebenden wichtig ist. Dies alles lässt etwas vom Charakter der in der Gemeinschaft wirkenden Formation sichtbar werden und prägt den spiritus loci. 28 Vgl. Bonhoeffer, Nachfolge, 233. 29 Bonhoeffer, Gemeinsames Leben, 16. 30 Vgl. Zimmerling, Bedeutung, 178.

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Auch Gemeinschaften ohne vita communis treffen sich gern an mit der Zeit vertraut gewordenen Orten oder in von ihnen selbst geführten Häusern. Denn zu einem ganzheitlichen geistlichen Leben gehört die entschiedene und verbindliche Verankerung in Zeit und Raum. Ob benediktinisch verlässlich und antreffbar am Ort, ob franziskanisch mobil und nahe bei den Menschen: Stets prägt die Besonderheit des Auftrags das Umfeld. Die Stile sind denkbar unterschiedlich – trendy und niedrigschwellig privat, zeitlos-klassisch und unaufdringlich, sich wie eine Herberge präsentierend, ein Raum des Gebetes, Schauplatz geteilten Privatlebens oder gemeinsamer Tätigkeiten. Meist ist es etwas von allem. Es können auch unterschiedliche Lebensbereiche für Besucher zugänglich sein: Gebetszeiten, Gottesdienste und Andachten, Geselligkeit oder Stille, Arbeit oder Rekreation und Feiern. Durch ihre Öffnung für Gäste werden Kommunitäten zu „geistlichen Gnadenorten“.31 Nach der Regel des Benedikt ist der Gast, ob König oder Bettler, zu ehren, als wäre er Christus selbst. Die biblische Wertschätzung von Gastfreundschaft (Hebr 13,1f) wurzelt in Gottes eigener Gastfreundschaft bei sich im Heiligtum (Ps 84) und im Vaterhaus Jesu (Joh 14,1–4). Sie erst legitimiert die Absonderung, indem sie sie transzendiert: Gemeinschaft als ein durch Vertrautheit gefestigtes Gefüge, das Fremde beherbergt und einbindet.32 In einer hyper-mobilen Gesellschaft, die immer weniger Einwurzelung an einem Ort ermöglicht, zugleich zur Erschließung von amorphen, virtuellen Räumen drängt, sind verlässliche Orte, an denen man einkehren und zu denen man zurückkehren kann, rar und kostbar. Was sich hier durch Formgebung, geistlichen Gehalt oder Ausstattung mit kreativ-kunstvoll gefertigten Symbolen des Glaubens als Infrastruktur formt und bewährt, kann auch Kirchengemeinden, Hauskreise, Familien, Wohngemeinschaften inspirieren, selbst einen Rahmen für Begegnung zu gestalten, ganz im Sinne der Romano Guardini zugeschriebenen Devise: „Das ist der Gastfreundschaft tiefster Sinn, dass wir einander Rast geben auf dem Weg nach dem ewigen Zuhause.“33 Es geht darum, sich in der Welt so zu beheimaten, dass die Sehnsucht nach der himmlischen Heimat wachgehalten wird. „Viele Menschen finden bei uns einen Ort, der ganz anders ist als ihr Umfeld. Hier fühlen sie sich erwartet und willkommen und können ihre Sehnsucht neu spüren.“34 Dazu laden Gemeinschaften in jahrhundertealte Klöster, in unspektakuläre Stadtkonvente und in 31 Kirchenkanzlei, Evangelische Spiritualität, 53f. 32 Ein wiederkehrendes Bildmotiv in Häusern und Publikationen ist der Besuch der drei Fremden bei Abraham nach Gen 18 in der Adaption der „Dreifaltigkeitsikone“ von Andrei Rubljow. 33 Zit. nach Klenk u. a., Gefährten, 145. 34 von Bibra, Reinhild, Abenteuer einer Neugründung. Kloster Wülfinghausen, in: Lilie/aus der Wiesche u. a. (Hg), Kloster auf evangelisch, 99.

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Familienkolonien ein, aber auch in temporäre Installationen, wie das auf Kirchentagen mittlerweile fest etablierte „Evangelische Kloster“ mit Raum für Stille, Meditation, Tagzeitengebet, Lobpreis und Begegnung. 2.2.2 Kommunitäten als „Schulen des Gebets“ Zeit im Wechsel von Arbeit und Gebet, im Rhythmus von Gottesdiensten, Festen des Kirchenjahres, von Fasten und Genießen, von Begegnung und Rückzug ist nicht nur ein von der Gemeinschaft gestaltetes Element, sondern selbst ein die Gemeinschaft gestaltendes Element. Zeit und Raum bilden die konkret erlebbaren, messbaren, verfügbaren Dimensionen der diesseitigen, materiellen Wirklichkeit. Im Hier und Jetzt begegnen Menschen dem allgegenwärtigen und ewigen Gott und kommen mit der jenseitigen, geistlichen Wirklichkeit in Berührung. „Geistliche Gemeinschaften sind betende Gemeinschaften.“35 Indem Gemeinschaften an klösterliche Liturgien wie das Psalmengebet anknüpfen, verorten sie sich im Kontinuum der Geschichte, die so als Heilsgeschichte erlebbar wird. Das Einstimmen in den himmlischen Lobgesang (Jes 6; Apg 4) stellt einen Ewigkeitsbezug mitten im Alltag her, der dem reformatorischen Anspruch, dass alle Lebenssphären vom Heiligen zu durchdringen seien, Rechnung trägt: Mitten in die Geschäftigkeit gehört der Ingressus aus dem Mittagsgebet, das sich auch im evangelischen Kirchengesangbuch findet: „Herr, meine Zeit steht in deinen Händen“ (Ps 31,16). Das bildet die Grundlage für Fürbitte, für den Zuspruch von Segen, für seelsorgerliche und meditative Formen des Gebetes, die in Gemeinschaften praktiziert werden. Als „Schulen des Gebets“36 wirken sie so in die Kirche hinein und bieten Anregungen für die eigene Gebetspraxis. Ein geistlicher Rhythmus kann auch helfen, Beziehungen, Ziele, Aufgaben und Vorlieben nach authentischen kreatürlichen Bedürfnissen zu gewichten – eine Fähigkeit, die im beschleunigten und von Leistung und Konsum bestimmten Alltag leicht verloren geht. Das gilt für persönliche wie für gemeinschaftliche Lebensvollzüge im Spannungsfeld von „Aktion, Kontemplation, Konspiration und Rekreation“.37 Zu einem geistlichen Umgang mit der Zeit gehört es auch, Bedürfnisse und Potenzial der Lebensalter im sich wandelnden Generationengefüge wahrzunehmen. Zum Prüfstein dafür, ob – wie es die Regel des Benedikt vorgibt – die Jungen die Älteren wirklich ehren und die Alten die Jüngeren lieben, werden die Umbrüche, wenn der Auftrag der Gemeinschaft von einer Generation zur anderen 35 Lilie, Frank, Gebet – im Rhythmus des Lebens, in: ders./aus der Wiesche u. a. (Hg.), Kloster auf evangelisch, 160. 36 Wilckens, Kommunitäten, Abs. 4.2. 37 Vgl. Klenk u. a., Gefährten, 67–59. Konspiration meint dort „gemeinsam atmen“ als geistlichkreativen Prozess gemeinsamer Wegsuche.

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übergeht.38 Während sich die Gesellschaft zunehmend segmentiert und die Lebensbereiche der Altersgruppen entmischen, suchen Kommunen wie Kirchengemeinden nach neuen Formen des Miteinanders – hier können geistliche Lebensgemeinschaften inspirierend wirken. 2.2.3 Kommunitäten als Orte der Bewährung und des Scheiterns Aus dem Ja zur Verbundenheit folgt die Bereitschaft, Beziehungen bewusst zu pflegen. Das umfasst auch das Reflektieren der eigenen Beziehungsfähigkeit, Lebensgeschichte, Werte und Ziele – der eigenen Identität. Dabei haben sich in den Gemeinschaften die evangelischen Räte Armut, Keuschheit und Gehorsam in jeweils unterschiedlicher Konkretion als hilfreich erwiesen. Ob in Ehelosigkeit oder in ehelicher Treue, ob in persönlicher Mittellosigkeit, in Gütergemeinschaft oder durch freigiebiges Teilen von privatem Besitz, ob durch Leitungsämter oder in basisdemokratischen Vollzügen: Angelpunkt der Verbindlichkeit ist die innere Freiheit, die eigenen ökonomischen, emotionalen und schöpferischen Ressourcen Gott in der Gemeinschaft zur Verfügung zu stellen. Konkret wird das in der Solidarität mit den Bedürftigen, im Bemühen um die „erste Liebe“ zu Jesus Christus und um die Bruderliebe, die achtsam, respektvoll, bereit zu Buße, Vergebung und Versöhnung ist, sowie im Willen, die eigenen Belange und Ziele mit den gemeinsamen abzustimmen. Die Erfahrungen im Mikrokosmos der Gemeinschaft fließen in seelsorgerliche Angebote, diakonisches Engagement und in die Beteiligung an (lebens-)ethischen Diskursen in Kirche und Gesellschaft. Es braucht einen langen Atem, um Nähe und Distanz, Regeln und Selbstverantwortlichkeit einsam und gemeinsam einzuüben und sich selbst auf die Schliche zu kommen, wenn man – ob aufgrund von Angst, Schuld oder Verletzungen – einander etwas vorenthält. Mündiger Gehorsam setzt ein hohes Maß an Reife voraus. Hier offenbart die religiöse Begründung besonderer Verbindlichkeit eine gewisse Ambivalenz und ein Gefahrenpotenzial: Sie kann Orientierung, Entlastung und Trost geben, sie kann aber auch missbräuchliche Strukturen befördern, wenn gärende Konflikte, Überforderung oder Manipulation überdeckt werden, weil man um des Konsenses willen darauf verzichtet, eigene Positionen und Bedürfnisse geltend zu machen.39 Wenn Gemeinschaft Bestand haben soll, müssen persönliche und kollektive Überforderung und Erfahrungen des Scheiterns ehrlich reflektiert und transparent gemacht werden. Nicht stete Harmonie, sondern bewältigte Krisen zeugen glaubwürdig vom Wirken des Heiligen Geistes. 38 Vgl. Klenk, Wechseljahre der Gemeinschaft. 39 Vgl. Zimmerling, Bedeutung, 176.

Kommunitäten und geistliche Gemeinschaften

2.3

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Leben aus dem Empfangen – für ein Leben aus der Fülle

Bei all dem ist der Blick über den eigenen Tellerrand unverzichtbar. Gemeinschaften inspirieren und unterstützen einander und nehmen Begleitung in Anspruch, vor allem in Krisen- und Übergangszeiten. Sie bringen sich in diversen kirchlichen Foren ein und sind selbst Initiatoren für innovative Prozesse in Kirche und Gesellschaft, wie etwa bei der ökumenischen Plattform von Kommunitäten und geistlichen Bewegungen Miteinander für Europa. Vor allem aber möchten evangelische Kommunitäten und geistliche Gemeinschaften bei den Menschen und in ihrer Kirche vor Ort präsent und wirksam sein. Das bleibt angesichts der Eigendynamik verbindlicher Strukturen und unterschiedlicher geistlich-theologischer Interessen wie Prioritäten eine Herausforderung für alle Beteiligten. Und doch ist genau das „die Nagelprobe für die in Kommunitäten gewonnenen spirituellen Erkenntnisse. Erst im normalen Alltag in Beruf und Familie zeigt sich ihre Tragfähigkeit.“40 Gängiger Topos klösterlichen Lebens und zugleich eingängige Metapher für kommunitäre Erfahrung ist ein dreischaliger Brunnen,41 wie er sich im ehemaligen Zisterzienserkloster Maulbronn findet: Die erste Schale steht für das Lebenswasser, das aus der persönlichen Christusbeziehung ins Leben eines jeden strömt. Wenn diese Schale gefüllt ist, kann Wasser in die zweite, die der Gemeinschaft, fließen. Von hier aus ergießt es sich in die große dritte, die Schale des Dienstes in der Welt. Trocknet das eigenverantwortliche geistliche Leben der Einzelnen aus, wird, sobald das gemeinschaftliche Reservoir erschöpft ist, auch die Gemeinschaft veröden. Verkümmert die Schale der Gemeinschaft und verringert sich ihr Aufnahmevolumen, geht zwischen erster und dritter Schale viel Wasser verloren; ist sie hingegen zu ausladend, steht und trübt sich das Wasser, bevor es in die dritte Schale fließen kann – dann ist Gemeinschaft zum Selbstzweck geworden. Es kommt auf das Empfangen an, auf das Strömen des Wassers und auf die Ausgewogenheit der Gefäße. Kommunitäten und geistliche Gemeinschaften bilden bildlich gesprochen ein Gefäß im Brunnenhaus der Kirche.

40 Zimmerling, Herausforderung. 41 Stefan Kunz, Mitglied des Evangelischen Exerzitiums, vergleicht den Brunnen im Kloster Maulbronn mit jenem in C.F. Meyers Gedicht „Der römische Brunnen“ und bezieht die Symbolik ihrer Gestalt auf das Wesen von Gemeinschaft. Vgl. ders., Predigt.

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Literatur Quellen Berthold, Johannes/Schmidt, Markus (Hg.), Geistliche Gemeinschaften in Sachsen. Kommunitäten, Gemeinschaften und Netzwerke stellen sich vor, Berlin 2016. Bonhoeffer, Dietrich, Gemeinsames Leben, hg. von Bethge, Eberhard/Müller, Gerhard Ludwig/Schönherr, Albrecht, 26. überarbeitete Auflage, Gütersloh 2001. –, Nachfolge, hg. von Kuske, Martin/Tödt, Ilse, Gütersloh 2002. Hümmer, Wolfgang, Bruderschaft als Herausforderung an die Gemeinde, Gnadenthal 2 1969. Klenk, Dominik/Offensive Junger Christen, Wie Gefährten leben. Eine Grammatik der Gemeinschaft, Basel 2013. Knodt, Gerhardt u. a., Gemeinschaftliches Leben aus dem Evangelium: eine theologische Standortbestimmung, in: Lilie, Frank/aus der Wiesche u. a. (Hg.), Kloster auf Evangelisch, 159–167. Kunz, Stefan, Predigt über Johannes 13,34–35, www.predigtpreis.de/predigtdatenbank/pre digt/article/predigt-ueber-johannes-1334-35.html, abgerufen am 13. 04. 2018. Lilie, Frank/aus der Wiesche, Anna-Maria u. a. (Hg.): Kloster auf Evangelisch. Berichte aus dem gemeinsamen Leben. Mit einem Geleitwort von Altbischof Jürgen Johannesdotter, Münsterschwarzach 2017. Luther, Martin, Deutsche Messe und Ordnung Gottesdiensts (1526), WA 19, (44) 72–113. Ordenskorrespondenz OK. Zeitschrift für Fragen des Ordenslebens, Themenschwerpunkt: Protestantisches Ordensleben im deutschsprachigen Raum. 1/2017. Präger, Lydia (Hg.), Frei für Gott und die Menschen – Evangelische Bruderschaften und Schwesternschaften der Gegenwart in Selbstdarstellungen, 2. verbesserte Auflage, Stuttgart 1964.

Forschungsliteratur Verbindlich leben. Kommunitäten und geistliche Gemeinschaften in der Evangelischen Kirche in Deutschland. Ein Votum des Rates der EKD zur Stärkung evangelischer Spiritualität, EKD-Texte 88, Hannover 2007. Evangelische Spiritualität. Überlegungen und Anstöße zur Neuorientierung. Kirchenkanzlei im Auftrag des Rates der EKD (Hg.), Gütersloh 1979, 53. Biot, François, Evangelische Ordensgemeinschaften, Übersetzung aus dem Französischen, Mainz 1961. Dombois, Hans, Das Recht der Gnade. Ökumenisches Kirchenrecht II, Grundlagen und Grundfragen der Kirchenverfassung in ihrer Geschichte, Bielefeld 1974. Halkenhäuser, Johannes: Kirche und Kommunität. Geschichte und Auftrag der kommunitären Bewegung in den Kirchen der Reformation, Paderborn 1977. Joest, Christoph, Spiritualität evangelischer Kommunitäten. Altkirchlich-monastische Tradition in evangelischen Kommunitäten von heute, Göttingen 1995.

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–, Die Landschaft der evangelischen Kommunitäten. Gemeinsames und Unterschiede, Überblick und Perspektive, in: OK – Ordenskorrespondenz, 14–22. Klenk, Dominik, Wechseljahre der Gemeinschaft, in: Berthold, Johannes/Schmidt, Markus (Hg.), Geistliche Gemeinschaften in Sachsen, 182–190. Krüger, Günter, Lebensformen christlicher Gemeinschaften. Eine pädagogische Analyse, Heidelberg 1969. Mohaupt, Lutz (Hg.) i. A. der Bischofskonferenz, Modelle gelebten Glaubens. Gespräch der Lutherischen Bischofskonferenz über kommunitäre und charismatische Bewegungen, zur Sache: Kirchliche Aspekte heute 10, Hamburg 1976. Seidel, Thomas A., „Mit Ernst Christ sein…“ Luther, Bonhoeffer, Stählin. Zur Bedeutung geistlicher Gemeinschaften heute, in: Ev. Bruderschaft St. Georgs-Orden/BonhoefferHaus e.V. (Hg.), Dienet einander…, Die evangelische Bruderschaft St. Georgs-Orden (St.Go), Erfurt 2014, 12–23. Stählin, Wilhelm, Bruderschaft, mit einem Vorwort von Frank Lilie (Hg.) und einer Einleitung von Peter Zimmerling, Leipzig 2010. Wenzelmann, Gottfried, Nachfolge und Gemeinschaft. Eine theologische Grundlegung des kommunitären Lebens, Stuttgart 1994. Wilckens, Ulrich, Die evangelischen Kommunitäten. EKD-Texte 62, Hannover 1997, vergriffen, online verfügbar: www.ekd.de/die-evangelischen-Kommunitaten-912.htm, abgerufen am 13. 04. 2018 Zimmerling, Peter, Die Bedeutung der Kommunitäten und geistlichen Gemeinschaften für die evangelische Kirche, in: Berthold/Schmidt (Hg.), Geistliche Gemeinschaften in Sachsen, 169–181. –, Eine Herausforderung für die Gesamtkirche. Die Spiritualität evangelischer Kommunitäten, in: Deutsches Pfarrerblatt 7/2001, online verfügbar unter: www.pfarrerverband. de/pfarrerblatt/archiv.php?a=show&id=783, abgerufen am 13. 04. 2017 –, Evangelische Spiritualität. Wurzeln und Zugänge, Göttingen 22010.

Manfred Kießig

Spiritualität und Institution Die Bedeutung übergemeindlicher Institutionen für die Praxis evangelischer Spiritualität

1.

Der ekklesiologische Ort der übergemeindlichen Institutionen

Wer die Frage nach der Bedeutung übergemeindlicher Institutionen für die Spiritualität beantworten will, muss zunächst den ekklesiologischen Ort dieser Institutionen klären. Der lutherische Kirchenbegriff scheint auf den ersten Blick hierfür keinen Anknüpfungspunkt zu bieten, heißt es doch in der Confessio Augustana, Artikel VII: „Es wird auch gelehret, daß alle Zeit musse eine heilige christliche Kirche sein und bleiben, welche ist die Versammlung aller Glaubigen, bei welchen das Evangelium rein gepredigt und die heiligen Sakrament lauts des Evangelii gereicht werden.“1 Aufgrund der Konkordie reformatorischer Kirchen in Europa (Leuenberger Konkordie) von 1973 kann dieser Kirchenbegriff als gemeinreformatorisch gelten: „Die Kirche ist allein auf Jesus Christus gegründet, der sie durch die Zuwendung seines Heils in der Verkündigung und in den Sakramenten sammelt und sendet“.2 Das reformatorische Verständnis von Kirche, das sich sowohl in der Confessio Augustana als auch in der Leuenberger Konkordie ausdrückt, ist also an der konkreten Versammlung der Gemeinde um Wort und Sakrament orientiert und damit fast eine „gottesdienstliche Definition“ von Kirche. Diese Sicht kann sich auf den neutestamentlichen Gedanken des Leibes Christi berufen, der Eucharistie und Kirche eng aufeinander bezieht (vgl. 1Kor 10,16f). In diesem Kirchenbegriff sind das personale Element (Versammlung der Gläubigen) und das institutionelle Moment (Wort und Sakrament) miteinander verbunden. Welche Rolle übergemeindliche Institutionen für die Praxis des Glaubens spielen, ist hieraus nicht unmittelbar zu entnehmen. Praktisch gab es im reformatorischen Bereich Territorialkirchen, die universale Kirche hingegen hatte keine institu1 BSLK 61. 2 LK 2, in: EG 811 (Ausgabe für die ev.-luth. Landeskirche in Sachsen).

Bedeutung übergemeindlicher Institutionen für die Praxis evangelischer Spiritualität

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tionelle Gestalt, sie war eher eine unsichtbare Größe – allenfalls durch das gemeinsame Bekenntnis verbunden und nur insofern eine wahrnehmbare Größe. Aufgrund kirchengeschichtlicher Studien und der ökumenischen Bewegung hat sich heute im ökumenischen Dialog weithin eine Communio-Ekklesiologie durchgesetzt. Dies wird in einer Studie des Ökumenischen Rates der Kirchen hervorgehoben: „Das biblische Konzept der koinonia ist bei den Bemühungen um ein gemeinsames Verständnis vom Wesen der Kirche und von ihrer sichtbaren Einheit in den Mittelpunkt gerückt. Der Begriff koinonia (communio, Teilhabe, Gemeinschaft, Teilen) findet sich nicht nur im Neuen Testament, sondern auch in späteren Zeiten, insbesondere in Schriften der Patristik und der Reformation, als Umschreibung der Kirche. Obwohl der Begriff in einigen Epochen außer Gebrauch geraten ist, dient er heute wieder zunehmend als Schlüssel zum Verständnis des Wesens und Auftrags der Kirche“.3

Im Blick auf das Verhältnis von Gesamtkirche und Ortskirchen wird weiterhin ausgeführt: „Die Gemeinschaft der Kirche wird in der Gemeinschaft zwischen Ortskirchen zum Ausdruck gebracht, bei denen in jeder die Kirche voll und ganz präsent ist. Die Gemeinschaft der Kirche umfasst Ortskirchen an jedem Ort und an allen Orten zu allen Zeiten. Ortskirchen werden durch das eine Evangelium, die eine Taufe und das eine Herrenmahl, für die ein gemeinsames Amt zuständig ist, in der Gemeinschaft der Kirche gehalten. Diese Gemeinschaft von Ortskirchen ist daher kein fakultatives Extra, sondern ein wesentlicher Aspekt bei der Bedeutungsbestimmung der Kirche.“4 In dieser Sicht werden die unterschiedlichen Ebenen von Kirche in Beziehung gebracht, und man könnte die übergemeindlichen Institutionen jeweils als communio communionum, als Gemeinschaft von Gemeinschaften bezeichnen. In diesem Sinne können sowohl die Ortsgemeinden als auch die übergemeindlichen Institutionen als Gestalten von Kirche begriffen werden. Den neutestamentlichen Anknüpfungspunkt hierfür bietet die Beobachtung, dass die Begriffe Ekklesia und Leib Christi sowohl für die Ortsgemeinde als auch für die gesamte Christenheit gebraucht werden. Eine solche Sicht bietet eine echte Alternative zu extremen Positionen wie Zentralismus auf der einen oder Partikularismus auf der anderen Seite. Im Votum des Rates der EKD „Verbindlich leben – Kommunitäten und geistliche Gemeinschaften in der Evangelischen Kirche in Deutschland“ werden unter Aufnahme von Gedanken des Kirchenrechtlers Hans Dombois vier Sozialgestalten der Kirche vorgestellt, die sich in den ersten vier Jahrhunderten des Christentums herausgebildet haben:

3 Wesen und Auftrag, Ziffer 24. 4 A. a. O., Ziffer 65.

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„universale Kirche, partikulare Kirche, Gemeinde und Orden bzw. Kloster. Ortsgemeinde und universale Kirche sind dabei gleich ursprünglich, was bereits an der Doppelbedeutung des neutestamentlichen Begriffs der Ekklesia im Sinne von Gesamtgemeinde (1. Kor 15,9) und Einzelgemeinden (1. Kor 1,2) sichtbar wird. Beide Gestalten von Kirche besitzen die gleiche Dignität. Sehr bald entwickelte sich auch die dritte Gestalt von Kirche, die Partikularkirche, die begrifflich neben und sachlich innerhalb der universalen Kirche steht. Hier ist z. B. die durch die paulinische Mission entstandene griechisch geprägte Kirche zu nennen (vgl. auch 1. Kor 16,1, wo Paulus von ‚den Gemeinden in Galatien‘ spricht). An der Wende vom dritten zum vierten Jahrhundert entstand schließlich eine vierte Sozialgestalt von Kirche, die später unter der Bezeichnung Orden bzw. Kloster begrifflich zusammengefasst wurde […]. Die vier Sozialformen der Kirche stellen nämlich keine isolierten Größen dar, sondern verweisen aufeinander, sie ergänzen und relativieren einander und sind so untereinander verbunden.“5

Nach diesem Modell der vierfachen Gestalt von Kirche wären Landeskirchen sowie kirchliche Zusammenschlüsse also Formen der partikularen bzw. regionalen Gestalt von Kirche.

2.

Geschichtlicher Rückblick

Schon sehr bald haben regionale Kirchen die Praxis der Spiritualität beeinflusst. Geht man davon aus, dass vom Neuen Testament her der Gottesdienst das Zentrum der gemeinschaftlichen Spiritualität ist, dann sind alle Ordnungen hierfür von großer Bedeutung für die Praxis der Spiritualität. Und für die Gottesdienste gab es schon sehr früh Ordnungen, die einen größeren Teil von Gemeinden umfassten. Mit der Zeit zeigt sich ein Zug zu größeren Einheiten, zu „Liturgie-Familien“, doch eine Einheitsordnung für die gesamte Kirche gab es nie – selbst nach dem Tridentinum im 16. Jh. bestanden neben dem Rituale Romanum auch innerhalb der römisch-katholischen Kirche lokalkirchliche Ritualien. Die reformatorischen Landeskirchen haben Kirchenordnungen entwickelt, in denen nicht nur die kirchliche Struktur beschrieben war, sondern die auch Ordnungen für die Gottesdienste, die Sakramente und die übrigen kirchlichen Handlungen enthielten.6 Der Kleine Katechismus Martin Luthers war von Anfang an als Encheiridion angelegt, als Handbuch für die praktische Frömmigkeit, so enthielt er neben den Hauptstücken (Dekalog, Credo, Vaterunser, Taufe, Abendmahl) eine Ermahnung zur Beichte sowie Ordnungen für Taufe (Taufbüchlein) und Trauung (Traubüchlein), Gebete (Morgensegen, Abendsegen, 5 Verbindlich leben, 8f. Vgl. Dombois, Gnade, 35–51. 6 Vgl. Sehlin, Kirchenordnungen.

Bedeutung übergemeindlicher Institutionen für die Praxis evangelischer Spiritualität

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Tischgebete) und eine Haustafel für die verschiedenen Stände. Luthers Katechismen finden sich nicht nur in den wissenschaftlichen Ausgaben der Bekenntnisschriften, sondern auch in der Gemeindeausgabe;7 der Kleine Katechismus ist außerdem im Evangelischen Gesangbuch abgedruckt und dadurch für Gemeindeglieder zugänglich. Dass der Kleine Katechismus auch heute die spirituelle Praxis beeinflusst, zeigt die Wiederentdeckung des Kreuzeszeichens im evangelischen Raum – legitimiert durch den Hinweis auf Luthers Morgenund Abendsegen: „Des Morgens, wenn du aufstehst, kannst du dich segnen mit dem Zeichen des heiligen Kreuzes und sagen: das walte Gott Vater, Sohn und Heiliger Geist! Amen.“8 Auch der reformierte Genfer Katechismus von 1542 enthält Gebete. Neben den Katechismen kommt den Gesangbüchern eine wesentliche Bedeutung für die Praxis gelebten Glaubens in den Regionalkirchen zu. Durch die Festlegung von Feiertagen und Festen, aber auch durch Kirchenzuchtmaßnahmen wie etwa die Kontrolle des Kirchgangs nahm die kirchliche Obrigkeit Einfluss auf die Frömmigkeitspraxis. So heißt es in der Kirchenordnung Herzog Heinrichs von Sachsen von 1580: „Die eingepfarten sollen sich vor allen dingen fleissig in der kirchen an sonn, feier und werktagen finden, wann gottes wort geprediget wird, dasselbige mit andacht hören, herzlich gott anrufen, und für alle seine gutthat danken, sich auch kein ursach, ausserhalb eusserster not, von demselben abhalten lassen.“9 Die Obrigkeit soll niemandem gestatten, „die predig gottes worts mutwillig und vorsetzlich mit ihren weib und kindern zu versaumen. So oft aber einer befunden, das er solcher eins ubertreten und sich zuvor bei den pfarrern oder richtern jedes orts seiner vorhabenden notwendigen gescheften halben nicht entschüldiget, sol er sechs groschen in den gotteskasten zur straf erlegen.“10

3.

Praxis der Spiritualität

Die Praxis der Spiritualität vollzieht sich auf unterschiedlichen Ebenen: in der Gemeinde; in Gruppen, Kreisen und Gemeinschaften; auf der Ebene der einzelnen Personen; in Netzwerken.

• • • •

7 Unser Glaube. 8 So in der Fassung EG 815. Das ‚sollt Du‘ Luthers – BSLK 521 –, das bereits im EKG von 1950 mit ‚magst du‘ wiedergegeben worden war, ist im EG in ‚kannst du‘ abgemildert worden, wohl um jeglicher ‚Gesetzlichkeit‘ vorzubeugen. 9 Sehlin, Kirchenordnungen, 440f. 10 A. a. O., 440.

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Die übergemeindlichen Institutionen schaffen Rahmenbedingungen für die Praxis auf den genannten Ebenen, sie geben Orientierung, sie können bestimmte Praktiken fördern und unterstützen oder auch bremsen. Sie selbst haben keine eigene regelmäßige Frömmigkeitspraxis, sie stellen sich aber dar bei größeren Versammlungen, etwa bei Synoden, Übertragungen kirchlicher Ämter, bei gesellschaftlich relevanten Feiern und Gottesdiensten (z. B. bei Katastrophen, bei Rundfunk- und Fernsehgottesdiensten an hohen Feiertagen oder bei wichtigen staatlichen Anlässen) – oft ökumenisch gestaltet. Explizite Äußerungen übergemeindlicher Institutionen zur Spiritualität finden sich erst, seit die 5. Vollversammlung des Ökumenischen Rates der Kirchen in Nairobi 1975 in ihrer Botschaft festgestellt hat: „Wir sehnen uns nach einer neuen Spiritualität, die unser Planen, Denken und Handeln durchdringt“.11 Diese Anregung hat die EKD aufgenommen und eine Arbeitsgruppe „Spiritualität“ eingesetzt. Die von dieser Gruppe erarbeitete Studie „Evangelische Spiritualität“ hat der Rat der EKD 1979 den Landeskirchen und ihren Gemeinden mit folgender Empfehlung übergeben: „Er empfiehlt sie dem gründlichen Nachdenken, insbesondere in Pfarrkonventen, Mitarbeiterrüstzeiten und Gemeindegruppen“.12 Diese Studie, die nach einer Begriffsbestimmung das gesellschaftliche und geistige Umfeld beschreibt, danach theologische Koordinaten reflektiert und Aspekte einer spirituellen Erneuerung benennt, schließt mit Empfehlungen des Rates der EKD an die Leitungen der Gliedkirchen: • Kommunitäten und Zentren geistlichen Lebens sollen mehr Aufmerksamkeit finden. • Für die Ausbildung der Theologen wird eine Theologie gefordert, „in der die Praxis des Glaubens beschrieben und eingeübt wird und die damit gemachten Erfahrungen durchdacht und besprochen werden. Gebet, Meditation, Gottesdienst, Gemeinschaft und ein darin begründetes weltoffenes und diakonisches Christentum sind die ihr aufgetragenen Themen.“ • „Der Pflege und Einübung evangelischer Spiritualität kommt in der Bildungs-, Ausbildungs- und Fortbildungsarbeit der Kirche eine bisher nicht immer hinreichend beachtete Bedeutung zu.“ • Für Mitarbeitende sind Angebote nötig, „die der Stärkung und Vertiefung des Glaubenslebens dienen“. • „Alle Einzelbereiche kirchlicher Gemeindearbeit können durch die Einbeziehung der spirituellen Dimension Befruchtung, Bereicherung und Vertiefung erfahren.“13

11 Zit. in: Evangelische Spiritualität, 7. 12 A. a. O., 8. 13 A. a. O., 59f.

Bedeutung übergemeindlicher Institutionen für die Praxis evangelischer Spiritualität

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Bereits 1976 hatte die Bischofskonferenz der VELKD in einer Stellungnahme zur charismatischen Bewegung und zum kommunitären Leben sich mit Fragen der Spiritualität befasst und den Gemeinden empfohlen, „beim Nachdenken über kirchliche Erneuerung die Kommunitäten als mögliche Gestaltungen christlichen Lebens zu bejahen. Wir bitten sie den Mahnruf zu hören, der uns durch das Aufkommen der charismatischen Bewegungen erreicht“.14 In ähnlicher Weise hat der Rat der EKU Ende Mai 1977 ein Sendschreiben herausgegeben. 1988 hat sich die lutherische Bischofskonferenz erneut mit der charismatischen Bewegung befasst und in ihrer Erklärung „zur Erneuerung der Kirche durch den Heiligen Geist“ festgestellt: „Wir sind offen für vielfältige Formen der Frömmigkeit, der Verkündigung und des Dienstes in unserer Kirche und in der Gesellschaft. In diesem Sinne sehen wir auch in den Impulsen, wie sie z. B. von der Geistlichen Gemeindeerneuerung ausgehen, eine Gabe Gottes an seine Kirche. Wir sind überzeugt, dass keine Kirche, keine geistliche Gemeinschaft oder Bewegung das Ganze des Christseins voll verwirklicht. Wir bitten deshalb, dass sowohl einzelne Christen als auch geistliche Bewegungen unterschiedlicher Prägung einander als Glieder des einen Leibes Christi annehmen und zusammen für die Erneuerung unserer Kirche beten und wirken. Dies gilt in Sonderheit für das Miteinander traditionell-kirchlicher Frömmigkeit und neuer geistlicher Aufbrüche, die allesamt in der Gefahr stehen, sich über den anderen zu erheben, anstatt die Einheit der Kirche in ihrer Vielfalt zu leben.“15 Aus diesen Äußerungen wird deutlich, wie die kirchlichen Leitungsorgane einerseits geistliche Aufbrüche und Bewegungen bejahen sowie deren Impulse aufnehmen und andererseits zugleich bemüht sind, diese in das gesamte kirchliche Leben zu integrieren und damit einer Isolierung entgegenzuwirken. Auf diese Weise üben sie einen Dienst an der Einheit der Kirche aus. Angesichts einer neuen Sehnsucht nach Spiritualität innerhalb und außerhalb der Kirchen hat sich die Bischofskonferenz der VELKD 2005 mit dem Schwerpunktthema „Lutherische Spiritualität – lebendiger Glaube im Alltag“ befasst. In ihrer Erklärung zu diesem Thema ermutigt sie zunächst dazu, die Schätze aus der eigenen geistlichen Tradition neu zu entdecken: „I. Im Gebet begegnet uns Gott, ihm können wir unser Glück danken und unser Leid klagen. II. Aus dem Lesen und Meditieren der Bibel schöpfen wir die Erkenntnis Gottes, erkennen wir uns selbst und die Wahrheit über unsere Beziehungen zueinander. III. Durch Singen und Weitersagen wächst unser Gottvertrauen dank vielfältiger Bewahrung im Leben und im Sterben und wirkt sich in der Begegnung mit anderen aus. 14 Stellungnahme vom 13. 05. 1976, 5, in: Recht und Verlautbarungen der VELKD, Nr. 305–1. 15 Recht und Verlautbarungen der VELKD, Nr. 305–2.

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IV. Um Christi willen fragen wir nach den Anderen und suchen die Gemeinschaft der Glaubenden. V. Wir schöpfen Kraft aus dem Wechsel von Alltag und Sonntag, aus den Rhythmen und Ritualen des Kirchenjahres“.16

Im Blick auf religiöse Formen aus eigenen und anderen Traditionen werden folgende Kriterien genannt: „Welche führen uns in die Begegnung mit Gott? Welche in eine lebendige Beziehung zu Christus, in der wir seine heilende Nähe erfahren? Keine Form, keine rituelle Übung kann das aus sich heraus. Sie sind wichtig, und ihnen soll viel Aufmerksamkeit geschenkt werden. Aber sie garantieren die Begegnung mit Christus nicht. Das bewirkt der Heilige Geist. Dieses geistliche Leben richtet sich auf Jesus Christus. Das entscheidende Kriterium besteht darin, dass sowohl die Beziehung zwischen Christus und uns als auch untereinander von der Liebe bestimmt wird“.17

Die Bischofskonferenz greift also die Sehnsucht nach Spiritualität positiv auf, ermutigt zu einer geistlichen Praxis, nennt aber zugleich Kriterien für den Umgang mit religiösen Formen und Übungen; zusammengefasst sind dies: die personale Beziehung zu Gott durch Jesus Christus und die Liebe zu Gott und dem Nächsten.

3.1

Praxis der Spiritualität in der Gemeinde

Für das gottesdienstliche Leben der Gemeinde stellen die übergemeindlichen Institutionen Gottesdienstordnungen zur Verfügung. Diese finden sich in den Agenden, die je nach dem geltenden ius liturgicum entweder von einzelnen Landeskirchen oder von gliedkirchlichen Zusammenschlüssen verantwortet werden. Diese Ordnungen zeigen die Struktur der jeweiligen Handlungen, bieten hierfür die notwendigen Texte an und lassen heutzutage Spielräume zur flexiblen Gestaltung. Ein Beispiel hierfür ist das von der VELKD und der EKU gemeinsam herausgegebene Evangelische Gottesdienstbuch.18 Dem gottesdienstlichen Gebrauch dienen auch eine autorisierte Bibelübersetzung (zuletzt: Die Bibel nach Martin Luthers Übersetzung, revidiert 2017, hg. von der EKD), das dementsprechend gestaltete Lektionar, das Gesangbuch sowie landeskirchliche Liederhefte, die das derzeit geltende Evangelische Gesangbuch ergänzen. Für den Kindergottesdienst werden periodische Arbeitshilfen herausgegeben. Für die christliche Unterweisung in Schule, Christenlehre und Konfirmandenunterricht 16 Hahn/Krech, Spiritualität, 112. 17 A. a. O., 112f. 18 Vgl. Evangelisches Gottesdienstbuch.

Bedeutung übergemeindlicher Institutionen für die Praxis evangelischer Spiritualität

157

gilt der Katechismus nach wie vor als klassischer Text, der allerdings durch begleitende Materialien erschlossen werden muss. So gibt es Bücher und Materialien für den Konfirmandenunterricht. Für Kinder wurde ein eigener Katechismus entwickelt.19 Da die Kirchenmusik für den evangelischen Gottesdienst essenziell ist, fördern die übergemeindlichen Institutionen sie durch die Ausbildung und Fortbildung von Kirchenmusikern, durch Angebote für Chöre, Posaunenchöre, Gospelchöre, Bands. Neben der klassischen Kirchenmusik spielt heute zunehmend sakrale Pop-Musik eine wichtige Rolle. Das Liturgiewissenschaftliche Institut der VELKD in Leipzig enthält eine reichhaltige Sammlung solcher Musik; das „Zentrum Verkündigung“ der Evangelischen Kirche von Hessen und Nassau hat eine eigene Stelle für geistliche Popularmusik. Angesichts eines ausufernden Spiritualitäts-Begriffes auf dem weltanschaulichen und religiösen Markt ist eine Orientierung über die Kompatibilität der unterschiedlichen Angebote mit dem christlichen Glauben für die Gemeinden notwendig. Hierfür haben die einzelnen Landeskirchen Beauftragte für Sektenund Weltanschauungsfragen, und die EKD unterhält die Evangelische Zentralstelle für Weltanschauungsfragen. Eine ausführliche Beschreibung weltanschaulicher Angebote und religiöser Gemeinschaften in ihrem Verhältnis zum evangelischen Glauben enthält das „Handbuch Weltanschauungen, Religiöse Gemeinschaften, Freikirchen“ der VELKD.20 Um suchende Menschen zum christlichen Glauben einzuladen, gibt es mittlerweile zahlreiche Glaubenskurse. Anregungen hierfür bietet das GemeindeKolleg der VELKD in Neudietendorf. Solche Kurse verbinden heute von vornherein die kognitive, affektive und praktische Seite der Glaubensvermittlung. Auch die Evangelischen Akademien nehmen neben der Diskussion über wissenschaftliche und gesellschaftliche Fragen zunehmend Themen der Spiritualität in ihre Programme auf. Ebenso gehen die Angebote für die Fortbildung von Pfarrerinnen und Pfarrern heute verstärkt auf die Einübung in Spiritualität ein, und dies wirkt sich natürlich dann auch auf die Gemeinden aus. Orte für solche Fortbildung sind die Pastoralkollegs der VELKD und der Landeskirchen sowie das Studien-Seminar der VELKD in Pullach und das Gemeindekolleg in Neudietendorf. Eine nicht zu unterschätzende Rolle für die gelebte Frömmigkeitspraxis stellen die Kirchengebäude dar. Insofern ihr Bau und ihre Unterhaltung nicht nur von den Gemeinden, sondern auch von den Landeskirchen wahrgenommen wird, stellen sie durchaus einen Beitrag übergemeindlicher Institutionen für die Spiritualität dar. 19 Vgl. Erzähl mir vom Glauben. 20 Vgl. Handbuch Weltanschauungen.

158 3.2

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Praxis der Spiritualität in Gemeinschaften und Gruppen21

Neben den Gruppen und Kreisen in den Gemeinden gibt es kleinere und größere geistliche Gemeinschaften, die nicht an bestimmte Gemeinden oder Landeskirchen gebunden sind. Sie stellen die im Votum der EKD „Verbindlich leben“ genannte vierte Gestalt von Kirche dar. Hierzu zählen die evangelischen Kommunitäten, die in einer strukturierten vita communis – meist gemäß einer Regel – zusammenleben. Sie haben sich in der „Konferenz evangelischer Kommunitäten“ zusammengeschlossen. Hinzu kommen geistliche Gemeinschaften, deren Mitglieder in ihren familiären und beruflichen Bezügen leben und durch regelmäßige Treffen sowie gemeinsame geistliche Übungen miteinander verbunden sind. Viele von ihnen sind in dem „Treffen geistlicher Gemeinschaften“ zusammengeschlossen. Alle diese Kommunitäten und Gemeinschaften werden begleitet von einem Beauftragten der EKD, in der Regel einem (emeritierten) Bischof. Er vertritt die Anliegen der geistlichen Gemeinschaften vor der EKD und gibt dem Rat der EKD regelmäßig einen Bericht. Bedenkt man die ordenskritische Tradition in den reformatorischen Kirchen, so ist diese Tatsache nicht hoch genug einzuschätzen. Es war ein zum Teil nicht leichter Weg, bis es zu einer offiziellen Anerkennung von Kommunitäten und anderen geistlichen Gemeinschaften gekommen ist. Wichtige Schritte auf diesem Wege waren: • 1976 stellt die Bischofskonferenz der VELKD fest, „dass diese Kommunitäten als Glieder der lutherischen Kirche auf der Basis der Heiligen Schrift stehen und die Rechtfertigung allein aus dem Glauben leben wollen. Ihre ökumenische Offenheit lässt sie den Schmerz über das Trennende zwischen den Konfessionen und den Wunsch nach Gemeinsamkeit stark empfinden. Sie sind von missionarischem Wollen geprägt. Kommunitäres Leben, das von solchem Geist erfüllt ist, sehen wir als eine Kraft zur kirchlichen Erneuerung an, die zusammen mit bewährten Formen herkömmlichen Gemeinde- und Gemeinschaftslebens die Kirche verlebendigen kann.“ • In der bereits genannten Studie „Evangelische Spiritualität“ von 1979 bittet der Rat der EKD die Gliedkirchen, „den in ihrem Raum entstandenen Kommunitäten, sowie den Diakonissen- und Bruderhäusern und anderen Zentren geistlichen Lebens und gemeinsamer Lebensgestaltung besondere Aufmerksamkeit zuzuwenden und bemüht zu sein, dieselben für das Ganze der Kirche fruchtbar zu machen“.22

21 Vgl. im Einzelnen den Artikel über Kommunitäten und geistliche Gemeinschaften in diesem Band. 22 Evangelische Spiritualität, 59.

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In ihrem Beschluss von 1990 bedankte sich die Synode der EKD bei den kommunitären Gemeinschaften „für den Dienst, den sie zeichenhaft für die ganze Kirche tun.“ Sie verband damit die Bitte, „die Kommunitäten mögen sich weiterhin als Teil der größeren kirchlichen Gemeinschaft betrachten, den Austausch mit Gemeinden und Gruppen pflegen, interessierten, suchenden und beladenen Menschen einen Ort zum Aufatmen gewähren, den Dienst der Fürbitte für Kirche und Welt in Treue wahrnehmen und die Erinnerung an die ökumenische Weite der christlichen Berufung wach halten.“23 Im Votum des Rates der EKD „Verbindlich Leben“ von 2007 schließlich werden die geistlichen Gemeinschaften als eine Sozialgestalt von Kirche anerkannt.

Durch die Arbeit des Kommunitäten-Bischofs wächst in den Gemeinschaften die Verbundenheit untereinander sowie mit den anderen Gestalten von Kirche – unbeschadet der Eigenständigkeit, die Gemeinschaften für sich beanspruchen und die sie für ihr Leben brauchen. Viele Gemeinschaften orientieren ihr gemeinsames Gebetsleben an der Tradition des Stundengebets; dabei greifen die einen auf die liturgischen Angebote der Kirchen, wie sie sich in Gesangbuch und Agende finden, zurück (Morgengebet, Mittagsgebet, Vesper, Komplet), während die anderen zwar die Struktur der klassischen Stundengebete beibehalten, diese aber musikalisch und textlich eigenständig gestalten – oft mit Anleihen aus der Ökumene. Eine weit verbreitete Form von Gemeinschaft findet sich in den Hauskreisen, die teilweise in ihren Gemeinden beheimatet sind, oft aber auch übergemeindlichen, ja überkonfessionellen Charakter haben. Ihre Gestalt ist so vielfältig, dass man nicht von einer gemeinsamen Spiritualität und noch weniger von einem Einfluss übergemeindlicher Institutionen sprechen kann. Wohl aber geben die Landeskirchen ihnen durch ihre Ämter für Gemeindedienst Impulse, bieten gemeinsame Treffen an und begleiten sie durch Beauftragte.

3.3

Praxis der Spiritualität der einzelnen Personen

Auf der Ebene der Einzelpersonen ist es naturgemäß am schwierigsten, den Einfluss übergemeindlicher kirchlicher Institutionen einzuschätzen. Dennoch steht auch die Spiritualität der Einzelnen in einem Kontext von Überlieferung, Gemeinschaft und Zugehörigkeit. Dies zeigt sich bereits bei den Losungen der Herrnhuter Brüdergemeine, die für jeden Tag ein ausgelostes Wort aus dem Alten Testament und ein dazu passendes Wort aus dem Neuen Testament bieten. Sie sind weltweit und in vielen 23 Verbindlich leben, 25.

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Sprachen verbreitet und verbinden damit Christen ganz unterschiedlicher Prägung. Ähnliches gilt von der persönlichen Bibellese, die ein wesentliches und typisches Merkmal evangelischen Glaubens ist. So sehr es jedem freisteht, nach einem eigenen Plan die Bibel zu lesen, so verbreitet ist doch die Praxis, sich einem vorgegebenen Bibellese-Plan anzuschließen. Dieser findet sich z. B. in den Losungen. Während die erste dort angegebene Lesung sich am Kirchenjahr orientiert und einer im Auftrag der Liturgischen Konferenz in der EKD herausgegebenen Publikation entnommen ist („Lesungen der Heiligen Schrift im Kirchenjahr. Lektionar für alle Tage“), wird die zweite, fortlaufende Bibellese, von der Ökumenischen Arbeitsgemeinschaft für Bibellesen (ÖAB) verantwortet. Sowohl die Herrnhuter Brüdergemeine, die sich als eine evangelische Freikirche unter dem Dach der EKD versteht, als auch die anderen Gremien sind übergemeindliche Institutionen, die durch ihre Arbeit die persönliche Spiritualität beeinflussen. Ein solcher Einfluss zeigt sich auch beim Evangelischen Gesangbuch, das ja nicht nur Lieder, sondern auch ausgewählte Psalmen, Andachten, Gebete, Texte zur Betrachtung, Katechismen und weitere bekenntnisartige Texte enthält. Herausgegeben wird es im Auftrag der EKD und ihrer Gliedkirchen sowie weiterer deutschsprachiger Kirchen. Auch durch die Gestaltung von Kasualien (Taufe,24 Trauung, Konfirmation, Bestattung) sowie weiterer Segenshandlungen (z. B. Jubiläen, Haus- oder Wohnungs-Segnung,25 Wochenschluss und Sonntagsbegrüßung,26 Einführungen und Verabschiedungen) und in neuerer Zeit auch eigener Segnungsgottesdienste nehmen kirchliche Einrichtungen Einfluss auf die Frömmigkeit. Häufig sind mit solchen Handlungen Bibelworte verbunden, die für die Einzelnen dann eine persönliche Bedeutung gewinnen. Angesichts der elementaren Bedeutung des Gebets für das Christsein und der heute damit verbundenen Schwierigkeiten hat sich die Generalsynode der VELKD 2005 mit dem Thema „Das Beten – Herzstück der Spiritualität“ befasst und in einer einstimmigen Entschließung die einzelnen Christen und die Gemeinden zum Beten ermutigt: „Die Generalsynode ermutigt dazu, in allen kirchlichen Gruppen und Gremien regelmäßig zu beten. Wir bitten die Familien als wichtige Lernorte des Glaubens, die Tradition des Gebetes nicht abreißen zu lassen oder dort, wo sie abgerissen ist, neu zu beleben […]. Die Generalsynode lädt jede Christin und jeden Christen ein, das per-

24 Vgl. Bieritz, Taufe; Taufgedächtnis. 25 Vgl. Umzug. 26 Vgl. Wochenschluss.

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161

sönliche Gebet als Zeit zum Hören auf Gott und zum Reden mit ihm wieder zu entdecken und zu pflegen. Wo Kirchen geöffnet sind, laden diese zu solchem Gebet ein“.27

Aufgrund dieser Entschließung sind zwei Publikationen entstanden, die grundsätzliche Ausführungen und praktische Hinweise zum Gebet geben.28 Eine Hilfe für die Spiritualität im Alltag bietet der „Evangelische Lebensbegleiter“.29 In einem Dreischritt von Wahrnehmen, Deuten und Gestalten gibt er für jeden Tag biblische und praktische Impulse; zusätzlich enthält er für jeden Monat ein spirituelles Leitthema. Grundsätzliche und praktische Ausführungen zur Spiritualität finden sich auch in den neueren Katechismen.30 Angesichts der Bedeutung, die Maria, die Mutter Jesu, für die katholische wie auch für die orthodoxe Frömmigkeit hat, hat sich der Catholica-Arbeitskreis der lutherischen Kirchen mit der Frage befasst, welche Rolle Maria in der evangelischen Frömmigkeit spielt.31 Weitere aus der Arbeit der VELKD erwachsene Publikationen geben geistliche und seelsorgerliche Hilfen für unterschiedliche Lebenssituationen.32 Dabei fällt auf, dass ein Großteil der Publikationen zur gottesdienstlichen sowie zur persönlichen geistlichen Praxis von der VELKD verantwortet wird. Dies hängt damit zusammen, dass die VELKD gemäß ihrer Verfassung Art. 7 ausdrücklich die Aufgabe hat, die Gliedkirchen „in Fragen der lutherischen Lehre, des Gottesdienstes und des Gemeindelebens“ zu beraten.33 Weitere Impulse ergeben sich durch Angebote in kirchlichen und gesellschaftlichen Einrichtungen sowie durch die Medien: • Andachten und Gottesdienste in Rundfunk und Fernsehen • Retraiten, Einkehrzeiten, Exerzitien, Seminare in kirchlichen Häusern der Stille, in Evangelischen Akademien sowie weiteren Bildungshäusern • Exerzitien im Alltag, häufig ökumenisch verantwortet • Seelsorge in Kliniken, Krankenhäusern und Heimen • Anregungen zur Gestaltung der Fastenzeit („Sieben Wochen ohne“)

27 28 29 30

Dennerlein/Hahn, Beten, 88–89 (Hervorhebungen im Original). Vgl. Dennerlein/Hahn, Beten; Röhlin/Dennerlein/Hahn, Beten. Lebensbegleiter. Vgl. EEK, bes. 863–911; Gemeindekatechismus, mit einem Abschnitt „Zur Besinnung“ am Ende eines jeden Kapitels; Erwachsenenkatechismus, bes. 405–430. 31 Vgl. Maria. 32 Vgl. z. B. Hier bin ich; Gute Hoffung; Lust und Last der späten Jahre; Jeden Tag; Stay wild statt burn out; Warum soll mein Herze springen. 33 Recht und Verlautbarungen der VELKD, Nr. 100.

162

4.

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Wechselwirkungen

Wurde zunächst nach dem Einfluss kirchlicher Institutionen auf die Praxis der Spiritualität gefragt, so gilt es nun, auch die umgekehrte Frage zu stellen: Gibt es Auswirkungen der an der Basis gelebten Frömmigkeitspraxis auf die übergemeindlichen Institutionen? Dies ist in der Tat der Fall; denn manches von dem, was in Gruppen, Kreisen, Netzwerken, Initiativen gelebt wird, findet nach einer gewissen Zeit Eingang in offizielle kirchliche Ordnungen und Texte. Ein signifikantes Beispiel hierfür ist die Krankensalbung. Jahrhundertelang galt sie als eine römisch-katholische Spezialität, die im evangelischen Glaubensleben nichts zu suchen hatte. Gleichwohl gab es fromme Kreise, die sie im Verborgenen übten. Anregungen aus der Krankenhausseelsorge, aus der anglikanischen Kirche (healing ministry), aus den lutherischen Kirchen in den USA sowie aus der charismatischen Bewegung führten dazu, dass die VELKD in ihrem Entwurf zur Agende „Dienst an Kranken“ zum ersten Mal im Rahmen der Krankensegnung auch eine Salbung mit Öl anbot. Die Reaktionen auf dieses Angebot waren so positiv, dass die Krankensalbung nun auch in die offiziell von der Generalsynode der VELKD beschlossene Agende „Dienst an Kranken“ aufgenommen wurde.34 Inzwischen hat sie auch ins Evangelische Gesangbuch, Ausgabe für die Evangelisch-Lutherischen Kirchen in Bayern und Thüringen, Eingang gefunden (Nr. 873), und im Ergänzungsband zum Evangelischen Gottesdienstbuch findet sich eine ausgeführte Ordnung für einen Salbungsgottesdienst.35 Das Feierabendmahl, das sich aus der Praxis der Kirchentage entwickelt hat, wird nun in einem Ergänzungsband zum Evangelischen Gottesdienstbuch dokumentiert36 und für die Thomasmesse, ein aus Finnland stammendes Gottesdienstangebot für Suchende und Zweifelnde, werden Anregungen gegeben.37 Ein weiteres Beispiel für die Übernahme gelebter Praxis in offizielle kirchliche Ordnungen ist die Mitwirkung von Gemeindegliedern bei Kasualien und Segenshandlungen, z. B. im Rahmen der Taufe (in den Erläuterungen zur Erwachsenentaufe heißt es: „Auch kann der Taufsegen dadurch ausgestaltet werden, dass Gemeindeglieder dem Täufling ein Wort des Segens zusprechen“38), bei der Trauung („Die vorliegende Ordnung der Trauung bietet vielfältige Möglichkeiten, das Brautpaar, die Verwandten und Freunde sowie die ganze Gemeinde an der Feier zu beteiligen. Dies zeigt sich besonders in der gegenseitigen Erklärung, beim entfalteten Segen und bei den Fürbitten“39), bei der Ordination 34 35 36 37 38 39

Vgl. Agende III.4, 84–109. Vgl. Ergänzungsband, 116–125. Vgl. a. a. O., 91–112. Vgl. a. a. O., 113–115. Agende III.1, 114. Agende III.2, 21.

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sowie bei Einführungen. Eine solche Mitwirkung wird in den Rubriken der kirchlichen Agenden ausdrücklich vorgesehen. In die revidierte Ordnung der Karwoche und der Osternacht sind viele Symbolhandlungen aufgenommen worden, die zunächst in einzelnen Gruppen und Gemeinden praktiziert worden sind: am Aschermittwoch die Segnung mit dem Aschenkreuz,40 am Palmsonntag ein Einzug mit Palmenzweigen,41 am Gründonnerstag die Fußwaschung in „evangelischen Kommunitäten und vergleichbar geprägten Gemeinschaften“,42 in der Osternacht ein Osterfeuer,43 die Signierung der Osterkerze,44 beim Taufgedächtnis eine Besprengung mit Wasser,45 eine Osternachtslitanei mit Nennung von Glaubenszeugen („Gemeinschaft der Heiligen“) aus der Bibel und der Kirchengeschichte.46 Verabschiedungen aus kirchlichen Ämtern, für die es früher keine agendarische Ordnung gab, wurden von einzelnen Dekanen bzw. Superintendenten mit Gebet, ggf. mit Ablegen des Amtskreuzes auf dem Altar und mit einer Segnung verbunden. Diese Praxis ist nun offiziell in die Agende für Ordination und Einführung übernommen worden.47 Als Ergänzung zum Evangelischen Gesangbuch haben viele Landeskirchen inzwischen eigene Liederhefte herausgegeben, in die eine Vielfalt von Gesängen aus unterschiedlichen Gruppen und Formen der Frömmigkeit Aufnahme gefunden hat. Dabei wurden die in verschiedenen Gemeinden gesungenen Lieder gesammelt, gesichtet und ausgewählt. Aus der Spiritualität von Frauengruppen haben sich gottesdienstliche Vorschläge entwickelt, die zum Teil auch in kirchliche Ordnungen übernommen wurden.48 Auch wurde bei der Neubearbeitung von Agenden auf eine „nicht ausgrenzende Sprache“ geachtet.49 Bei der Erneuerung der Abendmahlsfrömmigkeit lässt sich ebenfalls eine Wechselwirkung beobachten. Während bis in die Fünfzigerjahre des 20. Jh. eine seltene Kommunion die Regel war, hat sich unter dem Einfluss der liturgischen Bewegung, der ökumenischen Bewegung, exegetischer Erkenntnisse sowie der Erfahrungen des Kirchenkampfes eine Hinwendung zu einer häufigeren Kommunion vollzogen.50 Die nach dem Zweiten Weltkrieg erschienenen Agenden 40 41 42 43 44 45 46 47 48 49 50

Vgl. Agende II.1, 25. Vgl. a. a. O., 40–42. A. a. O., 10. Vgl. a. a. O., 120. Vgl. a. a. O., 248f. Vgl. a. a. O., 124. Vgl. a. a. O., 318–328. Vgl. Berufung, 260–270. Vgl. Ergänzungsband, 81–90. A. a. O., 21f, Vgl. EEK, 778f.

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haben dem dadurch Rechnung getragen, dass sie den Hauptgottesdienst grundsätzlich als Gottesdienst mit Wort und Sakrament (evangelische Messe) konzipiert haben,51 wenngleich dies keineswegs die Regel in allen Gemeinden war. In einem Großteil der Gemeinden hat sich der Brauch durchgesetzt, einmal im Monat das Abendmahl innerhalb des Gottesdienstes zu feiern, in liturgisch geprägten Gemeinden entwickelte sich die Praxis hin zur sonntäglichen Kommunion. Auch in kirchenamtlichen Verlautbarungen wurde die häufigere Feier des heiligen Abendmahls empfohlen.52 Eine neue Besinnung auf den Charakter der Taufe als Eingliederung in den Leib Christi führte zu der Erkenntnis, dass die getauften Kinder ohne Abstriche zur Gemeinde Jesu Christi gehören. Hieraus ergibt sich die Konsequenz, dass Kinder nicht grundsätzlich vom Abendmahl ausgeschlossen werden können, dass also die bisherige Bindung der Zulassung an die Konfirmation hinterfragt werden muss. Geschah dies zunächst durch einzelne Gruppen und Gemeinden, so haben kirchenleitende Stellen diese Impulse bald aufgegriffen und Handreichungen für die Hinführung von Kindern zur Kommunion erarbeitet. Bereits 1977 hat die Generalssynode der VELKD eine Handreichung verabschiedet, in der es heißt: „Das Heilige Abendmahl ist die Feier derer, die durch die Taufe ein für alle Mal in die Gemeinde als Leib Christi eingegliedert sind. […] Glaube, der die Gabe des Heiligen Abendmahls empfängt und die Fähigkeit der Unterscheidung einschließt, ist auch Kindern möglich. Kinder, die getauft sind, können nicht grundsätzlich von der Teilnahme am Heiligen Abendmahl ausgeschlossen werden“.53

Die Wiederentdeckung des festlichen und freudigen Charakters des Abendmahls hat auch dazu geführt, dass in den Gottesdienstordnungen hierfür eine größere Anzahl eucharistischer Gebete angeboten wird.54 Durch diese Entwicklung kam es zu einer Entkopplung der traditionellen Verbindung von Beichte und Abendmahl. Letzteres wurde von manchen als Verlust empfunden, während sich auf der anderen Seite eine neue Wertschätzung der Beichte zeigt. Diese Entwicklung wurde aufgenommen und gefördert in der revidierten Beicht-Agende, in der liturgische Formen für die Gemeinsame Beichte als eigenständige Feier oder in Verbindung mit einem Abendmahlsgottesdienst sowie für die Einzelbeichte sowohl eine liturgisch geprägte als auch eine freiere Form im Rahmen

51 Vgl. Agende I, 39*. 52 Vgl. z. B. Abendmahl, 7–9. 53 Vgl. auch EEK, 781. Als Beispiel für landeskirchliche Handreichungen: Ev.-Luth. Landeskirche Sachsens (Hg.): Abendmahl mit Kindern. 54 Vgl. Gottesdienstbuch, 633–658.

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eines seelsorgerischen Gespräches angeboten werden.55 Große Resonanz erfuhr ein Heft mit der Einladung zur Beichte.56 Alle diese Beispiele zeigen, dass es sich hier um eine Wechselwirkung handelt: kirchliche Institutionen schaffen Rahmenbedingungen für persönliche Frömmigkeit, aus dieser ergeben sich neue Impulse und diese wirken wiederum auf die kirchlichen Ordnungen ein.

5.

Gesellschaftliche Relevanz

Bekanntlich haben die Friedensgebete in der DDR dazu beigetragen, dass es zu einer friedlichen Revolution ohne Blutvergießen kommen konnte. Die Wurzeln dieser Friedensgebete liegen in der Friedensdekade, die seit 1980 sowohl in Westals auch in Ostdeutschland jeweils 10 Tage im Herbst begangen wird. Hieraus entstanden die Friedensgebete, die seit dem 20. September 1982 bis heute jeden Montag in der Leipziger Nikolaikirche stattfinden.57 Als Logo der Friedensdekade wurde das Motiv der von der Sowjetunion der UNO gestifteten Skulptur „Schwerter zu Pflugscharen“ gewählt. Der damalige Landesjugendpfarrer Harald Bretschneider hatte die Idee, dieses Motiv zusammen mit dem Motto „Schwerter zu Pflugscharen“ sowie der Angabe der Bibelstelle auf Vlies zu drucken, sodass daraus Lesezeichen gemacht werden konnten. Die Jugendlichen allerdings benutzten diese Streifen „nicht als Lesezeichen, sondern nähten sie auf ihre Schultaschen und Jackenärmel und gerieten so ins Visier der Polizei“,58 die den Jugendlichen das Zeichen von der Jacke rissen. Obwohl die Kirchenleitungen von den Staatsorganen der DDR immer wieder aufgefordert wurden, die Friedensgebete zu unterbinden, haben sie sich diesem Ansinnen nicht gebeugt, sondern sich vor ihre Pfarrer und Gemeinden gestellt. In diesem Miteinander von geistlichen Impulsen und kirchenleitendem Handeln wird die Bedeutung von Spiritualität für die Gesellschaft deutlich. Weitere Gelegenheiten, wo Spiritualität gesellschaftliche Relevanz gewinnt, sind öffentliche Gottesdienste nach Katastrophen sowie Rundfunk- und Fernsehgottesdienste, vor allem an Festtagen wie z. B. Weihnachten, oft mit Predigten von Bischöfen, über die dann in den Medien berichtet wird. Ein Höhepunkt war der ökumenische Gottesdienst am 11. März 2017 in Hildesheim, bei dem unter dem Thema „Erinnerung heilen – Jesus Christus bezeugen“ Vertreter der römisch-katholischen Deutschen Bischofskonferenz und der Evangelischen Kirche 55 56 57 58

Vgl. Agende III.3. Vgl. Hertzsch, Leben. Vgl. Führer, Dabei gewesen, 103; auch Geyer, Nikolaikirche. Führer, Dabei gewesen, 146.

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in Deutschland gegenseitig die Schuld der getrennten Kirchen bekannten, um Vergebung baten und sie einander gewährten.59 Auf diese Weise wurde das Reformationsgedenken zum ersten Mal nicht im Sinne einer konfessionellen Profilierung, sondern als gemeinsames Christusfest begangen. Die beiden Kirchen regten an, die hierfür bearbeitete Liturgie auch für Versöhnungsgottesdienste auf lokaler und regionaler Ebene zu verwenden.

6.

Fakten und Wahrnehmung

Wie die genannten Beispiele zeigen, spielen kirchliche Institutionen auf den unterschiedlichen Ebenen eine bedeutende Rolle, sei es, indem sie Impulse aufnehmen oder selber geben. In der römisch-katholischen Kirche ist dies aufgrund der besonderen Stellung des Papstes und der Bischöfe deutlich sichtbar und den Gläubigen auch bewusst. Im protestantischen Bereich hingegen, wo das gesamtkirchliche Bewusstsein weniger ausgeprägt ist, wird die Rolle der übergemeindlichen kirchlichen Institutionen weniger wahrgenommen. Allerdings gibt es hierbei regionale Unterschiede; so spielen etwa in lutherischen Landeskirchen Bischöfe und Bischöfinnen durchaus eine wichtige Rolle für das kirchliche Bewusstsein. In manchen religionssoziologischen Untersuchungen wird die Auffassung vertreten, dass der Kirchgang über die Religiosität eines Menschen wenig aussage; demgegenüber weist Detlef Pollack auf Folgendes hin: „Wie eine genaue Prüfung der Empirie zeigt, ist der Gottesdienstbesuch jedoch ein erstaunlich guter Indikator für die ausgeübte religiöse Praxis und die individuelle Religiosität.“60 Pollack führt weiter an, dass die Kirchen von den Prozessen der Individualisierung insofern betroffen sind, „als die Betonung individueller Selbstbestimmung häufig mit einer besonderen Skepsis gegenüber institutionellen Vorgaben und einer Distanz zu Gemeinschaftsformen einhergeht“.61 In seiner Deutung religionssoziologischer Umfragen stellt er allerdings fest: „Zwischen individueller Religiosität und Einbindung in gemeinschaftliche Zusammenhänge besteht also ein positiver Zusammenhang. Durch Kontakt mit religiös Gleichgesinnten wird der subjektive Glaube gestärkt. Der ins Unanschauliche ausgreifende subjektive Glaube gewinnt an Stabilität, wenn ihn der Einzelne mit anderen teilt, wenn er durch soziale Plausibilitätsstrukturen gestützt ist.“62 Er zieht daraus die Schlussfolgerung: „Für kirchliches Handeln käme es daher 59 60 61 62

Vgl. Erinnerung heilen. Pollack, Kirche II, 445. A. a. O., 507. A. a. O.

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darauf an, individuelle Ansprüche und gemeinschaftliche Einbindung miteinander zu verknüpfen.“63 Der Gang durch die Geschichte und die unterschiedlichen Ebenen sowie die genannten religionssoziologischen Erwägungen zeigen, dass trotz des Spannungsverhältnisses zwischen kirchlichen Bindungen und Individualisierung persönliche Frömmigkeit und kirchliche Institutionen aufeinander bezogen sind und sich wechselseitig beeinflussen.

Literatur Quellen Agende für evangelisch-lutherische Kirchen und Gemeinden, Band 2, Teilband 1: Passion und Ostern, hg. von der Kirchenleitung der Vereinigten Evangelisch-Lutherischen Kirche Deutschlands, Hannover 2011 [kurz: Agende II.1]. Agende für evangelisch-lutherische Kirchen und Gemeinden, Band III: Die Amtshandlungen. Teil 1: Die Taufe, hg. von der Kirchenleitung der Vereinigten EvangelischLutherischen Kirche Deutschlands, neu bearb. Ausgabe Hannover 1988 [kurz: Agende III.1]. Agende für evangelisch-lutherische Kirchen und Gemeinden, Band III: Die Amtshandlungen. Teil 2: Die Trauung, hg. von der Kirchenleitung der Vereinigten EvangelischLutherischen Kirche Deutschlands, neu bearb. Ausgabe Hannover 1988 [kurz: Agende III.2]. Agende für evangelisch-lutherische Kirchen und Gemeinden, Band III: Die Amtshandlungen. Teil 3: Die Beichte, hg. von der Kirchenleitung der Vereinigten EvangelischLutherischen Kirche Deutschlands, neu bearb. Ausgabe Hannover 1993 [kurz: Agende III.3]. Agende für evangelisch-lutherische Kirchen und Gemeinden. Band III: Die Amtshandlungen. Teil 4: Dienst an Kranken, hg. von der Kirchenleitung der Vereinigten Evangelisch-Lutherischen Kirche Deutschlands, neu bearb. Ausgabe Hannover 1994 [kurz: Agende III.4]. Agende für evangelisch-lutherische Kirchen und Gemeinden. Erster Band: Der Hauptgottesdienst mit Predigt und heiligem Abendmahl und die sonstigen Predigt- und Abendmahlsgottesdienste. Ausgabe für den Pfarrer, hg. von der Kirchenleitung der Vereinigten Evangelisch-Lutherischen Kirche Deutschlands, Berlin 1955 [kurz: Agende I]. Berufung – Einführung – Verabschiedung. Agende 6 für die Union Evangelischer Kirchen in der EKD. Agende IV, Teilband 1 der VELKD für evangelisch-lutherische Kirchen und Gemeinden, Hannover/Bielefeld 2012. Breit-Keßler, Susanne/Dennerlein, Norbert, Stay wild statt burn out, im Auftrag der Kirchenleitung der VELKD bearbeitet von deren Seelsorgeausschuss, Gütersloh 2009. 63 A. a. O., 508.

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Bieritz, Karl-Heinrich, Aus der Taufe leben, hg. im Auftrag des Amtes der VELKD, Hannover 22015. Das Heilige Abendmahl – Bedeutungen und Praxis, hg. vom Landeskirchenrat der Evangelisch-Lutherischen Kirche in Bayern, Nürnberg 2005. Dennerlein, Norbert/Hahn, Udo (Hg.) im Auftrag der Generalsynode der VELKD, Das Beten – Herzstück der Spiritualität, Hannover 2005. Die Bekenntnisschriften der Evangelisch-Lutherischen Kirche, hg. im Gedenkjahr der Augsburgischen Konfession 1930, Berlin 21978 [kurz: BSLK]. Die Feier des Taufgedächtnisses, hg. im Auftrag der Kirchenleitung der Vereinigten Evangelisch-Lutherischen Kirche Deutschlands vom Amt der VELKD, Hannover 2013. Ergänzungsband zum Evangelischen Gottesdienstbuch für die Evangelische Kirche der Union und für die Vereinigte Evangelisch-Lutherische Kirche Deutschlands, hg. von der Kirchenleitung der Vereinigten Evangelisch-Lutherischen Kirche Deutschlands und im Auftrag des Rates von der Kirchenkanzlei der Evangelischen Kirche der Union, Berlin / Bielefeld / Hannover 2002. Erinnerung heilen – Jesus Christus bezeugen, ein gemeinsames Wort zum Jahr 2017, Gemeinsame Texte Nr. 24, hg. von der Evangelischen Kirche in Deutschland und vom Sekretariat der Deutschen Bischofskonferenz, Hannover/Bonn 2017. Erzähl mir vom Glauben – ein Katechismus für Kinder, hg. von der Arbeitsgruppe Kinderkatechismus der VELKD, Hannover 2006. Ev.-Luth. Landeskirche Sachsens (Hg.): Abendmahl mit Kindern. Eine Handreichung, Dresden 2011 Evangelische Spiritualität. Überlegungen und Anstöße zur Neuorientierung, vorgelegt von einer Arbeitsgruppe der Evangelischen Kirche in Deutschland, hg. von der Kirchenkanzlei im Auftrage des Rates der Evangelischen Kirche in Deutschland, Gütersloh 1979. Evangelischer Erwachsenenkatechismus, im Auftrag der Kirchenleitung der VELKD hg. von Andreas Brummer, Manfred Kießig, Martin Rothgangel, 8. neu bearbeitete und ergänzte Auflage, Gütersloh 2010 [kurz: EEK]. Evangelischer Gemeindekatechismus, im Auftrag der Katechismuskommission der VELKD hg. von Horst Reller, Horst Echternach, Hermann Müller und Martin Voigt, 5. überarbeitete und ergänzte Auflage, Gütersloh 1994. Evangelischer Lebensbegleiter, im Auftrag der Kirchenleitung der VELKD hg. von Norbert Dennerlein und Martin Rothgangel, Gütersloh 2013. Evangelisches Gottesdienstbuch. Agende für die Evangelische Kirche der Union und für die Vereinigte Evangelisch-Lutherische Kirche Deutschlands, hg. von der Kirchenleitung der Vereinigten Evangelisch-Lutherischen Kirche Deutschlands und im Auftrag des Rates von der Kirchenkanzlei der Evangelischen Kirche der Union, Taschenausgabe, Berlin/Bielefeld/Hannover 62015. Führer, Christian, Und wir sind dabei gewesen. Die Revolution, die aus der Kirche kam, Berlin 62014. Geyer, Hermann, Nikolaikirche, montags um fünf. Die politischen Gottesdienste zur Wendezeit, Darmstadt 2007. Gute Hoffnung – jähes Ende (eine „Erste Hilfe“ für Eltern, die ihr Baby verlieren), hg. im Auftrag der Kirchenleitung der Vereinigten Lutherischen Kirche Deutschlands vom Amt der VELKD, Hannover 112016.

Bedeutung übergemeindlicher Institutionen für die Praxis evangelischer Spiritualität

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Hahn, Udo/Krech, Hans (Hg.), Lutherische Spiritualität – lebendiger Glaube im Alltag, Hannover 2005. Handbuch Weltanschauungen, Religiöse Gemeinschaften, Freikirchen, im Auftrag der Kirchenleitung der VELKD hg. von Matthias Pöhlmann und Christine Jahn. Mit CDROM, Gütersloh 2015. Hertzsch, Klaus-Peter, Wie mein Leben wieder heil werden kann. Eine Einladung zur Beichte in der evangelisch-lutherischen Kirche, hg. im Auftrag der Kirchenleitung der VELKD, Hannover o. J.; neu aufgelegt: Von der Beichte leben, Hannover 2012. Hier bin ich. Ein geistlicher Übungsweg, hg. im Auftrag der Kirchenleitung der Vereinigten Lutherischen Kirche Deutschlands in Zusammenarbeit mit dem Geistlichen Zentrum Kloster Bursfelde vom Amt der VELKD von Andreas Brummer, Klaus Dettke, Silke Harms, Gütersloh 2015. Jeden Tag bist du mir nahe… Sterben, Tod, Bestattung, Trauer. Eine evangelische Handreichung für Menschen, die trauern und für die, die sie in ihrer Trauer begleiten, hg. von Susanne Breit-Keßler, Norbert Dennerlein, Kerstin Lammer, im Auftrag der Kirchenleitung der VELKD erarbeitet vom Seelsorgeausschuss, Güterloh 2009. Kleiner Evangelischer Erwachsenenkatechismus, im Auftrag der Kirchenleitung der VELKD hg. von Martin Rothgangel, Michael Kuch, Georg Raatz, Gütersloh 42015. Lust und Last der späten Jahre, im Auftrag der Kirchenleitung der Vereinigten EvangelischLutherischen Kirche Deutschlands (VELKD) hg. von Susanne Breit-Keßler, Kerstin Lammer und Georg Raatz, Gütersloh 2016. Maria – die Mutter unseres Herrn, eine evangelische Handreichung, erarbeitet und verantwortet vom Arbeitskreis der gliedkirchlichen Catholica-Beauftragten der Vereinigten Evangelisch-Lutherischen Kirche Deutschlands und des Deutschen Nationalkomitees des Lutherischen Weltbundes (Catholica-Arbeitskreis), hg. von Manfred Kießig, Lahr 1991. Martin, Britta/Mildenberger, Irene/Seibt, Isabel, Warum soll mein Herze springen. Neue geistliche Lieder und Gedichte nach Paul Gerhardt, Hannover 2007. Röhlin, Karl-Heinz/Dennerlein, Norbert/Hahn, Udo (Hg.) im Auftrag der Generalsynode der VELKD, Beten – Wie geht das?, 2006. Sehling, Emil (Hg.), Die evangelischen Kirchenordnungen des 16. Jahrhunderts, 1. Abtheilung, 1. Hälfte, Leipzig 1902. Segnung bei dem Umzug in eine neue Wohnung, Entwurf einer Handreichung zu Agende IV, Teilband 2, hg. von der VELKD, Hannover 2010. Unser Glaube. Die Bekenntnisschriften der evangelisch-lutherischen Kirche. Ausgabe für die Gemeinde, im Auftrag der Vereinigten Evangelisch-Lutherischen Kirche Deutschlands (VELKD) herausgegeben vom Amt der VELKD, Gütersloh 2013. Verbindlich leben. Kommunitäten und geistliche Gemeinschaften in der Evangelischen Kirche in Deutschland. Ein Votum des Rates der EKD zur Stärkung evangelischer Spiritualität, hg. vom Kirchenamt der Evangelischen Kirche in Deutschland (EKD-Texte 88), Hannover 2007. Wesen und Auftrag der Kirche, Faith and Order Paper Nr. 198, 2005. Wochenschluss und Sonntagsbegrüßung. Handreichung zu Agende II, Die Gebetsgottesdienste für evangelisch-lutherische Kirchen und Gemeinden, im Auftrag der Kirchenleitung und der Generalsynode herausgegeben vom Amt der VELKD, Hannover 2009.

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Manfred Kießig

Forschungsliteratur Dombois, Hans, Das Recht der Gnade. Ökumenisches Kirchenrecht II, Grundlagen und Grundfragen der Kirchenverfassung in ihrer Geschichte, Bielefeld 1974. Pollack, Detlef, Was wird aus der Kirche? Religionssoziologische Beobachtungen und vier Vorschläge (Teil I), in: DtPfrBl 116/2016, 374–379. Pollack, Detlef, Was wird aus der Kirche? Religionssoziologische Beobachtungen und vier Vorschläge (Teil II), in: DtPfrBl 116/2016, 445–448 [kurz: Kirche II]. Pollack, Detlef, Was wird aus der Kirche? Religionssoziologische Beobachtungen und vier Vorschläge (Teil III), in: DtPfrBl 116/2016, 506–509.

Henning Wrogemann

Zur Bedeutung der interkulturellen Ökumene für eine Praxis evangelischer Spiritualität

Das Christentum ist spätestens mit dem 20. Jh. eine global präsente Religionsformation. Im Jahr 2017 machen christliche Kirchen und Bewegungen etwa 33 % der Weltbevölkerung aus, was bei geschätzten 7,4 Milliarden Menschen etwa 2,44 Milliarden Christinnen und Christen bedeutet. Diese leben über alle Erdteile verstreut. Angesichts einer so gewaltigen Zahl ist jede Aussage über „das“ Christentum höchst angreifbar. Deutlich wird aber, dass christliche „Ökumene“ im 21. Jh. nicht mehr die klassische Ökumene von römisch-katholischer Kirche, orthodoxen Kirchen, Protestanten und Anglikanern meinen kann, wie noch im vergangenen Jahrhundert. Jedes dieser großen Segmente der Weltchristenheit ist in einer Fülle verschiedener kultureller, sozialer und allgemein kontextueller Formen gegeben. Für die Frage nach der Bedeutung der Ökumene wird daher im Folgenden pointiert nach der Bedeutung der interkulturellen Ökumene für eine Praxis evangelischer Spiritualität zu fragen sein. Mögliche Fragen wären folgende: Welche Formen von Spiritualität lassen sich unterscheiden? Welche Strömungen und Trends sind in verschiedenen Gegenden der Welt unter christlichen Kirchen und Bewegungen erkennbar? Wie sind diese zu verstehen und welche Impulse können sie für eine evangelische Spiritualität spezifisch deutscher Prägung, Kirchlichkeit und Lebenswelt geben? Auch nur eine dieser Fragen zu beantworten, würde den Rahmen dieses Beitrages sprengen. Schon eine einzige Richtung innerhalb einer bestimmten Tradition der Weltchristenheit skizzieren zu wollen, wäre ein sehr umfangreiches Unterfangen. Es kann sich im Folgenden daher nur um skizzenhafte Andeutungen und Impressionen handeln. Ich werde wenige Beispiele auswählen und daran zu zeigen versuchen, wie groß die Unterschiede sind, welches Konfliktpotenzial unterschiedliche Formen christlicher Spiritualität in sich tragen und welche Inspirationen sie möglicherweise zu vermitteln vermögen. Abschließend möchte ich die Frage diskutieren, nach welchen Maßstäben angesichts dieser Pluralität ökumenisch und interkulturell zu urteilen wäre, was als authentische und „christliche“ Form von Spiritualität anerkannt werden könnte und vor allem – von wem. Zuvor jedoch sind einige Hinweise zum Begriff der Ökumene zu geben.

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1.

Henning Wrogemann

Was bedeutet interkulturelle Ökumene?

Man kann zwischen einer „klassischen“ Ökumene und einer „interkulturellen“ Ökumene unterscheiden. Bei der ersten geht es um die historischen Kirchen, das heißt römisch-katholische Kirche, orthodoxe Kirchen (russisch-orthodox, griechisch-orthodox, äthiopisch-orthodox, koptisch-orthodox und andere), lutherische, reformierte, baptistische Kirchen, anglikanische Kirche und einige andere. Bei interkultureller Ökumene dagegen geht es nicht nur um ein viel breiteres Spektrum von Kirchen und Bewegungen (etwa die vielen African Initiated Churches, um nur ein Beispiel zu nennen), sondern auch um die interkulturelle Diversifizierung innerhalb verschiedener, global präsenter Traditionen. So kann man fragen, was eine baptistische Gemeinde in Goma in der Demokratischen Republik Kongo mit einer baptistischen Gemeinde in Detroit (USA) verbindet, wie sich lutherische Praxis in verschiedenen gesellschaftlichen und kulturellen Kontexten in Deutschland einerseits oder in Tanzania andererseits darstellt oder aber, welche theologischen Akzente in verschiedenen afrikanischen oder asiatischen Theologien gegenüber Theologien europäischer, nordamerikanischer oder etwa ozeanischer Provenienz gesetzt werden.1 Darüber hinaus gibt es globale Bewegungen, etwa pfingstlich-charismatischer Art,2 die nicht nur zu einer Fülle neuer Kirchengründungen geführt haben, sondern Einfluss auch auf ältere christliche Kirchenformationen ausüben.3 Im Folgenden wird einigen wenigen Fragen zum Thema christlicher Spiritualität anhand von zwei Beispielen nachzugehen sein.

2.

Neopfingstlerische Gebetspraxis in Ghana – Beispiel Prayer Warriors

Beginnen wir in der Stadt Kumasi in Ghana.4 In einem Gebetszentrum befinden wir uns im Hauptgebäude. Es stehen etwa 2000 Plastikstühle in einer weitgehend offenen Halle. Die Woche hindurch finden hier verschiedene Programme statt. Um das Zentrum herum gibt es kleine Wohnungen, in denen Kranke und Hilfesuchende für einige Tage oder auch länger unterkommen können. Am heutigen Abend findet eine Veranstaltung statt, die man als exorzistisches Gebet be1 Zur Vielfalt Afrikanischer Theologien vgl.: Wrogemann, Interkulturelle Theologie, 161–224. 2 Zur globalen Pfingstbewegung vgl. etwa: Corten/Marshall-Fratani, Transnational Pentecostalism; Burgess/van der Maas, Dictionary; Anderson/Bergunder, Global Pentecostalism – Zu afrikanischen Kontexten siehe u. a.: Kalu, African Pentecostalism; Gifford, Christianity; Heuser, Prosperity Gospel. 3 Am Beispiel von Ghana: Omenyo, Outside Pentecostalism. 4 Im Folgenden beziehe ich mich auf eigene Beobachtungen vor Ort im Oktober 2016.

Bedeutung der interkulturellen Ökumene für eine Praxis evangelischer Spiritualität

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zeichnen kann.5 Die Gebetsveranstaltung hat bereits begonnen, als wir uns nähern. Es sind heute nur relativ wenige Menschen hier, vielleicht 150 bis 200 Personen. Sie sitzen auf den Stühlen, einige stehen, manche Frauen wirken sehr schwach und krank, eine liegt auf dem Boden. Hier und da sitzen Kinder verschiedenen Alters. Die Aufmerksamkeit ist auf den Leiter des Gebets gerichtet, ein junger Mann Mitte bis Ende zwanzig, der ein Mikrofon vor dem Mund hält, er spricht ein Gebetsanliegen in den Raum, wendet sich an die Menschen und erklärt, es gehe um böse Flüche, die nun niedergebetet werden sollen. Dann setzt er mit dem Gebet ein, das Mikrofon dicht vor dem Mund, auf und ab gehend: In ohrenbetäubender Lautstärke werden Wortfetzen gestammelt, so gut wie nicht verständlich, aber das scheint unerheblich, denn es kann sich möglicherweise auch um Zungenrede handeln, jedenfalls werden die Flüche adressiert, später auch Dämonen: „O ya rattaattattattaaa, o ya ratttatttataaa, meguzu wazzaa maaawaaa rattattatattaaa…“, Wortfetzen auf Wortfetzen, immer wieder das ohrenbetäubende „Rattattattataaa…“, der Gebetsleiter ist schweißgebadet, mit aufrechtem Körper geht er von links nach rechts, von rechts nach links, hebt immer wieder seinen Arm, um ihn wie bei einem Schlag in die Luft wieder und wieder herunterfallen zu lassen: Eine gewaltsame Gestik mit einem aggressiven geräuschhaften Lautgeschehen, das über die Verstärkeranlage schon rein physisch zu spüren ist, es schlägt in den Bauch, es dröhnt in den Ohren. Diese Sequenz dauert etwa zehn bis fünfzehn Minuten, viele Menschen stehen an ihren Plätzen und schreien eben diese Wortfetzen und das „Rattattattattaaa…“ nach, im Gestus des jungen Mannes, ganz auf sich bezogen, die Fäuste schlagen in die Luft und sausen wieder hinunter, immer wieder, niemand anders wird angeschaut, etliche gehen oder laufen in den Gängen auf und ab, ganz bei sich selbst, ganz im Schreien, Rufen, den Bewegungen, dem Kampfgebet.6 Nach vielleicht 20 Minuten dämpft der Vorbeter das Geschehen wieder, er spricht erneut Gebetsanliegen an, es geht um Krankheit, es geht um Flüche, es geht um Dämonen am Arbeitsplatz oder in der Familie, verschiedene Anliegen werden mit einer erneuten Session beantwortet, immer im gleichen Duktus des Schreiens, Rufens, des In-die-Luft-Schlagens mit den Händen. Die Gebetszeit dauert insgesamt mehr als zwei Stunden – eine von vielen… Heute ist Mittwoch, am Sonntag werden wieder Tausende von Menschen hier in diesem Zentrum zum Gottesdienst zusammenkommen … – Man mag aus westlicher Sicht zunächst wahrnehmen, dass hier dem Gebet offensichtlich eine große Macht zugeschrieben wird. Das Gebet ist eine konkrete Hilfe, nicht nur im Blick auf seelische Probleme, sondern für den Körper, als Weg 5 Zum Thema Exorzismen vgl. Währisch-Oblau/Wrogemann, Witchcraft. 6 Zum Thema Spiritual Warfare vgl. Währisch-Oblau/Wrogemann, Witchcraft. – Zur sozialen Bedeutung vgl. auch: Kahongya Bwiruka, Hexenkinder.

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Henning Wrogemann

der Heilung, für den Alltag, wenn es um die Frage von Arbeitslosigkeit geht, um geschäftlichen Erfolg oder Misserfolg, Beziehungsprobleme, die Angst, von jemandem verhext zu sein, die Furcht, von Dämonen besessen zu sein, das Gefühl, von verschiedenen Seiten bedroht zu werden, in der Nachbarschaft, der Familie, dem öffentlichen Raum, den Wegen und Orten. Das Gebet wird hier offensichtlich als Mittel verstanden, solchen konkreten Problemen zu begegnen. Es stellt sich indes die Frage: Welches Gebet? Es fällt auf, dass die Menschen im Raum wesentlich mit sich selbst beschäftigt sind, eine gemeinsame Gebetspraxis mit gemeinsamen Worten gibt es hier nicht. So kommen zum Beispiel geprägte Gebete nicht vor. Das Vaterunser sucht man vergebens, es wird von etlichen Menschen – so zeigen Gespräche bei anderer Gelegenheit – sogar ausdrücklich zurückgewiesen, da das Beten, so das Argument, frei sein müsse. An geprägte liturgische Traditionen wie etwa ein Glaubensbekenntnis ist hier schon gar nicht zu denken. Darüber hinaus ist bemerkenswert, dass es auch freie Gebete für andere nicht gibt, wie zum Beispiel ein gemeinsames Fürbittengebet, das jemand – frei – für andere sprechen könnte. Solche Elemente des Gottesdienstes kommen hier nicht vor. Auch gibt es keinen gemeinsamen Gesang. Jeder und jede ist auf sich selbst fixiert und versucht, die bösen Mächte (wie immer sie vorgestellt werden) niederzubeten. Damit stellt sich eine weitere Frage: Kann man bei einer solchen Gebetsversammlung eigentlich von einer christlichen Gemeinde sprechen? Oder handelt es sich nicht viel eher um ein Publikum (das allerdings sehr stark ins Geschehen einbezogen ist)? Im Unterschied zum Verständnis von Gemeinde als einer WirGruppe, in der viele Menschen einander kennen, einer Gemeinde also, in der die Dauer des Zusammenseins und Zusammenkommens in regelmäßigen Abständen eine konstitutive Bedeutung hat, hat eine solche Gebetsversammlung etwas Zufälliges. Menschen kommen und gehen, sie sind zufällig am selben Ort, aber es handelt sich nicht um eine Vergemeinschaftung. Eine weitere Rückfrage ergibt sich aus dem Verständnis dieser auf individuelle Belange gerichteten Gebetspraxis. Es handelt sich um Gebete, die wesentlich gegen bestimmte Mächte gerichtet sind, also um Kampfgebete. Dies legt ein Verständnis der Welt als einem Kampfplatz nahe: In der Welt kämpfen Dämonen und Geister gegen die Kräfte Gottes. Menschen sehen sich durch Hexen bedroht, durch Flüche, durch Zauberei. Die Hexen müssen bekämpft und die Flüche „gebrochen“ werden. Das Thema Dämonen spielt auch in den neutestamentlichen Evangelien eine nicht unbedeutende Rolle. In Gebetsveranstaltungen wie dieser sind allerdings auch Vorstellungen zu finden, die ganz offensichtlich den Grundlinien des Neuen Testaments widersprechen. Dort heißt es, dass Christen Böses nicht vergelten, sondern segnen sollen (1Petr 3,9). Der Tod Jesu am Kreuz und seine Auferweckung durch Gott werden als Durchbrechung des „Teufelskreises“ von Gewalt und Gegengewalt verstanden. Nicht so in manchen Gebeten

Bedeutung der interkulturellen Ökumene für eine Praxis evangelischer Spiritualität

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hier, in denen Menschen aufgefordert werden, im Namen Jesu Christi oder im Namen „des Blutes Jesu“ die Flüche an diejenigen Menschen zurückzugeben, die diese gesandt haben. Der Fluchpraxis anderer wird damit eine eigene Fluchpraxis entgegengesetzt. Damit geht indes die christlich-neutestamentliche Grundidee der radikalen Feindesliebe verloren. Spätestens hier aber steht etwas für den christlichen Glauben Grundsätzliches auf dem Spiel. Interkulturell, aber intrachristlich wird an dieser Stelle ein erhebliches Problempotenzial erkennbar. Hier gilt es zwar einerseits das interkulturelle Verstehen zu suchen (etwa in der Frage nach den Intentionen der Akteure), andererseits jedoch nicht der Wahrheitsfrage auszuweichen, sondern den intrareligiösen, aber interkulturellen Streit um eine dem Evangelium gemäße Glaubens- und Lebenspraxis zu führen. Dies schließt die Frage nach den konstitutiven Bestandteilen des jeweiligen Weltbildes der Akteure ein. Der Stellenwert eines durch die Aufklärung bedingten Weltbildes für den christlichen Glauben wäre hier erneut zu thematisieren, ebenso die Frage, wie konsistent oder lediglich kohärent ein Weltbild gedacht wird. Neben naturwissenschaftlich-kausalen Erklärungsmustern stehen solche, die mit ganz anderen Kräften und Ursachen für Ereignisse (wie etwa Unfälle, Krankheiten oder Glücksfälle) rechnen. Was bedeutet dies für die Praxis des Gebets? Wie steht es hier mit Fragen der Ethik? Wie steht es mit dem Verständnis des Gebets und der Spiritualität im Blick auf das Mediale? Wirken Gebete stärker, wenn sie laut vorgebracht werden? Wirken Heilungsgebete stärker, wenn sich mehrere Personen dabei berühren, um damit die Kraft zu verstärken und damit – wie in einer elektrischen Leitung – auf diejenige Person durch Handauflegung zu übertragen, die geheilt werden soll? Sind die Gebete eines Big Man of God wirkungsvoller als die Gebete anderer Menschen? Wie steht es mit Gebeten zu besonderen Zeiten, sind diese mächtiger? Kann Segen und Heilung durch Gegenstände übertragen werden? Dies alles sind Fragen, die sich sehr bald stellen, wenn man christlich-spirituelle Praxis in verschiedenen Ländern Afrikas, Asiens oder Lateinamerikas auf der Graswurzelebene beobachtet.

3.

Evangelicals in den USA – Beispiel Mega-Churches

Ein zweites Beispiel führt uns in die USA, es geht um die Southeast Christian Church in Louisville, im US-Bundesstaat Kentucky. Es handelt sich um eine sogenannte Mega-Church. Schon vom Highway aus ist das riesige Gebäude dieser Gemeinde zu sehen: Brandneu, modern, strahlend. Davor ein riesiger Parkplatz, ein Highway-Exit führt unmittelbar zur Gemeinde, wir stehen an diesem Sonntagmorgen in einem kleinen Stau, die vielen PKWordnen sich ein, viele Personen der Gemeinde regeln als Platzanweiser den Verkehr, etliche Busse sind da, die offensichtlich Menschen aus der näheren Umgebung abgeholt haben. Das Ge-

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Henning Wrogemann

bäude erinnert an eine Mall, nur, dass es hier keine Geschäfte gibt, sondern eine Vielzahl von Gruppen- und Versammlungsräumen, etwas zentraler gelegen dann ein großes Café, das in einen Buchladen mit christlicher Literatur übergeht. Im zentralen Bereich findet sich eine große Halle mit verschiedenen Service-Points, wo Mitarbeitende wie an Messeständen stehen und für verschiedene Belange in Anspruch genommen werden können. Zu sehen ist eine große Rolltreppe, die zur Gottesdiensthalle hinaufführt, auch eine Reihe von Fahrstühlen gibt es. Die Halle selbst erinnert an eine Mischung aus großem Theatersaal und Stadion, es sind Sitzreihen auf fünf Ebenen zu erkennen. Der Saal mag 5000 Personen Platz bieten. Die Bühne ist leer, Teppichboden, nur ein gläsernes Rednerpult, halb rechts eine Band von etwa zehn Personen, es werden Lobpreislieder gespielt, untermalt von einem riesigen Bildschirm im Hintergrund, auf dem das gesamte Geschehen begleitet wird durch Liedtexte, das Einblenden biblischer Verse, um die es gerade gehen soll, und vor allem verschiedene Landschaftsbilder, Collagen und Symbole, das Feuer, das Meer, die Taube, der Regenbogen und vieles mehr. Der Lobpreisleiter ist, wie alle anderen Mitwirkenden auch, sehr lässig gekleidet, nirgends sind Anzugjacke oder Schlips zu sehen, es geht locker zu. Im Wechsel von Lobpreisliedern, Gebeten und kurzem Zeugnis-Geben geht die Veranstaltung über von Lobpreis, Zeugnis und Gebet zum Verkündigungsteil und der Kollekte und schließlich zum Lords Supper, gemeint ist – in deutscher Terminologie – das Abendmahl. Alle Besucherinnen und Besucher befinden sich durchgehend auf ihrem Platz, mal stehend, mal sitzend, die Sessel sind bequem, ähneln Kinosesseln. Der Prediger, eine zentrale Persönlichkeit der Kirche, erläutert, dass das Abendmahl von Jesus für uns eingesetzt worden sei, es habe mit der Vergebung von Sünden und neuer Kraft zu tun. Dann wird ein Lied gesungen, es werden kleine Oblaten und kleine Plastikbecherchen mit Traubensaft durch die Reihen gegeben, die dann von den Teilnehmenden zu sich genommen werden. Das gottesdienstliche Geschehen endet mit einem letzten Lied, die Menschen verlassen die Halle, es spielt die Band weiterhin Lobpreismelodien in moderater Lautstärke und einem ruhigen Modus. Beim Herausgehen habe ich den Eindruck, einer ausgesprochen modernen Veranstaltung beigewohnt zu haben. Sowohl die Atmosphäre des Raumes (der Halle) war angenehm, die Musik war zeitgemäß, modern, aber nicht zu spezifisch auf einen bestimmten Musikgeschmack fokussiert, die Personen wirkten freundlich und gelassen, aber auch ganz bei der Sache, ihre Kleidung entsprach dem normalen Stil der US-amerikanischen Mittelklasse, indes informell und teilweise geradezu lässig gehalten, die Besucherinnen und Besucher des Gottesdienstes waren wesentlich Weiße, aber auch Afroamerikaner und Personen asiatischer Herkunft waren anwesend. Die Verkündigung war theologisch einfach gehalten, der Bibelbezug wurde gesucht, die Sprache war bildhaft und

Bedeutung der interkulturellen Ökumene für eine Praxis evangelischer Spiritualität

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modern. Als Medien wurden neben der Musik die großen Bildschirme eingesetzt, sodass man das gesamte Geschehen auch aus großer Distanz bestens verfolgen konnte, da auch das Geschehen auf der Bühne gefilmt und in entsprechender Vergrößerung auf den Bildschirmen zu sehen war. Mit einem gewissen Abstand zum Geschehen fällt indes auf, welche Elemente, die in anderen kirchlichen Traditionen eine bedeutende Rolle spielen, etwa bei orthodoxen Kirchen, der römisch-katholische Kirche, Anglikanern oder Lutheranern, hier schlicht nicht zu finden waren. Dazu zählen insbesondere liturgische Traditionen wie Kyrie-Gesänge, liturgische Gebete, das Vaterunser oder das Glaubensbekenntnis. Besonders auffällig war das Fehlen aller liturgischen Elemente beim Abendmahl, da hier nicht nur Gesänge wie das Agnus Dei weggelassen wurden, sondern sogar die Einsetzungsworte des Abendmahls. Die Modernität scheint um den Preis des Verlustes liturgischer Traditionen gewonnen zu werden. Hier jedoch geht es einmal mehr um etwas sehr Grundsätzliches, da das Sakrament des Abendmahls nach übereinstimmender Meinung der großen Traditionen (römisch-katholisch, orthodox, lutherisch, anglikanisch u. a.) ohne die Einsetzungsworte gar kein Abendmahl ist. Es gibt demnach Anlass zu einer grundsätzlichen Auseinandersetzung intrachristlicher, aber interkultureller Art zur Frage der Wahrheit des Evangeliums und einer dem Evangelium gemäßen Praxis gottesdienstlichen Lebens. Was in dieser Mega-Church in starkem Maße vermittelt wird, ist der Eindruck der christlichen Gemeinde als einer modernen und d. h. zeitgemäßen Erscheinung. Es wird viel Raum für Gefühle gegeben, und zwar vor allem im Medium der Anbetungslieder. Auch werden lebenspraktische Hinweise gegeben, wie christliche Spiritualität im Alltagsleben umgesetzt werden kann, und zwar nicht nur ethisch oder politisch, sondern spirituell und das bedeutet hier vor allem auch: medial. Es ist bezeichnend, dass auch in kommerziellen Buchgeschäften im sogenannten nordamerikanischen Bible Belt („Bibelgürtel“) eine stattliche Anzahl von christlichen Publikationen zu allen nur denkbaren Fragen der Lebenshilfe zu finden ist. Hier wird versucht, das Thema christlicher Spiritualität für das Alltagsleben durchzuspielen. Indessen stellen sich, wie am Beispiel der Southeast Christian Church skizziert, grundsätzliche Fragen zum Thema christlicher Spiritualität, insbesondere im Blick auf die gottesdienstliche und sakramentale Praxis.

178

4.

Henning Wrogemann

Formen von Spiritualität und die Frage nach dem verbindend Christlichen

Bisher wurden nur einige wenige Beispiele aus dem im weiteren Sinne protestantischen Bereich genannt. Auf orthodoxe oder andere Traditionen auch nur skizzenhaft eingehen zu wollen, würde den Rahmen dieses Beitrages sprengen. Immerhin ist daran zu erinnern, dass orthodoxe Gottesdienste bis heute durchgehend liturgisch orientiert sind, dass das Sakramentale eine herausragende Rolle spielt, ebenso die Frage des Priestertums, der Ikonenfrömmigkeit, des Mönchtums und vieles mehr. Das verbindend Christliche in diesen Formen auszumachen ist zugleich eine Frage an die angewandte Methodik, da gewissermaßen schon ein „Glaube“ vorhanden sein muss, dass die doch so unterschiedlichen Ausdrucksformen christlicher Spiritualität – man denke an ein leeres reformiertes Kirchengebäude (weiß, Bänke, Tisch, Ambo) gegenüber einem oft geradezu übervollen orthodoxen Kirchenraum (Kerzen, Ikonen, Weihrauch) – in einem tieferen Sinne zusammengehören. Jedenfalls nimmt einerseits die Diversifizierung weltweit zu, es lassen sich jedoch andererseits – lokal und zeitlich begrenzt – auch Homogenisierungstendenzen beobachten (Stichwort Globalisierung und Medien). Hier öffnet sich ein weites und an vielen Stellen noch völlig unbeackertes Forschungsfeld.

5.

Spiritualität und Normativität – eine ökumenische Frage in neuem Gewand

Die christliche Religionsformation verzeichnet in vielen Gegenden der Welt weiterhin ein stetiges Wachstum. Mit der geografischen Ausdehnung geht auch eine kulturell-kontextuelle Diversifizierung einher. Damit stellt sich die Frage, welche Traditionen und welche Formen christlicher Lehre, Symbolik, Lebensund Glaubenspraxis für sich in Anspruch nehmen können, als authentisch „christlich“ zu gelten. Diese Frage ist in unterschiedlicher Diktion in der Christentumsgeschichte immer wieder aufgetreten, etwa unter dem Begriff der Apostolizität.7 Man kann diesbezüglich zumindest drei Akzentsetzungen unterscheiden, nämlich erstens das römisch-katholische Verständnis einer apostolischen Sukzession, welches die institutionelle Ebene hervorhebt. Demnach kann als apostolisch gelten, wer oder was in der Linie der Apostel, hier insbesondere des Petrus, steht bzw. eingesetzt ist. Anders vor allem das lutherische Verständnis, das die Ebene der Lehre hervorhebt. Apostolisch ist, was mit der 7 Flett, Apostolicity.

Bedeutung der interkulturellen Ökumene für eine Praxis evangelischer Spiritualität

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Lehre der Apostel übereinstimmt. Ein drittes Verständnis wurde insbesondere im 20. Jh. von einigen Theologen stark gemacht, wobei die Ebene des Handelns betont wurde. Apostolisch sind Christinnen und Christen oder Gemeinden und Bewegungen, sofern und solange sie am Gesandtsein durch Christus aktiv teilnehmen. In der heutigen Situation wird jedoch die Thematik nochmals brisanter durch die Frage, wer innerhalb der Weltchristenheit mit welcher Begründung das Recht hat, darüber zu urteilen, was als christlich zu gelten habe. Hier könnten die „älteren“ Kirchen, etwa die orthodoxen Kirchen oder die römisch-katholische und die klassischen protestantischen Kirchen darauf verweisen, dass sie die theologische und praktische Tradition der Kirche verkörpern. Das Argument könnte etwa sein, dass alle möglichen Fragen, denen sich die „jungen“ Kirchen in Afrika und Asien zu stellen haben, und für die sie vorgeben, eigene Antworten gefunden zu haben oder finden zu wollen, in der Kirchengeschichte bereits irgendwann einmal aufgetreten sind und durch die kirchliche Tradition eine verbindliche Antwort gefunden haben. Damit aber würde von diesen älteren Kirchen eine gegenüber den jüngeren Kirchen größere Autorität beansprucht werden. Umgekehrt könnten die jüngeren Kirchen, die oft nur auf eine Geschichte von ein- bis zweihundert Jahren zurückblicken können, argumentieren, dass erstens ihre kulturell-religiös-kontextuellen Umwelten anders geprägt seien als jene der älteren Kirchen. Daraus lasse sich ein Neuansatz nicht nur begründen, sondern er sei geradezu gefordert. Außerdem könnte mit Verweis auf ihre missionarische Vitalität eine größere Autorität begründet werden, womit der missionarische Erfolg als Indiz für die Richtigkeit der theologisch-praktischen Interpretation des Christlichen gelten würde. Auch der Verweis auf die Kolonialgeschichte dient nicht selten dazu, die eigene Autonomie gegenüber den älteren Kirchen zu betonen, gepaart mit dem Hinweis, dass sich westliche oder europäische Kirchen nicht nur damit kompromittieren, an der westlichen Dominanz beteiligt zu sein, sondern auch dadurch, dass sie sich kritiklos dem Paradigma der westlichen Aufklärung ausliefern, mit allen zerstörerischen Folgen, die dies für das Glaubensleben und die geistliche Praxis, sprich Spiritualität, mit sich bringe. Schon diese wenigen Bemerkungen mögen deutlich machen, dass mit dem bloßen Verweis auf die Autorität des kirchlichen Lehramtes, die Autorität der christlichen Dogmengeschichte (besonders der altkirchlichen Konzile), der europäischen Theologiegeschichte oder der Bekenntnisschriften das intrareligiöse, letztlich aber interkulturelle Problem nicht wirklich zu lösen sein wird. Dies hat weitreichende Folgen für die Frage der christlichen Spiritualität. Weltweit geht es heute in vielen Ländern und Regionen besonders um die Macht des Gebets und seine Formen. Es geht um die unmittelbare Erfahrung des göttlichen Wirkens, die im Gebet und durch Gebetserhörungen gesucht wird, es

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geht um Zeichen und Wunder, die vom Gebet erwartet werden, es geht um Heilungen, die durch das Gebet für möglich erachtet werden, es geht um die Abwehr von Dämonen und Hexerei, die durch das Gebet erwartet wird, und dies vor dem Hintergrund eines in vielen Ländern desolaten staatlichen Gesundheitssystems, vor Armut und weit verbreiteten Krankheiten, psychischem Stress in Krisengebieten und vielem mehr. Als Auswirkungen einer umfassenden Globalisierung kommen dazu die Vorbilder für spirituelle Praxis, die an transnational präsenten Medien deutlich werden, wenn zum Beispiel Gedanken und Praxis eines Wohlstandsevangeliums (engl. prosperity gospel) in vielen Ländern Afrikas, Asiens und Lateinamerikas zu finden sind, dazu ein internationales charismatisches Liedgut, und sich gleichzeitig ganz lokale Ausprägungen christlicher Spiritualität mit starken Anleihen bei kulturell-religiösen Formationen der lokalen Umwelt erkennen lassen. Die Frage der Rezeption solcher globaler Trends hängt indes nicht nur davon ab, wie sich die unmittelbare Lage der Gläubigen und der sie umgebenden Gesellschaften und der Kontexte darstellt, sondern auch davon, auf welche Weise die jeweilige religiös-christliche Formation (Gemeinde, Kirche, Bewegung) verschiedene Formen aufnimmt. In manchen Kirchen ist es die konfessionelle Verfasstheit, die zu ganz bestimmten Formen führt, wenn etwa Exorzismen in römisch-katholischen Kirchen bestimmter Länder insbesondere in der Nähe der vor den Kirchen befindlichen Marien-Grotten durchgeführt werden, oder wenn die Rezeption bestimmter Praktiken womöglich in der einen Denomination als unproblematischer empfunden wird als in einer anderen, oder wenn, wie im Falle von derzeit mehr als 15.000 verschiedenen African Initiated Churches, das jeweilige Profil stark von der Gründerpersönlichkeit und ihren Eingebungen, Träumen oder Visionen bestimmt wird. Dies alles zeigt, dass die Frage einer evangelischen Spiritualität im 21. Jh. durch den Blick auf die interkulturelle Ökumene nicht nur bereichert wird, insofern das Augenmerk auf Zusammenhänge gelenkt wird, die für eine aufgeklärt-westliche und stark säkularisierte Gesellschaft völlig abwegig zu sein scheinen. Hier kann neues Zutrauen in die Kraft des Gebets und der Einkehr, des gottesdienstlichen Lobpreises und Dankes gerade dadurch wachsen, dass man sich den Erfahrungen und Anfragen von Geschwistern aus anderen Weltgegenden aussetzt. Gleichzeitig wird deutlich, dass gerade auch in der Frage der religiösen Praxis, der Formensprache und Ausrichtung von Spiritualität eine kritische Haltung unabdingbar ist, da Kritik nach dem griechischen Ursprungswort krinein „Prüfen“ bedeutet. Spiritualität ist durchaus nicht schon deshalb akzeptabel, weil sie religiös ist oder sich als religiös gibt. Nochmals aber stellt sich dann die Frage, wer hier die Autorität zur Beurteilung theologischer und praktisch-ethischer Fragen für sich in Anspruch nehmen kann. Es spricht viel dafür, dass hier ein gemeinsamer Bezug (interkulturell, aber in-

Bedeutung der interkulturellen Ökumene für eine Praxis evangelischer Spiritualität

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trachristlich) auf die Bibel und besonders auf das Neue Testament am verheißungsvollsten ist, da durch den Rekurs auf das neutestamentliche Zeugnis die Frage der Macht an die Texte quasi zurückgegeben wird. Christliche Praxis muss sich am Neuen Testament ausweisen lassen. Und in der Tat bietet das Neue Testament, trotz oder gerade wegen der Unterschiedlichkeit der einzelnen Theologien der 27 Schriften des NT, für viele Fragen mindestens Hinweise auf mögliche Lösungswege. So wird, um ein Beispiel zu geben, in westafrikanischen Ländern unter pfingstlich-charismatischen Christinnen und Christen über die angemessene Art von Befreiungsgebeten (engl. deliverance) von Dämonen gestritten.8 Darf man die Gebete durch das Schlagen der Besessenen „verstärken“? Darf, soll oder muss man mit den Dämonen Dialoge führen, um diese zu identifizieren und dann besser durch Gebet bekämpfen zu können? Darf man Gegenstände verwenden wie Wasser, Blut, Feuer, Stöcke, Fett, Salböl oder dergleichen? Mit Bezug auf das Neue Testament wird man sicher die ersten beiden Fragen so beantworten, dass das Schlagen nicht erlaubt sein kann und das Befragen von Dämonen von Jesus Christus nicht bezeugt wird (m.W. nur mit einer Ausnahme). Bei der dritten Frage könnte man die Verwendung von Salböl diskutieren und die Frage, wie dessen Gebrauch zu verstehen ist. Doch gibt es auch hier eine geradezu unübersehbare Fülle weiterer Fragen. Wenn es auch keine einheitliche Theologie des Neuen Testament gibt, so jedoch – mit Bezug auf den Neutestamentler Gerd Theißen – gemeinsame „Basismotive“.9 Theißen unterscheidet insgesamt 15 Basismotive: Exodus, Glauben, Umkehr, Agape, Stellvertretung, Inkarnation, Selbststigmatisierung, Positionswechsel, Schöpfung, Weisheit, Wunder, Hoffnung, Gericht, Rechtfertigung und Distanz. Jedes der Motive mag eine Grundlage für interkulturell-christliche Verständigungsprozesse sein, aber natürlich auch die Fülle derjenigen Motive, die nur in einer der neutestamentlichen Schriften gegeben ist. Für die Zukunft werden die intrachristlichen und gleichzeitig interkulturellen Auseinandersetzungen über das verbindend Christliche zunehmen. Dabei wird es darauf ankommen, den konstruktiven Streit auf der Basis der biblischen Grundlagen zu führen. Das Verstehen der fremden Geschwister wird beides beinhalten, Bereicherung und Frustration. Als ökumenische Leitidee wird viel darauf ankommen, überzogene Vorstellungen zu vermeiden. Vermutlich wird es nicht mehr so sehr (wenn überhaupt) um kirchlich-organisatorische Einheit gehen, nicht um lehrhaften Konsens, in etlichen Fällen nicht einmal um gemeinsame Aktion. Gewonnen wäre schon viel, wenn es um ein respektvolles Kontakthalten gehen würde,10 auch und gerade in Fragen der Spiritualität. 8 Vgl. Onyinah, Witchdemonology; ders., Matthew; Omenyo, Renewal Movement. 9 Theißen, Einheit. 10 Vgl. Wrogemann, Interkulturelle Theologie, 360ff.

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Henning Wrogemann

Ein solches Kontakthalten kann für deutsche Kontexte bedeuten, verschüttete oder vergessene Formen evangelischer Spiritualität neu zu entdecken und im Spiegel der fremden Christen bestimmte Aspekte der eigenen Praxis neu wertzuschätzen. Dabei kann es zu einer Bereicherung, einer Vergewisserung und einem vertieften Verständnis der eigenen Positionalität kommen, andererseits aber auch zu einer kritischen Haltung anderen und sich selbst gegenüber gerade deshalb, weil im Horizont der interkulturellen Ökumene die Relevanz evangelisch-spiritueller Praxis immer wieder unmittelbar vor Augen gestellt wird.

Literatur Anderson, Allen/Bergunder, Michael u. a. (Hg.), Studying Global Pentecostalism. Theories and Methods, Berkeley u. a. 2010. Burgess, Stanley M./van der Maas, Eduard M. (Hg.), The New International Dictionary of Pentecostal and Charismatic Movements, Grand Rapids (MI) 2002. Corten, Andre/Marshall-Fratani, Ruth (Hg.), Between Babel and Pentecost: Transnational Pentecostalism in Africa and Latin America, Bloomington 2001. Flett, John, Apostolicity. The Ecumenical Problem in World Christian Perspective, Downers Grove (IL) 2016. Gifford, Paul, Christianity, Development and Modernity in Africa, London 2015. Heuser, Andreas (Hg.), Pastures of Plenty: Tracing Religio-Scapes of Prosperity Gospel in Africa and Beyond, Frankfurt a.M. 2015. Kalu, Ogbu, African Pentecostalism. An Introduction, New York/Oxford 2008. Kahongya Bwiruka, Kambale J.-B., Das Phänomen Hexenkinder in Goma. Religiöse Deutungen und Ansätze sozialer Arbeit christlicher Kirchen und Bewegungen im Kontext der Krisenregion des Ost-Kongo, Münster 2016. Omenyo, Cephas N., The Charismatic Renewal Movement in Ghana, in Pneuma (16) 1994, 169–189. ders., Pentecost Outside Pentecostalism: A Study of the Development of Charismatic Renewal in the Mainline Churches in Ghana, Zoetermeer 2006. Onyinah, Opoku, Matthew Speaks to Ghanaian Healing Situations, in: JPT (10) 2001, 120–143. ders., Contemporary “Witchdemonology” in the Church of Pentecost: 1988–2000, in: ders., Pentecostal Exorcism. Witchcraft and Demonology in Ghana, Dorset (UK) 2012, 171–231. Theißen, Gerd, Die Einheit der Kirche. Kohärenz und Differenz im Urchristentum, in: Zeitschrift für Mission (20) 1994, 70–86. Währisch-Oblau, Claudia/Wrogemann, Henning (Hg.), Witchcraft, Demons and Deliverance – A Global Conversation on an Intercultural Challenge, Beiträge zur Missionswissenschaft / Interkulturellen Theologie Bd. 32, Münster 2015. Wrogemann, Henning, Interkulturelle Theologie und Hermeneutik. Grundfragen, aktuelle Beispiele, theoretische Perspektiven. Lehrbuch Interkulturelle Theologie / Missionswissenschaft Bd. 1, Gütersloh 2012.

Zweiter Teil: Gottesdienst und liturgisches Leben

Christian Lehnert

Herab. Hinauf. Der evangelische Gottesdienst als spirituelle Bewegung

Der evangelische Gottesdienst in den Landeskirchen ist von jeher durch zwei gegensätzliche Kraftwirkungen bestimmt. Einerseits ist er der liturgische Gravitationskern für alle Äußerungen privater oder gemeinschaftlicher Frömmigkeit. Er ist „cultus“, so das lateinische Wort, welches sein Name ins Deutsche bringt.1 Der Gottesdienst im reformatorischen Verständnis verwirklicht als öffentlicher Kult das Werk Gottes („opus Dei“) in Wort und Sakrament. Er ist Gabe und Zuspruch. Im Gottesdienst kommt verdichtet die Kirche als Gemeinschaft der Gläubigen zur Erscheinung, so rückt er ins Zentrum aller christlichen Lebensäußerungen. Anderseits wurde und wird der evangelische Gottesdienst fortwährend in Frage gestellt, wird konfrontiert mit Innerlichkeit und vertieftem Gebet, mit eigener Schriftmeditation und mit mystischer Spekulation, wurde in pietistischen Zirkeln, in Hausgemeinden und Kommunitäten und in den subjektiven Weisen der Gottessuche in der Moderne unterwandert von individuellen Glaubensvollzügen. Schon Luther legt diese Öffnung nahe, wenn er schreibt: „Denn Gotts dienst heyssen sie Gotts furcht“.2 Das Wort ist weiter als ein terminus technicus für die christliche Kulthandlung: Es macht die ganze Fülle christlichen Lebens aus. Diese Spannung, die sich als Anziehung und als Kritik fassen lässt, liegt im Wesen des evangelischen Gottesdienstes und evangelischer Spiritualität begründet. Ich will, nach einigen grundlegenden Überlegungen, die den Gottesdienst als Atembewegung ins Bild bringen, eine spirituelle Wegbeschreibung durch den evangelischen Gottesdienst versuchen, die seine innere Dramaturgie und seine komplexe Gebetsbewegung nachzeichnet. Der Gottesdienst kann, in seiner inneren Dynamik erfasst, als eine Intensivform und als sinnlich-theologische Klärung aller Formen von individueller Spiritualität zur Geltung kommen.

1 Vgl. Bieritz, Liturgik, 5f. 2 WA 19, 215.

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1.

Christian Lehnert

Atembewegungen

Die Grundgeste des evangelischen Gottesdienstes ist eine Atembewegung. Wie Lebewesen Wasser oder Luft aufnehmen und sich davon durchströmen lassen, so sind Gottesdienste durchdrungen von etwas Äußerem, das zugleich ihr Inneres bildet und sie nährt. Das Geheimnis Gottes ist den Gebeten und Liedern, der Verkündigung und der Stille der Gläubigen innerlich und äußerlich zugleich. Die gottesdienstliche Liturgie richtet sich auf das Andere aus, sucht und erwartet den kommenden Gott, welcher sich doch zugleich in ihr ereignet und sie formt. So geben die Feiernden im Gottesdienst etwas hin, und sie nehmen etwas auf. Sie bringen etwas zu Gott, in Stille und Sprache und Gesang, in Dank und Bitte, und sie hören und erfahren eine Veränderung ihrer selbst. Sie äußern sich, indem sie den fremden, gnädigen Zuspruch Gottes verinnerlichen. Martin Luther brachte das bei der Einweihung der Schlosskirche in Torgau (1544) auf den Punkt. Er sagte, „dass unser lieber Herr selbst mit uns rede durch sein heiliges Wort, und wir wiederum mit ihm reden durch Gebet und Lobgesang“3. Und andernorts schreibt Luther von dieser Gegenbewegung: „Man darf also die beiden Dinge nicht durcheinanderbringen, die Messe und das Gebet, das Sakrament und das Werk, das Testament und das Opfer, weil das eine von Gott zu uns kommt durch den Dienst des Priesters und Glauben erfordert. Das andere steigt von unserem Glauben unter Vermittlung des Priesters bis hin zu Gott auf und zielt darauf ab, erhört zu werden. Das eine steigt herab, das andere hinauf.“4 Wir werden im Gottesdienst angesprochen und wir antworten. Das „darf man nicht durcheinanderbringen“, doch geht beides ineinander im gottesdienstlichen Atem. Das „heilige Wort“ begegnet uns, es „kommt herab“, und darin spricht uns Gott an. Aber dieses „Wort“ wird zugleich erst im Glauben für uns wirklich und wahr. Unser Glaube antwortet und zeugt von einer inneren Veränderung, die weit unser Verstehen und Wahrnehmen übersteigt. Ganz ähnlich sah es auch Friedrich Schleiermacher. Er beschrieb den Gottesdienst als „Inbegriff aller Handlungen“, durch welche wir uns „als Organe Gottes vermöge des göttlichen Geistes darstellen.“5 Schleiermacher näherte sich dem Gottesdienst von der menschlichen Seite her: Wir, als die Glieder der Kirche, stellen uns dar. Aber dieses „Wir“ besteht nun nicht vordergründig in einer gemeinsamen Weltanschauung und nicht in der Feier einer selbstbezüglichen Identität. Die Feiernden in ihrer Gemeinschaft im Gottesdienst erscheinen als 3 WA 49, 588. 4 De captivitate Babylonica ecclesiae praeludium: „Non ergo sunt confundenda illa duo, Missa et oratio, sacramentum et opus, testamentum et sacrificium, quia alterum venit a deo ad nos per ministerium sacerdotis et exigit fidem, alterum procedit a fide nostra ad deum per sacerdotem et exigit exauditionem. Illud descendit, hoc ascendit …“, WA 6, 526. 5 Schleiermacher, Sitte, 525f.

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„Organe Gottes“. Gottesdienstliche Gemeinde entsteht für Schleiermacher durch den „göttlichen Geist“. Im „heiligen Wort“, würde Luther sagen. Auch für Schleiermacher gilt: „Das eine steigt herab, das andere hinauf.“ Das Ineinander von Anrede und Antwort ist nach keiner der beiden Seiten aufzulösen, und hier liegt ein erster Grund für die Spannung in der Wahrnehmung des Gottesdienstes in evangelischen Augen. Es gibt im Gottesdienst keinen Punkt, an dem wir Gott gewissermaßen hätten, oder wo er objektiv fasslich wäre. Er bleibt immer unverfügbar und wird im Wagnis des Glaubens erfahren. So gesehen ist der Gottesdienst einerseits essenziell für evangelische Frömmigkeit, als Intensivform der Gottesbegegnung in Wort und Sakrament, und anderseits wurzelt er als antwortende Erfahrung im individuellen Glauben, der sich auch aus anderen Quellen nähren kann. Im Blick auf evangelische Spiritualität sind zwei weitere Aspekte wichtig:

1.1

Widerfahrnis und Inszenierung

Dem Charakter von Anrede und Antwort entspricht die doppelte Erscheinungsform des Gottesdienstes als spirituelles Erleben und als traditionsreiche Inszenierung. Der Gottesdienst ist auf das fremde Nahen Gottes angewiesen und hat eine Statthalterfunktion: Christen warten und hoffen betend auf Gott. Anderseits kann der Gottesdienst als eine liturgische Kunstform beschrieben werden, die Menschen gestalten, um der Erinnerung an Gottes Wirken (Anamnese) und ihrer Hoffnung auf Gottes Gegenwart (Epiklese) Ausdruck zu geben. Der Gottesdienst wird „gemacht“ mit den Mitteln der Ästhetik und Dramaturgie, der Rhetorik und der Gestik. Auch so gesehen geht ein Atem: Der Gottesdienst ist menschliches Tun und öffnet sich einer Wirklichkeit, die kein Tun erreicht. „Das eine steigt herab, das andere hinauf.“

1.2

Fremde und Beheimatung

Dem entspricht die doppelte Erscheinungsform des Gottesdienstes als Fremde und Heimat. Am Ursprung des Kultes steht die Verstörung. „Etwas“ durchbricht den Möglichkeitsraum des Menschen, und was immer er dazu sagt und in Worten betend und denkend hervorbringt, verweist auf Unsagbares, das sein Sagen beunruhigend durchdringt. Fremde bestimmt sich als „Zugängliches in der eigentlichen Unzugänglichkeit, im Modus der Unverständlichkeit“, so schreibt Husserl in seinen „Cartesianischen Meditationen“6. Wenn ich das Fremde einer 6 Husserl, Meditationen, 144.

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Regel, einem sprachlichen Verständnis unterordne, seinen Sinn bestimme, beraube ich es seiner Fremdheit. Ich kann es nicht als Fremdes mir einverleiben. Nur antworten kann ich – und „ich kann nicht nicht antworten“. In dem Anspruch des Fremden liegt eine Unausweichlichkeit: „Wir wählen, was wir antworten, nicht aber, worauf wir antworten.“7 Verstehe ich Gott als eine unendliche Überschreitung meiner selbst, dann kann er mir nur als Fremde entgegenkommen und fremd bleiben. Zugleich aber wird die Fremde Gottes wirklich in einer Gemeinde als Leib Christi und in vertrauten Formen, die beheimaten und bergen. Auf Trost und Heilung, Erlösung und Frieden wies Christus, und das ist ein lebendiges Erbe und eine Verheißung an seine Kirche. Gott, der Fremde, zeigt sich in seiner Liebe – und diese erfüllt seine Fremde, ohne sie doch aufzulösen.

2.

Die Messform

Besonders deutlich wird der Atemcharakter des evangelischen Gottesdienstes in einer liturgischen Form, welche die lutherischen Kirchen wie keine andere prägte – in der Messform. Die Wittenberger Reformatoren entwickelten die viele Jahrhunderte zurückreichende Gestalt der mittelalterlichen lateinischen Messe weiter. Luther hat sie in seinen liturgischen Ordnungen von 1523 („Formula Missae et Communionis“)8 und von 1526 („Deutsche Messe und Ordnung Gottesdiensts“)9 übernommen, übersetzt und vor allem im Abendmahlsteil neu bestimmt. Die Messform ist geprägt von einem dauernden Wechsel der Perspektiven und einem Wirbel von Aufwärts- und Abwärtsbewegungen.

3.

Die Eröffnung

Am Anfang des Gottesdienstes wird ein Votum gesprochen: „Im Namen des Vaters und des Sohnes und des Heiligen Geistes.“ Augenscheinlich spricht es ein Mensch – der Liturg. Aber seine Worte meinen nichts, was ein Mensch von sich aus sagen könnte. Benannt wird ein unverfügbarer Anfang vor allem, was wir tun und machen können. Gott setzt ihn, und wir werden durch diese Worte erst als Gemeinde gebildet. Alles, was nun folgt, geschieht in der Kraft des dreieinigen Gottes.

7 Waldenfels, Hyperphänomene, 95.409f. 8 WA 12, 205–220. 9 WA 19, 70–113.

Herab. Hinauf.

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Das Votum bringt zweierlei zusammen: das verdichtete Zeugnis biblischer Offenbarung und die Erinnerung an den eigenen Anfang im Glauben. Denn eine Narration wird angedeutet, die Erzählung von der Gestaltwerdung Gottes für den Menschen – als Vater und Schöpfer, als Jesus Christus, gekreuzigt und auferstanden, und als Geist, der Menschen in diesem dreifachen Namen als Kirche zusammenführt. Das Votum nimmt zugleich die Taufformel auf. Hören und Sprechen fallen gleich zu Beginn des Gottesdienstes in eins. Im Anfang ist alles offen. Hier geschieht etwas, was den selbstbestimmten und autonomen Menschen weit übersteigt. Das Wesentliche liegt vor uns selbst.

4.

Kyrie eleison

„Kyrie eleison“, der erste Messgesang ist eine innige Bitte um Erbarmen. Wenn die Gottheit naht, ist der Mensch in Gefahr. Mittellos ist sein Dasein, der Sprache entkleidet, des Eigenen entleert, wenn nur der Hauch einer Gottespräsenz die menschliche Wirklichkeit streift: „Weh mir, ich vergehe! Denn ich bin unreiner Lippen und wohne unter einem Volk von unreinen Lippen; denn ich habe den König, den Herrn Zebaoth, gesehen mit meinen Augen“ (Jes 6,5). So überliefert die Bibel Worte des Propheten Jesaja, als dieser zu seiner Berufung in einer Vision am himmlischen Gottesdienst teilnimmt. Die Nähe Gottes führt Jesaja augenblicklich und in stechender Klarheit den eigenen Zustand vor Augen: die Schuldverflochtenheit und Gebrochenheit der eigenen Existenz. Die erste Reaktion, ein religiöser Urreflex, wenn der allmächtige Gott naht, ist der Erbarmensruf – so auch in unseren Gottesdiensten. Das Kyrie hat seinen Ursprung in vorchristlichen kultischen Begrüßungen der aufgehenden Sonne. „Helios, erbarme dich unser!“, so sang man einst in Verehrung des Sonnengottes, wenn er heraufzog und den Tag brachte. Die römischen Kaiser erhoben die Sonnenverehrung zum Reichskult. Zog nun der Sonnenkaiser, der göttliche Herrscher und Kyrios in eine Stadt ein, sangen die staatstreuen oder die geknechteten Massen am Straßenrand diese griechischen Worte: „Kyrie, eleison. Herr, erbarme dich!“ Was lag für die frühen Christen näher, als ihren Kyrios, den Christus, als das wahre und befreiende Licht, mit eben diesem Ruf zu empfangen? Sie ergänzten: „Christe eleison. Christus, erbarme dich.“ Mit politisch brisanter Pointe bekannten sie den Christus als den kommenden und ewigen Herren, als die wahre Sonne am Horizont des Reiches. Seit dieser Frühzeit christlicher Gottesdienste singen die Gemeinden oder sprechen das Kyrie – als Erbarmungsbitte und als Lobpreis des gegenwärtigen Christus. Er ist unser wahrer und einziger Herr. In seinem Licht zeigt sich die

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Gestalt unseres Lebens, unverdeckt und bloß, und alles wird überstrahlt von seinem Kommen, wenn er tröstet und heilt.

5.

Ehre sei Gott in der Höhe

Die Energien der Sprachhandlung im zweiten Messgesang „Gloria in excelsis Deo“ weisen in zwei entgegengesetzte Richtungen. Wir, die versammelte Gemeinde, sitzen in den Kirchenbänken und hören, wie ein Engelsgesang intoniert wird. Höhere Mächte singen. Der Evangelist Lukas berichtet in der Weihnachtsgeschichte davon, wie Hirten in der Nacht der Geburt Jesu diese Worte aus der „Menge der himmlischen Heerscharen“ vernahmen (Lk 2,13–14). Über den Feiernden im Gottesdienst öffnen sich biblisch-bildlich andere Sphären. Wir werden Zeugen eines Rituals aus einer anderen Welt und lauschen, indem wir einstimmen. Das ist die eine Richtung: Der Gesang kommt herab. Aber das Gloria ist zugleich auch eine innige Gebetsanrufung. Wir loben den Gott, der uns Frieden, Shalom, bringen will. Wir singen betend und in bittender Erwartung mit. Unser Gesang steigt auf. Eine Zwischenwelt schwingt. Menschen- und Engelsstimmen sind vereint. Dieser Hymnus – der zu Festtagen als Großes Gloria, EG 180.1, auch in vielen evangelischen Gemeinden in vollständiger Form erklingt – stammt aus dem Osten des Römischen Reiches und wurde von griechisch sprechenden Christen am Morgen gesungen. Er gehörte in die frühe Dämmerung, in das schwindende Dunkel zum Ende der Nacht, wenn erste Konturen und Farben erwachen und der Tau fällt – ein Gesang, in dem die neue Welt Gottes aufscheint. Die Verse tauchten im lateinischen Westen zunächst in der weihnachtlichen Messe auf. Von dort drang der Gesang in die wöchentlichen Gottesdienste ein. Bis ins zwölfte Jahrhundert durften einfache Priester das Gloria nicht anstimmen – das war Bischöfen vorbehalten. Zu verwirrend, zu gefährlich war wohl seine unentschiedene Gestalt, die heimlichen Umschwünge und Resonanzen zwischen Menschen- und Engelszungenschlägen.

6.

Das Tagesgebet

Evangelische gottesdienstliche Spiritualität ist geübt in dauernden Wechseln der Wahrnehmungsmodi – taucht der Gläubige ein in einen liturgischen Fluss, der ihn fortnimmt in emotionaler Bewegung, in Gesang und Kontemplation, so wird er schnell wieder ans Ufer gespült, um als mündiger Christ und als Priester im Glauben zu reflektieren, was geschieht. Das Tagesgebet ist so ein Relais der

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Aufmerksamkeit. Es beschließt die Eingangsliturgie und leitet semantisch verdichtet über zum Lesungsteil. Ein anderer Name dieses Gebetes ist – abgeleitet von dem lateinischen Verb collegere: einsammeln oder zusammenlesen – Kollektengebet. Versammelt und thematisch fokussiert werden persönliche Gebete und all die unterschiedlichen Gefühle und Erwartungen, die Hoffnungen und die Fragen, welche die Anwesenden bewegen – und so formt sich die Gemeinschaft der Gläubigen. Das Tagesgebet wechselt wöchentlich und zu jedem Feiertag. Es nimmt zentrale Motive der Lesungen auf und bildet verdichtet die Grundstruktur allen christlichen Betens ab, wie eine „Kurze Sprachlehre des Gebetes“. In einem Vierschritt geschieht das: a) Schon der erste Zug ist ein Abenteuer. Gott wird benannt und angesprochen, und das ist ein keineswegs selbstverständliches Geschehen. Gott hatte auf die Frage des Mose nach seinem Namen geantwortet: „Ich werde sein, der ich sein werde“ (Ex 3,14). So klingt die zeitlos präsentische Verweigerung eines Namens. Gott bleibt namenlos, er geschieht immer neu und unerwartet, unvorhergesehen und geheimnisvoll – als „der, der er sein wird“. Kein Wort, kein Bild kann ihn fassen. Aber unser Gebet braucht eine Richtung, und so entwerfen wir in einer Anrede sprachliche Bild-Vektoren von Gott. Gott wird darin zu einem „Du“. Diese Sprachbilder sind nicht definierend, sondern unabgeschlossen. Sie suchen Gott entlang von eigenen und überlieferten Erfahrungen. Alle diese Sprachformen leitet das tiefere Wissen von ihrer Unzulänglichkeit. Betende bringen ihre bewegte Beziehung zu Gott zum Ausdruck in offenen Bildern. b) Heraus aus den Gottesanreden betreten die Tagesgebete nun einen Erinnerungsraum. Die Betenden vergewissern sich des Grundes und der Berechtigung ihres Gebetes: Gott hat sich in der Vergangenheit immer wieder gezeigt. So erzählt das Gebet in aller Kürze eine biblische Geschichte oder eine Erfahrung, die Menschen mit Gott gemacht haben, und bezieht dabei die gottesdienstlichen Lesungen ein. Dank und Lob sind die Tonarten dieser Erinnerung. Denn jedes Gebet zu Gott wird von der Gewissheit getragen, dass zuvor Gott zu uns gesprochen hat, „durch sein heiliges Wort“. c) Der dritte Schritt kommt meist völlig abrupt: der plötzliche Umschwung in die Bitte. Wenn Gott war, dann möge er wieder geschehen. Christen bitten um die verwandelnde Kraft, die in Gottes Gegenwart liegt, für ihr Leben heute. Schauten die Betenden eben auf die Spuren Gottes in der Geschichte, so bitten sie jetzt darum, dass ihnen diese Spuren zu Stätten neuer Gottesbegegnungen werden. Sie beten um Beistand und Hilfe, um Glauben und Hoffnung, um Lebenskraft und Heilung. Das Gebet selbst geschieht eigentlich in einer Lücke. Gott war, und wir erinnern uns – er möge wieder geschehen, so bitten wir. Seine Spuren zeugen von ihm als einem Gewesenen – in demselben Atemzug wird seine Anwesenheit erbeten. In diesem Zwischenraum wird das Gebet für uns wirklich – als Spur und

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als Stätte. So gesehen ist es im Sprachvollzug ein Statthalter, in Erwartung des unverfügbaren, des abwesend-anwesenden Gottes. d) Da nun öffnet sich das Gebet in den Lobpreis. Es erstrahlt. Gott, der alle Zeiten umfängt, ist da. Im Gebet selbst wird er wirklich. Er geschieht. Formelhaft ist dieser Lobpreis oft – nicht aus gedanklichem Leerlauf, sondern weil es den Betenden hier notwendig die Sprache verschlägt, und sie geprägte Worte und bewährte Wendungen aus ältestem Sprachgut brauchen. Sie führen hinaus über den Einzelnen mit seinem Ausdrucks- und Denkvermögen. Nicht nur die hier Versammelten sprechen, sondern auch alle, die vor uns waren und folgen werden in der unsichtbaren Kirche Gottes. Die vertraute Formelhaftigkeit des Gebetsschlusses gibt der Gemeinde das Signal, um mit ihrem „Amen“ einzustimmen. Sie bekräftigt das Gesagte und macht es sich zu eigen: Alle sind versammelt im Kollektengebet.

7.

Die Lesungen

In den Lesungen begegnet uns explizit Gottes „heiliges Wort“, wie es Luther nannte. Wir sind angesprochen und still. Ort der biblischen Lesung ist meist ein erhöhtes Pult, der Ambo. Die Worte der Lesungen sind schon räumlich herausgehoben aus den vielen sprachlichen Feldern, die uns moderne Menschen dicht umgeben. Nicht wir sprechen, sondern wir werden im Hören verwandelt. Liturgische Gesänge und Lieder – etwa die Halleluja-Verse und die textbezogenen Wochenlieder – unterfüttern die hohe Bedeutung. Mit den gottesdienstlichen Lesungen wird ein Lebensnerv evangelischer Spiritualität berührt, gründet sie doch wesentlich auf Textbegegnungen. Die heilige Schrift hat im Gottesdienst eine zunächst melancholische Aufgabe: Sie steht für Vergangenes. Schriftzeichen ersetzen die dichte Gottesnähe in der Geschichte Israels und die Anwesenheit des Christus. Statt der Stimme Jesu, seiner Augen, seiner heilenden Hände, haben wir ein Buch. Doch mit dem Perfekt ist die Zeitgestalt des Gelesenen unzureichend erfasst. In der Erzählung vom ersten öffentlichen Auftreten Jesu in Nazareth wird er als junger religionsmündiger Mann in der Synagoge aufgerufen, aus der Prophetenrolle zu lesen (Lk 4, 14–29). Er trägt eine Stelle aus dem Buch Jesaja vor, eine endzeitliche Verheißung, und liest von Blinden, „die sehen sollen“, von Gefangenen, die „frei sein sollen“, und von einem „Gnadenjahr des Herrn“. Von Jesu Auslegung dieser Sätze gibt der Evangelist Lukas nur den einen einzigen abgründigen Satz wieder: „Heute ist dieses Wort der Schrift erfüllt vor euren Ohren.“ Diese Worte gehen unter im Tumult. Ein Satz, ein vorangestelltes „heute“ – und die Ebenen fallen ineinander wie bei einer implodierenden Röhre. Jesus gerät, ja, er stürzt sich wie ein Meteor hinein in einen Textzusammenhang. Der

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Augenblick der Lesung wird zum Augenblick der Wirklichkeit des Gelesenen. Jesus als Sohn Gottes und Messias entfaltet hier blitzartig sein Selbstverständnis aus der Schrift heraus. Nur aufgrund der Überlieferungen der Juden wird verständlich, wer er wirklich ist: der Christus. Zugleich begibt er sich in die Schrift hinein, denn es handelt sich um eine gestaltete Erzählung. Jesus wird Teil einer Fortschreibung, eines Evangeliums im „Neuen Testament“. Er wird der geschriebenen Sprache so geradezu einverleibt. Er verwandelt sich zu Satz und Vers, zu Rezitation und Abschrift, Auslegung und Predigt, zu Bibel und Kanon. Mit dem Wort „heute“ wandert er durch die Zeit. So kann man sagen: Christus wird durch eine Lesung aus der Schrift in der Schrift und als Schrift kenntlich und wirklich. Von einem Buch her, in dem Gott geschieht, kann dann deutlich werden, wie er durch alles und in allem zu uns spricht – als Schöpfer, Logos und Geist. Darum ist für evangelische Christen die Heilige Schrift so zentral im Gottesdienst. Von ihr her wird alles gottesdienstliche Tun spirituell verständlich: als Anrede Gottes an uns, die in uns wirkt, uns verändert und verwandelt, sodass wir ihr antworten im Glauben. In der Rückbindung an das Wort findet der evangelische Gottesdienst seinen Sinn und seine Gestalt. Luther sagte das so: „Aber die Summa sei die, daß es ja alles geschehe, daß das Wort im Schwange gehe … Es ist alles besser nachgelassen, denn das Wort. Und es ist nichts besser getrieben, denn das Wort.“10 Erstaunlicherweise ist dieses Herzstück evangelischer Gottesdienstkultur heute bei weitem nicht unumstritten. Daran zeigt sich, wie schnell die Balance kippt und wie schwer es ist, „die beiden Dinge nicht durcheinanderzubringen: … Das eine steigt herab, das andere hinauf.“ Angriffe auf die biblischen Lesungen werden immer wieder gefahren unter dem flatternden Banner der „Verständlichkeit“: Kann man diese komplizierten und wirren Texte aus der Spätantike heutigen Lesern noch zumuten? „Das eine steigt herab, das andere hinauf“: Gott durchbricht den Vorstellungsraum des Menschen, und was immer wir dazu sagen, verweist auf Unsagbares. Sonst hätten wir es nicht mit Gott zu tun, sondern mit einem bestimmten Weltbild oder einem Wissensbestand. Wer von einem Gottesdienst Verständlichkeit fordert, gerät in einen Selbstwiderspruch. Verständlich kann Gott letztlich nie werden. Pure Unverständlichkeit und Unzugänglichkeit von Riten und Worten würden aber andererseits das verfehlen, was dem evangelischen Verständnis nach einen Gottesdienst ausmacht, seine Gegenbewegung. Nur was ich verstehe, kann Erfahrung werden. Wir erkennen uns selbst und unser Leben im Licht Gottes neu und glauben. So betreten wir hier einen schmalen Grat. Auf beiden Seiten kann man abstürzen. Das Geheimnis Gottes, seine Fremde, will 10 Luther, Ordenung, 54.

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Resonanz in uns finden, ohne doch diese Fremdheit verlieren zu können. Denn Trost und Mahnung, Hoffnung, Heilung und Verwandlung – sie kommen uns entgegen, sie werden uns immer neu zugesprochen. Biblische Lesungen verlangen stets nach neuer Auslegung und Interpretationen, die sie für alle ganzheitlich zum Klingen bringen können. Lesungen sind in ihrer zyklischen Wiederholung Flügelschläge evangelischer Frömmigkeit. Wie die Zugvögel beharrlich in einem Rhythmus bleiben, unaufhörlich, Schlag um Schlag gegen den Widerstand der Luft, so lasen Christen beständig über die Jahrhunderte hin. Die Leseordnung in unseren Kirchen, die festgelegte Folge von Texten Sonntag für Sonntag, bildet einen Puls, gestreckt über Jahre, unglaublich langsam und doch stetig – eine Art Traumsprache und Tiefengedächtnis des Christentums seit seinen Anfängen.

8.

Das Glaubensbekenntnis

Im Glaubensbekenntnis verlassen die Feiernden erneut den Modus individuellen Ausdrucks und fügen sich in einen Chor, der weit mehr ist, als Zählung und Empirie erfassen können. Glaubensbekenntnisse verbinden in ihren Formulierungen Christen miteinander über Raum und Zeit und konfessionelle Grenzen hinweg – es sind Texte mit einer hohen metaphorischen und theologischen Dichte, deren Funktion bei Weitem nicht darin aufgeht, als öffentliche Ansage von angeeigneten Überzeugungen zu gelten. Man kann das chorische Sprechen des Glaubensbekenntnisses in der Dramaturgie des Gottesdienstes auf dreierlei Weise verstehen: 1) als eine Antwort auf Gottes Wort, 2) als das hörende Nachsprechen grundlegender Glaubensvorstellungen in überlieferten Bildern, ein suchendes Sprechen also, in dem wir Gott „auf der Spur“ sind, 3) als ein gemeinsames Gebet um einen lebendigen Glauben, das mit einem „Amen“ schließt. Die Worte: „Ich glaube…“ artikulieren ein bedingungsloses Vertrauen, eine Daseinsorientierung. Sie stehen nicht an und für sich im Raum: Abhängige Aussagen folgen. Seit den ersten Gemeindebildungen versuchten Christen, die Essenzen ihres Glaubens in möglichst klare und dichte Formulierungen zu fassen, die eine schnelle Identifizierung des Eigenen und die zuverlässige Abgrenzung von Fremdem ermöglichten. In der Taufe hatten diese Bekenntnisse einen herausgehobenen Ort. Sie markierten den neuen Lebensraum, in den sich der Täufling begab. Wird aber ein Bekenntnis im Gottesdienst gesprochen, verflüssigen sich diese Grenzen: Kaum jemand meint mehr dasselbe. Wenn ich sage: „Ich glaube …“, reicht das tiefer, als ich es verfolgen kann, tiefer als das Verständnis eines jeden davon abhängigen Wortlautes überhaupt. In den Worten sage ich nicht „etwas“ aus, sondern es kommt mir jemand entgegen – Gott, der

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Namenlose, der in seiner Kirche zu einer geschichtlichen Erscheinung wird und sie eschatologisch verwirklicht. Eine menschliche Antwort besteht nur an der Oberfläche aus Überzeugungen. Sie umfasst eigentlich das ganze Leben und alle Aspekte des Daseins und Wirkens in der Welt. Zwei Wege gibt es, um das Credo spirituell zu verfehlen. Wieder ein Balanceakt: Weder kann ich das Glaubensbekenntnis auf Inhalte zurückführen, noch es davon lösen. Ein Glaube, der nur aus einem Glaubenswissen bestünde, wäre nichts weiter als eine Weltanschauung neben anderen. Ein Glaube aber, der meint, alles für sich und frei und subjektiv ausdrücken zu können, gleitet in die Beliebigkeit eines bloßen Gefühls ab, welches mich, wie vor einem Spiegel, einsam in meine Erwartungen an die Transzendenz hüllt. Das vielleicht entscheidende Wort ist darum das beschließende „Amen“. Im „Amen“, dem bekräftigenden „Das sei gewiss!“, verdichtet sich das ganze Wesen einer religiösen Existenz: Sie springt ab ins Ungewisse, voll Vertrauen und gegen den Augenschein, hinein in ein Dunkel, von dem sie fest glaubt, dass es ist die einzige und die wahre Bergung ist.

9.

Fürbitten und Kollektensammlung

Kaum eine Handlung unterbricht den Fluss eines Gottesdienstes so harsch wie das Sammeln von Geld. Die denkbar profansten Gesten schaffen sich Raum: das Suchen nach Münzen oder Scheinen im Portemonnaie, das Kalkulieren und Abwägen von Summen und Wertigkeiten. Das ist besonders in einer Zeit problematisch, in der das ökonomische Denken zu einer kulturellen Leitinstanz avanciert ist und in der tendenziell alles in Geldwert übersetzt wird. Christliche Gemeinden sammeln Geld im Gottesdienst aus zwei Gründen: 1) In der Sorge für Bedürftige verwirklicht sich die Nachfolge Jesu. Der Dienst am Nächsten steht im Horizont der kommenden Verwandlung der Welt in Christus – und so muss er folgerichtig auch kultisch sichtbar werden. Gottesdienst führt immer auch zur Diakonie, in die liebende und tätige Hinwendung zum Mitmenschen. 2) Geld konnte schon frühzeitig zeichenhaft für die Gaben stehen, die bei der Eucharistie zum Tisch des Herrn gebracht wurden – für Nahrungsmittel, die nach der gemeinsamen Mahlfeier an abwesende Bedürftige verteilt wurden. Das Abendmahl, als Ritus der umfassenden Gemeinschaft mit Gott, und die Unterstützung von Notleidenden wurden stets als zwei Seiten der einen Münze empfunden. Schon in frühen Zeugnissen (etwa bei Justin, um 150 n. Chr.) stand am Anfang der Abendmahlsliturgie, genau an der Schnittstelle zwischen Wortgottesdienst und Eucharistiefeier, das Allgemeine Kirchengebet – als eine große weltumgreifende Fürbitte. Sie wird bis heute gepflegt. Gabenbereitung, Geldsammlung

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und Fürbitte stehen in einem unmittelbaren Zusammenhang: Empfang von Leib und Blut Christi und die Aufmerksamkeit für den Nächsten bilden eine liturgische und spirituelle Einheit. Christlicher Glaube zeigt seine innere Kraft im Umgang mit den Fragen und Nöten der Welt. In einer Gesellschaft, die zunehmend segmentiert ist und weltanschauliche Indifferenz mit Toleranz verwechselt, ist dieser Zusammenhang wichtig geworden: Christlicher Glaube bleibt nicht für sich. Er verwirklicht sich stets auch in der Beziehung zum Mitmenschen und zur Kreatur.

10.

Das Abendmahl

Die lateinische Messe bildete für die Reformatoren in Wittenberg den natürlichen Ausgangspunkt ihres Gottesdienstverständnisses. Sie war ein kultdramatisches Geschehen mit tiefen Wurzeln im antiken Kulturraum, wo Kult und Theater eng verbunden waren. Mehrstimmigkeit, innere Spannungen und die szenische Grundkonstellation von Chor und einem Einzelnen, der sich sprechend und singend aus der Menge löst und handelt, zeigen eine Verwandtschaft mit der antiken Tragödie. Das Kernritual der Messe, die Feier des heiligen Abendmahles, verwirklicht im besonderen Maße das lutherische Gottesdienstverständnis: „Das eine steigt herab, das andere hinauf.“ Gott geschieht real in Brot und Wein. Ebenso ist das Abendmahl ein zeichenhaftes Handeln der Feiernden, eine Art ganzheitliches Gebet, gestaltete Verkündigung und erlebte Gemeinschaft. Das Handeln Gottes und das Tun des Menschen sind hier verwoben wie ein feiner Stoff von ehrwürdigem Alter und großer Haltbarkeit.

10.1

Das Lobgebet (Präfation)

Verwirrende Rollenzuweisungen begegnen am Anfang der Abendmahlsliturgie. Der Liturg löst sich aus den vielen und begrüßt sie: „Der Herr sei mit euch.“ Vom Chor der Gemeinde wird er empfangen, nach antiker Weise: „Und mit deinem Geiste.“ Die zwischenmenschliche Energie, die hier in dem kurzen Dialog angedeutet ist, alle Spannung zwischen Person und Kollektiv, werden nun sofort, wie durch einen umgekehrten Blitzableiter, abgelenkt und in die Transzendenz entladen: „Erhebet eure Herzen!“ „Wir erheben sie zum Herrn.“ Die hochbrisante Konstellation von Chor und Einzelnem, von Masse und Individuum,11 wird auf Christus fokussiert. 11 Vgl. aus theaterpraktischer Perspektive die Gedanken zum Chor von Schleef, Droge, 274ff.

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Das sprachliche Subjekt des nun folgenden Gebetes, der Präfation, dehnt sich weiter und weiter aus: „Wahrhaft würdig ist es und recht, dass wir dich, ewiger Gott, immer und überall loben und dir danken durch unsern Herrn Jesus Christus.“ Wer spricht hier? Die Liturgin reiht sich ein in ein Wir. Aber dieses Wir löst sich unmerklich auf in eine höhere Ordnung: „Darum loben die Engel deine Herrlichkeit, beten dich an die Mächte und fürchten dich alle Gewalten … Mit ihnen vereinen auch wir unsere Stimmen …“ „Wir“, das ist nicht mehr nur die betende Gemeinde. Engel und Mächte und die Kräfte des Himmels singen. Hier werden die Stimmen zum Sphärenklingen. Hier fallen alle Grenzen, und der Einzelne verschwimmt mit einem Nicht-Ich, einem Nicht-Wir, mit allen Gläubigen in einer unsichtbaren Kirche, dem Leib Christi. Den Singenden geht es wie dem Autor der alten „Theologia deutsch“: „Sieh, ich armer Tor, ich meinte, ich wäre es: nun ist und war es wahrlich Gott.“12 Und so stimmen alle in einen alten Gesang ein, das Sanctus: „Heilig, heilig, heilig ist Gott, der Herre Zebaoth …“

10.2

Das Sanctus

Dieser Gesang ist der erste Höhepunkt der Abendmahlsliturgie. Es werden Verse intoniert aus einer Visionserzählung, die Jahrtausende zurückliegt: „In dem Jahr, als der König Usija starb, sah ich den Herrn sitzen auf einem hohen und erhabenen Thron, und sein Saum füllte den Tempel. / Seraphim standen über ihm; ein jeder hatte sechs Flügel: mit zweien deckten sie ihr Antlitz, mit zweien deckten sie ihre Füße, und mit zweien flogen sie.“ (Jes 6,1f) Den Horizont dieser Offenbarungsvision des Jesaja bildete der Jerusalemer Tempelkult. Die Haupthalle des Heiligtums, jener lange Sakralraum, wo der Opferaltar stand und der zum Allerheiligsten führte, entstand vor den Augen der Leser. Doch wird der irdische Tempel überblendet mit dem grellen Glanz einer jenseitigen Residenz Gottes, dessen Schattenwurf allein das Jerusalemer Bauwerk ist, und so erscheint der irdische Tempel im Modus der Öffnung: Er ist es, und er ist es nicht. Jesaja „sah“. War da etwas Sichtbares, ein Erleben, ein Schauen und Erfahren, und er gab es wieder? Oder muss man es andersherum verstehen – dass der Text selbst erst der eigentliche Ort war, wo das Unerhörte Gestalt wurde und ein Erzähler versuchte, das Unbegreifliche in Sätzen zu verstehen? Jesaja „sah“ Gott „auf einem hohen und erhabenen Thron“ sitzen – dieses Bild weist über das Denkbare und Sichtbare hinaus, und man fragt sich: Welche Erfahrung wird hier im Sinne einer Übertragung (Epiphora) erkundet? Man ist versucht zu sagen: 12 Theologia Deutsch, 35.

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Jesaja sah nichts, was er sehen konnte. Wenn es „etwas“ war, brannte es sich ihm ein wie eine Blendung, der schneidend schmerzende Verlust des Sehvermögens, und der Blinde versuchte zu verstehen, er holte Bilder herbei, die er erinnerte: den Tempel, die Halle, den Schimmer des edlen polierten Mauerwerks … Sie markierten das Undenkbare, und der Gesang der Seraphim ertönte: „Heilig, heilig, heilig …“ „Da flog einer der Seraphim zu mir und hatte eine glühende Kohle in der Hand, die er mit einer Zange vom Altar nahm, / und rührte meinen Mund an …“ (Jes 6,6). Rauch im Tempel, Rauch der Opfertiere, schwerer Qualm versengten Fleisches, und Jesaja wird der Mund ausgebrannt. War das ganze Offenbarungserlebnis eine Art Schmerzgefühl, in dem die psychische Existenz des Propheten grell implodierte? Die Erfahrung der realen Gegenwart Gottes fügt sich nicht in die menschlichen Worte. Die Gottesnähe mischt sich nicht mit dem Sehen. Sie mischt sich auch nicht mit dem Hören. Jesaja wird leer gebrannt, der Worte und der Sinne beraubt. Kein Ich spricht da mehr. Doch auf die Frage des Herrn: „Wen soll ich senden?“, antwortet er: „Hier bin ich, sende mich.“ Diese Verwandlung hat Ähnlichkeit mit der Auslöschung des Saulus, der als Paulus sagt: „Ich lebe, doch nun nicht ich, sondern Christus lebt in mir“ (Gal 2,20). Der Gesang der Seraphim ist ältestes liturgisches Gut. Es wurde aus dem Tempelkult in den jüdischen Gottesdienst übernommen und dann von Christen seit ihren ersten Zusammenkünften gesungen. Kaum irgendein Wortgebilde in der Menschheitsgeschichte wird schon so lange kontinuierlich im Kult gesungen. Das Sanctus ist eine harte liturgische Zumutung. Hier singt die Gemeinde im Zustand der Auslöschung. Sie singt, und es brennt in ihr. Glühende Kohlen werden in die Münder gelegt. Seelenasche liegt auf den Kirchenbänken. Doch in allem Erschrecken, in aller Gottesfurcht, klingt ein bergendes Echo – eine Verwandlung zum Leben: „Hier bin ich, sende mich!“ Eine Eigenart evangelischer Spiritualität des Abendmahls leuchtet auf: Gott wird gleichzeitig in seiner Nähe und in seiner Entzogenheit erlebt. Sein Geschehen unter uns Menschen hat keinen fasslichen Grund, weder im Sinne einer Substanz noch einer Sprachtheorie – unverfügbar ist seine Gegenwart, auch noch im Abendmahl, ein Ausdruck von Gnade.

10.3

Die Einsetzungsworte

„Das eine steigt herab, das andere hinauf.“ Die Einsetzungsworte waren schon in Zeugnissen aus der Alten Kirche in ein Gebet eingefügt, das Dank sagte in einem ganz umfassenden Sinn – Dank für Schöpfung und Dasein, für Glaube und

Herab. Hinauf.

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Offenbarung und für das Kommen Jesu Christi in die Welt.13 Die Einsetzungsworte waren Teil einer Erzählung der Heilstaten Jesu und erschienen so im Gebet als Erinnerungselement. Abrupt, wie im Tagesgebet, auch hier die Bitte: Im Heiligen Geist möge jene tiefste Nähe zwischen Gott und Mensch, wie sie das Abendmahl Jesu verwirklichte, wieder geschehen. Jetzt und hier möge Christus wieder sagen: „Das ist mein Leib. Das ist mein Blut.“ Diesen Gebetscharakter haben die Abendmahlsworte im evangelischen Verständnis behalten. Die reale Gegenwart Gottes in Brot und Wein wird von den Gläubigen betend erfahren. Im Abendmahl verschwimmen die Ebenen: Das Gebet im Glauben und die Gegenwart Gottes werden eins. Menschen werden verwandelt, geheilt, getröstet und aufgenommen in die Gegenwart des auferstandenen Christus. Sie beten und empfangen, sie suchen Gott und werden darin von ihm gefunden.

10.4

Agnus Dei

Dieser Gesang gehörte ursprünglich zum Ritus des Brotbrechens. Das Zerreißen des Brotlaibs war schon ein fester Bestandteil jüdischer Mahlriten. Verbunden mit den Abendmahlsworten Jesu bekam das „Brechen“ einen anderen, scharfen Klang: „Das ist mein Leib.“ Ein gebrochener, ein geschändeter. Häusliches Brot – in Rom in den ersten christlichen Jahrhunderten waren es große Kringel – wurde einst in Leinensäckchen zum Altar gebracht, wo es der Bischof und die Ältesten zerkleinerten, ein gewichtiger, sinnträchtiger Vorgang, der zunächst schweigend geschah. Als man in den westlichen Kirchen begann, ungesäuertes Brot zu verwenden, später gar kleine und extra für den Gottesdienst gebackene Hostien, verlor der Gesang seinen Sinn. Das Agnus Dei wurde gekürzt auf eine dreimalige Wiederholung und nun dem rituellen Friedensgruß vor dem Abendmahl beigesellt. Dabei umarmten und küssten sich die Gläubigen, und dementsprechend wurde im Mittelalter eine Friedensbitte angefügt: „Dona nobis pacem.“ In Frieden und verwandelt zur Gemeinde der kommenden Welt essen wir von dem einen Brot und trinken aus dem einen Kelch, als eine Gemeinschaft in Gott.

13 So in der „Apostolischen Überlieferung“ (Traditio apostolica), die lange dem Presbyter und Gegenbischof in Rom Hippolyt (gestorben um 235) zugeschrieben wurde, TA, 6ff.

200

11.

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Fluss und Ufer: die Predigt

Dieser Durchgang durch den Gottesdienst, der sich auf bestimmte liturgische Stationen konzentrierte und andere ausließ, hat bisher auch die Predigt übergangen. Die Predigt ist in ihrer Wirkung einerseits stark davon abhängig, wie sie sich einfügt in gottesdienstliche Situationen und Atmosphären. Andererseits ist die Predigt eine Gattung, die sich bei allen Bezügen innerhalb des Gottesdienstes doch auch abhebt und eine Unterbrechung bildet. Wilhelm Löhe beschrieb im 19. Jahrhundert den Gottesdienst wie ein Gesamtkunstwerk: „Ich möchte den Gedankengang der Liturgie des Hauptgottesdienstes mit einem zweigipfeligen Berge vergleichen … Der erste Gipfel ist die Predigt, der zweite das Sacrament des Altars, ohne welches ich mir einen vollendeten Gottesdienst auf Erden nicht denken kann.“14 Die Vermittlungsformen der Gottesbegegnung auf den jeweiligen Gipfeln sind denkbar verschieden: Im Abendmahl überlassen die Feiernden sich liturgischen Formeln und Gesten, die allesamt das Denken und Reflektieren übersteigen. Sie erleben sich in einem Fluss – über sich selbst hinaus, auf Gott zu. In der Predigt geschieht Resonanz aber gerade mittels des Denkens und Verstehens, wenn die Hörenden sich einlassen auf das, was die Liturgin nun als studierte Frau X.Y. mit ihren theologischen Meinungen und Prägungen sagt. Die Predigthörer stehen am Ufer eines Flusses. Sie reflektieren ihre eigenen Sichtweisen, denken über ihren Glauben und über ihr christliches Leben nach, empfangen Zuspruch und Fragen. Ein evangelischer Gottesdienst will Menschen über sich hinausführen und für Gott öffnen. Er will aber niemals gefangennehmen, nie verführen, sondern er bietet immer wieder auch die Möglichkeit zur kritischen Distanz. Mündige Christen feiern hier – allesamt Priesterinnen und Priester. Reflexion und Nachdenken sind ein essenzieller Teil evangelischer Spiritualität im Gottesdienst.

12.

Segen

Dem Segen kann ein Liturg seinen Körper nur leihen, und was er hier der Gemeinde zuspricht, kann er selbst nicht im mindesten verantworten. In der Segensgeste, dazu in den alten priesterlichen Worten (Num 6, 24–26) wird deutlicher als vielleicht irgendwo sonst, was Gnade ist. Der Segen ist der Ort höchster Passivität. Wir werden angesehen, ein fremdes Angesicht leuchtet über uns. Segen zu empfangen, ist eine spirituelle Grundgeste. Sie verlangt Offenheit und die Fähigkeit, sich loszulassen, ohne zu fragen nach Voraussetzungen oder nach Wirkweisen. Wir ergeben uns in ein Leben, das nicht durch uns selbst gerecht14 Löhe, Agende, XIV.

Herab. Hinauf.

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fertigt ist. In formelhafter Sprache geschieht das, denn hier wird nicht mehr argumentiert oder gestritten. Segen kann nur empfangen werden in einer ungeteilten Zustimmung. Wir werden eingefügt in die Bejahung, die Gott verwirklicht in seiner Schöpfung.

13.

Die Sprache im Gottesdienst

Herab, hinauf – diese für den evangelischen Gottesdienst so bestimmende Gegenbewegung äußert sich in einer besonderen Sprache der Liturgie. Man kann sie eine suchende Sprache nennen. Sie lauscht mehr, als dass sie spricht. Sie will nicht Informationen vermitteln, sondern ihr Ausdrucksvermögen verliert sich angesichts des Unvorstellbaren, das ihr widerfährt. „Wovon man nicht sprechen kann, darüber soll man schweigen“15 – diesen klassischen Vorsatz Wittgensteins unterwandert sie. Denn in der liturgischen Sprache ist das Unaussprechliche nicht mehr vor oder jenseits des Sagbaren da, sondern wird den Worten gleich. Sie sagen das Schweigen, und dieses Schweigen erfüllt sie mit lebendiger Kraft. Eine Beziehung wird wirklich – auf Gott zu und von Gott her. Liturgische Sprache verschafft uns, wie die Poesie, jene seltenen Momente, in denen wir sprechend gesprochen werden. (Deshalb haben Gesang und Musik auch einen besonderen Ort im evangelischen Gottesdienst. Die Musik intensiviert die Worte und weitet sie hin auf Sphären, die sich dem sprachlichen Ausdruck entziehen.) Liturgische Sprache steckt heute in einem merkwürdigen Dilemma. Ihre Wörter wirken abgenutzt, ja ideologisch. So tausendfach ist das Wort „Gott“ missbraucht worden, so andauernd wird es missdeutet und mit Eigeninteressen verschmutzt! Hinzu kommt, dass in der Gegenwart ein bestimmtes Verständnis sprachlicher Akte fast allgegenwärtig vorherrscht. Der Wissenschaftstheoretiker Bruno Latour hat es einmal die „Doppelklick-Kommunikation“16 genannt. Ein Wort sei gewissermaßen der Zugangscode zu einem Fakt. Ein Wort, Doppelklick: Dort ist die Tatsache. Diese „Doppelklick-Kommunikation“ kommt mit der Sprache des Glaubens an eine Grenze. Hier steht das Wort „Gott“, Doppelklick: … „Einen Gott, den es gibt, gibt es nicht“, schrieb Bonhoeffer. Was also ist das für ein Wort, das auf keinen eindeutigen Fakt der Wirklichkeit verweist? Nun aber auch nicht auf „nichts“, sondern auf Größeres als die Sprache und die von ihr abgebildete Wirklichkeit? Etwas, in das ich mich sprechend hineinbewegen muss, suchend und in Bildern und vorläufig, und immer sagt jeder Ausdruck, den ich finde, zugleich, dass er noch nichts sagt? Sprache verwandelt sich hier zu einer

15 Wittgenstein, Tractatus, 111. 16 Latour, Jubilieren, 34ff.

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spirituellen Bewegungsform, die nie im Gesagten aufgeht. Sprachnot, die Suche nach Worten – sie sind Energiezentren für den Glauben. Der heutige Protestantismus steht in der Gefahr, sich im Konzert konkurrierender ideologischer Systeme als Weltanschauung darzustellen. Das verkennt die spirituelle Verwandlung, welche die Sprache erfährt, sobald sie beginnt, sich Gott zu nähern. Sie wird im Wesen poetisch. Ihre Botschaft, wenn man denn davon sprechen will, ist nichts, was von den Worten „bezeichnet“ wird und ihnen also äußerlich wäre, sondern die Art der Worte selbst, deren Bewegung. Evangelische Spiritualität zeigt sich in einer besonderen Umgangs- und Daseinsweise in der Sprache: Sie wird zu einem Raum, in dem Gott, der alle Sprache übersteigt, als gegenwärtig erfahren wird, und so fehlen die Worte, und so werden die Worte lebendig.

14.

Ausblick

Zeiten kultureller Veränderungen können verunsichern, und sie bergen den Keim des Neuen, eine kreative Unruhe. Subjektivität, weltanschaulicher Pluralismus und die durch neue Medien veränderten Modi der Erinnerung und Identitätsbildung lassen religiöse Lebensformen fragiler werden. Konservative Verfestigung, liberale Anpassung und mystische Öffnung sind gegenläufige Reaktionen. Einige spirituelle Eigenheiten des evangelischen Gottesdienstes zeigen sich 500 Jahre nach der Reformation in größerer Klarheit: a) Der evangelische Gottesdienst hat eine hohe Sensibilität für die Fremde und Unverfügbarkeit Gottes – dafür, dass etwas „herabsteigt“. Dies wird als Gnade erlebt. Nicht einzufangen in theologischen Deutungen, in Ritualen, in Ämtern oder in Kirchenbegriffen, hat es einen einzigen scheuen Bezugspunkt: den Glauben. Dieses wache Empfinden für die Entzogenheit Gottes, letztlich auch in aller erbetenen und erfahrenen Nähe, lässt Protestanten mit besonderer Schärfe fragen, worauf wir uns denn wirklich verlassen können. b) Im Augsburger Bekenntnis von 1530 lesen wir in Artikel 7 von zwei wesentlichen Ankern der Gewissheit: die „reine“ Predigt des Evangeliums und die Darreichung der Sakramente „laut dem Evangelium“. Predigt als Wortbewegung des Glaubens und die Sakramente als Verwandlungsformen – sie geben Halt. Hellhörig machen allerdings die präzisierenden Einschübe: Nur die „reine“ Predigt und nur die Sakramente „laut dem Evangelium“ sind verlässlich. Darüber aber gab es immer neue Auseinandersetzungen. Die Kirche wird im Augsburger Bekenntnis dann auch in demselben Atemzug bestimmt als „Versammlung der Gläubigen“: Alles hängt wieder am Glauben. So eröffnet sich eine der wesentlichen Energien evangelischer Gottesdienstentwicklung: Ständig wird nach Gottes verlässlicher Wirklichkeit im menschlichen Tun des Gottesdienstes gefragt, und

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203

ständig werden die Formen kritisiert und hinterfragt, in denen man sie gefunden zu haben meint. Diese Spannung ist nach keiner Seite auflösbar. Der Gottesdienst ist nie entlassen aus dem Wagnis des Glaubens und dem offenen und verwickelten Beziehungsgeschehen zwischen Gott und Mensch. Eine Bewegung pulst: herab und hinauf. c) Der evangelische Gottesdienst ist darum anfällig für alle Formen von Individualismus. Evangelische gottesdienstliche Spiritualität ist bunt und vielgestaltig. Sie kann sich rasant verändern und aufsplittern in viele Spielarten, die sich kaum noch zu einem Ganzen fügen. Diese Zentrifugalkräfte sind bleibende Herausforderungen, die immer neu nach einer kräftigen Mitte verlangen, nach Ordnungen im Wildwuchs, nach verbindenden Formen. d) Der evangelische Gottesdienst ist ein dauerndes Gestaltungsfeld. Fortwährend wird um seine Strukturen gerungen, um seine Tonarten. Dieses Ringen hat zwei Seiten, wobei von Zeit zu Zeit mal die eine, mal die andere dominiert: Erstens soll sich der Gottesdienst ausrichten an den Vorstellungswelten und Erwartungen der Gläubigen, ruht er doch auf dem Glauben und soll diesen darstellen und entwickeln. Heute wird das meist unter den Stichworten „Verständlichkeit“ und „niedrigen Schwellen“ verhandelt. Zweitens aber bildet der Gottesdienst ein Gegenüber zum Menschen und eröffnet unerwartete Erfahrungen mit dem Geheimnis Gottes. So gibt es auf Wendungen wie „Gottesdienst menschlich“ immer wieder dialektische Gegenbewegungen, die den Gottesdienst befreien wollen von allen weltimmanenten Inanspruchnahmen und betonen, dass das Heilige quer steht zum menschlichen Verstehen. Raumbild des evangelischen Gottesdienstes ist, um eine Metapher Peter Sloterdijks zu verwenden,17 der Schaum. Nicht die Kugel eines zentrierten und geordneten Weltganzen mit der Kirche in der Mitte ist sein Urbild, sondern die Vielheit, das dauernde Werden und Entstehen und Vergehen von Formen. Es knistert in den evangelischen Kirchen. Dauernd ist Krise, dauernd ist Neubeginn, dauernd ist Reformation. Das sind Konstanten evangelischer Spiritualität im Gottesdienst. e) Evangelische Gottesdienste reagieren sensibel wie Seismographen auf Zeitstimmungen und auf kulturelle Muster, die sich verändern. Sie stehen immer in der Gefahr, sich zu verlieren in der Zeit und in der Kultur. Evangelische Gottesdienste haben es schwer in geschichtlichen Phasen, wo kritische Zeitresistenz angesagt ist. Sie ziehen sich aber auch nicht so schnell zurück auf Inseln selbstgenügsamer privater Frömmigkeit.

17 Sloterdijk, Schäume.

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Christian Lehnert

Literatur Quellen Dix, Gregory, The Apostolic Tradition of St Hippolytos, London 1968 (TA). Husserl, Edmund, Cartesianische Meditationen, in: Strasser, Stephan (Hg.), Husserl, Edmund, Husserliana, Bd. 1, Den Haag 1950. Löhe, Wilhelm, Agende für christliche Gemeinden des lutherischen Bekenntnisses, Nördlingen 1853. Luther, Martin, Werke. Kritische Gesamtausgabe, Weimar 1883ff (WA). –, Von Ordenung Gottisdiensts, Kirche und Schule, Schriften III, hrsg. von Albrecht Beutel, Berlin, 2015. Schleiermacher, Friedrich, Die christliche Sitte nach den Grundsätzen der evangelischen Kirche, in: Jonas, Ludwig (Hg.), Friedrich Schleiermacher. Sämmtliche Werke I, 12, Berlin 1843. Unbekannter Verfasser, Theologia Deutsch, nach dem Pfeifferschen Text in neues Deutsch gebracht von Rudolf Alexander Schröder, Gütersloh 1947. Wittgenstein, Ludwig, Tractatus logico-philosophicus, Frankfurt a.M. 2003.

Forschungsliteratur Bieritz, Karl-Heinrich, Liturgik, Berlin/New York 2004. Waldenfels, Bernhard, Hyperphänomene. Modi hyperbolischer Erfahrung, Berlin 2012. Schleef, Einar, Droge Faust Parsifal, Frankfurt a.M. 1997. Latour, Bruno, Jubilieren. Über religiöse Rede, Berlin 2011. Sloterdijk, Peter, Sphären. Plurale Sphärologie, Bd. III: Schäume, Frankfurt a.M. 2004.

Alexander Deeg

Ereignis des äußeren Wortes Die Bedeutung der Predigt für die Praxis evangelischer Spiritualität

1.

Die Predigt als Intensivform evangelischer Spiritualität

Bei dem Begriff Spiritualität denken viele zuerst an fernöstliche oder esoterische Lebensgestaltungen und Frömmigkeitsübungen,1 vielleicht auch an Pilgern, Exerzitien oder Schweigen, aber nicht viele an die evangelische Kirche. Und wenn sie an Gestaltungen des Glaubens in dieser Kirche denken, dann eher an individuelle, weit weniger an kollektive, wie es die Predigt im Gottesdienst ist.2 So verwundert es auch nicht, dass die bisherige wissenschaftliche Beschäftigung mit Spiritualität die Predigt kaum im Blick hat. Der Begriff „Predigt“ begegnet zwar durchaus im Register des lesenswerten Lehrbuchs „Christliche Spiritualität“ von Corinna Dahlgrün, er kommt aber eher en passant vor, und es fehlt eine eigene Einordnung der Predigt in den Kontext des von Dahlgrün zur Spiritualität Dargestellten.3 Dabei wäre angesichts der Zentralstellung des Wortes in der evangelischen Theologie die Predigt als Intensivform des Wortes und so als Intensivform evangelischer Spiritualität zu bezeichnen.4 Evangelischer Glaube findet Gestalt, wo das Wort Gottes Gestalt gewinnt.5 Das geschieht nicht nur, aber auf para1 Vgl. Zimmerling, Spiritualität, 15. 2 Vgl. zu dieser Unterscheidung auch Plüss, Sakrament, 464–484, bes. 466f. 3 So folgen im fünften Kapitel, das die Überschrift „Methoden und Medien christlicher Spiritualität“ trägt, aufeinander Abschnitte zu Kirchenjahr, Andacht, Beichte, Meditation, Kunst, Wallfahrt, Bibliodrama, Heilige und Heiligenverehrung; vgl. Dahlgrün, Spiritualität. 4 Selbstverständlich wäre es sinnvoll, die Predigt in die Liturgie einzuzeichnen – und insgesamt den evangelischen Gottesdienst wahrzunehmen; vgl. dazu: Meyer-Blanck, Gottesdienstlehre, sowie den Beitrag zum Gottesdienst von Christian Lehnert in diesem Band. 5 Diese Bestimmung geht auf meinen Lehrer Martin Nicol zurück; vgl. dazu Nicol, Grundwissen, 212f; vgl. dazu auch die Definition, die sich in dem EKD-Text zur Evangelischen Spiritualität aus dem Jahr 1979 findet: Spiritualität sei „das wahrnehmbare geistgewirkte Verhalten des Christen vor Gott“ (EKD, Neuorientierung).

206

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digmatische Weise in der Predigt. In historischer und empirischer Perspektive sei dies knapp begründet. (1) Die Reformation vollzog – wie vielfach beobachtet –6 eine hörbare Abkehr von der Frömmigkeit des Spätmittelalters. Dies kann deutlich werden, wenn man das Klanggeschehen einer mittelalterlichen Messe in der Wahrnehmung eines Besuchers dieser Veranstaltung mit dem Klanggeschehen eines Gottesdienstes der Reformation vergleicht. Ich kann diesen Vergleich hier nur andeuten. Sicher gab es in einer mittelalterlichen Messe viel zu hören – und je nach Größe und Ausstattung der Kirche war das Klanggeschehen überaus unterschiedlich. An manchen Orten riefen Glocken zum Gebet und begleiteten die unterschiedlichen Gebete; mancherorts gab es Orgeln, die den Chor musikalisch unterstützten; an anderen Orten war wohl eher das Murmeln der mehr oder weniger stillen Gebete der Mitfeiernden, das häufig nicht sonderlich viel lautere und durch das verwendete Latein für die meisten unverständliche Beten des Liturgen, von dem manchmal nur „hocuspocus“ statt „hoc est corpus“ zu vernehmen war, zu hören. Ein herausragendes akustisches Signal war zweifellos das Glöckchen/die Schelle, das die eucharistische Wandlung verriet und spätestens jetzt darauf hinwies, dass es nun (endlich!) etwas, nein: Entscheidendes zu sehen gab: die elevierte gewandelte Hostie, den Leib Christi, und den Kelch mit Christi Blut.7 Luther selbst wollte die Messe in ihrer gewachsenen Form keineswegs zerstören. Aber er wollte es ermöglichen, dass die Gemeinde aktiv teilnimmt an dem Geschehen – und das heißt vor allem: eintreten kann in den Gott-menschlichen Wort-Wechsel. Daher musste es im Gottesdienst um das Hören, das Verstehen der Worte und das singende bzw. sprechende Antworten gehen. Worte, die klar und deutlich und für die Gemeinde verständlich gesprochen wurden, fehlten in vielen mittelalterlichen Mess-Gottesdiensten (was selbstverständlich nicht heißt, dass es dort gar keine Predigten gab; aber die von Luther geäußerte Idee, dass man als Gemeinde besser nicht zum Gottesdienst zusammenkommen solle, wenn darin nicht auch gepredigt würde, wäre im Hoch- und Spätmittelalter undenkbar gewesen8). In der Reformation standen diese Worte – gesungen oder gesprochen – im Mittelpunkt des gottesdienstlichen Geschehens. Das Sehen trat zurück; das Hören gewann an Bedeutung, was keineswegs bedeutet, dass die Leiblichkeit nun keine Bedeutung mehr gehabt hätte. Es kommt zu einer Verschiebung der Art und Weise leiblicher liturgischer Partizipation, aber keineswegs ( jedenfalls nicht intentional) zu einer Reduktion der Leiblichkeit. Im Gottesdienst geht es darum,

6 Vgl. nur Bieritz, Schwang, 82–106. 7 Vgl. hierzu den Artikel Glocken, in: Berger, Handlexikon, 179. 8 Vgl. Martin Luthers Schrift „Von ordenung gottis diensts ynn der gemeyne“ (1523): „[…] das die Christlich gemeyne nymer soll zu samen komen, es werde denn da selbs Gottis wort gepredigt und gebett, es sey auch auffs kurtzist.“, WA 12, 35,20f.

Ereignis des äußeren Wortes

207

dass das Wort eine Klang-Gestalt findet. Und die Predigt ist der Fokus dieser Kommunikationsbemühung. (2) In empirischen Untersuchungen zeigt sich immer wieder, wie zentral Evangelische die wahrnehmbare Praxis ihres Glaubens mit Gottesdiensten und Predigt verbinden. In der jüngsten, 2012 erhobenen und 2015 publizierten EKDMitgliedschaftsuntersuchung9 wurde auch nach den Erwartungen an die Kirche gefragt. Dabei rangiert das Item „Gottesdienste feiern“ mit 78,6 % Zustimmung an der dritten Stelle der Zustimmung – nach „Arme, Kranke und Bedürftige betreuen“ (83 %) und „sich um Probleme von Menschen in sozialen Notlagen kümmern“ (82,5 %).10 Interessant ist, dass diese Reihenfolge – bei insgesamt weit geringeren Zustimmungswerten – auch bei den befragten Konfessionslosen gilt und somit auch die Außenwahrnehmung von Kirche bestimmt. Zudem sagen 56,6 % der Evangelischen, dass sie am Heiligabend „(fast) immer“ in den Gottesdienst gehen, 26,8 % gelegentlich und nur 5,8 % nie.11 Bei familiären Anlässen wie Taufe, Konfirmation, Hochzeit und Beerdigung sind es sogar 62,7 % der Evangelischen, die (fast) immer einen Gottesdienst besuchen, 31,6 % gelegentlich und 5,8 % nie.12 Damit gehören Gottesdienste für Evangelische zu den primären Erwartungen an das Evangelisch-Sein und jahres- bzw. lebenszyklisch auch zu den herausgehobenen Gestalten ihres Glaubens – auch wenn an einem durchschnittlichen Sonntag inzwischen EKD-weit nur noch etwa 3,3 % der Evangelischen an einem Gottesdienst teilnehmen. Fragt man dann, was im Gottesdienst vor allem erwartet wird, so findet sich die Predigt an erster Stelle: 93,2 % stimmen dem Item zu, der Gottesdienst „soll vor allem eine gute Predigt [ent]halten“.13 Für viele der Evangelischen gehört die im Kontext der Kasualfrömmigkeit, im Kontext regelmäßig besuchter Gottesdienste (wie jenen am Heiligabend) wahrgenommene Predigt zu ihrem Evangelischsein und steht im Mittelpunkt ihrer gottesdienstlichen Praxis. Angesichts der Bedeutung, die viele Evangelische der Predigt zumessen, verwundert es nicht, dass sie Zustimmung zu Kirche und Enttäuschung über sie selbstverständlich häufig an der Predigt festmachen; und es ist genauso wenig verwunderlich, dass die Predigt zugleich geschätzt wird und verachtet; sie ist Gegenstand von Erwartung und Stoff für Karikaturen und Witze.

9 10 11 12 13

Vgl. Bedford-Strohm/Jung, Vernetzte Vielfalt. Vgl. a. a. O., 474. Vgl. a. a. O., 482. Vgl. ebd. A. a. O., 480.

208

Alexander Deeg

2.

Das äußere Wort (verbum externum) und die Spiritualität der Predigt

2.1

Gott hat kein Maul (Martin Luther) – Von der Notwendigkeit der Predigt

Die Frage danach, wo in der Bibel eigentlich zum ersten Mal von „Predigt“ die Rede sei, führt bei Martin Luther auf eine interessante Spur. Luther nämlich sieht Adam, den ersten Menschen, auch als ersten Prediger. Er interpretiert die Frage in Gen 4,9 „Kain, wo ist dein Bruder Abel?“ als eine Frage, die Gott durch den Mund des Vaters, also durch den Mund Adams, an Kain richtet. Luther schreibt: „Deus hoc locutus est per Adam. Ists doch gemein jn den propheten: ‚Haec dicit Dominus.‘ Item: ‚Non audiverunt Dominum.‘ Unser Herr Gott redet nicht wie die menschen, hat kein maul, sed loquitur per homines. [Gott hat dies durch Adam gesagt. So ist es auch insgesamt bei den Propheten: ‚So hat der Herr gesagt.‘ Auch: ‚Sie haben den Herrn nicht gehört.‘ Unser Herr Gott redet nicht wie die Menschen, hat kein Maul, sondern spricht durch Menschen.]“14 Weil Gott selbst „kein maul“ hat, wie Luther drastisch formuliert, kann seine Stimme auf Erden nur durch den Mund von Menschen laut werden.15 Wäre es anders, bräuchte es – dieser Lutheraussage zufolge – keine Predigt und keine Prediger; Gott könnte sich direkt zu Wort melden. So aber ist Gottes Wort immer an menschliche Kommunikation in ihren zahlreichen medialen Variationen gebunden.16 Nicht nur weil dieser Beitrag im Jahr des Reformationsjubiläums 2017 entstand, beziehe ich mich bei den folgenden Überlegungen zur Bedeutung der Predigt für eine evangelische Spiritualität immer wieder auf Martin Luther, sondern auch deswegen, weil für ihn die Predigt zweifellos als Intensivform einer evangelischen, also auf das Evangelium von Jesus Christus bezogenen, Spiritualität bezeichnet werden kann.

14 Expositio aliquot locorum scripturae, WA 48, 688,2–4. 15 Vgl. dazu Beutel, Predigt, 296. 16 Vgl. dazu vor allem Christian Grethlein, der in seiner Darstellung der „Kommunikation des Evangeliums“ auf die Vielfalt gegenwärtiger Kommunikationsmöglichkeiten verweist; ders., Praktische Theologie, 193–252.

Ereignis des äußeren Wortes

2.2

209

Unterbrechung und Transformation durch das äußere Wort – Das Ereignis der Predigt

Gottes Wort ist qualitativ nicht von den Worten unterschieden, die Menschen sagen oder hören. Das macht seine Strittigkeit und Verwechselbarkeit, man könnte noch schärfer sagen: seine Niedrigkeit und Lächerlichkeit aus.17 Das ganz normale Wort von überaus durchschnittlichen Menschen (wie dem soeben aus dem Paradies vertriebenen Adam, der biblisch teilweise als Prototyp des sündigen Menschen gesehen wird!18) hat das Potenzial, zu Gottes eigenem Wort zu werden. Seine spezifische Qualität erhält es nicht durch die Würde seiner Sprecherinnen und Sprecher, nicht durch einen liturgischen Kontext und erst recht nicht durch den erhöhten Ort der Kanzel, von dem es laut wird; auch nicht durch seinen Inhalt oder durch seine sprachliche Form, sondern dadurch, dass Menschen in dem, was sie von anderen hören, Gottes Wort wahrnehmen und identifizieren. Martin Luther sagt in seiner zweiten Invokavitpredigt 1522: „Ich kann nicht weiter kommen als zu den Ohren, ins Herz kann ich nicht kommen. Weil ich denn den Glauben nicht ins Herz gießen kann, so kann und soll ich niemanden dazu zwingen oder dringen; denn Gott tut das alleine und macht, daß das Wort im Herzen lebt“.19

Um die Begrifflichkeit der Sakramentslehre aufzugreifen: In, mit und unter der zwischenmenschlichen Kommunikation geschieht der Wortwechsel von Gott und Mensch, in dem sich das Evangelium immer neu ereignet. Entscheidend dafür, dass Worte zu Gottes Wort werden, ist Luther zufolge der Geist.20 Daher gehört das von Luther immer wieder betonte äußere Wort, das verbum externum, selbstverständlich hinein in die Sprache dieser Welt und fällt aufgrund seiner pneumatologisch vermittelten Wirkung doch kategorial aus dieser heraus. Es wird durch das Wirken des Geistes zu dem Wort, das ‚ich‘ mir selbst nicht sagen kann und durch das ‚ich‘ „in alienis“ neu gebildet, neu konstituiert werde.21 Die Betonung des mündlichen, verkündigten Wortes mit seiner vom Geist bestimmten Wirkung führt dazu, dass sich dieses Wort dem üblichen, vernünftigen Verstehen und seinen Kategorien entzieht. ‚Verstehen‘ dieses Wortes bedeutet 17 Diesen Aspekt haben Johan Cilliers und Charles Campbell immer wieder umkreist; Cilliers/ Campbell, Torheit. 18 Vgl. Röm 5,12–21. 19 Bornkamm/ Ebeling, Luther, 278. 20 Wie auch umgekehrt die Gabe des Geistes ans Wort gebunden wird. In den Schmalkaldischen Artikeln schreibt Luther, „daß Gott niemand seinen Geist gibt ohne durch oder mit der vorhergehend äußerlichen Wort“ (BSLK 453,18f; vgl. dazu auch Stephan Roths Festpostille. Herausgegeben von G. Buchwald, WA 17/2,459,35–460,6). 21 Vgl. hierzu die dritte Disputation gegen die Antinomer, WA 39/I, 492,3: „constituamur in alienis“.

210

Alexander Deeg

nicht eine deutende Anverwandlung ins Eigene hinein, bedeutet nicht die Überwindung von Fremdheit, sondern gerade umgekehrt die Verfremdung des ‚Ich‘ ins Wort: „Vincit enim in verbo suo, dum nos tales facit, quale est verbum suum, hoc est Iustum, verum, Sapiens etc. Et ita nos in verbum suum […] mutuat“. [Er behält nämlich recht in seinem Wort, indem er uns zu solchen macht, wie es seinem Wort entspricht, das heißt gerecht, wahr, weise etc. Und so verwandelt er uns in sein Wort].22

Predigt hat in reformatorischem Verständnis verwandelnden Charakter, sie ist theologisch zu bestimmen als ein Geschehen der Unterbrechung und der Transformation. Unterbrochen wird durch das äußere Wort das Bei-Sich-SelbstBleiben des Menschen, das für Luthers Anthropologie der Sünde so grundlegend war. Der homo incurvatus in se ipsum, dessen Gefühlswelt sich zwischen superbia (Hochmut) und desperatio (Verzweiflung) bewegt, ist wie Narziss gefangen in sich selbst und darauf angewiesen, das unterbrechende und rettende Wort zu hören.23 Die Unterbrechung bedeutet einen Subjektwechsel: Es geht, wie Luther in der Beschreibung seiner reformatorischen Erkenntnis sagt, nicht um ‚meine‘ Gerechtigkeit, sondern um die Gerechtigkeit Gottes, die im Glauben als externe zugeeignet – und daher als fremdes Wort zugesprochen wird. Was Luther als reformatorische Wendeerfahrung beschreibt, ist nichts anderes als die Kraft des äußeren Wortes bzw. das Ereignis gelingender Predigt. Im Rückblick aus dem Jahr 1545 schreibt er: „Nun fühlte ich mich ganz und gar neugeboren und durch offene Pforten in das Paradies selbst eingetreten. Da zeigte sich mir sogleich die ganze Schrift von einer anderen Seite. Von daher durchlief ich die Schrift, wie ich sie im Gedächtnis hatte, und las auch in anderen Ausdrücken die gleiche Struktur [analogia], wie: ‚das Werk Gottes‘, d. h. was Gott in uns wirkt, ‚die Kraft Gottes‘, mit der er uns kräftig macht, ‚die Weisheit Gottes‘, mit der er uns weise macht, ‚die Stärke Gottes‘, ‚das Heil Gottes‘, ‚die Herrlichkeit Gottes‘. Nun, mit wieviel Haß ich früher das Wort ‚Gerechtigkeit Gottes‘ gehaßt hatte, mit um so größerer Liebe pries ich dieses Wort als das für mich süßeste; so sehr war mir diese Paulusstelle wirklich die Pforte zum Paradies“.24

Die Unterbrechung führt zur Transformation: Aus dem in der Hölle seiner selbst Versunkenen wird der für Gott und die Welt geöffnete und so schon irdisch im Paradies zu lozierende Glaubende. Dabei hat diese Transformation unmittelbare 22 Die Scholien, WA 56, 227, 2–5; vgl. dazu auch Joest, Ontologie, 222–228, bes. 224. 23 Es gehört zur Tragik des Mythos von Narziss, dass dieses unterbrechende Wort ausgerechnet von Echo versucht wird. Bei Echo handelt es sich um jene Nymphe, die dazu verurteilt war, kein eigenes Wort mehr sagen zu können, sondern nur die letzten Worte des bereits Gesagten wiederholen zu können. Der in sich selbst verschlossene Mensch hört so gerade nicht das unterbrechende Wort, das ihn vor dem Versinken in sich selbst bewahrt hätte. 24 Martin Luther (1545), zitiert nach: Oberman, Heiko A., Die Kirche im Zeitalter der Reformation. Kirchen- und Theologiegeschichte in Quellen 3, Neukirchen-Vluyn 1981, 209f.

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Konsequenzen für die Beziehung des Menschen zu den Mitmenschen und zu seiner Umwelt – wie Luther etwa in seiner Freiheitsschrift betont („Von der Freiheit eines Christenmenschen“, 1520). Die Unterbrechung der in sich selbst gefangenen Subjekte durch die Predigt hat so auch gesellschaftliche und politische Konsequenzen (und die Spiritualität evangelischer Predigt ist immer auch als eine politische Spiritualität zu beschreiben).25

2.3

Die Dialektik der Predigt zwischen Göttlichem und Menschlichem

Damit ist die Dialektik der „Predigt“ zwischen Göttlichem und Menschlichem, zwischen Vertikale und Horizontale grundlegend benannt, wie sie die Reformatoren erkannten, wie sie die Dialektische Theologie in ihrem Aufbruch vor 100 Jahren neu betonte und wie sie m. E. zur grundlegenden Signatur evangelischer Spiritualität gehört (oder normativer gesagt: gehören müsste). Dialektisches Denken ist freilich immer schwerer als lineares; und das Leben in einer dialektischen Spannung erweist sich als komplexer als ein Leben, das diese Spannung nicht kennt. Von daher ist es kein Wunder, dass diese reformatorische Dialektik schon im 16. Jh., ja, vielleicht bereits bei Luther selbst, nur schwer durchzuhalten war. Die beiden Abstürze zeigen sich immer wieder: Entweder die Predigt behauptet zu viel oder sie will zu wenig. So konnten Predigende schlicht behaupten, die Predigt an und für sich ‚sei‘ Gottes Wort,26 woraus sich in der Geschichte der evangelischen Homiletik nicht selten die Haltung ergab und ergibt, zu meinen, schon allein die Weitergabe der 25 Vgl. zu dieser Transformation nur z. B. Powery, Preaching. Powery zeigt anhand der Geschichte des Black American Preaching, wie Predigten inmitten einer Welt der Bedrückung und Unterdrückung das Potenzial zu einer erneuerten Hoffnung und so zu einer Gestaltung der Welt im Licht des Evangeliums ermöglichten. – Der Schweizer Prediger Walter Lüthi kritisierte hingegen die Predigt in einer eingeschlafenen Kirche der Schweiz grundlegend: „In solch einer Kirche gibt es Beschlüsse, Vernehmlassungen, auch Kanzelreden, die wohlabgewogenen Communiqués gleichen, Predigten, die jedem ein wenig das Seine geben, keinem alles, die niemandem weh, aber auch keinem wohltun. So kann das Wort Gottes, diese Gefährlichkeit, dieser Gärstoff, diese Salz- und Dynamitkraft, schliesslich auch in der Evangelischen Kirche, in der Kirche des Worts, entschärft und kirchenamtlich gesichert werden“ (Lüthi, Kirche, 37). 26 Luther selbst äußert sich teilweise so, dass sich dieses (Miss-)Verständnis nahelegt, etwa in der „Treuen Vermahnung“ (1522): „Nu mag ich unnd eyn iglicher, der Christus wort redet, frey sich rhumen, das seyn mund Christus mund sey. Ich bynn yhe gewisz, das meyn wortt nitt meyn, sondern Christus wort sey, szo mus meyn mund auch des seyn, des wort er redet“ (WA 8, 683). Oder in einer Predigt zu Joh 20,19–31 aus dem Jahr 1534: „Das ist ein gross trefflich Ding, dass eines jeglichen rechtschaffenen Pfarrherrns und Predigers Mund Christi Mund ist, und sein Wort und Vergebung Christi Wort und Vergebung ist. […] Darum thut man recht daran, daß man des Pfarrherrs und Predigers Wort, das er prediget, Gottes Wort nennet“ (hier zit. nach Barth, KD I/1, 98).

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‚korrekten‘ reformatorischen Lehre sei bereits die ‚Sache‘ selbst – ganz ähnlich, wie sich der Aufbruch der Dialektischen Theologie spätestens nach dem Zweiten Weltkrieg in eine kirchliche Praxis verwandeln konnte, die die Einsichten der Dialektischen Theologen als ‚reine Lehre‘ gegen andere Theologien verteidigte und so auch die Kanzelrede in der Zeit nach dem Zweiten Weltkrieg vielerorts in eine „gespenstische Monotonie“ transformierte.27 Ein anderer Absturz bestand und besteht darin, sich von der beschriebenen theologisch herausfordernden Bestimmung zu verabschieden und die Predigtrede ausschließlich als eine horizontale Verständigungsbemühung zu begreifen. So forderte Wolfgang Trillhaas 1963 eine Wahrnehmung der „wirkliche[n] Predigt“ gegenüber der bloßen Behauptung, dass der Prediger auf der Kanzel Gottes Wort zu sagen habe.28 Der Tübinger Rhetorik-Professor Walter Jens ging noch einen Schritt weiter und kritisierte die Pathos-Formeln einer evangelischen Predigtlehre, die den Prediger in die eigentümliche Rolle des „Stellvertreter[s] Christi in der Epoche zwischen Himmelfahrt und Jüngstem Gericht“ brächten.29 Im Blick auf die Diskrepanz zwischen hoher Predigt-Theologie und faktischer Predigt-Realität bemerkte Jens: „Während man hier Meditationen über Art und Weise verbaler Transsubstantiation vorexerziert und, in einer Art von nimmermüdem Glasperlenspiel, den Spannungsbogen zwischen Menschenwort und Gotteswort zu analysieren versucht, wird dort, in der Nacht zum Sonntag, eine Rede geschrieben. Eine Rede, nichts weiter. Ein Manuskript: formuliert von einem Pfarrer, für den das Predigen eine Tätigkeit unter anderen ist […]“.30

Gegenwärtig plädiert vor allem Wilhelm Gräb dafür, von einem theologisch unerschwinglichen Anspruch auf eine Predigt als ‚Verkündigung des Wortes Gottes‘ Abstand zu nehmen und Predigt schlichter, aber dafür realistischer und machbarer als „religiöse Rede“ und Deutung des Lebens im Licht des Glaubens zu verstehen.31

27 „Dicht beisammen wohnt hier der Wille zu sachbestimmter, von prophetischen Leit- und Wunschbildern mitgeprägter Verkündigung und der Hang zu fanatischer Intellektualisierung des vermeinten Kerygmas. Irrlehre und natürliche Theologie scheinen aus dem Felde geschlagen. Dafür weht durch die Predigten auf deutschen Kanzeln nicht selten ein Hauch gespenstischer Monotonie“ (Doerne, Homiletik, 438–440). 28 Vgl. Trillhaas, Predigt, 13–22. 29 Jens, Kanzelrede, 53f. 30 A. a. O., 59. 31 Vgl. Gräb, Predigtlehre. Pointiert fordert Gräb in einer 2017 erschienenen Rezension „eine Ermäßigung des theologisch überhöhten Anspruchs, der mit dem Verkündigungsparadigma immer noch einhergeht.“ Stattdessen müsse Predigt als ein „Akt situationsbezogener, alltagsweltlich kontextuierter und lebensdeutungspraktisch motivierter religiöser Rede“ verstanden werden (ders., Rezension Rinn, 965).

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Es wäre m. E. ein Verlust, auf einer Seite abzustürzen und damit die Dialektik von Menschen- und Gotteswort zu verlieren. Mit ihr ginge zugleich die Erwartung an die Predigtrede verloren. Dass Predigtrede ganz normale Rede ist, muss innerhalb dieser Dialektik nicht immer neu betont oder heroisch gegen ein Verkündigungsparadigma kämpferisch-emanzipatorisch vertreten werden. Ja, Predigtrede ist ganz normale Rede! Natürlich! Was denn sonst! Sie kann mal poetischer sein und mal schlichter. Sie kann als banal oder redundant, konventionell oder langweilig empfunden werden – und wenn es gut geht als spannend und herausfordernd, humorvoll oder fesselnd, zum Nachdenken anregend oder zum Durchatmen einladend, zum Gähnen langweilig oder zum Halleluja-Sagen schön. In der Bibel waren die augenscheinlich wirkungsvollsten überlieferten Reden von geradezu überwältigender Schlichtheit und Knappheit. Man denke an die Ein-Satz-Predigt des widerwilligen Propheten Jona in Ninive: „Es sind noch vierzig Tage, so wird Ninive untergehen“ (Jona 3,4), die eine ganze Stadt (samt den dort lebenden Tieren!) zur Umkehr führte. Oder an die etwa genauso lange Predigt Jesu in Nazareth: „Heute ist dieses Wort der Schrift erfüllt vor euren Ohren“ (Lk 4,21), die für einige Unruhe in dessen Heimatstadt sorgte. Und Adams Wort an Kain, das Luther als erste Predigt qualifizierte, war im hebräischen Original drei Worte lang. Das Wort der Predigt ist kein besonderes Wort und darf und soll daher auch nicht so gestaltet werden, als wäre es das! Das überaus merkwürdige und viel beobachtete Phänomen, dass Pfarrerinnen und Pfarrer im Alltag eigentlich ‚ganz normal‘ reden, aber auf der Kanzel auf einmal ganz anders, nämlich ‚irgendwie pastoral‘, hängt (neben der akustischen Situation in manchen Kirchen) wohl in der Tat mit einem (falsch verstandenen!) Verkündigungsparadigma und mit reichlich homiletischer Konvention und Prägung durch eine lange Tradition zusammen. Die Dimension der Erwartung nimmt in den Blick, dass auf dem immer wieder gelobten und immer wieder kritisierten zwischenmenschlichen Kommunikationsgeschehen „Predigt“ die eigentümliche und merkwürdige Verheißung liegt, dass sich in ihm Gott zu Wort meldet und so das heilsam fremde äußere Wort vernehmbar wird. Zahlreiche Aussagen Luthers lassen sich daher als Einübung in diese Erwartung verstehen, die m. E. als grundlegende Bewegung evangelischer Spiritualität gelten kann. Evangelische Spiritualität ist Spiritualität in der Wort-Gottes-Erwartung!32 So wendet sich Luther in einer Predigt aus dem Jahr 1545 an die Hörerinnen und Hörer und sagt: „Also soltu mich nicht hören als einen menschen, der menschen wort predige. So du mich also hörest, wer es viel besser, du hörest mich gar nicht, Also auch deinen Pfarrherr

32 Vgl. dazu auch Mildenberger, Spiritualität, 309–316.

214

Alexander Deeg

soltu nicht als ein menschen hören, der menschen wort rede und predige, sondern solt ihn hören als den, der das wort redet aus dem munde der unmündigen und seuglingen […]“.33

2.4

Predigt in der Vielfalt zwischenmenschlicher Kommunikation

Für die Bestimmung von „Predigt“ bedeutet das bisher Gesagte zweierlei: (1) „Predigt“ umfasst in einem weiten Sinn vielfache Kommunikationsformen und Kontexte – und ist keineswegs auf die Rede einer/eines dazu ordnungsgemäß Beauftragten in einem liturgischen Kontext beschränkt. Selbstverständlich hat jedes menschliche Wort das Potenzial, von Gott in Gebrauch genommen zu werden, damit er sein Wort sage. Wenn ich in diesem Beitrag dennoch primär auf die üblicherweise im gottesdienstlichen Kontext stattfindende und auf ein Bibelwort bezogene Rede fokussiere, so deshalb, weil an diesem Ort in besonderer Weise sichtbar wird, was auch andernorts für die Kommunikationsform „Predigt“ gilt. (2) Gleichzeitig wird das Verständnis aber auch enger, weil mit dieser Grundlegung keineswegs jede Kommunikationsbemühung, die formal das Etikett „Predigt“ trägt, automatisch auch schon solche sein muss. „Predigt“ ist nicht Lehre über den Glauben, mehr oder weniger hilfreiche Lebensdeutung oder ethisch-moralische Zurüstung für das Handeln im Alltag. Zur „Predigt“ wird alles dies, wird eine menschliche Rede dann, wenn Hörende erfahren, dass sie sich auf das hin öffnet, was über die bloß zwischenmenschliche Kommunikation hinausgeht und mit unterschiedlichen Begriffen und Metaphern umschrieben werden kann, wie z. B. „Ereignis“, „Geheimnis Christi“, „Offenbarung des Wortes Gottes“. Ob eine Hörerin oder ein Hörer wirklich eine „Predigt“ gehört hat, kann nur er/sie selbst sagen.

3.

Sakramentalität und Entzogenheit oder: Die Eigentümlichkeit homiletischer Kommunikation und evangelischer Spiritualität

3.1

Von den Risiken und Nebenwirkungen einer evangelischen Spiritualität des Wortes

Eine auf das Hören und das Wortgeschehen konzentrierte Spiritualität steht in der Gefahr, mit den vielen Worten die Erwartung des Wortes zu übertönen. Es ist eine in allen empirischen Studien zum Gottesdienst der vergangenen Jahre ge33 Predigt in Merseburg 1545, WA 51,15.

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machte Beobachtung, dass die Stille von den Befragten überaus geschätzt und schmerzlich vermisst wird, wenn sie fehlt oder zu kurz ausfällt. Die Sehnsucht nach Stille in einer Kirche des Wortes drückt aus, dass es in evangelischer Spiritualität um eine Spiritualität des Hörens, nicht aber um eine Spiritualität der vielen Worte geht. Die entscheidende Frage für Predigende wäre dann nicht: Was haben wir alles zu sagen?, sondern: Wie führen wir unsere Hörerinnen in ein Hören, das – so Gott will – zugleich unterbrechend und transformativ ist. Karl-Adolf Bauer berichtet: „Meine Großmutter zu einem Pfarrer nach dem Gottesdienst: ‚Herr Pfarrer, Sie schwätze soviel in der Kerch, dass de liewe Gott Mieh had, aach emol dezwische se komme!‘“34

Dass durch die Betonung der Predigt auch der zweite Gipfelpunkt des liturgischen Weges, das Abendmahl, ins Hintertreffen geraten kann, gehört zweifellos ebenfalls zu den Nebenwirkungen der Wort- und Predigtorientierung und zu den Phänomenen, die bereits seit dem 16. Jh. die evangelische Liturgik begleiten.35 Der Schweizer Theologe Christian Walti weist am Rande seiner Studie zur Interaktion im Gottesdienst auf weitere Probleme hin, die eine Konzentration auf das Wort mit sich bringen kann. Er erkennt grundlegend, dass ein evangelischer Gottesdienst zahlreiche Bedingungen stellt für die, die ihn feiern wollen. Die vielen Worte, die darin geredet werden, bedeuten eine intellektuelle Schwelle und potenziell eine Überbetonung der Semantik, des verstehenden Nachvollzugs. Gerade wenn man die oben idealiter charakterisierte und auf das Schauen ausgerichtete mittelalterliche Messe mit einem auf die Predigt konzentrierten evangelischen Messgottesdienst vergleicht, fällt auf, wie ungleich höher die Herausforderung an das konzentrierte Zuhören und den intellektuellen Nachvollzug ist. Es gibt in der medialen Kultur der Gegenwart nur wenige Gestalten, in denen so viele Worte gehört und verstanden werden müssen, um folgen und partizipieren zu können (natürlich Vorlesungen und Vorträge, daneben Hörbücher und Spartenkanäle im Rundfunk, vielleicht noch Talk-Shows im Fernsehen). Es ist erstaunlich, dass gerade bei den Versuchen, sogenannte ‚niederschwelligere‘ Gottesdienstformate zu kreieren, der Redeanteil nicht selten eher noch zunimmt und die Konzentration auf das intellektuelle Verstehen und Nachvollziehen im Mittelpunkt der Aufmerksamkeit steht. Dies gilt letztlich sogar für die Versuche, Gottesdienste zugänglicher zu machen, indem sie in „Leichter Sprache“ gefeiert werden. Der Schwerpunkt der liturgischen und homiletischen Übersetzungen in „Leichte Sprache“ liegt darin, die Redeteile in ihrer 34 Bauer, Abendmahl, 17. 35 Vgl. Deeg, Fundamentalliturgik, 77–83.

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Semantik verständlich zu machen. Überlegungen, die dahin gehen, das Ritual zu stärken, um so die intellektuelle Zugangsschwelle zu senken, werden demgegenüber weit weniger diskutiert.36 Noch wichtiger erscheint mir eine zweite Beobachtung Christian Waltis. Er erkennt, dass Vorerfahrungen mit Gott zum evangelischen Gottesdienst gehören, denn der Gottesdienst in den „mainline churches“ Europas und Amerikas spreche vor allem über jene Erfahrungen, die Menschen bereits mit Gott gemacht hätten, und reflektiere diese, tue aber sehr wenig dafür, dass Menschen während des Gottesdienstes selbst solche Erfahrungen machen.37 Das gilt auch und vielleicht in besonderer Weise für die Predigt. In zahlreichen homiletischen Konzeptionen wird die Funktion der Predigtrede als „Deutung“ beschrieben. Es geht dann um die Deutung des Lebens im Lichte des Glaubens, so dass Vorerfahrungen aus dem Leben im religiösen Sprachraum einer Deutungsleistung zugeführt werden.38 Auch wenn selbstverständlich erkannt wird, dass dazu auch Emotionen eine wichtige Rolle spielen, liegen die Erfahrungen, die gedeutet werden, jenseits des gefeierten Gottesdienstes. Einen Paradigmenwechsel versuchte an dieser Stelle die nordamerikanische New Homiletic, die sich seit den 1960er-Jahren entwickelte. Sie nahm die europäische Diskussion über die Predigt als „Wort-Ereignis“ in der Spur von Karl Barth und Gerhard Ebeling auf und verband sie mit Einsichten in die Pragmatik menschlicher Rede, wie sie etwa zeitgleich in der so genannten Sprechakttheorie entwickelt wurden. In der Predigt könne und müsse es darum gehen, „to make things happen“, wie Martin Nicol in Aufnahme der „New Homiletic“ in den USA schrieb.39 Es solle nicht länger über Erfahrungen des Glaubens nachgedacht werden, sondern mindestens versucht werden, in der Rede in solche Erfahrungen des Glaubens zu führen. Freilich: „to make things happen“ ist ein mindestens ambivalenter, vielleicht auch theologisch fahrlässiger Begriff, weil die Frage damit im Raum steht, was denn eigentlich hervorgebracht werden soll. Das, was in der Hand der Predigenden liegt, ist ja – wie gezeigt – nicht das ausschließlich Entscheidende des Predigtvollzugs, so wenig es unbedeutend für die Predigt wäre. Praktisch wurde vor allem die Kraft poetischer und narrativer Sprache erkannt und eine biblische Hermeneutik erprobt, die biblische Texte nicht zunächst historisch oder existenziell distanziert, um sie im Anschluss mit der Gegenwart zu verbinden, sondern biblische Texte in Kontexten der Gegenwart inszeniert

36 Vgl. dazu aber z. B. Bent Flemming Nielsens Überlegungen zur Ritualität in Predigt und Gottesdienst: Nielsen, Erlebnis; ders., Pockets. 37 Vgl. Walti, Interaktionsritual, bes. 399f. 38 Vgl. insbesondere die bereits zitierte Predigtlehre von Wilhelm Gräb. 39 Vgl. Nicol, Praxisimpulse, 46–54.

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217

und so Menschen, wie Martin Nicol und ich in der Dramaturgischen Homiletik formuliert haben, in die Worte, Bilder und Geschichten der Bibel setzt.40 Es sei nochmals gesagt: Das, was als Erfahrung innerhalb der Predigt intendiert und durch sprachliche Mittel – so gut es eben gehen mag – bewirkt werden soll, ist theologisch noch nicht das Entscheidende der Predigtrede. Die Frage lautet für Predigerinnen und Prediger vielmehr, wie durch eine bestimmte Sprachgestalt nicht nur ein RedenÜber ermöglicht wird, sondern ein RedenIn, das hineinführt in unterschiedliche Bewegungen, im Kern aber in eine Bewegung der Erwartung eines Ereignisses, das sie nicht selbst in der Hand hat. Es geht in dieser Hinsicht um das sprachliche Eröffnen einer Leerstelle und so gerade darum, eine in jeder Hinsicht ‚runde‘ und abgeschlossene Predigt zu verhindern. In dieser Spur versuche ich im Folgenden die Spiritualität der Predigt im Blick auf die Predigenden und die Hörenden zu charakterisieren: Die Spiritualität des ausgestreckten Fingers charakterisiert metaphorisch die Spiritualität des evangelischen Predigers; und die Spiritualität des hörenden Jüngers wird zum Bild für die Spiritualität des Predigthörens.

3.2

Predigende und die Spiritualität des ausgestreckten Fingers

Kaum ein anderer Begriff prägt die Diskussion um die Qualität von Predigten seit einigen Jahren so wie der Begriff der Authentizität.41 Predigende sollen authentisch sein. Mit diesem Begriff verbinden sich zahlreiche Erwartungen – etwa die, dass die oben bereits beschriebene Diskrepanz zwischen der Erfahrung einer Person im alltäglichen Miteinander und im Kanzelgeschehen verschwinden möge. Aber auch die berechtigte Erwartung, als Hörerin und Hörer tatsächlich Adressat einer von dieser Person ausgesandten Botschaft und Mitteilung zu sein. Nur das, was die Redenden wirklich angeht, kann sich auch für die Hörenden als

40 In den USA hat der Alttestamentler Walter Brueggemann versucht, Predigt als Weiterführung der Wirkung biblischer Worte zu beschreiben. Das, was etwa ein prophetisches Wort einmal bewirken wollte, gilt es gegenwärtig unter veränderten gesellschaftlichen Bedingungen neu zur Wirkung zu bringen. Bewahrt werden soll also die pragmatische Identität – und dafür sei eine Veränderung der Sprache notwendig. Für Walter Brueggemann bedeutet dies vor allem, dass Predigende die Poesie ihrer Rede neu entdecken müssen; vgl. Bruegemann, Finally Comes the Poet. Im deutschsprachigen Bereich hat etwa Frank Michael Lütze danach gefragt, wie die Botschaft der Rechtfertigung in der Predigt gehört werden kann; vgl. Lütze, Absicht und Wirkung der Predigt. 41 Vgl. dazu Deeg, Suchbewegungen.

218

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relevant erweisen. Nicht selten beklagen Predigthörerinnen und -hörer, dass genau diese Erfahrung ausblieb und „mich die Rede gar nicht erreicht hat“.42 Predigende freilich kann die Authentizitätsforderung in zahlreiche Dilemmata führen. Es ist ja nicht nur so, dass der Imperativ „Sei doch mal authentisch!“ als paradoxe Intervention erscheinen muss. Es kommt hinzu, dass Menschen sich immer in einer Rolle befinden, sobald sie mit anderen interagieren, und die Forderung nach restloser Authentizität schon von daher eine Unmöglichkeit darstellt. Die Steigerung erfährt diese Erfahrung dann, wenn Predigerinnen und Prediger ganz im Sinne von 1Petr 3,15, „Verantwortung“ übernehmen und Zeugnis geben wollen „vor jedermann, der Rechenschaft von euch fordert über die Hoffnung, die in euch ist“. Was aber ist, wenn da gerade keine „Hoffnung“ in ihnen ist, wenn die Predigtperson selbst von Zweifeln und Fragen angegriffen oder erschüttert ist? Was ist, wenn mich die „tentatio“, die „Anfechtung“, bestimmt, die für Luther sogar zum besonderen Kennzeichen des Theologen gehört? – Es wäre ja alles recht einfach, wenn Predigende Sonntag für Sonntag und dazu bei all den Beerdigungen unter der Woche, in all den seelsorglichen Gesprächen, bei weiteren Kasualien, im Unterricht, nicht anders könnten, als „von dem zu reden, was wir gesehen und gehört haben“, wie Petrus und Johannes dies vor den jüdischen Autoritäten in Jerusalem getrieben vom Pfingstgeist erklären (vgl. Apg 4,20). Die beiden „können’s ja nicht lassen“ von alledem zu reden; Predigende würden es nicht selten gerne mal lassen, am Sonntag schon wieder auf die Kanzel oder an den Ambo zu müssen. Das damit gegebene pastorale Dilemma der geforderten Authentizität und des auch bei Pfarrerinnen und Pfarrern, Priestern und allen anderen Predigenden immer nur bruchstückhaften Glaubens beschreibt der evangelische Theologe und Schriftsteller Kurt Ihlenfeld (1901–1972) in seinem 1951 erschienenen Roman „Wintergewitter“ überaus plastisch. Erzählt wird dabei u. a. von den Gottesdiensten in den letzten Tagen vor der Flucht aus Schlesien Ende Januar 1945. Der Ich-Erzähler berichtet von seinem Erleben am ersten Weihnachtsfeiertag: „Die Kerzen haben noch für den ersten Feiertag gereicht. Trotzdem – der Weihnachtsmorgen bringt nun einmal eine leise Enttäuschung mit sich. So wie auch der brennende Baum nicht mehr so überwältigend anmutet, wie am Abend zuvor. Das Tageslicht streift die Hülle des Geheimnisses ab. Es ist noch das Geheimnis, das Wunder – aber die Zeit hat schon ihre Wirkung getan. Sie glättet auch die Wogen der Seele. Nur gut, daß die Wahrheit nicht allein ein Erlebnis der Seele ist. Sonst wär’s doch ein gar zu schwankender Grund, auf dem wir stehen. Und wie hätte ich mich vor den Augen

42 Hier findet sich ein wesentliches und viel genutztes Argument für die Praxis der freien Predigt und gegen das Manuskript; vgl. dazu unsere Auseinandersetzung in: Deeg/Meyer-Blanck/ Stäblein, Präsent.

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behaupten wollen, die am ersten Feiertag in der Kirche auf mich sahen, wenn ich nichts anderes vorzuweisen gehabt hätte, als mein eigenes Erlebnis? Das war recht schwach an diesem Morgen, muß ich sagen. Der Glaube ist keine gleichbleibende Größe wie das Kirchenjahr. Plötzlich türmen sich die Hindernisse auf, und man steht dem Feste gegenüber wie einem Schaufenster, hinter dem die Herrlichkeiten alle ausgebreitet sind – aber leider ist Glas dazwischen, und so bleiben sie unzugänglich. So war es an diesem Morgen. Die Worte hatte ich, aber die Sache war mir fern. Das gibt es, es war nicht das erstemal, daß ich das erlebte. Ich ging auf die Kanzel, in dem Bewußtsein, eine einstudierte Rolle herzusagen. In mir war nichts, was die Rolle in Leben verwandelt hätte. So stand ich vor der Gemeinde. Hunderte von Augenpaaren sahen auf mich. Sie sollten lieber auf den Engel sehen, dachte ich, der zu den Hirten kommt. Ich hatte ja nur etwas aufzusagen. Und war freilich entschlossen, es so gut, so deutlich, so überzeugend zu tun, wie ich nur vermochte. Mit anderen Worten: Ich versteckte mich geradezu hinter der Sache, dem Wunder, hinter dem Geheimnis“.43

Das „eigene Erlebnis“, so die Einsicht des Ich-Erzählers, reicht nicht aus. Und man könnte fragen: Wie sollte es auch? Wenn zu reden ist von Gott inmitten dieser Welt, vom gekreuzigten Christus, in dem doch auf paradoxe Weise alle Hoffnung ruht, dann ist das – wie schon Paulus wusste – bestenfalls „Torheit“ und allemal „närrisch“ (vgl. 1Kor 1,18; 4,10). Was dann bleibt, so der Ich-Erzähler in dem Roman, ist die Rollenübernahme, die als Flucht, als Sich-Verstecken beschrieben wird: „Ich versteckte mich geradezu hinter der Sache, hinter dem Wunder, hinter dem Geheimnis.“ Theologisch ist diese Flucht, so scheint mir, alles andere als verwerflich. Auch Verkündiger des Evangeliums können nicht anders, als sich in einem Geheimnis zu bergen, das größer ist als sie selbst (vgl. 1Kor 4,1–5), das sie nicht ‚haben‘, sondern dessen Evidenz sie selbst immer wieder neu erwarten. Aber da sind „Hunderte von Augenpaaren“, die nun nicht auf den Engel gerichtet sind, wie es dem Ich-Erzähler sehr viel lieber wäre, sondern auf ihn. An dieser Stelle erscheint mir die Richtungsangabe bleibend hilfreich, die sich in die Signatur evangelischer Predigertypologien seit Cranachs Darstellung des predigenden Martin Luther in der Predella des Altars der Wittenberger Stadtkirche eingezeichnet hat: die Geste des ausgestreckten Fingers. Cranach nimmt den ausgestreckten Finger des Predigers Luther aus der üblichen Ikonographie Johannes des Täufers auf, dessen Finger zum Charakteristikum vieler Darstellungen wurde. Besonders leuchtend tritt er etwa bei Leonardo da Vinci hervor.44 Predigende weisen hin und weisen in der Geste des ausgestreckten Fingers von sich weg. Das ist eine entlastende Perspektive – und doch gar nicht so einfach. Zwei Gegenkräfte gibt es: erstens die hörende Gemeinde, deren Augenpaare auf 43 Zitiert bei Dornemann, Literatur, 208f. 44 Leonardo da Vinci, Johannes der Täufer, Louvre Paris [Fotografie: AD].

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Abb. 1

Abb. 2

den Prediger/die Predigerin fixiert sind. Und zweitens der (daraus resultierende) Wunsch von Predigenden, selbst etwas zu geben und so von der Gemeinde akzeptiert und geschätzt zu werden. Johannes der Täufer ist für seine Umwelt ja vor allem eines: eine enttäuschende und ärgerliche Figur. Er kämpft gegen die Selbsttäuschung seiner Hörerinnen und Hörer einerseits; und er ist nicht der, auf den sie gewartet haben, sondern sagt nur den an, der kommen wird. Genau in dieser Rolle aber ist er unverzichtbar – unverzichtbar wie die Predigt in evangelischem Verständnis.

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Wohin aber zeigen Predigerinnen und Prediger? Johannes der Täufer hatte ja noch den lebendigen Jesus von Nazareth, auf den er zeigen konnte. Heutige Predigerinnen und Prediger haben diesen Christus nicht. Oder nur vermittelt. Die traditionelle, aber bis heute beste Antwort ist: Sie zeigen auf die Spuren, die die Gottes- und Christusgeschichte in der Bibel hinterlassen hat, verbinden sie mit den vielfältigen Lebenswirklichkeiten und erwarten genau darin die Gegenwart Jesu Christi selbst, die Lucas Cranach in der Wittenberger Predella darstellt. Im Verweiszusammenhang des schriftlichen, des mündlichen und des lebendigen Wortes Gottes, das Karl Barth als dreifache Gestalt des Wortes Gottes bezeichnete, nehmen Predigende ihre Rolle ein.45 Sie brauchen daher nicht mit der Überzeugungskraft ihrer eigenen Person für die Bedeutung und Wahrheit der Geschichte des Handelns Gottes an seinem Volk Israel und in Jesus Christus einstehen. Sie können sich selbst als Suchende und im Predigtvollzug selbst als Hörende erweisen. Das Wort, auf das sich die Erwartung der Predigtrede richtet, haben ja auch sie immer wieder neu vor sich. Hörende ‚unter der Kanzel‘ werden es merken, ob sie von derjenigen oder demjenigen ‚auf der Kanzel‘ mit einer vorbereiteten Botschaft beschallt werden oder ob die Frau oder der Mann auf der Kanzel selbst offen ist für das Wort, das sie oder er inmitten ihrer/seiner eigenen Worte hört. Hörerinnen und Hörer werden merken, ob eine Predigt selbst aus dem Hören kommt – oder aus dem unermüdlichen Dauergerede. (Und sobald ich diesen Satz schreibe, merke ich, wie ungerecht er ist. Wie gerne würden viele der Kolleginnen und Kollegen im Pfarramt, mit denen ich im Gespräch bin, viel mehr Zeit zum Hören haben. Wie gerne würden sie an ‚freien‘ Sonntagen Gottesdienste besuchen, anstatt mehrfach unter der Woche bei Kasualien und immer wieder sonntags reden zu müssen.) Askese (gegenüber einem allzu ausgeprägten Narzissmus der Amtsperson) verbindet sich so mit Erwartung und konturiert die Spiritualität des evangelischen Pfarramts.46 Es ist mir wichtig, diese Dimension der Entlastung in besonderer Weise zu unterstreichen, da der „Dramaturgischen Homiletik“ nicht selten der Vorwurf gemacht wird, sie belaste Pfarrerinnen und Pfarrer, indem sie sie „durch die Analogie mit den performing arts zugleich unter einen hohen Anspruch“ stelle.47 Ja, es geht in der Tat darum, auf reflektierte Weise mit Sprache und Performance umzugehen, wenn man auf die Kanzel steigt. Aber es geht in theologischer Perspektive darum, eben nicht ‚sich selbst‘ zu inszenieren, sondern die Geste des Zeigens sprachlich einzuüben. Immer wieder werden Predigende dann hoffentlich selbst hören und – wie Luther – die Wirkung von Predigt

45 Vgl. dazu Barth, KD I/1, 89–128; vgl. auch Deeg, Christusgegenwart, 29–46. 46 Vgl. dazu Deeg, Rabbinat, 411–427. 47 So Hermelink, Praktische Theologie, 168.

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eindrucksvoll erfahren; eine Tatsache, die ihn einigermaßen gelassen gemacht zu haben scheint. Das Wort habe, so Luther 1522, „wenn ich geschlafen habe, wenn ich Wittenbergisch Bier mit meinem Melanchthon und mit Amsdorf getrunken habe, soviel getan, daß das Papsttum so schwach geworden ist […]. Ich habe nichts getan, das Wort hat es alles bewirkt und ausgerichtet.“48

Auch diese Haltung gehört – neben dem Wittenbergischen Bier – zu einer evangelischen Spiritualität aus dem Wort unbedingt dazu.

3.3

Hörende und die Spiritualität des erweckten Ohres

Trotz der Zentralität des Hörens für evangelische Theologie und Kirche hat sich die Theologie mit dem Phänomen des Hörens relativ wenig beschäftigt.49 In den Kulturwissenschaften hat das Hören in den vergangenen Jahren einige Beachtung erfahren – etwa bei dem Philosophen der Fremdheit und des Anderen Bernhard Waldenfels. Er schreibt zum Hören: „[D]as Hören einer fremden Stimme [beginnt] als schweigendes Mittönenlassen der gehörten Stimme. Diese Verdoppelung, die den bloßen Rollenwechsel von Sprechen und Hören unterläuft, kann man geradezu in die Definition der Stimme aufnehmen.“50

Die Stimme stiftet, wie Hartmut Rosa diese Beobachtungen weiterführt, „resonante Weltbeziehungen“.51 Im Blick auf die Rede beschreibt Rosa Erfahrungen, in denen Menschen einem Redenden wie gebannt folgen und an seinen/ihren Lippen hängen, und solchen, in denen es schwer fällt, sich auf eine Rede zu konzentrieren. Er erläutert: „Diese Differenz ist ganz offensichtlich die Differenz zwischen einer Situation, in der sich ein Resonanzverhältnis zwischen beiden Parteien eingestellt hat, und einer resonanzfreien Interaktion, bei der die wechselseitige Berührung und Synchronisation nicht gelingt.“52

Damit ist der Leitbegriff eingeführt, der seit dem Erscheinen des Buches von Hartmut Rosa intensiv diskutiert wird: Es geht beim Hören um Resonanz. Resonanz ist dabei für Rosa die „Begegnung mit einem Unverfügbaren“,53 die zu einer „lebendige[n] Antwortbeziehung“54 führt. Von außen berührt, antwortet 48 49 50 51 52 53 54

A. a. O., 280. Eine Ausnahme macht die Studie: Lincoln, Hören. Waldenfels, hier zit. nach Rosa, Resonanz, 111. Rosa, Resonanz, 113. Ebd. A. a. O., 619. A. a. O., 334.

Ereignis des äußeren Wortes

223

der resonante Mensch auf diese Berührung, so dass Resonanz nur als „dynamisches Geschehen“,55 als Wechselspiel von Eindruck und Ausdruck, Inskription und Expression zu denken sei.56 Im Blick auf die Predigtkommunikation ist Resonanz freilich nochmals gebrochen. Die Resonanz mit dem Prediger/der Predigerin führt hin zu den Worten, die er oder sie sagt, damit aber hoffentlich in die Bewegung, in der sich auch die Predigerin/der Prediger befindet: hörend, lauschend, suchend, hoffend, erwartungsvoll ausgestreckt auf das befreiende Wort – und auf einen Gott, der nicht schon so vertraut ist, dass klar wäre, was er (heute oder immer) zu sagen hat (Erich Fried hat einmal gedichtet: „Wer immer weiß / zu welchem Gott er betet / wird nie erhört“).57 Die Spiritualität, die sich mit dem Hören verbindet, findet in EG 452 ihren treffendsten Ausdruck: „Er weckt mich alle Morgen, er weckt mir selbst das Ohr.“ In Aufnahme des sogenannten dritten Gottesknechtsliedes (Jes 50,4–9) beschreibt Jochen Klepper in seinem am 12. 04. 1938, am Dienstag der Karwoche, entstandenen Lied die Situation des Hörenden.58 Das Lied setzt mit dem Personalpronomen der dritten Person ein und so gleichsam von der anderen Seite an: bei Gott! Nicht der menschliche Entschluss, hören zu wollen, ist entscheidend, sondern Gottes Handeln: Er weckt das Ohr! Nicht das menschliche Wort ist entscheidend, sondern es ist sein Wort, mit dem das lyrische Ich das neue Licht begrüßt. Dieses Wort ist Schöpfungswort und hat so die Kraft, das Chaos zu besiegen. Es ist in dieser Hinsicht heilsam unterbrechendes und transformierendes Wort: „Angst und Klage“, die die Welt bestimmen, kommen zur Ruhe … „Gott löst mich aus den Banden“ (V. 3). Gleichzeitig geschieht Bindung: der Mensch fügt sich ein in Gottes Willen (V. 3) und wird zu seinem „Dienst“ (V. 4) geführt. Reinhard Deichgräber schreibt: „Das Hören des Wortes […] kann sich nicht in einem unbeteiligten Zur-KenntnisNehmen erschöpfen. Es ist viel mehr, ja, es ist etwas ganz anderes als das Verarbeiten von Informationen. Hören und Gehorchen sind nicht voneinander zu trennen […].“59

Deichgräber betont dann auch: „Das wichtigste Organ eines jeden, der singt, ist – paradoxerweise – das Ohr, denn alles menschliche Singen ist Antwort, Antwort auf den Ruf.“60

55 56 57 58 59 60

Ebd. Vgl. a. a. O., 148f. Fried, Gedichte, 338. Das Gedicht trägt den Titel „Unrecht“. Vgl. zu dem Lied: Deichgräber, Liederkunde, 49–52. A. a. O., 51. A. a. O., 52.

224 3.4

Alexander Deeg

Die Rollen im Predigtgeschehen

Das Predigtamt ist reformatorisch durch das Gegenüber und als Gegenüber definiert. Aber es ist entscheidend, dass dies nur eine momentane Rolle, eine Aufgabe, eine Funktion bedeutet. Mit Luthers Einsicht in Adam als den ersten Prediger ist jede und jeder in der Lage, zum Prediger zu werden – und wird dies auch immer wieder. Kein Talar ist dafür nötig und keine formale homiletische Kommunikationssituation, keine Kanzel und kein sonntäglicher liturgischer Rahmen. Für Luther war die Gemeinschaft, die zwischen Hörenden und Prediger entsteht, entscheidend. Er betonte, dass die Gemeinde auch im Hören der Predigt – und gerade dort – aktiv ist. Hören ist nach Luther eben kein Sich-BerieselnLassen, sondern ein Phänomen vielfältiger Resonanz. In seiner berühmt gewordenen Predigt zur Torgauer Kirchweihe am 17. Sonntag nach Trinitatis 1544, in der Luther vom Gottesdienst als Wort-Wechsel zwischen Gott und Mensch spricht, unterstreicht er diese Aktivität der Gemeinde und relativiert seine eigene Rolle. „[…] wir sind alle Priester“, sagt Luther 1Petr 2 aufnehmend.61 Und von sich als Prediger meint er: „[…] das[s] ich ein Prediger bin, dazu hat mir Gott die gnad gegeben, aber daneben befohlen, das[s] ich mit solcher gabe mich nicht uberheben sol, sondern herunter faren und jederman dienen zu seinem heil […].“62 Das ‚aktuose‘ Subjekt ist die Gemeinde. Luther sagt: „Ja, dis predigtampt ist der Sprengel, daran wir alle zu gleich sollen greiffen, uns und andere damit zu segenen und zu heiligen.“63 Das Weihwasser, das sonst der Priester nutzt, um einen Kirchenraum zu weihen, wird in dem Sprachbild Luthers mit der Predigt verbunden, die Gottes Wort austeilt. Dieses wird wirklich, wo es „in unser hertz“64 gefasst, also von der Gemeinde auf geistliche Weise rezipiert wird, weswegen die Gemeinde das eigentlich aktive Subjekt ist. Das so empfangene Wort führt ins Gebet. Für Luther ist das ein unmittelbares und selbstverständliches Geschehen. Wie Luther das Weihwasser als Bild verwendet und auf die Predigt bezieht, so verbindet er das Gebet der Gemeinde mit dem „Reuchfas“.65 Die zentralen Symbolhandlungen der Weihe (Weihwasser und Weihrauch) werden auf die Gemeinde als gemeinsam mit Gott aktivem Subjekt der Liturgie übertragen – und der rhetorische Aufwand, den Luther betreibt, um auch den Pfarrer in die Gemeinde einzuordnen, ist beachtlich.

61 62 63 64 65

WA 49,590. A. a. O., 606f. A. a. O., 599 [Hervorhebung AD]. Ebd. A. a. O., 613.

Ereignis des äußeren Wortes

225

Damit macht Luther in seiner eigenen (späten: 1544!) Predigt zur Torgauer Kirchweihe wahr, was er schon früh in seinen Überlegungen zum Gottesdienst fordert: „Dass eine christliche Versammlung oder Gemeinde Recht und Macht habe, alle Lehre zu urteilen und Lehrer zu berufen, ein- und abzusetzen. Grund und Ursache aus der Schrift“ (1523).66 In dieser Schrift wird die Christusgegenwart als entscheidende Basis kirchlicher Existenz nicht in einer Linie hierarchischer Repräsentanz über das Petrusamt und das geweihte Amt der Kirche – sozusagen top-down – nach unten konzeptualisiert (so sehr grob das römische Modell), sondern genau umgekehrt von der Gemeinde her gedacht. Durch die Verkündigung des Evangeliums ist Christus selbst gegenwärtig. Nur die Gemeinde aber kann erkennen (das ist Rezeptionsästhetik avant la lettre!), ob wirklich das Evangelium verkündigt wird – und hat daher Recht und Macht, „die Lehre zu beurteilen“.67 Die Predigt gehört hinein in das Geschehen des allgemeinen Priestertums – obgleich es phänomenologisch den ausgestreckten Zeigefinger und das hörende Ohr braucht. In den vergangenen Jahrzehnten haben viele Liturgikerinnen und Liturgiker die Bedeutung einer die Predigt umrahmenden „Kanzelliturgie“ hinterfragt (auch ich selbst), da diese die Predigt aus dem Geschehen des Gottesdienstes auf eine problematische Weise heraushebe. Ob aber nicht wenigstens das häufig gepflegte gemeinsame stille Gebet um das Hören des Wortes Gottes unbedingte Beachtung verdient? Weil es Predigende und Hörende in die gemeinsame Grundbewegung der evangelischen Spiritualität einweist: in das Hören auf das äußere Wort? Und weil es so auch in der Lage ist, individuelle und gemeinsame/ gemeindliche Spiritualität zu verbinden?

3.5

Exkurs: Lesepredigten und evangelische Spiritualität

So sehr die Spiritualität der Predigt in diesem Beitrag als eine Spiritualität des Hörens entwickelt wurde, darf doch nicht vergessen werden, dass auch gelesene Predigten einen immensen Einfluss auf evangelische Spiritualität hatten, vor allem im 19. Jh.68 Die Predigtliteratur war neben Andachtsbüchern und Gebetbüchern ein wesentlicher Teil der Erbauungsliteratur.69 Gleichzeitig war das 19. Jh., in dem die Industrialisierung des Buchdrucks die Verbreitung von 66 WA 11, 408–416; hier zitiert nach: Martin Luther, Ausgewählte Schriften, hg. v. Karin Bornkamm und Gerhard Ebeling, Bd. 5, Frankfurt/M. 1990, 7–18. 67 A. a. O., 9. 68 Selbstverständlich wurden Bände mit Predigten aber auch schon vorher zusammengestellt und herausgegeben; vgl. dazu nur die zahlreichen Literaturhinweise bei Beutel, Predigt, 296– 311. Vgl. zur Bedeutung im 19. und 20. Jh.: Wintzer, Predigt, 311–330. 69 Vgl. Mohr, Erbauungsliteratur, 51–80.

226

Alexander Deeg

Druckerzeugnissen in hohen Auflagen ermöglichte, die Zeit einer ernst zu nehmenden Konkurrenz von Erbauungsliteratur und (weltlich) unterhaltender Literatur, die sich etwa in der immer wieder geäußerten christlichen Kritik an den Romane lesenden Frauen Ausdruck verschaffte. Besonders in der Erweckungsbewegung waren schriftlich weitergegebene Predigten entscheidend für deren Breitenwirkung. Das gilt exemplarisch für die Predigten von Ludwig Hofacker (1798–1828). Zum ersten Mal im Jahr 1833 erschien ein Band mit Predigten Hofackers in der „geordneten Ausgabe“, d. h. dem Kirchenjahr folgend, die sein Bruder Wilhelm Hofacker zusammenstellte. In seinem Vorwort zu dieser ersten Auflage vom April 1833 schreibt er: „So begleite denn Gottes Segen die hier mitgetheilten, oft in großer Schwachheit gesprochenen Worte Seines Dieners! Er lasse aus dieser Aussaat des Vollendeten eine reiche Freudenernte emporwachsen; Er lasse die Stimme des Seligen, der die erlöseten Seelen mit großem Ernst und Nachdruck stets zur Buße und zu Christo rief, fernerhin gesegnet wandeln in der Gemeinde, und Viele zum Leben und zur Gerechtigkeit weisen, auf daß wie der Lehrer, so der Hörer und Leser sich einst gemeinschaftlich freuen vor dem Throne Dessen, dem allein Ehre und Ruhm gebühret in Ewigkeit“.70

Die schriftlich verbreiteten Predigten erreichten einen weit größeren Kreis, als es der Prediger Hofacker jemals hätte mündlich tun können. Besonders die internationale Verbreitung ist auffällig. Hofacker ist nur ein Beispiel für die weite Verbreitung von Predigtbänden vor allem im 19. Jh. Ein etwas späteres Phänomen ist Charles Haddon Spurgeon (1834–1892), dessen Predigten bis heute vertrieben und augenscheinlich auch gelesen werden. Forschungen zur Verwendung dieser Predigtbände sind mir leider nicht bekannt. Ob und inwiefern sie zur individuellen Lektüre und Andacht oder zur gemeinsamen Hausandacht Verwendung fanden, wären interessant, weil damit auch die Frage zusammenhängt, ob und wie die Predigten neu als hörbares Wort laut wurden. Die Popularität von Predigtbänden nahm zweifellos rapide ab, obgleich solche noch immer erscheinen, nicht selten aber in kleinen Auflagen. Es wäre ein interessantes Forschungsobjekt, genauer zu klären, welche Rolle im Internet verbreitete Predigtvideos für gegenwärtige evangelische/christliche Spiritualität spielen. Es gibt einige Prediger, die als Videoprediger hohe Verbreitung genießen – etwa Francis Chan, Dan Mohler, Todd White bzw. Johannes Hartl (wie bereits im 19. Jh. vor allem im ‚evangelikalen‘ Bereich). Diese medialen Formen legen die Frage nahe, welche Bedeutung die „face to face“-Kommunikation für das Predigtgeschehen und die Resonanz der Predigt hat.

70 Hofacker, Vorwort, v.

Ereignis des äußeren Wortes

4.

227

Horizontal, diagonal, vertikal – Die drei Achsen der Resonanz und die Predigt im Kontext evangelischer Spiritualität. Eine Zusammenfassung

Der Begriff der Resonanz wurde oben bereits eingeführt. Mit ihm soll dieser Beitrag schließen, indem zusammenfassend die drei von Hartmut Rosa unterschiedenen Resonanzachsen dazu dienen sollen, Erkenntnisse dieses Beitrags zu bündeln und weitergehende Fragestellungen zu benennen. Horizontale Resonanz bezieht sich bei Rosa auf zwischenmenschliche Begegnungen, diagonale Resonanz findet ihre Gestalt in der Beziehung zu ‚Objekten‘, vertikale Resonanz wird traditionell mit Religion verbunden, in der Moderne treten dazu auch Natur, Kunst und Geschichte; in vertikaler Resonanz geht es um die Beziehung zur „Welt als einer Totalität“.71 Bezieht man das zur Predigt Ausgeführte auf das Phänomen der Resonanz, so lässt sich zunächst von der horizontalen Resonanzachse ausgehen. Predigt ist eine Kommunikation, die den/die Redende/n mit dem/der Hörenden verbindet und – wenn es gut geht – in eine Wechselbeziehung setzt, die die Bewegung des Redenden auch in den Hörenden auslöst. Interessant im Blick auf die Predigt ist sicherlich die Frage, ob diese einen Beitrag dazu leisten kann, die einzelnen Hörenden auch untereinander und miteinander zu verbinden, oder ob sich (lediglich) jeweils individuelle Verbindungen zu dem Redner/der Rednerin ergeben. Anders formuliert: Bringt die Predigt auch erfahrbare Gemeinschaft unter den Hörenden hervor? Diese Frage ist nicht nur, aber vor allem auch dort bedeutsam, wo nach der politischen Predigt gefragt wird. Christel Weber etwa erkennt als eine Aufgabe politisch-prophetischer Predigt, die Hörenden aus der Vereinzelung herauszuführen und als Gemeinschaft und Gemeinde zu einem handelnden Subjekt zu transformieren.72 In diagonaler Perspektive lässt sich eine Grundfrage reformatorischer Predigt und evangelischer Spiritualität einzeichnen – die Frage nach dem Bibelbezug der Predigt, die keineswegs nur eine inhaltliche, sondern auch eine ästhetische, eine konkrete Frage der Gestaltung und Inszenierung ist. In Cranachs Wittenberger Predella ruht die linke Hand des Predigers Martin Luther auf der offenen Bibel. Der Prediger verweist so auf die Quelle und den bleibenden Bezugs- und nicht nur flüchtigen Ausgangspunkt der Kommunikationsbemühung Predigt. Mit der offenen Bibel predigen – das kann zugleich auch die Metapher sein für eine Predigtbewegung, die den biblischen Text nicht meta-skriptural als Sprungbrett verwendet, sondern die skriptural mit der Gemeinde den biblischen Text erkundet

71 Vgl. Rosa, Resonanz, 331. 72 Vgl. Weber, Kairos-Dokument, 165–176.

228

Alexander Deeg

und als Predigtrede in die Bibel führt.73 In vielen Gemeinden vor allem der reformierten Tradition nutzen die Hörerinnen und Hörer zugleich ihre eigenen oder die im Kirchenraum ausliegenden Bibeln, um während der Predigt das biblische Wort mit- und nachlesen zu können. Damit erhält der Kommunikationsvorgang Predigt eine nochmals gesteigerte Komplexität, weil sich eine Verbindung von Lesen und Hören, von Aufmerksamkeit auf den Redner/die Rednerin und auf den Text einstellt. Gleichzeitig wird die beschriebene dreifache Gestalt des Wortes Gottes besonders deutlich inszeniert und die u. a. von Luther geforderte Mündigkeit der Gemeinde gewinnt Gestalt. Schließlich ist die vertikale Resonanzachse in den Blick zu nehmen. Ginge sie verloren, wäre Predigt lediglich eine Verständigungsbemühung im Kontext der Gemeinde. Bleibt sie im Blick, steht sie für die Unterbrechung, die die Kommunikation in der Horizontalen (und Diagonalen) erfährt, die durch das gemeinsame Hören des Predigers/der Predigerin und der Hörenden auf das biblische Wort entsteht. Vertikale Resonanz macht die Predigt zu einem unterbrechenden und so transformierenden Ereignis des Wortes Gottes. Diese knappe Zusammenfassung macht hoffentlich nochmals deutlich, dass die manchmal banalen, manchmal bezaubernden zwölf bis zwanzig Minuten einer Predigtrede, die fünf Minuten einer Andacht im Kirchenvorstand oder die 100 Sekunden einer Kurzandacht im Rundfunk (oder all die anderen medialen Derivate!) das Potenzial haben, zum grundlegenden Paradigma einer evangelischen Spiritualität aus dem Wort zu werden.

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Ereignis des äußeren Wortes

229

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230

Alexander Deeg

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Traugott Roser

Welche Bedeutung hat die Taufe für die Praxis evangelischer Spiritualität?

Taufe erfreut sich im gesamten Verlauf der Kirchen- und Liturgiegeschichte anhaltender Hochschätzung, erkennbar an einer reichhaltigen Ausschmückung ihrer Feier. Seit den Anfängen kirchlicher Taufpraxis ist Taufen verbunden mit intensiver Vorbereitung, wird sinnträchtig ausgestaltet, enthält vielschichtige verbale und symbolische Interaktion von Täufling, Taufgemeinde und taufender Person.1 Taufen ist synchrones Geschehen, das Menschen, Christinnen und Christen, Familien und Zugehörige untereinander verbindet, zugleich aber auch diachrones Geschehen, Rückerinnerung an biblische Ursprungsgeschichten und fürbittender, mit Segenshandlung verbundener Ausblick in die Zukunft, alles zentriert auf Christus als A und O, Ausgangs- und Zielgröße des Taufgeschehens. Die komplexe Struktur und facettenreiche Bedeutungsvielfalt der Taufe machen Taufen und Getauftsein zu einer zentralen Quelle evangelischer Spiritualität, die im Folgenden zunächst begrifflich in zwei Diskurse eingezeichnet wird, um sie im Anschluss als spirituelle Praxis von Einzelnen und Gemeinschaften zu entfalten.

1.

Taufe in kirchlichen und gesundheitswissenschaftlichen Spiritualitätsdiskursen

1.1

Kirchlicher Spiritualitätsdiskurs in reformatorischer Tradition

Evangelische Spiritualität vollzieht sich sowohl als Orientierung auf das Christusgeschehen als auch als Öffnung für Horizonte jenseits kirchlicher Räume:

1 Vgl. die historisch fundierten Ausführungen Christian Grethleins zu Taufe und Taufpraxis in verschiedenen Beiträgen. In einem Text zur Seelsorge im Kontext der Taufe beschreibt Grethlein etwa, wie in der Traditio Apostolica die intensive Beziehung des Bischofs zum/zur Taufbewerber/in in insgesamt sechs Handauflegungen Gestalt findet. Vgl. Grethlein, Seelsorge, hier bes. 419–421.

232

Traugott Roser

„Reformatorische Spiritualität zeichnet sich durch eine doppelte, gegenläufige Bewegung aus. Einmal verläuft diese Bewegung in Richtung auf Konzentration, zum anderen in Richtung auf Grenzüberschreitung. Einerseits konzentriert sie sich auf Jesus Christus, auf die Bibel, auf Gottes Handeln und auf den individuellen Glauben (solus Christus, sola scriptura, sola gratia, sola fide). Andererseits ermutigt die reformatorische Spiritualität durch eine Haltung der Weltbejahung und Weltverantwortung zum Überschreiten des binnenkirchlichen Raumes in Richtung auf Familie, Beruf und Gesellschaft, die als Felder gottesdienstlicher Lebensführung von den Reformatoren neu entdeckt wurden“,2

schreibt Peter Zimmerling im einführenden Artikel des Handbuchs Evangelische Spiritualität im ersten Band. Evangelische Spiritualität ist ein Beitrag zur gesellschaftlichen Relevanz von Kirche, gerade als Weltzuwendung aufgrund der Orientierung am Christusereignis als Kern spirituellen Lebens. Die solus-Struktur der reformatorischen Entdeckung (allein Christus, allein die Schrift, allein aus Gnade, allein durch Glauben) durchdringt alle Formen geglaubter, gelebter und gemeinschaftlicher Frömmigkeit und wird als „befreiende Ordnung“3 Zeichen einer ethischen Kultur des Christentums. In der Spende und im Empfang der Taufe – gerade als Kindertaufe – werden das Gegebensein des Lebens und der Geschenkcharakter des Glaubens offenbar: „Sie besagt, daß das Leben dem Menschen gegeben wird – niemand kann sich selbst das Leben geben. Und das nicht nur im Sinne einer biologischen Binsenwahrheit.“4 Durch die Taufe werden die Getauften aber nicht an die Kirche und ihre Frömmigkeitsregeln gebunden, sondern freigesetzt5 zu einer individuell zu gestaltenden Lebensführung und Weltverantwortung: „Durch die Praxis der Taufe muß sich die Kirche immer wieder beunruhigen lassen. Denn sie bindet sich damit an das Geschick und Erleben der Menschen, die sie tauft.“6 Trutz Rendtorff beschreibt die Taufe in ethischer Absicht als fundamentales Ordnungselement einer Kirche der Freiheit. Damit ist die ethische Grundstruktur eines evangelischen Spiritualitätsverständnisses angedeutet, das aus dem unmittelbaren Gottesbezug der Person die individuelle Aneignung überkommener Traditionen mit der Gestaltung tragender Beziehungen zu Mitmensch und Umwelt verbindet. In der Taufe ist Pluralisierung angelegt, wie sie Peter Zimmerling nicht als Problemanzeige, sondern als Merkmal evangelischer Spiritualität würdigt:

2 3 4 5

Zimmerling, Geschichte, 29. Rendtorff, Symbol, 209–213. A. a. O., 211. Vgl. den aus dem französischen Katholizismus stammenden pastoraltheologischen Entwurf von Feiter/Müller, Frei geben. 6 Rendtorff, Symbol, 210.

Welche Bedeutung hat die Taufe für die Praxis evangelischer Spiritualität?

233

„Es gibt Spiritualität – und damit auch evangelische Spiritualität – nur im Plural […]. Das je verschiedene ‚persönlichkeitsspezifische Credo‘, wie es der Praktische Theologe Klaus Winkler in Bethel vor Jahren ausgedrückt hat, ist kein Zeichen für den Verfall, sondern für die Lebendigkeit des Glaubens der Kirche. Ich plädiere daher dafür, die zunehmende Pluralisierung der evangelischen Spiritualität in Geschichte und Gegenwart nicht als Bedrohung, sondern als Zeichen für die Vitalität des Protestantismus zu bewerten“.7

1.2

Der Spiritualitätsdiskurs in den Gesundheitswissenschaften

Insofern lohnt ein Blick in den regen Spiritualitätsdiskurs jenseits theologischer und binnenkirchlicher Debatten. Die beispiellose „Karriere des Spiritualitätsbegriffs in den letzten Jahrzehnten“8 in Medizin und Pflege arbeitet mit einer immensen Bandbreite gelebter Religion. „Während unter Religiosität die an spezifische Formen von Religion gebundenen Lebensorientierungen rubriziert werden, steht Spiritualität für eine Orientierung, die sich von solchen Bezügen auf spezifische religiöse Traditionen emanzipiert hat und auf ein allgemein menschliches Existenzial verweist, nämlich das eigene Leben als zutiefst verbunden mit umfassenderen Horizonten zu verstehen“.9

Aufgrund human- und sozialwissenschaftliche Disziplinen verbindenden Forschungsarbeiten wurden in den Gesundheitswissenschaften internationale Übereinkünfte getroffen, um spirituelle und religiöse kulturelle Bedürfnisse und Ressourcen von Patienten und Klientinnen zu berücksichtigen. Konkret Ausdruck gefunden hat dieses Bemühen in einem bewusst offenen Verständnis von Spiritualität in Erklärungen von Vertreterinnen und Vertretern der großen Weltreligionen und von führenden Mediziner/innen, die den weltweiten Zugang von schwerstkranken Kindern und alten Menschen zu palliativmedizinischer Versorgung fordern. Die „Charta der Welt-Religionen für Pädiatrische Palliative Care” von 2015 und die 2017 beschlossenen „Religions of the World Charter for Palliative Care for Older People“ enthalten eine Konsensusdefinition von Spiritualität, die auf Vorlagen aus Nordamerika und Europa basiert: „Spiritualität ist ein dynamischer und intrinsischer Aspekt des Menschlichen, durch den Personen letzten Sinn, Bedeutung und Transzendenz suchen und Verbindung zum Selbst, Familie, anderen, Gemeinschaft, Gesellschaft, Natur und zum Signifikanten oder

7 Zimmerling, Geschichte, 33. 8 Morgenthaler/Noth, Religionspsychologie, 136. 9 A. a. O., 141.

234

Traugott Roser

Heiligen erfahren. Spiritualität findet Ausdruck in Glaubensvorstellungen, Wertvorstellungen, Traditionen und Praktiken. Sie ist eine universale Domäne […]“.10

Bemerkenswert an der Definition sind m. E. folgende Aspekte, die im Zusammenhang mit der Bedeutung der Taufe genauer betrachtet werden: • Dynamik: Spiritualität entwickelt und verändert sich im Lebenslauf, abhängig von Lebensalter, unterschiedlichen Einflüssen und situativen Herausforderungen. • Intrinsischer Aspekt: Spiritualität gehört unauslöschlich zur Würde der Person und ist aktivem Zugriff von außen entzogen. • Spiritualität hat auf affektiver Ebene spürbar mit der Erfahrung von Bedeutung und Wert zu tun, auf kognitiv-intellektueller Ebene mit der Suche nach Sinnhaftigkeit der eigenen Existenz und in pragmatischer Hinsicht mit dem Streben nach einer gelebten Verbindung zur Transzendenz. Die drei Dimensionen sind einander nicht untergeordnet. Spiritualität erschöpft sich weder in Sinnfragen oder Frömmigkeitspraxis. Dies eröffnet Freiraum für unterschiedliche Frömmigkeitsstile. • Zentral für Spiritualität ist das Leben in Beziehung(en) durch ein grundlegendes Verbundensein mit dem eigenen Selbst, mit anderen Menschen in Gemeinschaft und – im Christentum – mit Gott. • Spiritualität steht in einem Bezug zu einer bestimmten Religion, samt ihren Lehrinhalten, Bekenntnistraditionen und religiösen Praktiken und Ritualen. Dies ermöglicht es dem einzelnen Menschen, Spiritualität in und durch Gemeinschaft zu leben und zu erleben.

1.3

Taufe als spirituelles Grunddatum

In den Gesundheitswissenschaften wird Spiritualität vor allem im Zusammenhang mit existenziellen Situationen thematisiert, zu Beginn des Lebens, in gesundheitlichen Krisenerfahrungen und angesichts der Endlichkeit des Lebens. Für die Frage nach der Bedeutung der Taufe für eine Praxis evangelischer Spiritualität ist dies ein Hinweis, dass Taufe explizit den Beginn eines Lebens, das Gott verdankt wird, darstellt. Tauferinnerung als Vergewisserung des eigenen Daseins, Soseins und Gewolltseins ist angebracht, wenn es zu einer Gefährdung 10 Kursiv gesetzt ist die Konsensusdefinition, die nicht kursiv gesetzten Teile sind Ausführungen der Unterzeichneten. Vgl. Fondatione Maruzza, Religions of the World Charter for Palliative Care for Children, 2015 (siehe unter: http://religionsworldcharter.maruzza.org; zuletzt abgerufen am 13. 06. 2018). Deutsche Übersetzung von Maria Unglaub, Traugott Roser und Eckhard Frick in Spiritual Care 5/4, 2016. Außerdem: Fondatione Maruzza, Religions of the World Charter for Palliative Care for Older People, 2017, (siehe unter: http://olderpeoplere ligionsworldcharter.maruzza.org/; zuletzt abgerufen am 13. 06. 2018).

Welche Bedeutung hat die Taufe für die Praxis evangelischer Spiritualität?

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des Lebens und zu existenzieller Verunsicherung kommt. Dann erweist sich die Taufe als eine spirituelle Ressource, ein reales Gnadenereignis, das nicht nachträglich oder virtuell herstellbar ist. Erinnerung an die Taufe findet an lebensgeschichtlichen Schwellen11 statt und vollzieht sich in liturgischer Gestaltung, die – verbunden mit Segen, Salbung und Zuspruch von Trost – sich auf Elemente des einmaligen Taufvollzugs bezieht. In der jüngeren Kasualtheorie hat sich entsprechend ein Verständnis dafür entwickelt, dass alle Kasualhandlungen im Lebenslauf aus der Taufe abgeleitet werden können und sich zugleich auf diese beziehen.12 „An den kasuellen Schwellen ist das Kontinuum des Lebens unterbrochen, in der Distanz zur Alltagswelt sind sie symbolisch ausgestattete Passagen und emotional hoch besetzte Orte des Umbruchs […]. In ethischer Hinsicht sind Kasualhandlungen ein Moment der Lebensführung, in denen die Beteiligten […] sich selbstverpflichten“.13

Damit bringen Taufe und Tauferinnerung alle Aspekte zum Ausdruck, die mit dem Spiritualitätsverständnis der Gesundheitswissenschaften verbunden sind: die Dynamik des Lebens, intrinsische Würde der Person, kognitive, affektive und pragmatische Ebene, Verbundensein mit der eigenen Biografie, mit der Gemeinschaft der Glaubenden und – allem anderen vorausgesetzt – mit Gott. Spiritualität ist dabei sowohl als die Spiritualität des einzelnen Menschen zu bestimmen wie auch als Spiritualität einer nahen Sozialgemeinschaft (Familie, Freundeskreis, Team) und als Spiritualität einer größeren Sozialgemeinschaft (Gemeinde, Kirche).14 Spiritualität lässt sich im Gespräch zwischen wissenschaftlichen Kulturen wie auch zwischen christlichen Konfessionen und nichtchristlichen Religionen zum Ausgangspunkt einer gemeinsamen Bemühung um den existenziell gefährdeten Menschen machen. Für ein evangelisches Spiritualitätsverständnis ist der Bezug zur Taufe wesentlich, da diese reformatorische Grundeinsichten prozesshaft und wirksam zur Geltung bringt15 und im Modus des Feierns Lebensgeschichte rechtfertigt und als Segenshandeln Leben in den Horizont der Verheißung stellt.16 Wenn dem Spiritualitätsdiskurs in den Gesundheitswissenschaften einer plura11 Lutz Friedrichs nennt die Taufe das „Grundsymbol christlicher Existenz als Schwellenexistenz“. Friedrichs, Kasualpraxis, 141. 12 Vgl. die Ergebnisse der Studienkommission des Lutherischen Weltbundes zu „Baptism, Rites of Passage, and Culture“ in: Stauffer, Baptism; hier zitiert nach Grethlein, Seelsorge, 425f. 13 Fechtner, Kasualien, 77. 14 Vgl. zur Unterscheidung von Spiritualität auf der Mikro-, Meso- und Makroebene: Roser, Resonanzen. 15 Vgl. Laube, Taufe dogmatisch, 65–95. Laube betont die „Doppelcodierung“ der Taufe als Sakrament und Kasualie zugleich. 16 Für eine ausführliche Darstellung des Spiritualitätsdiskurses in den Gesundheitswissenschaften vgl. Roser, Spiritual Care, bes. 429–455.

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len und globalen Welt wesentlich eine abstrakt wirkende Unbestimmtheit eignet, besteht aus evangelischer Perspektive die Chance darin, in der Begegnung zwischen dem einzelnen Menschen mit einer/einem Repräsentantin/en der Kirche – etwa in der Person eines Seelsorgers oder einer Seelsorgerin – die Spiritualität des/der Einzelnen näher zu bestimmen. Dieser Bewegung entspricht die Erzählung der Begegnung eines Menschen aus Äthiopien, der auf spiritueller Suche in Jerusalem in den Besitz einer Schriftrolle gelangt und mit dem Apostel Philippus über eine Schriftstelle ins Gespräch kommt (Apg 8,26–39). Beim Äthiopier handelt es sich nicht nur um einen politisch Mächtigen (V. 27), sondern als Eunuchen vor allem um einen gesellschaftlich Marginalisierten. Als Nichtjude war ihm das Gebet im Tempel nur eingeschränkt möglich. Die Schriftstelle aus Jes 53,7–8, über die beide sprechen, berichtet von einer Schlachtung, einem Verstummen, einer Erniedrigung. Der Christusbezug, den Philippus herstellt, macht daraus eine Befreiungs- und Erwählungsgeschichte und verhilft dem Eunuchen aus Afrika zu einem neuen Verständnis seiner selbst und zur Teilhabe an einer Gemeinschaft der Glaubenden. Bewegt von der Begegnung und bei Gelegenheit einer Wasserstelle begehrt er die Taufe – und zieht danach „fröhlich“ seiner Straße. Offenheit, Inklusion,17 spirituelle Suche und nicht zuletzt Freude markieren diese Urszene christlichen Taufhandelns. Dem weiten Begriff von Spiritualität, wie er in den nicht unmittelbar theologischen Diskursen verhandelt wird, kann von Seiten evangelischer Theologie mit Offenheit und Bereitschaft zum Gespräch auf Augenhöhe begegnet werden.18 In Aufnahme einer Idee von Andreas Kessler bestimmt Kohli-Reichenbach fünf Substrate evangelischer Spiritualität: „Begrenzen. Evangelische Spiritualität schöpft aus der befreienden Erkenntnis, dass wir Menschen Geschöpfe mit Begrenzungen sind. […] Schützen. Will heißen: ‚Das Christentum lebt von einer gesteigerten Wahrnehmung allen gefährdeten narrativen Körpern gegenüber und ist insofern eminent politisch oder es ist nicht.‘ (Sölle) […] Provozieren. Das zentrale Symbol christlichen Glaubens [, das Kreuz,] provoziert unaufhaltsam. […] Einladen. Es ist die sich verausgabende Haltung der Großzügigkeit. Und es ist die demütige Haltung des Gast-seins. […] Vertrauen. Im Griff haben wir weder uns noch Gott. Aber was können wir letztlich anders, als uns Gott zu überlassen?“19

17 Vgl. dazu insbesondere Grethlein, Taufpraxis in Geschichte, bes. 16ff. 18 Kohli-Reichenbach, Spiritualität, 133–140. Claudia Kohli-Reichenbach formuliert zu Recht: „Ich meine, gegenwärtig gilt es die Offenheit und Vagheit des Spiritualitätsbegriffs, wie sie in den religionspsychologischen und religionssoziologischen Forschungsergebnissen zum Ausdruck kommt, praktisch-theologisch auszuhalten bzw. noch besser: sie mit Neugierde eingehend zur Kenntnis zu nehmen und möglichst vorurteilsfrei wahrzunehmen, was Menschen in Bezug auf ‚Spiritualität‘ bewegt.“ (A. a. O., 137). 19 A. a. O., 139f.

Welche Bedeutung hat die Taufe für die Praxis evangelischer Spiritualität?

237

Diese fünf Substrate evangelischer Spiritualität finden im Taufen und Getauftsein ihren Ausdruck.

2.

Taufe als Bezugspunkt praktizierter Spiritualität des Einzelnen

2.1

Die Kindertaufe als Zeichen der bedingungslosen Würde individueller Spiritualität

Die Kindertaufe20 bringt einladend zum Ausdruck, dass die Taufe Glauben als Gottes Geschenk und zugleich als Geheimnis des Lebens21 voraussetzt. Die lutherische Denkfigur des Glaubens der Kinder im Mutterleib22 entzieht Glauben dem Zugriff von Bildung, Lehre und Formation. Die solus-Struktur – allein aus Glauben – erhält in der Kindertaufe ihre praktische und großzügige Gestaltung. In geradezu radikaler Weise wird Glaube in allen Lebensstufen und in jeder menschlichen Existenzform als möglich gedacht. Luthers Lehre von der fides infantium und die Taufe eines – im juristischen Sinn auf viele Jahre noch nicht geschäftsfähigen – Säuglings machen augenfällig, dass sich der Glaube dem prüfenden Zugriff eines anderen Menschen oder einer Lehrinstanz entzieht und ein jeglicher biologischen Datierbarkeit entzogenes Verbundensein des/der Einzelnen mit Gott voraussetzt. Für evangelische Spiritualität bedeutet dies, dass jeder Mensch als spirituelles, mit Gott in Verbindung stehendes Wesen betrachtet wird. Während diese Bestimmung in einem schöpfungstheologischen Zusammenhang Spiritualität allgemein bestimmt, orientiert die Taufe als Sakrament Spiritualität christologisch und soteriologisch: Taufe und Glaube stehen in einem unauflösbaren gegenseitigen Bedingungsverhältnis: „Weder geht die Taufe dem Glauben noch der Glaube der Taufe voraus: dem Glauben wie der Taufe geht das ‚äußerliche‘ Wort Gottes voraus, das Glauben weckt und zur Taufe führt.“23 Die Taufe als leibliches Zeichen stellt den Menschen als Ganzen, als leibseelisches Wesen in ein umfassendes Kommunikationsgeschehen, das sowohl das kreatürliche Gegebensein des Lebens als auch die soteriologische Neuwerdung, Schöpfung und Soteriologie umfasst. „Der sakramentalen Sinnlogik zufolge geschieht in der Taufe etwas mit dem Täufling. Die Taufe ist eine Tat Gottes, durch

20 Der Anteil der Kindertaufen an der Gesamtzahl der Taufen beträgt über 90 %, vgl. Fechtner, Kasualien, 67. 21 Hier beziehe ich mich auf Erhard Weiher, Geheimnis. 22 Vgl. Struckmeier, Glauben. 23 Hövelmann, Einsichten, 4.

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welche der Täufling der Herrschaft der Sünde entnommen und der Herrschaft Christi unterstellt wird.“24 Während Paul Tillich in seinem theologischen Gesamtwerk keine ausgeführte Lehre von den Sakramenten entfaltet, scheint seinem Denken dennoch eine sakramentale Dimension inhärent.25 Dabei ist für die Frage nach der Spiritualität vor allem von Bedeutung, dass am Sakrament die Bezogenheit alles Seienden, auch die Bezogenheit der Religion auf die Natur, erkennbar wird. Tillich lehnt eine symbolistische und eine ritualistische Deutung der Wassertaufe ab und entwickelt eine „realistische Deutung“, die das Naturelement Wasser aufgrund seiner „natürlichen Mächtigkeit“ auch als „Träger einer sakramentalen Mächtigkeit“ denkbar erscheinen lässt. Eine „willkürliche Verbindung von Sache und Naturelement“26 ist damit ausgeschlossen: Natur ist in sich selbst und aus sich selbst heraus nicht „Träger transzendenter Mächtigkeit“: „Die Naturmächtigkeit als solche schafft kein Sakrament“,27 aber ohne einen solchen Träger – wozu auch das Naturelement ‚Wort‘ gezählt werden muss –, „gibt es keine Gegenwärtigkeit des Heiligen“.28 An der Beziehung zwischen Natur und Sakrament wird die Zweideutigkeit der Situation des Menschen erkennbar, die Möglichkeit der Heiligung und die Möglichkeit des Bösen. „Auf christlichem Boden kann es kein Sakrament geben, das losgelöst ist von dem neuen Sein in Jesus als dem Christus, und daher kann kein Sakrament ohne Beziehung zur Geschichte verstanden werden.“29 Erst der Bezug zur Heilsgeschichte in Jesus Christus eröffnet das transzendente Potenzial des Naturelements. Tillich leistet mit seinen Überlegungen für eine Praxis evangelischer Spiritualität zweierlei: er warnt vor einer Intellektualisierung durch eine Reduktion des Sakramentalen auf das Wortgeschehen und weist darauf hin, dass spirituelles Leben gebunden ist an die geschaffene Welt. Leben aus der Zusage des Heils ist nur denkbar als Leben im Bezug zur natürlichen Umwelt, zu der der Mensch immer schon gehört. Zum Zweiten sind die Rede von der „Zweideutigkeit“ und der unverzichtbare Bezug auf die Geschichte Jesu Christi Hinweise darauf, dass das Leben im Bezug zur natürlichen Umwelt durch die Taufe im Namen Christi eine ethische Ausrichtung erhält. Evangelische Spiritualität umfasst immer einen ethischen Bezug zum Leben und zur Lebensführung.

24 25 26 27 28 29

Laube, Taufe dogmatisch, 68f. Vgl. Hempelmann, Sakrament, 109. Alle im Absatz angegebenen Zitate aus Tillich, Natur und Sakrament, 49–70. A. a. O., 67. Ebd. A. a. O., 58.

Welche Bedeutung hat die Taufe für die Praxis evangelischer Spiritualität?

2.2

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Liminalität menschlicher Existenz zwischen Todesmächten und neuem Leben

Statt einer Überhöhung und Spiritualisierung geschöpflichen Lebens markiert die Taufe damit einerseits die Erlösungs-Bedürftigkeit des Lebens, die als Gebrochenheit und Fragmentarität jedes menschliche Leben beeinträchtigt. Die Präsenz von Todesmächten (Schuld, Sünde, Krankheit, Beziehungslosigkeit etc.) gehört zum dogmatischen Verständnis von Taufe wie zu seiner traditionellen liturgischen Gestaltung, in Gestalt des Sintflutgebets oder einer Absage an das Böse. Andererseits befreit die Taufe gültig aus den Todesmächten, ohne deren Präsenz zu leugnen. Im Kontext des Gesundheitswesens kommt dem lebenserhaltende und -rettende Bedeutung zu, wenn in der Seelsorge nach einer Perspektive trotz unheilbarer Krankheit und existenzieller Anfechtung durch Depression, Trauer und Sterben gesucht wird. Die Liminalität der Existenz (zwischen Sterben und Leben) ist in kaum einer anderen Situation so sehr mit Händen zu greifen wie im Kontext krisenhafter Bedrohungen des Lebens. Die Liminalität der Taufe zwischen Sterben des alten Menschen und Auferstehen des neuen Menschen – beides verbunden mit dem Sterben und Auferstehen Christi – entspricht dieser Situation und transzendiert sie zugleich. Taufe geschieht in schützender und vertrauender Intention. „Als schöpferisches ‚Tatwort‘ erschließt [Gottes Wort] dem Menschen ein neues existenzielles Selbstverständnis“30 in Wortzeichen und sinnlichen Elementen. In diese Richtung deutet auch der Hinweis von Lutz Friedrichs, dass die Taufe ein lebensdienliches Angebot an Sinn macht, das den grundlegenden Ambivalenzen menschlicher Existenz Raum gebe. Gegenwärtige Taufpraxis könne „[e]xistenzielle Ambivalenzen aushalten“31 helfen. Während die Liminalität der Taufe bei Säuglings- und Kindstaufen eher im Hintergrund präsent ist, wird sie neuerdings durch gehäufte Taufanfragen von erwachsenen Flüchtlingen aus muslimischen Ländern auf ungewohnte Weise brisant. Die Evangelisch-Lutherische Kirche in Bayern hat 2016 auf diese Entwicklung mit einem vorsichtig gehaltenen Rundschreiben an alle Kirchengemeinden und Dekanatsbezirke reagiert. „Bei Taufbewerbern mit muslimischem Hintergrund ist es erforderlich, in Vorgesprächen das Prinzip der Apostasie und die möglichen Folgen zu besprechen: Mit dem Bekanntwerden der Taufe und dem öffentlichen Praktizieren des christlichen Glaubens können Beschwernisse, wenn nicht sogar Gefahren verbunden sein und zwar in Deutschland wie auch im Herkunftsland.“32 Da in Asylverfahren eine Verfolgung aus Glaubensgründen 30 Laube, Taufe dogmatisch, 87. 31 Friedrichs, Kasualpraxis, 140. 32 Das Landeskirchenamt der ELKB, Brief an alle Kirchengemeinden und Dekanatsbezirke vom 25. 07. 2016, Az: 32/1–01–1.

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unter Umständen Berücksichtigung finden kann, kommt einer sichtbaren Glaubenspraxis in Vorbereitung oder nach dem Vollzug der Taufe eine gesellschaftlich-juristische Bedeutung zu, wie sie im hiesigen kirchlichen Leben kaum mehr bewusst war. „Letztlich ist also maßgeblich, wie der Einzelne seinen Glauben – auch im Herkunftsland – lebt und ob eine gefahrträchtige Glaubensbetätigung für ihn persönlich nach seinem Glaubensverständnis ein zentrales Element seiner religiösen Identität bildet und in diesem Sinne unverzichtbar ist.“33 Die Wirksamkeit der Taufe beinhaltet für eine wachsende Anzahl von Menschen Folgen für die weitere Existenz. Taufe ist eine entscheidende Lebenswende, bedeutet Zugehörigkeit zur Gemeinschaft der Christen und Ende bisheriger Zugehörigkeit. Nicht wenige Pfarrerinnen und Pfarrer berichten davon, dass die erlebte Tragweite der Taufe sowohl bei den Täuflingen als auch bei den Gemeinden ein neues Ernstnehmen des Glaubens und seiner Lehrinhalte nach sich zieht. Die Praxis der Erwachsenentaufe von Flüchtlingen mit muslimischem Hintergrund oder aus einem Land, in dem Christen aus ideologischen Gründen verfolgt werden, erinnert die Radikalität der Taufe als Lebenswende, die auch eine Radikalität von Wahrheitsansprüchen in einer postmodernen Gesellschaft ist: Taufe ist ein „rite whereby one turns away from the many claimed gods and toward the one true God“.34

2.3

Taufe als Inszenierung von Religion und Individuation

Am Grundsymbol des Namens in der Taufliturgie wird erkennbar, dass evangelische Spiritualität eine prozesshafte und lebenslange „individuelle Aneignung der Taufe“ und ihrer Bedeutung für die eigene Person befördert.35 Während sich die Taufe längst von Geburt und Namensgebung eines Kindes getrennt hat, kommt der in der Liturgie zentralen Nennung des vollen Namens des Kindes und der Verbindung mit dem Gottesnamen eine wichtige Funktion als „individuelle Zuwendung, Würdigung und soziale Anerkennung“36 zu. Die Taufhandlung ist von sinnlichen Akten der Zuwendung zum einzelnen Menschen bestimmt, einem Kind ebenso wie in anderer Weise zu einem Erwachsenen: das Tragen auf dem Arm der Eltern/Großeltern/Patinnen oder Paten, individueller Taufspruch, Bezeichnung mit dem Kreuz, Handauflegung und Segnung, Fürbitte, Taufkerze, Präsentation vor der Gemeinde etc. Gerade dann, wenn die Taufhandlung in einem Gemeindegottesdienst vollzogen wird, lassen diese Zeichenhandlungen 33 34 35 36

Ebd. Graff-Kallevåg, Baptism, 253. Grethlein, Praktische Theologie, 584 und in den bereits genannten Beiträgen Grethleins. Friedrichs, Taufpraxis, 198.

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241

erkennen, dass es sich bei der Taufe in evangelischer Tradition nicht primär um eine Eingliederung in eine Gemeinde oder Kirche handelt, selbst wenn damit die Zugehörigkeit und auf sie folgende Sozialisation in Gemeindeleben und Religionsunterricht begründet sind. In der Taufe kommt die „reziproke Relation von religiöser Individuation und Sozialisation“37 liturgisch zur Darstellung, die für die Praxis evangelischer Spiritualität maßgeblich ist. In religionspsychologischer Perspektive beschreibt „Individuation“ einen „Vorgang […], der die Einzelnen aus kollektiven Vorgaben löst und ‚die Entwicklung der individuellen Persönlichkeit zum Ziel hat‘. Der Mensch soll zu dem werden, der er eigentlich ist.“38 In der Psychotherapie C.G. Jungs kommt dem Archetyp des Selbst zentrale Bedeutung zu als Einheit und Ganzheit der Gesamtpersönlichkeit. „Nach Jung ist Individuation das wichtigste Ziel menschlichen Werdens.“39 Gerade in der Einmaligkeit der Taufe wird das gesamte Leben des Täuflings zeitübergreifend auf ein Datum fokussiert, an dem der Name zugesagt und in Beziehung zu Gott gesetzt wird: im Zuspruch des Namens ist die konkrete Person als Person-in-Beziehung gesetzt, wird ihr Bedeutung zuerkannt. Die weiteren Symbole der Taufe und die Taufpredigt bringen Unbewusstes und Bewusstes aus Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft zum Ausdruck, thematisieren die gewesene und noch ausstehende Biografie und stellen sie in den Zusammenhang der Rechtfertigung von Lebensgeschichte. In der Jungianischen Psychotherapie ist „die Individuation, die Selbstwerdung […] letztlich auch ein religiöses Ziel“,40 bei dem es um einen Prozess geht, Inneres und Äußeres zusammen zu bekommen, eine Aneignung des Archetyps Gott oder Christus als „‚Abdruck Gottes‘ in der Seele“.41 Mit der Individuation kommt damit eine grundlegend seelsorgliche Komponente der Taufe zum Ausdruck, deren Ziel – mit Klaus Winkler formuliert – die „Freisetzung eines christlichen Verhaltens zur Lebensbewältigung“ ist, wobei Verhalten „die strukturierte Gesamtheit der körperlichen, seelischen und geistigen Tätigkeiten eines Menschen, also auch dessen Glaubenstätigkeit“42 meint. Taufen und Getauftsein sind im Blick auf individuelle evangelische Spiritualität die Bedingung und der Ausgangspunkt eines „persönlichkeitsspezifischen Credos“.43 Christoph Müller beschreibt die Taufe als „Schlüsselritual“.44

37 38 39 40 41 42 43 44

Steck, Praktische Theologie, 387. Klessmann, Pastoralpsychologie, 168. A. a. O., 220. A. a. O., 224. Ebd. Winkler, Kommende Herausforderungen, 453. A. a. O., 463. Müller, Taufe als Lebensperspektive.

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Ein Beispiel ist die Taufe von Max,45 einem Kind, das in einer Babyklappe abgegeben wurde und dessen genaues Geburtsdatum und Herkunft nicht rekonstruierbar sind. Die Eltern, die Max schließlich adoptieren, möchten, dass er in der Kapelle des Ortes getauft wird, in dem die Babyklappe eingerichtet ist. Die Taufhandlung wird so gestaltet, dass die versammelte Gemeinde aus Familie, Pate und Patin, Freunden und dem Personal der Einrichtung durch ihre Präsenz, ihre Fürbitten und Zeichenhandlungen die Einmaligkeit und Identifizierbarkeit von Max bezeugen. Das Wasser im Taufbecken wird zu Beginn des Gottesdienstes zusammengeschüttet – jeder Gottesdienstteilnehmer bringt dafür ein Fläschchen Wasser aus dem Heimatort mit, die Pfarrerin ein Fläschchen Jordanwasser. Die individuellen Biografien ‚fließen‘ mit der Biografie Jesu zusammen. Das Wasser, mit dem Max schließlich getauft wird, wird später beim Pflanzen eines Baumes dafür sorgen, dass die Wurzeln im Erdreich Halt finden. In der Taufansprache heißt es dazu: „Viele unter uns haben Wasser mitgebracht. Von dort, wo wir herkommen. Wasser aus unseren Heimatflüssen. Wir wollen es zusammenschütten und mit diesem Wasser Max taufen. Die vielen Wasser, die wir zusammenschütten, und die Glaubensüberzeugungen, die wir mitbringen, all das soll den Boden befruchten, der den Garten zum Blühen bringen soll. Das Wasser werden wir nachher nicht wegschütten, sondern mit diesem Wasser wollen wir den Baum wässern, den wir nachher pflanzen. Das tun Gärtner, damit die Wurzeln sich sofort zurecht finden können im neuen Boden, in den ein Baum gepflanzt wird.“46

2.4

Spiritualität als Einübung in das antizipierte Selbst

Leben aus diesem Selbstverständnis heraus bedeutet ein Selbstverständnis jenseits der eigenen Fähigkeiten und Leistungen, aber auch jenseits der eigenen Schwäche(n) und Begrenzungen, indem sich der getaufte Mensch „als denjenigen erkennt, der in Christus bereits erneuert ist“.47 In der Taufe antizipiert sich der einzelne Mensch also als von Christus erlöster Mensch. Solus Christus – die Konzentration auf Christus und das Christusgeschehen hat die im oben beschriebenen Sinn freisetzende und Zukunft eröffnende Funktion. Die solusStruktur (allein das Wort) verstärkt die ethische Ausrichtung, wenn ein biblisches Wort als Taufspruch gewählt wird, das programmatischen und paränetischen Charakter hat. Das Wort wird zum Programm des Lebens aus der Taufe, von dem sich diejenigen, die es wählen, performative Wirkung erhoffen, der die Lebens45 Alle Angaben zur Person sind anonymisiert. 46 Traugott Roser, unveröffentlichtes Manuskript. 47 Laube bezieht sich dabei auf Eberhard Jüngel, Taufe, 88.

Welche Bedeutung hat die Taufe für die Praxis evangelischer Spiritualität?

243

praxis nachfolgt – als Einübung in eine bestimmte Form der Frömmigkeitspraxis, die im besten Sinn mit dem Äthiopier aus Apg 8 als ein fröhliches Sich-auf-denWeg-Machen verstanden werden kann und damit dem neutralen Begriff des Lebens in der Nachfolge eine affektive Qualität verleiht. Der ethische Impuls der Taufe für eine Praxis des Glaubens besteht in ihrem Impuls „als leibhaft erlebbarer Beginn der vita christiana […] und so in ihrem lebensgeschichtlich immer wieder neu einzuholenden ‚prozessualen Charakter‘“.48 Wenn der getaufte Mensch sich so erkennt, wie er von Christus bereits erneuert ist, hat dies performative Wirkung. Martin Luther hat dies in seinem „Sermon von dem heiligen hochwürdigen Sakrament der Taufe“ (1519) als ein beständiges „Anfangen, selig zu sterben von der Taufe bis ins Grab“ genannt, denn „Gott will ihn anders machen von neu auf am Jüngsten Tag.“49 In der römisch-katholischen wie in orthodoxen Taufliturgien kommt der ethische, auf die Lebensführung bezogene Sinn in der Absage an den Teufel (abrenuntiatio diaboli) zum Ausdruck. Dieses Motiv ist bis in die Gegenwart hinein empirisch beschreibbar, auch wenn es in evangelischen praktisch-theologischen Entwürfen nur selten thematisiert wird. In klassischen und aktuellen Kinofilmen findet das Motiv der Absage an das Böse in der Taufe als narratives Konzept und symbolisches Zeichen Verwendung. Prominent ist dies vor allem in einer Parallelmontage im MafiaEpos „Der Pate“ (USA 1972). In einer knapp vierminütigen Sequenz werden zwei Handlungsstränge ineinander montiert: die Taufe von Michael Corleones (Al Pacino) kleinem Neffen und eine Serie von fünf Morden an den Hauptgegnern der Familie. Die Taufe konzentriert sich auf die Absage an den Teufel und das Bekenntnis zu Gott, stellvertretend gesprochen vom Paten und dauert genauso lange wie der Mehrfachmord.50 Der im Jahr 2017 mit dem Oscar ausgezeichnete Film „Moonlight“ (USA 2016) schildert in drei Kapiteln den Lebensweg des schwarzen Jungen Little, der sich durch Gewalttaten und Drogenhandel vom Außenseiter zum Boss emporarbeitet, sich aber zugleich nach Umkehr und liebevoller Anerkennung sehnt. Dabei kommt Wasser symbolische Funktion zu, immer zurückverweisend auf eine als Taufszene inszenierte Unterweisung im Schwimmen durch Juan, einen Fremden: Aussagen des Regisseurs Barry Jenkins zur Szene verweisen auf die Tauferzählung aus Apg 8: „The scene is interesting to me because it’s like a turning point. These characters are essentially strangers to 48 Laube, Taufe dogmatisch, 72. Laube bezieht sich hier auf einen wichtigen Beitrag von Arnulf von Scheliha zur ‚ethischen Umformung‘ des klassischen dogmatischen Taufverständnisses durch so unterschiedliche Theologen wie Barth und Hirsch; vgl. Von Scheliha, Taufe, 325–344. 49 WA 2, 728,29. 50 Vgl. die wissenschaftliche Hausarbeit von Gereon Terhorst (im Manuskript vorliegend), sowie Matthias Wohlleben, Der Pate – Zur Sequenz der ‚Taufe‘ Michael Francis Rizzis, Seminararbeit 2008.

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each other […]. Juan teaches Little some self-sustainability. […] And I felt like there needed to be a moment of spiritual transference between these two characters. This idea of a swimming lesson seemed like the right place to do it.”51 Dies ist der einzige Moment, in dem Chiron gänzlich geborgen ist; die Motivik wird an zentralen Wendepunkten der filmischen Lebenserzählung immer wieder aufgegriffen, als Erinnerung an das einmalige Wasserbad und das spirituelle Band zwischen Little und Juan. Die Erinnerung fungiert sowohl als kritische Infragestellung der Lebensführung des Protagonisten, der als von Anfang an gebrochener Charakter gezeichnet wird, als auch als heilsamer Imaginationsraum eines anderen, guten Lebens.52

2.5

Tauferinnerung als spirituelle Praxis

Die Taufe gilt ein für alle Mal. In klassischer lutherischer Lehre wird dies mit der Einmaligkeit des Todes und der Auferstehung Jesu begründet: „Wie Jesus nicht nur einmal, sondern ‚ein für alle Mal‘ gestorben und auferstanden ist, so wird auch durch die Taufe der Mensch ‚ein für alle Mal‘ in Jesu Tod und Auferstehung hineingetauft.“53 Für evangelische Spiritualität hat dies die Konsequenz, dass Taufe nur im Modus der Erinnerung erfahrbar ist. Auch hier ist Martin Luther ein für evangelische Spiritualität wichtiger Referenzpunkt. Als Ereignis, das sich im Falle der Säuglingstaufe der aktiven Erinnerung entzieht, bedarf es einer gestalteten Erinnerungskultur. In evangelischer Spiritualität haben sich dafür zwei unterschiedliche Konzepte einer Tauferinnerung entwickelt. • Das eine Konzept orientiert sich an einem krisen- oder anfechtungsbedingten Bedürfnis der Vergewisserung von Schutz, Zugehörigkeit und Bedeutung in Zeiten der Bedrohung. Legendär ist das Sich- und den Teufel-Erinnern an das Getauftsein Martin Luthers auf der Wartburg, verbunden mit dem Wurf eines Tintenfasses. Erinnert wird die Zugehörigkeit zu Christus, das Getauftsein auf seinen Namen und damit einhergehend die Absage an den Teufel, und der Exorzismus.54 Der Spiritualitätsbegriff des Gesundheitswesens betont die Notwendigkeit, sich an spirituelle Ressourcen zu erinnern in Zeiten existen51 Mekado Murphy, Anatomy of a Scene. Barry Jenkins Narrates a Scene From ‘Moonlight’, in: New York Times, 24. 11. 2014 (siehe unter: https://www.nytimes.com/2016/11/24/movies/ barry-jenkins-narrates-a-scene-from-moonlight.html; zuletzt abgerufen am 13. 06. 2018). 52 Vgl. Sophie Gilbert, And, Scene: Moonlight, The Atlantic, 26. 12. 2016 (siehe unter: https:// www.theatlantic.com/entertainment/archive/2016/12/the-power-of-water-in-moonlight/ 511547/; zuletzt abgerufen am 13. 06. 2018). Ich danke für die Hinweise zu den Filmen dem Studenten Gereon Terhorst, der dies im Rahmen einer wissenschaftlichen Hausarbeit herausgearbeitet hat. 53 Schlink, Taufe, 97. 54 Vgl. die Hinweise in Borreson, Baptismal Spirituality, 55–63.

Welche Bedeutung hat die Taufe für die Praxis evangelischer Spiritualität?



55 56 57 58

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zieller Verzweiflung. Die Taufe erweist sich als eine solche Ressource. Dies erfolgt über Zeichen, die auf die Taufliturgie zurückgreifen, dem Entzünden einer Taufkerze, die im Taufgottesdienst an der Osterkerze entzündet wird. Die Taufkerze/Licht, eines der fünf Grundsymbole der Taufliturgie,55 soll und kann entzündet werden in Tagen der Dunkelheit, der Bedrohung und Verzweiflung. Die Taufkerze als Zeichen der Tauferinnerung erhält aber auch zu besonderen Lebensereignissen einen prominenten, sinnenfälligen Platz, vor allem im Rahmen von Kasualgottesdiensten, die explizit in ihrem Rückbezug auf die Taufe gefeiert werden: von der Einschulung über Konfirmation und Trauung bis hin zum Trauergottesdienst, bei dem der Sarg am Taufbecken aufgestellt und die Taufkerze erneut an der Osterkerze entflammt werden soll.56 Tauferinnerung ist damit ein wichtiges Angebot kirchlicher spiritueller Begleitung in existenziell oder potenziell bedrohlichen Situationen. Das andere Konzept orientiert sich an einer täglichen Einübung in Tauferinnerung und Vergegenwärtigung des Getauftseins. Auch dieses Konzept basiert maßgeblich auf den Hinweisen und der Praxis Martin Luthers und greift ebenfalls auf Grundsymbole der Taufliturgie zurück. In dem bereits genannten Sermon von 1519 hebt Luther die lebenslange Bedeutung der Taufe hervor: „Darum ist dies ganze Leben nichts anderes, denn ein geistlich taufen ohne Unterlass, bis in den Tod.“57 Als tägliches Ersäufen des „alten Adam“ wird – im Kleinen Katechismus – die Tauferinnerung zu einem Bestandteil der ethischen Ausrichtung der Lebensführung. Luthers Morgen- und Abendsegen sind Beispiele einer privaten Praxis evangelischer Spiritualität, die in ihrer Bezogenheit auf die Taufe sowohl auf das Christusgeschehen konzentriert ist als auch explizit sich der Welt zuwendet und in einer Aufforderung zum fröhlichen Sich-auf-den-Weg-Machen gipfelt. Die Nennung des Namens des dreieinigen Gottes und die Selbstbezeichnung mit dem Kreuz greifen Grundsymbole der Taufliturgie auf, das Gebet, in dem die kommende Nacht und der neue Tag Gottes Schutz anbefohlen werden und dem bösen Feind alle Macht abgesprochen wird, führen zu einer den ganzen Menschen in seinen Beziehungen erfassenden Ausrichtung auf die Verrichtung des Tagwerks, dem so fröhlich nachzugehen ist wie der Äthiopier seine Straße zieht.58 Die in vielen evangelischen Gebieten über Jahrzehnte übliche Sitte, eine aufwändig gestaltete Taufurkunde mit dem Taufspruch in einem Bilderrahmen im Schlafzimmer aufzuhängen, ist ein weiteres Beispiel einer täglichen Erinnerung an das Getauftsein und zugleich an das Evangelischsein. Vgl. Grethlein, Taufe, 112. Vgl. dazu die Hinweise von Treiber/Lienhard, Taufpraxis, bes. 260–264. Übertragen nach WA 2,728. Vgl. zu Luthers Morgen- und Abendsegen als Taufspiritualität Borreson, Baptismal Spirituality.

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3.

Evangelische Spiritualität in Familie und Freundschaft

3.1

Spiritualität der Familie stärken

Taufen ist kirchliches Handeln. Zugleich gehören Tauffeiern aber auch zur privaten Religionspraxis in Familien und sind Höhepunkt der Inszenierung gelebter Religion in Familien.59 Zu neuzeitlicher evangelischer Spiritualität gehört neben der individuellen und der in Gemeinde und Kirche gelebten Frömmigkeitspraxis auch die „bürgerlich-protestantische Hausfrömmigkeit“60 als Ausdruck „bürgerliche[r] Familienreligion“.61 Während Haustaufen in der Ständegesellschaft adeligen Familien vorbehalten blieben, während alle anderen zur Taufe in die Kirche gehen mussten,62 waren sie in Hochphasen des bürgerlichen Zeitalters Ausdruck einer familienspezifischen Spiritualität, die nicht nur die Religionszugehörigkeit der Familie, sondern auch sich selbst als Familie inszenierte. Prominentes Beispiel dafür ist die Taufe Hannos im Frühling 1861, des letzten Erben des Hauses Buddenbrook, in Teil sieben des Werkes von Thomas Mann. Die Tauffeier findet statt im Saal des Hauses an der Breiten Gasse, wird vorgenommen durch Pastor Pringsheim, der eine überaus salbungsvolle Ansprache hält. Ein provisorischer Altar wird aufgestellt, die Bürgerschaft ist durch Bürgermeister Överdieck repräsentiert, der zugleich als Pate fungiert. Wie Thomas Mann 1901 die Familiensaga mit dem Untertitel „Verfall einer Familie“63 versieht, schildert er die familiäre Dynamik während der Tauffeier bereits mit Hinweisen auf den weiteren Verlauf. Mit der Rückverlagerung der Tauffeiern in den Gemeindekontext seit dem 20. Jh. – entweder integriert in den Gemeindegottesdienst oder als separate Tauffeier in der Gemeindekirche – wird die Taufe eines Kindes zu einem wichtigen Punkt der Kontaktpflege zwischen Familie und Kirchengemeinde. Das begleitende Kasualgespräch erhält dabei zunehmende Bedeutung, wenn der Pfarrer oder die Pfarrerin zum Taufgespräch und zur Vorbereitung der Feier die Eltern zu Hause besucht. In diesem Gespräch ist sowohl Gelegenheit zu einer Schilderung der aktuellen Lebenssituation der Taufeltern und Familie, Erzählungen von Geburt und Veränderungen, die Ermöglichung einer aktiven Beteiligung von Familienmitgliedern und Patinnen und Paten an der gottesdienstlichen Gestaltung durch Auswahl des Taufspruchs, Liederwünsche, Gestaltung von Liedblättern, kreative Gestaltung oder Auswahl einer Taufkerze und Formulierung von Gebeten. Zunehmend ist das Gespräch aber auch der Ort, an dem über den Sinn und die 59 60 61 62 63

Vgl. Gräb, Taufe, 203. Steck, Praktische Theologie, 241. Steck bezieht sich hier auf Peter Cornehl, a. a. O., 244. Vgl. Grethlein, Taufpraxis, 67. Vgl. Mann, Buddenbrooks.

Welche Bedeutung hat die Taufe für die Praxis evangelischer Spiritualität?

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Bedeutung von Taufe kommuniziert wird, durchaus auch im Modus des Lehrens und Lernens.64 In zahlreichen Studien hat sich gezeigt, dass es eine Distanz vieler Taufeltern zu Gemeinde und Kirche gibt, die sich in einer Verschiebung des Taufdatums weg vom Zeitpunkt der Geburt oder gar einer Entscheidung gegen die Taufe niederschlägt.65 Angesichts der sich verändernden Realitäten in den Familien- und Partnerschaftsstrukturen der Gegenwart bedarf es einer kritischen Revision kirchlicher Taufpraxis. Denn die „geringe Taufquote bei Kindern aus ‚nicht-konventionellen‘ Familien“66 und von nicht-verheirateten Taufmüttern resultiert aus einer langen Geschichte der Marginalisierung von Lebensformen in der kirchlichen Praxis, die in der Gegenwart noch längst nicht der „religiösen Pluralität der Tauffamilien“67 entspricht – etwa glaubensverschiedenen Elternpaaren. Das 2013 erschienene Handbuch Taufe gibt Impulse für eine Taufpraxis, die sensibel ist für die Bedürfnisse unterschiedlicher gesellschaftlicher Milieus.68 Kurze Statements von Taufeltern geben Einblicke in deren subjektives Erleben. Die alleinerziehende Mutter von Chantal aus dem „prekären Milieu“69 sagt: „Ich lebe mit meiner Tochter Chantal zusammen in einer kleinen Zweizimmerwohnung. Sie ist nun vier Jahre alt. Kurz nach ihrer Geburt ist ihr Erzeuger abgehauen. Erst hat er mir ewige Liebe geschworen und wollte auch zu der Kleinen stehen, aber dann […] Jetzt habe ich natürlich jede Menge Probleme. Einen richtigen Job findet man als alleinerziehende Mutter ja nicht. Im Nagelstudio von meiner Freundin kann ich hin und wieder aushelfen. Ist aber nichts Festes. Ich bin ja gelernte Friseurin, aber das mache ich nur noch bei Bekannten zu Hause als kleiner Zuverdienst zu Hartz IV. Zum Glück wohnt meine Mutter noch um die Ecke, sie nimmt die Kleine dann immer mal wieder. Auch wenn ich abends mal ausgehen will. Am liebsten gehe ich auf den Tanzabend im Gasthaus bei uns. Zum Geburtstag hat meine Mutter mir eine Karte für ein Konzert von DJ Ötzi geschenkt. Das war ein echtes Highlight. Mit Kirche habe ich nicht so viel zu tun. Ich war mal bei einer Schwangerschaftsberatung der Diakonie und auf so einem Second-Hand-Basar. Aber sonst? Ich fände es schon schön, wenn Chantal getauft wäre, aber das ist ja eher was für heile Familien. Außerdem ist das Kleid viel zu teuer, und das Fest auch. Ich habe meiner Prinzessin dafür eine Kette mit einem Engelchen geschenkt und einen Traumfänger über ihrem Bettchen aufgehängt.“70

64 Vgl. Ergebnisse von Untersuchungen aus Norwegen: Hareide Austad, Children. 65 Vgl. Kreplin, Veränderungen, 17–37. Vgl. auch die Untersuchungen von Regina Sommer, Kindertaufe. 66 Kreplin, Veränderungen, 33. 67 Fechtner, Kasualien, 67. 68 Hempelmann u.a, Handbuch Taufe. 69 Zur Problematik der Instrumentalisierung der Milieutheorien in Gemeindeaufbau und – arbeit vgl. Hauschildt u. a., Wider den Unsinn, 65–82. 70 Hempelmann u. a., Handbuch Taufe, 136.

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Traugott Roser

Innerhalb der kleinen Familie, bestehend aus Großmutter, Mutter und Tochter, besteht fester Zusammenhalt, Bereitschaft zu gegenseitiger Unterstützung und Hilfe. Kirchliches Leben wird in Form diakonischer und beratender Angebote wahr- und angenommen. Am gottesdienstlichen Leben nimmt die Familie kaum teil. Mit der Taufe verbindet die Mutter grundsätzlich etwas Positives für ihre Tochter, hat sie aber nach dem Ende der Beziehung zum Vater nicht begehrt. Zur Taufe gehört ein Fest, beginnend mit dem Taufgottesdienst. Aus Befragungen ist bekannt, dass gerade alleinerziehende Mütter den finanziellen Aufwand eines Tauffestes scheuen oder nicht bewältigen können. Zudem fürchten sie, dass im öffentlichen Taufgottesdienst ein Idealbild von Familie inszeniert wird, dem nur ‚heile‘ Familien entsprechen. Entsprechend scheut die Mutter für sich und ihre Tochter den öffentlichen Auftritt und befürchtet eine Zurschaustellung ihrer prekären Familien- und Lebenssituation. Dennoch bemüht sie sich um praktizierte familiäre Spiritualität, für die sie auf Schutzsymbole zurückgreift – ein geschenkter Engel an einer Kette und ein Traumfänger. Tag und Nacht des Kindes sollen vor dem Bösen bewahrt werden.

3.2

Spiritualität des Patenamts

Nichts ist für die Entwicklung religiöser Praxis eines Kindes und einer individuellen Spiritualität so entscheidend wie die religiös-spirituelle Praxis der Eltern. Zunehmend entwickelt sich ein Bewusstsein, dass das kirchliche Angebot der Taufe flankiert sein muss von Beratungsangeboten und von einer niedrigen Schwelle bei der Gestaltung von Taufen. Die Taufe ist für die An- und Zugehörigen des Täuflings ein wichtiges und zugleich ambivalentes Fest. Die vor allem im EKD-Jahr der Taufe 2011 initiierten, oft parochieübergreifend organisierten Tauffeste bemühen sich darum, Eltern mit ungetauften Kindern gezielt anzuschreiben, öffentlich (und adressatenorientiert) einzuladen und nach dem Taufgottesdienst (der oft naturnah gefeiert wird) ein Fest mit Essen, Trinken, Geselligkeit und Spielen zu organisieren, das für wenig vermögende Taufeltern kostenfrei ist.71 Zur Praxis evangelischer Spiritualität gehört, dass die Zusage und Feststellung der Gotteskindschaft in der Taufe mit einer Transzendierung und Erweiterung des Familienbegriffs verbunden ist. Der Täufling ist Bruder oder Schwester im Kreise von christlichen Geschwistern. Die Gemeinde erklärt sich mit der Taufe dazu bereit, Verantwortung für das Kind zu übernehmen und damit die biologische Familie zu entlasten und zu unterstützen. 71 Vgl. Grethlein, Taufe, 101f.

Welche Bedeutung hat die Taufe für die Praxis evangelischer Spiritualität?

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„Die Legitimität der Kindertaufe ist kirchlicherseits denn auch immer mit der Verpflichtung der für die Kinder Verantwortlichen verbunden worden, nicht für sie stellvertretend zu glauben (so etwas kann es nicht geben), wohl aber nach menschlichem Ermessen dafür zu sorgen, daß sie zur Übernahme dessen fähig werden, was mit dem Bekenntnis des Glaubens bei ihrer Taufe zur Sprache gekommen ist“.72

Da dies innerhalb der biologischen Familie häufig nicht gegeben ist, wird verstärkt und kontrovers über das Patenamt als kirchliches Amt nachgedacht. Gegenstand der Kontroverse ist die Frage, ob Getauftsein eine Bedingung für die Übernahme eines kirchlichen Auftrags zum Patenamt ist oder ob Kirche mit einem Segen das hohe Engagement eines Paten oder einer Patin für das Kind unterstützt, unabhängig von der Kirchenzugehörigkeit.73 In dieser Kontroverse kommt erneut zum Ausdruck, dass evangelische Spiritualität einerseits von einem expliziten Christusbezug, andererseits von einer expliziten Zuwendung zur Welt (und damit zu anderen Menschen) geprägt ist. Mit der Übernahme eines Patenamts steht eine Patin oder ein Pate vor einem Klärungsprozess des eigenen Verhältnisses zum christlichen Glauben und damit zu Jesus Christus selbst, zum andern übernimmt er bzw. sie in praktischer Konkretion Weltverantwortung.

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Traugott Roser

–, Taufe in praktisch-theologischer Perspektive, in: Beetschen, Franziska/Grethlein, Christian/Lienhard, Fritz (Hg.), Taufpraxis. Ein interdisziplinäres Projekt, Leipzig 2017, 97–116. Hareide Austad, Brit Maria, Children in Norway, Word & World 15, 1995, 40–48. Hauschildt, Eberhard/Kohler, Eike/Schulz, Claudia, Wider den Unsinn im Umgang mit der Milieuperspektive, WzM 64, 2012, 65–82. Hempelmann, Heinzpeter/Schließer, Benjamin/Schubert, Corinna/ Weimer, Markus, Handbuch Taufe. Impulse für eine milieusensible Taufpraxis, Neukirchen-Vluyn 2013. Hempelmann, Reiner, Sakrament als Ort der Vermittlung des Heils. Sakramentstheologie im evangelisch-katholischen Dialog, Göttingen 1992. Hermelink, Jan, Taufpraxis in kirchenrechtlicher Perspektive, in: Beetschen, Franziska/ Grethlein, Christian/Lienhard, Fritz, Taufpraxis. Ein interdisziplinäres Projekt, 161– 182. Hövelmann, Hartmut, „Das sind die Artikel, auf denen ich bestehen muss“. Einsichten zur Tauflehre aus Luthers Schmalkaldischen Artikeln, Luther 74, 2003, 2–4. Klessmann, Michael, Pastoralpsychologie. Ein Lehrbuch, Neukirchen-Vluyn 2004. Kohli-Reichenbach, Claudia, Spiritualität in evangelischer Perspektive. Eine praktischtheologische Skizze, Praktische Theologie 52, 2017, 133–140. Kreplin, Martin, Veränderungen bei der Kasualie Taufe und angezeigte kirchliche Reaktionen, in: Beetschen, Franziska/Grethlein, Christian/Lienhard, Fritz (Hg.), Taufpraxis. Ein interdisziplinäres Projekt, Leipzig 2017, 17–37. Laube, Martin, Taufe in dogmatischer Perspektive. Die Taufe. Überlegungen aus systematisch-theologischer Sicht, in: Beetschen, Franziska/Grethlein, Christian/Lienhard, Fritz (Hg.), Taufpraxis. Ein interdisziplinäres Projekt, Leipzig 2017, 65–95. Mann, Thomas, Buddenbrooks. Verfall einer Familie, 2 Bd., Berlin 1901. Morgenthaler, Christoph/Noth, Isabelle, Eine kulturell sensible Religionspsychologie und klinische Beratungspsychologie – Wunsch oder Wirklichkeit?, in: Diess./Greider, Kathleen J. (Hg.), Pastoralpsychologie und Religionspsychologie im Dialog. Pastoral Psychology and Psychology of Religion in Dialogue (Praktische Theologie heute 115), Stuttgart 2011, 136–154. Müller, Christoph, Taufe als Lebensperspektive. Empirisch-theologische Erkundungen eines Schlüsselrituals, Stuttgart 2009. Rendtorff, Trutz, Ein Symbol der Menschenwürde. Die christliche Taufe als befreiende Ordnung, in: Ders., Vielspältiges. Protestantische Beiträge zur ethischen Kultur, Stuttgart/Berlin/Köln 1991, 209–213. Roser, Traugott, Resonanzen erzeugen: Der Beitrag von Krankenhausseelsorge zur Spiritualität in der Palliativversorgung, Zeitschrift für medizinische Ethik 1, 2010, 17–32. –, Spiritual Care. Der Beitrag von Seelsorge zum Gesundheitswesen, Stuttgart 22017. Schlink, Edmund, Die Lehre von der Taufe, Kassel 1969. Sommer, Regina, Kindertaufe – Elternverständnis und theologische Deutung, Stuttgart 2009. Stauffer, Anita (Hg.), Baptism, Rites of Pasage, and Culture, Genf 1998. Steck, Wolfgang, Praktische Theologie. Horizonte der Religion – Konturen des neuzeitlichen Christentums – Strukturen der religiösen Lebenswelt, Bd. I, Stuttgart/Berlin/Köln 2000.

Welche Bedeutung hat die Taufe für die Praxis evangelischer Spiritualität?

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Christof Gestrich (†)

Welche Bedeutung hat das Abendmahl für die Praxis einer evangelischen Spiritualität?

Das evangelisch gefeierte Abendmahl folgt im liturgischen Aufbau größerenteils der Eucharistiefeier römisch-katholischer Messen. Der diesem Aufbau entsprechende Vollzug berührt tief das menschliche Seelenleben. Anklänge von Opfer und von Stellvertretung stehen im Raum. Über die konfessionellen Unterschiede der Abendmahlsaufassung hinweg werden die Teilnehmenden zu einer mystischen Christusverbundenheit eingeladen: „Leiblich-seelisch vereint mit Christus – darum auch untereinander geschwisterlich verbunden“. Keine Schuld darf die Feiernden mehr voneinander trennen. Doch die Frage der bereinigten Schuld hat speziell die evangelische Abendmahlsfeier spirituell belastet. Erst im Verlauf des 20. Jh. wurde der früher verbreitete Brauch der persönlichen Anmeldung zur Abendmahlsteilnahme am Vorabend im Pfarrhaus aufgegeben. Verblasst ist auch die früher schon im Konfirmandenunterricht eingeschärfte Erwartung, sich vor der – meistens nur einmal jährlich geschehenden – Teilnahme am Abendmahl selbst zu prüfen hinsichtlich des eigenen Glaubens, und sich auch noch zu versöhnen mit Mitmenschen, zu denen hin man in ein Verhältnis des Streits und der Schuld geraten war. Dadurch sollte vermieden werden, dass man Brot und Wein sich selbst zum Gericht isst und trinkt (vgl. 1Kor 11,29). Für viele Evangelische begründete dies eine düstere Scheu dem Abendmahl gegenüber. Dass es seinem Wesen nach eine Lob- und Dankfeier (Eucharistie) ist, die sich auf Christi Tragen unserer Schuld bezieht, konnte unter den genannten Umständen nicht ausreichend klar werden. In der zweiten Hälfte des 20. Jh. wurde eine weitere Belastung des evangelischen Abendmahls, dass es nicht einmal von Lutheranern und Reformierten gemeinsam gefeiert werden konnte, überwunden (Arnoldshain 1957, Leuenberg 1973). Die Brücke bildete die theologische Orientierung daran, dass der für uns gestorbene, auferstandene Christus selbst es ist, der uns jetzt und hier realiter an seinen Tisch lädt. Er ist gleichermaßen Geber und Gabe.1 Diese neue theologische

1 Leuenberger Konkordie, These 18: „Im Abendmahl schenkt sich der auferstandene Jesus

Welche Bedeutung hat das Abendmahl für die Praxis einer evangelischen Spiritualität? 253

Ausrichtung – wir feiern, streng genommen, das Herrenmahl (u. a. Wolfhart Pannenberg, Oswald Bayer, Peter Stuhlmacher2) – entdüsterte für viele Evangelische das Abendmahl.3 Sie begehrten es nun möglichst oft im Kirchenjahr zu feiern, was es der gottesdienstlichen Regelmäßigkeit der katholischen Messe annäherte. In den Vordergrund trat nun der Gesichtspunkt, dass Jesus Christus alle gleichermaßen einlädt und beschenkt: Auch Zöllner und Sünder bittet er mit an seinen Tisch, wodurch er sie alle erhebt, schön macht, ehrt, heiligt und integriert in die Gemeinschaft mit ihm und allen Gliedern an seinem Leib – und letztlich auch in sich selbst! Auch die eigene Seele erhebt sich ins Ganze. Die am Abendmahl Teilnehmenden wandeln sich von Einsamen und Belasteten zu gemeinschaftlich Getragenen und von Christus auf dessen Missionsfeld in der Welt Entsandten. Katholiken und (früher erst ab der Konfirmation zugelassene) evangelische Kinder sind am Tisch des Herrn, dessen Plätze wir nicht beschränken dürfen, in evangelischen Abendmahlsfeiern willkommen. Dennoch liefert die falsch angelegte Frage Dienst- und Gemeinschaftsstiftungsfeier versus Schuldtilgungsfeier? weiterhin innerprotestantischen Konfliktstoff. Für konservative Lutheraner ist die Befreiung von der Schuld und die Notwendigkeit der persönlichen Buße beim Abendmahl nach wie vor erstrangig. Allerdings erneuert Sündenvergebung gerade die Gemeinschaftsfähigkeit und die Handlungsfreiheit. Die evangelische Abendmahlsfeier ist, alles in allem, ein Seismograf für das Aufeinandertreffen unterschiedlicher Spiritualitäten in der evangelischen Kirche selbst.4 Konfessionelle Abgrenzungslinien sind unschärfer geworden zugunsten von mehr Gemeinsamem.5 An der theologischen Erschließung des Abendmahls wird ständig weitergearbeitet. Das Abendmahl fokussiert den nach Gal 2,20 in mir, dem Christenmenschen, lebenden Christus (vgl. Joh 15,5 „Ich bin der Weinstock, ihr seid die Reben. Wer in

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Christus in seinem für alle dahingegebenen Leib und Blut durch sein verheißendes Wort mit Brot und Wein. So gibt er sich vorbehaltlos allen, die Brot und Wein empfangen…“ Vgl. Pannenberg, Thesen, 33–36; Bayer, Leibliches Wort, 289–305; Stuhlmacher, Herrenmahl. Von der Christenpflicht, sich vor dem Abendmahlsempfang noch mit dem ‚Nachbarn‘ zu versöhnen, ist in der Leuenberger Konkordie nicht mehr die Rede. Es wird in der 18. These lediglich gesagt „der Glaube empfängt das Mahl zum Heil, der Unglaube zum Gericht“. Im übrigen sollen sich die am Mahl Teilnehmenden nun während der Feier wechselseitig ein Zeichen des Friedens geben. Baur, Abendmahl, macht die Fülle von Verstehensdifferenzen allein schon unter den Lutheranern sehr genau sichtbar. S. insbesondere die in den achtziger Jahren des 20. Jh. bekannt gewordene Konvergenzerklärung des Genfer Ökumenischen Rats der Kirchen über Taufe, Eucharistie und Amt; ferner die ihr entsprechende Lima–Liturgie für das Abendmahl, die erstmals 1982 praktiziert worden ist. Liturgisch entworfen wurde eine fünfgliedrige ökumenische Eucharistiefeier (Danksagung, Anamnese, Epiklese, Communio, eschatologischer Ausblick aufs Reich Gottes). Der die irdischen Gaben zur eschatologisch neuen Materie erhebende heilige Geist wurde theologisch zentral.

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Christof Gestrich (†)

mir bleibt und ich in ihm, der bringt viel Frucht…“; ferner: Joh 5,35.56.58: „Ich bin das Brot des Lebens…“ – „Wer mein Fleisch isst und mein Blut trinkt, der bleibt in mir und ich in ihm.“ – „Wer dies Brot isst, der wird leben in Ewigkeit“). Der Christus in mir ist ein Vorgriff auf die von mir selbst noch nicht erreichte neue Leiblichkeit in der Ewigkeitsqualität der verheißenen neuen Schöpfung. Er verkörpert das seelische Ziel, dem alle auf ihrem irdischen Pilgerweg entgegenstreben. Der Christus in mir lässt mich schon teilhaben am Ewigen und Göttlichen.6 Für Christenmenschen aller Konfessionen überschneidet diese mystische Anteilhabe der Seele am auferstandenen Gekreuzigten sich mit der Auferstehungserwartung. Die präzise Frage ist die, wohin wir gehen, wenn wir auf dem Lebensweg zum auferstandenen Christus gehen, der seinerseits auf uns zukommt, indem er sich uns im Sakrament gibt. In dem Abendmahls-Präfationsgebet „Wahrhaft würdig ist es und recht […]“ wird zum Ausdruck gebracht, dass die jetzt das Abendmahl feiernde Gemeinde ihr lobendes und dankendes Tun in diesem Teil des Gottesdienstes vereinigt sieht mit jenem Gottesdienst, der ohne Ende im Himmel gefeiert wird rund um den Thron Gottes und des ihm zur Rechten sitzenden Jesus Christus: nämlich von den Engeln und anderen himmlischen Mächten, von Maria und allen bereits in den Himmel hinein erhöhten Heiligen und überhaupt von allen uns voraus zu Christus hingegangenen Christenmenschen. Christenmenschen sehen sich in der Mahlfeier in einen Raum hineingebracht, worin sich die Gegenwärtigen, die Gewesenen und die Kommenden in einer ekklesialen Gemeinschaft befinden und sich kennen.7 Es kommt zum Austausch aller, die Fürbitte leisten und Gott loben. In der Tat ist das Abendmahl ein Gemeinschaftsmahl. Dennoch wird in ihm der Gott der Einzelnen spürbar. Die einzelne Seele wird herausgehoben, angesprochen und gestärkt! In ihrer Beschränktheit und Schuld wird sie angenommen und individuell aufgerichtet. In diesem Paradox des Miteinanders von Singularität und Kollektivität zeigt sich die spirituelle Tiefe dieses Sakraments.8 Im geistlichen Einswerden mit Christus erscheint zugleich die Gemeinschaft mit jenen Menschen, auf deren Schultern wir stehen, und die Gemeinschaft mit solchen, für die wir selbst die Schultern sind. Menschliche Seelen umfassen, mit Martin Luther zu reden, auch des Menschen Anfahrt und Ausfahrt in der Ge6 Vgl. Martin Luther im Großen Katechismus: Das Abendmahl ist eine „Speise der Seelen, die den neuen Menschen nähret und stärkt“. Noch muss der Mensch „viel leiden“; darum ist das Abendmahl „gegeben zur täglichen Weide und Fütterung, dass sich der Glaube erhole und stärke“, und „das neue Leben […] stets zunehme“. 7 Davon wird auch in vielen sog. Nahtoderfahrungen berichtet. 8 Vgl. Pannenberg, Thesen, 33: Der Gottesdienst und sein Herzstück, das Herrenmahl, stellt uns vor „die Tiefendimension des Daseins, die im Alltag gewöhnlich verdeckt bleibt“, weil wir im sonstigen „gesellschaftlichen Leben“ nur „partiell beansprucht werden“.

Welche Bedeutung hat das Abendmahl für die Praxis einer evangelischen Spiritualität? 255

nerationenkette.9 Kirche ist ein in der Welt einzigartiger Ort auch der diachronen und vertikalen Solidarität unter den Menschen (und nicht nur einer synchronen Solidarität der Hilfsbereitschaft in Bezug auf die Mitgeschöpfe). Auch das evangelische Abendmahl enthält, woran heute gegen Martin Luther zu erinnern wäre, Elemente einer Seelenmesse oder eines Requiems.10 Nachdem das Einzelabendmahl am Sterbebett in den evangelischen Kirchen mehr und mehr zurückgetreten ist, muss die spirituelle diachrone und vertikale Solidarität im Abendmahl der Gemeinde stärker zur Geltung gebracht werden. Es geht hierbei nicht spezifisch um die Erleichterung von Schuldgefühlen gegenüber Verstorbenen. Oft wird von Hinterbliebenen auch Traurigkeit darüber empfunden, dass Angehörige menschliche Defizite gehabt haben, unter denen sie selbst und andere leiden mussten. Verstorbene werden bemitleidet, wenn sie zu wenig Schönes erlebt haben und nur Weniges zustandebrachten. Sollten die Angehörigen noch etwas für sie opfern? Hier ist eine sakramentale Verkündigung am Platz, die weder zu Opfern für die Toten aufruft noch sich in dem Rat erschöpft, die Toten, die jetzt in Gottes Hand seien, einfach gehen und ruhen zu lassen. Vielmehr sind Hinterbliebene zu ermutigen, dass wenigstens in ihrem Leben und Umfeld geschieht, woran es der verstorbenen angehörigen Person gemangelt hat. Damit beschenkt man auch diese und dient ihrem Frieden. Seelisch sind Menschen wie Kettenglieder, die nach vorn und nach hinten umgriffen werden von einer in sie eingehakten, schwerwiegenden und eine lange Geschichte bildenden weiteren Gliedermenge. Aus christlicher Sicht handelt es sich nicht um eine fesselnde, freiheitsberaubende Kette, in der Schuldverhältnisse weitergegeben werden – obwohl die Menschheitsgeschichte solches zu 9 Das ist Luthers Sprechweise, wenn er ‚Vorgeschichte‘ und ‚Nachgeschichte‘ eines Menschen in den Blick nimmt, vgl. WA TR 3, 276,26f (Nr. 3339): „So wenig die Kinder im Mutterleib wissen von ihrer Anfahrt, so wenig wissen wir vom ewigen Leben“ [will sagen: so wenig wissen wir jetzt, wohin uns die ‚Ausfahrt‘ nach dem Sterben bringen wird. Wir sehen über die Schwellen nicht hinweg, aber das Leben vorher und nachher gehört auch noch zu uns und hat entscheidende Bedeutung]. – Vgl. auch die Disputationsthesen De homine, WA 39/1,175, 28f. 10 Martin Luther verband in den Schmalkaldischen Artikeln seine Ablehnung des „Fegfeuers“ mit einer Ablehnung auch der „Seelmessen“ und des Totengedenkens an kirchlich vorgeschriebenen Tagen: „dem Siebenden, dem Dreißigsten und jährlichen Begängnis“ sowie der Feier des Allerseelentages. Solches widerspreche dem „Häuptartikel, daß allein Christus und nicht Menschenwerk den Seelen helfen soll“. – Hier verkannte L., dass Seelenmessen nicht „allein für die Toten gebraucht“ werden, sondern immer auch den Lebenden zum Trost und zur Stärkung dienen. Außerdem ist es nicht so, dass Christus außen vor bleibt, wenn Fürbitte geleistet wird – sei es durch die Heiligen im Himmel, sei es durch hiesige Menschen zugunsten von Lebenden und von Toten. Hier folgen alle nur Jesus Christus selbst in dessen hohepriesterlichem, fürbittendem und ‚dazwischentretendem‘ Handeln. Dies ist auch ein Merkmal des von Luther so hoch geschätzten allgemeinen Priestertums! Die Ostkirche zeigt im übrigen, dass die Ablehnung der Fegfeuerlehre nicht zugleich auch die Ablehnung z. B. der Gebete für die Toten und der Anrufung der Heiligen (mit der Bitte um deren Schutz bzw. Fürbitte) nach sich ziehen muss.

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Christof Gestrich (†)

belegen scheint.11 Kirche transponiert die Menschheitskette, durch Christus dazu legitimiert, in eine Schmuckkette mit Blick auf 2Kor 5,17 („Ist jemand in Christus, so ist er ein neues Geschöpf“). In der von Christus als dem zweiten Adam getragenen neuen Menschheit kann es unterschiedliche Glieder geben: kleinere und größere, hellere und dunklere, bescheiden und recht aufwändig gefertigte. Der besondere Glanz einiger strahlt auch auf die Geringeren. Das Abendmahl bekundet nicht, dass in Christus alle gleich sind, sondern dass sie sich in ihrer Verschiedenheit wechselseitig benötigen und nur zusammen das schöne Ganze bilden. Kein Glied in der Kette muss dem anderen besonders dankbar sein. Kein einfacher gefertigtes Glied muss Neid gegenüber einem prächtigeren Nachbarglied empfinden. Alles kommt coram Christo allen zugute. Alles wird durch jedes einzelne dienende Glied gehalten. Jedes hat an seinem Platz seinen einmaligen Wert und seinen Auftrag für das Ganze. Dadurch wird das Abendmahl auch Quelle der Inspiration für differenzierte christliche Soziallehren, die keineswegs jede Hoffnung auf geschichtlichen Fortschritt ausschließen. Diese Soziallehren können differenzieren zwischen nur vermeintlichem Fortschritt und solchem, der das Leben fördert und erleichtert, weil er eine Frucht von Selbsthingaben ist, durch die andere menschlich besser leben können. Das im Abendmahl konzentrierte Evangelium hebt die Obsession auf, dass ein Mensch des anderen Geisel sein müsse.12 Es besagt: Die Schuldlast aus dem Leben der Einzelnen fällt auf Christus, deren Gaben und ihre Schönheit können aber von den anderen übernommen werden. Dies zu dürfen, unterscheidet das christliche Menschenbild selbst vom humanistischen aus der Denktradition von Platon bis hin zu Erasmus, und es entspannt auch das Verhältnis zu verstorbenen Angehörigen. Das jetzt lebende Glied in der Kette muss sich die Verzweiflungen und den Zorn verstorbener Angehöriger nicht erneut zu eigen machen. Es ist in der Lebenskette, die es durch sein Eingebundensein zwar selbst beschränkt, dennoch frei („in Ketten frei“). Das aufregende Jesuswort: „Lasst die Toten ihre Toten begraben“ (Mt 8,22; Lk 9,60) ist nicht zu deuten als eine schockierende Absage an die Pietätspflicht (weil diese zu viel wertvolle Zeit benötige), sondern als die Ansage, dass im Kommen des Gottesreichs die Toten nicht mehr fesseln, 11 Vgl. schon den berühmten Satz des Anaximandros: „Anfang und Ursprung der seienden Dinge ist das […] grenzenlos Unbestimmbare […]. Woraus aber das Werden ist den seienden Dingen, in das hinein geschieht auch ihr Vergehen nach der Schuldigkeit; denn sie zahlen einander gerechte Strafe und Buße für ihre Ungerechtigkeit nach der Zeit Anordnung.“: Kranz, Vorsokratiker, 89. 12 Den Begriff hat der Philosoph Émmanuel Lévinas ins Spiel gebracht im Zusammenhang mit seiner Meinung, dass das menschliche Ich, bevor es überhaupt zu sich selbst finden kann, schon besetzt und über alles Maß hinaus verfolgt ist durch den totalen Anspruch, den Andere auf es erheben. Vgl. z. B. Lévinas, Außer sich, 74–76.

Welche Bedeutung hat das Abendmahl für die Praxis einer evangelischen Spiritualität? 257

dass kein Bestraftwerden durch die Ahnenkette, sollten deren Gebote übertreten werden, zu befürchten ist. Im leiblichen Anteilerhalten an Christus, in dem die menschliche Geschlechterfolge noch einmal neu beginnt, tut sich für die Menschen vieler Kulturen das goldene Tor zur Befreiung vom Gesetz auf. In der Schrift „Von der Freiheit eines Christenmenschen“ (1520) setzt Luther den im Abendmahl angesprochenen „inwendigen geistlichen Menschen“ mit der „Seele“ gleich und fragt: Was hülfe es der nur durch Gottes verheißende Worte ernährbaren Seele, „dass der Leib ungefangen, frisch und gesund ist…“? „Wiederum, was schadet es der Seele , dass der Leib gefangen, krank und matt ist…“? „Dieser Dinge reicht keines bis an die Seele, sie zu befreien oder fangen, fromm oder böse zu machen.“13 Nur die ernährte Seele ermöglicht es, in Ketten frei zu sein. Wird evangelische Abendmahlsspiritualität nicht eng als protestantische Abendmahlsspiritualität aufgefasst, sondern entspricht sie dem immer neuen Bedarf nach der durch den Heiligen Geist auf Christus hin bewirkten neuen Leiblichkeit, dann fällt hier auch eine klare Entscheidung gegen den Wiederverkörperungsgedanken. Zwar haben Menschen eine seelische Anfahrt bis zu ihrer Geburt und auch eine seelische Ausfahrt nach dem Sterben, aber es gibt keinen Grund dafür, dass sie in immer neuen Lebenszyklen reinkarniert werden. Jedes Kettenglied in der großen Menschheitskette hat – von anderen vorbereitet (!) – seinen einmaligen Ort. Es muss nicht mehr leisten, als in aller Beschränktheit eben dieses Glied zu sein. Es muss sich nicht später (nach dem Tod) in immer neuen Anläufen vollenden. Nicht die immer weitergehende Arbeit an sich selbst passt in den Geist des Christentums, sondern die Möglichkeit der Fürbitte, der Stellvertretung und der Vorausschau der einen für die anderen neben und nach ihnen. Jedes Glied aber lebt von der Vollendung des Ganzen. Es ist die Hoffnung, dass Gott eine Welt hervorbringt, in der Elend, Leid und Geschrei nicht mehr sein werden (vgl. Apk 21,4).

Literatur Quellen Bünker, Michael/Friedrich, Martin (Hg.), Konkordie reformatorischer Kirchen in Europa (Leuenberger Konkordie). Dreisprachige Ausgabe, Leipzig 2013. Kranz, Walther (Hg.), Die Fragmente der Vorsokratiker. Griechisch und Deutsch v. Hermann Diels, Bd. I, Berlin 171974. Luther, Martin, D. Martin Luthers Werke. Weimarer Ausgabe. Kritische Gesamtausgabe, 135 Bde; I. Abt.: Schriften, Weimar 1912ff (WA). 13 WA 7,21,23–27. Die Zitate wurden vom Vf. in die heutige Rechtschreibung transkribiert.

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Christof Gestrich (†)

–, D. Martin Luthers Werke. Weimarer Ausgabe. Kritische Gesamtausgabe, 135 Bde; II. Abt.: Tischreden, Weimar 1912ff (WA TR). –, Großer Katechismus (1529), in: BSELK (= Die Bekenntnisschriften der EvangelischLutherischen Kirche. Vollständige Neuedition, hg. von Irene Dingel im Auftrag der Evangelischen Kirche in Deutschland), Göttingen 2014, 712, 11ff. –, Die Schmalkaldischen Artikeln, BSELK, Göttingen 2014, 420,1ff. Taufe, Eucharistie, Amt. Konvergenzerklärung der Kommission für Glauben und Kirchenverfassung des Ökumenischen Rates der Kirchen, Frankfurt a.M./Paderborn, 6 1983.

Forschungsliteratur Baur, Jörg, Art. Abendmahl, III. Dogmatisch 1. Evangelisch, a) Lutherisch, in: RGG4, Bd. 1, Tübingen 1998, 31–36. Bayer, Oswald, Leibliches Wort. Reformation und Neuzeit im Konflikt, Tübingen 1992. Lévinas, Émmanuel, Außer sich. Meditation über Religion und Philosophie, München/ Wien 1991. Pannenberg, Wolfhart, Thesen zur Theologie der Kirche, München 1970. Stuhlmacher, Peter, Das neutestamentliche Zeugnis vom Herrenmahl, in: ZThK 84 (1987), 1–35.

Wolfgang Ratzmann

Kasualien (Konfirmation, Trauung, Bestattung) als spirituelle Gelegenheiten

1.

Kasualien als Gelegenheiten

Die sog. Kasualien sind kirchliche Handlungen aufgrund eines individuell-familiären Ereignisses (Kasus: Fall) im Leben eines Gemeindeglieds bzw. seiner Familie. Sie werden normalerweise von ordinierten kirchlichen Amtsträgerinnen und Amtsträgern durchgeführt und deshalb auch als Amtshandlungen bezeichnet. Bei den zugrundeliegenden individuell-familiären Ereignissen handelt es sich traditionell um biografische Übergangssituationen von einer Lebensphase in die andere, die mitunter krisenartig erlebt werden: die Geburt, das Erwachsenwerden, das Eingehen einer Partnerschaft, vor allem der Tod. Landläufig wird deshalb auch die Taufe zu den Kasualien gezählt, soweit sie als Säuglingstaufe bald nach der Geburt eines Menschen stattfindet. Theologisch stellt sie allerdings eines der beiden Sakramente der Kirche dar, und deswegen spricht viel dafür, sie in ihrer Eigenständigkeit zu behandeln, wie es im vorliegenden Band dieses Handbuches geschieht. Geht man von bedeutsamen biografischen Übergangssituationen aus, gelangt man schnell zur Auffassung, dass es weitere herausgehobene Lebenssituationen geben kann, z. B. Schulanfang, Eintritt in den Beruf, Umzug, Krankheit, ein runder Geburtstag, die mitunter ebenfalls eine kirchliche Handlung sinnvoll erscheinen lassen. Diese werden in der Spezialliteratur als „neue Kasualien“ empfohlen, auch wenn es sich im Einzelfall, vor allem bei der Krankensalbung, eher um ein altes, in der evangelischen Kirche erst wieder entdecktes und weiter zu entdeckendes seelsorgerliches Ritual handelt.1 Aus Platzgründen konzentriere ich mich im Folgenden auf die klassischen evangelischen Kasualien, nämlich die Konfirmation, die Trauung und die Bestattung, ohne prinzipiell auszuschließen, 1 Die Krankensalbung und der Einschulungsgottesdienst werden ausführlich von Christian Grethlein dargestellt und empfohlen, vgl. Grethlein, Grundinformation, 328ff, 358ff. S. in diesem Band den Beitrag von Markus Schmidt (Salbung – eine neue Form evangelischer Spiritualität).

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dass es auch in anderen Lebenssituationen weitere rituelle kirchliche Handlungen geben kann und geben sollte. Der Ort der Kasualien in der älteren evangelischen Praktischen Theologie ist unsicher: Während Georg Rietschel den zweiten Band seines „Lehrbuchs der Liturgik“ den Kasualien widmet,2 fehlen sie in Alfred Dedo Müllers „Grundriß der Praktischen Theologie“ ganz.3 Stattdessen finden sich in verschiedenen Lehrbüchern der Homiletik wesentliche Hinweise zur Kasualpredigt,4 die dabei als die zentrale Dimension der Kasualien vorgestellt wird. Die Seelsorgebewegung der 1970er-Jahre entdeckte deren eminent seelsorgerliche Bedeutung, vor allem in Verbindung mit den pastoralen Besuchen vor und nach solchen Handlungen.5 Und nach der Rehabilitation des Rituals in der evangelischen Theologie6 lernte man sie wieder neu als kirchliche Rituale schätzen, in denen es vor allem auf die kompetent zu vollziehenden symbolischen Handlungen ankommt. In den neueren Lehrbüchern der Praktischen Theologie widmet man ihnen meist ein eigenes Kapitel.7 Außerdem erschienen in den letzten Jahren wichtige eigenständige Lehrbücher.8 Es ist inzwischen unstrittig, dass die Kasualien mehrdimensional zu verstehen und zu gestalten sind und dass nicht eine Dimension, z. B. die homiletische, gegen eine andere, z. B. die rituelle, ausgespielt werden darf. Der Religionssoziologe Joachim Matthes hat schon 1975 in diesem Sinne eine „integrale Amtshandlungspraxis“ gefordert, die den verschiedenen Dimensionen der Kasualien Raum und Zeit einräumt.9 In der älteren praktisch-theologischen Literatur zu den Kasualien werden verschiedentlich diese kirchlichen Handlungen als eine über die Wünsche des einzelnen Betroffenen hinausgehende „Gelegenheit“ verstanden. Man interpretiert sie beispielsweise als „missionarische“, „seelsorgerliche“ oder „gottesdienstliche“ Gelegenheit, als Chance für den Gemeindeaufbau usw., und fordert dazu auf, die sich durch den „Fall“ ergebenden kirchlichen Chancen zu nutzen. Das Problem solcher Chancen-Zuschreibung liegt darin, die betroffenen Personen mit ihren jeweiligen Interessen damit nicht genügend zu respektieren, sondern sich bei solchen Handlungen zu stark von den übergeordneten kirchlich-theologischen Zielen leiten zu lassen. 2 3 4 5 6 7 8

Rietschel, Lehrbuch, Bd. 2. Müller, Grundriß. Müller, Homiletik; Trillhaas, Predigtlehre. Vgl. Thilo, Seelsorge. Wichtig dafür: Jetter, Symbol und Ritual. Vgl. z. B. Rössler, Grundriß, und Möller, Einführung. Vgl. u. a. Albrecht, Kasualtheorie; Grethlein, Grundinformation; Müller, Kasualgottesdienste; Fechtner, Kirche; Wagner-Rau, Segensraum; Winkler, Tore. 9 Matthes, Amtshandlungen.

Kasualien (Konfirmation, Trauung, Bestattung) als spirituelle Gelegenheiten

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Der Begriff der „spirituellen Gelegenheit“ steht demgegenüber nicht in der Gefahr, das einzelne Gemeindeglied kirchlich-theologisch zu instrumentalisieren, da er in einer doppelten Weise zu verstehen ist: Einerseits geht es darum, die jeweiligen individuellen Lebenssituationen bewusst zur Kenntnis zu nehmen und die mit ihnen gegebenen subjektiven Empfindungen und Wünsche wertzuschätzen, zumal viele Betroffene – oft in Gemeinschaft mit ihren engsten Angehörigen – diese Lebensübergänge bewusst oder unbewusst als religiöse Situationen, verbunden mit Gefühlen des Dankes und der Freude oder auch bestimmter Ängste und Unsicherheiten, erleben. Andererseits geht es darum, den situativ-individuellen Fragen oder Gefühlen nun auch eine kirchliche Aufnahme, Deutung und Weiterführung zukommen zu lassen. Die Kasualien werden zu spirituellen Gelegenheiten, wenn der besondere „Kairos“ des Zusammentreffens individueller spiritueller Erfahrungen, wie rudimentär oder bewusst sie auch immer sein mögen, mit dem Darstellungs- und Deutungsangebot der Kirche genutzt wird und die Betroffenen durch das kasuelle Handeln in Wort, Begegnung, Feier oder Ritual persönlich spirituell berührt werden.10 Der biblische Begriff des Kairos meint, dass es im Ablauf der Zeit (chronos) bestimmte Zeitpunkte (kairoi) gibt, in denen der prinzipiell unverfügbare Gott den Menschen spürbar nahekommt und in denen der sonst religiös eher verschlossene Mensch ansprechbar ist für das Evangelium.

2.

Lebensübergänge in der modernen Gesellschaft

Beim Versuch, die kirchlichen Kasualien angemessen zu verstehen, hat die Praktische Theologie schon seit den 1960er- und 1970er-Jahren auch auf kultursoziologische Hinweise zurückgegriffen. Dabei nahm man zunächst Anregungen aus den klassischen ethnologischen Studien Arnold van Genneps über die „rites de passage“ aus dem Jahr 1909 auf, der nachgewiesen hatte, dass in geschlossenen traditionalen Gesellschaften die Menschen in lebenszyklischen Übergangs- oder Schwellensituationen, die oft krisenartig erlebt werden, durch eingespielte gesellschaftlich-religiöse Übergangsrituale von einem Status in einen anderen geführt werden.11 Für die modernen, enttraditionalisierten und pluralen Gesellschaften war es hilfreich, dass später Victor Turner die Vorstellung von festen Schwellen zwischen den verschiedenen biografischen Lebensstationen aufbrach – nach seiner Terminologie tritt an die Stelle einer liminalen Erfahrung ein nur noch liminoides Bedürfnis. Außerdem wies er darauf hin, dass diese Lebensübergänge nicht zwangsläufig mit religiösen Empfindungen und Erwar10 Auf den Kairos-Begriff verweist Seitz, Kasualpraxis, 42–50. 11 van Gennep, Übergangsriten.

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tungen verbunden werden, sondern dass anstelle traditioneller religiöser Institutionen auch professionelle säkulare Angebote und sogar Dienstleistungen aus der Unterhaltungswelt gewählt werden können.12 Offensichtlich werden in unserer offenen und pluralen Gesellschaft Lebensübergänge unterschiedlich erlebt.13 Sie können Menschen vor spirituelle Fragen und in religiöse Erlebnisse führen, müssen es aber nicht. Und es kann sein, dass Jugendliche das Erwachsenwerden vorerst nicht durch einen kirchlichen Akt wie durch ihre Konfirmation begehen wollen, sondern eher durch Anschluss an ein Milieu gleichaltriger Jugendlicher mit deren Symbolen und Idolen. Die Lebenssituationen allein führen nicht automatisch zu einer spirituellen Erfahrung. Dass diese als spirituelle Gelegenheit empfunden und genutzt werden, hängt von vielen Faktoren ab – nicht zuletzt von der Präsenz der Kirche in den jeweiligen Lebenswelten der Menschen, von ihrem Image, von der Überzeugungskraft des kirchlich-kasuellen Angebots und von den dafür zuständigen Personen. Auf die Trauung bezogen, hat die Soziologin Rosemarie Nave-Herz auf die Möglichkeit der Verlagerung von Zeiten und Motiven für Rituale aufmerksam gemacht und damit Turners Thesen um eine wichtige Variante erweitert. Sie zieht aus der Tatsache, dass Trauungen heute häufig nicht mehr am Beginn eines Lebensweges als Paar stehen, sondern erst nach einigen Jahren des gemeinsamen Lebensweges gewünscht werden, den Schluss, dass aus einem Schwellenritual – bewusst oder unbewusst – ein „Konfirmationsritual“ wird. Dabei geht es um das Bedürfnis von Menschen, die schon als Paar viele Erfahrungen miteinander gesammelt haben und die auch um die „Mühen der Ebene“ einer Partnerschaft wissen, sich zu einem bestimmten Zeitpunkt gegenseitig, vor der Öffentlichkeit und vielleicht auch vor Gott ihres Willens zur gegenseitigen Liebe und zur gemeinsamen Lebensgestaltung zu vergewissern.14 An die Stelle einer gesellschaftlich-konventionell gesetzten Schwelle setzen sich zunehmend Menschen einen eigenen Termin, für den sie ein Ritual – oftmals auch in der Gestalt einer kirchlichen Handlung – wünschen. Es ist dabei nicht selbstverständlich, aber möglich, dass schon der Planungsprozess und die bewusst gewählte Handlung zu spirituellen Gelegenheiten werden. Wenn die Zeichen der Veränderung nicht trügen, dann dürfte an die Stelle der früheren allgemeinen Selbstverständlichkeit, mit der man Kasualien beging, in Zukunft immer mehr die bewusste Wahl treten. Während die regelmäßigen Mitgliedschaftsuntersuchungen der EKD bisher stets herausfanden, dass die Kasualien ein erfreulich stabiles Moment in der protestantischen Kirchlichkeit darstellten, nicht zuletzt durch die hohen Zahlen derer, die an ihnen aus kon12 Turner, Ritual. 13 Fugmann, Von Wendepunkten. 14 Nave-Herz, Hochzeit.

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ventionellen Gründen teilnahmen, macht erstmalig die V. Mitgliedschaftsuntersuchung der EKD darauf aufmerksam, dass gegenwärtig deutliche Zeichen von Instabilität zu erkennen sind. Die Autoren gehen davon aus, dass sich das Motiv der Traditions- und Konventionsorientierung in Sachen Religiosität zunehmend abschwächt und dass sich auch die Kasualien zunehmend einem stärker inhaltlich-bekenntnishaften Motiv verdanken.15 Diese Veränderungen wirken ambivalent: Einerseits darf man erwarten, dass hinter der Entscheidung für ein kirchliches Ritual die Erwartung steht, diese besondere Lebenssituation auch als spirituelle Gelegenheit wahrzunehmen. Andererseits führen Transformationsprozesse von konventioneller Kirchlichkeit zur persönlichen Entscheidung zu spürbaren zahlenmäßigen Rückgängen klassischer kirchlicher Handlungen, schon länger erkennbar vor allem bei den Trauungen,16 und zur Ausbreitung säkularer Institutionen für „rituelle Dienstleistungen“, etwa für Bestattungen oder die Durchführung von säkularen Jugendweihen,17 wie sie vor allem in Ostdeutschland aufgrund des weltanschaulichen Erbes der DDR längst üblich geworden sind.

3.

Die Kasualien unter theologischer Perspektive

In den theologischen Debatten seit der Mitte des 20. Jh. über das Verständnis von Kirche und Kasualien lassen sich mindestens drei Positionen unterscheiden: a) Die kerygmatische Perspektive Diese erste Position hängt eng mit der in den 1950er- und 1960er-Jahren dominanten dialektischen Theologie zusammen. Günter Dehn und Manfred Mezger18 stellten die Verkündigungsaufgabe heraus und forderten, dass es darauf ankomme, in den Kasus hinein das Evangelium zu bezeugen. Als problematisch wurden sowohl das vorwiegend rituelle Interesse vieler Gemeindeglieder gesehen, nach dem – so Rudolf Bohren – „die Handlung das Wort übertöne“, wie auch deren fragwürdige inhaltliche Erwartungen im Blick auf die Kasualrede, die zur Verkündigung des Evangeliums oft in Spannung stünden. In diesem Sinne verfasste Rudolf Bohren 1960 eine Streitschrift,19 in der er die Kirche vor einer 15 EKD, Engagement, 18. 16 Anfang der 1960er-Jahre sind es rund 200 000 evangelische Trauungen, während 2015 nur noch 44 197 evangelische Trauungen stattfanden, zu denen noch 5117 Gottesdienste zur Eheschließung hinzukommen, bei denen in der Regel von den Paaren nur eine Person der evangelischen Kirche angehört, vgl. EKD-Kirchenamt (Hg.), Äußerungen, 14f. 17 Vgl. dazu Döhnert, Jugendweihe. 18 Dehn, Amtshandlungen; Mezger, Amtshandlungen. 19 Bohren, Kasualpraxis.

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latenten „Baalisierung“ in den Kasualien warnte. Viele suchten hier nicht das Evangelium, sondern nach einem magisch zu verstehenden Segen Gottes. Die Kasualien förderten, wenn man diesen Erwartungen nachgäbe, ein an den Zeitgeist angepasstes bürgerliches Christentum und eine lasche Volkskirchlichkeit. Bohrens Streitschrift ist zwar in der Theologie heftig diskutiert worden, hat aber wegen ihrer realitätsfernen Vorschläge die Kasualpraxis wenig verändert. b) Die empirische Perspektive Diese zweite Position entwickelte sich in der Folge der Mitgliedschaftsuntersuchungen der EKD und mit dem Einfluss empirischer Faktoren auf Praktische Theologie und Kirche seit den 1970er-Jahren. Empirisch wurde über die Jahrzehnte hin immer wieder die relative Stabilität der Amtshandlungen im Bereich der EKD nachgewiesen. Aus der hohen Teilnahme an den Amtshandlungen hat man eine empirische Ekklesiologie abgeleitet, in der die Mehrheit der Kirchenglieder zwar aus kirchlicher Sicht als „distanziert“ zu betrachten sei, sich aber durchaus als „evangelisch“ verstehe: „[…] die Wirklichkeit von Kirche und Gemeinde stellt sich dieser Gruppe nicht in der Weise dar, dass eine regelmäßige häufige aktive Beteiligung an ihrem ‚Leben‘ notwendig wäre. Nicht der sogenannte ‚Alltagszyklus‘, der Rhythmus von Werktag und Sonntag formt den Bezug zur Kirche, sondern der ‚Lebenszyklus‘, die Abfolge der verschiedenen Lebenszeiten mit ihren jeweiligen Situationen und Knotenpunkten. Taufe, Konfirmation, Trauung, Beerdigung – die Amtshandlungen, aber auch das Weihnachtsfest sind in den Augen dieser ‚distanzierten‘ Mitglieder die zentralen religiösen Situationen.“20

Kirche ereigne sich eben „von Fall zu Fall“21 bzw. „bei Gelegenheit“,22 und die Kirche sei gut beraten, wenn sie diese empirische Gegebenheit auch in ihrer Kasualpraxis beachte. c) Spannungsperspektiven Unter dieser Bezeichnung fasse ich Entwürfe zusammen, die mit einer Grundspannung zwischen den Motiven der Beteiligten und der kirchlichen Handlung rechnen.23 Christian Grethlein definiert sie als „Spannung zwischen den unmittelbaren, anthropologisch bzw. lebensweltlich verankerten Bedürfnissen der Menschen und dem diese transzendierenden Horizont des Evangeliums“.24 In Aufnahme religionswissenschaftlicher Thesen von Theo Sundermeier und Andreas Feldtkeller erklärt er diese Spannung aus dem Miteinander von primärer 20 21 22 23 24

Hanselmann u. a. (Hg.), Kirche, 18. Vgl. Fechtner, Kirche. Vgl. Nüchtern, Kirche. Vgl. Themaheft PTh, Spannungen gestalten. Grethlein, Grundinformation, 41.

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(vorwiegend kreatürlicher) und sekundärer (transzendenter und auf Schriftzeugnisse bezogener) Religionserfahrung im Menschen und aus der kritischen Auseinandersetzung des Christentums mit der primären Religiosität. Für ihn ergibt sich daraus die theologische Aufgabe, bei der Durchführung der Kasualien „den Glauben an einen allgemeinen Lebensgrund durch die hoffnungsvolle Perspektive des Evangeliums zu weiten und zu korrigieren“.25 Die Mehrzahl der heute vorliegenden Entwürfe zu den Kasualien geht theologisch von einer solchen Grundspannung aus und von der theologisch-seelsorgerlichen Notwendigkeit, die primär-religiösen Motive nicht abzuweisen, sondern sie in die Handlung so zu integrieren, dass sie zugleich aufgenommen und weitergeführt werden. Dazu nutzen die Autoren unterschiedliche Metaphern als theologische Leitbegriffe, wie „Zuwendung“ oder „Segensraum“ oder „Rechtfertigung von Lebensgeschichten“. Der frühere Hallenser Praktische Theologe Eberhard Winkler wählt als theologischen Leitbegriff den der Zuwendung: „Kasualien sind in doppelter Hinsicht Fälle der Zuwendung: Sie sind Anlässe dazu, daß Menschen eine besondere Zuwendung erfahren und daß Menschen sich Gott zuwenden, und zwar dem Gott, der sich als Schöpfer, Erlöser und Vollender den Menschen zuwendet. […] Im Vorrang der göttlichen Zuwendung ist die Besonderheit der Kasualien gegenüber säkularen Äquivalenten begründet.“26

Der Berliner Praktische Theologe Wilhelm Gräb hat schon in einem frühen Aufsatz (1987) die Kasualien als Ort der „Rechtfertigung von Lebensgeschichten“ interpretiert. Der Pfarrer solle „die individuelle Lebensgeschichte, um die es geht, treffen und deutlich machen, was aus ihr wird – eben dadurch, daß sie in den Auslegungszusammenhang des christlichen Glaubens tritt. Es geht also um die Rechtfertigung von Lebensgeschichte, aber gerade nicht um eine Rechtfertigung aus den Motiven und Leistungen, die diese Lebensgeschichte selber bereitzustellen vermag. […] Es geht um eine solche Rechtfertigung von Lebensgeschichten, die in der unbedingten Anerkennung des einzelnen durch Gott in der singulären Person Jesu Christi ihren anschaulichen Grund hat und deshalb jedem Anspruch auf Selbstrechtfertigung widerstreitet. Diese Rechtfertigung gilt es in der kirchlichen Kasualhandlung auf die konkreten Menschen und ihre Lebensgeschichte hin zu individualisieren.“27

Die Marburger Praktische Theologin Ulrike Wagner-Rau stellt den Begriff des Segens in das Zentrum und interpretiert die Kasualhandlungen als „Segensräume“, in denen nicht nur einzelne ausdrückliche Segenshandlungen vollzogen werden, sondern Gottes Segen auch in einem spezifischen Beziehungs- und 25 A. a. O., 45. 26 Winkler, Tore, 26. 27 Gräb, Rechtfertigung, 451.

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Begegnungsraum spürbar wird. In diesem Segensraum ereignet sich u. a. das Erzählen individueller Lebensgeschichten. Er gewährt grundlegende Akzeptanz, vor allem durch die seelsorgerliche Zuwendung im Kasualgespräch, aber auch in vielen weiteren Handlungselementen. Und er ermöglicht Begegnung mit „einem Anderen“ – nämlich mit der biblisch-christlichen Tradition, die sich „nicht widerstandslos aufsaugen und vereinnahmen lassen“ darf.28 Die genannten Entwürfe sind sich darin einig, dass sie die Spannung zwischen den lebensweltlich-primärreligiösen Bedürfnissen der Betroffenen und dem diese Bedürfnisse transzendierenden Horizont des Evangeliums aufnehmen und zu vermitteln suchen,29 auch wenn sie daraus unterschiedliche Folgerungen ziehen. Aber dass in der Kasualtheorie der Gegenwart die Spannungen zwischen den oft auf das Kreatürliche beschränkten und auf physischen Schutz bezogenen Erwartungen der Betroffenen einerseits und dem „Auslegungszusammenhang“ des christlichen Glaubens andererseits gesehen und bejaht werden und dass man sie in die Amtshandlungen integriert, ist wichtig. Denn nur durch die Integration der beiden Spannungspole – die Bedürfnisse der Betroffenen und die diese Bedürfnisse integrierende und transzendierende „Zuwendung“ Gottes – kommt es dazu, dass Kasualien zu einer „spirituellen Gelegenheit“ im Sinne christlicher bzw. evangelischer Spiritualität werden können. Negativ gesagt: Wo nur eine zwischenmenschliche Zuwendung erwartet und nichts anderes symbolisch inszeniert wird, dort geschieht etwas, was auch weltliche Feiern zum Ausdruck bringen können – unter Umständen sogar geschickter als in einer kirchlichen Amtshandlung. Und umgekehrt: Wo allein kerygmatisch „richtig“, aber ohne Bezugnahme auf die Lebensgeschichten der betroffenen Menschen von Gottes Zuwendung geredet wird oder diese zeichenhaft vermittelt werden soll, dort bleiben diese Worte und symbolischen Handlungen wahrscheinlich ein fremdes Geschehen ohne persönliche Resonanz.

4.

Lebensgeschichtliche Themen als spirituelle Gelegenheiten

Schon vom Lebensalter der betroffenen Personen her verbinden sich die drei Kasualien mit recht unterschiedlichen Themen. Auch deshalb erscheint mir Wilhelm Gräbs Begriff, in den Kasualien ginge es generell um „Rechtfertigung von Lebensgeschichten“, schwer nachvollziehbar. Vermeidet man ihn wegen

28 Wagner-Rau, Segensraum, 172. 29 Albrecht, Kasualtheorie, 195, beschreibt die Aufgabe der Kasualien als „Vermittlung zwischen individueller Lebensgeschichte und christlich-theologischer Deutungstradition“.

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seiner Missverständlichkeit nicht gänzlich,30 ist er am ehesten angesichts des Todes, also am Ende einer irdischen Lebensgeschichte angemessen. Wenn es darum geht, die Kasualien als Gelegenheit für christliche Spiritualität zu verstehen und sie so zu gestalten, dann müssen einerseits die jeweiligen lebensgeschichtlichen Themen aufgegriffen werden und andererseits diese auf den theologischen Inhalt der jeweiligen Handlung bezogen werden. Dabei stellt die jeweilige Handlung die unmittelbar Betroffenen und die Mitfeiernden aus den Familien und Freundeskreisen vor unterschiedliche Herausforderungen. Wenn man die lebensgeschichtlichen Themen auf je eines konzentriert, womit ist dann bei den drei Kasualien zu rechnen? Und wie verhalten sich diese zum theologischen Kern der jeweiligen Handlungen? a) Konfirmation31 Bei den Konfirmationen heißt die Herausforderung für die betroffenen Jugendlichen „Erwachsenwerden im Leben und Glauben“. Für Eltern, Lehrer u. a. Erwachsene stellt sich die Aufgabe, die mit ihnen verbundenen Jugendlichen im Glauben und Leben erwachsen werden zu lassen. Hinter dem traditionellen Termin, sich mit 14–15 Jahren, in der Regel im 8. Schuljahr, konfirmieren zu lassen, steht längst nicht mehr das Datum der Schulentlassung und der Aufnahme einer Berufsausbildung oder gar eines Berufes wie noch vor 70 oder 80 Jahren. Heute ist die gesellschaftliche Schwelle ins Erwachsenenalter sehr breit geworden, weil einer frühen biologischen Reifung eine späte soziale Selbstständigkeit entgegensteht, bedingt durch lange Ausbildungs- und Studienzeiten. Diese fehlende gesellschaftliche Plausibilität für einen festen Konfirmationstermin hat verschiedene Veränderungsvorschläge zugunsten einer frühen (mit ca. 10 Jahren) oder einer späteren Konfirmation (mit ca. 16 Jahren) ausgelöst, die allerdings bei vielen Konfirmanden und deren Eltern auf wenig Gegenliebe stießen. Offensichtlich gibt es angesichts der breiten Schwelle zum Erwachsenenstatus das Bedürfnis, einen Termin zu setzen und diesen Lebensübergang über eine terminlich diffus gewordene Schwelle umso mehr symbolisch zu inszenieren.32 Die Konfirmanden und Konfirmandinnen stehen dabei den Eltern und der Gemeinde auch äußerlich als junge Erwachsene gegenüber (Einzug und Auszug, Konfirmationskleidung). Ihr neuer Status umfasst auch ihre Identität im Glauben, insofern die Jugendlichen individuell vor die Frage des Glaubens gestellt und nach ihrer Zustimmung zum kirchlichen Credo gefragt werden und 30 Zwei Missverständnisse liegen nahe: Dass die Lebensgeschichten aus sich heraus – aus ihren „Werken“ – gerechtfertigt bzw. gewürdigt werden und dass der Pfarrer/die Pfarrerin in die Rolle des „Rechtfertigers“ gerät – eine Rolle, die allein Gott zukommt. 31 Zum gesamten Komplex Konfirmandenarbeit und Konfirmation vgl. Comenius-Institut, Handbuch. 32 Vgl. Döhnert, Jugendweihe, 434–436.

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insofern sie persönlich den Zuspruch eines Bibelverses und des Segens erfahren. Es lässt sich empirisch belegen, dass immer wieder Jugendliche im Konfirmandenalter ihre Konfirmandenzeit und die Konfirmation selbst nicht nur als kommunikatives, sondern auch als spirituelles Erlebnis wahrgenommen haben.33 b) Trauung In der kirchlichen Trauung begegnen uns heute meist Paare, die schon einen Weg mit vielfältigen Erfahrungen des partnerschaftlichen Miteinanders hinter sich haben. Für viele ändert sich durch die Eheschließung äußerlich nicht viel. Dennoch spielt für sie die Trauung als Akt einer Statusveränderung oft eine Rolle: Sie versprechen sich „vor Gott und der Gemeinde“ eine verbindliche Beziehung in Liebe und Treue. Ringwechsel, das Treueversprechen in der relativen Öffentlichkeit einer Trauungszeremonie und eine evtl. Namensänderung drücken die Statusveränderung in ihrer Weise aus. Für andere spielt das Moment der Vergewisserung ihrer Partnerschaft die zentrale Rolle. Mitunter sind es überstandene Krisen oder neue Herausforderungen, die sie dazu motivieren, sich trauen zu lassen und sich so der tiefen Bindung an den Partner oder die Partnerin zu vergewissern. Angesichts der zahlreichen Trennungen von Liebesbünden und Ehen und auf dem Hintergrund der zunehmenden Unverbindlichkeit in vielen gesellschaftlichen Bereichen wird eine verbindliche, auf Dauer angelegte Beziehung in gegenseitiger Liebe immer mehr zu einer „unmöglichen Möglichkeit“.34 Das lebensgeschichtliche Thema, das die Paare bei aller Unterschiedlichkeit verbindet, ist der Wunsch nach einer gelingenden dauerhaften Partnerschaft. Deshalb inszenieren sie mehr oder weniger opulente Feste, in deren Mittelpunkt die kirchliche Trauung steht. Einerseits wird so das Netz aus Familie und Freunden aufgeboten, das den beiden auf ihrem Weg beistehen kann. Andererseits entsteht eine besondere spirituelle Offenheit für den, der allein Unmögliches ermöglichen kann: Gott. Die Trauung kann zu einer spirituellen Gelegenheit werden, weil in dieser Handlung dem Paar Gottes Wort als Verheißung und Orientierung zugesprochen und ihm sein Segen in Wort und Geste zugeeignet wird. In dieser kirchlich-rituellen Antwort werden die Wünsche des Paares und der mitfeiernden Personen aufgenommen, aber auch korrigiert und transformiert: Gott verspricht nicht, das Paar vor dem Scheitern zu bewahren, aber er sagt seine Nähe und Begleitung für ihren gemeinsamen Weg zu. Und Gott erspart es dem Paar nicht, im Vertrauen auf seine Nähe an der liebevollen Gestaltung ihrer Beziehung zu arbeiten und den Ehebund zu einer Quelle von Liebe und Mitmenschlichkeit auch für andere – die eigenen Kinder, aber auch andere Menschen – werden zu lassen. 33 Vgl. a. a. O., 338–379. 34 Theodor W. Adorno, zit. nach Fechtner, Kirche, 129.

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c) Bestattung35 Trauerfeiern finden in recht unterschiedlichen Situationen statt: Oft sterben Menschen nach einem langen und am Ende gesundheitlich eingeschränkten und beschwerlichen Leben. Viele haben sich schon lange nach dem Tod gesehnt, nach einem Ende des zur Last gewordenen Lebens. Die Trauernden sind in solchen Fällen mitunter regelrecht erleichtert, dass der Tod den Schmerzen und den Sorgen ein Ende gemacht hat, auch wenn sie gleichzeitig vom endgültigen Abschied bedrückt sind. In anderen Fällen werden Familien, Lebenspartner oder Freunde plötzlich mit dem Tod konfrontiert, der mehr oder weniger grausam in ein Leben und in ein Beziehungsgeflecht eingebrochen ist. Die Trauernden sind regelrecht schockiert über das unerwartete Ereignis. Auch die religiösen Fragen stellen sich dabei unterschiedlich dar. Während die einen in ihrer Trauer auch dankbar sind für das gelebte Leben und für das tröstliche Ende, fühlen sich die anderen in ihrem Glauben an einen beschützenden und bewahrenden Gott eher irritiert und klagen Gott oder ein unfassbares Schicksal an. Kann es ein Thema geben, das diese unterschiedlichen Trauersituationen verbindet? In jedem Fall erleben Menschen, wie sie durch den Tod an die Grenze ihres normalen alltäglichen Lebens stoßen. Sie werden mit einer Macht konfrontiert, die größer und unmittelbarer ist als das, was Menschen vermögen, und der sich keiner entziehen kann. Die Konfrontation mit dieser Macht löst Trauer um einen geliebten Menschen, aber auch Verunsicherungen unterschiedlicher Art aus. Deshalb ist das Thema wohl nicht einfach die Suche nach Trost in der Trauer, sondern umfassender die Suche nach Lebensgewissheit angesichts der Todesmacht. Die christliche Kirche beantwortet diese Suche mit ihrer Botschaft vom Sterben und von der Auferstehung Jesu Christi vom Tod. Sie bezeugt damit, dass es in der vom Tod bestimmten Welt des alltäglichen Lebens eine Macht gibt, die stärker ist als der Tod und der man sich im Leben und Sterben anvertrauen kann. Eine christliche Bestattung wird zu einer spirituellen Gelegenheit, wenn einerseits Zeichen der Zuwendung der Lebensmacht Gottes an dem Verstorbenen vollzogen werden – dazu gehören der Valetsegen, die Fürbitte für den Verstorbenen, die Grabprozession, die Bestattungsformel – und wenn andererseits den Angehörigen im seelsorgerlichen Gespräch und in der Predigt die Lebensgeschichten der Verstorbenen so gedeutet werden können, dass in ihnen etwas von dieser Zuwendungs- und Lebensmacht Gottes spürbar wird. „Die Lebensgeschichte des Einzelnen wird nicht gedeutet, weil damit Bewertungen dieses konkreten Lebens vorgenommen oder veranlasst werden sollten. Sie geschieht vielmehr, weil am Beispiel der Deutung dieser konkreten Lebensgeschichte verdeutlicht

35 Zum gesamten Themenkomplex vgl. Klie u. a. (Hg.), Bestattung.

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werden kann, daß keine Lebensgeschichte aufgeht in dem, was einer selbst als Leistung oder als Sinnzuschreibung zu ihr beizutragen vermag.“36

5.

Grundelemente der Kasualien in ihrer spirituellen Funktion

Abschließend sollen die wesentlichen Mittel genannt werden, mit deren Hilfe die Kasualien gestaltet werden. Insbesondere soll dabei bedacht werden, wie sie so gebraucht werden, dass sie zu spirituellen Gelegenheiten werden. a) Das Kasualgespräch Jedem Kasualgottesdienst geht ein Gespräch voraus, das mehreren Aufgaben dient. Einerseits dient es der wechselseitigen Information. Die für die kirchliche Handlung nötigen Daten und Fakten müssen thematisiert werden, die für die gottesdienstliche Handlung, aber auch für die amtlichen Kirchenbücher und zur Ausstellung der Urkunden benötigt werden. Der Pfarrer bzw. die Pfarrerin benötigen weitere Auskünfte, um die Predigt und die Feier insgesamt auf den konkreten Fall, auf die konkrete Lebensgeschichte des Menschen beziehen zu können. Andererseits müssen die Angehörigen wissen, was auf sie zukommt. Das Gespräch soll den Ablauf der Handlung und deren einzelne Sequenzen erläutern, um das innere Verständnis für das kirchliche Ritual zu erreichen, aber auch um den Teilnehmenden Verhaltenssicherheit für die bevorstehende Feier zu ermöglichen. Gelegentlich kann solch ein Gespräch Momente einer „Erwachsenenkatechese“, angelehnt an bestimmte agendarische Elemente, beinhalten. Oder es entwickelt sich zu einer spannenden Verhandlung auf Augenhöhe, indem die Gesprächsteilnehmer Wünsche an den Ablauf äußern und erläutern, aber auch indem Pfarrer bzw. Pfarrerin die Grenzen individueller Wünsche in einem gottesdienstlichen Rahmen verdeutlichen. Kasualgespräche verlaufen nicht nach einem strengen und immer gleichen Schema. Das wichtigste Kriterium für ein solches Gespräch dürfte freilich sein, ob es in einer sich gegenseitig akzeptierenden Atmosphäre geführt werden kann und ob die amtlichen Kirchenvertreter primär seelsorgerlich an dem „Fall“ interessiert und für die konkreten Personen und ihr Erleben aufgeschlossen sind. Wenn die Kasualien zu spirituellen Gelegenheiten werden sollen, dann gelingt das am ehesten auf der Basis eines seelsorgerlich-vertrauensvollen Gesprächs, das der Erarbeitung des Gottesdienstes vorausgeht und das möglicherweise auch danach gelegentlich fortgesetzt werden kann. Hilfreich ist es auf jeden Fall, wenn die Betroffenen bei einem solchen Gespräch an der Auswahl von biblischen Texten und Liedern beteiligt werden und wenn ihnen in der Gesprächsführung dazu ein geeigneter 36 Albrecht, Kasualtheorie, 215.

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Weg angeboten wird (z. B. Bericht von positiven oder negativen Erfahrungen mit Kasualgottesdiensten als Mittel, um Wünsche für die eigene Handlung zu formulieren). b) Die Kasualpredigt Die Kasualpredigt entsteht idealerweise aus der Begegnung mit den betroffenen Menschen, mit ihrem „Fall“, mit den bei ihnen entstandenen Fragen und Wünschen. Aus einer solchen Begegnung heraus erfolgt dann die Suche nach dem biblischen Wort, das in dieser Situation zu sagen ist, bzw. die Auseinandersetzung mit dem kurzen Text, der schon im Kasualgespräch ausgewählt worden ist. Es gibt keine feste Regel, wie dieser gefunden wird: Er kann aus der Herrnhuter Losung für den Tag entnommen sein oder aus kirchenjahreszeitlichen Texten (Wochenspruch, Monatsspruch). Er kann aus Textsammlungen stammen oder schon in der Biografie der betroffenen Person (Taufspruch, Konfirmationsspruch) einen Platz eingenommen haben. Die Gefahr könnte sein, dass ein kurzer biblischer Spruch kaum aus seinem ursprünglichen Zusammenhang heraus gedeutet wird, sondern dass er rein assoziativ auf den heutigen „Fall“ bezogen wird. Deshalb gehört zur Vorbereitung einer Kasualrede auch die exegetisch-historische biblische Arbeit mit hinzu. Aber ein knapper Spruch bietet den Vorteil, dass mit seiner Hilfe das Evangelium „in nuce“, focussiert auf ein Sprachbild oder auf ein Hauptwort, zusammengefasst und zugleich auf den Fall bezogen zugesprochen werden kann. Es tritt in die Mitte der Rede und lässt zugleich für Biografisches und Persönliches viel Raum. Die Kasualpredigt sollte nicht Biografie und christliche Botschaft trennen, denn gerade das Miteinander und Ineinander von Biblischem und Persönlichem macht den Reiz und die spirituelle Chance der Rede aus. Anhand eines Falls, eines Lebenslaufes, einer bestimmten Schicksalswendung lässt sich zeigen, dass und wie das Evangelium von der Zuwendung Gottes gerade einen Menschen persönlich betroffen hat und trifft. Adressaten der Rede sind vor allem die unmittelbar Betroffenen: das Brautpaar, die engsten Angehörigen eines Verstorbenen, die Konfirmanden. Was ihnen persönlich gesagt wird, nehmen in der Regel alle interessiert zur Kenntnis. Aber es schließt nicht aus, dass auch an die einmal direkt das Wort gerichtet wird, die – z. B. als Nachbarn oder Kollegen bei einer Trauerfeier – anders, eher indirekt betroffen sind. c) Die liturgische Feier (das Ritual) Das Evangelium erscheint bei den Kasualien nicht nur in der Gestalt von Lesungen und Predigt. Es kann auch in ritueller Gestalt begegnen: bei Ein- und Auszügen wird das Moment der Begleitung der Betroffenen durch Menschen deutlich sichtbar gemacht, beim Segen Gottes tröstende und ermutigende Nähe symbolisiert, durch Niederknien Demut und Empfangsbereitschaft Gott ge-

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genüber ausgedrückt… Es ist so gesehen nicht falsch, wenn auch Kasualgottesdienste als „Inszenierung des Evangeliums“37 verstanden und im Blick auf ihre symbolischen Handlungen, im Blick auf die dafür vorgesehenen Räume mit ihrem Schmuck und ihren technischen Voraussetzungen, im Blick auf das Maß an vorgegebenen rituellen Traditionen und an spontanen kommunikativen Aktionen (z. B. bei einer Konfirmation) sehr präzise vorbereitet werden.38 Zur „integralen Amtshandlungspraxis“ gehört es, dass die evangelischen Pfarrerinnen und Pfarrer sich nicht ausschließlich als Prediger oder als Seelsorgerinnen verstehen, sondern dass sie auch zu ihrer zeitweiligen Rolle als liturgische „Zeremonienmeister“ stehen, die gerade dadurch, dass sie bejaht und kompetent ausgefüllt wird, wiederum spirituelle Chancen eröffnet.39 Diese liegen auch darin, dass die Verlässlichkeit und Sicherheit, die das Ritual ausstrahlt, zur emotionalen Entlastung der Betroffenen beitragen kann, so dass sie sich eher auf spirituelle Inhalte einlassen können. Dabei sind die Ordinierten nicht die einzigen Personen, die liturgisch-rituell zu handeln haben. Auch andere haben durch das Mitsprechen von Gebeten oder das Mitsingen von Liedern daran Anteil und können auch durch weitere kommunikativ vollzogene Handlungen noch umfassender aktiv beteiligt werden, z. B. durch Mitwirkung in einem „geteilten Segen“. Aber Rituale brauchen einen erkennbaren Leiter bzw. eine Leiterin, die selbst die zentrale Rolle innehaben und deren Leitungsverantwortung sich auch auf die erstreckt, die rituell mitwirken – und oft darin ungeübt sind. d) Die Musik bei Kasualien Ob Amtshandlungen gelingen und ob sie zum spirituellen Erlebnis werden, hängt auch von der Musik ab, die im Rahmen solcher gottesdienstlichen Handlungen eingesetzt wird. Noch vor wenigen Jahrzehnten galten Orgel- oder klassische Kammermusik und Gemeindelieder aus dem Gesangbuch als einzig akzeptable Musik. Dabei hatte man fast ausschließlich die Rolle der Musik als Teil der Verkündigung vor Augen, und die Kasualien wurden primär von ihrer Verkündigungsfunktion her definiert. Auf landeskirchlichen Listen fanden sich viele Musiktitel, die nicht als Gemeindelieder gesungen werden durften oder die nicht als Sololieder und Instrumentalstücke zugelassen waren. Inzwischen wird die Funktion der Musik vielfältiger gesehen: Von seelsorgerlicher oder ritualtheoretischer Seite her wird sie auch als tröstliches und gemeinschaftsstiftendes Medium gewürdigt. Man weiß, dass sie Gefühle auslösen und sie zugleich ka37 Meyer-Blanck, Inszenierung. 38 Die derzeit verbindlichen evangelisch-landeskirchlichen Agenden in der EKD für die drei Amtshandlungen sind: Kirchenleitung der VELKD/Kirchenkanzlei der EKU (Hg.), Konfirmation; Kirchenleitung der VELKD (Hg.), Trauung; Kirchenkanzlei der UEK (Hg.), Trauung; Kirchenleitung der VELKD (Hg.), Bestattung; Kirchenkanzlei der UEK (Hg.), Bestattung. 39 Vgl. den Titel der Untersuchung von Fugmann, Von Wendepunkten.

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nalisieren kann. Sie wird als Identifikationsmittel für eine Person – z. B. für einen Verstorbenen – ernstgenommen. Und ihr wird eine ausschlaggebende Rolle für die gesamte Atmosphäre einer Amtshandlung zugesprochen. Die Erwartungen an eine kompetente Musik sind – so gesehen – gestiegen. Zugleich werden die kirchlich Verantwortlichen zunehmend mit individuellen Wünschen konfrontiert, anstelle der traditionell kirchlichen Musik Lieder oder Stücke aus der Popularkultur in die kirchliche Feier einzubeziehen. In diesen Wünschen tritt zutage, dass auch die Kirche – jedenfalls bei den Kasualien – an der kulturellen Vielfalt und Partikularisierung der musikalischen Welten in der Gesellschaft Anteil hat. Wie gehen wir sachgemäß mit diesen Interessenunterschieden um?40 Auch im musikalischen Feld gilt es, die elementare Spannung aus lebensgeschichtlichen und kirchlichen Impulsen durchzuhalten, die ein Grundthema der Kasualien ist und von der aus Kasualien zu spirituellen Gelegenheiten werden können. Das heißt: Pfarrer/innen und Kirchenmusiker/innen haben eine besondere Verantwortung dafür wahrzunehmen, dass die Amtshandlungen auch musikalisch als christliche Gottesdienste erkennbar werden. Deshalb sollten sie für überliefertes christliches Liedgut und entsprechende Musik werbend eintreten. Die von der musikalischen Alltagskultur – dabei handelt es sich in der Regel um Popmusik – abgesetzte Kirchenmusik kann auch eine wichtige Funktion bei denen erfüllen, die ihr fremd gegenüberstehen: Sie sorgt auf ihre Weise mit dafür, dass die gottesdienstliche Feier den Alltag atmosphärisch unterbricht und nicht einfach wiederholt. Aber die kirchlich Verantwortlichen wissen zugleich, dass im Zentrum dieser Gottesdienste ein Individuum mit seiner Lebensgeschichte und mit einer spezifischen kulturellen Prägung steht. Deshalb ist es möglich, ein bestimmtes Maß an kirchenfremder Musik zu integrieren, die von den Angehörigen dringend gewünscht wird. So kann beispielsweise ein Lied aus der Popularkultur, mit dem sich der Verstorbene stark identifiziert hat, bewusst in eine Bestattungspredigt einbezogen werden, indem das Lied erklingt und dann lebensgeschichtlich und religiös gedeutet wird. Indem diese Musik so interpretiert wird, wird sie und mit ihm eine Person, für die sie steht, ernstgenommen. Aber es ist manchmal eine Gratwanderung: „Die Gefahr, dass der Gottesdienst durch die Anpassung an ihm eigentlich fremde Bedürfnisse banalisiert werden könnte, ist nicht zu leugnen. […] Aber der Gottesdienst ist integrationsfähig. Man kann fremde Stücke so in ihn hineinnehmen, dass wechselseitige Interpretationen der verschiedenen Teile möglich werden.“41

Mindestens ebenso kompliziert ist ein anderes Phänomen: Vielerorts wird zu Kasualien nicht mehr gemeinsam gesungen, weil die Kasualgemeinden klein sind 40 Vgl. dazu u. a. Reinke, Kasualgottesdienste; Wagner-Rau, Kirchenmusik. 41 Wagner-Rau, Kirchenmusik, 150

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und viele Mitfeiernde die Kirchenlieder nicht mehr kennen. Stattdessen wird nur noch Musik per CD eingespielt. Eine solche Praxis kann nur eine Notlösung sein. Das lebendige Singen und Musizieren bleibt, auch wenn es dazu keine leichten Wege gibt, ein notwendiges Ziel. e) Kasualien und Gemeinde Von einer letzten Spannung soll abschließend die Rede sein. Kasualien werden begangen um des Lebensweges eines einzelnen Menschen willen. Auch wenn diese Feiern in Kirchen und Kapellen einer Kirchgemeinde stattfinden und auch wenn sie durch Gemeindepfarrer und -pfarrerinnen geleitet werden, ist in der Regel die Gemeinde als konkrete Ortsgemeinde wenig im Blick: Viele Teilnehmer an Kasualien nehmen ihre Mitgliedschaft in der Kirche nur gelegentlich – als Besucher von Kasual- oder einzelnen Festgottesdiensten – wahr und legen auf eine weitere Teilnahme am Ortsgemeindeleben keinen Wert. Und viele Ortsgemeinden sind mit der Sicherung ihres Gemeindeprogramms so ausgelastet, dass sie kaum in der Lage wären, sich zusätzlich um die Kasualien zu kümmern. Pfarrer und Pfarrerinnen sind meist die einzigen Verbindungsglieder zwischen den beiden weithin getrennten Welten der Kasual- und der Ortsgemeinde. Sie sind gut beraten, wenn sie die historisch gewachsenen Zugehörigkeiten und Distanzen einerseits respektieren, d. h. wenn sie den spirituellen „Erfolg“ einer Amtshandlung nicht daran messen, ob durch sie Menschen der Ortsgemeinde näher gerückt sind und sich nun in ihr engagieren. Aber sie sollten zugleich danach Ausschau halten, ob sich im konkreten Fall für beide „Welten“ hilfreiche Beziehungen zueinander stiften lassen. So können Konfirmanden eingeladen werden, „in ihrem Glauben zu bleiben und zu wachsen“, wie es in der Konfirmationsagende heißt,42 indem sie künftig aktiv in der Kinder- und Jugendarbeit der Ortsgemeinde mitwirken. Eine durch den Tod des Mannes einsam gewordene Frau kann zur Mitwirkung in einem Frauenkreis gewonnen werden. Ein Musiker aus einem Kasualgottesdienst lässt sich ansprechen, in einem Konzert der Ortsgemeinde aufzutreten. Eine Band von Jugendlichen trägt mit ihren Mitteln zur Ausgestaltung des Konfrmationsgottesdienstes bei… Es kann immer wieder einmal gelingen, Kasualgemeinde und Ortsgemeinde so zusammenzuführen, dass einerseits der Gemeindeaufbau der Ortsgemeinde von den Kasualien profitiert und dass andererseits das individuelle Bedürfnis nach Anerkennung und Entwicklung einer einzelnen Person aus dem Kasualumfeld im Kontakt mit der Ortsgemeinde erst recht zum Zug kommen kann.43 Es geht um eine Spannung, die für beide Seiten fruchtbar gemacht werden muss: Einerseits geht es um die Frage, ob die Kasualien für den Einzelnen zu einer spirituellen Gelegenheit von 42 Konfirmation, 158. 43 Vgl. Winkler, Tore, 33–35.

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Intensität und Dauer werden. Das dürfte davon abhängen, ob die punktuell gegebene Kontaktstelle zur Kirche vor Ort genutzt wird und der individuelle Glaube des Einzelnen über den rituellen Akt der Amtshandlung hinaus eine weitere kirchliche Stützung erfährt. Andererseits geht es um die Zukunftsfähigkeit der Kasualien als kirchliche Angebote in einer zunehmend säkularen Gesellschaft. Sie setzt nicht nur eine individuell-partikulare Offenheit für den Einzelnen oder einzelne Milieus, sondern auch ein erkennbar kirchliches Profil voraus, in dem ortskirchliche, traditionsbezogen-konfessionelle und ökumenische Identitätsmerkmale miteinander verknüpft sind. Nur so können die Menschen erleben, dass sich hier nicht nur freundliche Ritenverwalter um sie kümmern, sondern Beauftragte der Kirche. Nur so können sie ahnen, dass in dieser kirchlichen Zuwendung etwas von der großen Zuwendung Gottes zu uns Menschen zu spüren ist.

Literatur Quellen Bohren, Rudolf, Unsere Kasualpraxis – eine missionarische Gelegenheit? München 1960. Dehn, Günther, Die Amtshandlungen der Kirche, Stuttgart 1950. EKD-Kirchenamt (Hg.), Die Äußerungen des kirchlichen Lebens im Jahr 2014, Hannover 2016. Evangelische Kirche in Deutschland (Hg.), Engagement und Indifferenz. Kirchenmitgliedschaft als soziale Praxis, V. Erhebung über Kirchenmitgliedschaft, Hannover 2014. Kirchenleitung der VELKD/im Auftrag des Rates v. d. Kirchenkanzlei der EKU (Hg.), Konfirmation, Agende für ev.-luth. Kirchen und Gemeinden und für die Ev. Kirche der Union Bd. III, Berlin/Bielefeld/Hannover 2001. Kirchenleitung der VELKD (Hg.), Agende für ev.-luth. Kirchen und Gemeinden Bd. III, Teil 2, Die Trauung, Hannover 1988. Kirchenkanzlei der UEK (Hg.), Trauung. Agende für die Union Ev. Kirchen in der EKD Bd. 4, Bielefeld 2006. Kirchenleitung der VELKD (Hg.), Agende für ev.-luth. Kirchen und Gemeinde Bd. III, Teil 5, Die Bestattung, Hannover 1996. Kirchenkanzlei der UEK (Hg.), Bestattung. Agende für die Union Ev. Kirchen in der EKD, Bd. 5, Bielefeld 2004. Mezger, Manfred, Die Amtshandlungen der Kirche als Verkündigung, Ordnung und Seelsorge, Bd. 1, München 1957. Müller, Alfred Dedo, Grundriß der Praktischen Theologie, Berlin 1954. Rietschel, Georg, Lehrbuch der Liturgik, Bd. 2: Die Kasualien, 2., neubearb. Aufl. von Paul Graff, Göttingen 1952. Trillhaas, Wolfgang, Evangelische Predigtlehre, 51964.

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Forschungsliteratur Albrecht, Christian, Kasualtheorie. Geschichte, Bedeutung und Gestaltung kirchlicher Amtshandlungen, Tübingen 2006. Comenius-Institut in Verb. mit dem Verein KU-Praxis, Handbuch für die Arbeit mit Konfirmandinnen und Konfirmanden, Gütersloh 1998. Döhnert, Albrecht, Jugendweihe zwischen Familie, Politik und Religion, Leipzig 2000. Fechtner, Kristian, Kirche von Fall zu Fall. Kasualpraxis in der Gegenwart – eine Orientierung, Gütersloh 2003. Fugmann, Haringke Gregor, Von Wendepunkten und Zeremonienmeistern. Kasualtheorie im Licht zweier empirischer Untersuchungen, Frankfurt a.M. 2009. Klie, Thomas u. a. (Hg.), Praktische Theologie der Bestattung. Berlin/München/Boston 2015. Gennep, Arnold van, Übergangsriten, Frankfurt 1986. Grethlein, Christian, Grundinformation Kasualien, Göttingen 2007. Gräb, Wilhelm, Rechtfertigung von Lebensgeschichten. Erwägungen zu einer theologischen Theorie der Amtshandlungen (1987), Wiederabdruck in: PTh 100, 2011. Jetter, Werner, Symbol und Ritual. Anthropologische Elemente im Gottesdienst, Göttingen 1978, 21986. Hanselmann, Johannes u. a. (Hg.), Was wird aus der Kirche?, Gütersloh 1984. „Kasualien – Spannungen gestalten“. Themaheft der PTh 100, H 9/2011. Matthes, Joachim, Volkskirchliche Amtshandlungen, Lebenszyklus und Lebensgeschichte, in: ders. (Hg.), Erneuerung der Kirche. Stabilität als Chance? Folgerungen aus einer Umfrage, Gelnhausen 1975. Meyer-Blanck, Michael, Inszenierung des Evangeliums, Göttingen 1997. Möller, Christian, Einführung in die Praktische Theologie, Tübingen/Basel 2004. Müller, Hans Martin, Homiletik, Berlin/New York 1995. Müller, Theophil, Konfirmation – Hochzeit – Taufe – Bestattung. Sinn und Aufgabe der Kasualgottesdienste, Stuttgart 1988. Nave-Herz, Rosemarie, Die Hochzeit. Ihre heutige Sinnzuschreibung seitens der Eheschließenden: eine empirisch-soziologische Studie, Würzburg 1997. Nüchtern, Michael, Kirche bei Gelegenheit, Stuttgart 1991. Reinke, Stephan A., Kasualgottesdienste. Musikalische Aushandlungsfragen, in: ders. (Hg.), Werkbuch Musik im Gottesdienst, Gütersloh 2014, 48–54. Rössler, Dietrich, Grundriß der Praktischen Theologie, Berlin/New York 1986. Seitz, Manfred, Unsere Kasualpraxis – eine gottesdienstliche Gelegenheit!, in: ders., Praxis des Glaubens, Göttingen 1978, 42–50. Thilo, Hans Joachim, Beratende Seelsorge. Tiefenpsychologische Methodik, dargestellt am Kasualgespräch, Göttingen 1971. Turner, Victor, Das Ritual. Struktur und Anti-Struktur, Frankfurt 2000. Wagner-Rau, Ulrike, Segensraum. Kasualien in der modernen Gesellschaft, Stuttgart 2000. –, Kirchenmusik und Kasualien. In: Fermor, Gotthart/Schroeter-Wittke, Harald (Hg.), Kirchenmusik als religiöse Praxis, Leipzig 2005, 147–152. Winkler, Eberhard, Tore zum Leben. Taufe – Konfirmation – Trauung – Bestattung, Neukirchen-Vluyn 1995.

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Die Bedeutung des Segens für die Praxis evangelischer Spiritualität

1.

Die Wiederentdeckung des Segens

Nachdem sich die evangelische Theologie lange Zeit auffallend wenig mit dem Thema Segen und mit Segenshandlungen beschäftigt hat, ist seit rund fünfundzwanzig Jahren ein starkes theoretisches und praktisches Interesse an dieser Thematik zu erkennen. In diesem Zeitraum erschienen sowohl einige umfassende exegetische und systematisch-theologische Monografien zum Thema Segen als auch viele praktische Entwürfe für besondere Segnungs- und Salbungsgottesdienste und Anleitungen zu entsprechenden Handlungen in der Seelsorge.1 Das große Interesse an Segenshandlungen scheint Ausdruck des Gefühls „einer wachsenden Segensbedürftigkeit menschlicher Lebenssituationen“2 zu sein. Die gesellschaftlichen und theologischen Hintergründe dafür können hier nur angedeutet werden. Zu denken ist in diesem Zusammenhang an die Wiederentdeckung der Leiblichkeit des Menschen in Theologie und Kirche, an die wachsende Sensibilität für ökologische und schöpfungstheologische Fragen, an den Boom der Bio-Wissenschaften und Bio-Technologien – speziell der Gentechnik –, mit dem Ziel, die menschliche Lebensdauer und -qualität zu steigern, und auch an neureligiöse Strömungen und alternative Heilmethoden, bei denen energetischen Kräften Bedeutung zugemessen wird.3 In seiner Gesellschaftsanalyse der Postmoderne fasst Hartmut Rosenau diese Phänomene damit zusammen, dass „in Zeiten der Gottesferne“ soteriologische Fragen zugunsten von diesseitsorientierten Interessen in den Hintergrund geraten sind und damit „die Rede vom Segen zugänglicher als die vom Heil“4 wurde. 1 Vgl. u. a. Bundschuh-Schramm (Hg.), Mit dir sein; Frettlöh, Theologie; Greiner, Segen und Segnen; Heckel, Segen im Neuen Testament; Herberg, Segen erfahren; Leuenberger (Hg.), Segen; Obermann, Gottes Segen; Wagner-Rau, Segensraum. 2 Frettlöh, Theologie, 13. 3 Vgl. Leuenberger, Segenstheologien im alten Israel, 473f. 4 Rosenau, Segen, 182.

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„Vor diesem Hintergrund ist auch ein feststellbares zunehmendes Bedürfnis von kirchennahen wie kirchenfernen Menschen nach Segenshandlungen zu den unterschiedlichsten Anlässen, insbesondere im Blick auf Krankheit, Heilung und Gesundheit, erklärlich […] ebenso wie der empirische Befund von Umfragen, dass vielen Gottesdienstbesuchern der Segen zum Ausgang mehr bedeutet als etwa die Predigt.“5

Neben den beschriebenen gesellschaftlichen Gründen für das zunehmende Interesse an Segenshandlungen ist auch auf die innerkirchliche „Rezeption von Anregungen aus dem Healing Ministry der anglik. Kirche, der feministischen oder der charismatischen Bewegung in Gestalt von Segnungsgottesdiensten“6 hinzuweisen. Insgesamt ist die Bedeutung von Segnungen für die Theologie und Praxis evangelischer Spiritualität in den letzten Jahren deutlich gewachsen. Angesichts der sehr unterschiedlichen Hintergründe für diese Entwicklung ist es aus evangelischer Sicht wichtig, zunächst eine biblisch-theologische Bestimmung dessen vorzunehmen, was Segen bedeutet. Diese grundsätzlichen Überlegungen gelten für Segenshandlungen in unterschiedlichen Kontexten. Im Abschnitt zur Praxis der Segnung wird dann, wo es notwendig ist, stärker zwischen liturgischen, seelsorglichen und weiteren Zusammenhängen differenziert.

2.

Segen im Alten und Neuen Testament

Das alttestamentliche Wort für segnen – hebräisch: ‫ברך‬/brk – „bedeutet nach allgemeinem Konsens, lebensfördernde ‚Heilskraft/heilschaffende Kraft‘ zu vermitteln […] und zielt in pragmatischer Hinsicht dementsprechend darauf ab, das Leben zu sichern und zu fördern“.7 Der überwiegend auf das Leben im Diesseits gerichteten Perspektive des Alten Testaments entsprechend, zeigt sich der göttliche Segen „als Fruchtbarkeit, Wachstum und Gedeihen bei Mensch (Gen 1,28; 9,1; 17,16.20; Dtn 7,14), Tier (Gen 1,22; 30,27.29f; Dtn 7,13f) und Acker (Gen 26,12; 27,27f; Lev 25,21; Dtn 7,13; Hag 2,19; Ps 65,11), worin der Wille des transzendenten Gottes zur Immanenz zum Ausdruck kommt“.8 Das alttestamentliche Segensverständnis wäre aber einseitig verzeichnet, wenn man es – im Gefolge der Unterscheidung von Claus Westermann, die er Ende der 1960er-Jahre in seiner wirkungsgeschichtlich bedeutsamen Schrift zum „Segen in der Bibel und im Handeln der Kirche“ zwischen rettendem und segnendem Handeln Gottes vorgenommen hat – ausschließlich schöpfungstheologisch interpretieren würde. Zwar kann zu Recht formuliert werden, dass „(d)er vornehmste Wir5 6 7 8

A. a. O. Zur Empirie vgl. Pohl-Patalong, Gottesdienst, 161–167. Greiner, Segen/Segnung, 1130. Leuenberger, Segen im Alten Testament, 50. Veijola, Segen/Segen und Fluch, 77; ähnlich Steymans, Art. Segen und Fluch, 1133.

Die Bedeutung des Segens für die Praxis evangelischer Spiritualität

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kungsbereich des göttlichen Segens […] die bleibenden Ordnungen der Schöpfung [sind], aber er wird doch auch in den einmaligen Ereignissen der Geschichte erfahren (Gen 12,3; 24,60; 27,29; Num 22,12; 23,22; 24,6; Dtn 7,16–24; 33,11 u. a.), weshalb eine Gegenüberstellung von Gottes segnendem und rettendem Handeln (Westermann) als unsachgemäß erscheint“.9 Dies wird im Blick auf das Neue Testament noch deutlicher werden. Das Segnen begegnet sowohl in liturgischen als auch in prophetischen und alltäglichen Zusammenhängen. „Menschen segnen als Priester (Gen 14,19; Lev 9,22; Num 6,23–27; u. ö.) und Könige (2Sam 6,18; 1 Kön 8,14.55), als Eltern (Gen 27, 27–29; 32,1; 48,9.15f.; 49, 8–28), Propheten (Ex 39,43; Num 23,11.20.25; 24,1.9.10; Dtn 33,1) und Grüßende (1Sam 13,10; 25,14 u. ö.).“10 Bei all diesen Segensformen bleibt Gott der Urheber und Garant des Segens, auch wenn die Rolle und die Verantwortung des segnenden und Segen empfangenden Menschen in den einzelnen alttestamentlichen Traditionen recht unterschiedlich dargestellt werden.11 Der neutestamentliche Segensbegriff ist tief im alttestamentlichen verwurzelt. Der bedeutendste Unterschied besteht darin, dass der Segen im Neuen Testament christologisch zugespitzt und damit stärker als im Alten Testament soteriologisch bestimmt wird. „Die wichtigste Neuerung ist im eschatologischen Gesamtzusammenhang die christologische Zentrierung, die in den neutestamentlichen Schriften bei allen Unterschieden eine grundlegende Gemeinsamkeit ausmacht […]. Im Neuen Testament gehört er [sc. der Segen, HE] zwar nicht zu den zentralen Heilsbegriffen und hat auch nicht denselben Stellenwert wie Gnade, Rechtfertigung oder Heil, aber ist aufs Engste mit der Soteriologie verbunden und kann je und je für jene Worte eintreten.“12

Diese christologische Zentrierung hebt die alttestamentliche Akzentuierung des Segens im Schöpfungshandeln Gottes nicht auf. Vielmehr lässt sich die durch das neutestamentliche Zeugnis in den Segensbegriff eingebrachte Mehrdimensionalität aus gesamtbiblischer Sicht im Sinne eines trinitätstheologischen Verständnisses des Segens interpretieren, das heutigen dogmatischen Entwürfen zum Segen häufig zugrunde liegt. 9 Veijola, Segen/Segen und Fluch, 77. Ähnlich auch Leuenberger, Segenstheologien im alten Israel, 476: „Segen beinhaltet umfassendes heilvolles Wohlergehen, das sich weder mit irdisch-materiellem Erfolg (oder sozialpolitisch mit einer ‚Option für die Armen‘) gleichsetzen noch (davon abgekoppelt) auf jenseitig-geistiges Heil reduzieren lässt, sondern beides spannungsvoll im Diesseits zusammenhält.“ 10 Steymans, Segen und Fluch, 1134. 11 Vgl. Leuenberger, Segen im Alten Testament, 55–65, der die unterschiedlichen Akzentuierungen des Segensverständnisses und der Rolle der beteiligten Personen in Priesterschrift, Vätergeschichten, Deuteronomium, Psalmen und anderen Traditionen des Alten Testaments untersucht. 12 Heckel, Segen im Neuen Testament, 237.241. Hervorhebungen im Original.

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Übersetzt man sowohl das hebräische als auch das griechische Wort für segnen (‫ברך‬/εὐλογεῖν), kann man feststellen, dass beide Wortfelder – je nach Kontext – sowohl segnen als auch loben und preisen bedeuten können.13 Ist der Mensch der Adressat des Segnens, dann steht die Bedeutung des Beschenkt-Seins von Gott – eben des Gesegnet-Seins – im Vordergrund. Ist dagegen Gott der Adressat des Segnens, tritt stärker der Aspekt des Lobens und Preisens ins Zentrum. Beides hängt aber eng miteinander zusammen und weist darauf hin, dass das Segnen Beziehung stiftet. Das Segnen des Menschen durch Gott und das Segnen bzw. Loben Gottes durch den Menschen sind „zwei Seiten desselben Beziehungsgeschehens“.14 Im Blick auf den Gottesdienst schreibt Jürgen Ebach: „Wenn Menschen Gott segnen, widerspricht das nicht der Grundlinie, in der Gott den Segen gibt. Menschen geben vielmehr etwas von dem, was sie an Segen empfangen haben, an Gott zurück. So wird Segen und Segnen zu einer wechselseitigen, das Band zwischen Gott, Menschen und Welt zusammenhaltenden Kommunikation und Kommunion.“15

Der Begriff Kommunikation wirft die Frage nach der Sprachform des Segens auf. Vom biblischen Wortrealismus her hat der Segen eine performative Dimension, d. h., dass das Segnen als eine Sprachhandlung mit hoher Wirksamkeit verstanden wird.16 Allerdings weisen jussivische Formulierungen darauf hin, dass diese Wirksamkeit nicht von den sprachlichen Formeln selbst erwartet, sondern von dem Geber aller guten Gaben erbeten wird. Dadurch entsteht eine dem Segnen eigene Sprachform: „Indem die Sprechaktanalyse den Segen nicht nur als illokutionär (= anwünschend), sondern zugleich als performativ (= vollziehend) bezeichnet, verbindet sie die Wunschform mit dem Vollzugscharakter, durch den die Segenswünsche sich als Gattung sui generis erweisen.“17

13 Vgl. Veijola, Segen/Segen und Fluch, 76f; Leuenberger, Segenstheologien im alten Israel, 482; Heckel, Segen im Neuen Testament, 237; Ostmeyer, Segen, 112 u. a. 14 Heckel, Segen im Neuen Testament, 350. 15 Ebach, Klangraum, 342. Anders akzentuiert Rosenau, Segen, 173: „Segen und Segnen ist also ein Geschehen extra nos, das nicht von sich her […] aus dem eigenen inneren Wesen entstehen, sondern das vielmehr nur empfangen werden kann […]. Insofern ist die auch biblisch gebräuchliche Redewendung von einer Segnung Gottes durch Menschen, derzufolge Gott der Adressat und ein Mensch Subjekt des Segens ist, theologisch problematisch und höchstens als metaphorischer Ausdruck für Dank und Dankbarkeit […] sinnvoll.“ 16 Vgl. Veijola, Segen/Segen und Fluch, 76: „Segen und Fluch sind nach dem alttestamentlichen Verständnis grundsätzlich performative Sprachhandlungen, die das bewirken, was sie aussagen.“ 17 Heckel, Segen im Neuen Testament, 316. Hervorhebungen im Original.

Die Bedeutung des Segens für die Praxis evangelischer Spiritualität

3.

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Segen aus evangelischer Perspektive

Ein evangelisches Segensverständnis kann beim Beziehungsbegriff ansetzen, wird dabei aber das vorausgehende Handeln Gottes betonen. „Die Eigentümlichkeit der Beziehungen beim Segensakt ist die, daß der/die Segnende wohl Subjekt des Sprechaktes, nicht aber Subjekt des gesprochenen Satzes ist. Der/die Sprechende tritt gerade in, mit und durch den gesprochenen Satz hinter das intendierte Geschehen zurück. Der/die Gesegnete wird persönlich angesprochen. Aber es geht hier nicht – wie beim Wunsch – um die Beziehung des wünschenden Menschen mit der angesprochenen Person, sondern um die Beziehung der Person Gottes mit der angesprochenen Person.“18

Der Segen kommt von Gott, der der Schöpfer, Erlöser und Vollender des Lebens ist. Die Menschen verfügen nicht über den Segen, und indem sie um ihn bitten und ihn anderen Menschen zusprechen, verweisen sie darauf, dass der Mensch sein Schicksal nicht selbst in der Hand hat, sondern auf die freundliche Zuwendung Gottes angewiesen ist. Der Segen erinnert damit an die für das Menschsein konstitutive Bezogenheit auf ein Du, darauf, dass sich die Schöpfung nicht sich selbst verdankt.19 In Zeiten der scheinbaren Machbarkeit aller Dinge hilft das Angewiesensein auf den Segen zu einer realistischen Selbstsicht und entlastet damit von dem (spät-)modernen Druck der permanenten Selbstoptimierung, die durch eine stetige Anhäufung und Ausbeutung fremder und eigener Ressourcen gekennzeichnet ist.20 Wie bei den biblischen Erläuterungen ersichtlich wurde, ist Segen ein ganzheitlicher Begriff, dessen Weite mit dem biblischen Wort Schalom wiedergegeben werden kann und der im Neuen Testament neben seiner schöpfungstheologischen Verankerung christologisch – und damit auf das Heil der Welt bezogen – akzentuiert wird. Wohl und Heil sind beide im Segensbegriff enthalten und müssen weder vom biblischen Befund noch von evangelischer Theologie als Alternativen gesehen werden. Wenn „die vier Grundwirkungen des Segens […] Heilung, Stärkung, Schutz, Gemeinschaft, insgesamt Leben im Schalom“21 umfassen, ist solch ein ganzheitliches Verständnis des Segens – wie bereits angedeutet – offen für eine trinitarische Bestimmung. Dieser trinitätstheologischen Spur folgt auch Ulrike Wagner-Rau in ihrem Buch „Segensraum“. Sie unterscheidet – in Anlehnung an Dorothea Greiners systematisch-theologische Grundlegung eines evangelischen Segensverständ18 Greiner, Segen und Segnen, 45. Im Original kursiv. 19 Vgl. Hildebrandt, Segen/Segen und Fluch, 89: „Segen verweist auf ein Verständnis des Menschen, das ihn im gnadenhaften Extra nos der Rechtfertigung begründet sieht – entgegen der (neuzeitlichen) Behauptung der Selbstkonstitution des Menschen.“ 20 Vgl. zu diesem Fragenkomplex den soziologischen Entwurf von Rosa, Resonanz. 21 Greiner, Segen und Segnen, 145. Im Original kursiv.

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nisses – drei theologische Dimensionen des Segens, die das bisher Erörterte entfalten und für eine evangelische Segenstheologie und -praxis wegweisend sind: a) Eine erste Dimension ist nach Wagner-Rau das Konstituieren von Beziehung – und zwar in doppelter Weise: Das Segnen stellt sowohl eine Beziehung zwischen der segnenden und der gesegneten Person her als auch eine Beziehung zwischen Gott und Mensch.22 Beim Segnen – insbesondere bei der Einzelsegnung in Gottesdienst und Seelsorge – kommt man sich als Personen sehr nahe. Erfahrungen in der Thomasmesse zeigen, dass sich Menschen auch deshalb segnen und salben lassen, weil sie in ihrer Einsamkeit selten eine zärtliche, wohlwollende Berührung erfahren. Das sollte man respektieren und nicht zu schnell gegenüber der Gottesbeziehung abwerten. Wenn sich durch die Intensität der segnenden menschlichen Berührung Blockierungen lösen und Tränen fließen, kann dies sowohl psychologisch erklärt als auch spirituell gedeutet werden.23 Über die menschliche Beziehung hinaus, die durch den Segensakt gestiftet wird, ist es der Gottesbezug, der den Segen theologisch gegenüber anderen zwischenmenschlichen Beziehungsweisen qualifiziert. Diese Bindung an das göttliche Du ist verlässlich und wirkmächtig, da sie von Gottes Seite her konstituiert und gehalten wird. Dass der Segen wirkt, darin sind sich sowohl die biblischen Schriften als auch die Empfänger und Empfängerinnen des Segens einig. Auf den biblischen Wortrealismus, der heute häufig mit Überlegungen der angelsächsischen Sprechakttheorie in Beziehung gesetzt wird, ist schon verwiesen worden.24 Aber nicht nur in der theologischen Theorie, sondern auch in der spirituellen Praxis wird die Wirksamkeit des Segens betont. In ihrer empirischen Untersuchung zum evangelischen Gottesdienst weist Uta Pohl-Patalong auf die große Bedeutung des Segens für die am Gottesdienst teilnehmenden Personen hin. Der Segen gilt für viele Teilnehmende als „unverzichtbares Element des Gottesdienstes“, er wird – um nur die wichtigsten Erfahrungen und Deutungen zu nennen – als „Wirkung im Alltag“ beschrieben, als „Stärkung“, „Gemeinschaftserlebnis“, „Zuspruch der Gegenwart Gottes“ oder „Schutz“.25 b) Die zweite Dimension des Segens wird von Ulrike Wagner-Rau als Zuwendung Gottes und Freisetzung zum Leben überschrieben. „Im Segen wendet sich Gott seiner Schöpfung freundlich zu, ist in ihr präsent in allem, was das Leben trägt, erhält und fördert. […] Er ist erkennbar in allem, was das Leben 22 Wagner-Rau, Segensraum, 157. 23 Vgl. Eschmann, Zweifler, 223. Zur psychologischen Sicht auf das Segnen vgl. Wagner-Rau, Unverbrüchlich angesehen, 205–207. 24 Zur Sprechakttheorie vgl. die immer noch lesenswerte Schrift von Austin, Words, und Grözinger, Sprache, bes. 197–209. 25 Pohl-Patalong, Gottesdienst, 161–167. Es ist bemerkenswert, wie der empirische Befund den biblisch-theologischen Bestimmungen des Segens gleicht.

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grundlegend erhält wie Nahrung, Kleidung, Behausung, Gesundheit.“26 Auch wenn dem Menschen Arbeit und Mühsal nicht erspart bleiben und er in vielem selbst für sein Leben sorgen muss, hängen Gelingen und Erfüllung des menschlichen Daseins letztlich an Gottes Segen. „An Gottes Segen ist alles gelegen“, wird diese Einsicht in ein Sprichwort gefasst. In ähnlicher Weise beginnt der 127. Psalm programmatisch: „Wenn der Herr nicht das Haus baut, so arbeiten umsonst, die daran bauen. Wenn der Herr nicht die Stadt behütet, so wacht der Wächter umsonst.“ Wer für sein Leben erkennt, dass Glück und Gelingen nicht aus den eigenen Ressourcen heraus garantiert werden können, sondern auf Gottes Segen angewiesen sind, wird dankbar für sein Wohlergehen. Diese zweite Segensdimension der Zuwendung Gottes und Freisetzung zum Leben darf allerdings nicht zu einlinig schöpfungstheologisch interpretiert werden, wie dies bei einer zu starken Trennung von segnendem und rettendem Handeln bisweilen geschehen ist. Sie umgreift – wie bereits in der biblischen Analyse formuliert wurde – auch die geschichtliche Dimension des Lebens. Segen „konstituiert nicht nur das Leben, ist nicht nur Schöpfungssegen, sondern Segen erhält auch das Leben in seiner Geschichte und schenkt ihm Zukunft. Insofern verbindet der Segen Schöpfung und Geschichte.“27 Menschen erkennen im Rückblick dankbar, dass sie – was ihr Wohl und was ihr Heil betrifft – in die gute Geschichte Gottes mit seiner Welt von der Schöpfung bis zur Vollendung mit hineingenommen sind. c) Nun machen Menschen nicht nur die Erfahrung gelingenden Lebens, sondern auch des Unheils, des Versagens und Scheiterns. Das lässt eine Dimension des Segens in den Blick kommen, die Wagner-Rau unter die paulinische Überschrift stellt: „Nichts kann uns trennen von der Liebe Gottes.“28 Es ist die rechtfertigungstheologische Dimension des Segens, in der das segnende Subjekt, Gott, seine Zuwendung auch bei Schicksalsschlägen und menschlichem Scheitern nicht versagt. Diese dritte Dimension ergänzt die zweite Dimension des gelingenden Lebens angesichts der Ambivalenz allen Lebens. Gerade im Kontext einer evangelischen Segenstheologie darf dies nicht vergessen werden. Martin Luther unterschied auf dem Hintergrund seiner theologia crucis zwei Weisen des Segens: den leiblichen und geistlichen Segen. „Während der leibliche oder irdische Segen die lebensweltlichen Dimensionen entfaltete, zielte der geistliche oder himmlische Segen auf das menschliche Heil und ewige Leben.“29 Eine solche Differenzierung innerhalb des Segensverständnisses scheint mir gerade angesichts der gegenwärtigen gesellschaftlichen Diesseitsorientierung mit ihrem Er26 27 28 29

Wagner-Rau, Segensraum, 160. A. a. O., 161. A. a. O., 166. Hervorhebungen im Original. Spehr, Segenspraxis, 153.

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folgsdenken und ihren Optimierungsfantasien wichtig und entlastend zu sein. Freilich müssen leiblicher und geistlicher Segen aufeinander bezogen bleiben, damit es zu keiner Abwertung der schöpfungstheologischen Segensdimension kommt oder gar zu Segensdeutungen, die das Alte Testament abwerten oder antijudaistische Tendenzen haben.30 Ein trinitarisches Verständnis des Segens hilft an dieser Stelle ungute Alternativen zwischen Schöpfung, Versöhnung und Vollendung bzw. Heiligung zu vermeiden. Zusammenfassend kann mit Ulrike Wagner-Rau formuliert werden: „Der Segensraum ist aus der Beziehung heraus gehaltener und haltender Raum und zugleich begrenzender Raum. Wo mit dem Gegenüber Gottes gerechnet wird, müssen Menschen sich nicht selber zu Gott machen, denn sie finden an diesem Gegenüber ihre Grenzen und die Bejahung ihrer Unvollkommenheit. Nicht nur das Gelungene, Heile, Freudige, Liebevolle findet Raum in einer Lebensgeschichte, die gesegnet und im Licht der Verheißung des Segens gedeutet wird, sondern auch das Fragmentarische und Traumatische, das Gescheiterte und das Verlorene und mit ihnen die Wut, die Trauer und die Schuld.“31

Auf dem Hintergrund der Kreuzestheologie, die auch die Gebrochenheit des Lebens in den Segen zu integrieren vermag, ist es theologisch angemessen, im Zusammenhang mit dem Segen auch vom „Sinn“ zu sprechen. „Ein ‚gesegnetes Leben‘ ist die von der Bibel her gewiesene Antwort auf die Frage nach dem Sinn des Lebens.“32 Durch die trinitätstheologische Zuordnung von irdischem Schöpfersegen, christologisch zentriertem geistlichen Segen und eschatologischer Hoffnung bekommen das ganze menschliche Leben und die Geschichte der Welt eine sinnvolle Perspektive, ohne dass Leid- und Schulderfahrungen ausgeblendet werden müssen.

4.

Zur Wirkung des Segens und zur Frage von Macht und Magie

Der Praktische Theologe Manfred Josuttis hatte sich in neuerer Zeit auf geradezu programmatische Weise mit der Wirkmacht des Segens beschäftigt. Von einem phänomenologischen Ansatz her beschreibt er das Segnen als einen wirksamen

30 Vgl. dazu die Diskussion bei Greiner, Segen und Segnen, 242–249; Frettlöh, Theologie, 91– 133. 31 Wagner-Rau, Segensraum, 172. 32 Hildebrandt, Segen/Segen und Fluch, 91. Ähnlich Rosenau, Segen, 179: „Ein gesegnetes Leben ist ein sinnvolles Leben – ein Leben dagegen, das sich selbst als sinnlos wahrnimmt, ist ein ungesegnetes Leben.“ Kritisch zur Sinnthematik äußert sich dagegen Josuttis, Segenskräfte, 94–107, der die theologischen Grenzen der Rede vom Sinn des Lebens aufzuzeigen versucht und dabei den Segen über den Sinn stellt.

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und erfahrbaren Energiefluss, der mehrdimensionale Auswirkungen auf den Menschen hat: „Segenskraft fließt von der Gottheit her. All diese Vorgänge kann man körperlich spüren. […] Beim Segnen fließt göttliche Lebenskraft durch einen menschlichen Leib hindurch und beeinflusst andere. […] Sie kommt nicht aus den segnenden Menschen, sondern vom Göttlichen her, und sie ist nicht auf das Leben im Diesseits beschränkt, sondern stärkt auch für den Weg in die andere Welt. Durch die Kombination mit dem göttlichen Namen, mit Wort und Sakrament gewinnt das Segnen eine eschatologische Kraft, die die Dimension von irdischer Lebenssteigerung weit überschreitet.“33

Auch bei Josuttis liegt ein trinitarisches Verständnis des Segens zugrunde, wenn er leibliche, sakramentale und eschatologische Dimensionen im Segen entdeckt. Sein Interesse ist aber weniger ein theoretisch-theologisches, als vielmehr ein ganz praktisches: Wie können Menschen dafür vorbereitet werden, Segen zu spenden und zu empfangen? Welche Formen der Präparation bedarf es, damit Segen wirksam wird? Ist das Segnen an ein bestimmtes Amt gebunden? An dieser Stelle ist in der Argumentation von Josuttis eine Ambivalenz zu spüren, die die zwei Seiten des Segens als göttliche Gabe und menschliches Handeln widerspiegeln. Auf der einen Seite stellt Josuttis grundsätzlich fest, dass auf dem Hintergrund der biblisch-reformatorischen Einsichten zur Rechtfertigung ohne Werke und zum allgemeinen Priestertum das Segnen nicht an besondere menschliche Leistungen geknüpft und auch nicht einem bestimmten Kreis von ordinierten oder geweihten Hauptamtlichen vorbehalten werden darf. Andererseits bedarf es nach Josuttis der spirituellen Praxis, um für das Segnen vorbereitet zu sein. Der Besuch des Gottesdienstes, der Empfang des Abendmahls, das Gebet, das Meditieren der Heiligen Schrift oder auch Leibübungen wie das Kreuzeszeichen präparieren für den Akt des Segnens. Gelerntes Wissen oder theologische Reflexion allein reichen nach Josuttis nicht aus, vielmehr ist der Kontakt zur Quelle des Segens vonnöten. „An die Stelle einer ‚Theologie des Segens‘, die man als Theologe und Theologin im Kopf gespeichert hat, muss man […] um jene Geistesgegenwart bitten, die im zwischenmenschlichen Kontakt göttliche Lebenskraft fließen lässt.“34 Im Hinblick auf spürbare Wirkungen des Segens und die Vollmacht der Segnenden ist auf zwei mögliche Gefahren hinzuweisen: Zum einen darf die Wirkung des Segens nicht zu stark an den spürbaren Phänomenen gemessen oder gar auf sie begrenzt werden. Alles Ausbleiben dieser Erfahrungen würde dann als Wirkungslosigkeit des Segens gedeutet werden. Josuttis merkt zu Recht an, dass der Segensakt „in einer Handlung besteht, die bewusstseinszugängliche 33 Josuttis, Handwerk, 167f. 34 Josuttis, Handwerk, 175. Zur grundsätzlichen Kritik an dem energetischen Ansatz von Josuttis vgl. Klessmann, Energetik und Hermeneutik.

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und unbewusst bleibende, kurzfristige wie langwährende Wirkungen auslöst“.35 Der Friede Gottes bleibt, auch was die körperliche und seelische Erfahrbarkeit angeht, „höher als alle Vernunft“ (Phil 4,7) und Erfahrung. Die zweite mögliche Gefahr liegt im Umgang mit der Macht. Personen, die segnen, sollten sich mit der Frage nach der Macht und deren Missbrauch auseinandersetzen. Bei einem heilvollen Umgang mit Macht geht es nie um die Herrschaft über andere Menschen, sondern um eine Ermächtigung des Gegenübers. Menschen, die sich im Kontext von Krankheit und schweren Lebenssituationen segnen lassen, sind verletzlich. Deshalb sind beim Segen Sensibilität und ein behutsames Vorgehen angebracht.36 Eine weitere evangelische Differenzierung ist die zwischen Segen und Magie. Auch wenn dem Segen im Alten Testament – insbesondere in den Vätergeschichten – eine Selbstwirksamkeit zugeschrieben wird,37 muss er aus evangelischer Perspektive von einem magischen Verständnis deutlich abgesetzt werden. „Entgegen magischer Vorstellungen, die Segen und Fluch als aus sich selbst heraus wirksame Machtsphären behaupten, wird Gott als Quelle und Herr des Segens geglaubt und die Lebenskraft des Segens an Gott zurückgebunden. Der Segen kommt von Gott her und führt zu ihm.“38 Es ist die Dimension der Beziehung im Segensgeschehen, die – bei aller Betonung des biblischen und performativen Wortrealismus – eine magische Deutung unmöglich macht. Beim Segnen müssen Gottes Freiheit und seine Bindung an seine Verheißungen zusammengedacht werden. „Der Mensch kann Gott zwar nicht befehlen, ihn zu segnen, aber im Segen nimmt er Gottes Versprechen in Anspruch.“39 Dass das Gesegnet-Werden einerseits kein Automatismus ist, der sich unabhängig vom gesegneten Menschen vollzieht, dass andererseits die Realität des Segens aber auch nicht auf die Rezeption durch die gesegnete Person zu reduzieren ist, darauf weist Michael Meyer-Blanck in seiner semiotischen Interpretation des Segens hin. Nach semiotischem Verständnis ist die Segenshandlung als ein „dreistelliges Zeichen aufzufassen: Der Interpret (sei dies der Segnende, der Gesegnete oder ein Beobachter) realisiert im leiblich-verbalen Zeichen Segen die Segensrealität der kirchlichen Gemeinschaft, indem er sie wiederum aktuell zum Zeichen werden lässt, das diese Realität neu begründet, schafft, verändert.“40 In 35 Josuttis, Handwerk, 171. 36 Vgl. zur Machtfrage die Studie von Stortz, PastorPower, in der die Macht im religiösen Bereich untersucht und Hilfestellungen für einen konstruktiven Umgang mit Macht im Raum der Kirche gegeben werden. 37 Vgl. Leuenberger, Segen im Alten Testament, 58; ders., Segenstheologien im alten Israel, bes. 482–486, wo sich Leuenberger für eine Rehabilitierung der „Selbstwirksamkeit und magische[n] Funktionsweise von Segensvollzügen“ ausspricht. 38 Hildebrandt, Segen/Segen und Fluch, 89. 39 Wagner-Rau, Unverbrüchlich angesehen, 190. 40 Meyer-Blanck, Segen, 327.

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theologischer Terminologie gesprochen, wirkt der Segen nicht ex opere operato, aus dem bloßen Vollzug der Handlung heraus, sondern im Glauben, der aber wiederum kein bloß subjektives Konstrukt ist, sondern durch die Wirklichkeit dessen, worauf der Glaube bezogen ist, konstituiert wird. Wichtig ist dabei, dass der Glaube weder subjektivistisch noch intellektualistisch missverstanden wird, so als ob der Segen nur das bewirken könne, was ich von ihm weiß, denke oder ihm auf andere Weise zuschreibe. Denn dann wäre der Segen gerade bei denen, die in besonderer Weise auf ihn angewiesen sind, eingeschränkt: bei Kindern, schwerstbehinderten oder sterbenden Menschen. Gott wirkt auch und gerade im Segen „über Bitten und Verstehen hinaus“ (Eph 3,20).

5.

Praktische Aspekte der Segnung

Aus dem bisher zum Verständnis des Segens Formulierten können nun auch Konsequenzen für eine evangelisch akzentuierte Praxis der Segnung gezogen werden. Auf dem Hintergrund eines ganzheitlichen, trinitätstheologischen Verständnisses des Segens ist die Frage, in welchen Situationen eine Segnung angemessen ist, mit großer Weite zu beantworten: „Der Segen ist nicht an einen spezifischen Kontext gebunden, sondern er kann auf allen Ebenen der religiösen Praxis seinen Ort finden. Er ist ein Ritual des Alltags ebenso wie des Sonntags. Er wird im privaten Leben der Menschen gespendet und ebenso im öffentlichen Gottesdienst.“41 Ganz selbstverständlich wird – zumindest in religiösen Kontexten – beim Geburtstag Gottes Segen gewünscht und vor Mahlzeiten Gottes Segen erbeten. Viele Grußformeln leiten sich von Segenswünschen her, (irische) Reisesegen erfreuen sich großer Beliebtheit, ebenso Segnungsgottesdienste zum Schulanfang. Der Segen hat Platz im sonntäglichen Gottesdienst, in den Kasualien, in der Seelsorge – insbesondere im Zusammenhang mit Krankheit, Heilung und Lebensende – oder auch in Feiern, die mit der Übernahme eines kirchlichen Amtes verbunden sind. Schaut man auf diese Segensfülle, wird auf der einen Seite deutlich, dass beim Thema Segen der Mensch „in seinem ganzheitlichen, leibseelischen Wohlergehen wahrgenommen wird, das alle seine Lebensverhältnisse einschließt“.42 Andererseits sind es besonders die Schwellensituationen, die die Ungesichertheit und Gebrochenheit des menschlichen Lebens spürbar werden lassen, in denen Segnungen ihren Raum haben. Kontexte, in denen sich eine Segnung aus theologischen Gründen verbietet, können dagegen nur solche Situationen oder Wünsche sein, die der Intention des Segens, nämlich „Heilung, 41 Wagner-Rau, Unverbrüchlich angesehen, 192f (Hervorhebungen im Original). 42 Leuenberger, Grundthema, 11.

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Stärkung, Schutz, Gemeinschaft, insgesamt Leben im Schalom“43 (Dorothea Greiner) zu bewirken, entgegenstehen.44 Und natürlich gilt gerade in Zeiten, die durch ein Erfolgs- und Machbarkeitsdenken bestimmt sind, die Einschränkung, auf die Dorothea Greiner hinweist: „Nicht jede Sehnsucht kann durch den Segen erfüllt werden, vor allem solche Sehnsüchte nicht, die den Menschen seiner Endlichkeit und Sterblichkeit und darin auch eines wesentlichen Teiles seines Menschseins berauben. Segen hilft zum Leben als Mensch.“45 Kontrovers wird die Frage diskutiert, ob – analog zur Rede von der „billigen Gnade“ (Dietrich Bonhoeffer) – auch von einem „billigen Segen“ gesprochen werden kann, also dass eine Segnung unter Umständen verweigert werden muss, wenn bei der gesegneten Person kein dem Segenswunsch entsprechender Lebenswandel sichtbar wird. Die Bindung des Segens an ein bestimmtes Verhalten des Menschen vor allem in der deuteronomistischen Tradition könnte dies nahelegen. Die Problematik löst sich auf, wenn der Segen als ein mehrdimensionales Beziehungsgeschehen verstanden wird, in das die Quelle des Segens, Gott, die segnende und die gesegnete Person eingebunden sind. Der Beziehungsaspekt wehrt der Vorstellung eines unangemessenen und unpersönlichen Segensautomatismus. In diesem Sinne kann mit Martin Leuenberger formuliert werden: „Eine christliche Segenstheologie wird daher eine eigentliche Konditionierung durch Gebots- oder Gesetzesgehorsam à la dtn-dtr. Tradition vermeiden. Dadurch droht keineswegs ein ‚billiger Segen‘ […], sofern die oben erörterte Situationsgebundenheit zum Tragen kommt, die eine situationssensitive personale Kommunikation des Segens gewährleistet“.46

Die Frage, wer zum Segnen berechtigt ist, kann mit dem Hinweis auf das evangelische Verständnis des Priestertums aller Glaubenden dahingehend beantwortet werden, dass es keines besonderen kirchlichen Amtes zum Segnen bedarf. An dieser Stelle ist es aber sinnvoll, zwischen den verschiedenen Situationen zu unterscheiden, in denen gesegnet wird. Beim Grüßen, Verabschieden, beim Gebet vor einer Mahlzeit oder in anderen alltäglichen, zwischenmenschlichen und familiären Kontexten sind die Anforderungen an die segnenden Personen entsprechend gering. Im liturgischen Vollzug des öffentlichen Gottesdienstes sollte auf eine „offizielle Beauftragung und verantwortungsvolle Ausübung der 43 S. Anm. 21. 44 Zu der sensiblen Frage, wann eine Segnung zu verweigern ist, vgl. Frettlöh, Theologie, 378: „Zielt Gottes Segnen ursprünglich darauf, daß geschöpfliches Leben gefördert wird und sich in einer Schöpfungsgemeinschaft aller Lebewesen voll entfalten kann, dann fallen zwischenmenschliche Segenshandlungen dort aus der Entsprechung zu Gottes Segenswillen heraus, wo es um die Absegnung von Verhältnissen geht, die ein Leben, in dem alle Genüge haben können, gefährden, behindern und ersticken.“ 45 Greiner, Segen und Segnen, 207. Im Original kursiv. 46 Leuenberger, Segenstheologien im alten Israel, 477.

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liturgischen Funktion im Gottesdienst“47 geachtet werden. Bei Einzelsegnungen im Rahmen der Seelsorge oder in speziellen Segnungsgottesdiensten und in Kasualzusammenhängen ist besonders auf die angemessene persönliche Vorbereitung der segnenden Person hinzuweisen. Segnen will gelernt sein.48 Neben spirituellen Aspekten weist Dorothea Greiner in diesem Zusammenhang auch auf persönlichkeitsbezogene, psychologische Voraussetzungen bei den segnenden Personen hin: „Die ‚in-Beziehung-setzende-Funktion‘ [beim Segnen, HE] wird erschwert, wenn die segnende Person an einer narzißtischen, religiösen oder sozialen Störung ihrer Bezüge leidet […]. Ganz bei sich sein und doch sich selbst loslassen – in dieser Paradoxie steht der Selbstbezug der segnenden Person.“49

Wichtig scheint mir in diesem Zusammenhang auch noch der Hinweis, dass auch die sozialethischen Implikationen beim Segnen nicht vergessen werden dürfen. Das Segnen darf nicht spiritualistisch oder individualistisch gegen andere Formen der Lebenshilfe ausgespielt werden. „Ein Segen für andere zu werden, erschöpft sich nicht darin, ihnen den Segen Gottes zuzusprechen. Wirksames Segnen verbindet sich mit einer Lebensgestaltung, die den Gesegneten diesen Segen auch gönnt und darum für eine gerechte Verteilung der Segensgüter Sorge trägt“.50

Gibt es für den Kreis der segnenden Personen aus evangelisch-theologischer Sicht nur wenig Ausschlusskriterien, so gilt dies erst recht für die den Segen empfangenden Menschen. Im gottesdienstlichen Zusammenhang empfangen alle am Gottesdienst teilnehmenden Personen den Segen. Bei einer Einzelsegnung ist es selbstverständlich, dass die gesegnete Person ihre Einwilligung zur Segnung geben sollte, damit es zu keiner übergriffigen Handlung kommt. Wo diese Einwilligung nicht gegeben werden kann, etwa bei komatösen oder sterbenden Menschen, ist von der bisherigen Lebenseinstellung des betreffenden Menschen auszugehen. Weiter ist die den Segen empfangende Person hinreichend über die Bedeutung des Segens als eines Beziehungsgeschehens zwischen Gott und Mensch zu unterweisen, damit falsche Vorstellungen und unrealistische Hoffnungen beim Segensakt vermieden werden. Sowohl die segnenden als auch die gesegneten Personen müssen damit umgehen lernen, dass die Wirkung des Segens nicht gleichzeitig mit der Segnung eintreffen muss. Die Wirksamkeit des Segens „ist manchmal sofort offensichtlich, aber hat auch in vielen Fällen eine

47 Heckel, Segen im Neuen Testament, 362. 48 Vgl. Greiner, Segen und Segnen, 360: „Segnen ist ein elementarer Grundvollzug religiöser Religionsausübung, der als Sprach- und Symbolakt lernbar ist, ebenso wie das Beten.“ 49 Greiner, Segen und Segnen, 69. 50 Vgl. Frettlöh, Theologie, 379.

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lange Latenzzeit, die nur durch vertrauendes Hoffen überbrückt werden kann, das durch den Segen selbst mitgewirkt wird.“51 Der den Segen empfangende Mensch befindet sich in der Haltung des Beschenkten, er ist „Empfangender in aktiver Passivität“,52 was impliziert, dass keine bestimmte Haltung oder Gebärde für den Segensempfang – wie etwa das Knien oder Stehen – vorgeschrieben ist. Gleichwohl ist die leibliche Dimension bei der Segnung nicht zu vernachlässigen. Segnen ist sprachlich und im praktischen Vollzug mit Zeichenhandlungen verbunden. „Das deutsche Wort ‚segnen‘ geht auf das lateinische signare zurück und bezeichnet ursprünglich die Signatur mit dem Kreuzeszeichen.“53 Die Segenshandlung kann durch entsprechende Gesten und Gebärden an Eindrücklichkeit und Sinnenfälligkeit gewinnen. Das Handauflegen, das Bezeichnen mit einem Kreuz auf der Stirn oder den Handflächen oder auch das mit dem Segen manchmal verbundene Salben sind zugleich sichtbarer und spürbarer Ausdruck der Zuwendung Gottes und dichte zwischenmenschliche Erfahrungen beim segnenden und beim gesegneten Menschen. Hier ist Sensibilität für das richtige Verhältnis von Distanz und Nähe bei der Segnung vonnöten.54 In der Reutlinger Thomasmesse wurden die Menschen zum Beispiel in der Regel danach gefragt, was sie dazu bewegt, sich im Gottesdienst segnen und salben zu lassen. In diesen kurzen Gesprächen vor der Segenshandlung begegnet die ganze Welt menschlicher Sorgen und Ängste. Es geht häufig um Krankheit und Trauer, oft um zerbrochene Beziehungen, aber auch um Schulversagen oder um das Gefühl der Gottverlassenheit. Die Informationen können sowohl eine Hilfe beim Formulieren der Gebete und Segensworte sein als auch zu einem angemessenen Umgang mit Nähe und Distanz in der konkreten Situation verhelfen.55 Um der den Segen empfangenden Person willen ist bei der Einzelsegnung – sowohl im seelsorglichen Kontext als auch im gottesdienstlichen Raum – auf einen geschützten Rahmen zu achten, der neugierige Blicke oder ein Mithören des Gesagten möglichst vermeidet. Anders ist es bei Segnungen im Zusammenhang mit einer öffentlichen Beauftragung im Raum der Kirche oder bei Kasualien in einem gottesdienstlichen Zusammenhang. Hier ist die Sichtbarkeit der Handlung geradezu geboten.56

51 52 53 54

Greiner, Segen und Segnen, 199. Im Original kursiv. A. a. O., 175. Ebach, Klangraum, 332. Zur Bedeutung von Segensgesten vgl. u. a. Jeggle-Merz, Segensfeiern, 19f, Kabel, Liturgische Präsenz, bes. 149–178, Bieritz, Liturgik, bes. 217–232. 55 Anders Rink, Segnungsgottesdienst, 35, die davon abrät, einen Menschen vor der Segnung nach einem Anliegen zu fragen. 56 Vgl. Albrecht, Kasualtheorie, bes. 152–194.

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Die Formulierungen, die bei Segnungen Verwendung finden, können – je nach Kontext – vom Wortlaut her sehr verschieden sein.57 Besonders im gottesdienstlichen Zusammenhang ist in den letzten Jahren eine zunehmende Fülle unterschiedlicher Segensworte zu beobachten, nachdem der von den Reformatoren empfohlene aaronitische Segen (Num 6,24–26) lange Zeit in der evangelischen Tradition eine „monopolartige Stellung“58 innehatte. Da es beim Segnen in besonderer Weise auf das Zusammenspiel von Wort, Ausdruck und Haltung der segnenden Person ankommt, sollte der Segen möglichst nicht abgelesen, sondern frei gesprochen werden. Angesichts der Entwicklung hin zu immer längeren und blumigeren Segensformulierungen – nicht zuletzt durch die Verwendung irischer Segenssprüche – hat auch hier das Oxymoron „Weniger ist mehr“ seine Berechtigung.59 Umstritten ist die Frage, ob auch eine Segnung von Gegenständen zulässig ist. Während die exegetische und systematisch-theologische Literatur eine Segnung von Objekten eher ausschließt, weisen kirchengeschichtliche und praktischtheologische Zugänge auf die seit dem 1. Jh. nach Christus bestehende Praxis der Realbenediktionen hin.60 Auch in dieser Frage hilft die mit der Segnung verbundene Dimension der Beziehung zwischen Gott und Mensch weiter. Eine Segnung von Objekten wird aus evangelischer Perspektive möglich, wenn diese Gegenstände im Zusammenhang des segnenden Handelns Gottes gesehen und in die Gottesbeziehung integriert werden. Dann rückt der materiell-dingliche Aspekt zugunsten des Glaubens in den Hintergrund. „Werden bei Einweihungshandlungen Dinge gesegnet, so geht es darum, durch das Segnen die Dinge in diese vertrauensvolle Beziehung zu Gott mit hineinzunehmen und solchen Segen in der begleitenden Ansprache als solches ‚In-Beziehung-Setzen‘ zu deuten.“61

57 Zu Segensformulierungen im Neuen Testament und in der Kirchengeschichte vgl. u. a. Obermann, Gottes Segen; Frör, Benediktionen. 58 Cornelius-Bundschuh, Segen/Segen und Fluch, 95. 59 Steffensky, Haus, 29, schreibt im Blick auf manche neuere Segensformulierung: „Ich brauche einen Gestus und ein Wort, das ich kenne, das sich schon oft wiederholt hat, mit dem ich meine Erfahrung habe und das mir nicht die Mühe der Bewußtheit abverlangt.“ 60 Vgl. dazu exemplarisch aus exegetischer und systematisch-theologischer Sicht Obermann, Gottes Segen, 105; Heckel, Segen im Neuen Testament, 370; Rosenau, Segen, 174; aus kirchengeschichtlicher und praktisch-theologischer Perspektive Spehr, Segenspraxis, 147; Grethlein, Benediktionen, 551. An dieser Stelle ist auch ein konfessioneller Unterschied festzustellen, vgl. Steffensky, Haus, 36: „Protestantische Segnung heißt, Menschen in die rettende Rechtfertigung in Christus geben. Katholisch-jüdischer Segen ist der Zuspruch des gelingenden Lebens in seiner ganzen Materialität.“ 61 Greiner, Segen und Segnen, 129 (Im Original kursiv), ähnlich auch Grethlein, Benediktionen, 551.

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Holger Eschmann

Die Betonung des Beziehungsaspekts wehrt einem magischen (Miss-)Verständnis bei Realbenediktionen. Nach all diesen praktischen Einzelfragen sollen am Schluss poetische Worte zum Segen stehen, die die konfessionelle Perspektive überschreiten: „Der Segen ist der Ort höchster Passivität. Es ist der tiefste Ort des Nicht-Ich und des Ich. Es ist der Ort, an dem wir werden, weil wir angesehen werden; es leuchtet ein anderes Antlitz über uns als das eigene; es ist ein anderer Friede da als der mit Waffen erkämpfte und eroberte. Der Ausgang und der Eingang sind nicht von den eigenen Truppen bewacht, sie sind von Gott behütet.“62

Literatur Albrecht, Christian, Kasualtheorie. Geschichte, Bedeutung und Gestaltung kirchlicher Amtshandlungen, Tübingen 2006. Austin, John L., How to Do Things With Words, Oxford 1962. Bieritz, Karl-Heinrich, Liturgik, Berlin 2004. Bundschuh-Schramm, Christiane (Hg.), Ich will mit dir sein und dich segnen. Segensfeiern und Segensgesten, Ostfildern 1999. Cornelius-Bundschuh, Jochen, Art. Segen/Segen und Fluch, VI. Praktisch-theologisch, in: TRE, Bd. XXXI, 2000. Ebach, Jürgen, Das Alte Testament als Klangraum des evangelischen Gottesdienstes, Gütersloh 2016. Eschmann, Holger, „Ein Gottesdienst für Zweifler und andere gute Christen“. Vom Segen der Thomasmesse, in: Una Sancta 58 (2003/3), 216–224. Frettlöh, Magdalene L., Theologie des Segens. Biblische und dogmatische Wahrnehmungen, Gütersloh 31999. Frör, Kurt, Salutationen, Benediktionen, Amen, in: Müller, Karl Ferdinand/Blankenburg, Walter (Hg.), Leiturgia. Handbuch des evangelischen Gottesdienstes, Bd. 2, Kassel 1955, 569–596. Greiner, Dorothea, Segen und Segnen. Eine systematisch-theologische Grundlegung, Stuttgart/Berlin/Köln 21999. –, Art. Segen/Segnung, praktisch-theologisch, III. Evangelisch, in: RGG, Bd. 4, 42004. Grethlein, Christian, Benediktionen und Krankensalbung, in: Schmidt-Lauber, HansChristoph/Meyer-Blank, Michael/Bieritz, Karl-Heinrich (Hg.), Handbuch der Liturgik, Göttingen 32003. Grözinger, Albrecht, Die Sprache des Menschen, Ein Handbuch. Grundwissen für Theologinnen und Theologen, München 1991. Heckel, Ulrich, Der Segen im Neuen Testament, Tübingen 2002. Herberg, Helmut, Segen erfahren. Ein praktisches Begleitbuch für die Seelsorge im Krankenhaus, München 2000. Hildebrandt, Bernd, Art. Segen/Segen und Fluch, V. Dogmatisch, in: TRE, Bd. XXXI, 2000. 62 Steffensky, Haus, 29.

Die Bedeutung des Segens für die Praxis evangelischer Spiritualität

293

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Markus Schmidt

Salbung Eine neue Form evangelischer Spiritualität

1.

Theologie der Salbung

Die Salbung mit Öl ist ein Vermittlungszeichen. Als sinnenhafte, d. h. sinnlich erfahrbare Zeichenhandlung wird sie nach evangelischem Verständnis nicht als Sakrament definiert. Im Unterschied zu diesem, das aus lutherischer Sicht Christi Heil real repräsentiert und effektiv wirkt, was es verheißt, partizipiert die Salbung am sakramental vermittelten Heil und entfaltet dieses in konkreten Situationen.1 Daher ist die Zeichenhandlung der Salbung in den Sakramenten begründet und insbesondere von der Taufe als dem sakramentalen Grunddatum des individuellen Heils, das durch keine andere Handlung überholt werden kann, her zu interpretieren. Biblisch verankert ist die Salbung in neutestamentlichen Texten. Diese verstehen die Salbung einerseits als Bestandteil des heilenden Handelns der christlichen Gemeinde an Kranken, Schwachen und Sterbenden. Andererseits lassen sie eine tauf- und rechtfertigungstheologische Begründung erkennen.

1 Vgl. dazu Bilaterale Arbeitsgruppe, Communio Sanctorum, Nr. 83: Die lutherische Kirche unterscheidet verschiedene Segenshandlungen immer von „Taufe und Abendmahl und sieht sie zugleich auf Taufe und Abendmahl hingeordnet“. So auch die klassische Differenzierung der Apologie der Confessio Augustana, BSLK 293: „Darum ists wohl gut dieselbigen [Rituale: Konfirmation und Salbung] zu unterscheiden von den obangezeigten [Sakramenten], welche durch Gottes Wort eingesetzt und befohlen sein und ein angeheftete Zusage Gottes haben“. Vgl. dazu auch den kurzen und kenntnisreichen Beitrag von Alex Stock zu Luthers Ausführungen in De captivitate babylonica ecclesiae: Stock, Luthers „Letzte Ölung“.

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Salbung

1.1

Biblische Perspektiven

1.1.1 Jak 5,14f „Ist jemand unter euch krank, der rufe zu sich die Ältesten der Gemeinde, dass sie über ihm beten und ihn salben mit Öl in dem Namen des Herrn. Und das Gebet des Glaubens wird dem Kranken helfen, und der Herr wird ihn aufrichten; und wenn er Sünden getan hat, wird ihm vergeben werden.“

„Jak setzt eine Gemeindeverfassung voraus, die (neben ,Lehrern‘: 3,1f) eine Art geistlichen Fürsorge- bzw. Betreuungsdienst durch ein Kollegium von πρεσβύτεροι [Ältesten] kennt.“2 Das Gebet stellt hier eine seelsorgerliche Handlungsform dar. Der Autor beschreibt es genauer: Die Ältesten beten, indem sie die Hände auflegen3 und mit Öl salben, wobei sprachlich nicht näher bestimmt wird, ob „salben“ gleich- oder nachzeitig (oder gar vorzeitig) zu „beten“ zu verstehen ist.4 Durch das Partizip ἀλείψαντες (salbend) wird es näher bestimmt als ritueller Vollzug. Eine der Aufgaben des Ältestenkollegiums ist also das heilende Handeln, welches ein Gebetsdienst sein soll, der durch das Salben mit Öl rituellen Ausdruck gewinnt. „Das Gebet tritt nicht in Konkurrenz zum Öl, sondern führt dessen heilende Wirkung auf Gott zurück und grenzt die Salbung gegen einen magischen Missbrauch ab. Die Verbindung von Öl, Handauflegung und Gebet weist auf ein ganzheitliches Verständnis von Krankheit und Heilung hin, bei dem medizinische und religiöse Aspekte nicht zu trennen sind.“5

Anlass dieses Handelns sind Zustände der Schwäche bzw. Kraftlosigkeit durch Krankheit, die überwunden werden sollen. Missverstanden würde der Passus, wenn von einer Situation im Angesicht des unausweichlichen Todes ausgegangen würde oder jede Krankheit als Folge einer Sünde bzw. des Sündigens verstanden werden müsste.6 „Auffällig ist die soteriologisch anmutende Terminologie der Verben (σώζω [retten], ἐγείρω [aufrichten, auferwecken]). In Verbindung mit der Futur-Form ergeben sich zwei Interpretationsrichtungen: körperliche Wiederherstellung […] oder eschatologische Rettung.“7

2 Popkes, Brief des Jakobus, 342. 3 Zwar „wird eine Handauflegung in Jak 5,14 nicht ausdrücklich erwähnt, aber doch in der Formulierung angedeutet, da die Ältesten nicht einfach für den Kranken (τερί oder ὑπέρ), sondern über ihm (ἐπί) beten sollen“, Heckel, Segen im Neuen Testament, 342 (Hervorhebungen im Original). 4 Vgl. Popkes, Brief des Jakobus, 343. 5 Heckel, Segen im Neuen Testament, 343. 6 „Der ekklesial-sozial-therapeutische Aspekt von Sündenbekenntnis und Gebet wird betont“, a. a. O., 338. 7 A. a. O., 344f.

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Markus Schmidt

Ziel des Gebetsdienstes nach Jak 5 ist, dass Kranke aufgerichtet werden. Dabei ereignet sich im Fall von Schuld Vergebung. Kranke werden bestärkt in ihrer Zugehörigkeit zur Gemeinschaft der Glaubenden, erfahren sich als Angenommene und Versorgte. Die körperliche Heilung – die nicht automatisch versprochen wird – kann als Gabe des Herrn, in dessen Namen gesalbt wird, erkannt und empfangen werden, ebenso wie die ausbleibende Heilung nichts am Zustand der Gnade ändern kann. 1.1.2 Mk 6,12f „Und sie zogen aus und predigten, man solle Buße tun, und trieben viele böse Geister aus und salbten viele Kranke mit Öl und machten sie gesund.“

Mk 6 ist die einzige Stelle in den Evangelien, die von Krankensalbung spricht. Die summarisch geschilderte Praxis der Jünger verlängert das Heilungshandeln Jesu in den Jüngerkreis bzw. die Gemeinde (-leitung) hinein. Ob Jesus selbst mit Öl gesalbt oder zur Salbung beauftragt hat, ist unklar. Mindestens belegt diese Stelle, dass die Salbung im Vor- und Umfeld des Markus üblich war.8 Das Salben mit Öl stellt bereits einen Traditionsinhalt dar und ist als Ritual überliefert. Obwohl Öl auch eine medizinische Bedeutung hat (vgl. z. B. Jes 1,6; Lk 10,34), ist es hier nicht von seinem medizinischen Gebrauch her zu verstehen, sondern „knüpft symbolisch an die reinigende und heiligende Kraft des Öls (vgl. Ps 23,5; 89,21; 1Sam 16,1.13) an“,9 die in der alttestamentlichen Königstheologie und der darin verankerten Messiaserwartung wurzelt. So wird es im zeichenhaften Vorgang der Salbung zum Transportmittel der heilenden Kraft Jesu, die durch die Jünger bzw. die Gemeinde wirkt, als einer Kraft des anbrechenden Gottesreiches. 1.1.3 1Joh 2,20.27 „Doch ihr habt die Salbung von dem, der heilig ist, und habt alle das Wissen.“ „Und die Salbung, die ihr von ihm empfangen habt, bleibt in euch, und ihr habt nicht nötig, dass euch jemand lehrt; sondern wie euch seine Salbung alles lehrt, so ist’s wahr und ist keine Lüge, und wie sie euch gelehrt hat, so bleibt in ihm“.

Nach 1Joh 2 ist das χρῖσμα den Christen als Salbung gegeben und lehrt sie. Dieser Terminus ist als „Salbung“ oder „Salböl“ zu übersetzen und verbindet Vorgang und Materie des Salbens miteinander.10 Im vorliegenden Text verweist er aber auf 8 Vgl. Gnilka, Evangelium nach Markus, 240.242. 9 Schmithals, Evangelium nach Markus, 310. 10 Vgl. Schnelle, Johannesbriefe, 104f.

Salbung

297

den „bleibenden Effekt“, den Charakter des Gesalbtseins beim Gesalbten (vgl. dazu 2Kor 1,21f).11 Dies steht im Kontext der Unterscheidung der Geister: Angesichts der Auseinandersetzung mit Schismatikern formuliert 1Joh Unterscheidungskriterien zwischen Orthodoxie und Heterodoxie, was in den folgenden Passagen von der Taufunterweisung (Liebe üben, was in der vom Tod zum Leben führenden Liebe Gottes gründet; 1Joh 3) und vom Prüfen der Geister (anhand des Bekenntnisses zum menschgewordenen Gottessohn Jesus, den Gesalbten; 1Joh 4) expliziert wird. Weil Christen in der Taufe von Gott aus Gnade in den Herrschaftsraum Christi hineingenommen und durch den Geistempfang von der nichtchristlichen Welt unterschieden wurden, sollen sie sich durch ein christusgemäßes Leben in der Welt von der Welt unterscheiden und Unterscheidung üben. Trotz – oder wegen – seiner Bedeutung, die vom Zustand des Gesalbtseins, also der Zugehörigkeit zu Jesus, dem Gesalbten ausgeht, weist der Terminus χρῖσμα in 1Joh 2 direkt oder indirekt auf das Ritual der Salbung im Kontext von Taufe und Geistempfang zurück.12 Als Ritual schließt die Salbung die Taufe ab (so wie die griechischen Waschungen, die zur Teilnahme an einem griechischen Gastmahl befähigten, durch Salbungen abgeschlossen wurden)13 und verknüpft sie mit dem Empfang des Geistes. Es unterscheidet die Gesalbten als Glieder der Gemeinde (die zu ihrem Gastmahl, der Eucharistie, gewaschen und gesalbt, daher befähigt sind) von den Schismatikern. Es tritt für die Wahrheit gegen die Lüge ein und nimmt im Kontext des Prüfens bzw. Unterscheidens eine „noetische Funktion“14 wahr, indem es Wahrheitskenntnis bzw. -erkenntnis verleiht. Dass die Salbung mit Öl alles Wissen über den fleischgewordenen Gottessohn vermitteln und die geistliche Erkenntnisfähigkeit schenken soll, verweist auf ihre untrennbare Verbindung mit dem Geist Gottes. „Taufe, Geist und Chrisma müssen nach dem 1Joh unterschieden, können aber auch nicht getrennt werden; sie bilden eine wirkmächtige Einheit, ohne identisch zu sein.“15

1.1.4 Folgerung „Du bist das heilig Öle, / dadurch gesalbet ist mein Leib und meine Seele / dem Herren Jesus Christ zum wahren Eigentum, / zum Priester und Propheten, zum König, den in Nöten / Gott schützt vom Heiligtum“.16 11 12 13 14 15 16

Vgl. Klauck, Johannesbrief, 156f. Anders z. B. August Jilek, der χρῖσμα rein bildhaft versteht, ders., Taufe, 285. Vgl. Schnelle, Johannesbriefe, 105. A. a. O., 106. Ebd. Paul Gerhardt, in: EG 133,4.

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Markus Schmidt

Den drei biblischen Zeugnissen zufolge besitzt die Salbung trotz der unterschiedlichen Textgattungen und der unterschiedlichen theologischen Zusammenhänge, in denen von ihr gesprochen wird, eine gemeinsame Basis. Als zeichenhafte Handlung ist sie ekklesiologisch verankert. Sie dient der Ausbreitung des Reiches Gottes gemäß der Verkündigung und dem Handeln Jesu (Mk 6), sie versinnbildlicht den Status der Getauften in ihrer Unterschiedenheit von der Welt (1Joh 2) und wird als Handlung der Gemeinde(-leitung) praktiziert (Jak 5). Die Salbung als Zeichenhandlung ist demnach tauftheologisch zu verorten, indem sie eine Teilhabe am Reich Gottes vermittelt, das Wesen der Getauften verdeutlicht und in der Gemeinde als Dienst vollzogen wird. Die tauftheologische Anbindung der Krankensalbung wird bereits in der „Traditio Apostolica“ des Hippolyt von Rom näher entfaltet, in der ein Segensgebet über dem Öl wie folgt bezeugt ist: „Heilige dieses Öl, Gott, und gib denen Heiligkeit, die damit gesalbt werden und es empfangen. Wie du damit Könige, Priester und Propheten gesalbt hast, so schenke Stärkung denen, die davon kosten, und Gesundheit denen, die es gebrauchen“.17

Der zweite Satz dieses Gebetes spielt nicht nur auf den alttestamentlichen Gebrauch des Salbens mit Öl an. Er ist vielmehr tauftheologisch zu interpretieren: Wie durch die Taufe Menschen mit Christus verbunden und dadurch zu Königen, Priestern und Propheten „gesalbt“ wurden, so soll dieses Öl jetzt seine Wirkung im heilenden Handeln der Kirche entfalten. Dieser Ansatz entspricht evangelischer Theologie. Die Taufe gibt Anteil am dreifachen Amt Christi und setzt die Getauften als Könige, Priester und Propheten ein, d. h. sie konstituiert das allgemeine Priestertum. Diese Konstitution wird „Salbung (des Heiligen Geistes)“ genannt und kann durch eine Salbung mit Öl im Anschluss an die Taufhandlung sinnhaft dargestellt oder in Situationen von Schwachheit, Krankheit und Sterben aktualisiert werden.

1.2

Tauftheologische Basis der Salbung

1.2.1 Salbung als Aktualisierung der Taufe Gibt das rituelle Zeichen der Salbung mit Öl an keiner anderen und keiner neuen Gnade als der der Taufgabe teil, so vermittelt es in Einheit mit dem Wirken des Wortes und des Geistes Gottes drei Zugänge, die eben bereits mit der Taufe geschenkt wurden: 1) den Zugang zur ursprünglichen Schöpfung (Heilung), 2) den Zugang zur Erlösung (Heil), 3) den Zugang zur ewigen Vollendung (eschatologische Heilung). 17 Traditio Apostolica, 229.

Salbung

299

Die tauftheologische Grundlegung ist für das evangelische Verständnis der Salbung konstitutiv und bietet Anschlussmöglichkeiten für den ökumenischen Dialog. Durch die Rückbindung an die Taufe wird sichergestellt, dass die Salbung keine andere Gnade mitteilt, als den Getauften bereits durch die sakramentale Verbindung mit Christus, dem Gekreuzigten und Auferstandenen, gegeben ist. Dadurch übernimmt die Salbung die Funktion, die Gabe der Taufe in sinnlich erfahrbarer Weise zu entfalten und situativ zu aktualisieren. Bereits die Salbung der Getauften im Rahmen der Taufliturgie ist so zu verstehen. Erst recht wird dies bei der Salbung getaufter Kranker deutlich, die mit ihrer Taufgabe neu verbunden werden. Daher unterscheiden sich nach evangelischem Verständnis Taufund Krankensalbungen nicht, außer hinsichtlich ihrer liturgischen und seelsorgerlichen Einbettung.18 Wie die Taufgabe verheißt, durch Erlösung und Heiligung den Zugang zur ursprünglichen Schöpfung (Stichwort: Wiederherstellung) und damit die zukünftige eschatologische Heilung (Stichwort: Unterpfand der Vollendung) zu erhalten, so vermittelt die Salbung diesen Zugang in Situationen von Krankheit, Schwachheit und Sterben. Heilung im Hier und Jetzt wird möglich und bleibt doch unverfügbar; sie ist als Vorwegerfahrung der eschatologischen, vollkommenen Heilung zu verstehen.19 1.2.2 Konsequenzen in neueren evangelischen Taufliturgien Evangelische Taufliturgien haben im ausgehenden 20. Jh. die Salbung mit Öl im Anschluss an die Taufhandlung wiederentdeckt. Damit wurden Früchte der liturgiehistorischen und ökumenischen Arbeit aufgenommen, die beispielhaft in der Konvergenzerklärung über Taufe, Eucharistie und Amt des Ökumenischen Rates der Kirchen (Lima-Papier, 1982) ausgedrückt werden: „Christen haben eine unterschiedliche Auffassung davon, worin das Zeichen der Gabe des Geistes sich ausdrückt. Verschiedene Handlungen sind mit dem Geben des Geistes in Verbindung gebracht worden. Für einige ist es der Wasserritus selbst. Für andere ist es die Salbung mit Chrisma und/oder die Handauflegung, die von vielen Kirchen Konfirmation genannt wird.“20 „Wie es in den frühen Jahrhunderten der Fall war, kann die Gabe des Geistes in der Taufe auf zusätzliche Weise bezeichnet werden, z. B. durch das Zeichen der Handauflegung, durch Salbung oder Ölung. Auch das wahre Zeichen des Kreuzes erinnert an die verheißene Gabe des Heiligen Geistes, der Angeld und Unterpfand des Kommenden ist 18 Vgl. Schulz, Salbung, 188. 19 Noch pointierter arbeitet Stefan Böntert heraus: „Die These ist, dass nur dann Trost und Hoffnung erwachsen, wenn die eschatologische Perspektive im Blick bleibt“, ders., Annäherungen, 144. 20 Taufe, Eucharistie und Amt, Nr. 14.

300

Markus Schmidt

[…]. Die Wiederentdeckung solcher lebendiger Zeichen könnte sicherlich die Liturgie bereichern.“21

Noch vor dem Lima-Dokument hat das Lutheran Book of Worship (1978) die Salbung als Zeichen aufgenommen. Im Anschluss an die Taufe kann sie mit diesen Worten vollzogen werden: „NN, Child of God, you have been sealed by the Holy Spirit und marked with the cross of Christ forever“.22 Das Taufbuch der Evangelischen Kirche der Union (2000; heute: Union Evangelischer Kirchen/UEK) kennt wie schon sein Vorentwurf (1997) ein „Taufvotum mit Handauflegung [und Salbung]“.23 Die Salbung als fakultatives „Sinnzeichen“ wird an ein sog. „Votum“ angebunden. Bei dem postbaptismalen „konfirmatorischen Taufvotum“24 handelt es sich um eine Segnung des Neugetauften unter Handauflegung, der eine Bitte um den Heiligen Geist (Epiklese) vorausgeht. Die Salbung mit Öl kann sich anschließen und mit Zitaten aus Pfingstliedern (EG 132 und 133) unter diesen Worten durchgeführt werden: „N.N., du wirst gesalbt, du gehörst Christus, dem Gesalbten, dem Gekreuzigten und Auferstandenen. Du bist mit allen Getauften beauftragt, den Reichtum Christi zu verströmen“.25 Bei der Salbung ist ein Kreuzeszeichen auf der Stirn vorgesehen.26 Dieses Modell der deutschen unierten Kirchen ist im aktuellen Entwurf der gemeinsamen lutherisch-unierten Agende „Die Taufe. Entwurf zur Erprobung“ (2018) im unierten Formular beibehalten, wobei das Spendewort der Salbung überarbeitet wurde: „N.N., empfange das Zeichen des Kreuzes +. Du gehörst Christus, dem Gekreuzigten und Auferstandenen“.27 Dagegen hat es die Vereinigte Evangelisch-Lutherische Kirche Deutschlands (VELKD) versäumt, in diesen gemeinsamen Agendenentwurf eine Taufsalbung in das lutherische Formular aufzunehmen. 1.2.3 Elementares Verständnis der Salbung Die tauftheologische Grundlegung macht das elementare evangelische Verständnis der Salbung deutlich.28 Hier werden keine verschiedenen Typen von Salbung (wie Katechumenensalbung, Krankensalbung, Chrismasalbung bei Firmung und Weihe) differenziert, sondern unterschiedliche Situationen der 21 22 23 24 25 26 27 28

A. a. O., Nr. 19. Lutheran Book of Worship, 125. Taufbuch, 110f. A. a. O., 24. A. a. O., 111. Vgl. a. a. O., 25. Taufe. Entwurf zur Erprobung, 66. Vgl. Schulz, Salbung, 183.

Salbung

301

Salbung herausgestellt: Salbung kann im Anschluss an die Taufe, in Situationen von Schwachheit, bei Krankheit und im Angesicht des Todes vollzogen werden. Nota bene: Die Begriffe „Schwachheit, Krankheit und Tod“ zeigen, dass die evangelische Salbung nicht nur aus dem verengenden Todesbezug („Letzte Ölung“, welche die römisch-katholische Kirche ebenfalls überwunden hat)29 herausgeholt ist, sondern dass auch Situationen angedeutet werden, die nicht als Krankheit im medizinischen oder psychologischen Sinne definierbar sind: Physische, psychische, emotionale Kraftlosigkeit30 und Not sind ebenso Anlässe für das Ritual der Salbung. Das evangelische Salbungsverständnis ist nicht nur eine gute Grundlage für die weitere ökumenische sakramententheologische Diskussion. Es hinterfragt auch die gegenwärtige evangelische Praxis anderer Segenshandlungen, die an die Taufe angebunden sind. Im Blick auf die Konfirmation stellt sich die Frage, warum ausgerechnet diese Segenshandlung nicht mit der Salbung mit Öl verbunden wird. Gerade die Konfirmation stellt den geeigneten Kasus dar, um die Tauferinnerung und -bekräftigung sinnenhaft erfahrbar zu machen. Erfahrungsorientierte Teenager würden es danken. Darüber hinaus ist zu prüfen, ob nicht auch die Ordination, welche im evangelischen Bereich keine Unterscheidung von Weihestufen kennt, mit einer Salbung der Ordinanden bzw. Ordinierten verbunden werden könnte. Die Ordination stellt innerhalb des allgemeinen Priestertums eine Explikation der Taufe dar, indem sie das christologische Amt der Könige, Priester und Propheten exemplarisch inszeniert,31 unabhängig davon, ob man amtstheologisch von Stiftungs- oder Delegationsmodellen ausgeht und das ordinierte Amt als Gegenüber oder als Teil der Gemeinde definiert. Der Salbung im Kontext des Ordinationsgeschehens wohnt das Potenzial inne, die Ordination nicht nur für Ordinanden erfahrungsintensiver zu gestalten, sondern auch ihre tauftheologische Einbindung für alle Getauften erkennbarer durchzuführen. Dass Luther die Salbung bei der Ordination ablehnte, da er sie als äußeres Merkmal eines falschen Weiheverständnisses ansah,32 steht solchen Überlegungen nicht entgegen, wenn deutlich wird, dass sie eine Beauftragungs- und Segenshandlung mit Rückbindung an die Taufe darstellt.

29 30 31 32

Vgl. SC Nr. 73–75; Vgl. dazu Kaczynski, Kommentar, 154–157. Vgl. Tietmeyer, Weg der Wunden, 68. Vgl. dazu auch Jordahn, Zeremoniale, 437. Vgl. Krarup, Ordination, 21f, 35, 58, 147.

302

Markus Schmidt

2.

Salbung als Krankensalbung

2.1

„Eines Christen Handwerk ist Beten.“33 Heilendes Handeln als Auftrag evangelischer Spiritualität34

2.1.1 Gesundheit, Krankheit und Heilung als Themen evangelischer Spiritualität angesichts gesellschaftlicher Trends Der Wunsch gesund zu sein, gesund zu bleiben und im Krankheitsfall gesund zu werden, stellt ein menschliches Grundbedürfnis dar.35 Das Streben nach Gesundheit und Leben will Krankheit und Tod verhindern. Evangelische Spiritualität, welche das menschliche Leben in allen seinen Situationen mit dem Wirken des Geistes Gottes durch Praxis des Glaubens in Verbindung bringt, beinhaltet daher auch die Fragen nach Gesundheit, Krankheit und Heilung. Gesellschaftliche und persönliche Erwartungen richten sich auf das Heilsein und das Heilwerden. Der allgemeine Fokus auf Gesundheit, Wellness und bleibende Jugendlichkeit drängt Krankheit, Behinderung, Alter und Tod ins Abseits. Wer das Leben voll auskosten will, richtet die Aufmerksamkeit auf die Vermeidung von Leiderfahrungen, was in der Konsequenz dazu führt, dass Leidsituationen keine Sinnqualitäten zugesprochen werden und die Sinnfindung am Erhalten und Fördern von Gesundheit festgemacht wird. Dies führt in der Moderne zu einer technisierten Anwendung medizinischer und humanwissenschaftlicher Therapiemethoden,36 in der Postmoderne zur Integration alternativer (esoterischer, fernöstlicher, anthroposophischer etc.) Heilungskonzepte. Dabei wächst das Interesse an Spiritualität in Medizin und Psychotherapie. „Viele derjenigen, die im Bereich von Pflegediensten, Medizin oder alternativer Heilungsansätze tätig sind, begrüßen ausdrücklich eine stärkere Präsenz von Kirche und christlichem Glauben im Kontext der Fragen von Gesundheit und Heilung. Aus dem Bereich sowohl der Schulmedizin als auch der alternativen Heilungsansätze kommt eine nicht zu übersehende spirituelle und ethisch-wertorientierte Nachfrage auf die Kirchen zu, die diese nicht mit einem Rückzug aus Institutionen der Gesundheitsfürsorge beantworten dürfen.“37

Auf Gesundheit bzw. Heilung hat der Mensch keinen Anspruch, den er gegenüber einer sinngebenden Instanz (Gott, Universum, Leben, Sein etc.) zur Geltung 33 WA TR 6, 162, 36 (Nr. 6751). 34 Die folgenden Überlegungen habe ich bereits veröffentlicht in: Schmidt, Charismatische Spiritualität und Seelsorge; ders., Heilung. 35 Grundlegende und weiterführende Überlegungen bietet der Artikel in Band 2 dieses Handbuches: Grundmann, „Gesunden Leib gib mir…“. 36 Vgl. Eibach, Krankheit, 701; Zimmerling, Haltung gefragt, 396. 37 Hempelmann (Hg.), Christliche Identität, 10.

Salbung

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bringen könnte. Evangelische Spiritualität, welche im Gnadenhandeln Gottes gründet, versteht Gesundheit als dessen unverfügbares Geschenk. Daher gibt sie dem heilenden Handeln der Kirche, zu dem diese nach Mt 10,8 und Mk 16,18 berufen ist, seinen Inhalt und seine Form. 2.1.2 Evangelische Spiritualität gibt heilendem Handeln Inhalt und Form Evangelische Spiritualität geht von der vorleistungsfreien Annahme des Menschen durch Gott aus, bei der es keine Rolle spielt, ob Menschen gesund oder krank sind. Zugleich integriert evangelische Spiritualität die menschliche Sehnsucht nach Gesundheit und Heilsein. Sie ist ausgespannt zwischen den Polen Schöpfung und Erlösung bzw. Neuschöpfung. Ein Grundsatz christlichen Redens und Handelns von Heilung ist, dass es umfassende Gesundheit auf Erden nicht geben kann. Auch der auferweckte Lazarus musste wieder sterben. Heilendes Handeln der Kirche macht der Endlichkeit kein Ende, aber ist Begleitung auf dem Weg zur Vollendung. Es geht darum, eine Gemeinschaft mit dem heilenden, leidenden, sterbenden und auferstandenen Herrn zu vermitteln. Diese Gemeinschaft wird angesichts von Schwachheit, Krankheit und Tod durch das heilende Handeln der Kirche gestärkt. Evangelische Spiritualität geht vertrauensvoll von der Möglichkeit der Heilung aus, wobei jede Form von Heilung – ob medizinisch erklärbar oder nicht – als Geschenk Gottes empfangen wird. Sie wehrt damit einem Automatismus, nach dem Heilung als notwendige Folge des Glaubens verstanden wird. Das heilende Handeln der Kirche, dessen Formen Segnung, Salbung, Gebet und Handauflegung Bestandteil evangelischer Spiritualität sind, dient der Stärkung des Glaubens. Es ermöglicht Heilung, aber garantiert sie nicht und verlangt sie nicht. Nach Jak 5,14f ist Gott der Herr des Heilens, „dem man nicht befehlen und den man nicht manipulieren kann. Und die konkrete Gestalt der Hilfe ist nicht festgelegt“.38 Heilendes Handeln der Kirche gründet nicht in medizinischen Verwendungsund Wirkungsweisen, sondern in der zeichenhaften Repräsentation des Reiches Gottes als eines Zugangs zur ursprünglichen Schöpfung und zum ewigen Heil. „Der christliche Heilungsdienst in Segnung, Gebet und Handauflegung ist dabei nicht angewiesen auf energetisch-wissenschaftliche oder empirisch-statistische Wirksamkeitsbeweise. Von christlicher Segnung und Handauflegung gehen nach verbreiteter Überzeugung und biblischer Tradition in der Tat Wirkungen aus, die zu Gottes segnendem und heilendem Wirken in seiner Schöpfung gehören.“39 38 Ergänzungsband, 116. 39 Hempelmann (Hg.), Christliche Identität, 10.

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Der Auftrag der Kirche zu heilen und zu befreien ist bislang sowohl in der Seelsorge als auch in der Liturgie – anders als in der Diakonie – nur äußerst rudimentär verwirklicht.40 Die Seelsorge hat die Aufgabe, den Wunsch von Seelsorgesuchenden nach Heilung aufzunehmen. Dieser soll ausgesprochen und im Gebet vor Gott artikuliert werden. Das heilende Handeln in der Seelsorge verdichtet sich im gemeinsamen Gebet. Darin können alle Elemente des Betens verbunden werden: Gott wird gelobt (Doxologie), seines Heils und seiner Hilfe wird gedacht (Anamnese), Schuld wird bekannt (Beichte), dem schmerzhaften Protest und Warum wird Ausdruck verliehen (Klage), um das schöpferische Wirken des Heiligen Geistes wird gebeten (Epiklese) und Segen wird leiblich vermittelt. Diese leibliche Vermittlung geschieht in Kreuzeszeichen, Handauflegung und Salbung mit Öl und gibt der Seelsorge eine sinnliche Form.

2.1.3 Konsequenzen für die Poimenik Auch für die Seelsorge ist das heute viel zitierte Axiom der Ganzheitlichkeit leitend. Allerdings heißt Ganzheitlichkeit aus christlicher Sicht, dass nicht nur Leib und Seele als Einheit, sondern auch das irdische und ewige Heil zusammen zu sehen sind. Ganzheitlichkeit liegt dort vor, wo die irdischen Grenzen ernst genommen werden in der Hoffnung auf Gottes ewige Neuschöpfung und wo unter der Betonung des ewigen Heils die irdische Hilfe nicht untergeht. Dabei hat eine auf Heilung ausgerichtete Seelsorge die Aufgaben und Möglichkeiten von Medizin und Therapie zu respektieren und ggf. darauf zu verweisen bzw. dahin zu begleiten. Seelsorge ist keine Therapie und keine Alternative zur Medizin. Sie soll zur befreiten und geheilten Annahme des Lebens mit seinen Grenzen helfen, aus der Resignation befreien und der Utopie wehren. Dafür kann eine psychologische Einsicht hilfreich sein: Zum Heilungserfolg trägt der Glaube an bzw. das Vertrauen auf die Heilung wesentlich bei.41 Für die Seelsorge bedeutet dies den Auftrag, das Vertrauen auf Heilung zu wecken und diesen einzubetten in den Glauben, dass Gott am Ende alles heilen wird. Daraus können sich Kräfte entwickeln, die helfen, sowohl Krankheit zu tragen als auch Krankheit zu überwinden. Im gegenwärtigen Protestantismus treten leibliche Vollzüge seelsorgerlichen Handelns zunehmend ins Bewusstsein. Segnung, Handauflegung, Salbung sind Vollzüge, die das vorherrschende Paradigma des Zweiergespräches ergänzen können, indem sie auf sinnliche Weise die Erfahrungsdimension der Seelsorge stärken. Allerdings fristen sie weiterhin ein Schattendasein in der evangelischen 40 Vgl. Fritsche, Heilung, 773. 41 Vgl. einzelne Beiträge und weitere Literatur in: Ehm/Utsch (Hg.), Wie macht der Glaube gesund?

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Seelsorgetheorie und -praxis. Seelsorge wird modern als Gespräch definiert, das überwiegend im Vier-Augen-Setting stattfindet. So wird beispielsweise die Salbung bislang nur innerhalb spezieller Veranstaltungen (z. B. Segnungsgottesdienste) oder Gruppen (v. a. Kommunitäten, charismatische Gemeinden) oder von Krankenhausseelsorgerinnen und -seelsorgern praktiziert. Ihre breite Aufnahme in die reguläre Seelsorgepraxis der Pfarrerinnen und Pfarrer steht trotz der neueren agendarischen Formen (dazu unter 2.2) noch aus. Dies wäre aber angesichts der religiösen Gegenwartssituation vonnöten: Viele Menschen haben auf ihrer erfahrungsorientierten Suche nach greifbarer Spiritualität längst begonnen, sich von kirchlichen Gestalten der Seelsorge, Lebensbegleitung und Lebensübergangsritualen abzuwenden und sich Angeboten aus dem Bereich von Esoterik, Psychoszene etc. zuzuwenden.42 Einer der Gründe dafür liegt darin, dass die evangelisch-kirchliche Glaubensgestalt nur wenige symbolische und rituelle Formen kennt.43 Indessen wird durch die wachsende Präsenz charismatischer Gruppen, Migrationsgemeinden und nichtchristlicher Religionsgemeinschaften, nicht zuletzt des Islam, die Sichtbarkeit des Glaubens neu relevant, ja sogar eingefordert: „Das Christentum in deutscher Prägung ist oft zögerlich in seiner rituellen Ausdrucksgestalt. Was tust du als Christ?, das ist die Frage, die von Muslimen meist als erstes gestellt wird, Was glaubst du als Christ? ist die Frage, die viele Christen als eine der ersten Fragen erwarten würden“.44

Die Frage nach dem „Tun“, dem sichtbaren Ausdruck des christlichen Glaubens, erhält die Stellung eines Prüfkriteriums, mit dem für viele Zeitgenossen die Kirche steht und fällt. Diese Frage muss nicht antithetisch gegen den Zentrallocus der Rechtfertigung sola gratia verstanden werden. Sie könnte vielmehr auf die Sichtbarkeit des Lebens aus der Rechtfertigungsgabe hinweisen. Dadurch rückt die Kategorie der geistlichen Übung neu ins Licht.45 Mit Luther gesprochen: „Eines Christen Handwerk ist Beten“.46 Dieses Handwerk sollte sowohl im Alltag als auch in der Seelsorgepraxis erkennbar und leiblich erfahrbar werden, wodurch es die Attraktivität der evangelischen Seelsorge zu stärken vermag.

42 Vgl. Zimmerling, Evangelische Spiritualität, 135. 43 Vgl. z. B. Ruch, Ritualdesign; Utsch, Psychoszene, 199; Hempelmann, Esoterik, 55f. 44 Wrogemann, Glanz, 235f. Vgl. dazu Kahl, Migrationskirchen; Quaas, Befreiungsdienst, 56; Wrogemann, Exorzismen, bes. 70. 45 Vgl. Zimmerling, Evangelische Spiritualität, 46f. 46 Luther, WA TR 6, 162, 36 (Nr. 6751).

306 2.2

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Krankensalbung in evangelischen Agenden

In den letzten drei bis vier Jahrzehnten hat sich eine dreiteilige Grundstruktur des Salbungsrituals verbreitet und ist sowohl im öffentlich-gottesdienstlichen als auch im privat-seelsorgerlichen Kontext zu finden. Sie setzt sich aus den drei Elementen Wortverkündigung (als Lesung, eventuell mit Ansprache), Gebet mit Segnung und schließlich dem eigentlichen Salben mit Öl zusammen und kann mit der Feier des Heiligen Abendmahles verbunden werden. Dies prägt die verschiedenen agendarischen Formen der Krankensalbung innerhalb des deutschen Protestantismus, welche im Folgenden vorgestellt werden. Die Salbung ist biblisch und historisch gesehen eher ein Gegenstand der Seelsorge und weniger des Gottesdienstes. Ihre Reintegration in die evangelische Spiritualität geschah jedoch vorwiegend durch die Gottesdienstpraxis (Segnungsangebote in Gottesdiensten, Segnungsgottesdienste). Es scheint, dass im evangelischen Bereich bis heute Menschen die Salbung mehrheitlich im gottesdienstlichen Kontext entdecken und von hier aus in die Einzelseelsorge mitnehmen. Da die seelsorgerliche, nicht-gottesdienstliche Praxis der Salbung agendarisch beschrieben wird, ist auch sie ein Thema der Liturgik.

2.2.1 Vorgeschichte Schon 1949 nahm die private Krankenagende des Michaelsbruders Walter Lotz (1909–1987) das Ritual der Salbung auf, allerdings noch vorsichtig als „Vorschlag“ im Anhang.47 Für die evangelische Liturgik und Poimenik der damaligen Zeit war dies jedoch schon ein Schritt zu weit. Die Krankensalbung hatte in der evangelischen Seelsorge an Kranken traditionell keinen Platz.48 Allein Krankenbeichte und Krankenabendmahl waren üblich. 1958 veröffentlichte die Lutherische Liturgische Konferenz zwar offiziell, aber weithin übersehen, eine Beilage über Krankensalbung als Zusatz zur Agende „Handreichung für den seelsorgerlichen Dienst“.49 Wurden die Entwürfe der Nachkriegszeit durch das selbstverständliche Nichtvorhandensein der Salbung geprägt – sogar eine Auslegung von Jak 5,14 war möglich, nach der die Salbung verschwiegen und fälschlich durch Handaufle-

47 Lotz, Agende, 165–169. 48 Beigetragen haben dazu nicht nur die klassische Differenzierung zwischen Sakramenten und Ritualen/Zeichenhandlungen, wie sie unter Anm. 1 zitiert wurde, sondern auch die von der Reformation kritisierten römischen Fehlentwicklungen. 49 Vgl. Jordahn, Krankensegnung und Krankensalbung, 455f.

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gung ersetzt wurde –,50 so war zuvor Wilhelm Löhe (1808–1872) die Wiedereinführung der Salbung kirchenamtlich sogar verboten worden.51 Die Abwehr der evangelischen Seelsorge gegenüber der Salbung ist einerseits im grundsätzlichen protestantischen Vorbehalt gegenüber Ritualen und Symbolhandlungen, andererseits in der Ablehnung des überkommenen römisch-katholischen Sakraments der ultima unctio, der Letzten Ölung, begründet, dessen junge Reformulierung als Krankensalbung durch das Zweite Vatikanische Konzil noch nicht im allgemeinen Bewusstsein angekommen ist. 2.2.2 Lutherische Agende III, Band IV „Dienst an Kranken“ Zuerst hat im deutschen Protestantismus die Neubearbeitung der Lutherischen Agende III, Band IV „Dienst an Kranken“ der VELKD (1994) die Krankensalbung als festen agendarischen Bestandteil für Gottesdienst und Seelsorge aufgenommen.52 Die Salbung ist ein fakultatives „Angebot“ zur Ergänzung der anderen darin enthaltenen Segnungshandlungen an Kranken oder an Sterbenden. Sie kommt, je nachdem ob Kranke oder Sterbende gesegnet werden sollen, in den jeweiligen liturgischen Abläufen an unterschiedlichen Stellen vor, wie die folgende Tabelle verdeutlicht. Tabelle 1: Abläufe des Segnungs- und Salbungsrituals in den Situationen von Krankheit und Sterben Segnung [und Salbung] Kranker Gruß Einführung Psalm [Beichte] Lesung

Segnung [und Salbung] Sterbender Gruß Einführung Psalm [Beichte] Lesung [Abendmahl]

Gebet Segnung [Salbung] [Abendmahl] Dankgebet Vaterunser Segen

Gebet Vaterunser Segnung (Valetsegen) [Salbung]

50 Vgl. dazu die Ausführungen sowie Quellen- und Literaturnachweise in meiner Studie zur charismatischen Bewegung in der DDR: Schmidt, Charismatische Spiritualität und Seelsorge, 319–322. 51 Vgl. Jordahn, Krankensegnung und Krankensalbung, 451–453; Schlichting, Löhe, 411. 52 Agende. Band III.4, 87–109.

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Während bei der Segnung Kranker die Salbung mit Öl im Zentrum des Ablaufes steht und mit dem Abendmahl als folgender Wegzehrung verbunden werden kann, ist im Falle einer Sterbendensegnung die Salbung als Aussegnungshandlung definiert, wobei das Segenswort ein Valetsegen sein soll. Der eigentliche Salbungsvorgang geschieht nach der klassischen Form. Nach der Segnung unter Handauflegung wird das Salbungsritual durchgeführt, indem das Öl auf Stirn, rechte Handinnenseite und linke Handinnenseite des Empfangenden in Form von Kreuzzeichen gestrichen wird. Währenddessen wird das Votum gesprochen: Bei Kranken: „NN, du wirst gesegnet und gesalbt mit Öl im Namen unseres Herrn Jesus Christus“ mit einer weiteren Segensformel.53 Bei Sterbenden lautet die weitere Segensformel: „Er sei dir gnädig und nehme dich auf in sein ewiges Reich“, und es schließt sich der Valetsegen an.54

Die lutherische Agende III/IV verortet die Salbung in zwei unterschiedlichen Praxiskontexten: Sie kann in einer seelsorgerlich-privaten Situation als Einzelsegnung und -salbung vorgenommen werden oder als Bestandteil eines öffentlichen Gottesdienstes zum Tragen kommen. Der eben vorgestellte Ablauf ist für beide Situationen gedacht. In welchem der beiden Kontexte eine Salbungshandlung stattfinden soll, ist abzuwägen. Die Salbung im seelsorgerlichen Kontext wird während eines seelsorgerlichen Gespräches oder eines Hausbesuches, im letzteren Fall meist am Kranken- oder Sterbebett, durchgeführt. Hierfür spricht die Flexibilität der Terminfindung, indem auf Akutsituationen reagiert werden kann, ebenso auf den Wunsch, eine Hausandacht im familiären Kreis durchzuführen. Der private bzw. halbprivate Rahmen im Zweiergespräch bzw. bei einem familiären Hausbesuch ermöglicht einen die Intimsphäre berücksichtigenden Umgang. Wird das Salbungsritual während eines eigens dafür veranstalteten Gottesdienstes durchgeführt, wird das private Anliegen in eine öffentliche Umgebung verlagert. Dies ist nur dann möglich, wenn die Krankheit oder die Schwere der Beeinträchtigungen dies zulassen und wenn die Seelsorge Suchenden dies wünschen. Ein solcher Gottesdienst findet zu fest vereinbarten und vorher bekanntgegebenen, eventuell regelmäßigen Terminen statt. Das seelsorgerliche Potenzial der Salbung im Gottesdienst liegt insbesondere in der Gemeinschaftlichkeit des Feierns und Erlebens. Die Gottesdienstgemeinde wird zu einer Gemeinschaft der Leiden, der Bitten, aber auch des Segens und der Hoffnung. Schon die Erfahrung von Seelsorge Suchenden, mit dem eigenen Leid nicht allein zu sein und zu sehen, dass auch andere Menschen Hilfe suchen, kann heilsam wirken. Das gemeinsame Feiern trägt zu einem intensiveren Erleben bei und verteilt 53 A. a. O., 95. 54 A. a. O., 101.

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die Lasten, aber auch das Loben auf mehrere Akteure. Das Gebet um Heilung wird Aufgabe aller. Im Salbungs- oder Heilungsgottesdienst können Momente der Stille und der emotionalen Expression aufeinander folgen. Bibelwort, Predigt, Salbung, Segnung und das Abendmahl vermitteln Christi heilende Kraft. Walter J. Hollenweger führt darüber hinaus einen weiteren Grund an, warum das Salbungsritual im Gottesdienst stattfinden kann und seiner Meinung nach stattfinden sollte: „Der Salbungsgottesdienst ist öffentlich. Öffentlichkeit schützt vor vielen Entgleisungen. Keinesfalls soll mit dem therapeutischen Dienst im Hauskreis oder in der Sakristei begonnen werden. Da steigt die Temperatur zu stark. […] Erst, wenn die Betreffenden eine gewisse Übung im Salbungsdienst haben, kann er auch im intimeren Kreis vollzogen werden“.55

Hinter diesem Plädoyer stehen wichtige Überlegungen, die im öffentlichen Gottesdienst eine Schutzfunktion vor religiöser Überhitzung erkennen. Sie weisen darauf hin, dass die Salbung im seelsorgerlich-privaten Kontext reflektiert und ritualisiert zu praktizieren ist. An den Praxisvorschlägen der lutherischen Krankenagende fällt auf, dass der liturgische Vollzug der Salbung noch stark von den bis dahin allein bekannten gottesdienstlichen Segenshandlungen wie z. B. Konfirmation oder Einsegnungen zu Jubiläen her bestimmt wird. Die die Segnung und Salbung Begehrenden sollen vor den Pfarrer an den Altar treten und dort die Handlung empfangen. Segnung und Salbung sind hier als kirchliche Amtshandlung in einer öffentlichen Einzelsituation am Altar definiert zuungunsten der nötigen Intimsphäre, welche eine solche Segenshandlung verlangt. Zur Entstehungszeit der Agende standen breite Praxiserfahrungen noch aus, die erst in der Folge durch Thomasmessen u. ä. möglich wurden. In den Thomasmessen werden Krankensegnungen und -salbungen nicht exponiert am Altar, sondern durch abgegrenzte Segnungsgruppen im Gottesdienstraum durchgeführt. Inzwischen gibt es auch Salbungsgottesdienste, bei denen die Teilnehmenden an ihren Plätzen bleiben und die Mitwirkenden zu ihnen kommen (der dabei einzugestehende Verlust des Weg-Charakters der Liturgie wäre eigens zu reflektieren).56 Tilman Haberer zeigt in seinem Buch über die Thomasmesse, wie das Votum bei der Salbung trinitarisch entfaltet werden kann: „N.N., ich segne dich im Namen [Kreuzzeichen Stirn] Gottes, der dich geschaffen hat […] und des [Kreuzzeichen rechte Hand] Sohnes, der dich liebt […] und des [Kreuzzeichen linke Hand] Heiligen Geistes, der dich neu und lebendig macht“.57

55 Hollenweger, Kirchenjahr, 226. 56 Vgl. Tietmeyer, Weg der Wunden, 68. 57 Haberer, Thomasmesse, 91.

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2.2.3 Ergänzungsband zum Evangelischen Gottesdienstbuch Das Evangelische Gottesdienstbuch hat im Ergänzungsband (2002)58 die gottesdienstliche Salbung von Kranken aufgenommen. Salbung kann danach im Gemeindegottesdienst oder in einem eigens veranstalteten Heilungsgottesdienst stattfinden. Die Überlegungen orientieren sich an Agende III/IV der VELKD, aber es werden bereits Erfahrungen mit zahlreichen Salbungsgottesdiensten reflektiert, was dazu führt, dass Gruppen von Salbungsstationen im Gottesdienstraum vorgeschlagen werden.59 Die Salbung der Stirn und der Hände60 wird unter diesem Votum vorgenommen: „N.N. (Vorname), ich segne und salbe dich im Namen des + Vaters und des + Sohnes und des + Heiligen Geistes“. „Gott richte dich auf mit der heilenden Macht seiner Liebe.“ Ein biblisches Segnungswort kann folgen. „Christus sei mit dir auf allen deinen Wegen“.61

Oder: „Nimm hin das Zeichen deines Erlösers, Jesus Christus, zum Zeichen, dass du gesegnet bist von deinem Gott. Fürchte dich nicht. Geh hin in seinem + Frieden. Er ist mit dir.“62

2.2.4 Agende IV „Die Bestattung“ der Evangelischen Kirche von Kurhessen-Waldeck Die Agende IV „Die Bestattung“ der Evangelischen Kirche von Kurhessen-Waldeck (2006) kennt die Salbung als Vollzug des heilenden Handelns im Kontext der Sterbendenseelsorge.63 Diese alleinige Verortung ist im evangelischen Bereich auffällig, da die römisch-katholische Kirche vierzig Jahre zuvor ihre Abkehr vom Verständnis der Salbung als einer letzten Ölung vollzogen hat, und die Gefahr der missverständlichen Engführung dieser Handlung besteht. Im Blick auf den Vollzug ist die Handlung in einen Ablauf eingebettet, der dem von Agende III/IV der VELKD vergleichbar ist, allerdings eine Feier des Abendmahles nicht vorsieht. 58 Ergänzungsband, 116–125. 59 Vgl. a. a. O., 117. Dies zeigt auch die Aufnahme der Thomasmesse in den Ergänzungsband, vgl. a. a. O., 113–115. 60 Warum einmal die Handinnenflächen (a. a. O., 119) und einmal die Handrücken (a. a. O., 125) bezeichnet werden sollen, ist nicht einsichtig. Sinnvoll ist es, die Handinnenflächen zu berühren, da durch deren Öffnung eine empfangende Haltung eingenommen wird. 61 A. a. O., 119. 62 A. a. O., 125. 63 Agende Bd. IV, 95–104.

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2.2.5 Neues evangelisches Pastorale, fünfte Auflage Das Neue evangelische Pastorale hat erst in seiner fünften Auflage (2014) die Salbung mit Öl als pastorale Handlungsform für die Seelsorge aufgenommen.64 Als zu Salbende sind nicht nur Kranke und Sterbende im Blick, sondern auch Menschen in psychischen oder sozialen Krisen. Hier wird das Salben grundsätzlich als „Stärkung der Lebensgewissheit im weiteren Sinn verstanden“.65 Der Ablauf ist der VELKD-Agende bzw. dem Evangelischen Gottesdienstbuch verwandt. Als Votum kann entweder der Aaronitische Segen oder Jes 54,10 oder aber folgende Formulierung gesprochen werden: „Gottes [sic!] stärke dich durch seine Liebe und seinen Geist. NN, es segne dich Gott, Vater, Sohn und Heiliger Geist“.66

2.2.6 Liturgischer Kernbestand des Ablaufs der evangelischen Krankensalbung Beim Vergleich der agendarischen Abläufe, nach denen die Salbung an Kranken, Schwachen und Sterbenden durchgeführt werden kann, fällt auf, dass die evangelische Krankensalbung ein Grundgerüst mit einem Kernbestand an liturgischen Elementen prägt: Tabelle 2: Kernbestand des Salbungsrituals Votum Einführung Psalm Lesung

z. B. Ps 23 z.B. Jak 5,14–15(–16)/Mt 11,28–30/Jes 43,1f

Gebet Segnung mit Handauflegung Salbungshandlung

Salbung von Stirn und Handinnenflächen mit Öl unter einem trinitarischen Votum, z. B.: „N.N., ich segne und salbe dich im Namen des + Vaters und des + Sohnes und des + Heiligen Geistes.“

Gebet Vaterunser Segen

64 Neues evangelisches Pastorale, 182–186. 65 A. a. O., 182. 66 A. a. O., 185.

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Beobachtungen und Folgerungen für die Praxis

2.3.1 Krankensalbung als anamnetische und epikletische Zeichenhandlung Zum Kernbestand des Salbungsrituals gehören die biblischen Lesungen, wobei zur Begründung oft auf Jak 5 zurückgegriffen wird. Die Lesungen sind für das Verständnis dieser Form heilenden Handelns von besonderer Relevanz, denn sie qualifizieren dieses Ritual als anamnetische Zeichenhandlung. Durch sie wird die Rückbindung des heilenden Handelns der Kirche an das heilende Handeln Jesu verdeutlicht. Anamnetisch ist das Ritual insofern, da hier an das Heils- und Heilungswirken Gottes erinnert und dieses im Rahmen der Handlung vergegenwärtigt wird. Indem auch der aktuellen Anliegen und Probleme von Menschen gedacht wird, geht die anamnetische Dimension in die epikletische über. Es werden im Gebet Bitten vor Gott gebracht, die mit der Bitte um das Wirken seines heilenden und heiligenden Geistes verbunden sind. Durch die Segnung unter Handauflegung wird diese Epiklesis erstens über den Kranken, Schwachen oder Sterbenden vollzogen und zweitens der Geist und sein Wirken an diese Personen vermittelt. Die Qualifikation der Salbung als Zeichenhandlung schützt davor, sie dynamistisch misszuverstehen.67 Weder ist sie eine Handlung, deren Gelingen von einer bestimmten geistlichen Vollmacht der Durchführenden abhängig wäre, noch garantiert sie automatisch einen bestimmten Erfolg. Als anamnetische und epikletische Zeichenhandlung ist sie jedoch mehr als ein Symbol, sondern ein erfahrbares Mittel der wirksamen göttlichen Gnade. 2.3.2 Segensgebet bzw. Votum über dem Öl Der epikletische Charakter der Salbung mit Öl kann dadurch intensiver zum Ausdruck gebracht werden, dass das Öl als Gegenstand einer kirchlichen Handlung in Dienst genommen wird. Dafür wird ein epikletisches Segensgebet bzw. Votum über dem Öl gesprochen. Dieses soll die pneumatologische und tauftheologische Anbindung der Salbung hervorheben und kann damit zum Verständnis der Krankensalbung bei den Teilnehmenden beitragen. Die Indienstnahme des Öls sollte im Rahmen eines öffentlichen Gottesdienstes stattfinden, etwa in einem thematisch orientierten Gemeindegottesdienst, der in das Thema Salbung und Heilung einführt und ein Salbungsangebot enthalten kann. Dadurch wird deutlicher, dass das konkrete heilende Handeln mit dem gesamten Handeln der Kirche verbunden ist und dass Salbungsgot-

67 Vgl. dazu Grethlein, Grundinformation, 381.

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tesdienste oder Einzelsalbungen zwar von Vertretern der Gemeinde durchgeführt werden, aber ein Dienst der gesamten Gemeinde bzw. Kirche sind (vgl. Jak 5,14). Im evangelischen Bereich gibt es kaum liturgische Vorbilder für ein Gebet über dem Öl. Die für die Lutherische Agende zunächst vorgesehene (aus dem Lutheran Book of Worship übersetzte) Variante wurde in die Endfassung nicht aufgenommen, findet sich aber in einem Formular für die Krankensalbung in der bayerisch-thüringischen Ausgabe des Evangelischen Gesangbuches, Nr. 873: „Gott, du nimmst deine Schöpfung in den Dienst deines Erbarmens. Wir bitten dich: Laß dieses Öl zum Zeichen deiner heilenden und rettenden Kraft an dieser/diesem Kranken werden“.68

Auch Anleihen bei den altkirchlichen oder anderskonfessionellen Traditionen können die evangelische Praxis befruchten. Neben dem oben zitierten Gebet des Hippolyt (s. 1.1.4) ist ein Beispiel aus der Church of England hilfreich: „Lord, holy Father, giver of health and salvation, as your apostles anointed those who were sick and healed them, so continue the ministry of healing in your Church. Sanctify this oil, that those who are anointed with it may be freed from suffering and distress, find inward peace, and know the joy of your salvation, through your Son, our Saviour Jesus Christ“.69

2.3.3 Auswahl oder Herstellung des Öls Welches Öl soll Anwendung finden? Es sollte sich um ein reines Naturprodukt handeln, da hiermit der direkte Zugang zu den Gaben der Schöpfung abgebildet werden kann. Aufgrund seines Gebrauchs in der biblischen Welt wird meist Olivenöl verwendet. Neuere Veröffentlichungen empfehlen daneben auch Jojobaöl,70 obwohl es sich genau genommen nicht um ein Öl, sondern um ein flüssiges Pflanzenwachs handelt71 – kritisch zu fragen ist, ob hinter dieser Empfehlung nicht eine unreflektierte Prägung durch die zeitgenössische Wellnessgesellschaft steht. Angenehm wirkt es, wenn das Öl mit – natürlichen – Duftstoffen versetzt ist. Dabei ist darauf zu achten, dass die Intensität des Duftes die Handlung nicht dominieren kann bzw. irritierend wirkt und dass die ätherischen Stoffe keine Hautreizungen hervorrufen. Um den Zeichencharakter der Salbung beizubehalten, sollte das verwendete Öl keine Verwechslungen mit handelsüblichen Aroma-, Massage- und Erotik-Ölen zulassen.

68 69 70 71

Vgl. dazu die Formulierung bei Schulz, Salbung, 185 Anm. 8. Common Worship. Christian Initiation, 309. Vgl. Neues evangelisches Pastorale, 182. Vgl. Krist, Lexikon, 299.

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Salböl kann leicht hergestellt werden. Dem folgenden Rezept,72 das dem biblischen Vorbild Ex 30,22–2573 nachempfunden ist, wohnt zugleich ein gemeindepädagogisches und liturgiedidaktisches Potenzial inne, da es in Gemeindegruppen umgesetzt werden kann. „Zutaten: Myrrhe, Salbeiblätter, Zimtstangen, Gewürznelken, Olivenöl Die Menge der Zutaten richtet sich nach der gewünschten Menge des Öls, als Richtwerte gelten 6 g Myrrhe, 3 g Zimtstangen, 3 g Salbeiblätter, 6 g Nelken, 4cl Olivenöl. Zubereitung: Die Salbeiblätter werden in einem Kochtopf knapp mit Wasser bedeckt, das Wasser wird anschließend zum Kochen gebracht. Sobald es kocht, wird der Topf vom Herd genommen und der Sud ziehen gelassen. Nelken und Myrrhe werden im Mörser nacheinander fein zerrieben und dann mit dem Salbei-Sud vermischt. Die Zimtstangen werden zu kleinen Stücken zerkleinert und ebenfalls dazu gegeben. Auch das Olivenöl wird untergemischt. Die entstandene Mischung wird wieder auf den Herd gestellt und zum Kochen gebracht. Der Sud wird anschließend in ein Glas gegeben, in dem er sich einige Stunden, idealerweise einige Tage setzen kann. Nach und nach bilden sich drei Schichten: Unten die festen Zutaten, in der Mitte dunkel gefärbtes Wasser, oben das Öl. Um das Öl abzuscheiden, kann man es vorsichtig abgießen. Um die Herstellung zu beschleunigen, kann der Salbei-Sud schon im Vorfeld hergestellt werden. Das mehrstündige Absetzen des Öls ist nur dann erforderlich, wenn besonders klares Öl erzeugt werden soll. Öl und Wasser trennen sich grundsätzlich in sehr kurzer Zeit, die festen Zutaten können auch herausgesiebt werden. Die Viskosität des herstellten (sic!) Salböles ist beeinflussbar. Damit es nicht aus einem Salbgefäß austreten kann, wird es mit einer geringen (!) Menge reinen Bienenwachses angedickt.“

2.3.4 Bedingungen der körperlichen Kontaktaufnahme „Der Körperkontakt ist bei der Salbung intensiver als bei der Handauflegung. Das ist nur möglich, wenn der/die Salbende besonders achtsam mit der Situation umgeht und ein Vertrauensverhältnis zwischen Salbenden und Kranken besteht. Sowohl Antipathie 72 Leicht bearbeitet entnommen aus: http://jugendpastoral.erzbistum-koeln.de/firmung_feiern/praxis-tipps/themen/herstellung_salboel.html (Zugriff: 19. 11. 2016). 73 „Und der Herr redete mit Mose und sprach: Nimm dir die beste Spezerei: die edelste Myrrhe, fünfhundert Lot, und Zimt, die Hälfte davon, zweihundertundfünfzig, und Kalmus, auch zweihundertundfünfzig Lot, und Kassia, fünfhundert nach dem Gewicht des Heiligtums, und eine Kanne Olivenöl. Und mache daraus ein heiliges Salböl nach der Kunst des Salbenbereiters.“

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wie auch eine die notwendige Distanz überschreitende Sympathie können die Salbung beeinträchtigen. Die Ritualisierung des Salbungsvorganges ist darum unbedingt notwendig.“74

Mit diesem Statement bringen die Autorinnen und Autoren des Ergänzungsbandes zum Evangelischen Gottesdienstbuch eine wichtige Forderung ein: die liturgische Ritualisierung des Vorgangs. Die Ritualisierung ermöglicht die notwendige Distanz. Der im Salbungsritual vollzogene Körperkontakt ist ein sensibles Feld. „Berührungen beim Salben verursachen Gefühle, sowohl beim Berührten wie auch beim Berührenden. Nicht alle Menschen sind in der Lage, mit diesen Gefühlen spontan umzugehen. Es braucht daher einen Rahmen, in welchem diese Gefühle sich entfalten dürfen.“75 In einem Salbungsgottesdienst sollten mehrere Salbungsstationen und Teams bereitstehen, sodass die Teilnehmenden wählen können, zu welchem Team sie gehen wollen. In einer seelsorgerlichen Einzelsituation ist die Salbung, sofern sie nicht direkt erbeten wurde, als Angebot zu formulieren und jede Aufdringlichkeit zu vermeiden. Die liturgische Ritualisierung der Handlung wahrt aber auch die Differenz, die zwischen therapeutischem und liturgisch-seelsorgerlichem Handeln besteht, und beugt Missverständnissen beispielsweise im Sinne eines Heilungsautomatismus vor. D. h. praktisch, dass die Salbung nicht pseudomedizinisch an einer erkrankten Körperstelle durchgeführt wird, sondern aufgrund ihres Zeichencharakters stets an Stirn und Händen zu vollziehen ist. Daher darf sie auch nicht mit einer Massage verwechselbar sein, weshalb der Vorschlag des Neuen evangelischen Pastorale, das Öl leicht einzumassieren,76 zugunsten des einfachen, aber deutlichen Kreuzeszeichens zurückzuweisen ist. Vollzogen wird das Kreuzeszeichen mit ausgestrecktem Zeige- und Mittelfinger oder mit dem Daumen.77 Walter J. Hollenweger wirbt, wie der vorliegende Beitrag auch, für die sichtbare und leiblich erfahrbare Gestaltung des heilenden Handelns der Kirche. Dafür hat er Rahmenbedingungen („Faktoren“) formuliert. Diese Bedingungen der liturgischen Ritualisierung sollen dem Schutz der Handelnden, der die Handlung Begehrenden sowie der Handlung selbst dienen (der erste dieser Faktoren wurde unter 2.2.2 bereits zitiert): „1. Der Salbungsgottesdienst ist öffentlich. […] 2. Handlung und Sprache sind liturgisch gebunden. Das schützt vor peinlichem Geschwätz oder allzu intimen Gebeten.

74 75 76 77

Ergänzungsband, 116 (Hervorhebung durch M.S.). Hollenweger, Kirchenjahr, 226. Vgl. Neues evangelisches Pastorale, 182. Pisarski, Gott tut gut, 70, spricht sich dagegen aus, mit dem Daumen zu salben, „weil dies wiederum eine andere Symbolik (,Daumen drauf‘) schaffen würde“.

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3. Es sind immer drei Personen, die einen Hilfe Suchenden ,behandeln‘. Dann weiß man nämlich nicht, wer ,schuld‘ ist, sollte eine überraschende Heilung eintreten. […] 4. Dringend abzuraten ist, dem Klienten zum Abbruch einer medizinischen Behandlung zu raten. Geht es ihm besser oder wird er gar geheilt, so wird das der Arzt merken und entsprechend reagieren. 5. Mit dem ärztlichen Fachpersonal (dem alternativen und dem schulmedizinischen) ist nach Möglichkeit zusammenzuarbeiten. Am besten ist es, wenn diese Therapeuten in die Liturgie integriert werden. Im Übrigen haben gerade Ärzte das begleitende Gebet nötig. […] 6. Es werden weder Bedingungen für die Therapie gestellt (Buße, Beichte, Glaube oder dergleichen), noch werden Versprechungen gemacht“.78

3.

Schluss

Das Salben mit Öl als eine wiedergewonnene evangelische Zeichenhandlung bietet die Möglichkeit, die Gnade Gottes und seine Gabe der Erlösung in Jesus Christus auch leiblich erfahrbar zu machen. Die Kategorie der leiblichen Erfahrung stellt dabei kein Superadditum des Glaubens dar, da der Bezug zur leiblichen Wirklichkeit des Menschen sowohl in dessen Suche nach Heilung als auch durch die Verankerung der Salbung im Sakrament der Taufe gegeben ist. Wird die Salbung als Form evangelischer Spiritualität wiedergewonnen, kann sie nicht nur eine Antwort auf die Erfahrungssehnsucht vieler heutiger Menschen bieten, sondern als hilfreiches Transportmittel der göttlichen Gnade im Kontext von Initiation und Segnung (Taufe, Konfirmation etc.) bzw. Gottesdienst und Seelsorge (in Situationen von Schwachheit, Krankheit und Sterben; privat oder öffentlich) wirksam werden.

Literatur Quellen Luther, Martin, Werke. Kritische Gesamtausgabe, 135 Bde; II. Abt.: Tischreden, 6 Bde. Weimar 1912ff (kurz: WA TR). Die Bekenntnisschriften der Evangelisch-Lutherischen Kirche, hg. im Gedenkjahr der Augsburgischen Konfession 1930, Berlin 21978 (kurz: BSLK). Konstitution über die Heilige Liturgie, in: Herders Theologischer Kommentar zum Zweiten Vatikanischen Konzil, Bd. 1: Die Dokumente des Zweiten Vatikanischen Konzils. 78 Hollenweger, Kirchenjahr, 226.

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Konstitutionen, Dekrete, Erklärungen. Lateinisch-deutsche Studienausgabe, hg. von Peter Hünermann, Freiburg i.Br. Sonderausgabe 2009 [kurz: SC]. Taufe, Eucharistie und Amt. Konvergenzerklärungen der Kommission für Glauben und Kirchenverfassung des Ökumenischen Rates der Kirchen, Sonderdruck aus „Dokumente wachsender Übereinstimmung. Sämtliche Berichte und Konsenstexte interkonfessioneller Gespräche auf Weltebene“, Frankfurt a.M./Paderborn 101985. Traditio Apostolica. Apostolische Überlieferung, übers. von Wilhelm Geerlings, in: Didache. Zwölf-Apostel-Lehre – Traditio Apostolica. Apostolische Überlieferung (FC 1), Freiburg i.Br. 21992, 211–313.

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Konrad Klek

Spiritualität und Lied

Als Kennzeichen evangelischer Frömmigkeitskultur gilt gemeinhin die starke Verbreitung und hohe Bedeutung des geistlichen Liedes. Viele Evangelische haben eher das Gesangbuch griffbereit als die Bibel.1 Lieder oder Liedstrophen fungieren seelsorgerlich als Lebensbegleiter, Lieblingslieder stiften religiöse Identität.2 In der Frömmigkeitsgeschichte sind Neuaufbrüche stets mit neuen Liedern verbunden. Diachron wie synchron, die vielen Strömungen und Gruppierungen heute im Blick, lassen sich wesentliche Unterschiede am jeweils gesungenen Liedgut festmachen, sowohl inhaltlich wie musikalisch stilistisch. Man könnte eine Topografie religiöser Gruppierungen heute nach der jeweiligen Stilistik des Singens erstellen. Phänomenologisch wäre das wohl ergiebiger als das Aufsuchen theologischer oder konfessioneller Unterschiede. Letztere treten mehr und mehr in den Hintergrund. Schon das „Neue geistliche Lied“ seit den 1960er-Jahren ist ein ökumenisches Phänomen.3 Die Kultur geistlichen Singens korreliert in Adaption wie Abgrenzung jeweils spezifisch mit dem gesellschaftlichen Umfeld. So machen sich heute vielfach Einflüsse der Popkultur geltend. Durch den signifikanten technischen Aufwand dabei (Verstärker, Lichtregie) kommt es auch zu strukturellen Neubestimmungen der Konstellationen beim Singen. Die kirchliche wie die allgemein gesellschaftliche Praxis ist durch eine Vielfalt von Singkulturen gekennzeichnet. Spezifikum im kirchlichen Raum ist die Gleichzeitigkeit des Ungleichzeitigen, wie sie etwa das breit gestreute Repertoire des Gesangbuchs verkörpert, das in regelmäßigen, etwa eine Generation dauernden, Abständen erneuert und zwischendurch mit Ergänzungsliederheften 1 Anekdote aus meinem persönlichen Umfeld: Der Großvater, ein Bauer auf der Schwäbischen Alb, steht vor einer mehrmonatigen Kurbehandlung und packt seine Sachen. Die Großmutter fragt: „Hoscht au d‘Bibel dabei?“ – „Noe, dia brauche net, I hab jo‘s Gsangbuach.“ 2 Bubmann, Musik und Spiritualität; umfänglich Heymel, Gesangbuch. 3 Im evangelischen Bereich galt zunächst der Terminus „Neue Lieder“ (NL), „Neues geistliches Lied“ (NGL) wurde bei den Katholiken zum Standardbegriff und hat sich allgemein durchgesetzt. Auch die Singkulturen der Freikirchen haben hier große Bedeutung.

Spiritualität und Lied

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fortlaufend in die Gegenwart hinein erweitert wird. Die spirituellen Bedürfnisse der Menschen zeitigen stets neue Formen der Expression im Lied. Dadurch wird aber das Vorausgehende nicht obsolet. Die „Wolke der Zeugen“ (Jörg Erb) im Lied wächst unablässig, das Verhältnis von Herkömmlichem und Aktuellem in seiner Relevanz für die Gegenwart ist stets neu zu bestimmen, nicht nur von den Gesangbuchredaktionen, sondern auch von jedem/jeder Gläubigen für sich selbst. Gerade im Medium Lied befindet sich die Kirche geistlich in stetem Wachstum und nährt sich von einem quasi unerschöpflichen Sprachreservoir mit Erfahrungen im Glauben. Dies kann spirituelles Erleben immer wieder neu anstoßen und befördern. Im Folgenden werden einige historische Stationen aufgerufen und beleuchtet im Blick auf ihre spirituelle Relevanz einst und heute. Dabei stehen weniger die Inhalte des Singens als die spezifischen Singvollzüge im Fokus.

1.

Lieder als Vademecum

Das Jahr 1524 gilt als Geburtsjahr des Gesangbuchs. Die erste Publikation reformatorischer Lieder in Buchform hat eine eigentümliche Titelformulierung:4 Eyn Enchiridion oder Handbüchlein. eynem ytzlichen Christen fast nutzlich bey sich zu haben / zu stetter ubung und trachtung geystlicher gesenge und Psalmen / Rechtschaffen und kunstlich verteutscht. Inhaltlich unspezifisch heißt das Büchlein schlicht Enchiridion, zeitgenössischer Terminus technicus für Schriften, die in ihrem handlichen, bzw. Pockettauglichen Format als Vademecum fungieren. Der Untertitel macht deutlich, dass genau dies die Intention ist: „stete Übung und Betrachtung geistlicher Gesänge“ ermöglicht dieses Buchformat. Während geistliche Gesänge bisher in großen Folianten stationär an den Ort des liturgischen Gebrauchs fixiert und dem liturgischen Personal vorbehalten waren, kann dank „Handbüchlein“-Format diese Lieder jede(r) im Alltag „bei sich haben“ und bei Gelegenheit aus der Tasche ziehen. De facto ermöglicht das Liederbüchlein also geistliche exercitio („Übung“), Meditation in heutiger Terminologie, im Alltag der Laien-Christen. Was bisher Mönchen und Nonnen in Klöstern vorbehalten war, kann nun Allgemein-Gut im Wortsinn werden, ein Gut, das den klösterlichen Abusus ersetzt, wie ihn das Vorwort drastisch benennt: „dass sye allein den gantzen Tag ym chor gestanden seyn / unnd nach artt der Priester Baal mit undeutlichem geschrey gebrullet haben / unnd noch yn Stifft kirchen und klostern brullen / wie die 4 S. die Faksimile-Edition 1983. Dieser Publikation ging voraus das in Nürnberg gedruckte sogenannte Achtliederheft, eine Kompilation diverser Flugblätter, das von der Bindetechnik her editorisch nicht als Buch gelten kann.

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Waltesel zu eynem tauben Gott.“5 Ziel ist, alle Menschen zu mündigem Christsein zu befähigen. Durch „Übung und Betrachtung“ dieser Lieder eignen sie sich die Fähigkeit zum Verstehen und damit zur Participatio an liturgischer Praxis der Kirche an: „Auff das auch ein mall der gemeyn Christlicher hauffe mit der zeyt möge leren verstehen / was man handle under d‘gemeyn yn syngen und lesen.“6 Das Enchiridion-Kleinformat (und auch diese Benennung) bleibt einige Zeit Kennzeichen der neuen Liederbücher. Das erste unter Luthers Regie dann 1529 gedruckte Wittenberger Gesangbuch7 korreliert im Mini-Format dem Betbüchlein8 und dem Kleinen Katechismus. Für Luther und seine Mitstreiter mag die katechetische Stoßrichtung der Publikationen im Vordergrund stehen,9 Lehre und geistliches Leben sind aber keine Gegensätze. Die „stete Übung und Betrachtung“ deutscher geistlicher Gesänge dient der Verbreitung der neuen Lehre, bzw. des „heyligen Euangelion/ so itzt von Gottes gnaden widder auffgangen ist“, wie es Luther an anderer einschlägiger Stelle, in der Vorrede zu Johann Walters Chorgesangbuch 1524, formuliert, indem sie im Medium Lied die innerliche Aneignung befördert. Den Singenden geht das Gesungene ins Herz. Luther spricht in derselben Vorrede vom „Eingehen“ und vom „Lust“-Faktor dabei. Die affektive Dimension ist entscheidend, das Herz als Sitz der Affekte will bewegt werden („movere“). Walters Liedsätze seien dazu da, dass die Jugend „etwas heylsames lernete / unnd also das gute mit lust / wie den jungen gepürt / ingienge.“10 Das Lernen des Guten und Wahren als „Heilsamem“ bewegt und verändert das Herz und öffnet es für den wahren Glauben. Der Clou des Formats Liederbuch11 ist also seine Tauglichkeit für spirituelle Praxis im Alltag, wozu gerade auch der Schul-Alltag gehört. Die liturgische Funktion als Rollenbuch der Gemeinde, wie es der Begriff Gesangbuch heute impliziert, ist damals kaum im Blick.12 Im öffentlichen Gottesdienst gibt es lange Zeit nur wenig Gemeindege5 Der Luther in Sachen Polemik nicht nachstehende Autor ist nicht genannt. Konrad Ameln vermutet im Geleitwort zur Faksimile-Ausgabe (a. a. O., 9) als Verfasser Johann Eberlin von Günzburg, der sich seit 1521 in Wittenberg aufhielt und 1524 in Erfurt nachgewiesen ist. 6 A. a. O. im Vorwort (ohne Paginierung, zweite Seite). 7 Die erste Auflage des heute nach dem Verleger benannten Klugschen Gesanguchs ist nicht erhalten, s. die Faksimile-Edition der offenbar identischen zweiten Auflage von 1533. 8 S. die Faksimile–Edition der revidierten und illustrierten Auflage von 1529. 9 Schon auf dem Titelblatt zum Erfurter Enchiridion steht wie als Fußnote gesetzt „Mit dysen und der gleichen Gesenge soltt man bilbyllich die yungen yugendt aufferzihen“. Das ist wohl auch als verkaufsförderlicher Hinweis für die Zielgruppe der Lehrer so platziert. 10 S. die Faksimile-Edition. 11 Den Begriff „Gesangbuch“ verwendet Walter 1524 im Sinn von Chorbuch mit mehrstimmigen, kunstvollen Sätzen. Liedersammlungen als solche heißen einfach „Geistliche Lieder“ (z. B. Klug 1533). 12 In Straßburg allerdings werden die Lieder von Anfang an in die Gottesdienstordnung („Deutsch Kirchenampt“) integriert. So kommt es hier zur Fixierung auf das liturgisch kompatible Psalmlied, welche Calvin dann für die Genfer Reformation übernimmt.

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sang13 und wenn, wird auswendig gesungen – darin durchaus „by heart“, wie die Engländer sagen, – was zuvor an anderen Orten im Alltag gelernt, verinnerlicht wurde. Musikalisch sind die geistlichen Lieder des Reformationsjahrhunderts nicht auf instrumentale Begleitung angewiesen, man kann sie wie alle zeitgenössischen Lieder einfach so singen, alleine oder in Gemeinschaft mit anderen. Offensichtlich hat es vielen Spaß gemacht, die neuen „Martinischen Lieder“ zu singen, etwa fahrenden Handwerkern, die sie auf ihren Stuben zusammen singen und mit sich von Stadt zu Stadt nehmen, um sie da auch öffentlich vorzutragen.14 Sie haben das Potenzial zum Protestsong, zum öffentlichkeitswirksamen Plädoyer für eine neue allgemein praktikable Spiritualität jenseits der Klostermauern.15 Andererseits öffnet ihnen Johann Walter gleich 1524 den Zugang in die von Lateinschul-Chören wie Hofkapellen kultivierte Kunstmusik mit seinen kunstvollen mehrstimmigen Sätzen. Solche Liedsätze unterschiedlicher Komplexität sind zudem geeignet für individuelle, ambitioniertere Musikpraxis etwa Laute spielender Sänger wie Martin Luther selbst. Lange vor seiner Idee zu geistlichen Liedern hat er sich bekanntlich das Laute-Spiel beigebracht, um mit Unterstützung durch das Instrument singend seine depressiven Anwandlungen bekämpfen zu können. Wenn das schon mit weltlichen Liedern funktioniert, wieviel mehr kann man nun dem Teufel ein Schnippchen schlagen mit explizit anti-satanischen, weil geistlichen Liedern. Gut hundert Jahre nach den ersten Liederbüchern nötigt der allgemeine musikalische Stilwandel hin zur »Monodie« – solistischer Gesang zur vom »Generalbass« gesteuerter Harmonie – zur demgemäßen Inkulturation der geistlichen Lieder. Um 1640 bringen Johann Schop in Hamburg (zu Texten von Johann Rist) und Johann Crüger in Berlin (zu Liedern von Luther und diversen anderen Autoren) Liederbücher mit Generalbass-Notation auf den Markt.16 Die Melodien der neuen Lieder sind stilistisch darauf abgestimmt (z. B. Crügers Melodie zu Jesu, meine Freude). Dem allgemeinen Leitbild des Solo-Gesangs als affektivem Ausdruck des Inneren korreliert die poetische Gattung des „Ich– Liedes“ gerade auch im geistlichen Bereich. Dies sind ebenfalls Gesänge für die spirituelle Praxis im Alltag. Praxis pietatis melica ist bei Crüger (seit 1647) der signifikante Liederbuchtitel,17 im Untertitel steht erneut „exercitio“: „Vbung der Gottseligkeit in Christlichen und trostreichen Gesängen“.18 Auf dem textreichen 13 14 15 16 17 18

Küster, Musik, passim. Das ist belegt durch explizite Verbote gegen diese Praxis; vgl. Mager, Lied. Vgl. Klek, Singen. Vgl. dazu Küster, Musik, 160–171. S. die kritische Gesamtedition, Halle 2014ff. S. die Ausführungen zur Korrelation zwischen „Übung“ und „Gottseligkeit“ bei Crüger im Anschluss an Johann Arndt bei Bunners, Frömmigkeit, 56–58.

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Titelblatt wird unten die gottesdienstliche Verwendung als „Auch“-Bestimmung noch genannt, aber eben nicht nur im „Kirchen-Gottesdienst“: „Auch zur Beforderung so wol des Kirchen= als Privat=Gottesdienstes / mit beygesetzten Melodyen / nebest dazu gehörigem Fundament“. Im öffentlichen Gottesdienst werden diese Gesänge vor allem als Vortrags-Lieder fungiert haben, wie es die musikalisch ausgebauten Fassungen Crügers mit vier Vokalstimmen und zwei instrumentalen Oberstimmen (1649/1657)19 nahelegen. Schon dass Crüger in erstaunlich kurzen Zeitabständen neue, im Bestand stets differierende und vermehrte Folge-Ausgaben seines Liederbuchs tätigt,20 zeigt, dass der Gebrauch als Gemeindegesangbuch nicht die primäre Zweckbestimmung sein kann, denn da wäre Konstanz gefordert. Die schnellen Neuauflagen befriedigen vielmehr spirituelle Bedürfnisse individueller „Praxis pietatis“ nach aktueller geistlicher Poesie. So kommt seit 1647 auch Paul Gerhardt als Liederdichter zum Zug.21Als Crügers Nachfolger Johann Georg Ebeling 1666/67 in zehn Folgen à zwölf Liedern eine Gesamtausgabe der Gerhardt-Lieder unter dem wieder signifikanten Titel Geistliche Andachten in elaborierten Liedsätzen vorlegt,22 widmet er die letzte Lieferung namentlich den Sponsorinnen des aufwändigen Unternehmens und bringt als Vorrede dazu eine heutiger „feministischer Theologie“ kaum nachstehende Würdigung der Rolle der „Frauenzimmer“ in der Bibel, mündend in die Feststellung: „Noch heutzutage sind sie andächtiger im Gebet, emsiger in allem Gottesdienst, auch zur Demut und Verzeihung viel geneigter als die Männer. Sie sind dieselben, welche den lobsingenden Engeln nachfolgen und mit geistlichen Liedern die Ehre Gottes zu vermehren am liebsten anzustimmen pflegen“.23

Während im öffentlichen Gottesdienst weiterhin das Schweigegebot „mulier tacet in ecclesia“ gilt, sind Frauen in der spirituellen Alltagspraxis also Vorbild. Ihr Lobpreis Gottes ist nicht weniger Abbild des himmlischen Lobgesangs der Engel als das regulierte Gotteslob im „Kirchen-Gottesdienst“.24 Seit der Aufklärungszeit werden in kirchenamtlichen Gesangbüchern die Lieder ohne Melodien abgedruckt. Die musikalische Fassung wird so Sache der Organisten und findet 19 S. die beiden kritischen Werkausgaben der Geistlichen Kirchen Melodien, Münster 2014 und Germersheim 2014f. 20 Es sind zehn Ausgaben bis 1661, ein Jahr vor Crügers Tod. 21 Vgl. Grosse, Paul Gerhardt, in: Handbuch Evangelische Spiritualität. Band 1: Geschichte, Göttingen 2017, 281–298. 22 S. die Faksimile-Ausgabe der Geistlichen Andachten und die Monografie dazu von Elke Liebig, Ebeling. 23 Wiedergegeben in Bubmann/Klek, Davon ich singen und sagen will, 99–101, das Zitat 100. Auch das vierte Heft der Edition ist Sponsorinnen gewidmet. 24 Vgl. in Leichenpredigten der Zeit als Topos die Würdigung der Spiritualität von Frauen gerade in Bezug auf ihre Singpraxis des geistlichen Liedes.

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im „Choralbuch“ einen eigenen Ort. Im 20. Jh. gibt es dann davon abgeleitete Ausgaben für den häuslichen Klavier-Gebrauch. Mit den Gitarrengriffen zu den „Neuen Liedern“ seit den 1960er-Jahren kehrt der direkte musikalische AlltagsZugriff ins geistliche Singen zurück. Die Gitarrengriffe heute entsprechen dem Generalbass im 17. Jh.25 Dass die heutigen Lieder harmonisch schlichter gestrickt und damit einfacher zu spielen sind als die der Barockzeit, ist als Unterschied nicht essenziell. Entscheidend ist, dass für jeden „User“ ein harmonischer Raum im Wortsinn greifbar wird, der dem unter Umständen zaghaften Singen – alleine oder in der Familie / Gruppe – eine atmosphärische Umgebung öffnet, die dem Wirken des Gottesgeistes förderlich sein kann. Gitarrengriffe ermöglichen niederschwellig Praxis pietatis im Alltag ohne Anleitung durch kirchlich Verantwortliche oder musikalische Profis.26 Und die Gitarre kann als „Vademecum“ fungieren, ein Instrument, das eben an allen Orten einsetzbar ist und so überall und allezeit auch die „Exercitio“ geistlicher Lieder ermöglicht.

2.

»Des sind wir froh, io, io« – mystische Ekstase im Lied

Im Laufe des Reformationsjahrhunderts tritt bei neuen Liedern der Lehr-Aspekt in den Hintergrund zugunsten der seelsorgerlichen Ausrichtung als »Trostlied«. In dezidiertem Kontrast zur Lebenswelt, die gekennzeichnet ist von Leid und Tod, errichten die Lieder eine spirituelle Gegenwelt, welche die himmlische Heilsperspektive vor Augen stellt. Sprachlich kommen in der Mystik bewährte Bilder und Vorstellungen verstärkt zum Zug. Musikalisch kann es ungewohnt ekstatisch zugehen. Zwei besonders signifikante Beispiele seien benannt.

In dir ist Freude in allem Leide (EG 398) In einer Gothaer Edition von zwanzig „lieblichen und gantz anmutigen“ Weihnachts- und Neujahrsliedern in fünfstimmigen Vokalsätzen ist einem wenige Jahre zuvor publizierten italienischen Tanzlied („Zum fröhlichen Leben lädt Amor uns ein“) dieser geistliche Text unterlegt.27 Auch wenn Dreier-Takte im 25 „Gitarrrengriffe“ sind Harmoniebezeichnungen, die ebenso mit anderen Harmonie-Instrumenten genutzt werden können. Auch der Generalbass im Barock war nicht auf bestimmte Instrumente festgelegt. 26 Dass die EKD beim Evangelischen Gesangbuch von 1993 Ausgaben mit Gitarrengriffen ausgeschlossen hat, ist symptomatisch für kirchenamtliches Misstrauen gegenüber unkontrollierbarer privater Praxis pietatis. Zum in diverser Hinsicht alternativen Gesangbuchkonzept von Bayern/Thüringen gehört auch eine eigene Schulausgabe mit Gitarrengriffen. 27 Marti, Freude.

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geistlichen Lied immer schon vorkamen, ein solch dezidiert akzentuierender Dreiertakt-Tanz im gefälligen F-(Dur-)Ton mit nicht Lied-gemäßen, sondern Tanzsatz-typischen Wiederholungen pointiert deutlich. Die mystische Vorstellung von der visionären Participatio am himmlischen Reigentanz ermöglicht die geistliche Umdeutung. Als Lied von der Liebe Jesu, die auch die Grenze des Todes überwindet, eignet es sich den Tanz des italienischen Liebesliedes an und überführt ihn in ewige Wahrheit. In spiritueller Perspektive ist der Dreiertakt („Tripla“) Symbol göttlicher Vollkommenheit und damit himmlischer Wirklichkeit, analog zum Dreieck in der bildenden Kunst. „Liebliche und anmutige Gesänglein“ im Liederbuch-Titel ist mystische Diktion. „Dulcis“ als Inbegriff für das Heilserleben scheint hier durch, ebenso die Neigung zu Diminutivformen als Signet größter Intimität der Glaubenden mit Jesus als Bräutigam. Wer dieses Lied singt, sich in seinen mitreißenden Schwung und seine „anmutige“ Dur-Harmonik28 hineinfallen lässt, katapultiert sich in eine andere Wirklichkeit, partizipiert ohne Rück-Sicht auf die Faktizität von allem Leide schon im irdischen lieben und loben (Strophe 2) am himmlischen Halleluja.29

Wie schön leuchtet der Morgenstern (EG 70) / Wachet auf, ruft uns die Stimme (EG 147) Der Unnaer Pfarrer Philipp Nicolai weiß sich der Not einer Pestepidemie 1597 nicht mehr anders zu erwehren, als sich ganz der Meditation der biblischen Heilsbilder zu widmen. Er schreibt als umfängliches Trostbuch „allen betrübten Christen / so in diesem Jammerthal / das Elende auff mancherley Wege bauwen müssen“ seinen „FrewdenSpiegel deß ewigen Lebens“. Als dies 1599 in Druck geht, enthält es, formal als Appendix, inhaltlich als Skopus, drei Lieder, die zwei benannten mit eigener Melodie. „Ein Geistlich Braut-Lied der gläubigen Seelen / von Jesu Christo jrem himmlischen Bräutigam“ ist das erste tituliert, das zweite „Ein anders von der Stimm zu Mitternacht / und von den klugen Jungfrauen / die jhrem himmlischen Bräutigam begegnen“.30 Die in der Mystik kultivierte Braut/ Bräutigam-Metaphorik zieht bei den einmal sieben, einmal drei Strophen alles in Bann, so sehr, dass beide Lieder heute nur mit sprachlichen Glättungen als

28 Um 1600 gab es noch keine Dur-Tonarten. Dieses „Dur“ ist ein signifikanter Sonderfall im Kontext der sogenannten Kirchentonarten. 29 Beachte die Adaption dieses Liedsatzes durch Jörg Zink in seinem ebenfalls zweistrophigen Morgenlied Dich lobt der Morgen. Der Schluss lautet: Wir aber gehen, von dir gesehen / in dir geborgen durch Nacht und Morgen / und singen ewig dir: Halleluja! 30 Zitiert nach der Edition dieser beiden Lieder in Geistliches Wunderhorn, 146–166.

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gesangbuchtauglich gelten.31 Extreme sprachliche Verdichtung voll biblischer Symbole geht einher mit einer besonderen Strophenform, die selber Symbol der Unmittelbarkeit der Christusbeziehung ist:32 Binnenreime auf engstem Raum (lieblich/freundlich) bilden den Zenit jeder Strophe, bei Eia, Eia, bzw. Amen, Amen und io, io sogar als quasi sinnfreies, Glossolalie-ähnliches Wiederholen. Die Melodie beim Morgenstern-Lied wiederholt demgemäß die Ruf-Terz einfach, ein Kinderlied-Topos. Ausgerechnet diese beiden geistlichen Lieder wurden zu „König und Königin der Choräle“ stilisiert, dabei sind sie schon formal für ein Kirchenlied viel zu „strange“. Wieder ist die mystische „Süße“ des Glaubenserlebens in (F-)Dur-Tonalität direkt spürbar, bei beiden Liedern signifikant mit den Dreiklang-Tönen im Initium hervorgehoben. Als Akrostichon ein Epitaph auf den 1598 mit 15 Jahren verstorbenen Sohn des Arolser Grafen, vormals Nicolais Privatschüler, sind beide Lieder komplementär zueinander konzipiert.33 Der Tod des geistlichen Zöglings hat also die verdichtende wie polyvalente Ausdrucksweise im Lied provoziert. Nicht Hunderte von Trostbuch–Textseiten, sondern zwei Lieder drücken als gesungenes Wort letztlich alles aus. Die Pointe am Ende des Wachet auf-Liedes ist in der Gesangbuch-Fassung verloren: … des sind wir froh, io, io, ewig in dulci iubilo.34 Die Sprache flippt sozusagen aus in ekstatische Jubellaute, das finale in dulci iubilo ist seit dem Mittelalter Inbegriff für die Seinsweise der Gläubigen im himmlischen Leben, eben „süße“ Freude ohne jeden Beigeschmack von Bitterkeit, wie er das irdische Leben stets begleitet.35 Die ekstatische Dimension spiritueller Praxis pietatis hat dann später namentlich im Liedgut des Pietismus wieder ein Ventil gefunden. Der Daktylus als Versmaß und dem korrespondierend der Dreiertakt waren nun sehr beliebt und für die Hüter kirchlicher Zucht und Ordnung Indizien des Verwerflichen. Lobe den Herren (EG 316) von Joachim Neander (1680) ist ein Musterbeispiel dafür.36 Das Gutachten der Wittenberger Fakultät über das neue Gesangbuch der Hallenser 31 Vgl. die umfänglichen Liedbesprechungen bei Rößler, Liedermacher, 318–336; zu EG 70 bei Zimmerling, Evangelische Mystik, 61–65. 32 Gemeinhin wird die Strophenform als Abbild eines Abendmahlkelches gedeutet, dafür gibt es im Originaldruck des Freudenspiegels aber keine Anhaltspunkte. 33 S. Kadelbach, Lieder. 34 Vgl. den Schlusschoral von Bachs Choralkantate zum Lied BWV 140. Leider hat dieser Choralsatz im EG, als Schlussnummer des Stammteils platziert (EG 535), nicht die originale Textfassung. 35 S. das Zeugnis des Mystikers Heinrich Seuse von seiner Vision des himmlischen Tanzens und Singens, abgedruckt bei Möller, Kirchenlied, 67. Zum dort genannten Weihnachtslied In dulci iubilo gehört auch die eia-Formel, die sich im Morgenstern-Lied in Str. 5 findet. 36 Neander polemisiert im Vorwort zu seiner Liedausgabe explizit gegen die lateinischen TextWendungen im Morgenstern-Lied Nicolais! S. die Quellenpräsentation bei Möller, Kirchenlied, 165.

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Pietisten (1704/1714) beschwört denn auch die Gefahr der „Raserey“, in welche das Herz der Gläubigen durch solche Lieder gebracht werden könne.37 Namentlich Frauen sind da wohl „gefährdet“. Es verbreiten sich Nachrichten von beim Singen ausgeflippten „Mägden“. Das bestätigt Ebelings Bemerkung zur spirituellen Leidenschaft singender Frauen. Trotz kirchlicher Domestizierung als „Choral“ haben Nicolais Lieder ihre starke Ausdruckskraft bewahrt. Das Ekstatische an ihnen kommt dank kongenialer, vom Textdichter selbst geschaffener Melodien eher zur Geltung in künstlerischer Verarbeitung.38 Letztlich ist die ekstatische Dimension der Praxis pietatis nicht zu domestizieren. Das Ekstatische des Glaubens wird sich stets neuer Formen bedienen, wenn denn geeignete auftauchen – wie einst die italienischen Tanzlieder. Heute zielen viele Formen und Techniken der elektronisch unterstützten oder generierten Popmusik bei den Rezipienten auf körperlich-ekstatische Selbstvergessenheit ab.39 Sie sind reichlich verfügbar und prägen in Anwendung auf geistliche Lieder diverse spirituelle Szenen, namentlich im charismatischen Bereich. Sound und Beat sind vorrangig für das musikalische Erscheinungsbild, die Bedeutung der Textebene tritt gegenüber dem musikalischen Setting zurück. Die Lieder werden nur noch partiell in Liederbuch-Drucken auf Dauer gestellt, üblich ist in Gottesdiensten die Ad hoc–Einblendung via Beamer. Mitsingen ist dann durchaus erwünscht, aber nicht nötig, da die Band mischpultgesteuert den Raumklang alleine bewerkstelligt. In dir ist Freude und Lobe den Herren sind damit inkompatibel schon alleine wegen des rhythmisch nicht handhabbaren Dreier-Taktes. Und erstaunlicherweise bevorzugen die neueren Lieder eher Moll als Dur. Gegenüber „Liedern“ als gewissermaßen „volle Dröhnung“, auch in der säkularen Alltagskultur bis zum Übermaß strapaziert, sind durchaus Gegenströmungen zu konstatieren, etwa hin zu verhaltenem a-cappella-Gesang (Taizé) oder Gregorianik als eigentlich Spirituellem.

37 Siehe die ( jeweils nur partiellen) Wiedergaben des Gutachtens (1716) bei Möller, Kirchenlied, 179f und Meyer, Geist-reiche Lieder, 123. 38 Zu beiden Nicolai-Liedern wären etwa Max Regers Choralfantasien für Orgel zu nennen. Eindrückliche Chorvertonungen zu Wachet auf gibt es im 20. Jh. von Hugo Distler (1935) und Heinz Werner Zimmermann (1979), auch eine ekstatische Orgeltoccata von Jan Janca (1985). Mit nur zwei Melodien, die auf Musiker stets inspirierend wirkten, hat Pfarrer Nicolai sich einen Platz in jedem Musiklexikon gesichert! 39 Vgl. Fermor, Ekstasis.

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3.

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Lehre und Pathos im Lied – rationalistische Spiritualität

Der Rationalismus setzt sich im Bereich des Kirchenliedes bekanntlich besonders rücksichtslos durch.40 Die alten Lieder mit ihren umgangssprachlich nicht mehr aktuellen Sprachwelten werden aus Gesangbüchern getilgt oder bis zur Unkenntlichkeit entstellt. Gefüllt werden die amtlichen Kirchengesangbücher dagegen mit namenlosen Ad hoc-Zweckdichtungen zu den einzelnen „Glaubenswahrheiten“ und „Lebenspflichten“ der Christenmenschen. Gesungen werden diese auf wenige, aus dem bisherigen Liedgut bekannte Standard-Lehnmelodien, die als emotionales Vehikel zum Eintrichtern fungieren. Interessant ist, dass dabei gerade Nicolais zwei Melodien eine große Rolle spielen. Ihr ekstatischer Gestus, ursprünglich Symbol transzendentaler Grenzüberschreitung, wird nun pathetisch vollmundig aufgefasst. Das Morgenstern-Leuchten repräsentiert nun das Licht der Aufklärung und der Wachet auf-Appell das Aufwachen aus „selbstverschuldeter Unmündigkeit“ (Immanuel Kant). Trotz primärer Orientierung an zeitgenössischen Kategorien von Vernunft und Verstand wird in dieser Zeit eine bestimmte spirituelle Schiene stark kultiviert. „Gottesverehrung“ und „tiefste Anbetung“ machen das spezifisch Religiöse aus. Lieder sind dafür das Medium. Gott als allerhöchstem Wesen und Allmächtigem soll sprachlich wie musikalisch in höchstem pathetischem Gestus gehuldigt werden. Inflation der Ausrufezeichen ist Kennzeichen solcher Poesie: Danket dem Herrn! (EG 333). Gegenpol dazu sind dezidierte Demutsgesten ehrfürchtiger Anbetung.41 Das funktioniert so nur im stattlich besetzten, gemeinschaftlichen Gesang, etwa in den Männerchören mit ihrer großen dynamischen Bandbreite zwischen fortissimo und pianissimo. Als „weltliche“ Chorvereine kultivieren sie, ebenso wie die gemischten Chöre, bis heute eine spezifische Form der Frömmigkeit.42 Im Setting der modernen Popkultur wäre als Analogie dazu die PraisemusicSzene zu nennen, wo der zentrale Begriff „Worship“ den „Anbetungs“-Topos bedient. Gemeinhin sieht man hier eher Verbindungen zu den Erweckungsbewegungen. Signifikantere strukturelle Übereinstimmungen gibt es aber mit der Lobpreis- und Anbetungskultur im Gefolge der Aufklärung, von dezidiert inszeniertem Pathos bis hin zu männlich-einseitiger Hierarchisierung.43

40 Vgl. Leube, Gegenwärtigkeit. 41 Vgl. die signifikante Passage „Dich beten Erd und Himmel an“ im 3. Teil von Joseph Haydns Schöpfung. 42 In volkskirchlich geprägten Gegenden singen diese Chöre heute noch regelmäßig im Gottesdienst, etwa an Erntedank, Totensonntag oder Altjahrsabend als spezifischen Kasualgottesdiensten. 43 Vgl. die kritischen Ausführungen bei Bubmann, Flucht.

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4.

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Harre, meine Seele – regressive Bergung im Lied

Eine „fromme“ Kehrseite der Aufklärung zeigt auch die Volksfrömmigkeit im Medium des sogenannten geistlichen Volksliedes. Hier ist eine Spezies des geistlichen Liedes in großer Verbreitung wirksam, was Experten aller Couleur oft sprachlos macht, ein Phänomen, das eigentlich nicht sein darf, weder in modern aufgeklärten Zeiten noch in wieder erweckten oder kirchlich konsolidierten Zusammenhängen. Das Phänomen hat denn auch bis heute keinen treffenden Namen erhalten. Man spricht vom „geistlichen Volkslied“, wohl wissend, dass es keine aus dem Volk hervorgegangenen Lieder sind, sondern Kunstprodukte mit namentlich bekannter Autorschaft. Volkslieder sind es allerdings insofern, als sie vom „Volk“ leidenschaftlich gern gesungen und weiter tradiert werden, auch wenn sie es (bis 1993) nicht in den kirchlichen Gesangbuch-Kanon geschafft hatten. Für viele Menschen sind es „liebe alte Lieder“, wie sie die einzige Monografie dazu aus dem Jahr 1924 schon im Untertitel kennzeichnet.44 Der Autor Hermann Petrich hat die „Blüte des geistlichen Volksliedes“ in den Jahren 1770–1820 verortet, genau in der Hoch-Zeit aufklärerischer und rationalistischer Strömungen in den Kirchen. Es entstehen Lieder, die einerseits auf den dogmatischen Ballast früherer Zeiten ebenso verzichten wie die offiziellen neuen Kirchenlieder, die aber andererseits auf spezifische Weise Frömmigkeit lebbar machen. An bis heute bekannten, bei Petrich besprochenen Titeln aus dieser Epoche wären zu nennen Üb immer Treu und Redlichkeit / Weil ich Jesu Schäflein bin / Der Mond ist aufgegangen / Ihr Kinderlein kommet / Müde bin ich, geh zur Ruh / Stille Nacht, heilige Nacht. Diese Lieder verbreiten sich mit eigenen Melodien, nicht mit (alten) Lehnmelodien. So haben sie auch musikalisch ihren authentischen Tonfall. Die Liederhefte bringen oft eine zweistimmige Fassung. Der „Zwiegesang“ in Terzen- und Sextparallelen gilt als Inbegriff des alpenländischen Volkslieds45 und damit als Urbild heiler Welt im Medium des Gesangs. Es ist aber schlicht eine Elementarform der harmonischen Einkleidung. Im zweistimmigen Gesang steht ein Melodiesänger nicht mehr nackt und hilflos da. Ohne Unterstützung durch ein Harmonieinstrument können zwei Menschen sich so in einem harmonischen Klangraum bergen. Diese Lieder kultivieren stark die regressive Dimension des Glaubens. Im Kirchenjahr ist speziell Weihnachten ihr Ort, im Tageslauf die Schwelle zur Nacht, im Lebenslauf sind es existenzielle Bedrohungserfahrungen und die Schwelle des Todes. Harre, meine Seele (1845) und So nimm denn meine Hände (EG 376, 1862) sind für letzteres einschlägig. „Blinde“ Selbsthingabe an Gott (EG 376,2) in 44 Petrich, Volkslied. 45 Stille Nacht, das weltweit berühmteste dieser Lieder, ist vor 200 Jahren, 1818, nachweislich als Zwiegesang konzipiert worden, vgl. Herbst, Stille Nacht.

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„schlechthinniger Abhängigkeit“ bewährt sich als Gegenpol zur Herausforderung eigenverantwortlicher Lebensgestaltung in der Moderne, welche das Problem der Kontingenzbewältigung nicht zu lösen vermag.46 Die beiden genannten Lieder sind mit Lehnmelodien in die Welt getreten, aber nicht aus der Gesangbuchtradition, sondern aus dem zeitgenössischen weltlichen Chor- und Liedgesang. Eine Abendliedmelodie des berühmten Volkslied-Meisters Friedrich Silcher (EG 376) hilft, die Schwelle am Abend des Lebens bewältigen. Die emotionale Bergung, welche die (zum Austerzen geeignete) Melodie gewährt, ist entscheidend für die spirituelle Wirkung des Liedes. Anders als bei den Arianahen Liedern des Barock entfaltet sie sich am besten in gemeinschaftlichem Gesang. So wird gerade hier „Volks-Kirche“ als Gemeinschaft mit Trostpotenzial erfahrbar.47 Hinsichtlich der Autorschaft ist bei diesen Liedern der Frauenanteil deutlich höher als sonst beim Kirchenlied – Luise von Hayn, Luise Hensel, Julie Hausmann sind die zu den aufgeführten Titeln gehörigen Namen. Vielleicht hat allein dies schon zur Geringschätzung aufseiten der männlichen Experten geführt. Jedenfalls ist es ein weiterer Beleg für Ebelings Vorrangstellung für die Frauen in Sachen (Lied-) Spiritualität. Unter den Neuen geistlichen Liedern heute zeigen viele eine ähnlich emotional-regressive Grundhaltung. Vielleicht kann man sogar die ganze Stilrichtung des „Sakropop“ in Analogie setzen zum geistlichen Volkslied. Was So nimm denn meine Hände für Beerdigungen (wie Trauungen) ist, bzw. war, leistet nun Herr, deine Liebe ist wie Gras und Ufer – ebenso eine Melodie zum Austerzen – für die Schwellensituation Trauung oder Bonhoeffers Von guten Mächten wunderbar geborgen in der verbreiteten Melodie-Fassung von Siegried Fietz bei Bestattungen und schwierigen Schwellenübergängen. Die in Neuen Liedern verbreitete, bei letzterem gegen die Textstruktur stehende Form des Refrain-Liedes stabilisiert regressiv in steter Rückkehr zum vertrauten Leitvers.48 Refrain-Strukturen sind schon immer konstitutiv für geistliches Singen. Im klösterlichen Psalmgebet wurde die Antiphon als Leitvers/Refrain kultiviert und das Responsorium ist eine an der Wiederholung orientierte Singform. Bei den Taizé-Gesängen schließlich gibt es gleichsam nur noch Refrains in mehrfach wiederholten einstrophigen Singformen. Dies korreliert mit „Meditation“ als Kreisbewegung.

46 Siehe zu diesen beiden Liedern und ihrer Bedeutung heute Klek, LiederTrost. 47 Gemeinschaftliche Rituale von Russlanddeutschen mit solchen Liedern sind in diesem Zusammenhang signifikant. 48 Beim beliebten Segenslied Herr, wir bitten komm und segne uns repräsentiert das Gegenüber von Strophen und Refrain explizit die progressiv/regressiv-Polarität von Kampf in der Welt und Stärkung im Glauben.

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Es ist zu konzedieren, dass für viele Menschen heute die religiöse Praxis vor allem kompensatorisch den regressiven Gegenpol verkörpert zum „Fortschritts“Zwang von Arbeitswelt und gesellschaftlicher Realität. Der für die Lebensbalance unerlässlichen Stabilisierung dienen gerade solche Lieder und Gesänge.

5.

Lied oder Choral?

Die beim geistlichen Volkslied konstatierte terminologische Unschärfe ist ebenso gegeben bei den Begriffen geistliches Lied, Kirchenlied, Choral. Im evangelischen Bereich spricht man meist vom „Choral“, wenn man das Kirchenlied meint, also ein im kirchlichen Gebrauch approbiertes geistliches Lied. In der Hymnologie vermeidet man diesen uneigentlichen, ökumenisch nicht kompatiblen ChoralBegriff, da dieser hier für den gregorianischen Choral reserviert ist. Der falsche, oft emphatisch besetzte Choral-Begriff spiegelt eine in der Aufklärungsepoche zum Ideal erklärte und ästhetisch überhöhte Praxis kirchlichen Liedgesangs: (sehr) langsamer, feierlicher Gesang in gleichförmigen Notenwerten mit der Melodie in der Oberstimme des mehrstimmigen, homophonen Satzes, den die Orgel zelebriert. „Einfachheit und Langsamkeit“ verbürgen „höchste Feierlichkeit und Würde“. Zugleich gibt das den Liedern die praktische „Tauglichkeit, von einer sehr zahlreichen Menge Volks, wenn es gleich im eigentlichen Verstande nicht musikalisch ist, abgesungen zu werden.“49 In der Romantik wird dies noch weiter idealisiert als „a capella“-Gesang nach dem zeitweilig überkonfessionell attraktiven Vorbild der Singpraxis in der Sixtinischen Kapelle.50 Ästhetisch verkörpert „der Choral“ so den sakralen Gegenpol zur weltlichen Konzert- und Opernmusik. Diese Choralästhetik erscheint allgemein plausibel, so dass choralartige Instrumental-Partien auch ohne Zitat bestimmter Melodien in „weltlichen“ Musikgattungen als spezifisch religiöse Symbole fungieren.51 De facto hat die pathetische Überhöhung des Liedes zum Choral das gemeinsame Singen nicht befördert. Im Gegenteil gibt es viele Klagen über mangelnde Beteiligung am Gemeindegesang. Die „besseren Leute“ verstehen sich als 49 Aus der Vorrede von Justin Heinrich Knecht zum 1799 in Stuttgart erschienenen Choralbuch, zitiert nach Leube, Gegenwärtigkeit, 143. 50 Im Zuge allgemeiner Rom-Begeisterung wurde in den 1820er-Jahren in Württemberg tatsächlich erwogen, vierstimmigen Gemeindegesang a cappella als Regelform einzuführen. Vgl. den a-cappella-Choral Nun danket alle Gott in Mendelssohns Lobgesang op. 52. Die theoretische Programmschrift dazu verfasste der evangelische Heidelberger Jurist Justus Thibeaut, Über Reinheit der Tonkunst, 1824/1826. 51 Beim evangelischen Mendelssohn in Kammermusik (Klaviertrio op. 60) und Sinfonie (2. Satz des Lobgesang op. 52) ebenso wie beim Katholiken Bruckner (diverse Bläser-„Choräle“ in den Sinfonien).

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zu vornehm, um bei solch ästhetisch unbefriedigendem und innerlich teilnahmslosem „Schreien“ mitzumachen. Das religiöse Symbol Choral taugt also nicht für den Vollzug gelebter Frömmigkeit!52 Der findet im Privaten statt oder in den eigenen Versammlungen der Erweckten. Die Lieder, die da gesungen werden, sind dann auch andere, eben die geistlichen Volkslieder oder die speziellen Lieder der Erweckungsbewegung (mit Übernahmen aus dem angelsächsischen Raum). Dafür gibt es auch eigene Liederbücher.53 Begleitet wird nun mit Klavier in „besseren Kreisen“ oder mit Harmonium, der billigeren Alternative. Der näselnde „dolce“-Klang dieses Instruments passt allerdings auch gut zur spezifischen Innerlichkeits-Emotionalität erweckter Frömmigkeit, weshalb Kirchenleute verächtlich vom „Harmonium-Christentum“ sprechen. Im Zuge der Kirchenlied-Restauration im 19. Jh. unternimmt eine bestimmte Strömung den Versuch, nicht nur die originalen Liedtexte zu restituieren, sondern auch die originale Rhythmik der alten Melodien, wie sie das offizielle Eisenacher Kernlieder-Gesangbuch von 1853 präsentiert. Dahinter steht die Einsicht, dass Lieder wesentlich über ihren Rhythmus als Melodien fasslich sind und zum Singen motivieren.54 Nachdem zunächst nur Bayern mutig den rhythmisierten Choral konsequent durchsetzt, bringt zu Beginn des 20. Jh. die allgemeine Singbewegung und deren Einfluss auf die kirchliche Jugendarbeit die Wende. Natürliches, also rhythmisches und höchstens mit „Klampfe“ begleitetes Singen gilt nun allein als authentische Selbstäußerung und Medium der Integration in einer Gruppe. In den verschiedenen Formationen der Jugendbewegung definiert sich die Identität der Jugendlichen über einen Stilbruch zur bisherigen „bürgerlichen“ Leitkultur. Die hier ansetzende „Kirchenmusikalische Erneuerung“ setzt gegen alle Spielarten von „Harmonium-Christentum“ ideologisch eine neue Leitkultur, die des „Altdeutschen“. Die Lieder des Reformationsjahrhunderts sind nun der Maßstab aller Dinge. Gerade in ihrer Sprödigkeit im Vergleich mit romantischer Sentimentalität sollen sie die gebotene Objektivität und Wahrhaftigkeit gegenüber subjektiver Innerlichkeit verbürgen.55 In der Konzeption des 1950 beschlossenen Evangelischen Kirchengesangbuchs (EKG) hat sich dieses Leitbild durchgesetzt. Eine wichtige Vorstufe dazu ist das 1938 erschienene württembergische „Gesangbuch für die Jugend“. Es stößt nicht nur auf Zustimmung.56 52 S. die Quellentexte zur Choralsingfrage im 19. Jh. in Bubmann/Klek, Singen und Sagen, 190– 192. 53 Reichslieder heißt eine in hundertausenden Stückzahlen immer wieder neu aufgelegte Liedersammlung. 54 S. Klek, Lieder. 55 S. die Quellentexte zur Rückbesinnung auf die Reformation im Kontext der Singbewegung in Bubmann/Klek, „Singen und Sagen“, 181–185. 56 S. zur Vorgeschichte des EKG die gründliche Arbeit von Cornelia Kück, Kirchenlied.

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Aber nach 1950 wird über die in fast allen Gemeinden als Pressure group agierenden Kirchenchöre dieses neue, am ganz Alten orientierte Singen kirchliches Allgemeingut. Frömmigkeit, die sprachlich und musikalisch mit Sentimentalität einhergeht, wie sie namentlich in pietistischen Gruppierungen weiter tradiert wird, gilt nun prinzipiell als verdächtig. Der Quartsextakkord oder die Durchgangsseptime in Liedsätzen sind Todsünden – je spröder, desto wahrer. Im Gegensatz zur Dur-Seligkeit erbaulicher Lieder wie geistlicher Volkslieder haben jetzt die alten Kirchentonarten wieder Konjunktur. Das nach 1945 neu konstituierte Kirchenmusiker-Amt als Kantor und Organist führt trotz Verwurzelung in der Singbewegung zur Vorrangstellung der Orgelbegleitung beim Liedgesang im Gottesdienst. Das Leitbild des Legato-Orgelspiels bleibt aber – bei durchaus neuen, scharfen Orgelklängen – dem 19. Jh. verhaftet. So werden die Orgel-gesteuerten „Choräle“ des Gemeindegesangs offenbar als eher äußerlicher Vollzug von Liturgie empfunden, nur wenig erlebnisfähig. Anders wäre die massive Frontstellung nicht zu erklären, welche das „Neue Lied“ provoziert. Ab den 1960er-Jahren errichtet es eine Gegenwelt des Singens, gepaart mit alternativem Sound von Keyboard, Synthesizer, Schlagzeug etc.; „Choräle“ stehen jetzt definitiv am Pranger, gelten als uneigentliche religiöse Sprachform, weil nur kirchlich angeordnet, aber jenseits von Lebens- und Glaubenswirklichkeit der Menschen, zumindest der jüngeren. Trotz inzwischen vielfach realisierter „Crossover“ der Stile geistlichen Singens gilt auch heute noch in vielen Kreisen: Wenn ein Lied als Choral tituliert wird, hat es als Lied verloren. Authentischen Ausdruck von Frömmigkeit können nur Lieder bieten, Choräle sind kirchliche Pflichtübung. Solange es nicht gelingt, die Kirchenlieder (genannt: Choräle) als geistliche Lieder für Menschen von heute zu profilieren, bleiben sie für die Praxis pietatis ungenutzt. Die seit Jahrzehnten andauernde ungeheure Liedproduktion im Bereich des NGL mit ziemlich kurzen Verfallszeiten einzelner Liederhefte und stilistischer Strömungen ist strukturell analog zu früheren Zeiten des Auf- und Umbruchs, etwa bei Pietismus und Aufklärung in der ersten Hälfte des 18. Jh. Heute haben die Mechanismen des Medienmarktes starken Einfluss. Mit geistlichen Liedern wird auch viel Geld verdient. Das darf aber prinzipiell kein Einwand sein hinsichtlich potenzieller spiritueller Qualität solcher Lieder. Allerdings wird Gütesiegel sein, dass ein Lied sich längere Zeit in der Alltagspraxis hält. Wenn der Glaube Halt geben soll in der Flüchtigkeit des Lebens, ist „Haltbarkeit“ von Sprach- und Singformen essenziell.

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Vom Lied zum Song

Ein charakteristisches Signet heutigen geistlichen Singens ist die große Bedeutung von alternativen Singformen zum Lied. Das in Strophenform organisierte Lied ermöglicht unter dem Dach der Einheit stiftenden Melodie, bzw. Strophenform, die Entfaltung von Inhalten, das Beleuchten von diversen Perspektiven, auch dramatische Fortschreitungen. Martin Luther geht mit seinen eigenen Liedern voran auf diesem Weg der Entfaltung, während die ihm als Ansatzpunkt dienenden, bereits vorliegenden volkssprachlichen Gesänge (Leisen/Antiphonen) in der Regel auf eine Strophe konzentriert waren. Die barocken Lieder mit oft über zehn Strophen (etwa bei Paul Gerhardt) sind dann umfängliche Explorationen, um Leben und Glauben in der beiderseits erforderlichen Komplexität zur Deckung zu bringen. Die „Betrachtung“ solcher Lieder – oft besser im Lesen als im Singen – erfordert viel Mit- und Nachdenken. In der Rezeption durch die Gläubigen haben sich oft einzelne Strophen herausgeschält als „Lieblingsstrophen“, die ähnlich wie Bibelsprüche durch das Leben tragen und sich in Krisensituationen bewährt haben.57 Die populären geistlichen Lieder im 19. Jh. sind dagegen überwiegend dreistrophig, korrelieren darin dem durchschnittlichen Auffassungsvermögen der Menschen und folgen dem Grundbedürfnis, einer Sache gewiss zu werden, sie sich einzuverleiben im Dreischritt – „Aller guten Dinge sind drei“. Als Alternative zum Strophenlied kultiviert die Singbewegung seit den 1920erJahren den Kanon, Elementarform polyphonen Singens mit der geistlichen Implikation, dass in der Mehrstimmigkeit alle „mit einem Mund“ (Röm 15,6) dieselbe Stimme singen.58 Namentlich mit der einschlägigen Singpraxis in den Kommunitäten (z. B. Iona, Taizé, Jesus-Bruderschaft) als stark spirituell geprägter Lebensform inmitten der modernen Welt kommt die No-name-Singform auf, dass eine einzige Sentenz, nicht in Strophenform und ohne Reimschema, eine Gesangsfassung erhält, welche das Absingen in beliebig vielen Wiederholungen trägt. Der dafür konstitutive, mehrstimmig homophone Satz bestimmt die Atmosphäre, öffnet den Raum für „Meditation“ auf der Basis einer musikalischen Bewegung im Kreis ad infinitum. Mitdenken im barocken Sinne wird hier dezidiert vermieden. Auch die (ursprünglich) überwiegend fremde Sprache des Latein steht dem entgegen und fungiert dezidiert als nicht-weltliche Sakralsprache. Klangliches Ideal für diese Art musikalischer Spiritualität ist – den Romantikern im 19. Jh. vergleichbar – der (mehrstimmige) a-cappella-Gesang 57 Dazu ist Band 8 der Top-Kirchenliedgeschichte des 19. Jh. von Koch/Lauxmann, Geschichte, mit Darstellung der „Segensspuren“ der Lieder eine Fundgrube. 58 Von daher finden sich im EG diverse Kanons. Originärer Sitz im Leben der Kanon-Singpraxis sind Singwochen der kirchlichen Singbewegung als musikalisch-spirituelle Exerzitien.

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möglichst vieler, wie er sich bei den großen Treffen in Taizé realisieren lässt. Nicht triumphalistisches Fortissimo mit Orgeltutti oder Posaunenbläsern ist gefragt, sondern das Pianissimo möglichst vieler Stimmen als „Sound“ der Anbetung, das dann sukzessive anschwellen kann und dabei ggf. von Instrumenten dezent unterstützt wird. Während Strophenlieder jeder Ausdehnung der individuellen Rezeption als Leselied offenstehen, sind diese Gesänge, „Songs“, oder wie immer man sie bezeichnen mag, auf gemeinschaftliche Praxis pietatis angewiesen. Verortet sind sie in der liturgischen Praxis von Kommunitäten, welche das gemeinschaftliche Gebet betonen bei gleichzeitiger Modifikation des klösterlichen Stundengebets. Ihre Kraft entfalten sie nur in gemeinschaftlicher Liturgie. Sie haben auch in diversen Spielarten Einfluss genommen auf landeskirchliche Gottesdienstgestaltung. Ihre Beliebtheit fungiert als heilsames Gegengewicht gegen die evangelische Tendenz zu Individualisierung und Entliturgisierung der Glaubenspraktiken. Anders gesagt – mit dem Sound der Taizé-Gesänge können Menschen neu Zugang und Bergung finden in spirituellen Vollzügen einer Gemeinschaft.

7.

Zwischen Verstummen und Massengesang

Musik umgibt die Menschen im Alltag heute in zuvor nicht gekanntem Ausmaß. Wenn es nicht die Rundumbeschallung in Kaufhäusern, Restaurants, oft auch am Arbeitsplatz ist, haben viele permanent einen Knopf im Ohr, über den sie sich in einer akustischen Kulisse bewegen. Der „Soundtrack“ ist dabei Resultat selbst gewählter Zusammenstellung. Für die Musiktitel, die man sich auf seinen elektronischen Wiedergabemedien abspeichert, hat sich umgangssprachlich der Begriff „Lieder“ eingebürgert. Die eigenen „Lieder“ sind also heute nicht die Gesänge, die man am liebsten (alleine oder mit anderen) selber singt, sondern die Musiktitel, die man als „favorites“ abgespeichert hat, um sie nach Belieben anhören zu können. Das Enchiridion von damals im Pocket-Format ist jetzt das Smartphone, das oft geradezu zwanghaft als „Vademecum“ fungiert. Ob bei den angehörten Musiknummern de facto gesungen wird, also eine Textbotschaft dabei ist, spielt nicht die Hauptrolle. Wenn Texte dabei sind, sind sie dem „Mainstream“ gemäß überwiegend in englischer Sprache. Für das Gefallen sind „Sound“ und Rhythmus vorrangig, weniger die Inhalte. „Von allen Seiten umgibst du mich“ (Ps 139,5) – diese spirituelle Dimension des Lebens im Glauben an Gott realisiert sich heute als selbst inszenierte, musikalische Kulisse des Alltags. Dabei trägt die allgemeine Verfügbarkeit von technisch aufwändig und perfekt produzierter Musik wesentlich dazu bei, dass selber zu singen „out“ ist, nicht nur (dramatisch) außer Übung, sondern dezidiert „uncool“. Es gilt als mehr oder

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weniger kindisch und wird als peinlich empfunden.59 Ist Mitsingen, Mit-Einstimmen die originäre Form der Zustimmung und Teilnahme am Singen anderer, gibt es bei angehörter Musik diverse Formen der Partizipation, vom dezenten, rhythmisch analogen Bewegen einzelner Körperteile über Mitlaufen im Takt (beim Joggen) bis hin zu ekstatischen Bewegungen des ganzen Körpers. Mitsingen – bei eingespielten Gesängen – ist natürlich auch möglich, wird aber in der Regel nicht motiviert, da man bei eigenem Gesang die spezifischen Sound-Reize des Vorgetragenen verpassen würde. Gleichwohl führt der Wiederholungseffekt beim vielfachen Anhören zur Memorierung der Gesänge, so dass ggf. beim Rockkonzert mit einem der Stars die einschlägigen Hits von den Massen mitgesungen werden. De facto ist es wohl eher ein Mitgrölen, jenem groben Schreien vergleichbar, das die Beobachter des Gemeindegesangs in der Aufklärungszeit als abschreckend und nicht frömmigkeitsförderlich verbuchten. Ein weiterer öffentlicher Ort des gesellschaftlich arrivierten Massengesangs ist das Fußballstadion. Hier wird sogar „choraliter“ gesungen, einstimmig ohne Begleitung, mit überwiegendem Männerstimmenanteil sogar fast im Sound des Klostergesangs alter Zeiten. Diese massenkulturellen gesellschaftlichen Kontexte sind prägend für breite Kreise der Bevölkerung. Herkömmliche Sprachformen der Praxis pietatis sind da im Wortsinn nicht mehr en vogue. Nicht einmal das Singen eines geistlichen Volkslieds des 19. Jh. passt dazu, wie folgender Witz deutlich macht: Am Heiligen Abend ist vor der Bescherung unter dem Weihnachtsbaum der Tradition gemäß „Stille Nacht“ angesagt. Ehe der Familienvater die CD einlegt, spricht er feierlich: „Bevor wir jetzt das herrliche Lied hören, wollen wir uns daran erinnern, dass es noch arme Leute gibt, die es selber singen müssen“.60 Es gibt als Gegenbewegung bis Gegentrend von verschiedenen Seiten (Schulbehörden, Musikschulen, Musikverlage, vernetzte Initiativen bis hin zum Rundfunk) Unternehmungen, um den Verlust des Singens (namentlich in Deutschland) als allgemeiner Kulturtechnik zu revidieren. Dabei wird die Chance elektronischer Medien genutzt, bisher nicht Bekanntes durch „Vorsingen“ vorzustellen und zum Mitsingen einzuladen. Singen als eminent körperliches Geschehen bleibt aber angewiesen auf den echten Körper- und Raumkontakt mit Vor- und Mitsingenden. Das Singen in kirchlichen Räumen mit all seinen verschiedenen Konstellationen und Facetten ist diesbezüglich essenziell.61 Singende Menschen als animierendes Gegenüber und Räume, wo das Singen klingt, sind Voraussetzung für die Selbstentdeckung jedes Menschen als singfähige Person, als Individuum, das sich selbst singend mit einbringen kann in das Loben 59 Vgl. Klek, Scham und Ekstase, 107f. 60 Nachgewiesen a. a. O., 106 (Fußnote 6). 61 Vgl. a. a. O. 110–112.

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Gottes, das die ganze Welt umspannt, und gerade darin sich als von Gott angenommen und getröstet erfährt. Im gesellschaftlichen Trend des Massengesangs liegen Events, im spirituellen Bereich etwa die erfolgreichen Pop-Oratorien von Dieter Falk (Die 10 Gebote 2010, Luther 2015). Mit 2500 Leuten im Band- wie Elektronik-aufgeputschten Chor zu singen, ist eine spezifische Entgrenzungserfahrung, die weder im „stillen Kämmerlein“ oder in der Gemeindegruppe mit Gitarre noch im kirchlichen Gottesdienst mit Orgel möglich scheint. Es bleibt Aufgabe, mit den bewährten Liedern aller Zeiten, von Lutherlied bis Stille Nacht, von In dir ist Freude bis Von guten Mächten, von Lobe den Herren bis Danke und mit allem, was da immer wieder neu „auf den Markt“ kommt, möglichst plausibel Zeugnis davon zu geben, dass auch die unspektakuläre, alltägliche oder allsonntägliche „Exercitio“ geistlicher Lieder die Verheißung trägt: Wo zwei oder drei in meinem Namen versammelt sind und singen, da bin ich mitten unter ihnen (nach Mt 18,20).

Literatur Quellen Das Erfurter Enchiridion. Gedruckt in der Permentergassen zum Ferberfaß 1524, hrsg. von Konrad Ameln, Kassel etc. 1983 (DOCUMENTA MUSICOLOGICA I/ XXXVI). Das Klugsche Gesangbuch 1533, ergänzt und hrsg. v. Konrad Ameln, Kassel etc. 1983 (DOCUMENTA MUSICOLOGICA I/XXXV). Geistliches Wunderhorn. Große deutsche Kirchenlieder, herausgegeben, vorgestellt und erläutert von Hansjakob Becker, Ansgar Franz usw., München 2001. Crüger, Johann, PRAXIS PIETATIS MELICA. Edition und Dokumentation der Werkgeschichte, Im Auftrag der Franckeschen Stiftungen zu Halle herausgegeben von HansOtto Korth und Wolfgang Miersemann unter Mitarbeit von Maik Richter, Halle 2014ff. Gerhardt, Paul, Geistliche Andachten samt den übrigen Liedern und den lateinischen Gedichten, hrsg. v. Friedhelm Kemp, Bern 1975. Luther, Martin, Ein Betbüchlein mit Kalender und Passional. Wittenberg 1529, Nachwort von Frieder Schulz, Kassel 1982. Möller, Christian (Hrsg.), Kirchenlied und Gesangbuch. Quellen zu ihrer Geschichte, Tübingen 2000. Rosenberger, Burkhard (Hg.), Johann Crügers Geistliche Kirchen-Melodien (1649). Textkritische Edition, Münster 2014 (Wissenschaftliche Schriften der WWU Münster XVIII/ Band 3). Eichhorn, Holger/Lubenow, Martin, Johann Crüger. Kritische Ausgabe ausgewählter Werke. Crüger Concert Choräle, Bd. I–III, Germersheim 2014f. Walter, Johann, Das geistliche Gesangbüchlein „Chorgesangbuch“, hg. v. Walter Blankenburg, Kassel 1979 (DOCUMENTA MUSICOLOGICA I/XXXIII).

Spiritualität und Lied

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Forschungsliteratur Bubmann, Peter, Flucht ins Formelhafte? Praise-Songs – eine theologische Kritik, in: Musik und Kirche 86/2016, 239–246. –, „… weil sie die Seelen fröhlich macht“. Musik und Spiritualität, in: Zimmerling, Peter (Hg.), Handbuch Evangelische Spiritualität, Band 2: Theologie, Göttingen 2017, 249– 266. Bunners, Christian, Singende Frömmigkeit – Johann Crügers Widmungsvorreden zur Praxis Pietatis Melica, in: ders., Johann Crüger (1598–1662) – Berliner Musiker und Kantor, lutherischer Lied- und Gesangbuchschöpfer. Aufsätze, Bildnisse, Textdokumente, Berlin 2012, 51–74. Fermor, Gotthard, Ekstasis. Das religiöse Erbe in der Popmusik als Herausforderung an die Kirche, Stuttgart 1999. Herbst, Wolfgang, Stille Nacht! Heilige Nacht! Die Erfolgsgeschichte eines Weihnachtsliedes, Zürich/Mainz 2002. Heymel, Michael, Das Gesangbuch als Lebensbegleiter. Studien zur Bedeutung der Gesangbuchgeschichte für Frömmigkeit und Seelsorge, Gütersloh 2012. Kadelbach, Ada, Die geistlichen Lieder Philipp Nicolais und die höfische Akrostichontradition, in: dies., Paul Gerhardt im Blauen Engel und andere Beiträge zur interdisziplinären Kirchenlied- und Gesangbuchforschung, Tübingen 2017, 315–332. Klek, Konrad, Zwischen Scham und Ekstase. Kirche als Ort, ins Singen zu kommen?, in: PrTh 43/2008, 105–112. –, LiederTrost, in: Eckart Liebau/ Jörg Zirfaß (Hg.), Dramen der Moderne. Kontingenz und Tragik im Zeitalter der Freiheit, Bielefeld 2010, 129–140. –, „Singen und Sagen“ – Reformatorisches Singen als öffentlicher Protest, in: ders./Bubmann, Peter (Hg.), Davon ich singen und sagen will. Die Evangelischen und ihre Lieder, Leipzig 2012, 11–26. –, Die rechten Lieder singen – Gesangbuchreform und Singbewegung im 19. und 20. Jahrhundert, in: ders./Bubmann, Peter (Hg.), Davon ich singen und sagen will. Die Evangelischen und ihre Lieder, Leipzig 2012, 169–180. Koch, Eduard Emil/ Lauxmann, Richard, Geschichte des Kirchenlieds und Kirchengesangs der christlichen, insbesondere der deutschen evangelischen Kirche, Band 8: Die Kernlieder unserer Kirche im Schmuck ihrer Geschichte, Stuttgart 1876. Kück, Cornelia, Kirchenlied im Nationalsozialismus. Die Gesangbuchreform unter dem Einfluß von Christhard Mahrenholz und Oskar Söhngen, Leipzig 2003. Küster, Konrad, Musik im Namen Luthers. Kulturtraditionen seit der Reformation, Kassel/ Stuttgart 2016. Leube, Martin, Gegenwärtigkeit als Hauptkriterium – Zur Auswirkung der Aufklärung auf das Kirchenlied, in: Bubmann, Peter/Klek, Konrad (Hg.), Davon ich singen und sagen will. Die Evangelischen und ihre Lieder, Leipzig 2012, 135–149. Liebig, Elke, Johann Georg Ebeling und Paul Gerhardt: Liedkomposition im Konfessionskonflikt. Die Geistlichen Andachten Berlin 1666/67, Frankfurt a.M. 2008. Mager, Inge, Lied und Reformation. Beobachtungen zur reformatorischen Singbewegung in deutschen Städten, in: Dürr, Alfred/Killy, Walter (Hg.), Das protestantische Kir-

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Konrad Klek

chenlied im 16. und 17. Jahrhundert. Text-, musik- und theologiegeschichtliche Probleme (Wolfenbütteler Forschungen 31), Wiesbaden 1986, 25–38. Marti, Andreas, 398 In dir ist Freude, in: Herbst, Wolfgang/Seibt, Ilsabe (Hg.), Liederkunde zum Evangelischen Gesangbuch, Heft 15, Göttingen 2009, 48–54. Meyer, Dietrich, Geist-reiche Lieder. Der Pietismus als breite Singbewegung, in: Bubmann, Peter/Klek, Konrad (Hg.), Davon ich singen und sagen will. Die Evangelischen und ihre Lieder, Leipzig 2012, 119–134. Petrich, Hermann, Unser geistliches Volkslied. Geschichte und Würdigung lieber alter Lieder, Gütersloh 1924. Rößler, Martin, Liedermacher im Gesangbuch. Liedgeschichte in Lebensbildern, Stuttgart 2001, 303–340. Zimmerling, Peter, Evangelische Mystik, Göttingen 2015.

Christfried Brödel

Kirchenmusik als Brücke in die Welt

1.

Einleitung

„Spiritualität“ und „Kirchenmusik“ – zwei Begriffe, die allenfalls auf den ersten Blick klar bestimmt erscheinen. Was bedeuten sie genau? Spiritualität – die Eigenschaft, geistlich zu sein – öffnet den Raum hin zu Gott. Außerhalb des kirchlichen Sprachgebrauchs wird die Bezeichnung oft synonym für Religiosität gebraucht. Die Innensicht versteht unter Spiritualität die Frömmigkeit – womit wiederum ein nicht unbelasteter Begriff ins Spiel kommt, wird „fromm“ doch oft mit „einfältig“, „beschränkt“, eng im Denken assoziiert. Das kann in unserem Zusammenhang nicht gemeint sein. Das Attribut „evangelisch“ bezeichnet keine spezielle Eigenschaft der Spiritualität, sondern nur den betrachteten Bereich: die Lebenspraxis evangelischer Christen, durch die und mit der sie sich dem Unverfügbaren aussetzen, mit dem großen DU unseres Lebens, Gott, in Kontakt treten. Dies geschieht in protestantischer Nüchternheit, das heißt mit wachen Sinnen und mit wachem Geist. Evangelische Spiritualität grenzt sich deutlich ab gegen Esoterik. Sie geschieht in Freiheit: „Wo der Geist des Herrn ist, da ist Freiheit“ (2Kor 3,17). Welche Rolle spielt dabei die Kirchenmusik? Auch dieser Begriff ist unscharf. Ist Kirchenmusik diejenige Musik, die in Kirchen gespielt und gesungen wird? Die Ortsbestimmung allein reicht nicht aus, denn allzu vielfältig ist das, was in Kirchen zu den verschiedensten Anlässen musikalisch dargeboten wird. Zudem werden wir spirituelle Erlebnisse im Zusammenhang mit Musik keinesfalls auf die Kirchenräume begrenzen können. Bei vokaler Musik kann man die Frage vom Musikalischen ins Textliche übertragen. Dann ist Kirchenmusik solche, die biblische und andere religiöse Texte vertont. Besondere Beachtung müssen dabei die Kirchenlieder finden, die seit der Reformation im Zentrum der Kirchenmusik stehen. Sie zählen zum Spezifikum evangelischer Kirchenmusikpraxis. Der Terminus „evangelische Kirchenmusik“ ist durchaus sinnvoll, da die rhetorische Dimension des Musizierens in der evangelischen Kirche im Vordergrund steht. Bibel- und Liedtexte

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werden in Musik gesetzt und gewinnen dadurch eine weitere Kommunikationsebene. In der katholischen Kirche steht das lateinische Messordinarium im Zentrum. Beide Konfessionen haben entscheidende Anregungen für die Entwicklung des abendländischen Musizierens überhaupt gegeben. Ist Kirchenmusik die Musik, die sich für den gottesdienstlichen Gebrauch eignet? Welche das ist, werden verschiedene Gruppierungen in den Gemeinden heute ganz unterschiedlich beurteilen. Und sind dann Bachs h-Moll-Messe oder Beethovens Missa solemnis, die eindeutig nicht für den Gottesdienst geschrieben sind, keine Kirchenmusik? Wie man den Begriff auch abgrenzen mag; in jedem Falle gehören diese Werke in die Betrachtung der Praxis evangelischer Spiritualität hinein. Zudem haftet dem Wort Kirchenmusik in der Anschauung mancher ein antiquierter Charakter an, dem man etwas „Modernes“ meint entgegensetzen zu müssen. Unter „moderner Musik“ wiederum verstehen die Einen Popularmusik, d. h. eingängige Stücke mit dominantem, körperbetontem, tanzähnlichem Rhythmus, die Anderen zeitgenössische „E-Musik“, die nicht den Hörgewohnheiten der Allgemeinheit entspricht und bei vielen unter negativem Vorurteil steht. Kirchliche Popularmusik, mittlerweile nahezu allenthalben Bestandteil musikalischer Aktivitäten in den Kirchgemeinden, wird terminologisch nicht zur Kirchenmusik gerechnet. Bei zeitgenössischer „E-Musik“ spricht man auch von Kirchenmusik, doch wird dieser Begriff vielfach als zu eng empfunden. Besser passt „Neue Musik in der Kirche“. Dazu wird unten Näheres ausgeführt. Schließlich begegnen uns Menschen, die mit ruhiger, sanfter, harmonischer, meditativer Musik nicht nur Wohlbefinden im Allgemeinen, sondern auch spirituelle Erlebnisse verbinden. Wo liegt dabei die Grenze zur Esoterik? Im vorgegebenen Umfang dieses Beitrags werden nicht alle genannten Fragen beantwortet werden können. Doch ist es unerlässlich, die Fragestellung auf die Rolle der Musik überhaupt für das geistliche Leben aus dem Evangelium zu erweitern. Im zweiten Band des vorliegenden Werkes findet sich bereits ein Beitrag zum Thema „Musik und Spiritualität“.1 Inhaltliche Überschneidungen lassen sich nicht vollständig vermeiden. Dennoch setzt dieser Beitrag eigene Akzente, nicht zuletzt, weil sein Verfasser kein Theologe, sondern Kirchenmusiker ist.

1 Vgl. Bubmann, Musik und Spiritualität, 249–266.

Kirchenmusik als Brücke in die Welt

2.

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Rückblick auf die Entwicklung der evangelischen Kirchenmusik im 20. Jh.2

Wesentliche Impulse für das gottesdienstliche Leben der evangelischen Kirche im 20. Jh. gingen von der Berneuchener Bewegung aus, die auch eine kirchenmusikalische Erneuerungsbewegung war.3 In den 1920er-Jahren traf sich „ein Kreis junger Menschen, die die Sorge umtrieb, daß die Kirche, so wie sie sie erlebten, nur noch eine Fassade sei. Die Nachkriegsgeneration suchte religiöse Erfahrungen, traf aber in der Kirche auf eine ihr gänzlich unverständliche Lehre, auf verbürgerlichte Lebensformen und auf Gottesdienste, deren Stil für sie nichts Anziehendes haben konnte. Die Menschen, die sich in Berneuchen trafen, resignierten nicht, wollten auch dieser Kirche nicht den Rücken kehren, sondern suchten nach Wegen, wie die Kirche von innen her erneuert werden könnte“.4

Aus der Berneuchener Bewegung heraus entstand 1931 in Marburg die Evangelische Michaelsbruderschaft, eine Gemeinschaft von Männern, die sich verbindlich zu einer bestimmten Form gemeinsamen geistlichen Lebens verpflichtete.5 Musikalisch nahm sie Ergebnisse der Singbewegung in ihre Praxis auf. Im Bestreben, echte, bewährte und substanzielle Formen für Gottesdienste und Gebete wiederzufinden und zu entwickeln, entstand das Evangelische Tagzeitenbuch, das Ordnungen für die Stundengebete angibt. Diese bilden eine wichtige Komponente musikalischer Spiritualität, nicht nur in der katholischen Kirche, sondern auch in evangelischen Kommunitäten. Für die zeitgenössische gottesdienstliche Musik der beiden ersten Jahrzehnte nach dem Zweiten Weltkrieg war der Stil der „klassischen Moderne der Kirchenmusik“ bestimmend. Sie mutet uns heute karg und sperrig an; „süffige“ und gefühlsbetonte Weisen waren verpönt. Mit den namhaften Komponisten Hugo Distler, Ernst Pepping, Siegfried Reda, Hans Friedrich Micheelsen u. a. stellte sie einen Zweig der musikalischen Entwicklung im 20. Jh. dar, der sich unabhängig und losgelöst von der säkularen zeitgenössischen Musik entwickelte. Ihre Zeit endete mit den 1960er-Jahren. Damals trafen mehrere geistige Strömungen zusammen, befruchteten und bedingten einander. Von Gedanken Theodor W. Adornos beeinflusst, erklärte der Kirchenmusiker Klaus Röhring 1968 die Unmöglichkeit, sich der Auseinandersetzung mit den Ereignissen in der Zeit des Nationalsozialismus und des Zweiten Weltkriegs zu entziehen. Ausch2 Zur Geschichte der Kirchenmusik von den urchristlichen Gemeinden bis einschließlich des 19. Jh. vgl. den schon genannten Artikel von Peter Bubmann in Band 2 des Handbuchs. 3 Vgl. Hüneburg, Erneuerung, 711–732. 4 Von Lamezan, Bewegung. 5 Vgl. dazu im Einzelnen den entsprechenden Artikel von Martin Hüneburg in Band 1 des Handbuches.

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witz stand als „Inneres Datum“ stellvertretend für die ungeheuren Verbrechen, zu denen Menschen fähig gewesen waren und auch heute sind, – eine Gegebenheit, hinter die es nicht zurück ging und nach der man nicht mehr so musizieren konnte wie vorher. Röhring forderte und beschrieb eine Trennung der Produktion zeitgenössischer Musik religiösen Inhalts von institutioneller Kirchlichkeit hin zu einer freien Bewältigung der Gegenwart. Anstelle von geistlicher Musik sprach er fortan viel offener von „Musik in der Welt des Christentums“.6 Zahlreiche Komponisten im religiösen Umfeld hatten bereits vorher den Kontakt zu den musikalischen Entwicklungen der Gegenwart im nichtkirchlichen Bereich gesucht. Mit der Ablehnung einer Verkirchlichung der Musik strebten sie nach einem Ausbruch aus dem „kontrapunktischen Ghetto“.7 Es entstanden Werke von hoher künstlerischer Qualität, die sich bewusst einer Verwendung im liturgischen Ablauf widersetzten und – inner- wie außerkirchlich – keine breite Zustimmung im Kreis der Hörer fanden. Daneben entwickelte sich ab den 1960er-Jahren der Wunsch, populäre musikalische Formen in die gottesdienstliche Praxis einzubeziehen. „Gottesdienst einmal anders“ im damaligen Karl-Marx-Stadt8 (Chemnitz) in den Jahren 1963 bis 1973 steht dafür als Beispiel. Bewusst verließ man die Forderung, gottesdienstliche Musik müsse künstlerisch hochstehend und anspruchsvoll sein – zum Lob des Höchsten sei nur das Beste gut genug. Vielmehr sollte sie emotionale Beheimatung bringen, leicht verständlich, eingängig sein und dem Geschmack der Mehrzahl der Menschen entsprechen. War vorher der Blick vor allem auf Gott gerichtet, rückt nun der Mensch in den Mittelpunkt. Ihm soll die Musik gefallen, er soll durch beliebte musikalische Formen angezogen werden, die Gottesdienste und Veranstaltungen zu besuchen. Werfen wir noch einen Blick auf die Entwicklung des Kantorenberufs, die ihrerseits die große Bedeutung der Musik in der kirchlichen Praxis widerspiegelt. Bis zum 16. Jh. finden sich Berufsmusiker nur an Fürstenhöfen und in kirchlichen Zentren. Mit der Reformation entsteht der Beruf des evangelischen Kantors. Er war sehr häufig verbunden mit einer Tätigkeit als Schullehrer. Im Gefolge der Revolution von 1918 war eine solche Koppelung nur noch im Ausnahmefall auf besonderen Wunsch eines Stelleninhabers möglich. Die Kirche reagierte darauf durch die Schaffung einer qualifizierten Kirchenmusikerausbildung. Kantorenstellen mit Beamtenstatus wurden an allen größeren Kirchen eingerichtet. Nach dem Zweiten Weltkrieg veränderten sich die Verhältnisse vor allem in der DDR. Mit der Schaffung zweier Qualifikationsniveaus für hauptberufliche Kirchenmusiker (A für große Stellen, B für kleinere Aufgaben, oftmals gekoppelt mit 6 Röhring, Neue Musik. 7 A. a. O., 28. 8 Werner, Volle Kirchen.

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einem Anstellungsanteil in Katechetik oder kirchlicher Verwaltung) trat eine Differenzierung ein. Nach der Wiedervereinigung Deutschlands wurde der bis dahin noch aufrechterhaltene Beamtenstatus zahlreicher Kirchenmusikerstellen in den neuen Bundesländern abgebaut und ist heute bis auf wenige Ausnahmen verschwunden. Regionalisierung des Arbeitsbereichs und Teilanstellungen von Kirchenmusikern tragen der Schrumpfung der Mitgliederzahlen der Kirchen Rechnung.

3.

Gegenwart: Säkularisierung und Pluralisierung und ihre Konsequenzen für die Kirchenmusik heute

Die Zeit seit dem Ende des Zweiten Weltkriegs ist charakterisiert durch eine grundsätzliche Änderung der Position der Kirchen in der Gesellschaft. Ihre Auswirkungen betreffen auch die Kirchenmusik wesentlich. Noch 1950 gehörten ca. 90 % der Bevölkerung Deutschlands einer der beiden großen Kirchen an. Das hat sich seitdem grundlegend verändert. In der DDR war der Atheismus Bestandteil der herrschenden Ideologie und wurde entsprechend propagiert. Aufführungen kirchenmusikalischer Werke im nichtkirchlichen Rahmen waren lange Zeit kaum möglich. Diese Tatsache erhöhte die Bedeutung der Kirchenmusik, denn deren Werke erklangen nur in den Kirchen. Erst gegen Ende der DDR-Zeit wurden sie als „kulturelles Erbe“ in die staatliche Musizierpraxis integriert. In 1960er-Jahren gab es eine erhebliche Affinität der Jugend zur Orgelmusik – dort erlebten die Heranwachsenden einen Freiraum – sowohl durch die Kirchenräume als auch durch die Klangwelt der Orgel. In den letzten Jahren der DDR wurde die evangelische Kirche zu einem Sammelpunkt oppositioneller Kräfte, ohne sich selbst prinzipiell gegen das politische System der DDR zu engagieren. Musik spielte dabei keine wesentliche Rolle; allenfalls ist das gemeinsame Singen des Kanons „Dona nobis pacem“ zu nennen. Auch in der kirchlich geprägten Bundesrepublik Deutschland setzte eine wachsende Säkularisierung ein. Die traditionelle Christlichkeit ist teilweise bis heute erhalten, hat aber deutlich abgenommen. Vertreter der jetzt am Anfang ihres Berufslebens stehenden Generation haben vielfach eine christliche Erziehung genossen, standen sogar als Jugendliche der Kirche nahe, gaben aber später ihre Bindung an den Glauben auf. „Ein wenig Yoga, ein wenig Meditation“ ist der Rest, der von ihrer Religiosität übrig geblieben ist. Nach wie vor gilt der sonntägliche Gottesdienst als das Zentrum christlichen Lebens. Doch aufgrund des Schrumpfungsprozesses findet in wunderschönen, intakten Kirchen auf dem Lande nur noch einmal monatlich ein Gottesdienst

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statt. Das eigentliche Gemeindeleben vollzieht sich in Hauskreisen und anderen Gemeindegruppen. Die Praxis des Gottesdienstes befindet sich im Umbruch. Seine durch Jahrhunderte gewachsene, altehrwürdige Form, weitgehend basierend auf Luthers Ordnungen der deutschen Messe, ist nur noch in einzelnen großen Gemeinden lebendig. In kleinen Orten ist die Zahl der Gottesdienstbesucher sehr gering. Die gleichzeitig zum Schrumpfungsprozess der Kirchen wachsende Vielfalt der Formen des Gemeindelebens erschwert einen Überblick über die musikalische Praxis. Gibt es beim Treffen von Hauskreisen einen gemeinsamen Gesang? Sicher kommt das vor; in der Mehrzahl der Fälle aber wohl nicht. Die Entscheidung darüber fällt nicht aus prinzipiellen Überlegungen, sondern rein pragmatisch. Das Evangelische Gesangbuch ist nicht mehr neben der Bibel das verbindliche Musik- und Lebensbuch für die Gemeindeglieder. War es früher selbstverständlich, ein eigenes Gesangbuch zum Gottesdienst mitzubringen, liegen heute ausreichend Exemplare in der Kirche bereit, sofern nicht die Lieder nur von kopierten Liedzetteln gesungen werden. Dadurch wird die Bildung eines gemeinsamen Kernbestands von Liedern erschwert. Die von einigen Landeskirchen erstellten „Kernliederlisten“ versuchen dem entgegenzuwirken.9 Allgemein ist ein Rückgang der verbindlichen und verbindenden Formen zu konstatieren. Was wir im gemeindlichen Alltag beobachten, findet seine Entsprechung im innerkirchlich-professionellen Bereich. Tagungen und Fortbildungsveranstaltungen kirchlicher Mitarbeitender sind heute keineswegs zwingend mit einem liturgisch geprägten Tagesablauf verbunden. Weder eine Morgenandacht noch ein Tischgebet oder auch nur das Lesen der Herrnhuter Tageslosung oder das Singen einer Liedstrophe gehören überall zu einer kirchlichen Fortbildung, nicht einmal bei Kirchenmusikern. Zwar wird thematisiert, wie das spirituelle Leben in der Gemeinde organisiert, inhaltlich gestaltet und gefördert werden kann, doch verstehen sich die Handelnden nicht in erster Linie als Gemeindeglieder, sondern eher als kirchliche Funktionäre. Wie soll man das Bedürfnis nach einem geistlichen Leben weiter vermitteln, wenn man es selbst nicht verspürt? Wenden wir uns noch einmal dem Gottesdienst zu. Inhaltliche Klarheit, Sorgfalt in Planung und Durchführung sowie Zuwendung zu den Gemeindegliedern in ihrer jeweiligen Situation und Erwartung sind entscheidend für die Lebendigkeit der gottesdienstlichen Feier, wobei die geistliche Erfüllung unverfügbare Gabe des Heiligen Geistes bleibt. Der inhaltliche Anspruch besteht unabhängig von Besucherzahl und Umfeld. Die Unterschiedlichkeit der Bedingungen (Besucherzahl, Gestalt des Kirchen9 Bauer, Kernlieder.

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raumes usw.) stellt große Anforderungen an die Variabilität und Flexibilität der Gottesdienstgestaltung. Wichtig ist eine gute Atmosphäre, die erleben lässt, dass eine frohe Botschaft verkündet wird. Im musikalischen Bereich kommt es nicht auf die Kompliziertheit des Dargebotenen an, sondern auf angemessene Musik, die in verantwortbarer Qualität mit einem möglichst hohen Beteiligungsgrad der Gemeinde und ihrer Gruppen inhaltlich stimmig in den Ablauf des Gottesdienstes integriert wird. Ein schlichter dreistimmiger Satz des heimischen Chores, gediegen vorgetragen, muss einer durch professionelle Musiker hoch artifiziell dargebotenen Motette in nichts nachstehen. Freilich ist es unvergleichlich mühsamer, musikalische Laien zu einem erfüllten Musizieren zu erziehen (ein Prozess, der sich nicht mit kurzatmiger Projektarbeit verträgt, sondern monateund jahrelange Entwicklung in stabilen Gruppen braucht) als ein hochrangiges Vokalensemble zu engagieren, das mit geringem Probenaufwand ein hervorragendes Ergebnis liefert. Ein musikalisches Umfeld, in dem jedem höchstrangige Tondokumente der gesamten Musikliteratur auf Schallplatte, CD, DVD sowie im Internet zur Verfügung stehen, macht es den gemeindlichen Kräften schwer, im Urteil der Hörer zu bestehen. Die Ausgewogenheit zwischen maximaler Beteiligung der Gemeinde und künstlerisch aussagekräftigen Impulsen durch professionelle Kräfte erfordert einen komplizierten Balanceakt. Neben der Säkularisierung prägt unsere Wirklichkeit die Pluralisierung, verbunden mit einer immer stärkeren Betonung des Individuums, seiner Wünsche und Erwartungen. Die Differenzierung der Gesellschaft in verschiedene Gruppen hat stark zugenommen. Ihre Mitglieder erfahren ihren Zusammenhalt in gemeinsamen Lebensformen, Ansichten, durch spezielle Kleidung sowie bevorzugte und abgelehnte Musik. Die genannten Merkmale beschreiben zugleich die Unterschiedlichkeit der Gruppen. Der Gottesdienst und die anderen Veranstaltungen einer christlichen Gemeinde erheben den Anspruch, offen für alle Menschen zu sein. Daneben gibt es spezielle Angebote, die sich an bestimmte Zielgruppen richten, doch entspricht es gerade dem christlichen Denken, ganz unterschiedliche Menschen im Glauben zu verbinden. Gottesdienste sollen nicht nur Informations- und Bildungsveranstaltungen sein, sondern auch Geborgenheit und Beheimatung bieten. Es liegt auf der Hand, dass Angehörige verschiedener Gruppen, die ihre Gruppenzugehörigkeit durch die Vorliebe für eine bestimmte Richtung der Musik definieren, völlig verschiedene Erwartungen an einen Gottesdienst haben, in dem sie sich wohlfühlen. Spezialgottesdienste für einzelne Gruppen werden dieser Forderung gerecht. Trotzdem bleibt die Vision gültig, dass alle Gemeindemitglieder sich unter demselben Wort Gottes versammeln und gemeinsam in einer von allen akzeptierten Form Gottesdienst feiern. Offenheit und Blick auf das Wesentliche sind hier bei allen Seiten gefragt.

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Die Lösung der stilistischen Frage für die Musik im Gottesdienst wird durch zwei Überlegungen möglich: – Die Botschaft des Evangeliums ist nicht mit einer bestimmten Musikkultur verbunden und auf sie beschränkt. Wer an Jesus Christus glaubt, muss nicht die Musik Johann Sebastian Bachs lieben. Eine angemessene Vielfalt von Formen und Stilen ist anzustreben, wobei die geistliche Orientierung der Texte und ihrer musikalischen Realisierung entscheidendes Kriterium sein muss. – Da die einander widersprechenden Erwartungen verschiedener Gruppen nicht gleichzeitig erfüllt werden können, besteht ein Ausweg in der Verwendung offener Formen, die keiner Gruppe entsprechen, aber von allen akzeptiert werden können. Fulbert Steffensky verwendet das Bild eines Mantels, der größer als das eigene Ich ist, uns aufzunehmen und Geborgenheit zu spenden vermag. Bisher wurde davon ausgegangen, dass alle Musik prinzipiell gleichwertig ist. Aber nicht alle Musik stiftet Fröhlichkeit, Seelenfreude und Frieden. Musik steht wie jedes kulturelle Gut in der Gefahr, für fragwürdige Zwecke funktionalisiert zu werden. Gegenwart und Vergangenheit bieten dafür Beispiele in Hülle und Fülle. Immer wieder hat es Versuche gegeben, die inhaltliche Qualität von Musik in ihrem Verhältnis zur christlichen Botschaft zu bestimmen. Sie führten zu dem Ergebnis, dass es keine per se christliche Musik gibt. Es gibt zwar „Musik in der Welt des Christentums“, aber christlich zu sein ist keine musikalische Kategorie. Die Verortung der Musik erfolgt immer assoziativ durch den Bezug auf einen bestimmten Text, auf ein bestimmtes Umfeld oder auch durch musikalische Verwandtschaft mit eindeutig positionierten Werken. Christlich können Komponisten, Interpreten und Hörer sein, nicht aber die Musik. Gleichwohl wohnt der Musik eine eigene Substanz inne, die emotional berührt und nonverbal Haltungen vermittelt, die das Ereignis der Aufführung in einen bestimmten geistlichen Raum stellen. Dies ist besonders bei den Passionen Johann Sebastian Bachs wahrzunehmen. Sie erklingen alljährlich in vielen Aufführungen – nicht nur in der Passionszeit, nicht nur im kirchlichen Raum und nicht nur mit christlich gebundenen Mitwirkenden. Auch die Zuhörer sind keinesfalls alle religiös gebunden. Die vielfach diskutierte Frage, ob die Passionen und Kantaten Bachs heute eher als kulturelle Schätze der Vergangenheit oder als lebendige Glaubenszeugnisse wahrgenommen werden, lässt sich nicht eindeutig beantworten, wenn auch für viele der musikalisch-künstlerische Genuss dominiert. Die Erfahrungen widersprechen einer einseitigen Verortung. Ob in einer Aufführung religiöser Musik der Heilige Geist Gottes Menschen erreicht hat, entzieht sich einer objektiven Beurteilung. Doch stellen wir fest, dass – selbst barocke Texte, die weder unserem Sprachgebrauch noch unserem Denken entsprechen, in Verbindung mit der Musik akzeptiert werden. (Als

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Beispiel diene das Bass-Arioso aus Bachs Johannespassion: „Betrachte, meine Seel’ mit ängstlichem Vergnügen, mit bittrer Lust und halb beklemmtem Herzen dein höchstes Gut in Jesu Schmerzen, wie dir auf Dornen, so ihn stechen, die Himmelsschlüsselblume blüht. Du kannst viel süße Frucht von seiner Wermut brechen, drum sieh ohn’ Unterlass auf ihn!“) – die zentralen Erfahrungen menschlicher Existenz wie Leid, Traurigkeit, Bosheit, Missgunst, Grausamkeit, Gottverlassenheit und Tod sowie Trost und Hoffnung über den Tod hinaus, die Hörer trotz des historischen Gewandes unmittelbar erreichen und tiefe Eindrücke hinterlassen. An dieser Stelle berichte ich eine persönliche Erfahrung. Bei einer Bachakademie in der Ukraine (Donezk) wurde Bachs Johannespassion behandelt. Eine solche Veranstaltung vereint einheimische Gesangssolisten, Chorsänger, Instrumentalisten und Dirigenten, die unter der Anleitung deutscher Dozenten innerhalb von weniger als zwei Wochen lernen, das Kurswerk in allen Positionen (Soli, Chor, Orchester, Dirigat) selbstständig aufzuführen. In einer Probe dirigierte ich das Orchester beim Schlusschoral „Ach Herr, lass dein lieb’ Engelein“. Der Choral war den ukrainischen Musikern natürlich unbekannt. Wir hatten uns bemüht, zum geistigen und geistlichen Hintergrund einige Informationen zu vermitteln. Aber diese Musik entsprach nicht ihrer Tradition, und der Text war nur mittelbar durch eine Übersetzung zu erschließen. Ich merkte, dass die Choralstrophe zwar richtig gespielt wurde, von ihr aber keinerlei innere Kraft ausging. Nachdem ich auf verschiedene Weise versucht hatte, den Sinn nahezubringen, gab ich schließlich auf und wollte mich damit abfinden, dass jenes innere Leuchten, das wir kennen, hier nicht zu erreichen war. Ich ließ abschließend noch eine Strophe des Chorals spielen. Und dabei geschah etwas, was ich nicht vergessen werde: In der Mitte der Strophe änderte sich der Charakter der Musik völlig. Unter meinen Händen, aber ohne meine erneute Einwirkung, wurden die Musik und ihr Inhalt lebendig. Ich spürte, dass die Musiker verstanden hatten, was dieser Choral aussagt. Aus meiner Sicht war dies ein spirituelles Ereignis – völlig außerhalb jedes Kirchenraums und jeder gottesdienstlich geprägten Veranstaltung. Dieses und andere ähnliche Erlebnisse veranlassen mich zu meinen, dass Musik nicht nur fröhlich oder traurig, sanft oder aggressiv ist, sondern auch bestimmten Inhalten gegenüber besonders offen oder verschlossen sein kann. Meinrad Walter führt dazu aus: „Bemerkenswert sind auch die Stimmen derer, die Bachs geistliche Musik – nicht selten sogar unwillentlich – als ‚Sprache des Glaubens‘ hören. ‚In dieser Woche habe ich dreimal die Matthäuspassion des göttlichen Bach gehört, jedesmal mit dem Gefühl der unermesslichen Verwunderung. Wer das Christentum völlig verlernt hat, der hört es hier wirklich wie ein Evangelium‘, schreibt Friedrich Nietzsche am 30. April 1870 an Erwin Rhode. Und noch stärker vom Gedanken der Kunstreligion inspiriert […] äußert

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sich der rumänisch-französische Skeptiker Emile Michel Cioran (1911–1995): ‚Wenn wir Bach hören, sehen wir Gott aufkeimen, sein Werk ist gottheitgebärend. Nach einem Oratorium, einer Kantate oder einer Passion muss er existieren. Sonst wäre das gesamte Werk des Kantors nur eine zerreißende Illusion.‘ […] Cioran beteuert, was Bach ihm bedeutet. Selbst vor dem provokanten Wort ‚Gottesbeweis‘ schreckt er nicht zurück. Dennoch könnte eine andere Kategorie wichtiger sein als das Beteuern und Beweisen, nämlich das Bezeugen. Bachs Werk ist, jenseits von subjektivem Beteuern und quasiobjektivem Beweisen, ein musikalisches Glaubenszeugnis.“10

Man mag die zitierten Äußerungen akzeptieren oder nicht; jedenfalls ist die religiöse Substanz in Bachs Werk unbestreitbar und der große Thomaskantor in seiner Orientierung auf das Wort der Bibel zutiefst evangelisch. Der deutsche Komponist, Dirigent und Autor Hans Zender (geb. 1936) billigt der Musik selbst eine spirituelle Qualität zu. Er geht der Frage nach, ob es eine Musik gibt, die aus sich selbst heraus als religiös identifizierbar ist. Spiritualität von Musik sieht er im Gegensatz und Widerspruch zum heute verbreiteten Verständnis von Musik als einer mehr oder weniger anspruchsvollen Unterhaltung. Wichtigstes Merkmal spiritueller Musik ist für Zender, dass sie zur Sammlung führt, anstatt zu zerstreuen.11 Nicht jede sakrale Musik ist spirituell und nicht jede spirituelle Musik ist sakral. Treffen beide Eigenschaften zusammen, dann handelt es sich um einen ausgesprochenen Glücksfall. Spiritualität versteht Zender als einen „Bereich geistiger Präsenz und ruhiger Bewusstheit“. Dieser Begriff spiritueller Musik kann nicht auf den Bereich des Christlichen beschränkt werden. Er gilt ebenso für Musik anderer Religionen, namentlich des Zen-Buddhismus. In diesem Zusammenhang stellt sich für die Kunst die Frage nach der Wahrheit. „Minderwertige Kunst ist eine Art der Lüge“ schreibt Hans Zender.12 Je mehr die Kunst ihren eigenen Gesetzen gehorcht, um so mehr wird sie zum Spiegel und Gefäß des Unbedingten. Nie ist solche Musik nur Transportmittel für religiöse Texte, sondern sie wird in einer Einheit von Text und Musik zu einem überzeugenden Ganzen. Für alles Musizieren ist im Raum des Glaubens der Geist der Unterscheidung gefordert: nichts ist prinzipiell ausgeschlossen, aber nicht alles taugt. Die Schwierigkeit, äußere Kriterien der Unterscheidung aufzustellen, zeigt, wie sensibel und gleichzeitig verantwortungsvoll man mit diesem Problem umgehen muss.

10 Walter, Erschallet, 101. 11 Zender, Spirituelle Musik. 12 Zender, Happy New Ears, 95.

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Die Bedeutung der Kirchenmusik für eine zukünftige evangelische Spiritualität „Musik […] hat ihren Ort in allen fünf Dimensionen des kirchlichen Auftrags der Kommunikation des Evangeliums: im darstellenden Handeln in der symbolischen Kommunikation des Glaubens in der Liturgie (leiturgia), im kommunikativen Handeln als Weitersagen, Bezeugen und Bekennen der guten Botschaft Gottes (martyria), im sozialen Handeln der Herstellung und Bewahrung von gemeinschaftlichen Lebensformen in Frieden und Gerechtigkeit (koinonia), im helfend-bewirkenden Handeln zugunsten Benachteiligter, Kranker und Armer (diakonia) und im selbstreflexiven Handeln als Bildungsvollzug in Erziehung und Bildung einer religiösen Persönlichkeit (paideia).“13

Betrachten wir die Praxis des Musizierens in der Kirche, so ist zunächst grundsätzlich vom Singen zu sprechen. Von der Verbindung von Musik und Text, die die Musik in einen geistigen Deutungshorizont stellt, war bereits die Rede. Doch ist damit die herausgehobene Rolle des Singens nicht erschöpft. Singen ist ein ganzheitliches Geschehen. Wenn wir unsere Stimme erheben, wirken Leib, Seele und Geist zusammen. Die „Essener Thesen zum Chorsingen im 21. Jahrhundert“ charakterisieren die Bedeutung des Singens so: „Singen stellt ein Humanum dar, eine unverzichtbare, elementare und emotionale Lebensäußerung des Menschen. […] Chorsingen [dasselbe gilt für das Singen im Allgemeinen; C.B.] trägt in besonderer Weise zu Gemeinschaftsbildung, sozialer Integration und Persönlichkeitsentfaltung bei. Es schult das Hin-Hören und das Zu-Hören, die Selbst- und die Fremdwahrnehmung.“14

Dem Singen geht das Hören voraus. Das gilt ganz elementar: Kinder lernen sprechen und singen, indem sie akustische Eindrücke nachbilden. Es trifft aber auch im übertragenen Sinne zu. Mit unserem Singen im Gottesdienst, bei einer Andacht oder auch allein zu Hause antworten wir auf die Anrede Gottes, die wir im Wort Gottes erfahren haben. Luther sagt in seiner Osterpredigt von 1544: „Der Glaube sieht mit dem Gehör.“15 Diese Antwort wirkt auch auf uns selbst zurück. Sie geschieht nicht nur im Denken, sondern mit unserem ganzen Wesen. Was wir singen, prägt sich tief ein und wird bleibender Besitz. Wer in einem Kirchenchor singt, wird biblische Texte allein dadurch auswendig können, dass sie sich in seinem Gedächtnis in der ganzheitlichen Verbindung mit Melodie und Rhythmus eingeprägt haben.

13 Bubmann, Musik und Spiritualität, 261 14 http://www.miz.org/downloads/dokumente/114/LM_004_ADC_Essener_Thesen_Chorsingen_2002.pdf, abgerufen am 21. 05. 2018. 15 Martin Luther, Predigt am Ostersonntag nachmittags zu Markus 16,1ff; WA 49, 353–360.

352

Christfried Brödel

Die Kenntnis eines Kernbestands von Kirchenliedern ist eine „eiserne Ration“, die in Grenzsituationen des eigenen Lebens außerordentlich tragfähig und hilfreich sein kann. Seelsorger fragen sich heute schon mit Sorge, auf welche Texte man an Kranken- und Sterbebetten zurückgreifen kann, wenn „Befiehl du deine Wege“ und „Wer nur den lieben Gott lässt walten“ nicht mehr bekannt sind. Bekannt sind mehrere Fälle, in denen Schlaganfallpatienten zwar nicht mehr sprechen, wohl aber die Gesänge mitsingen konnten, die sie ihr Leben lang geübt hatten. Die Lieder der Christenheit verbinden uns einerseits mit den Glaubensgeschwistern vor uns und – hoffentlich! – auch nach uns, andererseits mit den Christinnen und Christen, die heute in der ganzen Welt leben. Unsere Choralmelodien werden nicht nur in Europa, sondern auch in Amerika und China gesungen. Stimme und Seele sind eng verbunden. Wer sich ärgert, kann nicht singen. Wer in einem Zustand seelischer Trauer den Mund zu einem Lied öffnen kann, hat diese Trauer bereits zu einem wesentlichen Teil überwunden. Der Gesang ist nicht nur Ausdruck des seelischen Zustands, sondern verändert diesen in günstiger Richtung. Im Singen bringen wir Lob, Klage, Dank, Bitte, Bekenntnis vor Gott. In den Jahrzehnten seit den 1960er-Jahren hat sich eine zunehmende Vielfalt von musikalischen Formen religiösen Ausdrucks entwickelt. Eine Beurteilung der musikalischen Qualität kann und darf nicht an erster Stelle stehen. Es geht um die Beziehung der einzelnen Glaubenden zu Gott. Ebenso wie sich die Sprache der Gebete unterscheidet, empfinden die Menschen unterschiedliche Musikformen als adäquaten Ausdruck ihres Glaubens. Eine besondere Rolle spielt die Lobpreismusik. Sie benutzt einfache Formen, zahlreiche Textwiederholungen und musikalische Mittel, die vorwiegend dem zeitgenössischen Popularstil entnommen sind. Im Mittelpunkt stehen emotionale Beheimatung, Geborgenheit und Freude, die durch die Lobpreismusik vermittelt werden. Kritik entzündet sich an der Simplizität von Text und Musik. Bei aller Akzeptanz verschiedener Geschmacksrichtungen gibt es eine zweite Betrachtungsebene. Was im vorigen Abschnitt zur spirituellen Substanz der Musik gesagt ist, gilt trotzdem. Nicht nur das Eingängige, leicht Verständliche kann der Maßstab sein. Gerade in der Kunst erweisen sich Formen, an die man sich gewöhnen und die man sich erschließen muss, als besonders fruchtbar und inhaltsreich. Ein Glaubensausdruck, der bei tieferem Eindringen und wachsender Reife wie ein Kinderkleid abgelegt wird, kann nicht der einzige sein und entspricht nicht der universellen Gültigkeit der christlichen Botschaft. Daraus ergibt sich eine wichtige Bildungsaufgabe der kirchenmusikalischen Praxis. Menschen müssen behutsam und einladend an Formen künstlerischen Ausdrucks herangeführt werden, die ihnen dann kostbarer Besitz werden können.

Kirchenmusik als Brücke in die Welt

353

Die theologische Qualität der Kirchenmusik erweist sich darin, dass sie keine ungerechtfertigten Engführungen und Simplifizierungen enthält, dass sie den Menschen zugewandt ist und sie zum Eindringen in die Welt des Glaubens einlädt. Anspruchsloses, ja Billiges, erreicht nur momentan mehr Menschen als komplexere Formen musikalischer Kunst. Die Kirchenmusik darf sich nicht nur als Dienstleister im Blick auf die Wünsche dieser und jener Gruppierungen bzw. eines vermeintlich einheitlichen Massengeschmacks verstehen. In einer unübersichtlich gewordenen Welt eignen der Musik besondere Möglichkeiten und Chancen. Musik eröffnet einen seelischen Raum. In diesem Raum sind viele Dinge gleichzeitig gegenwärtig: Töne und mit ihnen verbundene Emotionen, Vertrautes und Fremdes, Texte als Ganzes oder in Fragmenten. Musik kann gleichzeitig in mehreren Schichten zu uns sprechen. Geformte Musik (evtl. auch mit einem aussagestarken Text) ist wie ein Mantel, der den Interpreten einschließlich aller seiner möglichen Zweifel zu umgeben, aufzunehmen und zu bergen vermag. Wer musiziert, stellt sich selbst ebenso wie die Hörer unter das Kunstwerk, das er zu Gehör bringt. Und jeder Musiker weiß, dass Musik – auch die selbst improvisierte oder komponierte – mehr ist als das Gemachte und Gewollte. Auch hier ist das Entscheidende, was sich beim Musizieren und Musikhören in Menschenherzen ereignet, ein Geschenk. Musik hat die Chance, über das in Worten Formulierbare hinaus Unsagbares zur Sprache zu bringen. Was zu brutal und zu grausam, aber vielleicht auch zu zart, zu keimhaft, zu unsicher und uneindeutig ist, um in Worten ausgesagt zu werden, lässt sich durch Musik ausdrücken. Wo die Fähigkeit der Formulierung im Wort endet, stehen der Musik noch ungeahnte Räume zur Verfügung. Und auch die klar benennbaren Tatsachen erfahren in künstlerischer Verarbeitung eine sonst nicht mögliche Anreicherung. Pierre Boulez spricht von einer „Verdunkelung der direkten Botschaft […] zum Gewinn ihrer irrationalen Obertöne“.16 Neben dem Vertrauten brauchen wir auch das Fremde, das unsere Situation künstlerisch widerspiegelt, uns in Frage stellt, herausfordert und weiterbringt. Spiritualität beschreibt zunächst die Innensicht des Glaubenslebens. Doch gerade die Menschen, die aus dem Geist Gottes heraus ihr Leben gestalten, strahlen über die Gemeindegrenzen hinaus. Der Musik als Teil der evangelischen Frömmigkeitspraxis kommt in dieser Beziehung eine besondere Bedeutung zu. Die musikalischen Gruppen der Kirchengemeinden erweisen sich nicht nur als die stabilsten Säulen des Gemeindelebens, sondern ziehen auch Menschen an, die sich nicht ausdrücklich zum Glauben bekennen. Deren musikalisches Interesse rechtfertigt ihre Mitwirkung; es bedarf keines religiösen Bekenntnisses. Im Musizieren von Werken mit geistlichem Inhalt lernen sie jedoch die Welt des 16 Boulez, Ton.

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Christfried Brödel

Glaubens kennen. Nicht nur in Einzelfällen finden Menschen über das Mitsingen in einem kirchlichen Chor zum Glauben. Im Singen wird Glauben gelebt und Glauben gelernt. Darüber hinaus bildet das Hören kirchenmusikalischer Werke für viele Menschen die einzige Verbindung zur Welt des Glaubens. So bildet die Musik eine Brücke in die Welt. Die Kirchenmusik entfaltet neben der Diakonie die stärkste Außenwirkung der Kirche. „Kirchenmusik hält Ausdrucksformen des christlichen Glaubens in der Öffentlichkeit präsent. Zugleich wirbt sie für die Kirche. Sie ist in ihren vielfältigen Erscheinungsformen ein großer Sympathieträger der Kirche. Über die Mitwirkenden strahlt sie nicht nur in deren unmittelbares Umfeld hinein aus, sondern schafft darüber hinaus Verbindung auch zu Menschen, die der Kirche eher fern stehen. Sie ist eine wichtige Brücke in die säkularisierte Gesellschaft, zu der sie sich zugleich inhaltlich in großem Gegensatz befinden kann“.17

Mit ihrem Musizieren leistet die Kirche einen wichtigen Dienst an der Gesellschaft. Der Deutsche Musikrat hat das so beschrieben: „Kirchenmusik ist eines der Fundamente kulturellen Lebens in Geschichte und Gegenwart. Sie ist ein wesentlicher Faktor musikalischer wie religiöser Bildung in Deutschland. Über ihren kirchlichen Verkündigungsauftrag hinaus entfaltet sie kulturelle Prägungskraft in die Gesellschaft hinein. Dies stellt auch der Abschlussbericht der Enquete-Kommission ‚Kultur in Deutschland‘ heraus. Im Sinne der UNESCO-Konvention zum Schutz und zur Förderung kultureller Vielfalt bewahrt die Kirchenmusik kulturelles Erbe, fördert künstlerische Ausdrucksformen der Gegenwart und pflegt den Dialog mit anderen Kulturen in unserem Land. Sie stärkt damit die kulturelle Identität des Menschen. Wesentliche Säule der Kirchenmusik ist das vokale und instrumentale Musizieren. Über eine Million Menschen singen und musizieren in Chören und Instrumentalensembles im kirchlichen Kontext, von der Gregorianik-Schola über die verschiedensten Formen der Chöre und Instrumentalgruppen bis zur Rockband. In einer Zeit kultureller Verunsicherung und Entwurzelung ist es dem Deutschen Musikrat daher gemeinsam mit den beiden großen Kirchen ein Anliegen, die Bedeutung der Kirchenmusik für die Gesellschaft heute und in der Zukunft zu unterstreichen und so das Bewusstsein für den Wert ästhetischer Erfahrungen, kreativen Schaffens und geistigen Eigentums zu schärfen und zu fördern“.18

Klarer kann man nicht formulieren, was die Gesellschaft von uns erwartet. Es wäre nicht nur eine verpasste Chance, sondern dem kirchlichen Auftrag zuwider, würden wir uns diesem Dienst verweigern. Uns ist aufgetragen, allen Menschen die frohe Botschaft zu verkündigen und uns nicht auf unseren – schrumpfenden 17 Kirchenamt der EKD, „Kirche klingt“, 26. 18 Deutscher Musikrat, Resolution.

Kirchenmusik als Brücke in die Welt

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– Mitgliederbestand zu beschränken. Deshalb müssen wir die Brücke der Musik nicht nur beschreiten, sondern auch verstärken. Sie ermöglicht uns, Menschen in der ganzen Gesellschaft zu erreichen. Die Vielfalt musikalischer Formen, in denen Menschen ihren Glauben leben und ihm Ausdruck verleihen, stellt einen großen Reichtum dar. Neben der ständigen Aktualisierung und Erweiterung ermöglicht der Schatz an wunderbarer Musik des Glaubens durch regelmäßige Pflege, Wiederholung und Einübung das Wachsen von Vertrautheit, Beheimatung und immer tieferes Eindringen. Am Ende dieses Beitrags steht – stellvertretend für viele andere – ein Beispiel zeitgenössischer Musik von hoher Spiritualität. Der Dresdner Komponist Jörg Herchet (geb. 1943) schrieb innerhalb seines Kantatenzyklus „Das geistliche Jahr“ eine Pfingstkantate nach einem Text von Jörg Milbradt (geb. 1943). Das groß besetzte Werk, das 2005 seine ersten Aufführungen in Leipzig, Plauen und Dresden erlebte und 2010 zu den Landeskirchenmusiktagen in Erfurt erneut erklang, thematisiert das Pfingstgeschehen. Ausgehend von dessen Fremdheit für heutige Menschen („rätselhafte bräuche, verschollene worte, verborgener sinn“) wird die Bitte formuliert: „O geist, der du heilig heißt, komm, ja komm doch, schenke, was uns not tut.“ Die sieben Teile der Komposition lassen das geistige und geistliche Konzept erkennen, dem die Kantate in stilistischer Vielfalt (von Techno-Strophen bis zum Hymnus „Veni sancte spiritus“) folgt: das beliebige / das andere / der gegensatz / die verkündigung / die ausstrahlung / die fülle / das mannigfaltige. Der Bitte, dass alles Musizieren in der Kirche vom Geist Gottes erfüllt sein möge, verleihen zwei Gebete der Kantate Ausdruck: „o heiliger geist / … entfessle mich von den banden der eigensucht / binde mich ins ganze ein … mach licht die finsternis meiner gedanken / denke du in mir … zahl und buchstab sind ein gelächter vor dir / du machst die gedanken frei …“.19

Literatur Bauer, Siegfried (Hg.), Unsere Kernlieder, Strube Edition 6427, München 2007. Boulez, Pierre, Ton, Wort, Synthese, in: Ders., Werkstatt-Texte, 19 Texte 1948–1963, übersetzt von Josef Häusler, Frankfurt a.M./Berlin 1972. Bubmann, Peter, „… weil sie die Seelen fröhlich macht“. Musik und Spiritualität, in: Zimmerling, Peter (Hg.), Handbuch Evangelische Spiritualität. Band 2: Theologie, Göttingen 2017, 249–266. 19 Herchet/Milbradt, Pfingstkantate.

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Christfried Brödel

Deutscher Musikrat, Resolution des Deutschen Musikrats zur Kirchenmusik nach dem Kirchenmusik-Kongress „Einheit durch Vielfalt“ vom Herbst 2010, https://www.musi krat.de/musikpolitik/kirchenmusik/resolution-kirchenmusik-2010/, abgerufen am 10. 09. 2018. Herchet, Jörg/Milbradt, Jörg, Pfingstkantate, Leipzig 2005. Hüneburg, Martin, Erneuerung der Kirche durch eine neue Spiritualität: Die Spiritualität der Evangelischen Michaelsbruderschaft, in: Zimmerling, Peter (Hg.), Handbuch Evangelische Spiritualität. Band 1: Geschichte, Göttingen 2017, 711–732. Kirchenamt der Evangelischen Kirche in Deutschland (Hg.), „Kirche klingt“. Ein Beitrag der Ständigen Konferenz für Kirchenmusik in der EKD zur Bedeutung der Kirchenmusik in Kirche und Gesellschaft (EKD-Texte 99), Hannover 2009. von Lamezan, Waltraut, Der Ort ist zerstört – die Bewegung lebt und wirkt, Kirchberger Mosaik 1993, H. 1, zit. nach: http://www.uni-protokolle.de/Lexikon/Michaelsbruder schaft.html, abgerufen am 21. 05. 2018. Luther, Martin, Werke. Kritische Gesamtausgabe, Weimar 1883ff (WA). Röhring, Klaus, Neue Musik in der Welt des Christentums, München 1975 Walter, Meinrad, „Erschallet, ihr Lieder, erklinget ihr Saiten!“, Was hören wir, wenn wir diese Bachkantate hören?, Der Glaube sieht mit dem Gehör, Liturgie und Kultur, Zeitschrift der Liturgischen Konferenz für Gottesdienst, Musik und Kunst 3–2016 Werner, Matthias, Volle Kirchen in der DDR. Das Experiment „Gottesdienst einmal anders“ in Karl-Marx-Stadt (1963–1973), Münster 2013. Zender, Hans, Happy New Ears, Freiburg i. Br. 1991. –, Spirituelle Musik, in: ders.: Waches Hören. Über Musik, hg. von Jörn Peter Hiekel, München 2014, 74–92.

Kristian Fechtner

Evangelische Spiritualität im Kirchenjahr

1.

Zur gegenwärtigen Wahrnehmung des Kirchenjahres

Ob das Kirchenjahr für zeitgenössische Spiritualität oder Frömmigkeit noch eine bestimmende Rolle spielt, ist durchaus strittig.1 Schon seit längerer Zeit konnte es als ein Thema erscheinen, das bestenfalls noch theologische Expertinnen interessiert. So vermerkte der einschlägige Artikel eines theologischen Lexikons bündig: „Zwischen dem überfeinerten Kirchenjahres-Empfinden mancher Theologen und dem der Gemeinden besteht im Übrigen eine so große Kluft, dass die gemeindliche Erziehung und Unterweisung besser auf zentralere Dinge zu lenken wäre als auf das Kirchenjahr.“2

Diese Diagnose verbindet sich in jüngerer Zeit mit Klagen darüber, dass die Grundzüge des Kirchenjahres innerhalb der Gegenwartskultur mehr und mehr verblassen. Der Buß- und Bettag ist außer in Sachsen in allen Bundesländern als arbeitsfreier Tag abgeschafft worden, der Karfreitag mit seinen besonderen Regeln für das gesellschaftliche Leben verliert an Akzeptanz und der Reformationstag wird von Halloween als sich neu etablierendem Fest überblendet. Was vom Kirchenjahr gewusst wird, dünnt sich merklich aus. Auch Kirchenmitglieder haben zunehmend Mühe, über den Sinngehalt von Himmelfahrt oder Pfingsten, so sie denn mehr sind als Kurzurlaubsgelegenheiten, Auskunft zu geben. Die Befunde beziehen sich auf das ererbte Kirchenjahr, das geprägte Festzeiten, kirchliche Feiertage und die Schrittfolge der Sonntage zu einem kirchlichen Jahreskalender agendarisch zusammenfügt. Dieses „offizielle“ Kirchenjahr verliert, so scheint es, an Prägekraft für das kollektive und das private Leben, welches heute von anderen Zeit- und Taktgebern sehr viel markanter bestimmt wird.

1 Der Artikel nimmt Überlegungen auf, die an anderer Stelle bereits entfaltet wurden, vgl. Fechtner, Rhythmus. 2 Jannasch, Kirchenjahr, 1442.

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Kristian Fechtner

Zugleich jedoch findet gegenwärtig das Kirchenjahr – in dem, wie es Zeit gestaltet, und ebenso im Blick darauf, wie in ihm Zeit erlebt und gedeutet wird – wieder verstärkt Aufmerksamkeit. Eine breite Palette von Praxisliteratur zeigt, dass das Kirchenjahr in unterschiedlichen Bereichen kirchlichen Lebens an Bedeutung eher gewonnen hat: Liturgische und homiletische Arbeitsbücher entwerfen Gottesdienstmodelle und enthalten Predigtimpulse, die thematisch am Gang des Kirchenjahres orientiert sind.3 Kaum mehr zu überblicken sind religions- und gemeindepädagogische Beiträge, die den christlichen Festkalender zur Leitschnur religiöser Erziehung im Kindergarten, in der gemeindlichen Kinderarbeit und in der Grundschule machen. Schließlich finden sich zahlreiche Titel, die als spirituelle Anleitungsliteratur das Kirchenjahr in seinen als heilsam wahrgenommenen Rhythmen als Lebenshilfe erschließen und zu seiner persönlichen rituellen Gestaltung anregen wollen.4 Zugleich wird die Bedeutung des Kirchenjahres auch praktisch-theologisch stärker reflektiert. Die Kirchenmitgliedschaftsuntersuchungen haben in den vergangenen Jahrzehnten den Gottesdienstbesuch zu den Festereignissen und Feiertagen im Jahreskreis hervorgehoben. In dieser Weise am gottesdienstlichen Leben teilzuhaben, wird als eine eigenständige kirchenjahresbezogene Form gelebter Kirchlichkeit in der Gegenwart wahrgenommen.5 Das zeitgenössische Christentum wird hierzulande vornehmlich als ein Festzeitchristentum gelebt, insbesondere das „WeihnachtsChristentum“ kann dabei als Inbegriff moderner Religiosität verstanden werden.6 Wenn im Folgenden nach der Bedeutung des Kirchenjahres für heutige Spiritualität gefragt wird, dann steht das gelebte Kirchenjahr, das sich mit verschiedenen Facetten des kulturellen Lebens und mit anderen Momenten der Lebenswelt verschränkt, im Fokus der Betrachtung. Es wird hier nicht als mindere Form oder gar als eine Verfallsform des agendarisch festgehaltenen Kirchenjahres verstanden, sondern als Ensemble seiner lebensweltlich-konkreten und darin immer partikularen Gestaltungen. Doch zunächst eine Zwischenüberlegung zur Praxis des Kirchenjahres im Kontext der spätmodernen Frömmigkeit.

3 4 5 6

Vgl. Bäuerle, Kirchenjahr; Ende, Besuch. Vgl. Grün, Bilder; Behringer, Heilkraft. So der konzeptionell wirksame Beitrag von Cornehl, Zustimmung. Morgenroth, Weihnachts-Christentum.

Evangelische Spiritualität im Kirchenjahr

2.

359

Spätmoderne Frömmigkeit zwischen exponierter Spiritualität und unauffälligem Christentum

Mit dem heute meist gebräuchlicheren Begriff der Spiritualität wird – ebenso wie mit dem älteren Begriff der Frömmigkeit – die Art und Weise beschrieben, wie Religiosität lebenspraktisch zum Tragen kommt.7 Es geht um die Gestalten des Religiösen, mithin um Religion, die sich als Praxis zeigt – nicht immer in erklärter Absicht, sondern durchaus auch implizit, etwa eingebettet in Festtraditionen und Alltagsritualen. In den Blick kommen damit konkrete Praktiken, rituelle Vollzüge, symbolisierende Handlungen, in denen Menschen eine transzendenzoffene Haltung zum Ausdruck bringen. Denn Religiosität ist nicht nur eine innere Einstellung oder Überzeugung, sie äußert und artikuliert sich auch in ihren lebensweltlichen Formen. Als Ausdrucksformen christlicher Spiritualität werden solche Lebensäußerungen begriffen, die im Sinnhorizont des christlichen Glaubens gedeutet werden können. Insofern der Glaube nach evangelischer Lesart als ein lebensbestimmendes Vertrauen verstanden wird, ist er darauf aus, sich in Verhaltensweisen auszudrücken und in Handlungen mitzuteilen:8 in einer Gabe oder einem Segenswunsch, dem Ritus eines adventlich geprägten Familienkaffees oder dem Kirchenbesuch am Urlaubsort. Umgekehrt kann aber auch gelten: Die Praxis der Frömmigkeit bringt Glauben als Gewissheit allererst hervor. Ein Gebet mag gesprochen, eine Kerze entzündet werden, nicht weil, sondern damit man glaubt (Stephan Weyer-Menkhoff). Als religiöse Praxis ist der innerliche Glaube mit äußeren Formen verknüpft, das Kirchenjahr ist eine seiner geprägten Formen. Allerdings ist das Feld, das durch die Begriffe Spiritualität und Frömmigkeit abgesteckt wird, unübersichtlich und nicht einfach zu kartografieren. Drei Perspektiven heben jeweils unterschiedliche Gesichtspunkte hervor: Erstens steht aus protestantischer Sicht Frömmigkeit für die subjektive Seite der Religion, der Begriff betont insbesondere die „erfahrungsbezogene, emotional grundierte Dimension“9 von Religiosität. Damit liegen ihm zwei Unterscheidungen zugrunde, durch die das Phänomen der Frömmigkeit genauer bestimmt wird: Zum einen schwingt im Begriff die neuzeitliche Differenzierung von Christentum und Kirchlichkeit mit. Von Frömmigkeit wird – unbeschadet dessen, dass sie theologisch sehr unterschiedlich gefasst werden kann – im Sinne einer persönlich oder familiär praktizierten Religiosität gesprochen, die nicht in den institutionellen Formen von Kirchlichkeit aufgeht. Zum anderen liegt dem Begriff die Unterscheidung von (kirchlich gelehrter) Theologie und (eigensinnig 7 Vgl. Weyel, Frömmigkeit, 383. 8 Vgl. Schröder, Fides, 195f. 9 Kumlehn, Frömmigkeit/Spiritualität, 277.

360

Kristian Fechtner

gelebter) Religion zugrunde. Die individuell oder gemeinschaftlich praktizierte Religion fügt sich als Frömmigkeit nicht dem, was theologisch vorformuliert wird, sondern lebt immer auch eigenständig aus dem Fundus eigener Erfahrungen und Anschauungen.10 Zur Frömmigkeit des Kirchenjahres gehören gemeindliche Adventsandachten in der Kirche, aber womöglich auch der obligatorische Adventspunsch beim Weihnachtssingen auf dem Markt. In religionssoziologischer Perspektive wird zweitens heute vornehmlich der Begriff der Spiritualität verwendet, der die Frömmigkeitspraxis weiter fasst und zugleich Religiosität in ihrer spezifisch spätmodernen Ausprägung charakterisiert. Diese erscheint in individueller Hinsicht als eine intensivierte Form der Selbsterfahrung und betont in ihren gemeinschaftlichen Formen das kollektive Erleben; sie ist in ihrer religiösen Ausrichtung gelegentlich unbestimmt, nicht selten synkretistisch.11 Der Modus, in dem Spiritualität heute gelebt wird, ist eine offene Suche nach biografisch stimmigen Formen von Religiosität, das Sinnbild solch frei flottierender, außergewöhnlicher Religiosität ist dasjenige einer spirituellen Wanderin.12 Spiritualität in der Spätmoderne ist in ihren Ausdrucksweisen plural, sie kann sich in ästhetischen, ethischen oder auch therapeutischen Formen gestalten. Zu einer bewusst spirituellen Praxis des Kirchenjahres gehören Fastengruppen in der Passionszeit, die auf besondere leibliche Erfahrungen zielen, ebenso wie pfingstliche Einkehrtage im Kloster. Für die Wahrnehmung der Frömmigkeitspraxis im Horizont des Kirchenjahres ist eine dritte Linie wichtig. Auch wenn Frömmigkeit als die subjektive Form von Religion verstanden wird und Spiritualität als deren ich-bezogene und erlebnis-intensivierte spätmoderne Gestalt, so ist gelebte Religion – insofern sie Praxis ist – immer kulturell eingebettet und sozial vermittelt.13 Anders als es der Begriff Spiritualität nahelegt, ist gelebte Religion heute keineswegs immer exponierte Religiosität von Einzelnen oder Gruppen. Das gelebte Christentum ist auch ein kulturell eingelebtes Christentum. In volkskundlicher Perspektive wurden die traditional geprägten und praktizierten Formen von Religiosität unter dem Stichwort der Volksfrömmigkeit rubriziert. Nun ist allerdings der Begriff aus verschiedenen Gründen problematisch geworden. Kulturwissenschaftlich spricht man heute von popularer Religiosität, die sich auch in den keineswegs säkularisierten Lebenswelten der Moderne findet. Darunter fallen breitenwirksame und dauerhaft gelebte religiöse Anschauungen, alltags- und festzeitliche Handlungen und insgesamt religiöse Symbolisierungen, die innerhalb und außerhalb der Kirche „gang und gäbe“ sind.14 Das Kirchenjahr ist – vom 10 11 12 13 14

Vgl. Drehsen, Frömmigkeit, 267ff. Vgl. Ebertz, Spiritualität. Gebhardt u. a., Selbstermächtigung. Vgl. Steck, Frömmigkeit. Fechtner, Volksfrömmigkeit.

Evangelische Spiritualität im Kirchenjahr

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Adventskranz beginnend bis hin zum Friedhofsbesuch am Totensonntag – ein Raum, innerhalb dessen populare Religiosität der Gegenwart ihren Ausdruck findet und zu einem „Gewohnheitschristentum“ wird, mithin zu einem Christentum, das sich insbesondere in festzeitlichen Symbolen und Riten habitualisiert. Pointiert kann festgehalten werden: Als Kirchenjahresfrömmigkeit lassen sich individuelle und gemeinschaftliche Praktiken verstehen, die durch den Kontext des Kirchenjahres bestimmt sind und in denen sich eine religiöse Empfindung von Wirklichkeit artikuliert. Als eine Facette spätmoderner Frömmigkeit ist die heutige Kirchenjahresfrömmigkeit in einem Feld zwischen exponierter Spiritualität und unauffälligem Christentum angesiedelt. Begreift man Frömmigkeit als Ausdrucksgestalt eines Resonanzgeschehens,15 dann kann das Kirchenjahr mit seinen symbolischen Ordnungen und lebensweltlichen Begehungen heute als einer der wesentlichen Resonanzräume christlicher Religionspraxis gelten.

3.

Das gelebte Kirchenjahr als Gestaltungsraum gottesdienstlicher und privater Frömmigkeit

3.1

Das Kirchenjahr als Lebensgestalt des Christentums

Das Kirchenjahr ist der Jahreskalender der Christenheit, in dem die Festzeiten, Feiertage und die fortlaufenden Sonntage in einer wiederkehrenden Abfolge zusammengefügt worden sind.16 Das Kirchenjahr ist historisch gewachsen, es variiert konfessionell und kulturell und hat zugleich einen prägnanten Grundrhythmus ausgebildet, der sich durch die beiden großen christlichen Festzeiten – den Osterfestkreis und den Weihnachtsfestkreis – sowie durch die nach Pfingsten beginnende Trinitatiszeit bestimmt. In den lutherischen und unierten Kirchen der Reformation hat es durch die Agenden und Gottesdienstbücher eine liturgische Textur, die sich in der Lese- und Predigttextordnung ebenso niederschlägt wie im Wochenlied, den Tagesgebeten und den liturgischen Farben. Als christliches Jahr hat es seit seinen Ursprüngen in der Alten Kirche charakteristische Züge des jüdischen Festkalenders aufgenommen, aber auch religiös-kulturelle Elemente seiner paganen Umwelt. Zugleich rekurriert es auf naturzeitliche Rhythmen und orientiert sich in seinen Datierungen auch an der Zeitrechnung des bürgerlichen Jahres. Kurzum: Die Gestalt des Kirchenjahres speist sich aus unterschiedlichen Quellen und bildet in sich ein Gefüge divergierender und 15 Vgl. Rosa, Resonanz. 16 Vgl. als Grundinformation zur Struktur und Geschichte des Kirchenjahres: Bieritz, Kirchenjahr.

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Kristian Fechtner

korrespondierender Zeitbezüge, die im Horizont des christlichen Glaubens integriert und interpretiert werden. Vor diesem Hintergrund bildet das heute gelebte Kirchenjahr eine der wesentlichen Lebensgestalten des Christentums. Dies gilt in kirchlicher, kultureller und individueller Hinsicht: Es bestimmt den gottesdienstlichen Spielplan kirchlicher Praxis, es ist eine wesentliche Referenz des gesellschaftlich in Geltung stehenden Jahreskreises und es prägt auch die privaten Jahreskalender und das persönliche Zeitempfinden.

3.2

Weihnachten als Inbegriff des modernen Festzeitchristentums

Weihnachten ist das dominierende Fest im Jahreskreis des neuzeitlichen Christentums, es erscheint geradezu als das „Fest der Feste“ innerhalb christlich geprägter westlicher Gesellschaften. Das „Weihnachts-Christentum“17 manifestiert sich auf unterschiedlichen Ebenen: Zu seiner kirchlichen Praxis gehören Advents- und Weihnachtsgottesdienste und zur Familienreligion die häuslichen Festgestaltungen und Feiern. Als gesellschaftliche Institution begegnet es in seinen kommerzialisierten Formen, aber auch in spezifischen kulturellen Gattungen wie der Weihnachtsliteratur oder zivilreligiösen Elementen wie der Weihnachtsansprache des Bundespräsidenten. Schließlich ist Weihnachten heute auch im weitesten Sinne ein signifikanter Gefühlsraum, es ist ein „Festivitätsgefühl“ (Karl Kérenyi), welches noch diejenigen zu affizieren vermag, die am Fest selbst nicht teilnehmen. Die Atmosphäre des Weihnachtlichen grundiert die Festpraxis und das Alltagsleben, die auch dann weihnachtsreligiöse Konnotationen haben, wenn diese gar nicht explizit zum Ausdruck gebracht werden. Ein familienrituelles Weihnachtsessen am ersten Festtag etwa kann womöglich auch ohne vorherigen Kirchgang an den weihnachtlichen Festmotiven von Heimat, Versöhnung oder Geborgenheit partizipieren. Eine individuell praktizierte besinnliche Stunde an den Sonntagabenden vor dem Weihnachtsfest kann auch dann adventliche Motive von Erinnerung, Sehnsucht und Erwartung zutage treten lassen, wenn sie nicht eigens als Adventsandacht ausgestaltet wird. Unter diesem Vorzeichen gelesen hat die weihnachtliche Frömmigkeit auch heute eine große lebensweltliche Reichweite und Ausstrahlungskraft. Im Umkehrschluss gilt aber auch: Nicht alle Ereignisse, die kalendarisch im Kirchenjahr verortet sind, werden damit per se zur Frömmigkeitspraxis des Christentums. Die bloße Tatsache, dass ein Reitturnier üblicherweise am Pfingstmontag als einem arbeitsfreien Tag stattfindet, lässt es noch nicht zu einem „christlichen“ Reitfest werden. Die Datierung allein macht es nicht. Hin17 Morgenroth, Weihnachts-Christentum.

Evangelische Spiritualität im Kirchenjahr

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gegen können städtische Weihnachtsmärkte in der Adventszeit, die von Hause aus keine kirchlichen Veranstaltungen darstellen, durchaus als Ausdrucksgestalt des Kirchenjahres im öffentlichen Raum interpretiert werden.18 Dies gilt insofern, weil sie a) innerhalb des weihnachtlichen Deutungs- und Sinnhorizontes angesiedelt sind und b) sich selbst in den Symboliken und Praxen des Weihnachtschristentums inszenieren. Von popularer Religiosität wäre nur dann zu sprechen, wenn das Kirchenjahr nicht nur als äußerer kalendarischer Rahmen, sondern als ein inszenatorischer Gestaltungsraum fungiert und in dieser Weise bedeutsam wird für das, was in ihm geschieht.

3.3

Die Dramaturgie des Kirchenjahres und seine Bedeutungsmotive

Der Aufriss des agendarischen Kirchenjahres reicht vom 1. Advent bis zum letzten Sonntag im evangelischen Kirchenjahr, dem Ewigkeits- oder Totensonntag. Als Jahresfestkreis gliedert es sich in drei Zeitabschnitte: Der Weihnachtsfestkreis erstreckt sich von den Sonntagen im Advent über die Weihnachtsfesttage bis hin zur Epiphaniaszeit; der Osterfestkreis, historisch die älteste Sequenz, umgreift die Passionszeit, hat in seiner Mitte die Karwoche und das Osterfest, und findet traditionell seinen Abschluss im Pfingstfest; die sich daran anschließenden Sonntage werden, beginnend mit dem Trinitatisfest, als Trinitatiszeit bis zum Ende des Kirchenjahres durchgezählt. Insbesondere die zweite Kirchenjahreshälfte nach Ostern bleibt in der klassischen Gliederung allerdings lebensweltlich unterbestimmt. Deshalb kann sie in stärker am gelebten Kirchenjahr orientierten Entwürfen prägnanter strukturiert werden, indem das Kirchenjahr in ein „Vier-Felder-Schema“ übersetzt wird: Weihnachten – Ostern – pfingstliche Zeit – späte Zeit des Kirchenjahres.19 Für die Frömmigkeitspraxis ergeben sich daraus Anregungen in drei Hinsichten: Erstens verbinden sich mit den vier Zeiten unterschiedliche religiöse Grundmotive: anfänglich leben (Weihnachtsfestkreis) mit den Momenten von Erwartung, Sehnsucht und Ankunft; aus dem Tod heraus (Osterfestkreis) mit den Momenten von Leiden, Abschied und Übergang; Aufbruch ins Leben (pfingstliche Zeit) mit den Momenten von Fülle, Verausgabung und Vereinigung; im Glauben reifen (späte Zeit des Kirchenjahres) mit den Momenten von Ernte, Schuld/Vergebung und Hoffnung. In dieser Weise erscheint das Kirchenjahr als ein Erfahrungsraum, in dem sich Lebensthemen und religiöse Sinngehalte wechselseitig füreinander erschließen. In seiner theologischen Textur bilden sich Inhalte des christlichen Glaubens ab: das Zur-Welt-Kommen Gottes, Kreuz und 18 Vgl. Kumlehn, Weihnachtsmärkte. 19 Vgl. Josuttis, Verführung; Fechtner, Rhythmus; Schmitt, Im Takt.

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Kristian Fechtner

Auferstehung Christi, die Freiheit und Fülle des Heiligen Geistes, Leben als göttliche Gabe, Rechtfertigungsglaube, Eingedenken der Toten und ewiges Leben. Die vier Felder des Kirchenjahres können zweitens auch als Resonanzräume begriffen werden, in denen sich je unterschiedliche Selbst- und Weltempfindungen zum Ausdruck bringen. In der evangelischen Tradition wird dies unter anderem in klassisch-vertrauten Kirchenliedern hörbar: als adventlich und weihnachtliche Gestimmtheit, angerührt zu werden und empfänglich zu sein – „Wie soll ich dich empfangen“ (EG 11); in der österlichen Empfindung, konfrontiert zu werden mit dem Leiden, standzuhalten und sich wieder aufzurichten – „… ist erstanden“ (EG 99); in der pfingstlichen Bewegung, sich nach außen zu wenden und sich hinzugeben – „Geh aus mein Herz …“ (EG 503); in der Ahnung und Besinnung, dass endliches Leben zurechtgebracht wird und gehalten bleibt – „Alles Ding währt seine Zeit, Gottes Lieb in Ewigkeit“ (EG 325). In der Frömmigkeitspraxis des Kirchenjahres werden Lebens- und Glaubensgefühle als leibliche Regungen spürbar. Schließlich kann man drittens die Phasenfolge eines Lebenszyklus in die Dramaturgie des Kirchenjahres hinein abbilden. Es bildet dann einen Spiel- und Reflexionsraum biografischer Auseinandersetzungen.20 In Anlehnung an das tiefenpsychologische Modell der Persönlichkeitsentwicklung von Erik H. Erikson21 entspräche Weihnachten dem Motiv des Ur-Vertrauens als Gefühl des Sichverlassen-Dürfens; Ostern wäre verknüpft mit der Frage nach Ich–Identität angesichts von Schuld- und Leiderfahrungen; die pfingstliche Zeit speiste sich aus dem Bedürfnis nach Generativität im Sinne schöpferischen Lebens; in der späten Zeit des Kirchenjahres ginge es um Ich–Integrität in den Ambivalenzen erfahrenen Lebens. Frömmigkeit im Horizont des Kirchenjahres wäre in dieser Perspektive ein Medium von Lebensgeschichte, die ihrer selbst und ihrer Lebensthemen religiös ansichtig wird.

4.

Beobachtungen zur Frömmigkeitspraxis im Kirchenjahr

Welche Praktiken kommen bei einem kursorischen Gang durch die Frömmigkeitspraxis im Kirchenjahr in den Blick? Die vier Zeiten haben ein je spezifisches Profil, einzelne Beobachtungen zu signifikanten Phänomenen gegenwärtiger Religiosität sollen exemplarisch als Kennzeichen heutiger Frömmigkeit notiert werden.

20 So die Anregung von Scharfenberg, Einführung, 79ff. 21 Erikson, Wachstum.

Evangelische Spiritualität im Kirchenjahr

4.1

365

Weihnachtsfestkreis

Das Weihnachtsfest und die Adventszeit sind nicht nur gottesdienstliche Hochzeiten des spätmodernen Christentums, sondern auch ausgeprägte Zeiten häuslicher Familienreligiosität. Den Fluchtpunkt bildet der Heiligabend als familiär bestimmtes Fest, das häufig mit dem Besuch eines Gottesdienstes verbunden ist. Die verschiedenen Gottesdienste am Nachmittag und Abend des 24. Dezembers sind die mit Abstand bestbesuchten im Jahreskreis, sie integrieren und unterbrechen das Festgeschehen, interpretieren es im Horizont der christlichen Tradition und transzendieren damit das soziale Geschehen.22 Die volkskirchliche Advents- und Weihnachtsfrömmigkeit ist symbolreich, inszenierungsstark und erzählfreudig, sie speist sich aus dem, was jährlich erinnert und wiederholt wird. Nicht nur die kirchliche, sondern auch die private und die öffentliche Sphäre werden ästhetisch als weihnachtlicher Raum ausgestaltet: mit weihnachtlichen Emblemen, Figuren und Schmuck als Sinnzeichenraum und ebenso durch vertraute Melodien als Klangraum. In der Advents- und Weihnachtsfrömmigkeit tritt die „Materialität der Religionspraxis“23 in besonderer Weise hervor; der Strohstern und der Christbaum, die Gabe und die Holzkrippe haben eine religiöse Dingbedeutsamkeit.24 Zur adventlichen wie zur weihnachtlichen Frömmigkeit gehört das Entzünden von Kerzen. In ihrer Performanz ist die Kerze unter heutigen modernen Bedingungen kein Leuchtmittel, sondern ein Medium der atmosphärischen Verdunklung. Die entzündete Kerze lässt die Situation zu einer besonderen, Zeit zu einer vergänglichen und das Lebenslicht zu etwas Verletzlichem werden. Der kleine Kerzenkult des Adventskranzes ist eine konventionalisierte Frömmigkeitshandlung zur Veraußeralltäglichung des Alltags. Seitdem er im 19. Jh. aufgekommen ist, spiegelt er in seiner rituellen Logik („erst eins, dann zwei …“) die Transformation des traditionellen Advents als Bußzeit (Kontrast) zur modernen Vorweihnachtszeit (Annäherung): Es wird auf das Christfest hin nicht dunkler („Weil Gott in tiefster Nacht erschienen“, EG 56), sondern bereits Schritt für Schritt heller. Eine ähnliche Logik entfaltet auch der Adventskalender, der in jüngster Zeit noch einmal neu zu einem Medium religiöser Kommunikation werden konnte. Vielerorts gestalten Menschen in ihren Nachbarschaften und für sie adventsweihnachtliche Fenster und kommunikative Szenen zu einem „Lebendigen Adventskalender“.25 Bemerkenswert ist der „Andere Advent“, ein ästhetisch in 22 23 24 25

Vgl. Hermelink, Weihnachtsgottesdienst, 299ff. Wagner-Rau, Angedeuteter Glaube, 208. Vgl. zum Begriff Beckmayer, Bibel. Vgl. http://www.lebendiger-adventskalender.de/, Abruf am 20. 07. 2017.

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seiner Bildsprache und literarisch-religiösen Texten anspruchsvoll gestalteter Kalender, der seit etlichen Jahren von weit mehr als einer Million Menschen geistlich in Gebrauch genommen wird. Der kirchennahe Trägerverein des Projektes will damit ausdrücklich der „kommerzialisierten Gesellschaft etwas Spirituelles entgegensetzen“.26 Dieses Kontrastmotiv und die Resonanz, die der Kalender findet, verweisen darauf, dass die Kritik an einer trivialisierten und kommerzialisierten Weihnachtsreligiosität selbst zu einem Moment ihrer Frömmigkeitspraxis geworden ist: Zur Adventszeit gehört die Empfindung und die Klage, dass sie die Besinnung verweigert, die sie doch verheißt. Die persönliche Praxis täglicher Kalenderblattlektüre erzeugt eine „Auszeit“, einen anderen Advent im Advent. Es entsteht, zusammen mit anderen Facetten adventsweihnachtlicher Praxis, eine Religiosität „für Zuhause“,27 eine Transzendenz nach innen.

4.2

Osterfestkreis

Anders als der Weihnachtsfestkreis ist Ostern stärker ein kirchlich-theologisch bestimmtes Fest, das im familiären Kontext durch christlich adaptierte Frühlingsrituale umspielt wird. Dabei fällt eine sukzessive „Verweihnachtlichung“ der Osterfestkultur auf, Ostermärkte und -geschenke imitieren mehr oder weniger das weihnachtliche Brauchtum. Die religiöse Mitte bilden die Karwoche und der Ostersonntag, die durch gottesdienstliche Feiern interpunktiert und auch im öffentlichen Leben wahrgenommen werden. Eine explizite Karfreitagsfrömmigkeit, die traditionell als Inbegriff evangelischer Identität gegolten hat, konzentriert sich vor allem im Karfreitagsgottesdienst, dessen Besuch allerdings deutlich zurückgegangen ist. Zugleich ist dessen Thematik, so lässt sich an Predigten eruieren, vom Motiv der Schuld theologisch auf das Motiv des Leidens umakzentuiert worden. Eine besondere Frömmigkeitsübung stellt das Fasten in der Passionszeit dar, das auf evangelischer Seite insbesondere durch die kirchliche Aktion „SiebenWochen-Ohne“ in den vergangenen Jahren populär geworden ist. Nicht zufällig artikuliert sich Religiosität als Körperpraxis, das leibliche Erleben ist ein Kennzeichen von Frömmigkeit, die hier spezifisch spätmoderne Züge aufweist: Zum einen verschränkt sich eine ursprünglich religiös motivierte Praxis mit zentralen Momenten des heutigen kulturellen Lebens (Fitness, Wellness, Diät). Zum anderen wird im Fasten – mithin im bewussten Verzicht als Modus intensivierten leiblichen (Selbst-)Erlebens – die Probe aufs Exempel gemacht, wer denn Herr ist 26 Zitat nach Happe, Suche, 177. 27 A. a. O., 346f.

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im eigenen Haus seiner Gewohnheiten, Bedürfnisse und Abhängigkeiten. Frömmigkeit ist Auseinandersetzung mit sich selbst im Blick darauf, was oder wer das eigene Leben bestimmt. Auffällig ist, dass die Osternachtfeier in den vergangenen Jahrzehnten zu einem Kristallisationsereignis gemeindlicher Frömmigkeit geworden ist. Nachdem sie im 20. Jh. wiederentdeckt wurde,28 dramatisiert sie den österlichen transitus, den Übergang vom Tod ins Leben, in einem liturgischen Geschehen. Die Feier der Osternacht mit ihren altkirchlichen Gestaltungsmomenten wirkt offenbar heute gerade durch ihre sinnenfälligen, für viele eher fremdartigen liturgischen Formen: dem Prozessionscharakter, ihren unkommentierten biblischen Lesungen, ihren traditionellen Gesängen. Sie zeigt, dass spätmoderne Frömmigkeit in der Erlebnisgesellschaft durchaus auch dort zugänglich werden kann, wo sie fremd anmutet: „Entscheidend ist, dass nicht […] erklärt wird, was Ostern bedeutet, sondern dass es von allen erlebt, gespürt und vollzogen wird.“29

4.3

Pfingstliche Zeit

Das Pfingstfest prägt, verglichen mit den beiden großen christlichen Festen, die volkskirchliche Frömmigkeit am schwächsten; dezidiert „pfingstliche“ Elemente finden sich eher in den Frömmigkeitsformen charismatischer Bewegungen. Allerdings ist das (früh-)sommerliche Feld der pfingstlichen Zeit durch Momente von Aufbruch und Auszeit, intensiviertem Leben und Gemeinschaftlichkeit gekennzeichnet, die sich auch religiös und kirchlich widerspiegeln: Es ist die Zeit von Trauungen und Taufen, in denen sich eine lebenseröffnende, biografisch bestimmte Kasualfrömmigkeit zum Ausdruck bringt. In den Gemeindefesten, die ebenfalls in die pfingstliche Zeit gehören, zeigt sich die Gesellungskraft religiöser Praxis auch über den Gottesdienst hinaus. Der Urlaub, der in diese Zeit fällt, mit seinem Abstand zum „gewöhnlichen“ Alltag und seinen Versprechungen („Urlaubsparadiese“) ist eine religionsaffine Zeit, die nicht selten auch Frömmigkeit hervorbringt: der touristische, dann eben auch andächtige Besuch einer Kirche oder die Wahrnehmung eines spirituellen Angebots, das man sich im Urlaub „gönnt“. Ein Grundzug der pfingstlichen Zeit ist der Drang nach draußen, Religiosität findet in diesen Wochen einen Erfahrungsraum „im Grünen“.30 Pfingstspaziergänge im Wald, Gottesdienste unter freiem Himmel und Tauffeste am Seeufer sind als bewusstes Naturerleben Resonanzräume der Frömmigkeit, auch und 28 Vgl. Mohn, Osternacht. 29 Bäuerle, Kirchenjahr, 145. 30 Vgl. Ende, Im Grünen, 9ff.

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gerade in den urbanisierten Lebenswelten der Gegenwart. Naturerfahrungen erscheinen als Refugien einer „kontemplativen Weltbeziehung“,31 in der Menschen über die Tätigkeitswelt hinausgelangen. Der Zug nach draußen schlägt sich auch darin nieder, dass in den vergangenen Jahren, quer zur eigenen Tradition, in der evangelischen Frömmigkeit das Pilgern an Bedeutung gewonnen hat.32 Unter dem existenziellen Leitmotiv des Unterwegsseins hat sich eine Religiosität in und als leibliche Bewegung etabliert, die zwischen moderner Wanderbewegung und geistlicher Wegerfahrung oszilliert. Offene Kirchen werden zu signifikanten „Anlaufstellen“ für eine kinetische Frömmigkeitspraxis, an der auch – was im Bereich von exponierter Religiosität nicht selbstverständlich ist – vielfach Männer teilhaben.

4.4

Späte Zeit des Kirchenjahres

Das vierte Feld spannt sich aus zwischen der spätsommerlichen Rückkehr aus der Ferienzeit, dem Erntedankfest und dem Totensonntag als letztem Sonntag im Kirchenjahr. In dieser Zeitspanne umgreift es auch einzelne kirchliche Feiertage der evangelischen Tradition – den Buß- und Bettag ebenso wie das Reformationsfest –, die für die kirchliche Identität bedeutsam sind. Insgesamt ist die späte Zeit des Kirchenjahres durch die Motive des gereiften, angegriffenen und endlichen Lebens bestimmt. Das Erntedankfest hat seine spätmoderne Bedeutung in einer nach-agrarischen Gesellschaft gewonnen, es ist heute eine der prominentesten Gottesdienststationen im Jahreslauf. Es nimmt schöpfungstheologisch eine andere Seite von Naturerfahrung wahr, indem für deren Gaben und für die Erträge menschlicher Arbeit gedankt wird. Der Mensch lebt von Bedingungen, die er nicht selbst hervorbringt. Zwei Facetten gegenwärtiger Frömmigkeit werden dabei erkennbar: Zum einen zeigt sich im Kontext eines ökologischen Bewusstseins, welches um die Folgen des gegenwärtigen Lebensstils weiß, eine alltagsethische und politische Dimension zeitgenössischer Frömmigkeit. Zum anderen wird heute Erntedank zumeist in Gestalt eines an Kindern orientierten Familiengottesdienstes gefeiert. Nicht nur an dieser Stelle – man denke an den Zyklus von Martinsumzug, Nikolaustag, Krippenspiel etc. – verwandelt sich das Kirchenjahr in ein Kinderkirchenjahr, an dem Erwachsene partizipieren. Ähnlich wie beim elterlichen Abendgebet, das häufig (nur) mit Kindern und für sie praktiziert wird, ist es eine Art indirekte, über die Kinder vermittelte Frömmigkeit (diskretes Christentum). 31 Rosa, Resonanz, 471. 32 Vgl. Lienau, Religion auf Reisen; s. auch den entsprechenden Beitrag im vorliegenden Band.

Evangelische Spiritualität im Kirchenjahr

369

Auch der Totensonntag ist, wenn auch aus anderen Gründen, für die Wahrnehmung des Kirchenjahres von besonderer Bedeutung. In seinem Fürbittritual des Totengedenkens hat das Kerzenentzünden einen anderen Sinn als in der Adventszeit, es ist Teil einer religiösen Praxis des gemeinschaftlichen Trauerns und des individuellen Erinnerns. Von den Beteiligten kann das Eingedenken als ein Begegnungsgeschehen mit den Verstorbenen erlebt werden und zugleich als ein Akt der inneren Trennung von ihnen.33 Frömmigkeit gewinnt hier, ähnlich wie in der Kasualfrömmigkeit, einen transitorischen Charakter, sie gestaltet Übergänge.

5.

Die „Frömmigkeitskräfte“ des Kirchenjahres

Die populare Religiosität des Kirchenjahres ist vielgestaltig und hat als Frömmigkeit sehr unterschiedliche Facetten. Bündelt man die Beobachtungen, so lassen sich fünf frömmigkeitsbildende Kräfte ausmachen, die in einer volkskirchlich gelebten Religiosität heute wirksam werden:

5.1

Rhythmisierung

Im kollektiven Jahreskreis des Kirchenjahres bilden Menschen ein Zeitbewusstsein aus. Die Gegenwart tendiert dazu, Zeit numerisch zu bemessen und zu quantifizieren. Zeitkonflikte forcieren sich, in den gesellschaftlichen Auseinandersetzungen dehnen sich ökonomisch nutzbare Zeiten aus und es nivellieren sich zunehmend die klassischen kulturellen Zeitmuster von Arbeit und Ruhe, Werktag und Sonntag, Alltag und Festzeit. Gelebte Zeit jedoch ist immer mehr als lediglich formal strukturierte, gleichförmige Zeit. Im Horizont des Kirchenjahres wird der Jahreskreis zur gestalteten und bewusst erlebten Zeit, die als je besondere Zeit qualifiziert wird. In der spätmodernen Kirchenjahresfrömmigkeit gewinnen Zeit und Zeiterleben eine äußere und innere Ordnung. Biografische Zeit verwebt sich im sich wiederholenden Jahreszyklus des Kirchenjahres mit einem Grundrhythmus, der sich in die Lebensgeschichte einschreibt.

33 Vgl. Zimmermann, Totensonntag.

370 5.2

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Ritualisierung

Das Kirchenjahr wird in seinen Ritualisierungen zugänglich und erlebbar. Die rituellen Gestaltungen entlang des Kirchenjahres sind im Gegenüber zu den alltäglichen Routinen symbolische Gesten, die individuell, familiär oder gemeinschaftlich ihren eigenen Ort und ihre feste Form haben. Sie können, wie etwa die jährlichen Weihnachtskarten, kommunikativ ausgerichtet sein oder sie sind – man denke an einen Friedhofsbesuch am Ewigkeitssonntag – Erinnerungsakte. Kirchenjahresrituale haben einen gemeinschaftlichen Charakter und vergewissern Zugehörigkeit, sie können aber auch individuelle Rituale sein, die Menschen für sich praktizieren. In den geprägten, sich wiederholenden Handlungen partizipieren die Akteure an einer Sinntradition, die sie (sich) vergegenwärtigen. Für die Bedeutung des Kirchenjahres wesentlich sind seine Gottesdienste, insbesondere diejenigen der Festzeiten und Feiertage. Sie sind im Kontext des kirchlichen Christentums der rituelle Raum und das rituelle Geschehen, innerhalb dessen das gelebte Kirchenjahr seine explizit christlich-religiöse Textur erhält und behält.

5.3

Unterbrechung

Die Frömmigkeitspraktiken des Kirchenjahres gestalten Auszeiten und Anderszeiten; sie unterbrechen Alltagsabläufe und Alltagsgeschäftigkeit. Dies gilt für die Festtage, die den Lauf des Kirchenjahres bestimmen, aber in anderer Weise auch für die Zeiten der Präparation als Einstimmung und für die Übergänge zwischen verschiedenen Zeiten. Die großen festtäglichen Unterbrechungen wie die kleinen, alltagsbezogenen Unterbrechungen sind Refugien, in denen Zeit anders erlebt wird. In der spätmodernen Frömmigkeit lebt man alltagsweltlich nicht im Kirchenjahr (sowenig man in der Kirche wohnt), man kehrt vielmehr gelegentlich – an signifikanten Wegstationen – im Kirchenjahr ein: indem man einen bestimmten Gottesdienst besucht, in einem besonderen Moment eine Adventskerze entzündet, am zweiten Festtag einen Osterspaziergang macht und dergleichen mehr. Als je besonders gestaltete Situation wird das Kirchenjahr bedeutsam.

5.4

Intensivierung

In den Frömmigkeitspraktiken des Kirchenjahres werden Selbst- und Wirklichkeitserfahrungen intensiviert, indem die Akteurinnen an Sinndeutungen partizipieren, die mit den Handlungen verbunden sind und sich in ihnen er-

Evangelische Spiritualität im Kirchenjahr

371

schließen: Das Entzünden einer Kerze macht die Erfahrung von Dunkelheit und Licht sinnenfällig; das Fasten intensiviert leibliche Selbsterfahrung; das familiäre Festmahl verdichtet kommunikative Beziehungen und schafft einen Ort gemeinschaftlicher Erinnerung. Die populare Religiosität manifestiert sich im Kirchenjahr in einer gesteigerten Aufmerksamkeit und Empfänglichkeit für den Wechsel naturzeitlicher Erfahrungen und für die elementaren Lebensbedingungen der eigenen Existenz. Das Kirchenjahr wird in dem, wie es begangen und gestaltet wird, zu einem (mit-)erlebten Kirchenjahr.

5.5

Thematisierung von Lebens- und Glaubensthemen

Die Symbolik des Kirchenjahres birgt in sich Lebensthemen im Horizont des christlichen Glaubens und gibt ihnen Ort und Zeit: Abschied begehen, mit Schuld konfrontiert sein, in Erwartung bleiben, mit Treue und Verrat leben und vieles mehr. Im Kirchenjahr werden Lebensthemen und Glaubensgehalte füreinander transparent. Dabei bilden sich im Kirchenjahr die Themen endlichen Lebens nicht einfach ab, sondern sie werden im Medium der Glaubensüberlieferung fokussiert. Die symbolischen Ordnungen des Kirchenjahres stellen gelebtes Leben in einen christlichen Sinnhorizont der Verheißung, dass lebensgeschichtliche Erfahrungen heilsam vertieft und begrenzt, zurechtgebracht und geöffnet werden. Wo dies geschieht, wird das Kirchenjahr zu einer Lebensgestalt(ung) des Evangeliums.

Literatur Quellenmaterialien Bäuerle, Sabine (Hg.), Im Kirchenjahr leben. Liturgien und Rituale, Materialbuch des Zentrums Verkündigung der EKHN 105, Frankfurt a.M. 2006. Behringer, Hans Gerhard, Die Heilkraft der Feste entdecken. Den Jahreskreis neu entdecken, Ostfildern 2016. Ende, Nathalie (Hg.), Bei Gott zu Besuch. Gemeinsame Gottesdienste von Monat zu Monat für Erwachsene und Kinder, Materialbücher des Zentrums Verkündigung der EKHN 118/119, Frankfurt a.M. 2012/2013. –, Im Grünen, Gottesdienste, Wege und Projekte in der Natur, Materialbuch des Zentrums Verkündigung der EKHN 127, Frankfurt a.M. 2017. Grün, Anselm, Bilder der Seele. Die heilende Kraft des Jahreskreises, Münsterschwarzach 2016. Josuttis, Manfred, Verführung zum Leben. Über die Geheimnisse des christlichen Glaubens, Gütersloh 2006.

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Forschungsliteratur Beckmayer, Sonja, Die Bibel als Buch. Eine artefaktorientierte Untersuchung zu Gebrauch und Bedeutung der Bibel als Gegenstand am Beispiel von Bibelbüchern von Pfarrerinnen und Pfarrern, Praktische Theologie heute, Bd. 154, Stuttgart 2018. Bieritz, Karl-Heinrich, Das Kirchenjahr, Feste, Gedenk- und Feiertage in Geschichte und Gegenwart, München 62001 u. ö. Cornehl, Peter, Zustimmung zum Leben und Vergewisserung im Glauben. Integrale Festzeitpraxis als volkskirchliche Gottesdienststrategie (1985), in: ders., „Die Welt ist voll von Liturgie“. Studien zu einer integrativen Gottesdienstpraxis, Stuttgart 2005, 291–306. Drehsen, Volker, Protestantische Frömmigkeit im neuzeitlichen Strukturwandel der Öffentlichkeit. Einige soziologische Erwägungen zur Problemkonstitution wissenschaftlicher Frömmigkeitsforschung, in: ders., Der Sozialwert der Religion. Aufsätze zur Religionssoziologie, hg. von Albrecht, Christian u. a., Berlin/New York 2009, 255–281. Ebertz, Michael N., „Spiritualität“ im Christentum und darüber hinaus. Soziologische Vermutungen zur Hochkonjunktur eines Begriffs, ZfR 13, 2005, 193–208. Erikson, Erik H., Wachstum und Krisen der gesunden Persönlichkeit, in: ders., Identität und Lebenszyklus, Frankfurt a.M. 131993 u. ö., 55–122. Fechtner, Kristian, Im Rhythmus des Kirchenjahres. Vom Sinne der Feste und Zeiten, Gütersloh 2007. –, Art. Volksfrömmigkeit, 5TRT Bd. 3, 2008, 1239–1241. Gebhardt, Winfried/Engelbrecht, Martin/Bochinger, Christoph, Die Selbstermächtigung des religiösen Subjekts. Der „spirituelle Wanderer“ als Idealtypus spätmoderner Religiosität, ZfR 13, 2005, 133–151. Happe, Annika, Auf der Suche nach dem „Andren Advent“?! Gelebte Religiosität im Weihnachtsfestkreis, Leipzig 2015. Hermelink, Jan, Weihnachtsgottesdienst, in: Liturgisches Kompendium, in: Grethlein, Christian/Ruddat, Günter (Hg.), Göttingen 2003, 282–304. Jannasch, Wilhelm, Art. Kirchenjahr, 3RGG Bd. 3, 1959, 1442. Kumlehn, Martin, Weihnachtsmärkte. Ewigkeitsglanz in grauer Zeit als Inszenierung der Sehnsucht, in: Klie, Thomas (Hg.), Valentin, Halloween & Co. Zivilreligiöse Feste in der Gemeindepraxis, Leipzig 2006, 207–223. Kumlehn, Martina, Art. Frömmigkeit/Spiritualität, in: Fechtner, Kristian/Hermelink, Jan/ Kumlehn, Martine/Wagner-Rau, Ulrike (Hg.), Praktische Theologie. Ein Lehrbuch, Stuttgart 2017, 265–287. Lienau, Detlef, Religion auf Reisen. Eine empirische Studie zur religiösen Erfahrung von Pilgern, Freiburg 2015. Mohn, Jörg, Osternacht. Spiegel und Impulsgeberin eines veränderten evangelischen Gottesdienst- und Liturgieverständnisses, Berlin 2018. Morgenroth, Matthias, Weihnachts-Christentum. Moderner Religiosität auf der Spur, Gütersloh 2002. Rosa, Hartmut, Resonanz. Eine Soziologie der Weltbeziehung, Berlin 2016. Scharfenberg, Joachim, Einführung in die Pastoralpsychologie, Göttingen 21994. Schmitt, Arno, Im Takt der Zeiten und Gelegenheiten. Liturgisches Werkbuch, 2 Bde., Gütersloh 2015.

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Schröder, Bernd, Fides quaerens expressionem. Frömmigkeit als Thema der Praktischen Theologie, IJPT 6, 2002, 167–197. Steck, Wolfgang, Frömmigkeit – die integrale Gestalt individueller Christentumspraxis, in: ders., Praktische Theologie Bd. 1, Stuttgart 2000, 227–240. Wagner-Rau, Angedeuteter Glaube. Kerzen im Kirchenraum, in: Braune-Krickau, Tobis/ Scholl, Katharina/Schüz, Peter (Hg.), Das Christentum hat ein Darstellungsproblem. Zur Krise religiöser Ausdrucksformen im 21. Jh., Freiburg u. a. 2016, 207–215. Weyel, Birgit, Art. Frömmigkeit, 5TRT Bd. 1, 2008, 383–385. Zimmermann, Petra, Der Gottesdienst am Totensonntag. Wahrnehmungen aus der Perspektive von Trauernden, PTh 88, 1999, 452–467.

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Kirchenräume als Orte der Verlässlichkeit Zur Bedeutung des Raumes im Rahmen evangelischer Spiritualität

Im Folgenden möchte ich nach einer kurzen Situationsbeschreibung zunächst anhand von persönlichen Erfahrungen zeigen, dass es in der evangelischen Spiritualität schon vor der jüngsten Trendwende zur Hochschätzung des Sakralraums ein Bewusstsein für die besondere Qualität von Kirchenräumen gegeben hat.1 In einem dritten Punkt folgen biblische und kirchengeschichtliche Einsichten. Viertens sollen exemplarisch drei praktisch-theologische Deutungen von Kirchenräumen diskutiert werden. Daran schließen sich als Beispiel für das homiletische Potenzial von Kirchengebäuden und -räumen Reflexionen über die neue Universitätskirche St. Pauli in Leipzig an. Den Abschluss bilden fünftens Überlegungen, wie Kirchenräume in die Praxis evangelischer Spiritualität theologisch verantwortet integriert werden können.

1.

Zur Situation

Die außerhalb der Gottesdienstzeiten geschlossene Kirche war jahrhundertelang ein Symbol für die Bedeutung des Raumes im Protestantismus. Die Reformation hat zu einer Entsakralisierung des Kirchenraumes geführt! Er wurde in der Folgezeit weithin rein funktional verstanden. Die Entsakralisierung der Kirchen hatte Auswirkungen auf die Präsenz religiöser Symbole in der Landschaft insgesamt.2 Wegkreuze, Kreuzwege, Kapellen, Klostergebäude, z. T. auch Wallfahrtskirchen verschwanden. Nur die Kirchen selbst mit ihren Türmen blieben erhalten – wenn auch häufig in reduzierter Anzahl – und erinnerten auf räumlich-sichtbare Weise an die Gegenwart des Heiligen. Anders in katholischen Gegenden, in denen die überall in der Landschaft vorhandenen Hinweise auf die 1 Eine Vorform der folgenden Ausführungen habe ich erstmals veröffentlicht in: Zimmerling, Räume. 2 Es wäre ein lohnendes Forschungsprojekt, einmal der Frage nachzugehen, ob die protestantische Entsakralisierung des Kirchenraumes den neuzeitlichen Säkularisierungsprozess der europäischen Gesellschaften beschleunigt hat.

Kirchenräume als Orte der Verlässlichkeit

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Präsenz Gottes bis heute sinnenfällig festhalten: Es gibt eine transzendente Wirklichkeit jenseits des naturwissenschaftlich Wägbaren und Messbaren. Auf die Spitze getrieben wurde die reformatorische Entsakralisierung des Kirchenraumes durch Bauprogramme der 1960er- und 1970er-Jahre, die unsakrale, dafür aber menschennahe kirchliche Räume schaffen wollten – nach dem Motto: Gemeindehaus statt Kirche. Gegenläufig zur innerkirchlichen Entsakralisierung ereignete sich in der Gesellschaft spätestens seit den 1970er-Jahren eine neue Hochschätzung des Raumes – und in der Folge davon auch des Sakralraumes. „Während im Protestantismus die Entwicklung zu einer Aufwertung des Gottesdienstes und zu einer Abwertung des Sakralraums geführt hat, gilt für die säkulare Öffentlichkeit der Gegenwart das Umgekehrte: Geringschätzung des Gottesdienstes bei einer Hochschätzung des Raumes“.3

Die neue Hochschätzung des Raumes zeigte sich z. B. an der Wiederentdeckung historischer Gebäude und an der damit verbundenen Investitionsbereitschaft für deren Renovierung bzw. Wiederaufbau.4 In diesen Zusammenhang gehörten auch die Abkehr von der reinen Zweckbauweise und eine an markanten Stellen zu beobachtende Resakralisierung der Architektur, die an der baulichen Gestaltung von Einkaufszentren, Kinozentren, Bahnhöfen und Flughafenhallen, ja sogar von Autoproduktionsstätten sichtbar wird. Inzwischen hat die Wiederentdeckung des Raumes längst auch den Protestantismus erreicht. Das enorme Interesse und Engagement beim historischen Wiederaufbau der Dresdner Frauenkirche ist vielleicht das eindrücklichste Beispiel für diese Trendwende. Vergleichbares gilt im Hinblick auf die heftigen Auseinandersetzungen im Zusammenhang mit dem Bau der neuen Universitätskirche in Leipzig, deren mittelalterlicher Vorgängerbau 1968 von der damaligen SED-Führung letztlich aus ideologischen Gründen gesprengt worden ist.5 Der Versuch, Kirchen durch multifunktionale Gemeinderäume zu ersetzen, muss als gescheitert betrachtet werden.6 Die überwiegende Mehrzahl der Kirchenmitglieder – darüber hinaus auch der Kirche entfremdeter Menschen – scheint eine Sehnsucht nach sakralen Räumen zu besitzen. Das zeigt sich an der Beobachtung, dass, vor die Wahl gestellt, Kirche oder Gemeindehaus aufzugeben, Kirchgemeinden eher das Gemeindehaus verkaufen und entsprechende Räume

3 Ricker, Brücke, 142. 4 Es sei hier nur an den Wiederaufbau der Dresdner Frauenkirche, der Stadtschlösser von Berlin und Potsdam und der Eingangsfront des Braunschweiger Schlosses erinnert. 5 Winter, Gewalt. 6 Vgl. dazu im Einzelnen Woydack, Kirchengebäude, 93ff.

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in die wilhelminische Kirche einbauen lassen, als die Kirche aufzugeben.7 Eine „gemütliche“ Gestaltung von Kirchen genügt ihnen offensichtlich nicht. Sie empfinden eine Diskrepanz zwischen den großen Worten der Liturgie und dem als Mehrzweckbau gestalteten Gemeindezentrum. Die neue protestantische Hochschätzung des Kirchenraumes zeigt sich darüber hinaus an der Forderung, die Kirchen auch außerhalb der Gottesdienstzeiten offen zu halten, an der Entstehung und schnellen Verbreitung der Kirchenpädagogik,8 am bürgerschaftlichen Engagement vieler eigens zum Erhalt von Dorf- und Stadtkirchen gegründeten Vereine, auch daran, dass der Raumbezug spirituellen Lebens zum Untersuchungsgegenstand der wissenschaftlichen Praktischen Theologie geworden ist.9 1997 erhob Wolf-Eckart Failing sogar die Forderung, Praktische Theologie als „eine theologische Theorie von möglichen Räumen und Orten gelebter christlicher Religion und den dort zu machenden Erfahrungen einer als christlich zu identifizierenden Praxis“ zu entwickeln.10

2.

Persönliche Erfahrungen

Die folgenden persönlichen Erfahrungen haben ein dreifaches Ziel: Zum einen sollen sie dazu anregen, entsprechende eigene Erfahrungen zu erinnern; zum anderen sollen sie zeigen, dass die Sensibilität für die Atmosphäre von besonderen Räumen zum Menschsein gehört; schließlich soll das Bewusstsein für die Bedeutung des Kirchenraumes für die persönliche Spiritualität und die Gestaltung des Gottesdienstes geweckt werden. Meine eigenen Erfahrungen mit Kirchenräumen bestätigen die Feststellung von Hartmut Rupp, einem der bekannten Vertreter der Kirchenpädagogik in Südwestdeutschland: „Die allermeisten persönlichen Erfahrungen mit der (evangelischen) Kirche sind nicht zuletzt von dem Kirchenraum geprägt, in dem sie gemacht wurden.“11 Die erste Erinnerung an einen Kirchenraum, die ich habe, ist der jährliche Besuch des Heiligabend-Gottesdienstes in der Kirche meiner Heimatstadt während der Kindheit. Als kirchlich kaum sozialisiertes Kind erfüllten mich sowohl die Atmosphäre des großen Kirchenraumes als auch die beiden mir riesig erscheinenden Tannenbäume im Altarraum in ihrem Lichtermeer mit Ehrfurcht und Staunen. Damals, vor mehr als 50 Jahren, wurde in der 7 Ein Schulbeispiel dafür ist die evangelische Christusgemeinde in der Heidelberger Weststadt, die sich für den Verkauf des multifunktionalen Gemeindehauses und die Renovierung bzw. den Umbau der historistischen Christuskirche entschied. 8 Dazu ausführlich: Klie, Religion; Glockzin-Bever/Schwebel, Kirchen; Rupp, Handbuch. 9 Vgl. Woydack, Kirchengebäude und Umbach, Räume. 10 Failing, Trümmer, 391. 11 Rupp, Handbuch, 21

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übervollen Kirche vor dem Beginn des Gottesdienstes am Heiligen Abend noch geschwiegen. Darum lag über dem Raum mit seinen vielen Menschen eine feierliche Stille. Ich kann mich noch genau erinnern, wie stark meine kindliche Seele von der Erhabenheit dieses Momentes berührt wurde. Die Atmosphäre in der Kirche schien mir Ausdruck für die Wirklichkeit eines Größeren zu sein. Auch die Erwachsenen wagten angesichts dieser Wirklichkeit nicht zu sprechen. Während des Studiums unternahm ich mit Freunden eine Reise nach Kopenhagen. Dort besuchten wir den Sonntagmorgengottesdienst in der großen deutschen Kirche. Außer uns vieren waren noch sechs weitere Gottesdienstteilnehmer gekommen; dazu der Pfarrer, der Kantor und der Küster. Angesichts der wenigen Teilnehmer empfand ich die hochliturgische Gestaltung des Gottesdienstes mit seiner Betonung des Gegenübers von Amt und Gemeinde als unangemessen. Die feierlichen Worte der Liturgie schienen mir durch den minimalen Kirchenbesuch in der großen Kirche geradezu konterkariert zu werden. Als Student hatte mich ein palästinensischer Mitstudent aus der dortigen lutherischen Kirche ins Heilige Land eingeladen. Zusammen mit seinen Freunden besuchte ich zum ersten Mal die Stätten der Wirksamkeit Jesu in Jerusalem, Judäa und Galiläa. Mir fiel auf, dass sich viele Besucher der entsprechenden Orte bekreuzigten, auf die Knie fielen und eine Kerze anzündeten. Irgendwie fühlte ich mich deplatziert, weil ich nicht wusste, wie ich mich als Protestant verhalten sollte. Nach einigem Überlegen beschlossen wir als Gruppe von jungen Lutheranern, an den „heiligen Orten“ miteinander den entsprechenden Bibeltext zu lesen, ein Lied zu singen oder ein Gebet zu sprechen. Mich zu bekreuzigen oder eine Kerze anzuzünden, traute ich mich nicht, weil ich es damals für katholisch hielt. Nach dem Studium hatte ich zum ersten Mal im blendend weißen, schmucklosen Herrnhuter Kirchensaal Gottesdienst zu halten. Ich musste an der Stirnseite am Liturgus-Tisch mit dem Gesicht zur Gemeinde Platz nehmen. Meine Unsicherheit und Aufregung waren groß, weil ich nicht wusste, wann ich während der mir nicht vertrauten Liturgie sitzen zu bleiben oder aufzustehen hatte. Der Ortspfarrer beruhigte mich mit den Worten: Ich solle einfach tun, was die Gemeinde vormachte. Und tatsächlich: Es funktionierte. Ich wurde in meinem liturgischen Handeln von der Gemeinde regelrecht getragen. Die Kirchensäle der Brüdergemeine sind keine Längs-, sondern Querkirchen. Vom Bauprogramm Gemeindekirchen, symbolisieren sie Gemeinschaft und unterstützen damit durch ihre Architektur ein demokratisches Gottesdienstverständnis, wie es von Paulus unter Hinweis auf die unterschiedlichen Charismen der Gemeindeglieder in 1Kor 12–14 entwickelt wird. Der Pfarrer ist zuerst Gemeindeglied unter anderen. Alle Beispiele zeigen: Evangelische Theologie steht heute vor der Aufgabe, Kriterien zu entwickeln, die es erlauben, die besondere Atmosphäre von Sa-

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kralräumen theologisch zu deuten. Dadurch könnte ein neues Bewusstsein von der Bedeutung des Kirchenraumes sowohl für die persönliche als auch für die gemeinschaftliche Spiritualität (etwa im Rahmen der Gottesdienstgestaltung) gewonnen und in der Konsequenz eine praktisch gelebte Spiritualität des Kirchenraumes gefördert werden.

3.

Einsichten aus Bibel und Kirchengeschichte

Im AT findet sich eine Vielzahl räumlicher Verdichtungen von Religion.12 Klassische Stelle ist Gen 28,10–22. Spätestens seit der deuteronomistischen Reform konzentrierte sich der Kultus Israels immer mehr auf den Jerusalemer Tempel, den Wohnort Gottes (vgl. allerdings 1Kön 8,27). Nach der Zerstörung des Tempels entstand die Synagoge, die zur Etablierung einer heiligen Versammlung am unheiligen Ort führte. Nach allem, was wir wissen, stellt sie ein religionsgeschichtliches Novum dar. Denn die Synagoge ist, wie der Name schon sagt, Versammlungsort nicht nur zum Gebet, sondern auch zum Beratschlagen profaner Angelegenheiten, soweit sie die Gemeinschaft betreffen. Sie blieb bestehen, nachdem es in Jerusalem zur Wiedererrichtung des Tempels und zur Erneuerung des Tempelkults kam. Neben Tempel und Synagoge erhielt im Judentum auch das Haus religiöse Funktion: Es entstand eine Art Hauskirche. Man denke etwa an die festlichen Essen mit religiösem Hintergrund im Rahmen der Familie am Beginn des Sabbats und die Seder-Feier zur Eröffnung des Passahfestes.13 Im jüdischen Bereich konnten somit zwei Formen von Räumen zu gottesdienstlichen Zwecken genutzt werden: der sakral geprägte Tempel und der profane Raum der Synagoge bzw. des Hauses. Das Urchristentum erweist auch an dieser Stelle seine Herkunft aus dem Judentum. Nach den Evangelien hat der irdische Jesus am Tempelkult teilgenommen; auch die Jerusalemer Urgemeinde hat jahrzehntelang keine Trennung von dessen Kult vollzogen. Die spezifischen gottesdienstlichen Feiern der Urchristenheit sind jedoch mit größter Wahrscheinlichkeit aus dem Typus der festlichen jüdischen Mahlzeiten in den Häusern hervorgegangen. Überdies wird in den Evangelien im Zusammenhang mit der Verklärungsgeschichte Jesu von einem weiteren spirituell qualifizierten Ort außerhalb des Tempels berichtet (Mk 9,2–13). 2Petr 1,18 nimmt offensichtlich diese Erfahrung auf: „Und diese Stimme haben wir gehört vom Himmel kommen, als wir mit ihm waren auf dem heiligen Berge.“ 12 Vgl. hier und im Folgenden Wick, Gottesdienste, bes. 52ff; Mertin, Räumlich, 59ff. 13 Vgl. dazu die Erzählung von Bella Chagall, Brennende Lichter, Frankfurt a.M. 1969 (viele Auflagen).

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Das Urchristentum fährt demnach wie das Judentum zweigleisig: Neben der heiligen Versammlung am profanen Ort kennt es mindestens den Tempel als heiligen Ort. Im Vordergrund steht allerdings die Vorstellung vom Leib als Tempel des Geistes. Das wird sowohl bei Paulus: „Wisst ihr nicht, dass ihr Gottes Tempel seid und der Geist Gottes in euch wohnt?“ (1Kor 7,19) als auch in Joh 4,23 erkennbar, wo Jesus im Gespräch mit der Samariterin feststellt: „Aber es kommt die Stunde und ist schon jetzt, dass die wahren Anbeter den Vater anbeten werden im Geist und in der Wahrheit; denn auch der Vater will solche Anbeter haben“. Im Verlauf der Kirchengeschichte haben beide Raumkonzeptionen eine Rolle gespielt, wobei sie sich im Lauf der Zeit auf die verschiedenen Konfessionen verteilten. Die Reformatoren betonten die Einsicht, dass sich der Raum zur Gottesbeziehung neutral verhält. „Er gewährt keine besondere Nähe Gottes außerhalb des Vollzugs der Verkündigung.“14 Luther sprach in seiner berühmten Torgauer Predigt von 1544, in der er die erste neu gebaute evangelische Kirche, die dortige Schlosskirche, einweihte, expressis verbis davon, dass Kirchengebäuden keine besondere Heiligkeit zukomme: „Nicht das man daraus ein sondere Kirchen mache, als were sie besser denn andere heuser, do man Gottes Wort predigt. Fiele aber die not fur [Komme aber die Not vor], das man nicht wolte oder kündte hierin zusamen komen, so möcht man wohl draussen beim Brunnen oder anders wo predigen“.15

Dass sich entsprechende reformatorische Überlegungen nicht zuletzt der Abwehr dinglich-magischer mittelalterlicher Vorstellungen verdanken, zeigen besonders deutlich Gedanken Calvins: „Dann müssen wir uns […] hüten, sie nicht etwa, wie man das vor einigen Jahrhunderten angefangen hat, für Gottes eigentliche Wohnstätten zu halten, in denen er sein Ohr näher zu uns kommen ließe; auch sollen wir ihnen nicht irgendeine verborgene Heiligkeit andichten, die unser Gebet bei Gott geheiligter machte“.16

Entscheidend für unsere Fragestellung ist die Beobachtung, dass Luthers und Calvins Äußerungen aufgrund ihrer Polemik gegenüber bestimmten mittelalterlichen Raumvorstellungen kein Interesse an einem Nachdenken über die nicht-funktionale Seite von Räumen erkennen lassen. Ich meine aber, dass uns das heute die Freiheit eröffnet, diese Leerstelle reformatorischer Theologie auszufüllen. Angesichts der Tatsache, dass die meisten Zeitgenossen in Kirchenräumen inzwischen mehr sehen als rein funktionale Räume, ist diese Aufgabe sogar unerlässlich. Dabei sollte eine protestantische Raumtheologie beide Aspekte der biblischen Auffassung gottesdienstlicher Räume berücksichtigen. 14 Schwebel, Kirche, 15. 15 WA 49, 592. 16 Calvin, Institutio, 594 (III, 20, 30); Hervorhebungen im Text.

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Peter Zimmerling

Neben der Betonung der persönlichen Heiligkeit des Christen im profanen Versammlungsraum („Leib als Tempel des Geistes“), gibt es auch eine Heiligkeit des Sakralraums („heiliger Ort als Ort der Anwesenheit Gottes“). Fulbert Steffensky hat zu Recht darauf hingewiesen, dass die Heiligkeit des Raumes dabei immer der Heiligkeit des Menschen zu dienen hat. „[…] Skepsis gegen die herausgeschnittenen Sakralitäten ist unerlässlich. Und vielleicht wird es bald wieder nötig, gegen die neue esoterische Substantialisierung von Orten, Quellen, Bergen, Bäumen, Vollmondnächten, Steinen, Kräutern und Zeiten an die Skepsis und an den Bildersturm der 68er zu erinnern. Aber es gibt nicht nur deren Wahrheit. Es gibt auch die Wahrheit jenes älteren Glaubens, der die Orte, Räume, Zeiten sich als Zeugen sucht. Auf jeden Fall soll man nicht die eine Wahrheit mit der anderen erschlagen. […] Die Priester bauen Kirchen, die Propheten setzen sie in Brand“.17

4.

Heilige Räume? – praktisch-theologische Deutungen von Kirchenräumen

Eine Reihe von Praktischen Theologen versucht seit einiger Zeit, über das traditionelle reformatorische Verständnis von Kirchenräumen hinauszugehen. Sie nehmen dabei meist Raumtheorien aus dem Bereich der Religionswissenschaft, der Religionssoziologie und der Historie auf – besonders von Mircea Eliade, Alfred Lorenzer und Michel Foucault.18 Die beiden ersteren gehen davon aus, dass es für den modernen Menschen keine heiligen Räume mehr geben kann, während letzterer durch seine Lehre von den Heterotopien zu begründen versucht, dass auch die Moderne noch heilige Orte kennt. Ich gehe im Folgenden auf Manfred Josuttis, Klaus Raschzok und Rainer Volp ein, weil ihre Ansätze exemplarisch für eine Anzahl weiterer stehen. Josuttis begründet die Heiligkeit des Kirchenraumes in Anknüpfung an den Kieler Religionsphänomenologen Hermann Schmitz phänomenologisch.19 Mit diesem bestreitet er die Ansicht der neuzeitlichen Psychologie, dass menschliche Gefühle etwas Innerliches und die menschliche Psyche eine Projektionsmaschine von Affekten sei. Damit sollte die Autonomie des Individuums behauptet werden, Schöpfer seiner eigenen Gefühle zu sein. In Wahrheit aber werde der Mensch dadurch hoffnungslos überfordert, denn er sei weder Herr noch Schöpfer seiner Gefühle, wie ihm der neuzeitliche Cartesianismus einrede. Dagegen Schmitz: 17 Steffensky, Seele, 8f. 18 Vgl. dazu im Einzelnen Woydack, Kirchengebäude, 146–169, der in seiner Arbeit in Aufnahme des Raumbegriffs von Martina Löw auch einen eigenen Ansatz entwickelt; Umbach, Räume, 295–339; eine knappe Zusammenfassung der wichtigsten Theorien bietet auch Mertin, Räumlich. 19 Schmitz, Raum.

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„Gefühle sind überpersönliche, räumlich ergossene Atmosphären, die ebenso als ergreifende Mächte Subjekte durch affektives, leibliches Betroffensein heimsuchen […].“20 Josuttis greift diese anticartesianische These auf und überträgt sie auf Kirchengebäude. Durch die Weihe werden diese von negativen Kräften befreit und von Gottes Kraft erfüllt: „[…] Worte, die bei der Kirchweihe in Lesungen, Predigt und Gebeten erklingen, haben, wie alle Worte, eine Raum erfüllende Macht.“21 Die Kirche wird damit zur „Installation eines symbolischen Kraftfeldes, das für die Rezeption göttlicher Gegenwart wie für zwischenmenschliche Kommunikation gleichermaßen geeignet ist.“22 Der Mensch hat im heiligen Raum sein Ziel erreicht, wenn er in seiner Leiblichkeit „durch befreienden Herrschaftswechsel“ Christus lebt.23 Auch wenn manche der Aussagen von Josuttis in Richtung eines ontologischen Raumverständnisses tendieren, versteht er die Heiligkeit des Kirchenraumes als „symbolisches Kraftfeld“.24 Vor allem interpretiert er das Ziel der Heiligkeit des Kirchenraumes durchaus reformatorisch, wenn er es mit der Befreiung des Menschen von den lebenszerstörenden Kräften der Sünde und des Todes identifiziert. Raschzok entfaltet in Aufnahme von Überlegungen des Lutheraners Hans Asmussen ein Spurenmodell.25 Der Kirchenraum zeichnet sich einerseits aus durch Spuren des gottesdienstlichen und des persönlichen Gebrauchs, andererseits durch Spuren Christi. Nach dem Gottesdienst ist Christus selbst zwar nicht mehr präsent, aber es finden sich Spuren seiner gottesdienstlichen Präsenz: „Nutzung hinterlässt Spuren an einem Gebäude und an einem Raum. Ein Raum wird deshalb zum heiligen Raum, weil sich in ihm Spuren der Christusanwesenheit mit Spuren der Lebensgeschichte seiner Nutzer verbunden haben.“26 Raschzoks Ansatz bei der gottesdienstlichen Nutzung führt ihn zu folgender Definition der Heiligkeit des Kirchenraums: „Heiliger Ort meint damit, zu Christus gehörig, für ihn vorbehalten und für ihn ausgesondert zu sein, als Ort der Gemeinschaft der Heiligen, zu der alle Getauften gehören.“27 Raschzok knüpft damit unmittelbar an die reformatorische Definition des Kirchenraumes als gottesdienstliche Versammlungsstätte an, führt die rein funktionale Deutung der Reformatoren aber weiter, indem er danach fragt, was durch den Gottesdienst mit dem Raum selbst geschieht. 20 21 22 23 24 25 26 27

A. a. O., 80. Josuttis, Religion, 133. Josuttis, Umgang, 38. Josuttis, Umgang, 41; dahinter steht Luthers Sicht vom Menschen, der entweder von Gott oder vom Teufel beherrscht wird. Mit Woydack, Kirchengebäude, 156 und gegen Rupp, Handbuch, 22f. Raschzok, Feier. A. a. O., 127. Raschzok, Stätte, 108.

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Volp geht mit der Semiotik davon aus, dass der Kirchenraum eine eigene Sprache spricht. „Fassen wir zusammen, worin elementare Raumeinheiten ihre Symbolik entwickeln, dann fällt auf, dass kein Raum neutral ist, sondern immer schon vorentscheidet über kommunikative und existenziale Befindlichkeiten. Denn als ‚Text‘ gibt er Entscheidungen des Bauens, der Umgestaltung und Benutzung weiter. Glaubenssituationen, die sich in Nischen ebenso wie in erhabenen Großräumen niedergeschlagen haben, wirken auf den Betrachter als Zeichen einer bestimmten theologischen Einstellung: gestaltete Räume geben ihre Bereitschaft für das zu erkennen, was in ihnen geschieht bzw. geschehen soll“.28

Die „Heiligkeit“ des Kirchenraumes könnte man als präsentativ-symbolisch bezeichnen.29 „Der Kirchenraum ist heilig, weil er mit sinnlichen Symbolen auf das heilige Geschehen hinweist und Menschen für die Begegnung mit dem heiligen Gott präpariert.“30 Auch dieses Modell ist durch seine Orientierung am Gottesdienst mit dem reformatorischen Denken verbunden, geht aber darüber hinaus, indem es nach den Wirkungen des Raumes selbst fragt. Während das Spurenmodell Raschzoks die Heiligkeit des Kirchenraums von den Wirkungen des vergangenen Gottesdienstes her bestimmt, gewissermaßen vergangenheitsorientiert ist, bestimmt das präsentativ-symbolische Modell die Heiligkeit des Raumes stärker von seinen zukünftigen Wirkungen her. Halten wir fest: Alle drei skizzierten Modelle, die Heiligkeit des Kirchenraumes zu fassen, nehmen auf je eigene Weise reformatorisches Denken auf, wobei Josuttis stärker vom Erleben des einzelnen Menschen ausgeht, während Raschzok und Volp ihre Ansätze vom Gottesdienst her entwickeln. Ich selbst gehe im Folgenden von einem präsentisch-symbolischen Ansatz aus, der die Möglichkeit eröffnet, die Wirkungen des Kirchenraumes auf den individuellen Besucher zu beschreiben – auch unabhängig von seiner Teilnahme am Gottesdienst. Grundlegend ist dabei die Erkenntnis, dass Symbole gleichermaßen vieldeutig und sprachlich nicht ausschöpfbar sind. In der Konsequenz bedeutet das, dass ein Kirchenraum für einen Menschen zum heiligen Raum werden kann, während ein anderer unbeeindruckt wieder herausgehen wird. Gegen den Ansatz von Manfred Josuttis spricht Folgendes: Zwar wird sich „ubi et quando visum est deo“ – wo und wann Gott will – immer wieder ereignen, dass Menschen in Kirchenräumen mit der Wirklichkeit des Heiligen in Berührung kommen. Dafür gibt es gerade aus der Sowjetunion zahlreiche Beispiele. Der russische Astrophysiker Sergej Grib etwa beschrieb diese Erfahrung für sich so:

28 Volp, Liturgik, 993. 29 Bucher, Symbol, 114ff. 30 Rupp, Handbuch, 24.

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„Ich betrat einmal die Kirche der Geistlichen Akademie in Leningrad, und sofort begriff ich, dass Gott hier in besonderer Weise gegenwärtig ist. Und als ich auf die Straße hinaustrat, da fühlte ich, dass Gott in den Menschen ist, dass er in den Bäumen ist, am Himmel und auf der Erde. Das Wissen um die Gegenwart Gottes in der Kirche ist es, was Menschen anzieht“.31

Ich meine aber, dass aus dem Wunder keine Theorie entwickelt werden kann, wie Josuttis es im Rückgriff auf achaische Raumvorstellungen versucht. Klaus Raschzoks Spurenmodell hat den Vorteil, dass es anschlussfähig ist an das funktionalistische Raumverständnis der Reformatoren. Allerdings liegt genau an dieser Stelle auch seine Grenze: Die Heiligkeit von Kirchenräumen lässt sich von ihren Gebrauchsspuren her noch nicht hinlänglich erfassen. Die ausschließliche Orientierung am gottesdienstlichen Gebrauch führt zu einer zu engen Perspektive, was die Wirkungen von Kirchenräumen auf Besucherinnen und Besucher außerhalb der Gottesdienstzeiten betrifft.

5.

Ein praktisches Beispiel: Die neue Leipziger Universitätskirche St. Pauli: Kirche als Aula – Aula als Kirche32

5.1

Sprechender Erinnerungsraum

Der Freistaat Sachsen als Bauträger hatte sich nach jahrelangen heftigen Auseinandersetzungen mit der Universität Leipzig, der Stadt Leipzig und verschiedenen bürgerschaftlichen Gruppen darauf geeinigt, auf einen originalgetreuen Wiederaufbau der alten Universitätskirche zu verzichten, dafür aber einen Neubau zu errichten, der mit seiner äußeren und inneren Gestalt an die gesprengte Kirche erinnern sollte.33 Dem dient nicht nur die äußere Baugestaltung, die jeden Betrachter sofort an eine Kirche denken lässt, sondern auch der Innenraum mit seiner Nachahmung des gotischen Kreuzrippengewölbes, den Säulen, der Westempore mit der großen Orgel, der sog. Schwalbennestorgel im Altarraum und der Ausstattung mit den geretteten Epitaphien aus der alten Universitätskirche. Außerdem ist im Altarraum der ursprüngliche Paulineraltar aufgestellt worden. Nach dem Willen von Universitätsgottesdienst und Evangelisch-Lutherischer Landeskirche soll auch die aus der alten Kirche unmittelbar 31 Zit. nach Peter Zimmerling, Russlands religiöse Wiedergeburt, in: Evangelische Kommentare 3/1994, 160. 32 Eine ausführliche Version der folgenden Überlegungen findet sich in: Zimmerling, Universitätsgottesdienst. 33 Vgl. z. B. Franz Häuser, Restauration oder Modernisierung. Der bauhistorische Weg zum Campus für eine 600-jährige Universität, in: Zum Gedenken an die Sprengung der Universitätskirche St. Pauli am 30. Mai 1968, hg. vom Rektor der Universität Leipzig, Leipzig 2008, 15.

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vor der Sprengung geborgene barocke Kanzel im Hauptraum in absehbarer Zeit an zentraler Stelle ihren Platz finden.34 Die besondere Anmutung des Gesamtraumes hat Konsequenzen für alle, die den Raum nutzen: Ein Raum spricht eine eigene Sprache, besonders dann, wenn er bewusst als „sprechender Raum“ der Erinnerung gestaltet ist. Gerade an dieser Stelle drohte immer wieder die geplante gemeinsame Nutzung als Kirche und Aula zu scheitern.

5.2

Kirche als „Familienangehörige“

Als Leipziger Neubürger wurde ich spätestens mit der Übernahme des Amtes des Zweiten und später des Ersten Universitätspredigers auch persönlich in die Auseinandersetzungen um den Wiederaufbau und die Gestaltung der neuen Universitätskirche St. Pauli hineingezogen. Es war für mich bewegend, als Prediger beim ersten Universitätsgottesdienst auf der Baustelle von Aula/Universitätskirche St. Pauli am 2. Advent 2009 persönlich zu erfahren, wie viele Leipziger Bürgerinnen und Bürger intensive persönliche Erinnerungen mit der alten Universitätskirche verbinden, die anlässlich des Gottesdienstes auf elementare Weise wachgerufen wurden. Im Anschluss an den Gottesdienst bildete sich im hinteren Teil des Raumes spontan eine lange Schlange von Menschen, die mir von ihren Erfahrungen in der alten Kirche erzählen wollten. Ich hörte eineinhalb Stunden zu, ohne dass ich die Gelegenheit hatte, den Talar auszuziehen. Um nur zwei Zeugnisse anzuführen: Ein Ehepaar berichtete, dass sie sich bei den Proben des Universitätschors in der alten Universitätskirche kennen und lieben gelernt hätten. Ein Mann erzählte, dass er für seine Fotografien von der Sprengung der Kirche ein halbes Jahr in Stasi-Untersuchungshaft gesessen habe. Viele Menschen aus Leipzig verbinden mit der alten Universitätskirche gleichermaßen große Freude und großes Leid. Sie haben die Sprengung der Kirche wie den Verlust eines nahen Familienangehörigen erfahren und jahrzehntelang betrauert. Vor einiger Zeit hatte ich folgende Begegnung: Ein Mann erzählte mir von den Gefühlen, die sich bei der Sprengung der alten Universitätskirche 1968 seiner bemächtigt hätten. Er sei zusammen mit vielen anderen auf die Straße getreten und habe die Sprengung mit angeschaut. Obwohl Mitglied der SED, kamen ihm in diesem Moment Zweifel an der Richtigkeit des sozialistischen Weges. Im weiteren Verlauf unseres Gesprächs berichtete er, dass seine Mutter, eine fromme Frau, aus der Kirche ausgetreten sei, um ihm nicht die Karriere zu verbauen. 34 Das Finanzministerium des Freistaats Sachsen berief im August 2013 eine Expertenkommission ein, die nach Abschluss dem Rektorat der Universität Leipzig eine Empfehlung zur Aufstellung der Kanzel gab.

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Nach der Friedlichen Revolution habe er sich sowohl finanziell am Wiederaufbau der Kirche seines Heimatortes beteiligt als auch die Restaurierungskosten für ein Epitaph der neuen Universitätskirche übernommen. Mit der Sprengung war die Seele einer Vielzahl von Leipziger Bürgern mit ganz unterschiedlichem weltanschaulichem Hintergrund verletzt worden. Heinz Wagner schrieb im Rückblick: „Der Protest der Bevölkerung ebbte nicht ab. Das Unerwartete trat ein. Christen und Nichtchristen waren sich an dieser Stelle eins: Es war ein Verbrechen. Es gab Opfer der oppositionellen Meinungsbildung auf beiden Seiten. An dieser Schandtat war der brutale Charakter des Regimes erkennbar. Die Kirche demonstrierte selbst“.35

Es gibt nicht wenige Zeitzeugen, die meinen, dass vom Protest gegen die Sprengung der alten Universitätskirche eine Linie zu der Friedlichen Revolution im Herbst 1989 in Leipzig führt.36

5.3

Aula und Kirche als Simultaneum – Chancen und Probleme

Im Ausschreibungstext für den Neubau von Aula/Universitätskirche St. Pauli hieß es, dass dieser „das geistig-geistliche Zentrum“ der Universität werden sollte. Eine Konsequenz dieser Forderung war, dass der Neubau als Simultaneum konzipiert ist. Dabei unterscheidet sich das Leipziger Simultaneum von dem, was man klassischerweise darunter versteht: eine Kirche bzw. ein gottesdienstlicher Raum, der von unterschiedlichen Konfessionen gemeinsam genutzt wird. Aula und Universitätskirche St. Pauli werden zwar auch gemeinsam genutzt, aber – und hier liegt der Unterschied – nicht von zwei unterschiedlichen christlichen Konfessionen, sondern von unterschiedlichen Nutzern innerhalb und außerhalb der Universität: als Kirche (primär vom Universitätsgottesdienst), als Konzertsaal (primär von der Universitätsmusik) und als akademischer Veranstaltungsraum (primär von der Universität Leipzig) und schließlich zu unterschiedlichen Anlässen auch von verschiedenen Gastinstitutionen. Schon der Vorgängerbau stellte seit der Gründung der Universität vor über 600 Jahren ein solches Simultaneum dar, wobei sich die Schwerpunkte der Nutzung im Laufe der Jahrhunderte immer wieder verschoben haben. Zunächst dominierte die sakrale Nutzung. Demgegenüber stand seit der Weihe der Dominikanerkirche zur evangelischen Universitätskirche durch Martin Luther von 1545 bis 1710 die weltliche Nutzung im Vordergrund, da es in diesem Zeitraum noch keine regelmäßigen Universitätsgottesdienste gab. Das änderte sich 1710 mit dessen 35 Heinz Wagner, Zeugenschaft. Glaubenserfahrungen in meinem Leben, Leipzig 1992, 132. 36 In rein historischem Sinn lässt sich allerdings keine Abhängigkeit zwischen den Trägern des Protestes nachweisen, vgl. Winter, Gewalt, 293.

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Einführung an allen Sonn- und Feiertagen. Seitdem dominierte wieder die sakrale Nutzung. Seit dem Umbau des Augusteums am Ende des 19. Jh. erhielt die Universität zudem einen repräsentativen Festsaal, sodass die Kirche auch für Promotionsfeiern nicht mehr gebraucht wurde. Der Neubau jedoch sollte, so der Wille einer Reihe von Universitätsangehörigen, einen stärker säkularen als sakralen Charakter haben, auch was die geplanten Nutzungsszenarien angeht. Ich selbst plädiere als Universitätsprediger zusammen mit der Universitätsgemeinde und vielen Leipziger Bürgerinnen und Bürgern dafür, dass der Gesamtraum von Aula/Universitätskirche St. Pauli gleichberechtigt, sowohl sakral als auch säkular, eben als echtes Simultaneum, genutzt wird. Der Charakter als Simultaneum bietet gerade für den Universitätsgottesdienst große Chancen. Die Gottesdienste werden in einer als Aula genutzten Kirche bzw. in einer als Kirche genutzten Aula gefeiert.37 Allein der Doppelcharakter des Raumes – nicht ausschließlich Kirche, sondern eben auch weltliche Aula zu sein – eröffnet dem Universitätsgottesdienst die Möglichkeit, in einer Stadt mit lediglich 14 % Kirchenmitgliedern eine Brückenfunktion zu erfüllen: zwischen Glaube und Vernunft, zwischen Religion und Wissenschaft, zwischen Kirche und Gesellschaft, zwischen Atheismus/Agnostizismus und Christentum. Darüber hinaus hält die Theologie stellvertretend für die anderen Wissenschaften im Bewusstsein, dass Menschsein und damit auch alle wissenschaftlichen Bemühungen ein Wagnis ins Offene darstellen.38 Theologie und Universitätsgottesdienst haben die Aufgabe, Wissenschaft, Technik und Gesellschaft, also den Menschen, vor Selbstabschließung und Immunisierung gegenüber Kritik zu bewahren. Universitätsgottesdienst und Universitätsgemeinde haben schließlich in der neuen Aula und Kirche auch eine hermeneutische Funktion. Angesichts der seit einigen Jahren zu beobachtenden Rückkehr der Religion in die Öffentlichkeit fordert der Altmeister der deutschen Philosophie Jürgen Habermas von den religiös Musikalischen genauso wie von den religiös Unmusikalischen, aufeinander zuzugehen.39 Den religiös Musikalischen schreibt der Philosoph ins Stammbuch, ihren Glauben so zu artikulieren, dass auch religiös Unmusikalische das Gesagte nachvollziehen können. Und die religiös Unmusikalischen – zu denen Habermas sich selber zählt – haben die Aufgabe, in den Dialog wenigstens probehalber die Bereitschaft mitzubringen, dass an Religion und Glauben etwas 37 van Egeraat, Erinnerungen, bes. 193f. 38 Gott als „Gegenstand“ der Theologie impliziert die Kritik an jeder Form von Wissenschaft, die durch ihr rationales Systemdenken nur einen Ausschnitt der Wirklichkeit zu erfassen vermag, jedoch in totalitärer Weise vorgibt, das Ganze der Wirklichkeit zu kennen (vgl. dazu im Einzelnen Paul Schütz, Freiheit, Hoffnung, Prophetie. Von der Gegenwärtigkeit des Zukünftigen, Bd. 3 der Gesammelten Werke, Moers 1986, 661–671). 39 Habermas, Glauben, 20–23.

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Wahres dran sein könnte. Aufgabe des Universitätsgottesdienstes und seiner Predigerinnen und Prediger in der neuen Universitätskirche ist es, sich an dieser zweiseitigen Aufgabe zu beteiligen. Dabei reicht die Aufgabe noch weiter als Habermas vorschlägt, um wirklich zweiseitig zu sein. Der Universitätsgottesdienst darf die säkulare Gesellschaft ruhig herausfordern, sich von Zeit zu Zeit auch auf die ihm eigene Sprache einzulassen. Was die Raumausstattung betritt, tut er das bereits: Die Prinzipalstücke Altar, Ambo und Taufbecken einschließlich der Antependien sprechen eindeutig die Sprache eines sakralen Raums. Sie ist auch durch die Glaswand im Hauptteil des Aula-Kirchen-Raumes nicht zu überhören. Neben den besonderen Chancen birgt der Charakter von Aula und Universitätskirche als Simultaneum auch Konfliktpotenziale. Das zeigt schon eine jahrhundertelange Geschichte von als Simultaneen genutzten Kirchengebäuden. Hinzu kommt erschwerend, dass inhaltlich sehr unterschiedliche Handlungen im Gesamtraum stattfinden werden: gottesdienstliche, sakrale Handlungen auf der einen und solche säkularer, profaner Natur auf der anderen Seite. Ein gedeihliches Miteinander in Aula/Universitätskirche St. Pauli wird nur möglich sein, wenn alle Nutzer lernen, respektvoll miteinander umzugehen und sich in freiwilliger Selbstzurücknahme zu üben. Eine wichtige Voraussetzung dafür wird sein: Alle Veranstaltungen sollten mit der Würde eines Kirchenraumes zu vereinbaren sein. Ein prominentes Beispiel für eine zu enge Auslegung dieser Würde stammt aus dem 18. Jh.: Am 25. Juni 1740 hielt der Philosoph Johann Christoph Gottsched eine „Lob- und Gedächtnisrede auf die Erfindung der Buchdruckerkunst“, die er des zu erwartenden Andrangs wegen gerne vom philosophischen Hörsaal in die Paulinerkirche verlegt hätte, aber seine Gegner wussten das erfolgreich zu verhindern. In der „Fortgesetzten Nachricht von des Verfassers eignen Schriften, bis zum 1745sten Jahre“ berichtet er darüber: „Es hieß immer: die Kirche wäre nur für Reden, die dem Hofe zu Ehren gehalten würden; und die Buchdrucker wären von der Wichtigkeit nicht, dass man dieselbige ihrem Feste, einräumen sollte. / Kurz, man ward in den philosophischen Hörsaal verwiesen […]“.40

40 Das genannte Selbstzeugnis ist dem zweiten, „Praktischen Theil“ der 7. Auflage von Gottscheds „Ersten Gründen der gesammten Weltweisheit“ (1762) vorangestellt – ein leider unpaginierter Text; die Begebenheit wird aufgegriffen in dem jüngsten Sammelband: Johann Christoph Gottsched (1700–1766). Philosophie, Poetik und Wissenschaft, hrsg. v. Eric Achermann, Berlin 2014, S. 27f (Für den Hinweis danke ich Clemens Schwaiger, Benediktbeuern.)

388 5.4

Peter Zimmerling

Resümee und Ausblick

Jeder, der den Neubau von Aula/Universitätskirche St. Pauli zum ersten Mal von außen und innen in Augenschein nimmt, bleibt von seiner sakralen Anmutung emotional nicht unberührt. Er wird vielmehr unwillkürlich zu einer persönlichen Stellungnahme herausgefordert. Dies zeigte sich schon während der Bauphase, in der bei Einzelproblemen die Auseinandersetzungen der Planungsphase immer wieder aufflammten: etwa bei der Frage der Namensgebung des neuen Gebäudes, der Gestaltung der Säulen im Inneren, dem Einbringen einer Glaswand zwischen Schiff und Chorraum, und z. T. auch nach der Einweihung nicht endgültig befriedet sind, was an der immer noch ungeklärten Frage nach der Aufstellung der aus der alten Kirche stammenden barocken Kanzel von Valentin Schwarzenberger aus dem Jahr 1738 deutlich wird.41 All diese Auseinandersetzungen zeigen, dass die Gestalt und Ausstattung eines sakral anmutenden Raumes offensichtlich zu predigen vermögen. Die überwiegend agnostischen Leipziger Bürger haben in ihrer Mehrheit den Neubau trotz sakraler Anmutung angenommen. Das zeigte sich schon an der überwältigenden Reaktion auf die Möglichkeit, die fast fertige Baustelle von Aula/Universitätskirche zu ausgewählten Anlässen besichtigen zu können. Auch nach der offiziellen Einweihung blieb das Interesse ungebrochen, was an den hohen Zahlen der Gottesdienstteilnehmenden und am regen Besichtigungsinteresse des Altarraums unter der Woche erkennbar ist. Man kann die verglasten Betonsäulen mit der Möglichkeit, sie in unterschiedlichen Farben zu illuminieren, kitschig finden (das gilt natürlich auch für das in Gips nachgebaute gotische Gewölbe und viele andere Einzelheiten). Man kann die Idee des Architekten aber auch als kongeniale moderne Antwort auf die mittelalterliche gotische Kathedrale betrachten. Diese war, wie wir heute wissen, außen und innen bunt ausgemalt. Dazu kam das Licht, das durch die riesigen bunten Fensterflächen den Raum erfüllte – ein Symbol für Christus, das ewige Licht. Insofern stellte die mittelalterliche gotische Kathedrale eine Symphonie aus Licht und Farben dar – ganz anders, als es ihr heutiges Erscheinungsbild suggeriert. Wichtiger noch ist ein anderer Aspekt: Der Neubau von Aula/Universitätskirche St. Pauli ist – nicht anders als ein mittelalterlicher Kirchenbau – das Produkt unserer gegenwärtigen Gesellschaft und Kirche. In einer demokratisch verfassten, pluralistischen Gesellschaft und Kirche müssen auch beim Bau eines öffentlichen Gebäudes die unterschiedlichsten Interessen berücksichtigt werden. Umso mehr, wenn es sich dabei um ein Gebäude handelt, das gleichzeitig Aula und Kirche sein soll. Nur in einer vordemokratischen Zeit war es möglich, dass 41 Vgl. dazu im Einzelnen z. B. Helmstedt/Stötzner, Universitätskirche.

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389

ein Einzelner, sei es ein Fürst oder ein Kirchenoberer, seine persönliche Auffassung beim Bau durchsetzen konnte. Der Leipziger Universitätsgottesdienst hat nach dem Willen des Bauträgers dazu beizutragen, dass Aula und Universitätskirche zum geistig-geistlichen Zentrum der Universität Leipzig werden. Dazu muss er nach meiner Überzeugung das Evangelium von Jesus Christus im räumlichen Zentrum der Universität so verkündigen, dass auch diejenigen Universitätsangehörigen aufhorchen, die Christentum und Kirche fernstehen. Die Mithilfe der besonderen Atmosphäre von Aula/Universitätskirche St. Pauli sollte dabei nicht unterschätzt werden.

6.

Sakralräume als Mittel evangelischer Spiritualität

6.1

Kirchen als äußerer Ausdruck von Gotteserfahrung

Gestalt und Ausstattung von Kirchen stellen verdichtete, sinnlich wahrnehmbare Gotteserfahrungen dar. So ist wiederholt der gotische Baugedanke mit der Mystik in Verbindung gebracht worden. Danach stellt der gotische Kirchenbau eine Wiederspiegelung der spezifisch abendländischen Form der Mystik dar. In der Gotik fanden das damals neu entstandene Verlangen nach Gottesnähe und das von Vergegenwärtigung des göttlichen Geheimnisses geprägte Verhältnis des Mystikers zu Gott räumlichen Ausdruck.42 Auch der traditionelle orthodoxe Kirchenbau lässt sich als Raum gewordene Gotteserfahrung deuten.43 Die Ikonostase trennt den Altarraum vom übrigen Gottesdienstraum. Vor der Bilderwand ist Raum für die fehlerhafte und vergängliche Welt. Der unbetretbare Altarraum, den die Ikonostase abschließt, stellt die bereits von Gott erlöste, erleuchtete Welt dar. Ihr nähert sich der Gottesdienstteilnehmer in diesem Leben immer nur schwellenhaft. Jedoch gewinnt sein Leben nach orthodoxer Auffassung gerade durch die größer werdende Nähe zur himmlischen Welt Sinn. Der orthodoxe Kirchenraum bringt zum Ausdruck: Der Himmel ist zwar auf die Erde gekommen, doch ist die Erde damit noch nicht zum Himmel geworden.

42 Vgl. dazu die Schriften des Abtes Suger zum Neubau von St. Denis, dem ersten gotischen Kirchenbau (dazu Frieda Wolf, Art. Gotik, in: RGG, Bd. 2, 1700f). 43 Eugen Hämmerle/Heinz Ohme/Klaus Schwarz (Hg.), Zugänge zur Orthodoxie, Bensheimer Hefte 68, Göttingen 1968, 137–146 (Eugen Hämmerle, Der Raum gottesdienstlicher Versammlung); Georg Galitis/Georg Mantzaridis/Paul Wiertz, Glauben aus dem Herzen. Eine Einführung in die Orthodoxie, München 21988, 121–129 (Paul Wiertz, 4.2 Das Umfeld des Gottesdienstes).

390 6.2

Peter Zimmerling

Homiletische Funktion von Kirchengebäuden

Da Architektur und Innengestaltung von Kirchen räumlich-sichtbare Gotteserfahrungen darstellen, liegt es nahe, mit einem homiletischen Potenzial von sakralen Gebäuden und Räumen zu rechnen. Dieses Potenzial scheint mitverantwortlich dafür zu sein, dass viele Kirchenbesucher von einer Ahnung entsprechender Erfahrungen erfasst werden bzw. sogar selbst spirituelle Erfahrungen machen. Indem Gestalt und Ausstattung von Kirchen predigen, gewinnen sie eine Form von Offenbarungsqualität. Dass ein Kirchengebäude durch seine bloße Existenz verkündigt, lässt sich, wie wir sahen, in Leipzig eindrucksvoll sowohl mit der alten als auch der neuen Universitätskirche St. Pauli belegen. Nach dem Willen der DDR-Führung durfte im Zentrum Leipzigs und seiner Universität nicht länger eine Kirche – die jahrhundertelang auch als Aula fungiert hatte – stehen. Die im Krieg unzerstört gebliebene Universitätskirche wurde deshalb 1968 gegen den erklärten Willen des überwiegenden Teils der Bevölkerung gesprengt. Sie musste dem schönsten – sozialistisch geprägten – Universitätsneubau Europas Platz machen. Ebenso belegen die jahrelangen Auseinandersetzungen um den Wiederaufbau der Universitätskirche das homiletische Potenzial einer Kirche.44 Darüber hinaus lässt sich am gleichen Beispiel zeigen, dass auch der Innenraum eines Gebäudes zu predigen vermag. Er konfrontiert Besucherinnen und Besucher unüberhörbar mit seiner Botschaft. Hierin liegt letztlich der Grund, wieso in Leipzig ein längerer Streit darüber tobte, ob und inwieweit der Neubau von Aula und Universitätskirche St. Pauli einen sakral anmutenden Charakter haben dürfte.

6.3

Orte der Verlässlichkeit

Um in der postmodernen Risikogesellschaft emotional überleben zu können, braucht es Orte der Verlässlichkeit. Hierin ist ein wesentlicher Grund für die wachsende Sehnsucht vieler Zeitgenossen nach sakralen Orten zu suchen. Von ihnen – offensichtlich eher als vom Gottesdienst – erhoffen sie sich symbolische und rituelle Vergewisserung ihres Lebens und Glaubens.45 Diese Sehnsucht wird angesichts der prognostizierten Zunahme des globalen Risikopotenzials in Zukunft noch stärker werden.

44 Ratzmann, Faszinierend. 45 Ein Beleg für diese Sehnsucht ist gerade im Osten Deutschlands die Gründung vieler Vereine, die sich den Erhalt von Kirchen zum Ziel gesetzt haben. Oft das älteste Gebäude in einer Stadt oder einem Dorf, stellt die Kirche einen wesentlichen Identitätsmarker dar.

Kirchenräume als Orte der Verlässlichkeit

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Ein vermehrtes Angebot individuell zu vollziehender, niederschwelliger spiritueller Rituale in geöffneten Kirchenräumen außerhalb der Gottesdienstzeiten sollte dem Rechnung tragen. Ich denke hier an Lichterbäume,46 Gästebücher, Karten mit vorformulierten Gebeten, an Zettel zum Aufschreiben persönlicher Fürbitten, aber auch an Angebote zu Beichte, Segnung und Krankengebet. Die genannten Angebote gibt es inzwischen an vielen Citykirchen, auch die Möglichkeit zur seelsorgerlichen Aussprache und zu beichten und sich segnen und salben zu lassen. Protestanten haben sich im Hinblick auf die Anleitung zu spirituellen Vollzügen traditionellerweise schwergetan. Der Verdacht der Gesetzlichkeit verhinderte, sich einzugestehen, dass konkrete Hilfsmittel nötig sind, um die eigene spirituelle Stummheit zu überwinden. Nicht zuletzt das wachsende ökumenische Miteinander seit dem Zweiten Vatikanischen Konzil hat hier ein Umdenken eingeleitet und zur Aufnahme von Impulsen aus der katholischen Spiritualität geführt. Auch Beichten, Segnen und Salben haben lange Zeit im Protestantismus nur eine Nebenrolle gespielt. Seit einigen Jahren erkannte man jedoch, dass jeder Mensch eine Einheit von Leib, Seele und Geist ist. Seitdem sind sinnliche Formen der Vergewisserung des Heils wieder entdeckt worden. Dazu gehören der persönliche Segen, die Krankensalbung und die Einzelbeichte.

6.4

Notwendige Deutungs- und Vermittlungshilfen

Bei Untersuchungen der Codierungen, die einen Raum als sakralen Raum wahrnehmen lassen, hat sich herausgestellt, dass die Raumvorlieben und -erwartungen von Menschen stark variieren. Es gibt nicht den Raum an sich, der von einer Mehrheit als positiv konnotierter sakraler Raum empfunden wird. Für manche wirkt eine gotische Kirche nicht erhebend, sondern einfach nur düster und abstoßend. Überdies bedarf es eines kulturellen Vermittlungsrahmens, um Räume in ihrer religiösen Besonderheit wahrzunehmen zu können. Damit sich Besucherinnen und Besuchern der spirituelle Gehalt eines Kirchenraumes erschließt, sind Vermittlungshilfen nötig. Auch wenn diese nicht ausschließlich verbaler Natur sein werden, ist dabei das deutende Wort unverzichtbar. Die Interpretation der Heiligkeit des Kirchenraumes durch den präsentisch-symbolischen Ansatz führt so organisch zum reformatorischen Verständnis von der Vermittlung des Geistes Gottes durch Wort und Sakrament zurück. Als eine wichtige Vermittlungshilfe, um die spirituelle Dimension von Kirchenräumen näher zu erfassen, hat sich in den vergangenen Jahren die Kirchenpädagogik entwickelt. Sie hat sich zur Aufgabe gemacht, Menschen mit 46 S. den entsprechenden Artikel in diesem Handbuch.

392

Peter Zimmerling

Kirchenräumen in Beziehung zu bringen.47 Dazu bedient sie sich u. a. der Impulse und Methoden aus der Museumspädagogik. Ihr Ziel ist es, mittels der Erfahrung des Raumes einerseits Menschen die eigene Leiblichkeit bewusst zu machen, indem sie dazu anleitet, den Raum mit dem ganzen Körper und allen Sinnen zu erfahren. Andererseits öffnet sie den Blick für die Bedeutung des Raumes in der gottesdienstlichen Feier der Gemeinde. Um diese Ziele zu erreichen, werden besondere Kirchenführungen angeboten, durch die der Kirchenraum nicht nur sprachlich und visuell, sondern auch im Durchschreiten, Ertasten und Empfinden erschlossen wird. Eine andere Möglichkeit ist das Angebot von speziell auf die Raumerfahrung ausgerichteten Veranstaltungen (z. B. Konzerte und Gottesdienste). Eine weitere Vermittlungshilfe stellt die Liturgik und hier speziell die Liturgiedidaktik dar. Pfarrer und Pfarrerinnen sollten gelernt haben, dass der Raum mitpredigt. Nur so kann z. B. die Raumsprache – wenn nötig auch kontrastiv – zur Verstärkung eines Predigttextes genutzt werden. Ich denke hier etwa an eine Predigt in einer wilhelminischen Kirche über einen Bibeltext, der die Gefahr des Reichtums zum Inhalt hat. Eine weitere Vermittlungsaufgabe der Liturgik – in Zusammenarbeit mit Bestrebungen der Kirchenpädagogik – besteht darin, Gottesdienstteilnehmerinnen und -teilnehmern Zugänge zur Sprache des Kirchenraumes zu eröffnen. Nur wenn es gelingt, sie mit dieser Sprache vertraut zu machen, werden sie sich in ihrer Kirche wirklich heimisch fühlen. Im Hinblick auf den Umbau bzw. Neubau von Kirchenräumen schließlich hat die Liturgik die Aufgabe, die Erkenntnis ernstzunehmen, dass es kein einheitliches Empfinden davon gibt, was ein sakraler Raum mit positiver Ausstrahlung ist. Hier geht es darum, herauszufinden, welche Raumgestalt und welches Raumprogramm für die jeweilige Gemeinde passt. Das wird sich nur in einem längeren Kommunikationsprozess zusammen mit der Gemeinde erheben lassen.

Literatur Quellen Calvin, Johannes, Unterricht in der christlichen Religion. Institutio Christianae Religionis, übersetzt und bearbeitet von Otto Weber, Neukirchen-Vluyn 1955. Luther, Martin, Werke. Kritische Gesamtausgabe, Weimar 1883ff (WA).

47 Vgl. hier und im Folgenden Klie, Religion; Richter, Kirchenräume (von katholischer Seite); Rupp, Handbuch; Woydack, Kirchengebäude; Umbach, Räume; s. auch den Internetauftritt des Bundesverbandes Kirchenpädagogik e.V.

Kirchenräume als Orte der Verlässlichkeit

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Forschungsliteratur Bucher, Anton A., Symbol – Symbolbildung – Symbolerziehung. Philosophische und entwicklungspsychologische Grundlagen, St. Ottilien 1990. Egeraat, Erick van, Erinnerungen für die Zukunft, in: Zimmerling, Peter (Hg.), Universitätskirche St. Pauli. Vergangenheit, Gegenwart, Zukunft. Festschrift zur Wiedereinweihung der Universitätskirche St. Pauli zu Leipzig, Leipzig 2017, 185–194. Failing, Wolf-Eckart, „In den Trümmern des Tempels“. Symbolischer Raum und Heimatbedürfnis als Thema der Praktischen Theologie. Eine Annäherung, in: Pastoraltheologie 86 (1997), 375–391. Glockzin-Bever, Sigrid/Schwebel, Horst (Hg.), Kirchen – Raum – Pädagogik, Ästhetik – Theologie – Liturgik, Bd. 12, Münster 2002. Habermas, Jürgen, Glauben und Wissen. Friedenspreis des Deutschen Buchhandels 2001, Frankfurt a.M. 2001. Helmstedt, Martin/Stötzner, Ulrich (Hg.), Vernichtet, vergraben, neu erstanden. Die Universitätskirche St. Pauli zu Leipzig, Leipzig 2015. Josuttis, Manfred, Religion als Handwerk. Zur Handlungslogik spiritueller Methoden, Gütersloh 2002. –, Vom Umgang mit heiligen Räumen, in: Klie, Thomas (Hg.), Der Religion Raum geben. Kirchenpädagogik und religiöses Lernen, Grundlegungen. Veröffentlichungen des Religionspädagogischen Instituts Loccum, Bd. 3, Münster 32003, 34–43. Klie, Thomas (Hg.), Der Religion Raum geben. Kirchenpädagogik und religiöses Lernen, Grundlegungen. Veröffentlichungen des Religionspädagogischen Instituts Loccum, Bd. 3, Münster 32003. Mertin, Andreas, „… und räumlich glaubet der Mensch“ Der Glaube und seine Räume, in: Klie, Thomas (Hg.), Der Religion Raum geben. Kirchenpädagogik und religiöses Lernen, Grundlegungen. Veröffentlichungen des Religionspädagogischen Instituts Loccum, Bd. 3, Münster 32003, 51–77. Raschzok, Klaus, Der Feier Raum geben. Zu den Wechselbeziehungen von Raum und Gottesdienst, in: Thomas Klie (Hg.), Der Religion Raum geben. Kirchenpädagogik und religiöses Lernen, Grundlegungen. Veröffentlichungen des Religionspädagogischen Instituts Loccum, Bd. 3, Münster 32003, 112–135. –, „… an keine Stätte noch Zeit aus Not gebunden“ (Martin Luther). Zur Frage des heiligen Raumes nach lutherischem Verständnis, in: Glockzin-Bever, Sigrid/Schwebel, Horst (Hg.), Kirchen – Raum – Pädagogik, Ästhetik – Theologie – Liturgik, Bd. 12, Münster 2002, 99–113. Ratzmann, Wolfgang, Faszinierend und heftig umstritten. Stationen und Positionen beim Bau des neuen symbolischen Zentrums der Leipziger Universität, in: Zimmerling, Universitätskirche, 162–174. Richter, Klemens, Kirchenräume und Kirchenträume. Die Bedeutung des Kirchenraums für eine lebendige Gemeinde, Freiburg 1998. Ricker, Christian, Brücke zwischen Sehen und Hören. Kirchenpädagogik und ihre Vermittlungsfunktionen, in: Thomas Klie (Hg.), Der Religion Raum geben. Kirchenpädagogik und religiöses Lernen, Grundlegungen. Veröffentlichungen des Religionspädagogischen Instituts Loccum, Bd. 3, Münster 32003.

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Peter Zimmerling

Rupp, Hartmut (Hg.), Handbuch Kirchenpädagogik. Kirchenräume wahrnehmen, deuten und erschließen, Stuttgart 2006. Schmitz, Hermann, Das Göttliche und der Raum (System der Philosophie III/4), Bonn 2 1995. Schwebel, Horst, Von der Kirche in der Stadt, Marburg 1996. Steffensky, Fulbert, Der Seele Raum geben – Kirchen als Orte der Besinnung und Ermutigung, im Auftrag des Präsidiums der Synode der Evangelischen Kirche in Deutschland (EKD), hg. vom Kirchenamt der EKD, Hannover 2003. Umbach, Helmut, Heilige Räume – Pforten des Himmels. Vom Umgang der Protestanten mit ihren Kirchen, Göttingen 2005. Volp, Rainer, Liturgik. Die Kunst, Gott zu feiern, Bd. 2 Theorien und Gestaltung, Gütersloh 1993. Wick, Peter, Die urchristlichen Gottesdienste. Entstehung und Entwicklung im Rahmen der frühjüdischen Tempel-, Synagogen- und Hausfrömmigkeit, Beiträge zur Wissenschaft vom Alten und Neuen Testament, 8. Folge, Heft 10, Stuttgart u. a. 2002. Winter, Christian, Gewalt gegen Geschichte. Der Weg zur Sprengung der Universitätskirche Leipzig, Arbeiten zur Kirchen- und Theologiegeschichte, Bd. 2, Leipzig 1998. Woydack, Tobias, Der räumliche Gott. Was sind Kirchengebäude theologisch?, Kirche in der Stadt, Bd. 13, Schenefeld 2005. Zimmerling, Peter, Heilige Räume im Protestantismus – gibt es das?, in: Zeitschrift der Gemeinsamen Arbeitsstelle für gottesdienstliche Fragen der Evangelischen Kirche in Deutschland 21, Heft 2: Raumerkundungen (2007), 23–32. –, Der Leipziger Universitätsgottesdienst in Geschichte, Gegenwart und Zukunft. Homiletische und liturgische Überlegungen, in: ders. (Hg.), Universitätskirche St. Pauli. Vergangenheit, Gegenwart, Zukunft. Festschrift zur Wiedereinweihung der Universitätskirche St. Pauli zu Leipzig, Leipzig 2017, 283–293.

Holger Treutmann

Lichterbäume Brücke zu agnostischer Spiritualität?

1.

Beobachtungen im Alltag

In der Kirche schon richteten sich die Blicke auf den Tannenbaum. Zu Hause lässt der Kleine geduldig die familiäre Liturgie der Heiligabendgestaltung über sich ergehen, die in der Bescherung als Höhepunkt münden wird. Immer wieder schließt er die Augen – nicht ganz – nur so weit, dass die Lichter auf dem Baum in ihrer pyramidenförmigen Vielzahl vor seinen Augen verschwimmen und kleine Sterne bilden. So überglänzt das Licht einer zauberhaft fernen Welt den Heiligen Abend, der trotz seiner Einmaligkeit im Jahr doch immer auch zurückfällt in diesseitige Alltäglichkeit. Knapp 30 Millionen Tannenbäume wurden im Jahr 2017 in Deutschland verkauft. Lichterbäume haben Konjunktur – nicht nur in der Weihnachtszeit. Biergärten schmücken im Sommer die Linden über den Tischen mit Girlanden von Glühlampen. Die Blätter bekommen Kontur in der Dunkelheit und verstärken die Ästhetik natürlicher Formen. Alles fängt zu leuchten an, seit LEDLicht nicht nur kostengünstig, sondern auch gezielter steuerbar ist in Farbe, Ausrichtung und Intensität. Landschaftsarchitekten inszenieren von unten angestrahlte Bäume im Ensemble der Wohneinheit. Nie wurde Architektur so intensiv beleuchtet. Die Gebäude fangen in ihrer Plastizität an zu strahlen und künden dem Betrachter der Stadtsilhouette von einem Wert des Gebäudes jenseits des Zwecks, den es beherbergt. Immer häufiger werden Natur oder Bauwerk zur Leinwand für farbige Kunst, Filme oder grafische Botschaften. In der säkularen Welt suchen Lichtinszenierungen Geheimnisse zu offenbaren, die hinter dem Sichtbaren liegen. Sie erzeugen Epiphanien, die über die Leere einer gottentwöhnten Welt hinwegtrösten sollen.

396

2.

Holger Treutmann

Biblische Annäherungen

Im Baum erkennt der Mensch sich als göttliches Geschöpf (Ps 1,3; Jer 17,8). Der Baum ist Lebenssymbol schlechthin (Spr 11,30; Spr 15,4; Lk 13,19). Am Baum entscheiden sich Wohl und Wehe menschlicher Existenz (Gen 3; Mt 3,1–10). Die Gottesbeziehung des Menschen bildet sich im Baum symbolisch ab. Jesus vergleicht die Glaubenden mit einem Baum, der gute Frucht bringt (Mt 7,17–19). Am Ende aller Zeit erwartet die Erlösten der Zugang zum Baum des Lebens (Apk 22,14). Die Lichtmetaphorik findet sich an unzähligen Stellen des biblischen Zeugnisses. Das erste Schöpfungswerk ist das Licht (Gen 1,3). Die Ewigkeit wird einer Sonne und des Mondes nicht mehr bedürfen, weil Gottes Herrlichkeit sie erleuchten wird (Apk 21,23). Christus selbst spricht von sich als Licht der Welt (Joh 8,12) und verheißt den Nachfolgenden im Glauben das ewige Licht.

3.

Das Ritual des Entzündens

Auch in säkularer Umwelt verleiht das Entzünden einer Kerze dem Augenblick besondere Aufmerksamkeit und Würde. Wer zu Tisch eine Kerze anzündet, erzeugt Festlichkeit. Auf der Geburtstagstorte vermittelt ein Lebenslicht die guten Wünsche für den Jubilar. Eine Kerze im Fenster leuchtet dem Vermissten heim und verheißt ihm Zugehörigkeit über große Entfernung und Zeiträume hinweg. In einer religiös vergleichsweise sprachlos gewordenen Welt eröffnet das Entzünden einer Kerze die Ahnung einer Transzendenz, die sich mit Worten nicht äußern kann oder mag. In den Koffer eines Notfallseelsorgers oder Kriseninterventionsteams gehören deshalb Streichhölzer und Kerze. Auch Atheisten empfinden den Trost einer Kerze in Zeiten der Sinnleere nur selten als religiös übergriffig.

4.

Lichterbäume als liturgische Ausstattung des Kirchenraums

Wo immer der Ursprung des Lichterbaumes zu suchen ist, die Verbindung eines diesseitig gewachsenen Lebenssymbols mit der Göttlichkeit des Lichts im Lichterbaum scheint sehr archaische Lebensäußerungen des Menschen zu berühren. In Analogie zum jüdischen Tempel (Ex 25,31ff) hat es auch in christlichen Kirchen schon früh Leuchter verschiedener Art und Form gegeben. Die Menora, der siebenarmige Leuchter, ist zum Sinnbild jüdischen Lebens geworden und erinnert in seiner Anmutung an einen Zweig mit Lichtern darauf. Leuchter in verschiedener Form und Lichtzahl (drei, sieben, zwölf) in christlichen Kirchen

Lichterbäume

397

präsentieren die Lichter nicht nur, sondern werden auch mit einer Deutung verbunden.1 Bedeutungsleitend für alle Formen von Leuchtern oder Lichterbäumen in Kirchen ist das singuläre Osterlicht auf dem Leuchter am Altar oder am Taufstein.2 Es steht für den Sieg des Lebens über den Tod. Die Osterkerze versinnbildlicht das ewige Leben bei Gott. Welche Bedeutung Kerzen im Zusammenhang des Altares als vormaligem Opfertisch zukommen wird, bedürfte liturgiegeschichtlich einer aufwändigen Herleitung.3 Die Praxis kirchlichen Lebens zeigt, dass sich mit dem Entzünden der Kerze auch der Gedanke einer Opferhandlung verbinden konnte. Die Ablösung des blutigen Opfers durch Ersatzgaben spielte dabei eine leitende Rolle. Wenn auch der Opfertod Jesu am Kreuz nicht wiederholt werden kann und muss, haben sich doch Bräuche einer Kerzengabe etabliert, in der archaische Opferkulte ihren Nachhall finden. Kerzen werden auch deshalb angezündet, um einer Fürbitte Nachdruck zu verleihen. Sie können als eine Form des Dankopfers verstanden werden.

5.

Lichterbäume und Lichterbänke in der offenen Kirche

Auch im protestantischen Raum finden sich Orte in den Kirchen, an dem Kerzen abgestellt oder aufgesetzt werden können.4 Nicht selten handelt es sich dabei um schmiedeeiserne Kerzenständer oder Tische. Aber auch Kerzenbänke oder Sandmulden werden bereitgehalten. Gerade außerhalb der gottesdienstlichen Feier ist das Anzünden der Kerze in der Kirche ein Ritual, das für viele Deutungen offen ist. Selbst der „religiös unmusikalische Mensch“5 sucht Kirchen auf. Triebfeder dafür kann ein kultur- oder kunsthistorisches Interesse ebenso sein wie die Suche nach Ruhe im Alltag oder ausdrücklich die spirituelle Einkehr. Im Gottesdienst verhält sich die feiernde Gemeinde relativ passiv, während sie die Aktivität der Geistlichen am Altar verfolgt. Außer beim Aufstehen oder Knien zu Gebeten oder zur Teilnahme an der Mahlfeier bleibt die Gottesdienstgemeinde weitgehend ortsfest in den Bänken. Das Entzünden einer Kerze vor oder nach dem Gottesdienst macht den einzelnen Gläubigen dagegen zum liturgisch aktiv Handelnden. Er wird in quasi priesterlicher Funktion tätig und zelebriert eine heilige Handlung. Insofern spiegelt sich in der spirituellen Aktion am Lichterbaum ein wesentliches Element protestantischen Glaubens. Das Priestertum aller 1 2 3 4

Schreiner/Wirtler, Leuchter. Fechtner, Kerze. Braun, Altar. Einer der ersten Lichterbäume in ev. Kirchen steht im Dom zu Uppsala. Er wurde 1968 zur dortigen Vollversammlung des ökumenischen Rates der Kirchen geschaffen. 5 Habermas, Verleihung des Friedenspreises.

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Holger Treutmann

Getauften nehmen unbewusst auch Ungetaufte und indifferent Glaubende beim Entzünden der Kerze im heiligen Raum für sich in Anspruch. Was immer sie glauben und unabhängig davon, wie sprachfähig sie im Blick auf ein eigenes religiöses Bekenntnis sein mögen, zögern Menschen nicht, in Kirchen Kerzen anzuzünden. Was sie sich davon versprechen, lässt sich nur individuell beantworten. Gäste- oder Gebetbücher, die neben dem Lichterbaum oder am Lichtertisch platziert werden, geben ein vielfältiges Zeugnis. Sie reichen von der Selbstvergewisserung des eigenen Daseins im Heiligen Raum („wir waren hier“), über Dankbarkeit („was für eine schöne Kirche“) bis hin zu konkreten Fürbitten persönlicher („mach, dass unsere Eltern sich nicht trennen“) oder gesellschaftlicher Art („schenke endlich Frieden auf der Welt“).6 Lichterbäume bieten Raum, dem eigenen Glauben individuell Gestalt zu geben, zugleich binden die einzelnen Aktionen am Lichterbaum ein in das Handeln vieler. Mit dem eigenen, einzelnen Licht einzutauchen in ein Kerzenmeer löst nicht nur einen psychologischen Effekt der Vergewisserung aus, sondern bildet ein Glänzen ab, das ohne Worte von der überirdischen Herrlichkeit Gottes kündet.

6.

Gestaltung der Lichterbäume

Protestantische Kirchen werden zunehmend offen gehalten. Verlässlich geöffnete Kirchen können seitens der verfassten Kirchen mit einem Signet versehen werden, wenn sie bestimmte Standards erfüllen.7 Dem Bedürfnis der Gäste, im Kirchenraum spezifisch tätig zu werden, kommen viele Gemeinden mit der Einrichtung eines meditativen Ortes zum Entzünden der Kerzen entgegen. Dabei orientieren sie sich in der Gestaltung an praktischen Erwägungen, legen aber zunehmend auch künstlerische Maßstäbe an. Viele Lichterbäume erinnern an einen Weinstock. Weinblätter im Geflecht des Lichterbaums werden mit Abstellflächen für Teelichter oder eigens angefertigten Standlichtern kombiniert. Der in der Fürbitte bedachte Mensch möge nach der Verheißung Christi Teil am Weinstock sein und erfüllt werden mit seiner Kraft (Joh 15).

6 Die Zitate stammen aus Eintragungen in den Gästebüchern der Dresdner Frauenkirche, die unmittelbar neben der Lichterbank ausliegen. Mehrere solcher Bücher füllen sich in einem Jahr. 7 http://www.kirchliche-dienste.de/arbeitsfelder/offene-kirchen/archiv/die-geschichte-des-si gnets, abgerufen am 15. 03. 2018.

Lichterbäume

7.

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Offenheit für mystische Erfahrung

Als exemplarisch darf die Gestaltung des Lichterbaums in Form eines Dornbuschs gelten. Die biblische Erzählung von der Berufung des Mose (Ex 6) beschreibt eine Epiphanie in Form einer Lichterscheinung im Baum. Der Dornbusch als Symbol für menschliches, auch dornenreiches, Leben verzehrt sich nicht. Mit der lichthaften Verklärung des Baumes verbindet sich die Anrede durch Gott. Der suchende Mensch Mose erfährt im Augenblick der Lichterscheinung eine innere Klarheit über die Aufgabe seines eigenen Lebens und zugleich eine Vergegenwärtigung der Nähe Gottes, die bei aller Irritation im Augenblick langfristig tröstlich und bestärkend erlebt wird. Lichterfahrungen im Baum scheinen auch in der Mystik immer wieder eine Rolle zu spielen. So beschreibt Jörg Zink sein eigenes Erleben der Gottesnähe während des Zweiten Weltkriegs als Soldat unter der Überschrift „Ekstasen nicht fürchten“: „Neben unserem Flugplatz in Lyon lag ein altes französisches Fort, eine leere Befestigungsanlage mit Gräben und Wällen und riesigen Bunkern, das Fort Bron. Wenn ich in meiner Freizeit dem Lärm meiner Unterkunft entrinnen wollte, ging ich auf die Wälle dieses Forts hinüber mit irgendeinem Buch, das ich in der Stille lesen wollte. Einmal nun saß ich auf einem solchen Hügel, rings um mich her ein wildes Buschwerk aus über und über weiß blühenden Schlehen. Wohin das Auge sah, nichts als weiße Blüten. Was ist das? durchfuhr es mich. Das waren keine Blüten. Das war eine Welt, die offen war nach einer anderen Dimension hin. Da war alles offen! Und mir war schlagartig klar, dass meine kleine Welt, in der ich lebte und Soldat war und flog und Bücher las, wie ein Gefängnis war, dessen Mauern mir die eigentliche Wirklichkeit verstellten. […] Ein paar weißblühende Schlehen sind einige meiner wichtigsten Lehrer gewesen. Und ich verstehe Bernhard von Clairvaux gut, wenn er sagt: ‚Ich hatte keine anderen Meister als die Buchen und die Eichen‘“.8

Welche psychologischen Deutungen man an mystische Erfahrungen auch immer herantragen kann, individuelles mystische Erleben lässt sich weder verallgemeinern oder einfordern noch rational relativieren. Mit der Errichtung von Lichterbäumen lässt sich mystische Erfahrung nicht provozieren, aber es können Räume eröffnet werden, wo Gottesnähe sich ereignen kann. Biblische Gotteserfahrungen werden im Kunstwerk veranschaulicht und bestärken so das Zutrauen in eigene religiöse Erfahrungen. Auch wenn atheistische Erklärungen mystischer Phänomene für säkulare Zeitgenossen immer näher liegen, vermögen Lichterbäume das Vertrauen in einen Gott zu bestärken, der sich zeigt, wann und wo er will.

8 Zink, Schnur, 63f.

400

Holger Treutmann

Literatur Braun, Joseph, Der christliche Altar in seiner geschichtlichen Entwicklung, 2 Bände, München 1924. Fechtner, Christian, Art.: Kerze, in: RGG 4, Bd. 4, Tübingen 2002, 938f. Habermas, Jürgen, Dankesrede zur Verleihung des Deutschen Friedenspreises, https:// www.friedenspreis-des-deutschen-buchhandels.de/sixcms/media.php/1290/2001_haber mas.pdf, abgerufen am 10. 07. 2018. Gästebücher der Dresdner Frauenkirche einzusehen bei: Stiftung Frauenkirche Dresden. Schreiner, Stefan/Wirtler, Ulrike, Art.: Leuchter, in: RGG 4, Bd. 5, Tübingen 2002, 288ff. Zink, Jörg, Die goldene Schnur – Anleitung zu einem inneren Weg, Stuttgart 1999.

Ralph Kunz

Welche Bedeutung haben Ritual und Symbol für die Praxis der evangelischen Spiritualität?

1.

Protestantische Reserve gegenüber Ritual und Symbol

Nach Michael Meyer-Blanck sind Protestanten Ritualisten in erster Ableitung.1 Mit anderen Worten: sie haben eine gewisse Reserve gegenüber Wiederholungen, religiösen Gewohnheiten und festen Formen. Die Gründe dafür sind komplex und vielfältig. Manches davon ist eine Folge der Spiritualisierung, also der Vergeistigung, Verflüssigung und Verflüchtigung der Religion, die in der Neuzeit begonnen und seit der Aufklärung zunehmend an Bedeutung gewonnen hat. Charles Taylor nennt es in seiner erhellenden Analyse des säkularen Zeitalters „excarnation“.2 Gemeint ist ein Trend vom religiös Konkreten zum Abstrakten und vom Kollektiven zum Individuellen. Von Taylor und anderen Philosophen lernen wir auch, wie komplex und verästelt die Geschichte dieses epochalen kulturellen Umbruchs ist. Zu sagen, die Reform der Kirche vor 500 Jahren sei der Anfang der Moderne gewesen oder gar schuld daran, ist sicher zu simpel. Dennoch ist es unverkennbar, dass die evangelische Spiritualität mit dem starken Nachdruck auf den Wortbezug des Glaubens zur Säkularisierung der westlichen Kultur beigetragen hat.3 Sind wir Protestanten also ausgekochte Kopfmenschen? Ich folge hier einem Leitgedanken von Werner Jetter: „Die protestantische Theologie hat etwas vom antiritualistischen Erbe im Blut. Man fühlt sich da gerne als Nachfahre der prophetischen oder als Sachverwalter einer neutestamentlichen Kultkritik. Wahrscheinlich folgt man zugleich und oft stärker noch einem Trend aufgeklärter, bürgerlicher Religiosität. Man sollte aus der gebotenen kritischen Sorgfalt keine unkritische Allergie werden lassen“.4 1 Meyer-Blanck, Inszenierung, 45. 2 Zur dialektischen Geschichte der Säkularisierung und der Rolle des Christentums vgl. Taylor, Secular Age. 3 Im größeren Zusammenhang des protestantischen Rationalismus ist auch die kontrovers diskutierte These von Max Weber zu erwähnen, die eine Verbindung zwischen calvinistischer Ethik und der Entstehung des Kapitalismus postuliert. Vgl. dazu Schellong, Kapitalismus. 4 Jetter, Symbol und Ritual, 111.

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Ralph Kunz

Ein Blick in die Bücherregale genügt, um Befürchtungen (oder Hoffnungen!) zu zerstreuen. Es ist offensichtlich, dass auch die Protestanten den Bauch, den Leib und die Emotionen (wieder)entdeckt haben. An Literatur, die für mehr Ganzheitlichkeit plädiert, herrscht kein Mangel. Seit den 1980er-Jahren kann (im deutschsprachigen Raum) von einem regelrechten Boom gesprochen werden, der bezeichnenderweise mit einer gesteigerten Aufmerksamkeit für katholische, aber auch östliche Spiritualität einherging. Was uns im Folgenden interessiert: In der akademischen Reflexion, die diese spirituelle Bewegung begleitet, spielen Ritual und Symbol als theoretische Konzepte eine zunehmend wichtigere Rolle.5 Die Begeisterung für den Leib und für ganzheitliches Erleben hat freilich auch dazu geführt, dass diejenigen Praktiken der christlichen Spiritualität, die der Protestantismus für zentral hält, einem generellen Verdacht unterstellt worden sind. Insbesondere das Predigthören, aber auch die Schriftlektüre leiden unter dem Ruf, „verkopft“ zu sein.6 Die Kopf-Bauch-Auseinandersetzungen prägten die Diskussionen in den 1990er-Jahren. Heute präsentiert sich die Debattenlage anders. Wohl gibt es noch konfessionell munitionierte Grabenkämpfe, aber sie finden an anderen Fronten (Amt, Kirchenrecht) statt. Auf dem Feld der Spiritualität lässt sich ein fröhlicher ökumenischer Gabentausch beobachten. Der innerchristliche wie auch der interreligiöse Transfer der spirituellen Güter ist intensiv, das Hin und Her unübersichtlich und die Destination der Importe, die sich in Ratgeber- und Hilfsliteratur finden, nicht immer eindeutig identifizierbar. Das gilt selbstverständlich auch für den Themenkomplex Ritual und Symbol. Wer sich auf die Spurensuche macht, wird eine Fülle von Bezügen entdecken. Das Sammelgut der spirituellen Wanderer wurde in der religionssoziologischen Analyse „Patchwork“ genannt.7 Unterschiedliche Muster lassen sich erkennen und werden in der Spiritualitätstheorie diskutiert. In den evangelischen Kirchen findet beispielsweise die ignatianische Exerzitienfrömmigkeit eine große Resonanz. Das Sitzen gehört zum neuen rituellen Repertoire, die Klangschale und der Gebetsschemel zum symbolischen Accessoire; das Ganze bildet ein Ensemble, das sich atmosphärisch vom Kirchgang oder der klassischen Andacht unterscheidet. Eindrücklich sind auch die unaufdringliche Wirkung der Taizé-Gesänge und – für manche beunruhigend – die esoterischen Einflüsse auf die christliche Religiosität. Die Herkunft der Stoffflicken zu ergründen, ist eine interessante Aufgabe der religionswissenschaftlich kompetenten Spiritualitätstheorie; die Erweiterung des Formenrepertoires zu begleiten, bleibt eine Herausforderung für die kirchliche 5 Aus der Fülle möglicher Referenzen greife ich ein Beispiel aus der Liturgik auf: Heimbrock, Gottesdienst. 6 Zur Widerlegung siehe Theissen, Chancen. 7 „Patchwork“ oder „Bricolage“ wurde in der Religionssoziologie zur Leitmetapher für den Individualsynkretismus oder einfach für das religiöse Gebastel; vgl. Hero, Formen.

Welche Bedeutung haben Ritual und Symbol?

403

Praxis und insbesondere die Religionsdidaktik. Hier soll es darum gehen, was die erfolgten Ein-, Um- und Aufbrüche der letzten Jahre für die evangelische Spiritualität bedeuten. Wie kann sie – auch und gerade im Hinblick auf ihre eigene kritische Wahrnehmung der rituellen Dimension des Glaubens! – ihr Profil wahrnehmen und bewahren? Wohin soll sie sich entwickeln? Die materiale Analyse des Patchworks allein kann die Frage nicht beantworten, eine prinzipielle Frontstellung gegen die Verflüssigung der religiösen Praxis hilft nicht weiter. Hilfreicher finde ich den Versuch, aus evangelischer Perspektive die Chancen (und nicht nur die Gefahren) ritueller Handlungen und symbolischer Kommunikationsformen für die Praxis der evangelischen Spiritualität zu befragen.

2.

Zur Begrifflichkeit

Die Begriffe „Ritual“ und „Symbol“ führen uns zunächst in einen dunklen Theoriewald. Man kann sich im Dickicht verirren oder sich im Labyrinth der Wege verlieren, wenn man meint, allen theoretischen Fährten der Thematik nachgehen zu müssen. Ich beschränke mich aus pragmatischen Gründen auf einen bestimmten Pfad der Ritualtheorie. Er bietet sich an, um einerseits den Bezug zur Glaubenspraxis der evangelischen Christen und andererseits den Bezug zum alltäglichen Lebensvollzug zu klären.8 Religiöses Ritual soll das heißen, was Christian Walti im Anschluss an Randall Collins als eine bestimmte Form der Interaktion bestimmt. Wer daran partizipiert, nimmt sich gegenseitig wahr, separiert sich von der Umgebung, fokussiert auf ein transzendentes Gegenüber und erfährt die Interaktion in gemeinsamer Emotion als etwas, das über die Situation hinaus Bedeutung trägt.9 Einen ähnlich pragmatischen Theoriebezug schlage ich für den Bereich des Symbolischen vor. Unter „Symbol“ ist in diesem Beitrag vorab eine bestimmte Weise des Zeichenumgangs gemeint.10 Symbolische Kommunikation ist anders als diskursive Rede ein repräsentatives Verfahren, also näher beim Bild als beim Wort anzusiedeln und mehr im Bereich des Gegenständlichen als durch den Bezug auf ein personales Gegenüber konstituiert. Ich bin mit Michael Meyer8 Pragmatisch ist das Verfahren insofern, als ich mich auf die Verknüpfung von Sozialität und Ritualität konzentriere, wie sie Emile Durkheim begründet hat, von Irving Goffmann im sozialen Interaktionismus weitergeführt, von Werner Jetter rezipiert und theologisch adaptiert und von Christian Walti aufgearbeitet wurde. 9 Walti, Gottesdienst, 44. 10 Immer noch empfehlenswert wegen seiner Klarheit und Kürze: Meyer-Blanck, Symbol. Darin diskutiert Meyer-Blanck die Symbolbegriffe von Paul Tillich und Paul Ricoeur (10–33), referiert die semiotischen Ansätze von Charles Sanders Peirce und Umberto Eco (49–84), kommt von da zu einer semiotischen Kritik der Symboldidaktik und plädiert für eine terminologische Revision: vom Symbol zum Zeichen (100–115).

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Ralph Kunz

Blanck einig, dass für die Analyse der damit gegebenen Kommunikations- und Interaktionsprozesse der Zeichenbegriff mehr Klarheit verspricht als ein ontologisch aufgeladener Symbol-Begriff. Dennoch möchte ich nicht darauf verzichten, weil er sich im religionswissenschaftlichen und theologischen Diskurs eingebürgert hat. Um es ganz kurz zu sagen: Die Zeichentheorie leistet das für das Reden über Symbole, was die Interaktionstheorie für das Reden über Rituale leistet. Es sind also graduelle Bestimmungen des Rituellen und Symbolischen, die hier zum Zug kommen. Sie erlauben von Ritualisierung oder Symbolisierung zu sprechen, also Vollzüge zu thematisieren, die einmal mehr und einmal weniger wahrgenommen werden können. Ein klassisches Beispiel dafür ist die Diskussion, wie sich Wort- und Mahlfeier zueinander verhalten und wie im selben Ritus der Übergang von Rede, Gebet und symbolischer Kommunikation verstanden und gestaltet werden soll.11 Damit ist zugleich die Schnittstelle zur evangelischen Spiritualität angezeigt. Darunter verstehe ich die Ausübung und Übung des Glaubens als ein Geübt-Werden in der Gottesbeziehung. Was in der Nachfolge Jesu aufgegeben ist, wird durch das Leben des Geistes möglich.12 Spiritualität ist die Aktualisierung der Heilsgüter, die in Jesus Christus realisiert worden sind. Sie ist zugleich ihre Signalisierung, Inszenierung und Materialisierung, wenn diese Güter in einer Feier genossen, in der Lehre erinnert und in der Diakonie in Nächstenliebe verwandelt werden. Mit Blick auf den zentralen Ritus der christlichen Gemeinschaft: Wenn Jesus seinen Jüngern gebietet: „Tut dies zu meinem Gedächtnis“, fordert er sie zu einer rituellen Handlung auf, in der symbolische Kommunikation mit ihm möglich wird. Mit der materialen Bestimmung der formalen Vollzüge ist freilich ein hermeneutisches Verfahren gewählt, das Fragen aufwirft. Wenn sich die allgemeinen Vollzüge, die mit dem Rituellen und Symbolischen gemeint sind, immer nur in der Konkretion bestimmter Praktiken erläutern und präzisieren lassen, ist ein Hin und Her anthropologischer und theologischer Deutungen verlangt. Ritual und Symbol sind so gelesen keine religiösen Allgemeinplätze. Der Wechsel der unterschiedlichen perspektivischen Bezüge dient vielmehr einem Nachdenken, das sich von einer theologischen Hermeneutik leiten lässt, die das Geheimnis des geistlichen Lebens (1Kor 3,18–21) nicht erklären will. Darum ist der Bezug zu Gottesdienst, Predigt oder Gebet unverzichtbar. Überschneidungen zu anderen Kapiteln in diesem Band und den vorgängigen Bänden lassen sich kaum vermeiden. Ich werde also beides tun: einerseits die Frage nach der Bedeutung von Ritual und Symbol für Gottesdienst, Sakramente und Gebet stellen (3.) und andererseits 11 Grundlegend und gründlich Deeg, Wort. 12 Vgl. dazu Harms, Glauben.

Welche Bedeutung haben Ritual und Symbol?

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versuchen, liturgie-, sakraments- und gebetstheologische Einsichten für ein evangelisches Verständnis des Rituellen fruchtbar zu machen (4.).

3.

Die Bedeutung von Ritual und Symbol für die evangelische Spiritualität

3.1

Vom Gewinn und Verlust einer ritualtheoretischen Betrachtung

Davon auszugehen, dass der Gottesdienst ein Ritual ist, scheint zunächst eine absolute Trivialität zu sein. Wer nach dem rituellen Charakter des Gottesdienstes fragt, sucht das Allgemeine im Bestimmten. Denn das Ritual zerlegt die Liturgie in Bestandteile, also in Akte und Verhaltensweisen, die wir auch aus anderen Lebensbereichen kennen.13 Es ist mit anderen Worten der ritualtheoretische Ansatz eine Methode der Auflösung des Gottesdienstes in seine Elemente und damit auch eine Methode der Ablösung von seinem geschichtlichen Ursprung. Wer am Anfang war oder was am Anfang getan wurde, wird in anthropologischer, sozial- oder kulturwissenschaftlich vergleichender Perspektive unwesentlich; das historisch Kontingente rückt in den Hintergrund. Im Vordergrund stehen die Funktionen der Handlungen. So lässt sich beispielsweise das Abendmahl mit anderen rituellen Mahlfeiern oder der christliche Gottesdienst mit andersreligiösen oder nichtreligiösen Wortritualen vergleichen. Die Gefahren der Verallgemeinerung sind offensichtlich und die Mahnung, es erhelle nichts, wenn man auf das Kultische oder Religiöse des Sakraments abhebt, kann sprichwörtlich doppelsinnig ein „Ritual“ der evangelischen Theologie genannt werden. Die Kritik auf einen Nenner gebracht: das Allgemeine kann das Besondere nicht erklären. Mit einem zu weiten Ritualbegriff wird das Spezifische eines Ritus nicht eingefangen. Er verwässert nur sein Verständnis. Andererseits hilft die Frage nach der rituellen Dimension einer konkreten Feier, das eigene gottesdienstliche Handeln in einer vergleichenden Außenperspektive wahrzunehmen. Familienähnlichkeiten und Differenzen, die man dabei entdeckt, machen auch die spezifischen konfessionellen Deutungsmuster der eigenen Tradition deutlicher bewusst.14 Darüber hinaus kann mit Hilfe der ritualtheoretischen Distanzierung das Bewusstsein für Differenzen geschärft werden. Soll man – um ein Beispiel zu geben – das Abendmahl als eine Art Adaption der Rituale verstehen, wie sie im Umfeld antik-heidnischer Mysterien-Religionen gefeiert wurden? Oder geht es darum, die ursprüngliche Nähe von Agape und Diakonie, 13 Welche Weiten und Tiefen (Abgründe) ein vergleichendes Vorgehen einspielt, zeigt auf eindrückliche Weise Josuttis, Weg. 14 Vgl. dazu Plüss, Antiritualisten.

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wie sie in der Praxis der Mahlgemeinschaft Jesu zum Ausdruck kommt, wieder stark zu machen?15 Es ist gewiss würdig und recht, nach den Quellen zu fragen. Aber „evangelisch“ ist nicht identisch mit „biblisch“. Die protestantische Amts-, Kirchen- und Gottesdienstlehre hat eine eigene konfessionell spezifische Form des rituellen Handelns geprägt, die das geistliche und gottesdienstliche Erleben in bestimmte Bahnen lenkt. Der Erkenntnisgewinn, den ritualtheoretisch begründete Differenzen der Interpretation einspielen, besteht gerade darin, die Interpreten zum Nachdenken und möglicherweise zum Überdenken einer eingeübten Praxis zu bringen. Die Vorgaben der Lehre können Kriterien liefern, um eine unerwünschte Ritualisierung zu korrigieren oder eine gewünschte zu erreichen. Sie können also als eine kritische Anfrage an das tatsächlich Erlebte begriffen werden.16 Erfahren die Gläubigen, was im Abendmahl vorgehen soll?17 Stimmt die Lehre mit dem überein, was die an der Feier Beteiligten erleben? Es könnte ja sein, dass die oft gehörte Klage, dass Abendmahl sei zu „trocken“, etwas mit seiner mangelhaften rituellen Verflüssigung zu tun hat. Soll es darum gehen, eine allenfalls gestörte symbolische Kommunikation zu therapieren, versteht es sich von selbst, dass man von der ritualtheoretischen Sicht wieder zurück zum Besonderen des Ritus gelangen muss. Dieses Hin und Her lässt sich seit Längerem in der Praktischen Theologie beobachten. Wenn eingangs von einer Korrektur der evangelischen Spiritualität seit den 1980erJahren die Rede war, ist mit Blick auf die Liturgie der Befund dahingehend zu präzisieren, dass die innere Erneuerung der evangelischen Spiritualität sich nicht zuletzt auch den Liturgischen Bewegungen verdankt. Sie lehrten die Protestanten, auf die Regeln der ars celebrandi zu achten und die Formen zu pflegen, die Leib und Leben zusammenhalten.18

3.2

Das gelungene Ritual ist ein Gottesdienst

Das soll nun nicht heißen, dass „rituell“ mit „liturgisch“ gleichzusetzen oder zu ersetzen ist.19 Das lehrt Christian Grethleins einleuchtende Unterscheidung der drei Modi der Kommunikation des Evangeliums. Die Pointe der dreistelligen Kommunikation als Lehren, Helfen und Feiern besteht darin, dass in evangeli15 Grethlein, Praktische Theologie. 16 Moore-Keish, Remembrance, verbindet den Ansatz der Liturgischen Theologie mit einer Kritik am kognitiv enggeführten Protestantismus: „We trivialize the power of ritual action.” 17 In Anspielung auf Welker, Abendmahl, der in seinem Buch auf die Emergenz der rituellen Aktion im Abendmahl zu sprechen kommt. 18 Vgl. dazu Meyer-Blanck, Leben. 19 Das gilt auch für die überaus gelehrte Studie von Odenthal, Liturgie.

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scher Perspektive für ein gelungenes Ritual alle drei Bezüge geltend gemacht werden. Wenn Christen gottesdienstlich aufeinander zugehen, nähern sie sich der geheimnisvollen Mitte der Gottesgegenwart, die sie lehrt, ihre Dienstgemeinschaft auf Gott hin zu transzendieren. Wenn sie wieder auseinandergehen, sind sie zum Gottesdienst im Alltag gerüstet. In der Sicht des Glaubens ist es Gott, der durch die Gemeinschaft der Glaubenden hindurchgeht, sie berührt, erfüllt und verwandelt. Die Kraft dieser geistreichen Berührung verspüren die Gläubigen in einem Zustand aufmerksamer Gespanntheit, in die sie sich versetzen lassen. Wir reden beim Gottesdienst von der öffentlichen Versammlung der Christen, die den Zweck hat, das Evangelium so zu kommunizieren, dass Gott verherrlicht und der Mensch geheiligt wird. Die Frage, wie sich die Kommunikation des Evangeliums rituell vollzieht, ist freilich mit dieser theologischen Bestimmung noch nicht hinreichend beantwortet. Erstens gilt es, neben der Versammlung der Gemeinde auch die individuell oder in kleinen Gruppen geübte Andacht zu bedenken,20 und zweitens ist unbestritten, dass auch in den anderen genannten Modi der Kommunikation des Evangeliums rituelle Handlungen – sei dies in Form von Gebeten oder Segensworten – etwa im Rahmen der Erwachsenenbildung, in der Seelsorge oder im Kontext der Diakonie vorkommen können. Auf das rituelle Moment und die Rolle der Symbole in der individuellen Frömmigkeitsübung komme ich am Schluss zu sprechen (4.2). Diese Nachordnung ist keine Unterordnung. Individualität und Sozialität können als dem christlichen Glauben gleichursprüngliche Bezüge begriffen werden.21 Dennoch ist von einem Vorher und Nachher zu sprechen. Was in der Gruppe rituell geübt und individuell praktiziert wird, lebt aus den Quellen der gottesdienstlichen Tradition.

3.3

Sozialität und Ritualität

Wenn rituelles Verhalten menschliche Sozialität (und Individualität) mitkonstituiert, fragen wir, wie sich das Rituelle in der alltäglichen Kommunikation zum Rituellen in der religiösen Kommunikation verhält. Ob im Militär, in der Schule oder in der Familie – ein feierlicher Ausdruck der Verbundenheit ist in allen Sozialformationen mit einer Art Selbstinszenierung verknüpft. Was Werner Jetter in seinem Buch „Symbol und Ritual“ vor mehr als vierzig Jahren konstatierte, hat heute noch seine Gültigkeit: „Es zeigt sich, dass die sozialen Begegnungen weithin rituell organisiert und dass jedenfalls alle sozialen Ordnungen im Grunde rituelle 20 Siehe dazu die kleine feine Studie von Ratzmann, Andacht. 21 Vgl. dazu Zimmermann, Gemeinde, 11.

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Ordnungen sind.“22 Ich teile diese Sicht und verstehe das Rituelle als etwas Urmenschliches. Wenn Menschen zusammen feiern, stellt sich Rituelles „mit Naturnotwendigkeit ein. Es ist ein die menschliche Sozialität (und in ihr die menschliche Individualität) mitkonstituierendes Element.“23 Von den Schwierigkeiten eines weit gefassten Ritualbegriffs war oben schon die Rede. Die Weite ist aber auch als ein Gewinn anzusehen. Sie zwingt uns zu fragen, was das Ritual zu einem Gottesdienst werden lässt. Darauf kann die Theorie des symbolischen Interaktionismus gleichsam e contrario eine Antwort geben.24 Die zentrale Einsicht geht dahin, dass unser Leben ein fortwährendes Schauspiel ist. Wir präsentieren uns auf der Bühne des Alltags und pflegen unser Image. So funktionieren wir. Das Sehen und das Gesehen-Werden, das wir gerne als Lebensbeschäftigung der Prominenten bezeichnen, ist unser täglich Brot. Wir lechzen nach Beifall. Wir brauchen Resonanz und Anerkennung. Wir machen Anderen (und uns) etwas vor. Das ist natürlich zwiespältig im doppelten Sinn des Wortes. Wir können uns nicht immer neu entwerfen und erfinden im Zusammenspiel mit anderen Menschen. Wir machen eine Show und durchschauen sie. Deshalb brauchen wir Rituale. Sie setzen uns in Szene. Wir (an)erkennen ihre kulturanthropologische Bedeutung: ritualisiertes Verhalten gehört zu einem guten Teil zum „normalen Habitus“, wie Werner Jetter treffend sagt.25 Wir brauchen die Maskerade, die uns aufgrund internalisierter Codes gegenseitige Sicherheit vermittelt. Rituale ermöglichen Zusammenleben. Sie sind ein elementarer Bestandteil des Zusammenhalts einer Gruppe und mehr als nur höfisch-höfliches Zeremoniell.26

3.4

Der wahre Gottesdienst

Natürlich stellt sich angesichts dieses Befundes mit noch größerer Dringlichkeit die Frage, wie sich evangelische Spiritualität zur weit gefassten Ritualisierung verhält – um dann schnell zur Einsicht zu gelangen, dass uns ein vager Religionsbegriff kaum weiterhilft. Es bleibt die Aufgabe, den Umgang miteinander und den Gang vor Gott und das Gehen mit Gott so zu unterscheiden, dass auch das Scheitern thematisch werden kann. Zuerst aber dies: Alltagsrituale lassen sich als Fortschritt der Evolution in diesem Sinne durchaus „neutral“ begreifen. War es 22 23 24 25 26

Jetter, Symbol und Ritual, 91. Ebd., 109. Vgl. Goffman, Interaktionsrituale, 51ff. Zit. in: Jetter, Symbol und Ritual, 91. Ebd., 92. Es empfiehlt sich, hier nicht zu werten. Der durch Rituale gefestigte innere Zusammenhalt einer Gruppe ist weder gut noch schlecht. Sowohl der Ku Klux Klan als auch der Franziskanerorden sind Stützgemeinschaften, die ihren Zusammenhalt rituell festigen.

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doch dem Homo sapiens erst durch Habitualisierung erlaubt, seine Großhirnrinde für Neues offenzuhalten. Nur bliebe das gottesdienstliche Ritual mit einer solchen Funktionszuweisung theologisch komplett unterbestimmt. Das ist seine Crux und es ist der Spalt im Zwiespältigen jeder Vorführung – sei sie fromm oder unfromm. Kritisch gewendet: auch der Gottesdienst kann dem Facelifting dienen und zur Show werden, die im Alltag Lügen gestraft wird, auch im christlichen Ritual kann man reine Maskerade erleben.27 Dann wird der Gottesdienst zur Bühne und zum Spielfeld menschlicher Selbstdarstellung. Wer wir sind und was wir sein möchten, klafft dann auseinander. Nur ist dieses Ritual kein wahrer Gottesdienst. Genauso wenig wie der Gott, an den man sich gewöhnt hat, den man herbeizitiert und den man verwendet, nicht der lebendige Gott, sondern Götze ist. Der aufrichtige Christ fragt zurück: Kann es den echten Glauben je geben? Der an Luther, Kierkegaard und Barth geschulte Protestant gibt zur Antwort: Ob ein Ritual wahr oder wahrhaftig ist, liegt nicht an seiner Performanz, ist nie Werk, sondern immer Gabe. Dank Christus wird aus dem Ritual Gottesdienst.28 Denn ER ist das Ebenbild Gottes und in seinem Gesichte sehen wir das Angesicht Gottes (2Kor 3,18). Damit Gottesdienst „in Geist und Wahrheit“ (Joh 4,42) geschieht, segnen, bitten und danken Christen nicht in ihrem eigenen Namen, sondern im Namen Christi. Noch einmal kritisch gegen die Kritik gewendet heißt das, dass die religiöse Maskerade dann demaskiert und das Spiel der Selbstinszenierung dann unterbrochen werden kann, wenn sich die Ritualteilnehmer auf Gott hin ausrichten, biblisch gesprochen: umkehren.29 So und nur so stimmt die Aussage, dass wir im Gottesdienst ein Stück Leben im Licht der Verheißung Gottes begehen.30 Gottesdienst wird dann zum Spielraum des Lebens, wenn Gottes Gegenwart in der Bewegung der Umkehr erfahrbar wird. Wir sehen, wenn wir uns in Christus sehen, wie durch einen Spiegel: Nicht nur unsere Fratzen werden entlarvt, sondern Gott sei Dank wird im Licht seines von der Doxa erleuchteten und versöhnten Antlitzes auch unser Gesicht gewahrt – als Gottes Ebenbild in erster Ableitung!

3.5

Die positive Macht der Geste

Im Ritual geht es demnach „nicht um die Macht einer Gewohnheit, sondern um die Einwohnung einer Macht“.31 Rituale sind so gesehen Türöffner. Wer oder was wie mächtig kommt, hängt davon ab, wer oder was angerufen wird. Die Ein27 28 29 30 31

Jetter, Symbol und Ritual, 119. Vgl. dazu die liturgie-theologisch fundierte Religionskritik von Myer-Boulton, Rethinking. Diese Grunddimension hat herausgearbeit: Baschera, Hinkehr. Vgl. dazu Kunz, Kirchenbilder. Jetter, Symbol und Ritual, 90.

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wohnung der Macht Gottes wird im Kontrast zu anderen Mächten, die beim Menschen Wohnung suchen, thematisch. Man könnte auch sagen: Das Ritual ist der Ernstfall für die Unterscheidung der Geister. Vor allem die reformierte Theologie hat diesen Aspekt stark betont – ich meine zu Recht. Der wahre Gottesdienst ist kein Götzendienst. Deshalb bliebe der Gottesdienst, wenn man ihn nur als religiöses Ritual bezeichnen würde, theologisch in fahrlässiger Weise unterbestimmt. Geistlich betrachtet ist das Ritual ein gegenseitiges Rufgeschehen und gegenseitiges Hören. Dabei betont die evangelische Spiritualität die Freiheit dieser Gott-Mensch-Begegnung. Sie weiß, dass Ritualsicherheit vor Gott in Selbstsicherheit kippen kann. Werner Jetter bringt es auf den Punkt, wenn er feststellt: „das Ritual schützt die Ehrfurcht – oder schützt sie bloß vor.”32 Nun haben, wie eingangs erwähnt, die Protestanten in den vergangenen Jahrzehnten gelernt, dem ersten Teil des Satzes mehr zu vertrauen. Und das ist gut so. Wer gegenüber den gebundenen Formen ständig den Verdacht der Unwahrhaftigkeit hegt, läuft Gefahr, dem Spontaneitäts- und Authentizitätsdogma auf den Leim zu gehen. Am Ende wird die postulierte Freiheit und Echtheit zur Knechtschaft der Selbstbeobachtung, die weder sich noch dem Ritual noch den Anderen und am Ende auch dem im Ritual erfahrenen Gott über den Weg trauen kann. Das ist der Schatten der protestantischen Introspektion. Fulbert Steffensky hat den Protestanten diesen – ihren eigenen! – Spiegel vorgehalten und ihnen ins Stammbuch geschrieben, sie sollen mehr Zutrauen zur Form fassen und dem Pathos der Authentizität etwas weniger trauen. Das „Leben in die Sprache retten“ heißt eine seiner Formeln.33 Er redet über die Gesten als eine Sprache der unausdrücklichen Wünsche, in die hinein ich mich als Glaubender vertrauend gebe. „Die Innerlichkeit ist außen! Meinen Mut, meine Hoffnung und meine Lebensvision habe ich nicht nur verschwiegen in mir selbst. Ich habe sie nicht nur in Überzeugungen. Ich habe sie auch, indem ich sie mir begegnen lasse, in Gestaltungen von außen: in Gesten, in Bezeichnungen, in Übungen.“34 Ich ziehe ein Fazit: Rituale haben eine Schlagseite. Sie sind geformte und ein Stück weit genormte Weisen gemeinschaftlich vollzogener Gottesbegegnung. Sie sind nicht spontan und binden ans Bewährte. Sie erinnern an die ehrwürdige Tradition, vermitteln die Entlastung der Gnade, aber belasten auch mit dem Althergebrachten. Rituelles Handeln ist Parteinahme für das Gegebene und ist zugleich Gabe. Das gilt auch für die sogenannten neuen Rituale, deren Neuheit meistens darin besteht, dass man aus verschiedenen Traditionen eine mehr oder weniger originelle Collage zusammenstückelt. Ob neu oder alt: Rituale sind auf 32 A. a. O., 95. 33 Steffensky, Beten. 34 Steffensky, Glaube, 51.

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Dauer angelegt und können zur Gewohnheit werden.35 Das hält die Spiritualität, aber hält sie zuweilen auch fest. Darum gilt es, den Grundsatz der Konkordienformel zu beherzigen: „Nihil extra usum.“36 Was immer gesagt, getan, gedeutet und gefeiert wird: Es wirkt im Gebrauch und nicht an sich. Es sind Menschen, die sich rituell verhalten. Also bleiben die Feiernden gerechtfertigte Sünder, auch und gerade wenn sie sich im Vollzug als Gemeinde der Heiligen erfahren.

4.

Symbolische Kommunikation und rituelle Handlung in evangelischer Perspektive

4.1

Der symbolische Charakter des Rituellen

Die reformatorische Forderung einer evangelischen Durchdringung der Welt will die falsche Abtrennung eines sakralen Bereichs vom profanen überwinden und zielt auf eine Einheit von Lehre und Leben. Was mit Evangelium durchströmt und durchwirkt wird, soll nicht nur geistig verstanden sein. Das ist der Sitz im Leben der Rituale: dass auch der Glaube eine Praxis ist, die leibhaftig gelebt wird und im symbolischen Nachvollzug zur Darstellung drängt. Werner Jetter sagt es so: „Der Glaube muss sich dem Leben, das er durchdringen will, vor- und in ihm darstellen. Er tut dies nicht nur mit Belehrungen und Erklärungen, die sich an das Erkenntnisvermögen richten. Er geht von Erfahrungen aus, die ebenfalls mehr als Belehrungen waren; von der Begegnung mit einem gelebten und erlittenen Lebensweg, der geschichtsträchtig wurde in den Gewissen und in der Geschichte.“37 Die rituelle Handlung ist einer Tür vergleichbar, die uns einen Zugang zu den Räumen dieses Erlebens aufschließt, in denen die Kraft Gottes ihre Wirkung entfalten kann. Für das Symbol bietet sich eher die Metapher der Brücke an. Durch Symbolisierung überbrücken wir den Abstand zwischen alltäglicher und religiöser Kommunikation. Das Symbol verbindet die Welten, die das Ritual unterscheidet. Ritualisierung und Symbolisierung bedingen sich und beziehen sich aufeinander. Wir machen es uns am besten wiederum an einer klassischen Kritik der Protestanten klar, von der noch nicht die Rede war. Verdächtigt wird die repetitive Struktur des Rituals. Das „Wiederholen“ ist unheimlich, weil mechanisch heruntergespulte Sätze scheinbar eine ähnliche Pragmatik wie magische Zaubersprüche haben. Andachtspsychologisch leuchtet die protestantische 35 Dazu Jetter, Symbol und Ritual, 124: „Auch behelfsmäßige Ordnungen erstarren sehr rasch und auch magere Rituale sind oft sehr zäh.“ 36 Das ganze Zitat lautet: „Nihil enim rationem Sacramenti habere potest extra mandatum Dei et usum a Christo institutum, ut supra monuimus“, BSLK, 1010. Ich übernehme diese Unterscheidung von Meyer-Blanck, Symbol, 86. 37 Jetter, Symbol und Ritual, 102.

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Skepsis gegenüber allzu Häufigem und allzu Geläufigem allerdings nur bedingt ein. Es gibt auch das Wort, das in Fleisch und Blut eingegangen ist, das Gebet, das man par coeur spricht oder singt. Natürlich kann das, was geläufig wird, zum Leerlauf werden. Aber genau das ruft doch wieder nach dem richtigen Wort und dem Wahrzeichen der Unterscheidung. Mit einem Begriff: nach dem bewussten und kritischen Umgang mit Symbolen. Von Symbolen und Symbolisierung als einem Zeichenprozess zu reden, hilft das falsche Simsalabim aufzudecken, das man mit dem Quasizauber von Machtworten vorgaukeln kann. Aber es führt auch dazu, die Bedeutungen zu entdecken, die sich nur durch Beten, Singen, Hören und Segnen erspielen lassen. Das ist mit Symbolisierung gemeint. Denn mit dem Begriff „Symbol“ verbindet sich die Einsicht, dass Gott zeichenhaft kommuniziert und in Zeichen kommuniziert wird! Damit ist einerseits die innere Verwandtschaft aller Symbole mit der Sprache angezeigt und andererseits auch Kritik an einer zu eng gedachten Sprache formuliert. Noch dezidierter und evangelisch pointierter: Im christlichen Ritual ist das Symbol unumgänglich, aber nie gängig; es behält den Wortcharakter, aber ist nicht redselig. Denn das symbolische Zentrum der rituellen Begehung ist das Unaussprechliche und Unberührbare. Dafür steht das Symbol und bleibt gerade in dieser seiner Repräsentationsfunktion doch immer gebrochenes Symbol.38 Es ist dasselbe Paradox mit den Ritualen. Sie leben von der Wiederholung, aber der Lebendige, der sich holen lässt, holt die Feiernden nur dann ein, wenn er sie in neuer Weise erschüttert, erfreut und erbaut. Theologie ist zur Kritik des Rituellen verpflichtet, weil sie auf die Lebendigkeit des symbolischen Umgangs Acht gibt. „Dass die Teilnehmer einbezogen werden in den weiterreichenden Sinn dessen, was in ihnen vollzogen wird, das ist die symbolische raison d’être der Rituale, ihr Symbolcharakter, ihr symbolischer Mehrwert.“39 Das macht Symbole gefährlich und unentbehrlich. Wie muss man mit ihnen umgehen? Der einzig sachgemäße Umgang mit Symbolen ist ihre Interpretation. Was das Zeichen des Kreuzes bedeutet, was es besagt in meinem Leben, was es mir zu verstehen gibt, das will die Auslegung des Schriftwortes, dem wir einen Mehrwert zutrauen. Der Vorgang der Interpretation vernichtet den Symbolcharakter gerade nicht, sondern hebt seinen Sinn im Zeichen auf, dass er, wo er als Zeichen ankommt, wiederum verwandelt wird. Im Ritual spielt sich Interpretation als deutender und handelnder Nach- und Mitvollzug ab.40 Das Symbol „Gott“ wird nicht erklärt, sondern im liturgischen Spiel aufgeführt. Gott lebt in der Inszenierung auf, so dass seine Gegenwart 38 In der Liturgietheologie sprechen – inspiriert von der Idee des gebrochenen Mythos (Tillich) – Lathrop, Holy Things, sowie Neville, Truth, von den „gebrochenen Symbolen“. 39 Jetter, Symbol und Ritual, 119. 40 A. a. O., 120.

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anschaulich erlebbar wird, aber immer als deutungsoffenes Geschehen interpretationsbedürftig bleibt. Denn es gibt nichts, was „an sich“ heilig wäre und Gott „dingfest“ machen kann, weil es ein Symbol ist. Das macht aber die symbolische Kommunikation nicht überflüssig. Bezogen auf das Sakrament beharren die Evangelischen darauf, dass Wort und Handlung nicht auseinandergerissen werden dürfen, also der ganze Gottesdienst Worthandlung und der ganze Gottesdienst sakramentales Geschehen ist.

4.2

Sing, bet und geh auf Gottes Wegen

Es sollte deutlich geworden sein, wo die Gefahren des evangelischen Spiritualismus liegen. Die Trennung von Leib und geistlichem Leben „exkarniert“ Gott. Evangelische Spiritualität will das Gegenteil. Sie folgt der Spur der Inkarnation Gottes. Wo liegen die Chancen einer dezidiert evangelischen Interpretation von Symbol und Ritual? Ich versuche es mit Blick auf die individuelle geistliche Praxis auf den Punkt zu bringen. In der Skepsis gegenüber einer Verdinglichung des Religiösen lässt sich ein Vertrauen in die gute Schöpfung entdecken. Die Freude daran, der Genuss und die Dankbarkeit haben in diesem (theologisch) geweiteten Sinn sakramentalen Charakter. Die Sakramentenlehre des reformierten holländischen Religionsphilosophen und Theologen Gerardus van der Leeuw bietet eine Grundlage dafür.41 Für ihn ist das Sakramentale ein Welt- und Wirklichkeitsverständnis. „In der Regel versteht man unter Sakrament jedes sinnliche Zeichen, mit dem ein Heilswort verbunden ist.“42 Also können alle Dinge Sakrament werden: Steine, Orte, Gefäße, Wein und Brot. Sie sind aber nicht an sich heilig, sondern werden geheiligt. Van der Leeuw sieht im Vertrauen auf die mögliche sakramentale Verbindung eine Gegenposition zum Spiritualismus, „der den Stoff als einen Bestandteil des Menschen übersieht und das Stoffliche von der Beziehung zu Gott ausschließt.“43 Symbol und Ritual sind in diesem Lichte besehen dann sakramentale Handlungen, wenn sie die Türen zum Spielraum des göttlichen Lebens öffnen und die Zeichen übersetzen, die das Stoffliche heiligen. Evangelische Spiritualität hat ein „sakramentales Verständnis“ des Lebens, insofern sie davon ausgeht, dass Christen ihren Glauben im Alltag praktizieren – ausgerüstet mit dem Geist der Kraft, der Liebe und Besinnung, im Vertrauen, dass ihnen alle Dinge zum Besten dienen. Wenn sie dabei singen und beten, tun sie es aus Freude und nicht, weil sie ein Gesetz erfüllen müssten. „Wer nur den 41 Van der Leeuw, Sakramentales Denken, 19. 42 A. a. O., 22. 43 A. a. O., 11.

414

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lieben Gott lässt walten“ (EG 369) ist einer der schönsten Choräle im evangelischen Gesangbuch, der diesen Grundton der Freude – den evangelischen Charakter der Spiritualität – in Form einer Paränese zum Ausdruck bringt: „Sing, bet und geh auf Gottes Wegen“ ist der Anfang der letzten Strophe – ein Rat, der etwas verrät: Schlicht ist diese Frömmigkeit und schnörkellos. Sie schafft Gewissheit mit Sprechakten. Die Gemeinde singt einen Wortwechsel – singt das alte Lied, das im ‚Ach‘ der zweiten Strophe auf einen Laut verknappt wird – und singt sich selbst das neue Lied in Form des Zuspruchs zu: „so wird er bei Dir neu.“ Tatkräftig und lebensnah ist diese Spiritualität. Das Lied ruft auf zum Tun und setzt um, was es rät. Wer es singt, wer so betet, geht auf Gottes Wegen – und ist in der Schar derer, die sich gegenseitig trösten und trösten lassen. Georg Neumarks Strophen bezeugen einen trotzigen und tröstenden Geist. Was zwischen dem seelsorglichen „Du“, einem weisheitlichen „Man“ und einem ekklesialen „Wir“ singend besprochen wird, hat auch eine seelsorgliche Dimension.

4.3

Andacht

Gottesdienst braucht einen umfriedeten Raum. Liturgie ist Ritus, folgt einem Ordo und formt das geistliche Leben.44 Die Übergänge zwischen geistlichen Praktiken und einem geheiligten Alltag können hingegen fließend sein. Man kann mit Andacht musizieren, wandern, lieben, arbeiten oder essen. Jedes Zeichen, das mit einem Heilswort verbunden wird, kann sakramental werden, jedes kleine Ritual, das Gottes Gegenwart erbittet, kann zu einem individuellen Gottesdienst werden. Es ist eine Frage der rechten Andacht.45 Andacht ist eine Gebetshaltung, meint die Konzentration, die das Herz auf die Gottesbegegnung vorbereitet: ihre Ausrichtung, Anspannung und Hingabe. Der Andacht (lat. devotio) entspricht in neuzeitlicher Terminologie das Konzept des Habitus. Symbolische Kommunikation und rituelle Handlung ohne Andacht wären tönernes Erz und klingende Schellen. Mit ein bisschen Kerzenlicht, Weihrauch und Yoga haben wir das Gespenst des Spiritualismus noch nicht bekämpft. Andacht muss zum Leib und der Leib zur Andacht kommen. Sie ist im Sinne einer Haltung weder ein zeichenfreies noch ein ritualfeindliches Schweben im Geistigen. Aus den Anmerkungen Zwinglis zu Mt 6,7 wird deutlich, dass sich der Reformator unter Andacht eine spirituelle Konzentration vorstellt, die mit dem Beten einhergeht: „Wer betet, soll nicht sein wie einer, der zehn Pfeile miteinander abschießen will; so geht es nicht, die Bürde des Gefieders lässt die Armbrust nicht kräftig genug schnellen; aber wenn man einen Pfeil allein abschießt, so ist der 44 Josuttis, Weg, 75. 45 Ausführlicher in: Kunz, Euchologie.

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415

Pfeil, kaum abgedrückt, auch beim Ziel. So ist es mit dem einfältigen, rechten Gebet.“46 Symbol und Ritual fördern die Andacht, die hilft, sich auf Gott zu konzentrieren,47 die Seele auf Gottes Wort auszurichten48 und zur Danksagung zu führen. Weil sie zum Gebet führt und nicht weil sie für sich gesehen schon Gebet ist,49 kann die Andacht als eine Grundlage der evangelischen Spiritualität angesehen werden. Die vehemente Restriktion der Sinne nährte das Missverständnis des Spiritualismus. Hier wurde ganz sicher übertrieben. Aber man soll nicht vergessen: Damals lenkten Marienstatuen, Heiligenlegenden und Weihrauchnebel vom Gespräch mit Gott ab. Heute stört der Konsumkult das Gebet. Mit Blick auf das geistliche Leben in einer von Bildern und Augendienerei überschwemmten Mediengesellschaft gesagt: Die Rücksicht auf die Ablenkungsbereitschaft der Augen und die Rücknahme des Sehens können für den Menschen, der Gott sucht, befreiend sein.50 Symbol und Ritual evangelisch gewendet wollen dazu verhelfen, sich vertrauensvoll Gott zuzuwenden, um so, wie Zwingli in beinahe pietistischer Diktion meint, eine persönliche Verbindung mit Gott einzugehen. „Du betest“, sagt Zwingli, „wenn dein Herz zu Gott kommt, um mit ihm zu sprechen und um nur bei ihm aus aufrichtigem Glauben Hilfe zu suchen.“51 Heute wie damals gilt: Wir brauchen als Einzelne und als Gemeinschaft Konzentration. Das ist gemeint mit der andächtigen Haltung.52 Andacht begleitet das Beten, ist sein Kenn- und Wahrzeichen, weil es Herzenshaltung ist53 und weil

46 Vgl. Lutz, Zwingli, 30. 47 Zum Zusammenhang von Andacht und den „sieben Kräften der Sakramente“ vgl. Zwingli, Erklärung. 48 So auch Brecht, Reform, 58: „Andacht steht also für konzentrierte Aufmerksamkeit auf Gott und sein Wort, durch dessen Auslegung versucht wird, Gott als lebendiges Gegenüber zu erfahren.“ 49 Lutz, Zwingli, 30, hat natürlich Recht, wenn er schreibt, „Andacht meint vieles“. Andacht ist Konzentration, Kontemplation, Vertrauen, Seufzen, mit Gott sprechen, still werden etc. Ich halte eine Aufzählung aller Verwendungsnuancen im Hinblick auf eine Begriffsbestimmung für wenig sinnvoll, behaupte aber auch nicht, dass Zwingli Andacht (devotio) und Anbetung (adoratio) so streng unterschieden hat, wie ich es hier vorschlage. Zwingli hätte in der konsequenten Fortsetzung seines theologischen Ansatzes Andacht als menschliche Haltung von der Anbetung als Gehaltenwerden in Gott unterscheiden müssen. 50 Vgl. z. B. Zwingli, Erklärung, 359. Das Gehör wird in Gewahrsam des Glaubens genommen, „indem es nicht mehr den Zusammenklang der Saiten und die Harmonie der verschiedenen Stimmen hört, sondern die himmlische Stimme.“ 51 Zwingli, Auslegung, 400. 52 Diese „geistige“ Seite der Andacht ist bei Calvin noch stärker betont. Er beginnt seine Genfer Gottesdienstordnung von 1542 mit der entsprechenden Forderung: „Denn zu sagen, wir könnten im Gebet oder im öffentlichen Gottesdienst auch andächtig sein, ohne etwas davon zu verstehen, ist ein schlechter Witz.“, Calvin, Gottesdienstordnung, 151. 53 Wenn mit Lutz, Zwingli, 86, das „rechte Gebet“ den „adäquaten Ausdruck im Bereich der Frömmigkeit“ darstellt, ist Andacht rechte Ausdruckshaltung.

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dann „Reden und Verstand übereinstimmen“.54 Es ist „inniges Denken an Gott“55 und hatte schon im Althochdeutschen die weltliche Bedeutung, „die Gedanken auf ein Ziel richten“. Die Parallelen zum weiten Symbol- und Ritual-Begriff sind offensichtlich. Nur in der geistlich qualifizierten Stille kommt das Herz in Gott zur Ruhe. Das Herz ist ja nicht einfach Gefühl oder der neutrale Innenraum des Menschen, sondern die Mitte des Menschen, der Ort, wo Gottes Wort allein Zugang hat und sein Geist in uns an unserer Erneuerung tätig ist. Und wie muss man „Ritualisten in erster Ableitung“ erklären, dass jeder Ton, jede Geste, jeder Geschmack und Geruch der Heiligung dienen kann? Indem wir das Anliegen der Konzentration sakramental weiten. Es tut uns gut, wenn wir der Spiritualität Zeit widmen und einen Raum aufsuchen, in dem uns weder Augen noch Ohren von Gott ablenken. Und es ist gut, wenn der Zeitraum begrenzt ist. Mehr als zwanzig Minuten Predigt können die Andacht empfindlich stören. Und wir tun auch gut daran, unseren Leib als Tempel zu verstehen, der mit Augen, Ohren, Händen, Mund und Füßen auch einmal „zwischen Pfannen und Töpfen“56 zu beten wagt.

4.4

Schluss

Um das Heilige zu kommunizieren, sind wir auf Ritualisierung und Symbolisierung angewiesen. Solange wir nicht mit den himmlischen Chören singen, wird das so bleiben. Dem Heiligen begegnen wir innerhalb der Grenzen, die Zeichen setzen. Also bleibt die Interpretation der Zeichen in der Spannung von Unmittelbarkeit und Mittelbarkeit. Freilich gilt das, wenn auch in je anderer Weise, für alles, was wir coram deo tun und sagen. Demnach ist es verfehlt, die Innerlichkeit des Wortes als Garant der Wahrhaftigkeit gegen die Äußerlichkeit des Rituals oder die Zeichenhaftigkeit des Symbols auszuspielen. Gott sei Dank haben das auch die Protestanten kapiert. Jetzt müssten sie nur noch das, was sie theoretisch begriffen haben, ein wenig beherzter praktizieren.

54 Ebd. 55 In der Marienpredigt heißt es, dass die Seele über das gnädige Handeln Gottes nachdenkt: Campi, Maria, 143. Diese Bedeutung verlor sich erst in der Neuzeit. Seit dem 12. Jh. herrscht der geistliche Sinn vor. 56 Vgl. dazu Smoor, Heiliger Alltag.

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Literatur Quellen Calvin, Johannes, Genfer Gottesdienstordnung von 1542, in: Eberhard Busch et al. (Hg.), Calvin-Studienausgabe, Bd. 2, Neukirchen-Vluyn 1996. Die Bekenntnisschriften der Evangelisch-Lutherischen Kirche, hg. im Gedenkjahr der Augsburgischen Konfession 1930, Göttingen 61967 (kurz: BSLK). Zwingli, Huldrych, Auslegung und Begründung der Thesen oder Artikel, in: Thomas Brunnschweiler/Samuel Lutz (Hg.), Huldrych Zwingli Schriften, Bd. 2, Zürich 1995. –, Erklärung des christlichen Glaubens (1531), in: Thomas Brunnschweiler/Samuel Lutz (Hg.), Huldrych Zwingli Schriften, Bd. 4, Zürich 1995.

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Dritter Teil: Gebet und Bibellese

Karl-Heinrich Ostmeyer

Die Bedeutung des Gebets für die Praxis evangelischer Spiritualität Persönliches, gemeinsames, öffentliches und Tagzeitengebet

1.

Die Basis evangelischen Betens

1.1

Solus Christus

Evangelische Christinnen und Christen wissen sich durch ihren Glauben an Christi Heilstat gerechtfertigt. In Kreuz und Auferstehung ist die Sünde als das den Menschen von Gott Trennende beseitigt (Kol 2,14; Eph 2,13f). Erst dadurch ist der Weg frei für das Gebet als einer wesentlichen Ausdrucksform christlicher Spiritualität. Der „alte Mensch“ ist unausweichlich geprägt durch seine Adamskindschaft (Röm 5,12–21). Als Nachkomme Adams, des ersten Sünders, ist er dem Tod verfallen (Gen 2,17; 3,19; 1Kor 15,22). Er ist aus dem Paradies vertrieben (Gen 3,23f) und hat keinen Zugang zum Reich Gottes (1Kor 15,50). Von Seiten des Menschen führt kein Weg zu Gott. Die Kommunikation ist abgebrochen; ein Gebet ist unmöglich.1 Die Erlösung aus der Verlorenheit konnte allein auf Initiative Gottes geschehen und nur durch einen Menschen, der nicht Anteil hatte an der Sünde Adams (Joh 8,46; 2Kor 5,21; Hebr 4,15; 7,26), also durch jemanden, der nicht von Menschen (Kindern Adams) gezeugt war (Mt 1,18 par). Nötig war ein von Gott gezeugter neuer Mensch (z. B. Hebr 1,5), für den das Todes-Verdikt nicht galt (Joh 14,30; 1Kor 15,22). Auf den sündlosen Gottessohn (1Petr 2,22; 1Joh 3,5.9; Hebr 4,15) hätte der Tod keinen Anspruch erheben dürfen und musste ihn deshalb in der Auferstehung wieder „herausgeben“. Damit war seine Macht gebrochen (1Kor 15,54–58; 2Tim 1,10; Hebr 2,14). Wer mit Christus starb (Röm 6,6; Gal 2,19) und wieder auferstand (Eph 2,6; Kol 2,12; 3,1), erhielt Teil an seinem neuen Leben 1 Ostmeyer, Kommunikation, 95.110.

422

Karl-Heinrich Ostmeyer

(2Kor 5,17). Die Sünde stand nicht mehr zwischen ihm und Gott. Kommunikation, d. h. Gebet, war jetzt möglich. In seiner Taufe wird der Mensch hineingenommen in das Heilsgeschehen. Der alte, sündige Mensch („der alte Adam“) stirbt in der Taufe auf den dreieinigen Gott (Röm 6,3f) und der Täufling erhält Teil an der Auferstehung Christi (Röm 6,5.11). Als Gerechtfertigter ist der Getaufte in der Lage, mit Gott zu kommunizieren, d. h. zu ihm zu beten (Röm 8,14–17; Gal 4,6f). Ein nicht in Christus Gerechtfertigter kann nach evangelischem Verständnis nicht beten. Die Sünde steht blockierend zwischen dem unerlösten Menschen und Gott (1Kor 6,9; Eph 2,13). Erlösung heißt Beseitigung der Sünde, und Sündenbeseitigung bedeutet Erlösung (Röm 8,29f). Wer durch die von Gott ausgehende Gnade im Glauben Anteil am Heilswerk Christi hat, befindet sich im Reich Gottes (1Thess 2,12; vgl. Röm 6,4f). Das Bewusstsein dieser Verbindung mit Gott und der Zugehörigkeit zu seinem Reich ermöglicht christliche Spiritualität. Die Gewissheit der Teilhabe am Reich Gottes (Röm 8,38f; vgl. Lk 17,21) und der unverstellten Verbindung mit dem Göttlichen (Eph 2,13f.19f) kommt im Gebet zur Sprache – verbal und nonverbal. Die Rechtfertigung als Kernüberzeugung im evangelischen Christentum ist tragender Grund des Betens. Nirgends drückt sich das Gottes- und Christusbild eines Gläubigen deutlicher aus als in seiner Art zu beten. Das heißt, im Gebet spiegeln sich Theologie, Christologie und Soteriologie der Betenden.

1.2

Sola gratia (Rechtfertigung)

Evangelisches Gebet vollzieht sich im Bewusstsein des Gerechtfertigtseins durch Christus. Die reformatorische Lehre von der Rechtfertigung hat deutlich gemacht, dass Beten Ergebnis der Erlösung, nicht aber Mittel zu deren Erlangung ist. Beten als menschliches Werk ist missverstanden. Gebet stiftet keine Nähe zu Gott und ermöglicht keine Spiritualität. Niemand betet sich selbst in das Reich Gottes hinein, so sehr er sich auch müht. Worte von Nichterlösten – auch wenn sie als Gebete gedacht sind – entsprechen dem „Plappern der Heiden“ (Mt 6,7). Sie finden keinen Adressaten. Gebete sind niemals von außen an Gott gerichtete Worte, sondern evangelisches Beten ist ein innerhalb des Reiches Gottes vollzogener Kommunikationsakt. Gebet ist damit keine menschliche Möglichkeit, sondern verdankt sich allein der göttlichen Gnade (Röm 3,24; 5,16f; Eph 2,8). Die Rechtfertigung sola gratia und das Gebet bilden eine Einheit. Ein „Gebet“, das mehr an die Welt als an Gott adressiert ist (Mt 6,5–7) oder den Sprecher selbst in den Mittelpunkt stellt (Lk 18,11f), vollzieht sich außerhalb des Reiches Gottes und ist damit kein Gebet.

Die Bedeutung des Gebets für die Praxis evangelischer Spiritualität

1.3

423

Sola fide (der Modus der Annahme des Heils durch die Betenden)

Evangelische Betende wissen sich in der Gemeinschaft des dreieinigen Gottes (1Kor 1,9; 2Kor 13,13). Der Glaube als Gabe des Heiligen Geistes (Röm 15,13) gibt Anteil an dem, was der Glaube glaubt (Röm 1,17; 3,22): Das Wissen um die Erlösung durch Christi Heilstat beinhaltet zugleich die Erkenntnis der vormaligen Verlorenheit und der Verfallenheit an die Sünde. Der Geist Christi gibt dem im Glauben Getauften die Gewissheit der Zugehörigkeit zum Leib Christi (Röm 12,5; 1Kor 12,12–27, Eph 4,4.12; vgl. Kol 1,24b). Zugleich nennt Paulus den Leib des Christen einen „Tempel des heiligen Geistes“ (1Kor 6,19). Der dem Geist verdankte Glaube ist die Basis aller evangelischen Spiritualität (Eph 6,18): Erst im geistgewirkten Glauben an Christus und die Rechtfertigung durch Kreuz und Auferstehung kommt eine Gebetsbeziehung zu Gott überhaupt zustande. Von ihm war der Mensch als Nachkomme Adams zuvor durch die Sünde getrennt. Das Gebet des Gläubigen sind Worte des Geistes; der Geist lehrt ihn beten und betet in ihm (Röm 8,26f). Ohne den Heiligen Geist kommen weder Glaube noch Gebet zustande. Christliches Gebet ist ein durch Glauben an Christi Heilstat eröffnetes Beten zu Gott im Heiligen Geist (1Kor 14,15). Evangelisches Beten ist somit notwendig immer trinitarisches Beten (Lk 11,13; Joh 4,23f; Röm 8,26f). Damit ist auch die Frage nach dem Adressaten evangelischen Betens beantwortet. Das Gebet des Gerechtfertigten als Akt der Kommunikation innerhalb des Reiches Gottes hat immer den trinitarisch verstandenen Gott vor Augen. In der Regel ist das Gebet an Gott als den Vater Jesu Christi gerichtet. Als Geschwister Jesu Christi dürfen wir Gott als Vater anrufen (Röm 8,15; Gal 4,6). Eine Anrufung Christi (1Kor 1,2; 16,22c;2 2Kor 12,8) oder eine anbetende Haltung gegenüber Christus, wie sie z. B. in den längeren neutestamentlichen Christushymnen (Joh 1,1–18; Eph 1,3–14; Phil 2,5–11; Kol 1,15–20) zum Ausdruck kommt, versteht sich als im Geist vollzogene Hinwendung zu Christus als dem Sohn des Vaters. Ein Gebet zum Heiligen Geist ist ein Sich-Versenken und Einstimmen in dessen Gebet zum Vater Jesu Christi (vgl. Röm 8,15f.26f).3

2 Das aramäische „Maranat(h)a“ lässt sich wiedergeben mit: „unser Herr, komme!“ oder „unser Herr ist gekommen“; vgl. auch Apk 22,20; Did 10,6. 3 Die Autoren des Neuen Testamentes akzentuieren ihre Gebetsvorstellungen bezüglich des Betens zu und in den drei Personen der Trinität in je eigener Weise. Zu den Details vgl. Ostmeyer, Kommunikation. Das Neue Testament nennt nicht expressis verbis ein Gebet zum Geist, wohl aber im Geist oder seiner Kraft (z. B. Joh 4,23f; Röm 8,26f; 1Kor 14,16f; Eph 6,18; Jud 20).

424 1.4

Karl-Heinrich Ostmeyer

Sola scriptura (Gebetsworte und Gebetshaltung nach den Heiligen Schriften)

Alle evangelischen Gebetstraditionen haben sich messen zu lassen am biblischen Text und sind jeweils daran zurückzubinden. Die Heiligen Schriften des Alten und Neuen Testamentes bieten die Basis für evangelisches Beten. Dabei sind nach evangelischem Verständnis die Texte, z. B. die Psalmen und das Vaterunser, kein frei verfügbares Allgemeingut, sondern sie werden nur im Glauben an Gott als den Vater Jesu Christi im Geist recht gebetet (1Kor 12,3).4 Ohne diesen geistgewirkten Glauben handelt es sich um Texte wie andere Texte und deren Sprechen ist ein Rezitieren der Worte, aber kein Gebet im evangelischen Sinne. Insbesondere das Corpus Paulinum mit seinen Aufforderungen zum immerwährenden Gebet (Röm 1,10; 1Thess 5,17; vgl. 2Thess 1,11) verdeutlicht, dass nicht der Wortlaut der Gebete entscheidend ist, sondern die Gebetshaltung: Für alle, die sich durch Christus erlöst und in das Reich Gottes aufgenommen wissen, ist jedes Wort und jede Tat Ausdruck eigener Spiritualität und damit Gebet zu Gott. Eine Christin oder ein Christ können nicht nicht beten. Als Glaubende sind sie wesensmäßig Betende.5 Das evangelische Gebet ist nicht nur zeitlich uneingeschränkt, es lässt sich ebenso wenig auf nur einzelne Bereiche der evangelischen Existenz beschränken. Wie ein Christ immer betet, so betet er auch auf jede Weise mit seiner ganzen Person. Das heißt nicht, dass es darüber hinaus nicht von jeher besondere Gebetsgesten (1Tim 2,8), -zeiten (Did 8,2f), -orte und -haltungen6 gibt (1Kor 14,25). Die gottesdienstliche Gebetshaltung beim Vaterunser ist in heutigen evangelischen, westlich geprägten Gottesdiensten häufig aufrecht stehend, mit gefalteten Händen und zum Altar ausgerichtet. Sie unterscheidet sich damit von der informellen Haltung beim stillen Gebet im Alltag.

4 Vgl. Ostmeyer, Vaterunser, 320–336. 5 Vgl. Ostmeyer, Gebet, 274–289. 6 Zu den Gebetshaltungen im Judentum, insbesondere beim Beten der Amida, vgl. Ehrlich, Language, (passim).

Die Bedeutung des Gebets für die Praxis evangelischer Spiritualität

2.

Gebet als Ausdruck evangelischer Spiritualität

2.1

Das persönliche Gebet

425

2.1.1 Gebet als Kommunikation innerhalb des Reiches Gottes Die Rechtfertigung des Sünders durch die Heilstat Christi beseitigt die Barriere zwischen Gott und Mensch und ermöglicht so erst die Kommunikation des Gläubigen mit Gott (Eph 2,12f.18f). Als Gerechtfertigter hat der Mensch Anteil an der göttlichen Sphäre. Das Bewusstsein gegenwärtiger Teilhabe am Reich Gottes ist die Basis aller evangelischen Spiritualität. Diese Spiritualität äußert sich als Gebet. Das Gebet ist die Kommunikationsform innerhalb des Reiches Gottes. Der einzelne Gebetsakt ist zu verstehen als „das Explizitwerden der implizit immer vorhandenen Gebetsbeziehung“.7 Die Erlösung durch Christus bewirkt in doppelter Hinsicht einen Statuswandel. Gott ist in Christus Mensch geworden (Joh 1,14; 1Tim 3,16). Christus hat durch seine Heilstat der Sünde und dem Tod ihre Macht genommen (1Kor 15,55f; 2Tim 1,10; Hebr 2,14; vgl. Röm 6,9; Jes 25,8a), und er hat sich als der einzige und erstgeborene Sohn zum Bruder derer gemacht, die an ihn glauben (Röm 8,29). Mit ihm rufen die Gläubigen: „Abba“, Vater (Röm 8,15; Gal 4,6). Erst so werden die aus der Adamskindschaft Erlösten zu Kindern Gottes (Gal 3,26; 1Joh 3,1f.9f). Zuvor waren sie als Nachkommen Adams (Röm 5,12–21; 1Kor 15,21f) nicht Kinder, sondern Geschöpfe Gottes (Röm 8,19–21; vgl. 2Kor 5,17; Phil 2,15). Für das evangelische Gebet bedeutet das: Nur wer sich im Glauben an Christus und sein Werk gerettet weiß und ihn als älteren Bruder bekennt, kann und darf Gott „Vater“ nennen (Röm 8,15; Gal 4,6). Jedes Gebet steht für die Vergewisserung eigener Gotteskindschaft (Eph 3,14f; 1Petr 1,17; vgl. 1Joh 3,1) und ist Ausdruck der Teilhabe am Reich Gottes (Mt 6,9f par). Wird evangelisches Gebet als Ausdruck von Spiritualität erfahren und als Kommunikation mit Gott in seinem Reich, dann erübrigt sich die Frage nach der Erfüllung einzelner Gebetsbitten. Alle, die sich in einem unmittelbaren Gespräch mit Gott wissen, sind sich dessen gewiss, dass Gott jedes Gebet hört und erhört (Joh 9,31; 1Joh 5,14f; vgl. Mt 6,6.8; 7,7–12par; Mk 11,24). Das heißt nicht, dass alle Gebetswünsche erfüllt werden. In Freud und Leid sind Betende überzeugt, dass ihr Gebet bei Gott angekommen und aufgehoben ist.8

7 Ostmeyer, Gebet, 288. 8 A. a. O., 283f.

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Karl-Heinrich Ostmeyer

2.1.2 Gebet als Dialog mit Gott Für die Gnadengabe Gottes (1Kor 1,3f; Röm 1,7 etc.) und den Dank des Menschen an Gott (Röm 6,17; 7,25; 1Kor 15,57 etc.) gebraucht Paulus dasselbe Wort (χάρις). Gleiches gilt für das Segnen (εὐλογέω): Gott segnet Menschen (Gen 1,22.28; 9,1; 25,11) und Menschen segnen Gott (1Kor 14,16; vgl. Gen 24,48; 1Chr 29,10; Ps 16,7; 26,12; 34,2).9 Alles, was Anteil hat an der Beziehung von Gott und Mensch und was dem Reich Gottes angehört, ist zugleich des göttlichen Segens teilhaftig und selbst Segen spendend (1Kor 10,16).10 Im Beten und Segnen sprechen Mensch und Gott bis in die Wortwahl gleichsam eine gemeinsame Sprache. Die Wechselseitigkeit der Kommunikation durchzieht die biblischen Schriften: Menschen klagen vor Gott (vgl. Hiob 3; 29– 31 oder die Beter der Klagepsalmen: z. B. Ps 44; 74; 79f; 83; 89; 140–143) und Gott klagt vor Menschen (vgl. Jes 1,2f; Jer 2,10–13.31f; 8,4–7; 18,13–15a; Hos 6,4). 2.1.3 Dank- und Bußgebet Grundlage evangelischer Existenz sind Lob und Dank für die unverdiente Erlösung aus der Verfallenheit an die Sünde. Ein „Bußakt“ von Unerlösten ginge fehl, denn menschliche Buße vermag nicht aus der Sünde zu retten. Sie wäre vielmehr der Versuch einer Selbsterlösung und würde nur noch tiefer in die Sündenverfallenheit verstricken. Bußgebete sind damit immer Gebete mit Blick auf Taten, Worte, Verhaltensweisen oder Gedanken der bereits durch Christus Erlösten. Voraussetzung sind Reue und die Bereitschaft zur Umkehr von einer Lebensweise, die nicht einer geheiligten Existenz von Christinnen und Christen entspricht. Dabei ist den Gläubigen bewusst, dass ein Leben ohne neue Sündentaten (die zu unterscheiden sind von der alten sündigen Existenz) keine Menschenmöglichkeit ist (Gen 8,21). In Liturgien evangelischer Gottesdienste sind das Sündenbekenntnis oder das Kyrie eleison feste Bestandteile. Darin wird sowohl der unverdienten Erlösung aus dem Sündersein gedacht als auch um Vergebung von Sündentaten der Erlösten gebeten. Eine Sonderrolle nehmen Bußgebete nach Naturkatastrophen, Unglücken, Krieg oder Terroranschlägen ein. Hierbei handelt es sich primär um Verstörungsbewältigung. Unbegreifliches Leid ist leichter zu handhaben, wenn es als Ergebnis menschlicher Schuld und damit direkt oder indirekt als Strafe Gottes eingeordnet wird. Selbst ein unverdient strafender Gott ist leichter zu akzeptieren als ein im Leid abwesender Gott (vgl. Ps 22,2; Mk 15,34 par). Ein Bußgebet in 9 Zum Segnen Gottes durch Menschen vgl. Frettlöh, Theologie, 384–403; Heckel, Segen, 29; Ostmeyer, Segen, 52–56. 10 Ostmeyer, Segen, 114–116.

Die Bedeutung des Gebets für die Praxis evangelischer Spiritualität

427

diesem Sinne bedeutet Selbstvergewisserung und ist ein Gebet um das Da- und Mitsein Gottes. Bei Bußgebeten als Reaktion auf unbegreifliches Leid besteht die Gefahr, dass Betende ihre alte Sündenexistenz dafür verantwortlich machen und damit hinter ihre in Christus geschehene Erlösung zurückfallen. In der Selbstanklage wollen Betende selbst oder stellvertretend Verantwortung übernehmen. Gerade damit aber machen sie sich der Ursünde schuldig, nämlich sein zu wollen wie Gott (Gen 3,5). Ein solches Bußgebet gleitet ab in einen Akt angemaßter Selbsterlösung durch Buße oder mündet unterschwellig in eine Anklage Gottes dafür, dass er die Menschen hat wirken lassen.

2.1.4 Das Fürbittengebet Evangelische Spiritualität ist nicht auf den Einzelnen in seiner Beziehung zu Gott beschränkt. Wer am Reich Gottes teilhat, sieht auch die anderen Gläubigen als Gerechtfertigte an. Christinnen und Christen wissen, dass erst die Gemeinde als ganze den Leib Christi bildet (1Kor 12,27; Eph 5,23.30; Kol 1,18.24). Damit wiederum ist ein Gebetsleben ausgeschlossen, das andere ausblendet. Wer sich durch Christus als seinen älteren Bruder (Röm 8,29) als Kind Gottes angenommen weiß, der sieht in den anderen Christinnen und Christen ebenfalls Kinder des Vaters (Gal 3,26; 1Joh 3,1f) und seine Geschwister. Das wiederum impliziert ein entsprechendes Verhalten ihnen gegenüber. Das zentrale, von Jesus aufgegebene Gebet, das Vaterunser, richtet sich nicht an „meinen“, sondern an „unseren“ Vater (Mt 6,9 par). Das heißt, die Mitchristinnen und Mitchristen sind im Blick. Entsprechend ist sowohl das Gebetsleben Jesu als auch das des Paulus geprägt durch Fürbitten (Lk 22,32; Phil 1,4; Kol 4,12). Jesus und Paulus wissen für sich selbst um die Notwendigkeit des Mitbetens anderer (Mk 14,37f par) oder deren Fürbitte (Röm 15,30). In der Fürbitte werden die Mitchristen hineingenommen in die persönliche Beziehung der Beterin oder des Beters zu Gott. Im Fürbittengebet konkretisiert sich das Doppelgebot der Liebe (Mk 12,30f par). Die Bedürfnisse der anderen werden im Fürbittengebet zu den eigenen, und eigene Anliegen werden zu Anliegen aller. Die Ermöglichung des Gebets durch die Rechtfertigung ist Ausdruck der Liebe Gottes, und das Beten der Gläubigen ist Manifestation ihrer Liebe zu Gott. Zugleich gilt: Nur wer seine Nächsten wie sich selbst liebt (Lev 19,18; Mt 5,43 par; Röm 13,9), vermag sie mit hineinzunehmen in sein Gebet zu Gott. Das Gleichnis vom Barmherzigen Samariter (Lk 10,25–37), das als Beispielerzählung unmittelbar mit der Frage nach dem höchsten Gebot verbunden ist, macht deutlich, dass Gottesdienst und damit auch Gebet sich nicht vom Handeln trennen lassen, sondern dass alle drei zusammengehören.

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Die Probe aufs Exempel für christliche Fürbitten ist das Gebet für die Feinde (Lk 6,27f.35 par; vgl. Gen 20,7b.17a). Wer seine Widersacher mit in seine Fürbitten nimmt und sie damit vor den liebenden Gott stellt, kann Feindschaft und Hass auf seiner Seite nicht aufrechterhalten und vollzieht den entscheidenden Schritt, beides zu wandeln. 2.1.5 Stilles Gebet und Meditation Spiritualität wäre missverstanden, wenn sie exklusiv mit Zurückgezogenheit und Stille assoziiert würde. Das stille meditierende Beten im Bewusstsein einer persönlichen Beziehung zu Gott als Vater ist nur eine der Ausdrucksformen evangelischer Spiritualität. Als biblischer Beleg dieser Gebetsmöglichkeit lässt sich u. a. Mt 6,6 anführen mit der Aufforderung, sich zwecks Gebetes zum Vater in seinem stillen Kämmerlein einzuschließen. In Mt 6,6 geht es primär um die Abgrenzung von Betenden, die etwas anderes im Sinn haben, als das Gebet zum Vater: Wer viele Worte macht (Mt 6,7) oder bei seinem Gebet von anderen beobachtet werden will (Mt 6,5), stellt sich außerhalb des Reiches Gottes und verfehlt damit das Essenzielle des evangelischen Betens, die Beziehung zu Gott als Vater. Im aufrichtigen Gebet an den Vater (Mt 6,9 par) sind immer auch die anderen Kinder Gottes und die, die es werden sollen, mit im Blick. Das Gebet im stillen Kämmerlein (Mt 6,6) darf durchaus auch als gemeinschaftliches Beten verstanden und praktiziert werden. Wesentlich ist, dass kein anderer Zweck verfolgt wird als die Verbindung zu Gott als Vater (Mt 6,9) und die gemeinsame Teilhabe am Leib Christi (Röm 12,5; vgl. Joh 15,1.4f). Die äußere Form des Betens, ob still oder laut, allein oder gemeinschaftlich, ob klagend oder lobpreisend, gesungen, wortlos oder gesprochen, ist es nicht, was ein christliches Gebet ausmacht. Alle genannten Weisen zu beten sind mögliche und wichtige Ausdrucksformen evangelischer und biblisch begründeter Spiritualität. 2.1.6 Das Tagzeitengebet als Abbild der Teilhabe am ewigen Reich Gottes Gott ist ewig und sein Reich besteht in Ewigkeit. Die Schöpfung dagegen samt dem Menschen ist der Zeit und der Vergänglichkeit unterworfen (Röm 8,20f). Indem Gott in Christus Mensch wurde, hat er die Grenzen zwischen beiden Sphären oder Äonen überschritten (Phil 2,6f). In Christus ist das Reich Gottes auf Erden präsent (Joh 1,14). Die Annahme der göttlichen Welt geschieht im Glauben. In der Taufe auf den dreieinigen Gott erhält der Christ bereits in der geschöpflichen Welt Anteil an der Ewigkeit (Röm 6,4). Er stirbt mit Christus der

Die Bedeutung des Gebets für die Praxis evangelischer Spiritualität

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alten Schöpfung (Röm 6,5–11) und wird mit ihm zu einer neuen Kreatur (2Kor 5,17; Gal 6,15). Christen haben vor ihrer endgültigen Verwandlung (1Kor 15,51f) Teil an beiden Sphären. Die Existenzweise des Christen in dieser Welt ist eine vergängliche (1Kor 7,31). Der Christ ist der Zeitlichkeit unterworfen, d. h. er vermag sich als irdischer Mensch nicht anders als in einem zeitlichen Nacheinander zu äußern. Was in der Ewigkeit in einem Augenblick in seiner Fülle präsent ist, kann der irdische Mensch nur linear wahrnehmen und in aneinandergereihten Fragmenten wiedergeben.11 Der ununterbrochene Gottesdienst und das ewige Gebet der göttlichen Sphäre (Apk 4,8; 7,15) wird im Diesseits zu einzelnen Gebeten. Deren Regelmäßigkeit in Form von stetig wiederkehrenden Tagzeitengebeten bietet näherungsweise ein den Menschen mögliches Abbild der Ewigkeit und den Versuch der Überschreitung der Zeit innerhalb der zeitlich-irdischen Existenz. Vor diesem Hintergrund ist die Anweisung der frühchristlichen Didache zu verstehen, das Vaterunser dreimal täglich zu beten (Did 8,2f). Damit haben Tagzeitengebete innerhalb der evangelischen Spiritualität ihren Sinn und Wert als Ausdruck des – fragmentierten – Einstimmens in das ewige himmlische Gebet (Apk 4,8). Christen singen das Lied des Moses und des Lammes (Apk 15,3) und haben darin bereits in der irdischen Welt der Gegenwart Teil am ewigen himmlischen Gottesdienst der Engel und Himmelswesen, wie er in der Offenbarung des Johannes beschrieben wird.

2.2

Gebetsgemeinschaft als Teilhabe am Corpus Christi

Gläubige haben Teil an Christi Heilstat und partizipieren am Reich Gottes. Mit allen anderen Gläubigen bilden sie den Leib Christi (Röm 12,5; 1Kor 12,12.20.27). Jedes evangelische Gebet steht damit nicht für sich allein, sondern bildet gleichsam eine Stimme in einem Gebetschor. Spirituelle Existenz ist immer gemeinschaftliche Existenz. Ein Ausdruck dieser Gebetsgemeinschaft in Christus ist das Vaterunser (Mt 6,9–13; Lk 11,2–4). Ein Christ betet, auch wenn er allein ist, zu „unserem Vater“ und hat damit notwendig immer seine Mitgläubigen im Blick. Die Gebetsgemeinschaft führt ihm vor Augen, dass er nicht privilegiert ist gegenüber seinen Schwestern und Brüdern. Damit hat jedes evangelische Gebet den Leib Christi in seiner Gesamtheit mit im Blick. Vor diesem Horizont ist die Hochschätzung des gemeinschaftlichen evangelischen Gebetes zum Beispiel bei Martin Luther zu sehen: „Man kann und soll wohl überall, an allen Orten und zu jeder Stunde beten; aber das Gebet ist 11 Ostmeyer, Hebräerbrief, 25.

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Karl-Heinrich Ostmeyer

nirgends so kräftig und stark, als wenn der ganze Haufen einträchtig miteinander betet.“12 Im gemeinschaftlichen evangelischen Gebet wird schon innerweltlich im Glauben die Gemeinschaft als Leib Christi stärkend erfahrbar.

2.3

Öffentliches Gebet

Unter öffentlichem Gebet sei hier evangelisches Beten verstanden, das auch von Außenstehenden, z. B. Atheisten oder den Mitgliedern anderer Religionen wahrgenommen wird (vgl. 1Kor 14,16f). Dabei mag es sich sowohl um individuelles als auch um gemeinschaftliches Gebet handeln. Vorausgesetzt ist, dass es sich nicht um eine Art von Selbstdarstellung und „Schau-Beten“ handelt (Mt 6,5). Zu derlei Vorstellungen erklärt Karl Barth mit Recht: „Gebet als Glaubensdemonstration, Gebet als verkleidete Predigt, Gebet als Instrument der Erbauung ist ein heller Unfug, ist kein Gebet. Gebet ist kein Gebet, wenn man dabei einem Anderen als Gott etwas sagen will.“13 Ein öffentliches Gebet ist immer auch ein Bekenntnisakt. Der oder die Betende trägt Verantwortung dafür, wie das Gebet in der jeweiligen Situation von denen, die es hören oder sehen, aufgefasst wird (1Kor 14,16f). Öffentliches Gebet steht damit notwendig in der Spannung zwischen dem gebotenen freien Bekennen (Mt 20,32f par; Lk 12,11f; Röm 10,9f) und dem situativ nötig erscheinenden temporären Verzicht auf einen öffentlichen Akt. Jedes öffentlich wahrgenommene Beten trägt damit sowohl das Risiko des Missverständnisses wie auch die Chance der Mission in sich. Die Erhörung eines Gebetes liegt allein bei Gott. Die Wirkung seines Betens auf die Mitwelt hat der Betende selbst mit zu berücksichtigen. Betende entscheiden, wann, wo, wie und mit wem sie beten, ob ihr Gebet wahrnehmbar für andere wird, oder ob es sich um eine nach außen nicht erkennbare Zwiesprache mit Gott handelt (Mt 6,6). Die Außenwirkung ihres Betens haben Gläubige stets nach bestem Wissen und Gewissen abzuwägen. Wenn in einer Verfolgungssituation das öffentliche eigene Gebet andere in Gefahr bringt, darf der Betende nicht mit Hinweis auf sein gebotenes Bekenntnis die Verantwortung für die Folgen auf Gott abwälzen. Wer öffentlich betet, ist gehalten, informiert zu beten.

12 WA 49, 593, 24–26. 13 Barth, KD III/4, 96.

Die Bedeutung des Gebets für die Praxis evangelischer Spiritualität

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2.3.1 Ökumenisches und interreligiöses Beten Im christlich-ökumenischen Kontext ist ein gemeinsames Gebet Ausdruck der miteinander geteilten christlichen Basis. Dass es gravierende Differenzen zwischen christlichen Gruppierungen gibt, sei dabei nicht in Abrede gestellt. Es ist jedoch nicht Aufgabe evangelischer Beterinnen und Beter, andere aus der Gebetsgemeinschaft auszuschließen.14 Der oben skizzierte evangelische Standpunkt steht dabei allerdings nie zur Disposition. Im Unterschied zum ökumenischen Beten versteht sich Gebet im interreligiösen Kontext als ein paralleles Beten der Religionsgemeinschaften. Andersgläubige Beterinnen und Beter sind nicht christlich zu vereinnahmen und wollen in der Regel nicht vereinnahmt werden, indem z. B. das Vaterunser als religionsübergreifend missverstanden wird. Das evangelische Gebet zum Vater meint immer den Vater Jesu Christi. Erst im Glauben an seine Heilstat ist Gebet im evangelischen Verständnis überhaupt möglich. Damit ist auch ein gemeinschaftlich-einmütiges Beten z. B. der Psalmen durch Christen und Nichtchristen ausgeschlossen. 2.3.2 Gebet als Mission Jedes von anderen wahrgenommene evangelische Gebet hat missionarische Funktion (1Kor 14,16f.23–25). Das Beten einer Christin oder eines Christen konfrontiert das Gegenüber mit ihrer oder seiner Position. Dabei darf evangelisches Gebet nicht zum Zwecke der Mission instrumentalisiert werden. Es ist aber als Ausdruck evangelischer Spiritualität auch nicht verborgen zu halten. Mitchristen mag das Gebet anderer anregen, in Ablehnung oder Anziehung ihren eigenen Standpunkt zu finden oder zu überdenken. Nichtchristen nehmen die evangelischen Betenden in dem war, was sie prägt und was ihnen wichtig ist: Evangelische Christinnen und Christen sind immer betende Christen. Ohne Gebet als Ausdruck evangelischer Spiritualität wären Christen der Basis ihrer Existenz beraubt.

14 Das Gleichnis vom Unkraut unter dem Weizen (Mt 13,24–30) verdeutlicht, dass das Problem der „reinen Gemeinde“ und damit auch der Zusammensetzung einer Gebetsgemeinschaft spätestens in der matthäischen Gemeinde ein Thema war und zugunsten einer toleranten Haltung entschieden wurde.

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Karl-Heinrich Ostmeyer

2.3.3 Gefährdungen des evangelischen Gebets Wird evangelisches Gebet als Kommunikation der Gerechtfertigten im Reich Gottes verstanden, dann hat jede Störung dieser Kommunikation zugleich unmittelbare Auswirkungen auf den Heilsstatus.15 Ist mit Apg 4,12 allein in Christi Namen Heil (vgl. Röm 10,13), heißt das: Wo sein Name nicht angerufen wird, ist die Verbindung zum Bereich des Heils abgebrochen (vgl. 1Kor 12,3). Bereits Paulus nennt Beispiele für solche Gefährdungen des Gebets: Der Apostel gesteht einem Ehepaar zum Zwecke des Gebets sexuelle Enthaltsamkeit als Möglichkeit zu (1Kor 7,5f). Es droht jedoch laut Paulus wegen mangelnder Fähigkeit zur Abstinenz die Versuchung durch den Satan (1Kor 7,5b). Deshalb gilt diese Erlaubnis nur für eine begrenzte Zeit. Wo der Satan Gewalt über Menschen erlangt, endet das Gebet. Zugleich ist das Gebet die menschliche Möglichkeit zur Bewahrung vor dessen Angriffen (Lk 22,40.46 par; vgl. Lk 22,31f). Die Figur des Satans steht für die Abwesenheit Gottes. Wer betet, ist im Gebet mit Gott verbunden. D. h., in der Verbindung des Christen durch Christus mit Gott hat der Satan keinen Platz und muss außen vor bleiben. Umgekehrt endet jedes Gebet da, wo der Satan die Macht an sich reißt. Folglich ist alles strikt zu vermeiden, was dem Satan einen Angriffspunkt bietet. Paulus fordert, ein Gemeindeglied, dem massive ethische Verfehlungen vorgeworfen werden (1Kor 5,1), aus der Gemeinde auszuschließen und dem Satan zu übergeben (1Kor 5,5).16 Der Apostel setzt dabei voraus, dass es getrennte Bereiche gibt, in denen entweder Christus oder der Satan regieren. Paulus parallelisiert Christus mit dem Passalamm (1Kor 5,7), dessen Blut die Gemeinde in seinem Bereich dauerhaft vor dem Zugriff des Herrn, des Würgeengels oder Satans bewahrt (Ex 12,29; vgl. Jubiläenbuch 49,1f), analog zur Nacht, in der in Ägypten die Erstgeburt der Ägypter getötet wurde. Christen sind im Bereich des Heils, geschützt durch Christus als das ewige Passalamm (1Kor 5,7c). Außerhalb der christlichen Gemeinde herrschen Satan, Tod und Verderben. Paulus bezeichnet in 1Kor 5,7b die christliche Gemeinde als ungesäuerten Teig. Außerhalb der Gemeinde ist der Sauerteig des Satans (1Kor 5,7a). Würde zugestanden, dass der zur „Außenwelt“ gehörige Sauerteig in die Gemeinde eindringt, bestünde die Gefahr der Durchsäuerung auch des ungesäuerten Teigs (1Kor 5,6b). Der Herrschaftsbereich Christi würde durch den Satan übernommen. Wer Taten der Außenwelt vollbringt, der trägt Sauerteig des Satans in die Gemeinde Christi ein. Die einzige Möglichkeit der Bewahrung der Gemeinde besteht darin, den Träger des alten Sauerteigs aus der Gemeinde zu entfernen.

15 Apg 4,12: Und in keinem andern ist das Heil, auch ist kein andrer Name unter dem Himmel den Menschen gegeben, durch den wir sollen selig werden. 16 Ostmeyer, Satan, 289.

Die Bedeutung des Gebets für die Praxis evangelischer Spiritualität

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Sobald er von seinen Verfehlungen ablässt, steht ihm als Getauftem die Gemeinschaft der Christen wieder offen. Ausschluss aus der Gemeinde Christi (1Kor 5,13) bedeutet zugleich das Ende des Gebetes. Gebet getrennt von Christus ist undenkbar. Heilsgemeinschaft und Gebetsgemeinschaft und das daraus resultierende christliche Handeln bilden eine untrennbare Einheit.

3.

Die Frucht evangelischen Betens

3.1

Gebet als spirituelle Basis evangelischen Handelns

Spiritualität als Wissen um die Gemeinschaft mit dem dreieinigen Gott bestimmt das Leben und bildet die Basis evangelischer Existenz. Im Bewusstsein der Zugehörigkeit zum Reich Gottes befinden sich Christinnen und Christen in einem Status dauernder Kommunikation mit Gott. Wird diese Kommunikation als Gebet definiert, dann ist das Gebet die Grundhaltung und der Habitus evangelischer Christinnen und Christen (Eph 6,18; 1Thess 5,17). Gott ist derjenige, der für die Gläubigen da ist (vgl. Ex 3,14). Die Entsprechung der dauerhaften Gegenwart Gottes und seines Da- und Mitseins ist auf menschlicher Seite das Gebet. Für einen Christen gibt es kein Denken, Reden oder Handeln ohne und unabhängig von Gott. So wie Christen überzeugt sind, dass Gott jedes ihrer verborgensten Gebete hört (Mt 6,6) und „jedes Haar auf dem Haupt gezählt hat“ (Lk 12,7), so leben sie auch in dem Bewusstsein, dass keiner ihrer Gedanken verloren geht und dass jede ihrer Handlungen vor Gottes Angesicht geschieht. Ist Gebet Ausdruck der erlösten christlichen Existenz, dann entspringt alles christliche Tun dem Gebet, vollzieht sich als Gebet und wird begleitet vom Gebet. Damit ist das gesamte evangelische Handeln ein Handeln vor und mit Gott. Beten und Handeln sind eins. Sie verkörpern die beiden Seiten christlicher Existenz und sind in gleicher Weise Ausdruck evangelischer Spiritualität.

3.2

Gebet und Politik

Die einzelnen Christinnen und Christen formen in der Gemeinschaft der Gläubigen den Leib Christi (1Kor 12,27). Evangelische Spiritualität entspringt dem Wissen um das Eingebundensein in diesen Leib (Röm 12,5; 1Kor 12,12.20.27; Kol 1,24). Christsein kann nicht ohne die christliche Gemeinschaft gedacht werden. D. h., Christsein bedeutet immer auch politisch zu sein. Evangelische Christinnen und Christen werden sich einerseits ihren politischen und sozialen Aufgaben

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nicht entziehen. Andererseits ist die politische evangelische Existenz nur als ein permanentes Beten und Handeln coram deo, vor Gott, vorstellbar. Es wäre allerdings ein Missverständnis, würde Politik von außen die Themen evangelischen Betens setzen. Das hieße, das Gebet und das Christentum zu instrumentalisieren und spezifischen Interessen unterzuordnen. Das Gebet wirkt zwar nach außen durch seine christlichen Protagonisten in die Politik und bestimmt sie aus evangelischer Perspektive mit. Umgekehrt aber entzieht sich alles, was das Reich Gottes betrifft, dem politischen Zugriff. Wer betet, ist politisch, denn Gebet als Ausdruck der Rechtfertigung ist ein Politikum: Evangelische Betende wissen, dass sie ihre Erlösung keiner weltlichen Instanz und keinem Menschen, sondern allein dem Heilswillen Gottes verdanken. Jedes Gebet zu Gott bedeutet damit implizit eine Unabhängigkeitserklärung oder Kampfansage an alle, die sich Macht über Menschen und die Schöpfung zuschreiben. Wer betet, weiß, dass Herrschende, genau wie die Betenden selbst, der Rechtfertigung bedürfen und aus sich selbst heraus nichts vermögen. Jeder, sei es der einflussreichste Machthaber, sei es der nach irdischen Maßstäben erbärmlichste Mensch, bedarf derselben Taufe, um in Christus eine neue Kreatur (2Kor 5,17; Gal 6,15) zu werden. Niemand hat im Reich Gottes aufgrund seiner Geburt oder seiner Gene irgendein Vorrecht, und alle wären ohne die Annahme durch Gott verloren. Damit wird weltliche Macht nicht negiert, jedoch relativiert: Sie zählt vor Gott nicht. Das Vaterunser (Mt 6,9–13 par) als Urgebet der Christenheit ist ein zutiefst politisches Gebet. Den Betenden gemahnt es, dass niemand alleinigen Besitzanspruch auf Gott erheben darf, sondern immer die Gemeinschaft der Gläubigen zu berücksichtigen hat. Wer um das Vaterunser-Gebet der Christen weiß, der weiß zugleich, dass der Zielpunkt christlichen Betens jenseits weltlicher Machtansprüche liegt und ihnen vorgeordnet ist.

Literatur Ehrlich, Uri, The Nonverbal Language of Prayer. A new Approach to Jewish Liturgy, Transl. by Dena Ordan, TSAJ 105, Tübingen 2004. Frettlöh, Magdalene L., Theologie des Segens. Biblische und dogmatische Wahrnehmungen, Gütersloh 1998. Heckel, Ulrich, Der Segen im Neuen Testament. Begriff, Formeln, Gesten. Mit einem praktisch-theologischen Ausblick, WUNT 120, Tübingen 1999. Ostmeyer, Karl-Heinrich, Der Hebräerbrief – Evangelium von Ewigkeit, ZNT 29, 15. Jg. 2012, 25–34. –, Das immerwährende Gebet bei Paulus, ThB 33, 2002, 274–289. –, Jüdische Gebete aus der Umwelt des Neuen Testaments. Ein Studienbuch. Text – Übersetzung – Einleitung, Biblical Tools and Studies 37, Leuven/Paris/Bristol 2019.

Die Bedeutung des Gebets für die Praxis evangelischer Spiritualität

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–, Kommunikation mit Gott und Christus. Sprache und Theologie des Gebetes im Neuen Testament, WUNT 197, Tübingen 2006. –, Satan und Passa in 1. Korinther 5, ZNT 9, 2002, 38–45. –, Der Segen nach dem Neuen Testament – Kontinuitäten und Spezifika; in: Leuenberger, Martin (Hg.), Segen, TdT 10, UTB 4429, Tübingen 2015, 111–133. –, Taufe und Typos. Elemente und Theologie der Tauftypologien in 1. Korinther 10 und 1. Petrus 3, WUNT II/118, Tübingen 2000. –, Das Vaterunser. Gründe für seine Durchsetzung als ‚Urgebet‘ der Christenheit, NTS 50, 2004, 320–336.

Andreas Kusch

Das evangelische Gebet Sehnsucht, Vielfalt und Zugänge

Evangelischer Glaube und Gebet gehören untrennbar zusammen. Für Martin Luther war das Gebet nicht eine religiöse Ausnahmesituation, sondern eine alltägliche Deutung christlichen Lebens und Glaubens vor Gott. In seiner Auslegung von den zehn Aussätzigen wirft er die Frage auf: Was ist der Glaube anders „denn eitel Gebet?“.1 Diese Ineinandersetzung von Glaube und Gebet lässt sich damit begründen, dass Glaube in sich sprachlich ist. Wer versucht, seinen Glauben innerlich nachzuvollziehen, zu reflektieren oder nach außen hin vor Gott und den Menschen auszudrücken, wird dazu Worte gebrauchen. In diesem Sinne kann Pesch sagen: „Jeder bewusste Glaubensvollzug, jeder ausdrückliche Grundvorgang unseres Gottesverhältnisses ist also Gebet. Man kann sagen: Gebet ist sprechender Glaube.“2 Der Mensch bringt alles, was ihn bewegt, ins Gebet und will von Gott her sein Leben verstehen und gestalten. „So kann Beten im weitesten Sinn glaubendes Dasein sein, Gott entsprechen wollen.“3 Beten als glaubendes Dasein wird getragen von einer inneren Haltung, die Wirklichkeit von Gott her zu sehen und zu interpretieren. Nicht das Fixiertsein auf die eigene seelisch-körperliche Befindlichkeit, die persönlichen Nöte und Probleme des Beters stehen im Vordergrund. Im glaubenden Beten findet vielmehr eine Umdeutung statt: „Ich übersteige die Ebene, auf der das Problem liegt, und versuche, das Problem von Gott her zu sehen […]. Von Gott her sehe ich die Wirklichkeit, wie sie in Wahrheit ist […]. Von Gott her kann ich die Wirklichkeit umdeuten, so dass ich besser und wirklichkeitsgerechter damit umgehen kann.“4

Dem Beter wird die Weltwirklichkeit zur Gotteswirklichkeit. Diese Umdeutung kann sich der Christ nicht selbst geben. Sie wird ihm durch Gott und sein Wort, wie es in der Bibel zu finden ist, zugesprochen: „Wo wirklich gebetet und Gott 1 2 3 4

WA 8,360,29. Pesch, Sprechender Glaube, 12 (Hervorhebungen im Original). Seitz, Gebet, 209. Grün, Glauben als Umdeuten, 10.

Das evangelische Gebet

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nicht nur vorübergehend als Beschwichtiger von Schwierigkeiten angerufen wird, da trägt das biblische Wort das Beten der Christen.“5 Auch wenn es stimmt, dass Gebet sprechender Glaube ist, muss doch betont werden, dass das Gebet nicht auf ein lautes Aussprechen von Worten zu Gott reduziert werden darf. Jörg Zink charakterisiert die herrschende Gebetspraxis damit, „dass das Gebet bei uns fast nur noch in einem Reden besteht. Aber das Gebet ist mehr noch ein Hören.“6 Gebet ist Reden und Hören, es hat nach Zimmerling einen dialogischen Charakter.7 Gott redet und hört – wie auch der Mensch hört und redet. Dieser Dialog ist nicht immer ein in hörbare Sprache gefasstes Reden, es kann auch innere Zwiesprache bedeuten oder schweigendes Vor-Gott-Sein.

1.

Krise des Gebets und Transzendenzsehnsucht

Bürkle ist der Auffassung, dass das Gebet „nicht eine neben anderen Lebensäußerungen im Dasein der Gemeinde und des Einzelnen [ist]. Sie ist der zentrale Vorgang und die manifeste Gestalt, in denen der Gläubige das Geheimnis seines Glaubens erfährt und in solchem Erleben realisiert“.8

Wenn das zutrifft, erlebt das evangelische Gebet eine Krise. Gegenwärtig beten durchschnittlich nur 35 % der Evangelischen einmal die Woche oder mehr. Bei den unter 30-Jährigen sind es sogar nur 19,9 %.9 Gleichwohl besteht unter der deutschen Bevölkerung eine Sehnsucht nach Transzendenz: 66 % der Westdeutschen haben nach den Erhebungen des Instituts für Demoskopie Allensbach „manchmal das Bedürfnis nach Augenblicken der Ruhe, des Gebets, der inneren Einkehr“10 und rund 40 % der Bevölkerung sind gegenüber einer esoterischen Weltanschauung offen.11 Während innerhalb der Kirche die praktizierte Spiritualität als Gebet und Bibellesen wegbricht, suchen Menschen verstärkt Halt und Orientierung in esoterischer Sinngebung. Kirche wird immer weniger in der Innen- und Außensicht als Ort wahrgenommen, an dem lebenstragende spirituelle Erfahrungen gemacht werden können. Hoffnungsvoll in dieser Krise des Gebets stimmt, dass viele Christen nach einer Neubelebung ihres Gebetslebens suchen.12 In den letzten zehn Jahren 5 6 7 8 9 10 11 12

Seitz, Anleitung zum Beten, 19. Zink, Beten können, 7. Zimmerling, Evangelische Spiritualität, 199f. Bürkle, Grundphänomen, 26. Bedford-Strohm/Jung, Vernetzte Vielfalt, 496. CD-Rom-Anhang, 40. Zitiert nach Ernst, Glaube, 69. Rauner, Esoterische Praktiken. Klein, Gebet, 17–20.

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Andreas Kusch

boomt in den Verlagen, die sich an ein breites christliches Publikum wenden, die Nachfrage nach spirituellen Ratgebern zum Thema Gebet. Der Mainstream dieser Veröffentlichungen verbindet grundsätzliche biblisch-theologische Klärungen mit starkem Praxisbezug, leicht anwendbaren Praxistipps und konkreten Gebetsanleitungen. Dagegen haben die Dogmatik und Praktische Theologie in den letzten zwei Dekaden nur wenig wissenschaftliche Literatur zum Thema Gebet hervorgebracht.13

2.

Vielfalt der Gebetsformen und neuere Tendenzen

Während der letzten hundert Jahre lässt sich eine Verarmung der Gebetsformen und der Gebetsvielfalt beobachten: „In der Praxis des Gebets als religiöse Grundhaltung in ihren verschiedensten Formen und Funktionen sind wir weitgehend alleingelassen worden.“14 Dieses Statement von vor dreißig Jahren ist dahingehend zu modifizieren, dass gerade in den letzten Jahren die ausgesprochene Experimentierfreudigkeit in Sachen Gebet viele kreativ-praktische Anregungen hervorgebracht hat. Im Folgenden wird ein Einblick in die Vielfalt des Gebets mit besonderer Berücksichtigung neuerer Tendenzen gegeben. Die Kategorisierung ist gleichermaßen an Gebetscharakteristika und Gebetssituationen orientiert. Trennscharfe Abgrenzungen sind nicht möglich, da manche Gebetsformen durchaus unterschiedlichen Kategorien zugeordnet werden können. Als Praxisbeispiele werden zeitgemäße Methoden vorgestellt, die zu einer Belebung des Gebets beitragen können.

2.1

Persönliches Gebet

Wenn Christen mit Gott sprechen wollen, dann können Gebete aus der kirchlichen Tradition mit fest vorgegebenen Formen und Worten hilfreich sein: Psalmen, Gebetssammlungen,15 Lieder oder Liturgien können zu Gebeten werden, in denen der Mensch seine Existenz geborgen sieht. Er kann sich den Texten anvertrauen; sie formulieren seine Empfindungen und Bitten ohne die Anstrengung, eigene Worte finden zu müssen. Bonhoeffer bezieht vorformulierte Gebete und freies Gebet aufeinander: „So hilfreich die Gebetsüberlieferung der Kirche zum Betenlernen ist, so kann sie doch nicht das [persönlich-freie] Gebet ersetzen, 13 Lunk, Persönliches Gebet, 15. 14 Bürkle, Grundphänomen, 25. 15 Z. B. Zink, Wie wir beten können; Fischer, Fürbitten; Kusch, Liebe.

Das evangelische Gebet

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das ich heute meinem Gott schuldig bin.“16 Es kann zu einer befreienden Entdeckung werden, ungefiltert, unreflektiert und spontan das aussprechen zu können, was man gerade auf dem Herzen hat. „Bedenken sind überflüssig. Man darf Fehler machen. Gott versteht mich, weil er mich unendlich liebt. Wo es echt ist, da ist solch freies Gebet eine unglaubliche Kostbarkeit.“17 Es wird für den Beter zu einer tiefen spirituellen Erfahrung, dann zu erleben, dass Gott auf dieses Reden antwortet, dass er im Hören auf ihn Antwort auf sein Reden bekommt. Jörg Zink findet es allerdings bemerkenswert, „dass gerade in unseren evangelischen Kirchen, denen doch eigentlich alles am Hören und an der Hörfähigkeit gelegen sein muss, das Hören einer Stimme, die von außen oder innen zu uns kommen will, das Horchen und das Vernehmen auf keine Weise geübt wird.“18 Ein bemerkenswerter Trend ist, dass gerade in der letzten Dekade dieser hörende Aspekt des Gebets ein starker Impuls zur gegenwärtigen Gebetserneuerung über konfessionelle Grenzen und spirituelle Prägungen hinweg geworden ist. Praxisbeispiel: Hörendes Gebet19 beginnt damit, dass der Beter vor Gott äußerlich und innerlich zur Ruhe kommt. Einleitend dankt er für Gottes Gegenwart, bekennt seine Bedürftigkeit und bittet um Gottes Reden, durchaus in Bezug auf eine ganz spezielle Frage. Er genießt die Stille in Gottes Gegenwart, nimmt innere Impulse wahr, lässt diese in sich zu und nimmt sie glaubend als Gottes Reden an. Die hörende Stille wird durch ein Dankgebet beendet. Abschließend erfolgt die Reflexion des Gehörten. Die Gedanken und Eindrücke werden nach theologischbiblischen Kriterien geprüft und mögliche Konsequenzen für den Alltag daraus gezogen. Formenvielfalt: Persönliches Gebet als Dank, Lob, Anbetung, Bitte, Klage, Buße, Fürbitte; mit Losungsbüchlein/Gesangbuch/Gebetssammlung beten; freies Gebet zum Tagesanfang; betendes Vorausschauen auf den Tag; Gebet der Öffnung für Gottes Geist; Kurzgebete im Tagesablauf; Lobpreisgebet in Schwierigkeiten; liturgisch geprägtes Tagzeitengebet; Onlinegebet; Stundengebet; mit dem Vaterunser beten; hörend beten; meditativ beten; Psalmengebet; Anreden Gottes/ Namen Jesu beten; Gebet to go (während eines 10-minütigen Spaziergangs assoziiert der Beter alles, was er sieht, mit Gott, seinem Glauben und dem Alltag); Freude und Leid aus Gottes Hand nehmen; Abendsegen; Gebete abschreiben und modifizieren; Gebet der liebenden Aufmerksamkeit (meditativ-reflektierender Tagesabschluss); Gebetstagebuch. 16 Bonhoeffer, Gemeinsames Leben, 54. 17 Bittner, Gebet, 139. Praxisorientierte Literatur: z. B. Foster, Einladung zum Gebet; Schrodt, Beten mit neuer Perspektive. 18 Zink, Weg, 67. 19 Kusch, Herz, 38f; grundlegend dazu: Schmidt/Schmidt, Hörendes Gebet; Kusch, Gottes Stimme.

440 2.2

Andreas Kusch

Gebete mit der Bibel

Die Bibel ist die Grundlage evangelischen Betens. In ihr spricht Gott den Menschen an. Wenn Christen Gott antworten und anfangen zu beten – unabhängig von der Form –, hat dieses Gebet immer den Charakter einer Antwort. Ohne die zuvor erfolgte Offenbarung Gottes in der Geschichte hätte der Beter keinen Adressaten, an den er sich wenden kann. „Das Wort Gottes, das uns Menschen meint, ruft das Gebet ins Leben und erhält es darin. Weil in der Bibel Gott zu Wort kommt, ist sie die Grundlage des Betens“,20 oder, wie Bonhoeffer in seiner Einführung zu den Psalmen sagt: „Wollen wir mit Gewissheit und Freude beten, so wird das Wort der Heiligen Schrift der feste Grund unseres Gebets sein müssen.“21 Zunächst einmal leitet die Bibel zum Gebet an. Sie spricht innere Haltung, Inhalt, Form und Vielfalt an. Sie ermutigt, ermahnt und fordert zum Gebet auf. Des Weiteren sind in der Bibel eine große Anzahl konkreter Gebete enthalten, die ganz einfach nachgesprochen und mitgebetet werden können, wie beispielweise die Psalmen oder das Vaterunser. Dann will die ganze Bibel nach Tersteegen betend aufgenommen werden: „Die Schrift muss man betend lesen und lesend beten.“22 Das gelesene Wort wird durch den Heiligen Geist so zur persönlichen Ansprache, dass der Leser gar nicht anders kann, als Gott zu antworten, mit ihm über das Gelesene ins Gespräch zu kommen, zu beten.23 Praxisbeispiele: Ein biblischer Text kann betend gelesen und in die Gottesanrede gebracht werden.24 Der betende Leser versetzt sich dazu in die Rolle dessen, der Jesus begegnet. Bei Lehrtexten identifiziert er sich mit der Person, an die der Text gerichtet ist. Der Beter ist es, der etwas mit Jesus erlebt, der von ihm angesprochen wird. An ihn wendet er sich und redet mit ihm. Zunächst bleibt er eng am Geschehen, den Dialogen und Worten der Bibel folgend. Daraus entwickelt sich dann ein persönliches Gespräch mit Jesus. Seitz‘ Vorschlag, mit der Bibel zu beten, orientiert sich an den Grundformen des Gebets.25 Ein kurzes biblisches Wort, sei es der Wochenspruch, die Losung oder der Predigttext wird in ein Gebet umgeformt. Der Beter sucht dazu eine passende Gottesanrede und transformiert den Text in eine Bitte, Fürbitte oder einen Dank. Formenvielfalt: Bibel-Beten; Bibeltext hörend und antwortend beten; biblisches Ankerwort/Verheißung beten; Geländer-Gebete für bestimmte Lebenslagen; Beten mit dem ACTS-Prinzip (Adoration, Confession, Thanksgiving, 20 21 22 23 24 25

Seitz, Anleitung zum Beten,19f. Bonhoeffer, Beten, 56. Tersteegen, Wahrheit, 70. Praxisorientierte Literatur: z. B. Wendel, Alltagsbeter. Ruhbach, Gebet,18. Seitz, Anleitung zum Beten, 24f.

Das evangelische Gebet

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Supplication); Bibel teilen; Psalm/Bibeltext umschreiben; Bibliodrama; Gebet bei der Ausarbeitung einer Andacht/Predigt; Bibliolog; Gebet in der Stillen Zeit; Exerzitien; Litanei aus umgeformten Bibelversen beten; Gebete der Bibel (Psalmen, Vaterunser) beten; Wie-Gott-mich-sieht-Bibelverse beten; Bibelverse zu bestimmten Lebensthemen beten; dunkle Zeiten durchleben; mit Losung/Lehrtext/Ökumenischer Tageslese beten; Gebetsbibel gestalten; Bible Art Journaling (künstlerisch-kreative Auseinandersetzung mit biblischen Texten, die zum Gebet einlädt).

2.3

Gemeinschaftliches Gebet

Stand bisher das individuelle Gebet im Fokus, so wenden wir uns jetzt dem gemeinschaftlichen Gebet zu. Die Bibel selbst und auch die Spiritualitätsgeschichte schildern und ermutigen zu individuellem und gemeinschaftlichem Beten. Beide Gebetsweisen sind eng miteinander verflochten: „Beten in der Gemeinschaft und unser persönliches Beten gehören zusammen wie zwei gefaltete Hände. Ohne Gemeinschaft verkommt unser persönliches Beten schnell zu einer egoistischen oder exzentrischen Verhaltensweise, doch ohne das persönliche Gebet wird das Gebet der Gemeinde schnell zu einer sinnfreien Routine.“26

Neben den zwei Grundformen des Betens in der Gemeinschaft „Gebet der zum Gottesdienst versammelten Gemeinde“ und „freies Beten in Gebetsgemeinschaften“27 ist die „Gebetsgemeinschaft im Gottesdienst“ als Mischform zu erwähnen. Gerade dort, wo z. B. gottesdienstliche Fürbitten von Ehrenamtlichen formuliert und gebetet werden, findet ein Einüben in das Gebet statt.28 Kern einer freien Gebetsgemeinschaft ist es, dass mehrere Personen zu einem Bibelvers, persönlich geäußerten oder vorher festgelegten Gebetsanliegen nacheinander in freien, selbstgewählten Worten beten. Während die liturgischen oder in Gruppen vorformulierten Gebete weithin akzeptiert sind, stoßen freie Gebetsgemeinschaften auf teilweise berechtigte Vorbehalte: Insidersprache, Taktlosigkeiten oder auch Gebetsmonologe können abschrecken.29 Gleichwohl meint Bonhoeffer: „Dass eine freie Gebetsgemeinschaft das selbstverständlichste und natürlichste Ding ist und ohne Argwohn angesehen werden darf, lehrt uns das Neue Testament.“30

26 27 28 29 30

Nouwen, Betend leben, 141. Deichgräber, Bibel, 93–99. Praxisorientierte Literatur: z. B. Daniel, Gebet in Gruppen. Vgl. Fischer, Fürbitten, 153. Vgl. Bittner, Beten, 139. Bonhoeffer, Gemeinsames Leben, 55.

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Praxisbeispiel: Das kommunikative Beten nach Großmann möchte eine eingefahrene Gebetsroutine aufbrechen und stellt eine stark begegnungsorientierte Dialogform des Gebets dar.31 Die Beter sehen ihre Gebete als Teil eines gemeinsamen Ganzen, das auch äußerlich durch die Sitzordnung im Kreis oder Halbkreis ausgedrückt wird. Die Gebetsbeiträge beziehen sich aufeinander, was der eine betet, setzt der andere fort. So kann sich ein innerer roter Faden durch die Gebetszeit ziehen. Schweigen und Stille sind Zeiten des sich inneren Aufschließens vor Gott, des In–ihm-Ruhens und des gespannten Wartens, was für Impulse er geben möchte. Damit der dialogische Charakter beim Gebet nicht verloren geht, bedarf es einer behutsamen Leitung, die von unterschiedlichen Personen aus der Gruppe wahrgenommen werden kann. Formenvielfalt: Gottesdienstliche Gebete; gemeinsames hörendes Gebet in einer Gruppe; Gebetsgemeinschaft nach Bibelgespräch/Bibelarbeit (als möglicher Abschluss bei vielen Bibellesemethoden); Lebenswortgruppe (Weggemeinschaft auf Zeit, regelmäßige Treffen mit den Elementen biblisches Lebenswort für den Alltag, Schriftlesung, Austausch und Gebet); stille Gebetsgemeinschaft; Gebetshaus; Gebetszelt (mobile Gebets-Pavillons, oft auch im öffentlichen Raum); Gebetsraum; Gebetszeiten in Hauskreisen/Zellgruppen; Wand mit Gebetsanliegen; gemeinsam singen; Anbetungszeit im Gottesdienst; Zungen-/ Sprachengesang; liturgische Gesänge/Gebete (Tagzeitengebete, Taizé, gregorianisch, orthodox); Tischgebete; Stundengebete; Gebete für Politik, Weltverantwortung und Mission; Bienenkorb (spontanes Gebet in einer Gruppe von 2–5 Personen); schriftlich formulierte Fürbitten werden im Gottesdienst/Gruppentreffen vorgelesen; hörend-meditativer Gottesdienst; ökumenisches Hausgebet im Advent.

2.4

Meditatives Gebet

Meditativ geprägte Spiritualität, in der orthodoxen und römisch-katholischen Kirche selbstverständlicher Bestandteil kirchlichen Lebens, erfuhr in der evangelischen Kirche eine deutliche Wiederbelebung in der Nachkriegszeit, insbesondere durch die neu entstandenen Kommunitäten. Auch das Boomen vielfältiger Meditationsangebote aus unterschiedlichsten weltanschaulichen Hintergründen trug dazu bei, dass eine Neubesinnung auf die christliche Meditation stattfand. Durch verschiedenste auf den dreieinen Gott bezogene Gebetsübungen lernt der Beter, äußerlich zur Ruhe zu kommen, innerlich gesammelt und präsent

31 Großmann, Beten als Gespräch, 57–62.

Das evangelische Gebet

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zu sein. So kann er geistliche Impulse aufnehmen, dabei verweilen und in sich Gestalt gewinnen lassen.32 In der gegenwärtigen Situation, in der eine große Offenheit für ökumenische Impulse herrscht und viel spirituell experimentiert wird, stellt sich die Frage nach dem spezifischen evangelischen Beitrag zu einer ökumenischen Gebetsspiritualität. Seitz mahnte schon vor mehr als dreißig Jahren an: „Der wichtigste Ertrag reformatorischen Gebetslebens dürfte eine besondere Form des betrachtenden Gebets sein, nämlich das Gebet unmittelbar im Anschluss an die Heilige Schrift. Die Spur dieses Betens und die besonderen Ausprägungen in unserer Kirche ermitteln und wieder aufzunehmen wäre eine große und gute Aufgabe.“33

Praxisbeispiel: Das betrachtende Bibelgebet nach Kubik in Anlehnung an Hanssen möchte zu einem ganzheitlichen Bibellesen führen, in dem Denken, Wollen und Gefühle des Menschen beteiligt sind.34 Es beginnt mit dem inneren Loslassen und Ankommen bei Gott. In der zweiten Phase, der Zeit des Schauens, entsteht, ausgehend von der Lektüre eines Bibeltextes, ein inneres Bild, bei dem der Beter verweilt und es in seinem Herzen bewegt. In der Zeit des Verstehens – der dritten Phase – erwägt der Beter den Zusammenhang von innerem Bild und seiner Lebenswirklichkeit. In diesem Prozess sind Denken und Gefühl, Reflexion und Emotion gleichermaßen wichtig. Abschließend bildet sich in der vierten Phase, der Zeit des Herzens, ein Willensentschluss aus, der den Alltag des Betenden prägen soll. Formenvielfalt: Vierfach gedrehtes Kränzlein nach Luther (meditatives Durchdringen des Vaterunsers oder biblischer Texte unter den Aspekten Lehre, Dank, Beichte und Fürbitte); mit dem betrachtenden Bibelgebet betend lesen/ lesend beten; Lectio Divina (Bibellese in den Schritten Lectio/Lesung, Meditatio/ Meditation, Oratio/Gebet und Contemplatio/Kontemplation); Gebet der liebenden Aufmerksamkeit (meditativ-reflektierender Tagesabschluss); Schriftmeditation; Herzensgebet/Jesusgebet (Gebetssatz/-wort, das durch zahlreiche Wiederholungen den Tag und das Leben durchdringt); Ruhegebet des Cassian (Vorläufer des Herzensgebets); inneres Beten; kontemplatives Gebet; betrachtendes Lesen geistlicher Literatur (z. B. Gebetsbücher, Gesangbuch); gegenständliche Gebetsmeditation (betend über christliche Symbole oder Gegenstände mit Bezug zum Leben des Beters nachsinnen); Bildmeditation; Gott im Schweigen hören; Biografiearbeit mit Gebet (z. B. Leid aus der Hand des liebenden Gottes nehmen oder seine Identität in Christus finden – wie Gott den Menschen sieht), Exerzitien; betrachtendes Beten nach Madame Guyon (inneres 32 Vgl. Sudbrack, Christlich meditieren. 33 Seitz, Beten lernen, 91. Praxisorientierte Literatur: z. B. Deichgräber, Lauschen; Hanssen, Betrachtende Gebet; Kusch, Herz. 34 Kubik, Betrachtendes Gebet, 26–31.

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Andreas Kusch

Durchdringen eines vorformulierten Gebets), Wortreihen-Meditation (betendes Nachsinnen von litaneiartig formulierten und zusammengestellten Worten oder Wortgruppen).

2.5

Beten mit allen Sinnen

Die Beziehung zu Gott will nicht nur den kognitiven Bereich des Menschseins erfassen, sondern alle Bereiche des Lebens durchdringen, auch den Körper des Menschen, oder, wie Oetinger es ausdrückt: „Leiblichkeit ist das Ende [Ziel] der Werke Gottes!“35 Deshalb soll und darf der Körper mit all seinen Sinnen in das Gebetsleben einbezogen werden und es bereichern. Genauso, wie menschliche Begegnung nicht nur durch Worte geschieht, wird auch das Gebet durch unterschiedlichste Gegebenheiten geprägt. So kann durch Körperhaltungen (Stehen, Knien, Liegen, Sitzen, Gehen), durch Sinneswahrnehmungen (Sehen, Riechen, Schmecken, Fühlen, Tasten) sowie durch Zeit und Ort der Dialog mit Gott auf eine ganzheitliche Weise geschehen. Die Vielfalt der angesprochenen Sinne verschafft neue Zugänge zu einer Gotteserfahrung, die auch Menschen Raum gibt, die von ihrer Biografie, ihrem Milieu und ihrer Bildung her der vorherrschenden protestantischen Wortkultur wenig abgewinnen können.36 Ein Beispiel dafür sind die „Anbetungszeiten“, die in manchen kirchlichen und vielen freikirchlichen Gemeinden immer größeren Zuspruch gewinnen. Zeitgemäße Musik, Singen, Beten, Erfahrungsberichte, Bewegung und manchmal auch Tanz ermöglichen eine ganzheitliche Gottesbegegnung. Praxisbeispiel: Karin Johne, Pionierin evangelischer Exerzitien in der ehemaligen DDR, schlägt vor, nacheinander verschiedenste Gebetshaltungen einzunehmen und dabei das zu beten, was einem in den Sinn kommt.37 Hier eine Auswahl: 1. Der Beter steht aufrecht mit erhobenen Händen und nach oben gewandtem Blick. 2. Der Beter sitzt mit gefalteten Händen und gebeugtem Oberkörper auf dem Stuhl. 3. Der Beter kniet aufrecht auf dem Boden, die Hände vor der Brust zusammengelegt, der Kopf ist dabei aufgerichtet. 4. Der Beter kniet auf dem Boden, legt seinen Kopf mit der Stirn auf den Boden. 5. Der Beter liegt flach mit dem Bauch auf dem Boden, die Arme sind seitwärts ausgestreckt. Formenvielfalt: Körpergebete (unter Einbezug von Körperhaltungen beispielsweise die Gegenwart Gottes erbitten, das Liebesgebot Christi ausdrücken 35 Oetinger, Wörterbuch, 407. 36 Praxisorientierte Literatur: z. B. Douglass, Beten; Flohrer/Müller/Rempe/Zeine, Gott zum Mitreden. 37 Johne, Übungsweg, 48.

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oder Gott um seiner selbst willen anbeten); Gebetsermutigung durch Gebetszettel oder Fingerkreuz (ein kleines, in die Hand zu nehmendes Kreuz) in der Hosentasche; persönliches Gebetslied finden; Tagebuch; Abendmahl; Singen (Kirchenlied, vertonte Psalmen, Bibelverse); Gott ein Lied zusingen; Bibeltext malen/vertonen; Perlen des Glaubens (18 Perlen an einem Band verdeutlichen den Lebensweg Jesu und des Beters); Bild/Ikone malen; Gebet beim Spazieren/ Radfahren/Laufen; Segnung und Salbung; Stationenweg/Kreuzweg; Wallfahrt/ Pilgern; Fasten und Beten; Bibelworte in einer Körpergeste ausdrücken; Gebet mit Symbolen; Vaterunser in Gesten; Lebensbaum malen (das eigene Leben als Baum symbolisch darstellen und im Gebet reflektieren); Gebetstanz; Gebetstagebuch; Gedicht/Gebet schreiben.

2.6

Kurzgebete

Der Ursprung der Kurzgebete ist in den vielen im Neuen Testament an Jesus gerichteten Bitten und in Teilversen einzelner Psalmen zu sehen. Über die Jahrhunderte wurden die Kurzgebete zu einem populären Weg des Betens im Alltag. Kurzgebete sind „schweigend oder laut hervorgestoßene Impulse, um das innere Gebet zu fördern und zu unterstützen.“38 In den Kurzgebeten, auch Pfeilgebete, Schussgebete (Augustinus),39 Tiefenbohrung (Delbrêl),40 Stoßgebete oder Spiel mit Minuten (Laubach)41 genannt, reagiert der Christ betend auf eine Alltagssituation. Die gewählten Worte sind so vielfältig wie das Leben. Wo etwas glückt, spricht der Beter etwa „danke, Jesus“, oder vor einem schwierigen Gespräch „Herr, segne unser Treffen“. So wird der Alltag, die Weltwirklichkeit, transparent für die Gotteswirklichkeit.42 Auch wenn gegenwärtig die Praxis der Kurzgebete wenig verbreitet ist, konnte Franz von Sales vor mehr als 400 Jahren sagen: „In dieser Übung […] besteht das große Werk der Frömmigkeit. Sie kann im Notfall alle übrigen Gebete ersetzen.“43 Angesichts des Verlustes alter Gebetszugänge liegt im Einüben von „spontanen Situationsgebeten“ eine Chance, Gebet im Alltag neu zu verankern.44 „Wenn du noch ungeübt bist, solltest du mit dem Stoßgebet beginnen, um eine erste stets 38 Wick-Alda, Kurzgebete, 51. Kurzgebete wollen ähnlich wie das Herzensgebet als einer meditativen Gebetsform zu einem „unablässigen Gebet“ werden, werden aber spiritualitätstheologisch zumeist getrennt behandelt, vgl. Grün, Gebetsschule, 60. 39 Grün, Gebetsschule, 57. 40 Nürnberg, Anders beten, 48. 41 Laubach, Gottes Gegenwart, 73. 42 Praxisorientierte Literatur: z. B. Littleton, Espresso beten; Laubach, Gottes Gegenwart, Wendel, Alltagsbeter. 43 Franz von Sales, Philothea, II,13. 44 Sudbrack, Beten, 218–224.

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anwendbare Form zu haben. Stoßgebete gehören zum eisernen Grundbestand des Gebetslebens.“45 Praxisbeispiel: Der Christ ist auf dem Weg zu einer schwierigen Besprechung. Bevor er eintritt, nimmt er die Türklinke in die Hand und betet: „Christus spricht: Ich bin die Tür“ und tritt ein.46 Oder: Eine Person möchte bestimmte Stresssituationen besser meistern und überlegt, in welchen Situationen sie genervt, launisch oder aggressiv reagiert. Sie überlegt, welcher Gebetssatz passt und spricht ihn immer bewusst in diese Situation hinein.47 Formenvielfalt: Not- und Dankesausruf; Fingerkreuzgebet; beim Hochfahren des Computers Gottes Segen für den Tag erbitten; Gebet des Jabez (Gebet nach 1Chr 4,10); Stoßgebet für Nächstenliebe; Initialengebet (für eine Person, deren Initialen an einer bestimmten Stelle notiert sind); Kleinigkeiten für Jesus tun nach Thérèse von Lisieux („Jesus, ich möchte heute Cordula mit … eine Freude machen“); den schwierigen Nächsten segnen; Gebet um Gottes Gedanken; Verkehrsstaugebet; Warteschlangengebet; Gebet mit Handytimer (variierendes Kurzgebet nach bestimmtem Klingelton); Müllgebet (Gebetssatz beim Müllentsorgen); Gottes liebreiche Gegenwart genießen nach Tersteegen (Gottes Gegenwart in Alltagssituationen entdecken); Tagesschaugebet (stilles fürbittendes Kurzgebet für ein in der Tagesschau angesprochenes Problemfeld); unablässiges Gebet (Wort aus der Bibel oder kurzer Gebetssatz wird im Tagesverlauf vielfach gebetet).

2.7

Gebet in Gremien und Arbeitsgruppen

Zu den erfreulichen Entwicklungen der letzten Jahre gehört zweifellos die wachsende Sehnsucht nach einer spirituellen Leitungskultur in kirchlichen Gremien, Arbeitsgruppen und Teams. „Die ehrenamtlich wie die beruflich Mitarbeitenden wollen ihre Aufgabe annehmen und erfüllen, aber mit spürbarer Rückbindung an ihren Auftrag, an die gute Botschaft.“48 Während in den letzten Jahrzehnten eine Professionalisierung von Planungs- und Entscheidungsprozessen durch die Betriebs- und Organisationswissenschaft erfolgte, fand die Integration der individuellen Spiritualität in eine gemeinsame Gremienspiritualität so gut wie nicht statt. Eine lebendige Gremienspiritualität möchte das Abwägen von Sachfragen, Diskutieren und Entscheiden mit Impulsen aus dem Hören auf Gott in Gebet, Meditation, Stille und Bibellesen in Beziehung brin45 46 47 48

Wendel, Alltagsbeter, 92. Zink, Beten können, 85. Kusch, Herz, 42. Bosse-Huber, Geistlich leiten, 13.

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gen.49 Zeiten der Begegnung mit Gott ersetzen keine sozialwissenschaftliche Methodensicherheit und organisationspsychologischen Kenntnisse, vielmehr ergänzen sie den sozialwissenschaftlichen Planungs- und Entscheidungsprozess mit einer expliziten spirituellen Dimension.50 Praxisbeispiel: Das Brainstorming mit Gebetsinspiration kombiniert die allseits bekannte sozialwissenschaftliche Methode des Brainstormings mit Zeiten der Stille, die offen sind für Gottes Geist und sein Wirken.51 Zunächst werden ganz klassisch in einer ersten Runde Antworten auf eine Fragestellung gesammelt und notiert. Dann folgt eine zweite Runde mit einer Gebetsstille unter der Leitfrage: „Herr, wie siehst du unsere Situation?“ Der Ertrag der Stille wird in der Gruppe besprochen und in die Gesprächsergebnisse der ersten Runde integriert. Formenvielfalt: Bibelgebet für Tagesordnung; Brainstorming mit Gebetsinspiration; fokussierendes Gebet bei kontroversen Themen (Gebetsstille mit Anhörrunde bei Konflikten); Brainwriting mit meditativer Stille (schriftlich-assoziative Ideengenerierung mit Gebetsstille und Austausch); kommunikatives Beten (dialogische Gebetsgemeinschaft, die auf ein hörendes Wahrnehmen Gottes und der Mitbeter ausgerichtet ist); SWOT-Analyse mit Gebetsinspiration (die sozialwissenschaftliche Analyse von Stärken, Schwächen, Chancen und Risiken eines Problems wird mit Stille, Gebet und Austausch kombiniert); hörendes Innehalten; Hören-Unterscheiden-Entscheiden; Entscheidungsfindung mit Gebet in Klein-/Großgruppen; klärende Stille; mehrtägige hörende Arbeitssitzung (Planung von Arbeitssitzungen mit einer expliziten spirituellen Dimension); gemeinsam Beten aus dem Hören auf Gott; trialogische Kraftfeldanalyse (in die Kraftfeldanalyse wird eine Zeit der Stille, des Schweigens oder Gebetes integriert), modifizierte 6-Hut-Methode nach de Bono mit spiritueller Dimension.

2.8

Gebet für Politik, Weltverantwortung und Mission

Eine spezielle Art der Fürbitte stellt das Gebet für die Welt dar.52 Beten ist „aktive politische Verantwortung und politische Verantwortung von Christen schließt immer Gebet ein“.53 Dieses Gebet ist von der Überzeugung getragen, dass Gott als Schöpfer und Erhalter der Welt ein handelnder Gott ist. Ihn will man um Veränderung und Hilfe für die Welt bitten und auch darum, dass das politische Handeln in der Welt von seinem Geist und seiner Kraft beeinflusst wird. „Das Gebet ist Teil eines umfassenden Gesamtvorgangs, innerhalb dessen der Beter in 49 50 51 52 53

Vgl. Zindel, Spiritualität und Management; Waldmüller, Gemeinsam entscheiden. Praxisorientierte Literatur: z. B. Kusch, Entscheiden. A. a. O., 69–71. Praxisorientierte Literatur: z. B. Rothacker, Gemeinsam beten. Herbst, Lebendig, 116.

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den Wirkungsraum Gottes und seiner Engel eintritt. Deshalb kann das Gebet Wunder vorbereiten.“54 Besonders dynamisch wächst seit der Jahrtausendwende die Gebetshausbewegung mit inzwischen mehr als 50 Gebetshäusern in Deutschland.55 Noch wird in wenigen Gebetshäusern rund um die Uhr jeden Tag in der Woche gebetet. Aber die wachsende Resonanz unter der jungen Generation ist bemerkenswert. Durch Besuche, Praktika, Vorträge und Schulungen wird der Gebetshausgedanke deutschlandweit verbreitet. In den Gebetsstilen gibt es individuelle Freiheit und die konfessionellen Unterschiede treten in den Hintergrund. Praxisbeispiel: Mit der Zeitung beten. „Die Zeitung lesen heißt sich entsetzen, heißt erschrecken, heißt staunen oder bangen. Wer nicht weiß, was er beten soll, schlage eine Zeitung auf und rede mit Gott über das, was er liest. Er wird, ehe er es sich versieht, ein Fürbittender sein.“56 In diesem Sinne ist es eine gute Angewohnheit, beim oder nach dem Lesen der Zeitung oder dem Anschauen der Nachrichten im Fernsehen kurz zu verweilen und Gottes Hilfe, Segen und Wirken für die angesprochenen politischen Herausforderungen zu erbitten.57 Formenvielfalt: Gebet vor dem Gottesdienst in der Sakristei; Beten mit der Zeitung/Tagesschau; 40 Tage Beten und Fasten für unser Land; den Nächsten segnen; Fürbitte für Themen von Gebetsnachrichten und -rundbriefen; politisches Nachtgebet; Wächterruf (deutschlandweites Gebetsnetz für christlich-gesellschaftliche Themen); Weltgebetstag; Gebetshausbewegung; Stadtgebet-Gottesdienste (Christen einer Stadt treffen sich konfessionsübergreifend zu einem gemeinsamen Gottesdienst mit Gebetsschwerpunkt); regionale Gebetstage; Gebetsgruppentreffen in Gemeinde/Unternehmen/Ausbildungsstätten; öffentliches Friedensgebet; Frühgebet für die Gemeinde (Gebet für die Ortsgemeinde vor Arbeitsbeginn); Befreiungs- und Heilungsgebet; Segnen und Salben; Allianzgebetswoche; Jugendgebetskonzerte; Gebetswoche für die Einheit der Christen; Gebetstag für bedrängte und verfolgte Christen.

3.

Zeitgemäße Zugänge zum Gebet – 9 Orientierungspunkte

Das evangelische Gebet bietet eine fast unüberschaubare Vielfalt an Gebetsmöglichkeiten. Entscheidend ist, dass Christen sich auf den Weg machen, diese Vielfalt zu entdecken, denn Beten lernt man nur durch beten. „Die Gabe des Betens ist nicht den besonderen religiösen Genies vorbehalten […]. Beten ist 54 55 56 57

Berger, Biblische Spiritualität,198. Harter, Gebetshaus. Zink, Beten können, 60. Kusch, Gott, 84f.

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keine Kunst, sondern Handwerk. Der durchschnittliche Mensch kann es lernen, wie er lesen, schreiben und kochen lernen kann.“58 Hier wären tiefergehende, gebetsdidaktische Überlegungen erforderlich, wie der Zugang zum Gebet für Interessierte neu erschlossen, ermöglicht und eingeübt werden kann. An dieser Stelle seien nur neun thesenartige Orientierungspunkte genannt.

3.1

Beten sollte einfach sein

Der Lernprozess des Betens muss mit sehr einfach nachzuvollziehenden Übungen einsetzen. Viele gut gemeinte Anleitungen sind für den Anfang zu komplex. Der Suchende muss schnell eine einfache Gebetsform finden, die er ohne große Übungsphasen praktizieren kann. Mit zunehmender Erfahrung und Begeisterung wächst die Neugier, auch übungsintensivere Gebetszugänge auszuprobieren.

3.2

Beten sollte alltagstauglich sein

Das Gebet muss im Alltag verankert werden können. Es müssen Formen gefunden werden, die im praktischen Lebensvollzug des Beters Raum finden und anwendbar sind. Denn „was heute nicht den Alltag prägt, bestimmt die Existenz nicht mehr.“59 In dem Maß, wie Gebet lebenstragend und beglückend erlebt wird, wird der Beter dem Gebet auch im Alltag mehr Gelegenheiten und Zeit einräumen.

3.3

Beten sollte gemeindenah-persönlich sein

So hilfreich Angebote von Akademien oder Einkehrhäusern sind, wird doch der Großteil der Gemeindemitglieder nur das langfristig praktizieren, was ihm in seiner Ortsgemeinde angeboten wird. Gottesdienste, Hauskreise, Gemeindegruppen und Gremien sind zentrale Orte, an denen Gebet erlebt und eingeübt wird. Hauptamtliche und einzelne Ehrenamtliche sind als spirituelle „RessourcePersons“ ansprechbar und bilden eine persönliche Brücke zum Gebetslernen interessierter Personen.

58 Steffensky, Kraft des Betens, 30. 59 Ruhbach, Geistlich leben, 56.

450 3.4

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Beten sollte gemeinschaftlich sein

Es ist hilfreich, das Beten gemeinsam zu lernen. Es stützt und motiviert, mit anderen Christen auf dem Weg zu sein, die dasselbe Ziel haben. Das bedeutet nicht, dass das Gebetslernen nur in Gemeinschaft geschehen kann. Aber der Austausch in Kleingruppen mit anderen über ihre Erfahrungen hilft, eigene Erfahrungen zu deuten, in einen biblisch-theologischen Kontext zu stellen und über eigene spirituelle Durststrecken hinwegzukommen. Die innovative Entwicklung von zielgruppenorientierten Gebetskursen steht noch ganz am Anfang.

3.5

Beten sollte bibelbezogen sein

Evangelisches Beten wird immer mittelbar oder unmittelbar auf das biblische Wort bezogen sein. Die Bibel lehrt beten, sie enthält Gebete und die Lektüre des Bibeltextes führt zum Gebet. So viel aus anderen Traditionslinien gelernt und übernommen werden kann, ist doch die Orientierung am Wort Gottes das ureigenste evangelische Anliegen, das in eine ökumenisch verantwortete Gebetstheologie einzubringen ist.

3.6

Beten sollte ganzheitlich sein

Die innere Zerrissenheit des heutigen Menschen korrespondiert mit seiner Sehnsucht nach Ganz-Sein und Ganzheit der Person. Wie sich der christliche Glaube an den ganzen Menschen mit Leib, Seele und Geist wendet und ihn prägen möchte, so schließt auch das Gebet die Leiblichkeit mit allen ihren Sinnen ein.

3.7

Beten sollte erfahrungsbezogen-reflexiv sein

Wer betet, macht Erfahrungen mit Gott und dem Gebet. Jedoch müssen sich Erfahrungen an biblisch-theologischen Kriterien messen lassen. Dem könnte in einem ganzheitlichen spirituellen Lernzirkel, der dem Gebetslernen zugrunde liegt, Rechnung getragen werden. Esoterische und in anderen Religionen verankerte Gebetsvorstellungen und -deutungen sind in einer „empathischen Spiritualitätskritik“60 kritisch zu sichten. 60 Zulehner, Spirituelle Dynamik.

Das evangelische Gebet

3.8

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Beten sollte biografisch-individuell sein

Es gibt nicht die eine Gebetsmethode, die zu jedem passt. So unterschiedlich Menschen hinsichtlich ihrer Persönlichkeit, Lebens- und Arbeitswelt, Bildung und religiösen Vorerfahrung sind, genauso unterschiedlich kann die Art des Betens und die Methode, die zum Beten anleitet, sein. Die Pluralität der Formen christlichen Betens wird getragen von der Grundüberzeugung, „dass es in allen Formen um eine einzige Mitte geht, um Gott in Jesus Christus.“61

3.9

Beten sollte experimentell-lernend sein

Das Gebetsleben eines Christen wird sich im Laufe seiner Lebensphasen ändern. Die Gebetszugänge, die dem jungen Menschen entsprechen, sind nicht immer die Gebetsweisen, die ihm später in der Mitte des Lebens oder als älterer Mensch zusagen. Hier helfen dem Beter Erfahrungen aus unterschiedlichsten Gebetsvollzügen und Gebetstraditionen, die er experimentell an seine sich wandelnde Lebensphase anpassen wird.

4.

Epilog: Hoffnung trotz der Krise des Gebets „Jesus, ich muss unbedingt lernen, wie man betet. Doch wenn ich ehrlich bin, dann weiß ich, dass ich oft nicht beten will. Ich werde abgelenkt! Ich bin stur! Ich bin egoistisch! Herr, gib durch deine Gnade, dass das, was ich will, auch das ist, was ich brauche, so dass ich immer mehr das will, was ich nötig habe. In deinem Namen bete ich dich an, Herr. Amen.“62

Literatur Bedford-Strohm, Heinrich/Jung, Volker (Hg.), Vernetzte Vielfalt. Kirche angesichts von Individualisierung und Säkularisierung. Fünfte EKD-Erhebung über Kirchenmitgliedschaft, Gütersloh 2015. Berger, Klaus, Was ist biblische Spiritualität?, Gütersloh 2003. Bittner, Wolfgang, Beten? Wenn ich nur wüsste wie!, in: Jepsen, Maria (Hg.), Evangelische Spiritualität heute. Mehr als ein Gefühl, Stuttgart 2004, 137–149. 61 Sudbrack, Beten,176. 62 Foster, Einladung, 23.

452

Andreas Kusch

Bonhoeffer, Dietrich, Gemeinsames Leben. Wie Christen miteinander leben können, Gießen 1977. –, Beten mit der Bibel. Das Gebet der Gemeinde. Die erste Tafel. Eine Einführung in die Psalmen, Hamburg 1970. Bosse-Huber, Petra, Geistlich leiten in der evangelischen Kirche, in: Evangelische Kirche in Deutschland (Hg.), Geistlich Leiten. Ein Impuls. epd-Dokumentation Sonderdruck Nr. 6, Hannover 2012, 12–14. Bürkle, Horst, Das Gebet – ein Grundphänomen der Religionen, GuL 54, 1981, 23–36. Daniel, Claire, Kreatives Beten. 80 ausgearbeitete Ideen, Gebet in Gruppen neu zu erleben, Neukirchen-Vluyn 2017. Deichgräber, Reinhard, Mit den Ohren des Herzens lauschen. Anleitung zur Meditation biblischer Texte, Göttingen 1999. –, Wachsende Ringe. Die Bibel lehrt beten, Göttingen 31995. Douglass, Klaus, Beten – es gibt mehr Möglichkeiten, als du denkst, Asslar 2014. Ernst, Heiko, Macht der Glaube gesund?, Psychologie heute Compact 8, 2003, 68–69. Fischer, Heinz, Mit der Gemeinde beten. Neue Fürbitten, Göttingen 2002. Flohrer, Katja/Müller, Ingo/Rempe, Daniel/Zeine, Søren (Hg.), Hörst du mich? Gott zum Mitreden. 82 Methoden zum kreativen Gebet, Neukirchen-Vluyn 2014. Foster, Richard, Gottes Herz steht allen offen. Eine Einladung zum Gebet, Wuppertal 1994. Franz von Sales, Philothea. Anleitung zum frommen Leben, Eichstätt 32002. Großmann, Siegfried, Ich möchte hören, was du sagst. Beten als Gespräch mit Gott, Gießen 4 2005. Grün, Anselm, Glauben als Umdeuten. Glauben – Lieben – Loben, Münsterschwarzach 1986. –, Kleine Gebetsschule. Vom spirituellen Leben, Freiburg 2017. Hanssen, Olav, Das betrachtende Gebet, Göttingen 1997. Harter, Rainer, Die Gebetshaus Bewegung. Ein Buch für Interessierte, Gründer und Mitarbeiter, Holzgerlingen 2018. Herbst, Michael, Lebendig! Vom Geheimnis mündigen Christseins, Holzgerlingen 2018. Johne, Karin, Geistlicher Übungsweg für den Alltag, Limburg-Kevelaer 52003. Klein, Christoph, Das grenzüberschreitende Gebet. Zugänge zum Beten in unserer Zeit, FsöTh 105, Göttingen 2004. Kubik, Wolfgang, Das Beste teilen. Gemeinschaft, Begleitung, betrachtendes Gebet, Neukirchen-Vluyn 2006. Kusch, Andreas, Entscheiden im Hören auf Gott. 45 Methoden für das Arbeiten und Planen in der Gemeinde, Göttingen 2017. –, Gott, du Liebhaber des Lebens. Ein spiritueller Übungsweg für Berührungspunkte mit Gott, Trier 2013. –, Gottes Stimme im Alltag hören, Brennpunkt Seelsorge 3/4 (2004), 47–56. –, Das Herz auf Gott einstimmen. Praktische Schritte zum Beten und Bibellesen, Gießen 2010. –, Liebe, ich will dich lieben. Gebete der Gottesliebe aus zwei Jahrtausenden, Witten 2012. Laubach, Frank C., In jeder Minute bist du da. Spielerisch Gottes Gegenwart erleben, Schwarzenfeld 2013. Littleton, Mark, Espresso beten. Entdecken Sie die Kraft des kleinen Gebets, Asslar 2010.

Das evangelische Gebet

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Peter Zimmerling

„Dass man der Heiligen gedenken soll.“ Die Bedeutung der Heiligen für die evangelische Spiritualität

Ziel der folgenden Überlegungen ist es, Grundlinien eines theologisch verantworteten Umgangs mit den Heiligen im Rahmen evangelischer Spiritualität herauszuarbeiten.1 In einem ersten Schritt soll die Aktualität des Themas aufgezeigt werden. In einem zweiten Schritt möchte ich auf Spurensuche gehen: Welche Formen der Heiligenverehrung gab es im Lauf der Geschichte in der evangelischen Volksfrömmigkeit? Im dritten Schritt soll die theologische Bedeutung der Heiligen im lutherischen Protestantismus, im römischen Katholizismus und in der Orthodoxie miteinander verglichen werden. Ausgehend vom neutestamentlichen Befund und den reformatorischen Erkenntnissen sind auf dem Hintergrund ökumenischer Annäherungen viertens Kriterien eines evangelischen Heiligengedächtnisses zu formulieren. Dem schließen sich fünftens ekklesiologische, eschatologische und anthropologische Aspekte einer Wiederentdeckung der Heiligen im Protestantismus an. Am Schluss sollen sechstens praktische Vorschläge zu einer spezifisch evangelischen Heiligenverehrung am Beispiel Dietrich Bonhoeffers skizziert werden. Wie in der Umgangssprache auch verwende ich im Folgenden die Begriffe Heiligenverehrung und Heiligengedächtnis synonym. Theologische Unterschiede können nur aus dem Zusammenhang entnommen werden.

1.

Zur Aktualität des Themas

Die mit der „Wiederkehr der Religion“ verbundene Sehnsucht vieler Christen nach geistlichen Erfahrungen, die etwa im Bereich der Praktischen Theologie erhobene Forderung nach neuen Zugangsmöglichkeiten zur Wirklichkeit „des Heiligen“ und die Wiederentdeckung des Vorbilds in seiner Bedeutung für die 1 Vorformen der folgenden Überlegungen habe ich erstmals vorgetragen in: Peter Zimmerling, Die Heiligen in evangelischer Sicht. Ein ökumenischer Versuch, in: Una sancta, Zeitschrift für ökumenische Begegnung 54 (1999), 346–359.

„Dass man der Heiligen gedenken soll.“

455

Gestaltwerdung religiöser Identität zeigen exemplarisch die Vielfalt der Gründe, die eine Integration des Heiligengedächtnisses in die evangelische Spiritualität für sinnvoll erscheinen lassen. Die Wiederentdeckung der Heiligen könnte zur Reintegration der Erfahrungsdimension in den evangelischen Glauben beitragen. Spätestens in der Zeit von Aufklärung und Rationalismus erfuhr der Glaube an die Rechtfertigung allein aus Gnaden eine Verwissenschaftlichung und Rationalisierung, was zu Erfahrungsdefiziten im Rahmen evangelischer Spiritualität führte. Diese Tendenz wurde durch die dialektische Theologie Karl Barths und seiner Freunde seit den 1920er-Jahren noch verstärkt. Inspiriert von Sören Kierkegaard meinten sie, dass man auch den Glauben glauben müsse. Kierkegaard hatte den Glauben als 1000 Klafter „über dem Abgrunde erbaut“2 definiert. Von hier aus wird verständlich, wieso der Glaube beim frühen Barth nirgends Bodenhaftung bekommen, d. h. zur Erfahrung werden konnte.3 Vielen evangelischen Christen reicht heute jedoch ein rein intellektuell verstandener Paulinismus für ihre Frömmigkeit nicht mehr aus. Sie sehnen sich nach spirituellen Erfahrungen, die Gefühl und Körper mit einschließen. Gerade im Beruf intellektuell geforderte Menschen wollen den Glauben heute nicht nur denken, sondern auch emotional und sinnlich erfahren.4 Die Spiritualität vieler Heiliger stellt in dieser Situation ein verheißungsvolles Angebot dar. Sie machen exemplarisch sichtbar, wie sich die gnädige Annahme durch Gott in der Nachfolge konkretisiert, wie dabei Rechtfertigungsbotschaft und Bergpredigt wechselseitig aufeinander bezogen sind. In den vergangenen Jahren wurde verschiedentlich die theologische Leistungsfähigkeit der Kategorie der Heiligkeit bzw. des Heiligen hervorgehoben.5 Dahinter steht ein Ungenügen gegenüber der modernen Reduzierung der christlichen Botschaft auf das menschlich Machbare. Der emeritierte Heidelberger Neutestamentler Klaus Berger betonte schon vor Jahren, dass Heiligkeit bei Paulus eine vormoralische Qualität ist. Sie sei eine in Gottes Erwählung begründete, dem Menschen unverlierbar zugeeignete geistliche Qualität. Auf dem Weg der Nachfolge werde der erwählte Mensch in Gottes Heiligkeit hineingezogen. Damit sei die abstrakte theologische Trennung zwischen Tun Gottes und eigener Leistung überwunden.6 Im Rahmen der Praktischen Theologie 2 Sören Kierkegaard, Philosophische Brocken. Gesammelte Werke, Bd. 10. Düsseldorf 1967, 95. 3 Erst der späte Karl Barth hat die Frage nach der Erfahrbarkeit Gottes als theologisch legitim anerkannt (Schleiermacher-Auswahl, besorgt von Heinz Bolli, mit einem Nachwort von Karl Barth, Gütersloh 31983, 311 f). 4 Michael Meyer-Blanck, Inszenierung des Evangeliums. Ein kurzer Gang durch den Sonntagsgottesdienst nach der Erneuerten Agende, Göttingen 1997, 52. 5 Berger, Heilige; Josuttis, Pastoraltheologie. 6 Berger, Heilige, 43–49.

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machte Manfred Josuttis darauf aufmerksam, dass die Rolle des Pfarrers nur unzureichend beschrieben ist, wenn er ausschließlich als Zeuge oder Helfer verstanden werde. Darüber hinaus sollte er in Zukunft verstärkt „mit der eigenständigen Wirklichkeit und der selbsttätigen Macht des Heiligen“ rechnen.7 Diese Überlegungen gewinnen im Leben der Heiligen Anschaulichkeit. In einer Welt, die durch „alle Leeren und Nüchternheiten sinken muss“ und für die Wunder des Himmels „kein Fassungsvermögen“ mehr hat,8 stellen die Heiligen ein unübersehbares Protestphänomen dar. Schon durch ihre bloße Existenz bestreiten sie die Allmacht moderner Nivellierungsprozesse und halten das Wissen um das Außerordentliche wach. Jeder Heilige und jede Heilige ist wie eine geöffnete Tür, die in den Raum des Heiligen führt. In der jüngeren Vergangenheit ist von unterschiedlicher Seite darauf hingewiesen worden, wie wichtig, ja unverzichtbar, Vorbilder für die Identitätsfindung und die damit verbundenen Dimensionen der Biografisierung einschließlich deren sozialer und religiöser Momente sind.9 Vor allem junge Menschen suchen nach Leitfiguren und schaffen sich ihre „Heiligen“, von denen sie machtvolle Orientierung und innere und äußere Aufrichtung erhoffen. In der Herausbildung ihrer unverwechselbar eigenen Individualität sind sie auf der Suche nach Persönlichkeiten, die ihnen Möglichkeiten für eine glückende Identität geben und sie auf dem schwierigen Weg dahin leiten und begleiten. Dabei ist es die spezifische Situation der vom postmodernen Pluralismus geprägten Gegenwart, die den Ruf nach Vorbildern dringlich werden lässt. Sie hat das Projekt der eigenen Identität10 wie zu keiner anderen Zeit der Menschheit in die Verantwortung des Einzelnen gelegt. Es kann hier nicht im Einzelnen auf die Bedeutung des Vorbilds für diesen Prozess eingegangen werden. Soviel scheint jedoch festzustehen: Heutige Biografisierung vollzieht sich autonom11 und geschieht gleichzeitig in einem sozialen und religiösen Kontext. Biografie ist wesentlich Eigenleistung, bezieht aber die Wertung der Mitwelt mit ein. Dabei hat die Biografisierung insofern mit Religion zu tun, als sie davon ausgeht, dass das Leben des Einzelnen einen die jeweiligen Erlebnisse transzendierenden Sinn besitzt. „Wenn auch (Auto-) Biographie keine explizit religiösen Antworten zu ihrer Konstruktion benutzt, so zehrt doch das (auto-)biographische Unternehmen als solches von 7 Josuttis, Pastoraltheologie, 9. 8 Joseph Wittig, Roman mit Gott. Tagebuchblätter der Anfechtung, mit einem Vorwort von Eugen Drewermann und einem Nachwort von Horst-Klaus Hofmann, Moers 1990, 190. 9 Hier und im Folgenden vgl. dazu im einzelnen Schilson, Neue Heilige. 10 Zum Problem der Identität heute vgl. vor allem die Arbeiten von Peter L. Berger, Th. Luckmann, Odo Marquard. 11 Uwe Schimank, Biographie als Autopoiesis. Eine systemtheoretische Rekonstruktion von Individualität, in: Hanns-Georg Brose/B. Hildenbrand (Hg.), Vom Ende des Individuums zur Individualität ohne Ende, Opladen 1988, 58.

„Dass man der Heiligen gedenken soll.“

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einer religiös vermittelten Vermutung, daß das einzelne Ich eben nicht beliebig sei. Autobiographische Selbstreflexion stellt gleichsam die subjektive Rekonstruktion der dogmatischen Vorgabe einer göttlichen Bestimmung des Menschen dar“.12

Grundlegend für die Praxis der Biografisierung ist ihre narrative Struktur.13 Gerade heute könnte das Vorbild der Heiligen im Rahmen der Ausbildung christlicher Identität eine wichtige Funktion erfüllen. Schon die 1994 erschienene EKD-Denkschrift zum Religionsunterricht wies an mehreren Stellen auf die Bedeutung biografischen bzw. identifikatorischen Lernens hin: „Seit einigen Jahren wird durch die Religionspädagogik in die Schule die Dimension der Lebensgeschichte bzw. Biographie eingetragen. […] In den religiös relevanten Lebenszeugnissen anderer erkennt man sich selbst wieder“.14 „Im Zuge einer Verwissenschaftlichung und Objektivierung von Lernprozessen ist außerdem in den vergangenen zwei bis drei Jahrzehnten Lernen als Bildungsprozeß, der stets auch die Gesamtpersönlichkeit im Blick hat, vernachlässigt worden […]. Darum ist als nächstes wichtiges Lernprinzip an die Rolle identifikatorischen Lernens zu erinnern. Dieses Lernen wird durch die Glaubwürdigkeit eindrucksvoller Vorbilder ausgelöst“.15

Auf diesem Hintergrund erscheint die Wiederentdeckung der Heiligen hilfreich, um das Hineinwachsen in evangelische Spiritualität zu fördern. Durch das Erzählen des Lebens der Heiligen wird „eine (Kontrast-)Figur des Lebens sichtbar, welche Reibungsflächen bietet, Identifikation ermöglicht und die eigene Biographie kontrastiv bereichert.“16

2.

Eine Spurensuche: Formen der Heiligenverehrung im Lauf der Geschichte des Protestantismus

Auch wenn die Verehrung der Heiligen für die römisch-katholische und die orthodoxe Spiritualität eine andere theologische Bedeutung und einen ungleich größeren Stellenwert besitzt, ist nicht zu übersehen, dass es vergleichbare Phänomene auch im Bereich des Protestantismus gegeben hat und gibt. Dazu kommt, dass die Heiligenverehrung bzw. das Heiligengedächtnis wenigstens von

12 Henning Luther, Religion und Alltag. Bausteine zu einer Praktischen Theologie des Subjekts, Stuttgart 1992, 35. 13 Walter Sparn, Dichtung und Wahrheit. Einführende Bemerkungen zum Thema: Religion und Biographie, in: ders. (Hg.), Wer schreibt meine Lebensgeschichte? Biographie, Autobiographie, Hagiographie und ihre Entstehungszusammenhänge, Gütersloh 1990, 13. 14 Kirchenamt, Identität, 50 (Hervorhebungen im Text). 15 A. a. O., 56 (Hervorhebungen im Text). 16 Schilson, Neue Heilige, 24.

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der lutherischen Reformation nicht abgeschafft, sondern lediglich reformiert werden sollte. Der katholischen Heiligenverehrung verwandte Erscheinungen entwickelten sich in der Geschichte der evangelischen Kirche spätestens seit dem älteren Pietismus an der Wende vom 17. zum 18. Jh. August Hermann Francke (1663– 1727) und die von ihm begründeten, vorwiegend durch Spenden finanzierten und später nach ihm benannten Stiftungen in Halle a. d. Saale wurden für viele Menschen eine Art evangelischer Gnadenort, den man besuchte, um die dort geschehenden Wunder in Augenschein zu nehmen. So machte z. B. der spätere Vater des Württembergischen Pietismus Johann Albrecht Bengel (1697–1752) als Student eine Art Pilgerreise nach Halle, um den vom ihm verehrten August Hermann Francke zu sehen. In der Nachfolge Halles wurden vor allem die Gemeinorte der Herrnhuter im 18. und 19. Jh. zu evangelischen Gnadenorten. In Festzeiten wie der Karwoche, den Ostertagen und an Pfingsten kamen zahlreiche Besucher und Besucherinnen, um an den reichen liturgischen Versammlungen teilzunehmen, bei verehrten christlichen Persönlichkeiten der Brüdergemeine wie Nikolaus Ludwig Graf von Zinzendorf Seelsorge in Anspruch zu nehmen und von ihnen geistliche Impulse für den Alltag zu empfangen. Z. B. suchten Tausende von jungen Männern aus Süddeutschland und der Schweiz in den 1740erJahren über Pfingsten die Brüdergemeinsiedlung Herrnhaag auf, in der Wetterau nördlich von Frankfurt a.M. gelegen. Viele dieser jungen Männer, häufig Handwerkersöhne, kehrten nicht mehr nach Hause zurück, sondern stellten sich der Brüdergemeine zu diakonischen, evangelistischen und weltmissionarischen Aufgaben zur Verfügung.17 Auch in späterer Zeit wurden immer wieder einzelne Männer und Frauen zum Pilgerziel evangelischer Christen. Die beiden Blumhardts im württembergischen Bad Boll seien stellvertretend für eine ganze Reihe anderer im 19. Jh. genannt. Von ihnen erwarteten die Besucher und Besucherinnen körperliche und seelische Heilung. Das Kurhaus in Bad Boll bot die Möglichkeit, für längere Zeit in der geistlich geprägten Hausgemeinschaft der Familie Blumhardt mitzuleben.18 Nach dem Zweiten Weltkrieg wurden die neu entstandenen Kommunitäten und ihre charismatischen Gründerpersönlichkeiten zu evangelischen Gnadenorten.19

17 Vgl. Erich Beyreuther, Die große Zinzendorf-Trilogie, Bd. 3, Marburg 1988, 165f. 18 Rudolf Bohren, Die Hauskirche J. Ch. Blumhardts. Anmerkungen zur seelsorgerlichen Funktion des Hauses, EvTheol 7 (1961), wieder abgedruckt in: OJC. Anstiftungen zu gemeinsamem Christenleben. Freundesbrief der ökumenischen Kommunität Offensive Junger Christen, Heft 148 (1994), 17–32. 19 Evangelische Spiritualität. Überlegungen und Anstöße zu einer Neuorientierung, vorgelegt von einer Arbeitsgruppe der Evangelischen Kirche in Deutschland“, hg. von der Kirchenkanzlei im Auftrag des Rates der Evangelischen Kirche in Deutschland, Gütersloh 21980, 54.

„Dass man der Heiligen gedenken soll.“

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Es soll nicht verschwiegen werden, dass diese Beispiele sich von der vorreformatorischen Heiligenverehrung unterscheiden. Motivation und Ziel des Pilgerns zu geistlichen Vorbildern und den von ihnen geprägten Orten sind von evangelischer Spiritualität geprägt. Nirgends ist mehr eine Reliquie, ein Gnadenbild oder das Grab eines Heiligen Ziel des Besuchs. Stattdessen stehen der Wunsch nach Erfahrung geistlicher Gemeinschaft mit Gleichgesinnten und die Sehnsucht nach neuen Impulsen für die eigene Spiritualität im Vordergrund.20 Um dieses Zieles willen sind viele Menschen bereit, für eine Zeit lang aus dem Alltag auszusteigen und weite Anreisewege in Kauf zu nehmen. Ein weiterer Unterschied besteht darin, dass die Hin- und Rückreise selbst noch keine geistliche Bedeutung besitzt wie bei traditionellen Wallfahrten zu der Wirkungsstätte verstorbener Heiliger. Der Weg ist kein inhaltlicher Bestandteil der Pilgerfahrt. Die Erinnerung an die Heiligen wurde im Protestantismus auch von einzelnen Gesangbuchliedern wachgehalten. Im Evangelischen Gesangbuch (EG 150) steht das früher beliebte Lied „Jerusalem, du hochgebaute Stadt“ von Johann Matthäus Meyfart, in dem es in Strophe 5 heißt: „Propheten groß / und Patriarchen hoch, / auch Christen insgemein, / alle, die einst / trugen des Kreuzes Joch / und der Tyrannen Pein, / schau ich in Ehren schweben, / in Freiheit überall, / mit Klarheit hell umgeben, / mit sonnenlichtem Strahl“.21

Nicht zuletzt durch das Engagement der liturgischen Bewegungen, und hier vor allem der Evangelischen Michaelsbruderschaft im vergangenen Jahrhundert,22 existieren inzwischen auch liturgische Formen des Heiligengedächtnisses in der evangelischen Kirche. Im Evangelischen Gottesdienstbuch werden liturgische Stücke nicht nur für die Gedenktage der Apostel und Evangelisten, sondern auch des Erzmärtyrers Stephanus (26.12.), des Apostels und Evangelisten Johannes (27.12.), der Geburt Johannes des Täufers (24.6.) und der (aller) Heiligen (1.11.) aufgeführt.23

20 So auch: Communio Sanctorum. Die Kirche als Gemeinschaft der Heiligen, hg. von der bilateralen Arbeitsgruppe der Deutschen Bischofskonferenz und der Kirchenleitung der Vereinigten Evangelisch-Lutherischen Kirche Deutschlands, Paderborn/Frankfurt a.M. 2000, 118. 21 Vgl. dazu im Einzelnen: Glauben in der Gemeinschaft der Heiligen. Materialsammlung für Gottesdienst und Gemeindearbeit, ökumenisches Gespräch und Unterricht, zusammengestellt von einem Arbeitskreis in der Arbeitsgemeinschaft Christlicher Kirchen in BadenWürttemberg, Stuttgart 1985, 39. 22 Vgl. hierzu die Bestrebungen, einen evangelischen Namenskalender zu schaffen, der 1969 vom Rat der EKD offiziell anerkannt wurde, sich aber nie im kirchlichen Bewusstsein etablieren konnte. Dazu die Vorarbeiten: Erb, Zeugen. 23 Evangelisches Gottesdienstbuch, 411–439.

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Traditionell hat schließlich die Erinnerung an die Heiligen im Rahmen der evangelischen Abendmahlsliturgie des Messtypus im Präfationsgebet seinen Ort, wo es unmittelbar vor dem Dreimalheilig (dem Sanctus) heißt: „[…] Darum preisen wir dich mit allen Engeln und mit den himmlischen Chören singen wir das Lob deiner Herrlichkeit.“24 Oder deutlicher: „[…] Darum preisen wir dich mit allen Heiligen und Vollendeten und singen das Lob deiner Herrlichkeit.“25

3.

Die theologische Bedeutung der Heiligen im Protestantismus, im römischen Katholizismus und in der Orthodoxie. Unterschiede und Gemeinsamkeiten

Vergleicht man die Bedeutung der Heiligen in Protestantismus, Katholizismus und Orthodoxie, fallen zunächst gravierende Unterschiede zwischen Protestantismus einerseits und den beiden vorreformatorischen Konfessionen andererseits auf. Im Gefolge der reformatorischen Kritik an der spätmittelalterlichen Heiligenverehrung sind die Heiligen dem Protestantismus mehr und mehr aus dem Blick geraten. Dafür gibt es mehrere Gründe. Zur Konzentrationsbewegung reformatorischer Spiritualität gehört grundlegend das solus Christus, allein Christus. Außer Jesus Christus gibt es keinen anderen Mittler zwischen Gott und den Menschen (1Tim 2,5). Die Heiligen, allen voran Maria, verlieren dadurch für die Frömmigkeit im Raum der evangelischen Kirchen ihre konstitutive Bedeutung. Die Heiligen sind nach protestantischem Verständnis „tote Heilige“.26 Bis in die jüngste Vergangenheit hat die evangelische Theologie und Kirche aus Abgrenzungsbedürfnis gegenüber dem griechischen Unsterblichkeitsgedanken die Ansicht vertreten, dass „der Himmel“ nur von der Trinität bevölkert sei und sämtliche Verstorbenen lediglich „im Gedächtnis Gottes“ aufgehoben wären.27 Martin Luther – und mit ihm die anderen Reformatoren – haben die Heiligen „vom Himmel auf die Erde heruntergeholt“.28 Nicht die vollendeten, sondern die lebenden Heiligen sind seitdem Zielpunkt des christlichen Interesses. An die Stelle der Heiligenverehrung ist im Protestantismus die Nächstenliebe getreten. Im Gegensatz zum Protestantismus können sich katholische und orthodoxe Christen ihr Christsein nicht anders als in bewusster Gemeinschaft mit den vollendeten Heiligen einschließlich der Gottesmutter Maria vorstellen. Diese 24 25 26 27 28

A. a. O., 79. A. a. O., 622. Haustein, Hagiologie, 71. So auch Ritschl, Heiligenverehrung, 69. So Karl Holl; vgl. dazu Barth, Heiligen, 76.

„Dass man der Heiligen gedenken soll.“

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bestimmen den Festkalender, die Ziele der Wallfahrten, prägen die Gottesdiensträume und die Privatfrömmigkeit und sind als Fürbitter und Nothelfer für die verschiedensten Verrichtungen geschätzt.29 Dahinter steht eine mystischsakramentale Ekklesiologie, in der die Kirche als himmlischer Leib Christi, der bis auf die Erde reicht, gedacht wird. Für den orthodoxen Theologen Sergej Bulgakow bedeutet die Frömmigkeit ohne Integration der Heiligen daher eine ungeheure Reduktion. Christen, die die Heiligenverehrung ablehnen, „erleiden dadurch einen großen geistigen Schaden; ob sie zwar bei Christus bleiben, so verlieren sie doch ihr eigentliches Verhältnis zu ihm. Sie sind dazu verurteilt, geistlich ohne Familie zu bleiben, ohne Volk, ohne Heimat, ohne Väter und Brüder in Christo. Sie gehen den Weg des Heils ganz allein, jeder für sich […]“.30

Auch wenn evangelische Spiritualität damit nicht in der Tiefe erfasst ist, lässt sich doch nicht leugnen, dass Bulgakow hier eine wesentliche Schwachstelle anspricht: der Verlust von Sozialität und Gemeinschaft zugunsten einer einseitigen Orientierung an Individualität, Innerlichkeit und Subjektivität. Es gibt allerdings nicht nur gravierende Unterschiede zwischen der Bedeutung der Heiligen im Protestantismus einerseits und in Katholizismus und Orthodoxie andererseits. Bei genauerem Hinsehen fallen auch Verschiedenheiten zwischen der katholischen und der orthodoxen Heiligenverehrung auf. Während die Heiligen im Katholizismus auch nach dem Zweiten Vatikanischen Konzil – zumindest kirchenamtlich – weiterhin von ihren Verdiensten für die Kirche her definiert werden, stellt sich orthodoxe Heiligenverehrung ganzheitlicher dar. Die Ursache für die Auffassung der katholischen Kirche liegt in der starken Verrechtlichung der Lehre von der Kirche, die mit der spezifisch abendländischen Fassung des Glaubensbegriffs zusammenhängt. Der Schwerpunkt liegt in der westlichen Christenheit ganz auf dem Zentrum des Glaubens, der Frage nach der Vergebung der Sünden. Die anderen Aspekte des Glaubens treten dahinter zurück. In der dogmatischen Konstitution über die Kirche Lumen Gentium heißt es: „Denn in die Heimat aufgenommen und dem Herrn gegenwärtig (vgl. 2Kor 5,8), hören sie [die Heiligen] nicht auf, durch ihn, mit ihm und in ihm beim Vater für uns Fürbitte einzulegen, indem sie die Verdienste darbringen, die sie durch den einen Mittler zwischen Gott und den Menschen, Christus Jesus (vgl. 1Tim 2,5), auf Erden erworben

29 Der Heilige Antonius von Padua, für das Wiederauffinden von verlegten Dingen zuständig, ist bis heute einer der volkstümlichsten Heiligen im Raum des Katholizismus, vgl. Andreas Murk (Hg.), Assidua. Eine Biographie des heiligen Antonius von Padua, Würzburg 2018. 30 Zit. nach Ernst Benz/L.A. Zander (Hg.), Evangelisches und orthodoxes Christentum in Abgrenzung und Auseinandersetzung, Hamburg 1952, 221.

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haben, zur Zeit, da sie in allem dem Herrn dienten für seinen Leib, die Kirche, in ihrem Fleisch ergänzten, was an den Leiden Christi noch fehlt (vgl. Kol 1,24)“.31

Demgegenüber ist die orthodoxe Heiligenverehrung vom Ziel des Glaubens geprägt, der Frage nach der Vergöttlichung des Menschen. Dieses Ziel überstrahlt alle anderen Aspekte. An den Heiligen wird die Wirkung des Heiligen Geistes exemplarisch sichtbar.32 „In den Heiligen […] sieht die irdische Kirche ihr himmlisches Ziel vor Augen, begreift sie […] ihre eigene Identität: Das in Christus wiederhergestellte Bild des heiligen Menschen.“33 Die Würde der Heiligen besteht darin, dass sie Christus ‚höchst ähnlich‘ sind.34 Dass die Orthodoxie die Heiligen primär als Spiegel von Gottes Gnade versteht,35 deutet darauf hin, dass die orthodoxe Rede von der theiosis, der Vergöttlichung, etwas Ähnliches besagen will wie die westliche Rede von der Rechtfertigung.36 Trotz der genannten Unterschiede zwischen den Konfessionen hat HansMartin Barth recht, wenn er feststellt, „daß die Frage nach den Heiligen ihre eigentliche kontrovers-theologische Brisanz verloren hat.“37 Das gilt einmal für die orthodoxe Theologie, die das Zentrum der interkonfessionellen Auseinandersetzung in der Trinitätstheologie und dem Amts- und Sakramentsverständnis sieht.38 Auch für die katholische Theologie der Gegenwart ist die Heiligenverehrung in kontrovers-theologischer Hinsicht kein zentraler Punkt: Die Lehre von den Heiligen gehört nach katholischer Lehre nicht zu den Zentralaussagen des Glaubens.39 Das Zweite Vatikanische Konzil hat im Hinblick auf seine Aussagen zur Heiligenverehrung protestantische Einwände berücksichtigt, wenn in Lumen Gentium sowohl die Konzentration des Glaubens auf Jesus Christus als auch die der Anbetung allein auf den dreieinigen Gott gegenüber der Heiligenverehrung gesichert werden sollen.40 Die Berücksichtigung evangelischer Anliegen zeigt sich auch daran, dass die Bedeutung der Heiligen nicht länger an ihrer äußeren Verehrung, sondern primär an ihrem Vorbild für den Glauben festgemacht wird. Gleichzeitig nimmt der Text von Lumen Gentium orthodoxe Überzeugungen auf, indem die Stellung zu den Heiligen im Horizont der Einheit von himmlischer und 31 32 33 34 35 36 37 38 39 40

Lumen Gentium 50, Hervorhebungen von P.Z. Vgl. dazu Ritschl, Heiligenverehrung, 64. A. a. O., 68. A. a. O., 71. So gleichermaßen der Ausdruck in der orthodoxen Hymnik und in Luthers und Melanchthons „Unterricht der Visitatoren; vgl. dazu im Einzelnen Lilienfeld, Heiligenverehrung, 70. Weiterführende Literatur zum Problem der theiosis und ihrer Interpretationsprobleme bei Ritschl, Heiligenverehrung, 62ff. Barth, Heiligen, 89. Das Gleiche gilt für die orthodoxe Theologie; vgl. dazu Lilienfeld, Heiligenverehrung, 64. Schon nach dem Trienter Konzil wurde die Verehrung der Heiligen den Gläubigen freigestellt, vgl. im einzelnen Müller, Die Heiligen, 102. Vgl. hier und im Folgenden Lumen Gentium 50f.

„Dass man der Heiligen gedenken soll.“

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irdischer Kirche in Jesus Christus und des eschatologischen Charakters der Kirche thematisiert wird.41 Auf evangelischer Seite wird eine Annäherung der Konfessionen in der Frage der Heiligenverehrung dadurch begünstigt, dass das Augsburger Bekenntnis sie nicht zu den kirchentrennenden Artikeln zählt.

4.

Das Wesen der Heiligen. Versuch einer Definition aus evangelischer Sicht

Bevor entfaltet werden soll, worin sich eine Heiligenverehrung im Rahmen evangelischer Spiritualität auszeichnet, ist als Verständigungsgrundlage eine Definition des Wesens der Heiligen aus evangelischer Sicht nötig. Diese kann naturgemäß nicht anders als im Gespräch mit den biblischen Texten und den Einsichten reformatorischer Theologie entwickelt werden. Die Reformation hat zu Recht gegenüber dem mittelalterlichen Zwei-Stufen-Christsein die Berufung jedes Christen zur Heiligkeit herausgestellt. Nach neutestamentlichem Verständnis sind sämtliche Glieder der Kirche „Heilige“ (z. B. 1Kor 1,2).42 Reformatorische Theologie nimmt auch darin neutestamentliche Aussagen auf, dass sie die Heiligkeit der Christen nicht in eigenen frommen Leistungen, sondern in Gottes Handeln am Menschen begründet sieht. Der Mensch ist nicht aufgrund eigener Qualitäten heilig, sondern aufgrund seiner Erwählung durch Gott in Jesus Christus.43 Besonders anschaulich hat Luther den Vorgang der Heiligung in seiner Schrift „Von der Freiheit eines Christenmenschen“ im Bild vom fröhlichen Wechsel beschrieben: Im Glauben an Jesus Christus nimmt dieser die Unheiligkeit des Sünders auf sich; der Sünder aber bekommt dafür dessen Heiligkeit zugeeignet. „Hier erhebt sich nun der fröhliche Wechsel und Streit. Dieweil Christus ist Gott und Mensch, welcher noch nie gesündigt hat, und seine Frommheit unüberwindlich, ewig und allmächtig ist, so er denn der gläubigen Seele Sünde durch ihren Brautring, das ist der Glaube, sich selbst zu Eigen macht und nicht anders tut, als hätte er sie getan, so müssen die Sünden in ihm verschlungen und ersäuft werden. […] Also wird die Seele von allen ihren Sünden nur […] des Glaubens halber, ledig und frei und begabt mit der ewigen Gerechtigkeit ihres Bräutigams Christi. Ist nun das nicht eine fröhliche Wirt-

41 Lumen Gentium 7. 42 Vgl. auch die anderen Anfänge der Paulusbriefe. 43 1Kor 1,30: „Durch ihn aber seid ihr in Christus Jesus, der uns von Gott gemacht ist zur Weisheit und zur Gerechtigkeit und zur Heiligung und zur Erlösung.“

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schaft, da der reiche, edle, fromme Bräutigam Christus das arme, verachtete, böse Hürlein zur Ehe nimmt und sie entledigt von allem Übel, zieret mit allen Gütern?“44

Mit der reformatorischen Ausweitung der Kategorie der Heiligkeit auf alle Christen aufgrund der Rechtfertigung allein aus Gnaden ist unmittelbar die Erwählungsgewissheit verknüpft. Damit wird ein für das katholische Heiligenverständnis wesentliches Moment hinfällig. Nach katholischem Verständnis sind nicht alle Gläubigen, sondern nur die Heiligen mit Gewissheit von Gott begnadigt. Diese Gewissheit beruht auf einem strengen juristischen Verfahren – dem Kanonisationsprozess –, in dessen Verlauf herausgefunden werden soll, ob der oder die Heiligzusprechende wirklich in der himmlischen Gegenwart Gottes lebt. Im Gegensatz dazu unterscheiden sich „Heilige“ nach evangelischem Verständnis nicht durch das Moment der Gewissheit ihres Begnadetseins von anderen Christen. Durch den reformatorischen Neuansatz wird ein weiteres konstitutives Moment mittelalterlicher Heiligenverehrung hinfällig. Für reformatorische Theologie soll formal durch das Prinzip „sola scriptura“ (allein die Schrift) und material durch die Konzentration des Glaubens auf Jesus Christus („solus Christus“ – allein Christus) eine Erneuerung der Kirche aus dem Geist des Urchristentums erfolgen. Da in der Schrift keine Rede von der Fürbitte der Heiligen ist und nirgends die direkte Anrufung einzelner wie auch der Gesamtheit der Heiligen gelehrt wird, kann nach evangelischem Verständnis nur Jesus Christus als der alleinige Mittler zu Gott im Gebet angerufen werden: „Durch Schrift mag man aber nicht beweisen, daß man die Heiligen anrufen oder Hilf bei ihnen suchen soll. ‚Dann es ist allein ein einiger Versuhner und Mittler gesetzt zwischen Gott und Menschen, Jesus Christus,‘ 1. Timoth. 2. […]“ (Confessio Augustana 21).45

Trotz ihrer Wiederentdeckung der „Heiligkeit aller Christen“, des reinen Zugerechnetseins menschlicher Heiligkeit und der Ablehnung der Heiligenanrufung, hat die lutherische Reformation, wie bereits erwähnt, die Heiligenverehrung nicht an sich abgelehnt. Ihr Ziel war es, die Auswahl der Heiligen und die Art der Verehrung nach reformatorischen Grundsätzen umzugestalten. Die Reinterpretation des Heiligengedächtnisses in CA 21 und Apologie der CA 21 stellt geradezu ein Musterbeispiel für die Anwendung der reformatorischen Entdeckungen auf eine theologische Einzelfrage dar. Die Konsequenz ist ein neues Verständnis der Heiligen. Nach CA 21 ist derjenige Christ ein besonders zu ehrender Heiliger, dessen Vorbild hilft, das eigene Vertrauen auf die Rechtfer44 WA 27, 25f, Von der Freiheit eines Christenmenschen, 1520; zit. nach Ausgewählte Werke, Bd. 2, 274. 45 Zit. nach: BSLK, 83bf.

„Dass man der Heiligen gedenken soll.“

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tigung allein aus Gnaden zu stärken und zur Nachfolge Jesu Christi im Beruf zu ermuntern.46 Eine Reintegration des evangelischen Heiligengedächtnisses in die evangelische Spiritualität muss von dieser Definition der Heiligen ausgehen. Beide Kriterien sichern das Zentrum evangelischer Frömmigkeit, die Rechtfertigung des Sünders allein aus Gnaden. Allerdings sollten sie um die Kategorie des Außerordentlichen erweitert werden. Auf diese Weise könnte die Neuentdeckung der Heiligen im Raum der evangelischen Kirchen helfen, neben dem kontinuierlichen Wirken des Geistes durch Wort und Sakrament die Erfahrung seines spontanen Wirkens etwa durch Charismen und neben dem Christsein in Familie und Beruf die Möglichkeit besonderer Berufungen in die evangelische Frömmigkeit zu integrieren. Evangelische Theologie sollte in Zukunft das Wirken des Geistes durch Wort und Sakrament weniger kausativ als vielmehr kriteriologisch verstehen.47 Der Protestantismus hat sich immer schwer getan, einen Raum für das Außergewöhnliche – sei es in Gestalt außergewöhnlicher Wirkungen des Geistes, sei es in Gestalt besonderer Berufungen – offenzuhalten. Sofort sah er dadurch die Rechtfertigung allein aus Gnaden bedroht. Unter Berufung auf die reformatorische Erkenntnis, dass allen Gläubigen der gleiche Geist durch die gleiche Gnade verliehen ist und alle zum gleichen geistlichen Priestertum berufen sind, kam es zu einem Nivellierungsprozess, der unterschiedliche Begabungen und außergewöhnliche Berufungen im Raum der Kirche kaum noch zuließ.48 Damit wurde jedoch das Anliegen der Reformation verfälscht. Die Folge war spätestens im nachaufklärerischen Protestantismus eine weitgehende Identifizierung der Nachfolge Jesu Christi mit dem bürgerlichen Lebensstil.49 Der christliche Glaube droht dadurch in einem allgemeinen Humanismus aufzugehen. Gegenüber diesen Gefährdungen bildet die Reintegration der Heiligen in die 46 „Vom Heiligendienst wird von den Unseren also gelehret, daß man der Heiligen gedenken soll, auf daß wir unsern Glauben stärken, so wir sehen, wie ihnen Gnad widerfahren, auch wie ihnen durch Glauben geholfen ist; darzu, daß man Exempel nehme von ihren guten Werken, ein jeder nach seinem Beruf […]“ (BSLK, 83b). 47 Vgl. Reinhold Bernhardt, Der Geist und die Geister. Esoterik in systematisch-theologischer Perspektive, in: Esoterik. Herausforderung für die christliche Kirche im 21. Jh., hg. im Auftrag der Bischofskonferenz der VELKD von Hans Krech/Udo Hahn, Hannover 2003, 132. 48 Ähnlich Berger, Heilige, 51f. 49 Edmund Schlink sieht in dieser Entwicklung sogar eine der Ursachen für den weitgehenden Siegeszug des Nationalsozialismus in Kirche und Gesellschaft: „Schließlich wurde im Kirchenkampf sichtbar, daß die Kirche in Deutschland in einem viel weiteren Umfang verbürgerlicht war, als man bereits vorher wußte. […] Die Verkündigung der Kirche war demgemäß weitgehend privatisiert worden. Sie erfaßte den Menschen zu einseitig in seiner privaten häuslichen Sphäre und zu wenig in der Totalität seiner Lebensbereiche. […] Die Forderung Jesu, um des Evangeliums willen Beruf, Heimat und Familie zu verlassen und in freiem Entschluß um seinetwillen den Weg des Leidens zu wählen, schien dem Christenleben von heute fremd und fern“ (ders., Der Ertrag des Kirchenkampfes, Gütersloh 21947, 12f).

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evangelische Spiritualität ein notwendiges Gegengewicht. Ihre Aufgabe besteht nicht zuletzt darin – mit Klaus Berger gesprochen –, „das Außergewöhnliche als Maß des Christlichen“50 wiederzugewinnen. Es ist ja nicht zu übersehen, dass biblische Texte wie Mk 16,17f; Röm 15,19; 1Kor 12,10.28; Gal 3,5; Mk 3,16ff; Apg 9,1ff wunderhafte Wirkungen des Geistes und außergewöhnliche Berufungen selbstverständlich bezeugen bzw. voraussetzen. Wir sind gewohnt, diese Texte meist aus dem Blickwinkel volkskirchlicher Erfahrung bzw. besser Nicht-Erfahrung zu lesen. Das Vorbild der Heiligen hilft, einen Zugang zu bisher fremd gebliebenen Erfahrungsdimensionen biblischer Texte zu gewinnen und geistliche Erfahrungen zu machen, die über ein rationalistisch geprägtes Wirklichkeitsverständnis hinausreichen.

5.

Ekklesiologische, eschatologische und anthropologische Aspekte einer Wiederentdeckung der Heiligen im Protestantismus

5.1

Ekklesiologische Aspekte

Die Heiligen halten das Bewusstsein der Universalität der Gemeinde Jesu Christi wach. Dadurch, dass sie den unterschiedlichsten Epochen und Ländern zugehören, wird an ihnen anschaulich, dass die Kirche alle Zeiten und Weltgegenden umfasst:51 Die christliche Kirche existierte schon lange vor mir und wird auch nach meinem Tod noch Bestand haben; ebenso reicht sie über die eigene Konfession, erst recht aber über das Gebiet der eigenen Landeskirche hinaus. An den Heiligen wird mir bewusst, dass ich eingebettet bin in eine lange Generationenfolge von Menschen, die vor mir im Glauben gelebt haben und auch nach mir im Glauben leben werden. Gerade Krisenzeiten der Kirche offenbaren, dass das mangelhafte Traditionsbewusstsein vieler evangelischer Christen leicht zu panischen oder resignativen Überreaktionen führt. Man wird der Wirklichkeit der Kirche jedoch nicht gerecht, wenn man sie nur innerhalb der Grenzen der jeweiligen Gegenwart 50 Vgl. dazu Klaus Berger, Darf man an Wunder glauben?, Stuttgart 1996, 166ff; so zuerst im Hinblick auf die Bedeutung der Heiligen: Planck, Heiligenverehrung, 135. 51 Christian Felmy hat gezeigt, dass die Konkordienformel sich in ihrer theologischen Beweisführung immer wieder auf altkirchliche Theologen bezieht (Felmy, die Heiligen, 26). Die französische Historikerin Régine Pernoud hat in ihren Arbeiten darauf hingewiesen, dass die Heiligen schon im Mittelalter internationale Bedeutung besaßen (vgl. z. B. Régine Pernoud, Die Heiligen im Mittelalter. Frauen und Männer, die ein Jahrtausend prägten. Mit einem Kapitel über die deutschen Heiligen im Mittelalter von Klaus Herbers, Frankfurt a.M. 1994, 9ff).

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beurteilt.52 Die Kirche des dritten Glaubensartikels, die una sancta, ist mehr als die aktuelle soziologische Größe, weil sie sämtliche Christen aller Weltzeiten und Weltgegenden umfasst. Die Heiligen führen die Raum und Zeit transzendierende Gestalt der Kirche anschaulich vor Augen. Dadurch wird eine nüchterne und angemessenere Deutung der Situation, verbunden mit einer notwendigen „Relativierung“ der gegenwärtigen kirchlichen Probleme möglich. Die Wiederentdeckung der Heiligen trägt dazu bei, die neuzeitliche Denkfigur von Gott und der Einzelseele als Abstraktion zu entlarven. Das Bewusstsein, von einer „Wolke von Zeugen“ umgeben zu sein (Hebr 12,1), stellt eine notwendige Korrektur der Individualisierung und Subjektivierung des Glaubensverständnisses dar, wie es für den neuzeitlichen Protestantismus weithin charakteristisch geworden ist.53 Die Heiligen zeigen, dass es biblisch geprägtes Christsein nicht unabhängig von der Kirche, sondern nur eingebunden in die „Gemeinschaft der Heiligen“ gibt.54

5.2

Eschatologische Aspekte

Die Heiligenehrung hält das Wissen um den eschatologischen Charakter der Kirche lebendig: Noch ist die Kirche unterwegs zu ihrer Vollendung. Für die neutestamentlichen Texte gibt es keine rein innerweltliche Verwirklichung des Reiches Gottes, die ja ohne Einbeziehung der Gestorbenen gedacht werden müsste.55 Die Kirche stellt die Gemeinschaft der Lebenden und der bereits Gestorbenen dar.56 Wie kann man sich die Gemeinschaft der auf Erden Lebenden und der im Himmel vollendeten Heiligen konkret vorstellen? Eine Antwort ist deshalb schwierig, weil unser dem Zeitablauf verhaftetes Denken den persönlichen mit dem universalen Aspekt der Eschatologie nur schwer zusammenzubringen vermag.57 Theologisch geht es dabei um die Frage des sog. „Zwischenzustandes“. Die Reformatoren haben den universalen Aspekt, die Auferweckung 52 Barth, Heilige Gott, 71. 53 So der gemeinsame Tenor der Vor- und Geleitworte zu Erb, Zeugen, Bd. 1–4. 54 Vgl. dazu Luthers Formulierungen im Kleinen Katechismus in seiner Auslegung zum 3. Glaubensartikel: „[…] der heilige Geist hat mich durchs Evangelion berufen. gleichwie er die ganze Christenheit auf Erden berüft […] in welcher Christenheit er mir und allen Gläubigen täglich alle Sunde reichlich vergibt und am jüngsten Tage mich und alle Toten auferwecken wird und mir sampt allen Gläubigen in Christo ein ewiges Leben geben wird […]“ (BSLK, 511f; Hervorhebungen von P.Z.). 55 Wilfried Joest, Dogmatik, Bd. 2 Der Weg Gottes mit dem Menschen (UTB 1413), Göttingen 1996, 646. 56 Vgl. dazu etwa die ursprüngliche – westliche – Auslegung von „sanctorum communio“; Nachweise bei Schlink, Dogmatik, 589. 57 Ebd.

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aller am Jüngsten Tag betont. Die Heiligen sind deshalb für sie, wie bereits gesagt, primär „tote Heilige“.58 In Abgrenzung gegen die spätmittelalterliche Heiligenverehrung sollte jede direkte Interaktion zwischen Lebenden und Toten abgewiesen werden. Trotz des verständlichen Anliegens bleibt die reformatorische „Ganz-tot-Lehre“ hinter dem biblischen Zeugnis zurück. Schon Karl Barth scheint ein Ungenügen an der reformatorischen „Ganz-tot-Vorstellung“ empfunden zu haben. In einem ersten Gedankengang versucht er die Verbundenheit zwischen lebenden und gestorbenen Christen am Weiterwirken der Toten durch Wort und Werk festzumachen: „In der einen ‚Gemeinschaft der Heiligen‘ haben nicht nur die jeweils Lebenden recht, sondern auch die Toten […] ihre Worte und Werke, ihre Geschichte, die ja mit ihrem Hingang keineswegs abgeschlossen ist, vielmehr oft genug erst lange nach ihrem Hingang inmitten ihrer Nachfahren in ihr entscheidendes Stadium tritt“.59

In seinen weiteren Ausführungen scheint er jedoch mit einer aktiveren Beteiligung der Gestorbenen am Handeln Christi in dieser Welt zu rechnen: „Gerade weil und indem die ecclesia triumphans ‚mit Christus‘ ist (Phil 1,23), mit ihm als dem Haupt seines Leibes an der der ecclesia militans noch verborgenen Herrlichkeit Gottes teilnimmt, kann sie dieser ecclesia militans nicht nur fern sein […] ist sie mit ihm auch ihrerseits mit und unter ihr, wartet sie – und das nicht nur passiv, sondern auch aktiv beteiligt – als Voraussetzung jeder Gegenwart auf die Vollendung des Ganzen, treibt sie es seiner Vollendung entgegen“.60

Barth spricht hier von der aktiven Beteiligung der vollendeten Gerechten am gegenwärtigen Handeln Christi aufgrund des Koinonia-Gedankens. Da das ewige Leben die Vollendung der Gemeinschaft zwischen den Gläubigen und Christus bedeutet, ist es nur konsequent, wenn er davon ausgeht, dass die Gestorbenen „mit Christus“ auch „mit und unter“ der Kirche auf Erden auf die Vollendung warten – und zwar „aktiv“ warten. Allerdings bleibt Barth die Antwort schuldig, wie man sich die Gemeinschaft zwischen himmlischer und irdischer Kirche und wie man sich das aktive Warten der himmlischen Kirche konkret vorzustellen hat. Eine beachtliche Anzahl neutestamentlicher Aussagen deutet darauf hin, dass die im Glauben Verstorbenen in einen Zustand besonders intensiver Gemeinschaft mit Christus gelangen (bes. Lk 23,43; Phil 1,23; Apk 6,9ff). Indem die Verstorbenen zu Christus in besonderer Beziehung stehen, haben sie auch Anteil an dessen Gemeinschaft mit der Kirche auf Erden. Die Gemeinschaft der irdischen Gläubigen und der himmlischen Vollendeten ist eine durch Christus ver58 Zwar gesteht Melanchthon in der Apologie zu, dass die Heiligen im Himmel möglicherweise für die ganze Kirche bitten. Aber das bleibt bloß eine Vermutung, weil es dafür keinerlei tragfähigen Schriftbeleg gibt (BSLK, 318). 59 Karl Barth, KD, Bd IV/1, Zürich 1953, 747. 60 Ebd.

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mittelte. Konkret wird sie in der gemeinsamen Feier des Gottesdienstes, d. h. der gemeinsamen Anbetung und Verherrlichung Gottes und Jesu Christi: „Ihr seid gekommen zu dem Berg Zion und zu der Stadt des lebendigen Gottes, dem himmlischen Jerusalem, und zu den vielen tausend Engeln, und zu der Versammlung und Gemeinde der Erstgeborenen, die im Himmel aufgeschrieben sind, und zu Gott, dem Richter über alle, und zu den Geistern der vollendeten Gerechten und zu dem Mittler des neuen Bundes, Jesus […]“ (Hebr 12,22–24).

Der irdische Gottesdienst hat eschatologischen Charakter, worauf vor allem die orthodoxe Theologie immer wieder hinweist.61 Sein Vorbild befindet sich im Himmel (Apk 5,6ff; 7,9ff). Edmund Schlink hält fest: „Dabei besteht die Gemeinschaft zwischen den Gliedern der Kirche auf Erden und den Vollendeten nach den neutestamentlichen Zeugnissen nicht in der Anrufung der vollendeten Heiligen durch die Heiligen auf Erden sondern in der gemeinsamen Ausrichtung auf Gott und Jesus Christus im gemeinsamen Lobpreis“.62

Die Verbundenheit der irdischen Gemeinde mit den Heiligen in der gemeinsamen Anbetung Gottes erlaubt es, den „eschatologischen Mehrwert der Gnade“ auch im westlichen Gottesdienst stärker zur Geltung zu bringen, als das seit den 1960er- und 1970er-Jahren angesichts einer einseitigen sozialethischen Orientierung der Fall war.63 Aber nicht nur im Hinblick auf den Gottesdienst, sondern auch im Hinblick auf die Seelsorge ist die Erkenntnis der Gemeinschaft zwischen himmlischer und irdischer Gemeinde wichtig. Lange Zeit meinte die evangelische Theologie mit gutem Gewissen nur sagen zu können, dass die Verstorbenen „im Gedächtnis Gottes“ aufgehoben sind.64 Es ist seelsorgerlich jedoch äußerst schwer vermittelbar, dass die Gemeinschaft zwischen Jesus Christus und den Gläubigen durch den Tod – wenn auch nur vorübergehend – zu Ende sein soll.65 Letztlich wurden die Trauernden mit ihren Fragen nach dem Ort der Verstorbenen durch diese Auskunft alleingelassen. Die Wiederentdeckung der Heiligen ermöglicht eine andere Botschaft: Der Himmel ist bevölkert, wie es in den or61 Belege bei Felmy, orthodoxe Theologie, 192ff. 62 Schlink, Dogmatik, 590f. In ähnliche Richtung gehen Überlegungen Dietrich Ritschls, der die protestantische Rede von den Heiligen als „doxologische Sprache“ verstanden wissen will: „Freilich, wenn wir von Verstorbenen als den Heiligen sprechen, so bedienen wir uns nicht deskriptiver sondern eher doxologischer Sprache, weil wir letztlich nicht über diese Verstorbenen, sondern über die Herrlichkeit des verklärten und auferweckten Christus sprechen“ (ders., Heiligenverehrung, 71). 63 Christian Möller, Gottesdienst als Gemeindeaufbau. Ein Werkstattbericht, Göttingen 21990, 55f. 64 So auch Ritschl, Heiligenverehrung, 69. 65 Auch Luthers Überlegungen, dass der Zeitraum zwischen individuellem Tod und Jüngstem Tag im Bewusstsein des Verstorbenen wie der Schlaf nur einen Augenblick umfassen würde, haben mir nie recht eingeleuchtet.

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thodoxen Kirchen dem Besucher durch die Fülle der Ikonen unübersehbar nahegebracht wird.

5.3

Anthropologische Aspekte

Der entscheidende reformatorische Beitrag zur Neufassung der Heiligenverehrung liegt in der Erkenntnis, dass ihr Vorbildcharakter primär in der Erfahrung der Vergebung zu suchen ist. „Der Heilige ist eine Gestalt der Gnade.“66 Gerhard Tersteegen, einer der bedeutendsten protestantischen Hagiografen, hat das damit Gemeinte in der Widmung seiner „Auserlesenen Lebensbeschreibungen heiliger Seelen“ an Christus klassisch zum Ausdruck gebracht: „Mit gebücktem Geist und kindlicher Zuversicht schreibe ich Dir hiermit zu, was ganz Dein ist, diese Vorbilder und Zeugnisse Deiner Heiligen, welche alles, was sie sind, allein durch Dich sind. Du hast Dich mit ihnen vereinigt. Du hast in ihnen und durch sie gelebt; darum, ja darum allein haben sie heilig gelebt. Lob ich sie, so lobe ich nur Deine Gaben. Solches haben sie selbst demütig erkannt auf Erden und eben das bekennen sie noch zu dieser Stunde im Himmel, da sie die Krone ihrer Heiligkeit und Herrlichkeit zu Deinen Füßen niederlegen“.67

Dabei entspricht der Intensität der Vergebungserfahrung der Heiligen die Innigkeit ihrer Gottesbeziehung.68 Indem die Heiligen nicht länger moralisch interpretiert werden, können sie zu Kristallisationspunkten der eigenen spirituellen Erfahrung werden. Z. B. eröffnen sie Erfahrungsbereiche, die den eigenen Horizont übersteigen.69 Die Beschäftigung mit ihnen vermittelt das gedankliche Raster, um entsprechende Erfahrungen zu machen, wahrzunehmen und einzuordnen. Letztlich geht es darum, durch das Vorbild der Heiligen zur eigenen Nachfolge inspiriert zu werden. Rudolf Bohren weist darauf hin, dass der Geistempfang nicht anders als durch geistliche Vater- bzw. Mutterschaft erfolgt: „In dürftiger Zeit, in der Zeit nach Pfingsten, empfangen wir den Geist nicht als Sturm und als Feuer, nicht direkt und elementar, sondern vermischt durch die Anregung, die von Personen ausgeht. Er springt in der Weise auf uns über, daß wir mit den Vätern

66 Planck, Heiligenverehrung, 129. 67 Tersteegen, Lebensbeschreibungen, Beginn des Vorworts. 68 Vgl. das Wort Jesu Lk 7,47. Auf die Intensität ihrer Vergebungserfahrung verweist schon Apologie 21: „So wären auch die Exempel, da den Heiligen große sonderliche Barmherzigkeit von Gott erzeiget, fast nütz und tröstlich (BSLK, 325). 69 „Ich muß nicht eingeengt auf den Bannkreis meines eigenen kleinen Erfahrungsbereichs einfach meinen Lebens- und Glaubensstil entwickeln oder setzen“ (Barth, Heilige Gott, 73).

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zusammensitzen und sie fragen, was sie uns von Gott zu sagen haben. Inspiration gibt es nicht ohne Gespräch. Im Gespräch steigen die Zwerge den Riesen auf die Schulter“.70

Gerade weil wir inzwischen weithin in einer „vaterlosen Gesellschaft“71 leben, scheint mir das Vorbild der Heiligen unverzichtbar zu sein.72 Auch wenn hier im Rahmen der Heiligenverehrung für eine Wiederentdeckung des Vorbilds im Raum der evangelischen Kirche plädiert werden soll, dürfen doch dessen Gefahren nicht übersehen werden. Die Identifikation mit einem Heiligen ist nur dann fruchtbar, wenn gleichzeitig das Bewusstsein für die Differenz, das Fremde, das Unüberbrückbare bestehen bleibt.73 Wird die Differenz verdrängt, so kann die Beschäftigung mit dem Vorbild zur Überidentifikation und zur Neurose führen. Ziel biografischen Lernens an Heiligen ist nicht die unkritische Imitation, sondern die konstruktiv-kritische Identifikation. Das Moment der Differenz wird theologisch durch die Kategorie des Charismatischen gesichert, auf die schon CA 21 hinweist, wenn Melanchthon im Hinblick auf die Heiligen dazu auffordert, „daß man Exempel nehme von ihren guten Werken, ein jeder nach seinem Beruf.“ Die Heiligen sind nach lutherischem Verständnis nicht nur Veranschaulichungsinstanzen der Gnade, sondern auch der gelebten Nachfolge. Wenn nicht eine schablonisierte Hagiografie ihre Vita verdunkelt, wird an den Heiligen sichtbar, dass jeder und jede seine bzw. ihre besonderen Charismen besitzt: Ihre menschliche Individualität und Originalität kommt in der Nachfolge Jesu Christi inmitten der Gemeinde zur Entfaltung. Die Heiligen weisen damit auf das Charismatische als Grundkategorie der urchristlichen Gemeinden hin.74 Demgegenüber prägt der scheinbar charismenlose, unmündige Laie an vielen Orten noch immer die Gemeinde- und Gottesdienstwirklichkeit im volkskirchlichen Protestantismus. Die Reintegration der Heiligenverehrung in evangelische Spiritualität könnte angesichts dieser Situation als Initialzündung wirken, das von der Verschiedenheit der Charismen geprägte paulinische Gemeindeverständnis zu erneuern.

70 Rudolf Bohren, Mit dem Geist bekommen wir Väter und mit den Vätern einen Geist, zuletzt wieder abgedruckt in: Peter Zimmerling (Hg), Aufbruch zu den Vätern. Unterwegs zu neuer Vaterschaft in Familie, Kirche und Kultur, Moers 1994, 65. 71 So der Titel des bekannten Buches von Alexander Mitscherlich, das 1963 erstmals erschienen ist. 72 Auf ihre religionspädagogische Bedeutung angesichts dieser Situation wurde bereits unter 1. hingewiesen. 73 Vgl. hier und im Folgenden Barth, Heilige Gott, 73f. 74 Vgl. etwa 1Kor 12–14; Röm 12.

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6.

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Evangelische Heiligenehrung am Beispiel Dietrich Bonhoeffers

Bonhoeffer ist heute der Heilige des Protestantismus schlechthin. Für unterschiedlichste Menschen auf der ganzen Welt ist er weit über die Mauern der Kirche hinaus Vorbild – aus gutem Grund, ohne dass an dieser Stelle die Gründe dafür im Einzelnen untersucht werden können. Er ist als Christ und Theologe so glaubwürdig, weil Biografie und Theologie bei ihm untrennbar miteinander verbunden sind. Dazu kommt, dass er für seine Überzeugungen mit dem Martyrium eingetreten ist. An ihm lässt sich besonders gut zeigen, wie eine evangelische Heiligenehrung heute aussehen könnte. Im Folgenden sollen einige wesentliche Aspekte der Bonhoefferehrung skizziert werden.75 Dabei ist mir bewusst, dass Bonhoeffers Gedächtnis, wie jede andere Heiligenehrung auch, zeit- und kulturverhaftet ist. An erster Stelle steht die Kenntnis des Lebens Bonhoeffers, die heute durch eine Reihe von hervorragenden Biografien, z. T. in Romanform, möglich ist.76 Daneben existieren inzwischen eine Reihe von Filmen, Theaterstücken und Oratorien, die auf unterschiedlichem Weg einen Zugang zu Bonhoeffers Leben und Werk ermöglichen.77 Ein weiterer Aspekt seines Gedächtnisses besteht in der Meditation der von ihm verfassten Texte, Lieder und Gedichte. Als Beispiel sei nur die Form des Bonhoeffer-Breviers genannt, in dem in Andachtsform entsprechende Passagen aus seinem Werk zusammengestellt sind.78 Natürlich können auch seine übrigen Schriften als geistliche Inspirationsquelle genutzt werden.79

75 Bemerkenswerterweise hat sich das Gedächtnis an ihn erst gegen den Willen mancher Kirchenleitungen von der Gemeindebasis her durchsetzen müssen. 76 Schon von Luther selbst ging die Anregung zu einer Hagiografie im reformatorischen Sinne aus. Vgl. Müller, Die Heiligen, 116. Von Luthers Schüler C. Goltwurm führt eine fast ununterbrochene Linie protestantischer Heiligengeschichtsschreibung bis in unsere Tage. Sie reicht von Gerhard Tersteegen über Wilhelm Löhe bis zu Jörg Erb und Walter Nigg. Vgl. auch Apologie 21: „Solch Exempel des Glaubens, da man lernet Gott fürchten, Gott vertrauen, daraus man recht siehet, wie es gottfürchtigen Leuten in der Kirchen, auch in großen Sachen der hohen weltlichen Regiment ergangen, die hätte man fleißig und klar von den Heiligen schreiben und predigen sollen“ (BSLK, 325). 77 Eine Fundgrube stellt hierfür und für die im Folgenden angeführten Möglichkeiten der Ehrung Bonhoeffers der Bonhoeffer-Rundbrief. Mitteilungen der Internationalen Bonhoeffer-Gesellschaft dar, hg. von der Internationalen Bonhoeffer-Gesellschaft zur Sicherung des Nachlasses und Förderung der Forschung – Sektion Bundesrepublik Deutschland e. V., Alte Landstraße 179c, 40489 Düsseldorf. 78 Bonhoeffer Brevier, zusammengestellt und herausgegeben von Otto Dudzus, München 61985. Vgl. neuerdings auch: Sandro Göpfert, 40 Tage mit Dietrich Bonhoeffer. Ein Andachtsbuch, Gießen 2018.

„Dass man der Heiligen gedenken soll.“

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Eine wichtige Form der Heiligenehrung stellt der Besuch von deren Wirkungsstätten dar. Dass inzwischen an vielen Bonhoefferstätten Gedenkplaketten angebracht oder sogar Denkmäler errichtet wurden, hilft nicht nur, die Stätten leichter zu finden, sondern auch vor Ort zur Besinnung zu kommen. An einigen Bonhoefferstätten sind mittlerweile sogar Begegnungs- und Tagungsorte entstanden und wurden Dauerausstellungen eingerichtet. Das gilt im Hinblick auf das Elternhaus Bonhoeffers in der Marienburger Allee 43 in Berlin, wo sein Zimmer z. T. mit Originaleinrichtungsgegenständen ausgestattet wurde80 oder für das Ferienhaus der Familie Bonhoeffer in Friedrichsbrunn im Harz. Manche Erinnerungsorte an Bonhoeffer haben sich mittlerweile zu regelrechten evangelischen Gnadenorten entwickelt.81 Viele der Wirkungsstätten Bonhoeffers sind ganz oder teilweise zerstört bzw. lassen deutlich die Folgen des Krieges erkennen. Das gilt besonders für das Kellergefängnis der Gestapo, mitten im alten Berliner Regierungsviertel gelegen, in dem das Gedicht „Von guten Mächten wunderbar geborgen“ entstanden ist. Heute sind die wieder ausgegrabenen Ruinen Teil der Gedenkstätte „Topographie des Terrors“. Das trifft auch für die Ausstellung zu Bonhoeffer in der zurückhaltend restaurierten Berliner Zionskirche zu, in der Bonhoeffer predigte und Konfirmandenunterricht hielt. Auch viele der Bonhoefferorte in Polen – etwa die Güter der Familie Wedemeyer oder Kleist-Retzow in Pätzig (Neumark) und Kieckow und Klein-Krössin (Hinterpommern) – wurden im Krieg zerstört oder sind seit der Friedlichen Revolution dem Verfall preisgegeben.82 Der besondere Charakter dieser Orte übt auf Besucherinnen und Besucher eine besondere Anziehungskraft aus. Sie spiegeln das Fragmentarische von Bonhoeffers Leben wider und ermöglichen – anders als weltliche oder kirchliche Heldengedenkstätten – die Identifikation mit den Unvollkommenheiten des eigenen Lebens und führen in der Folge davon zur Annahme des eigenen Schicksals. 79 Dabei erscheint mir das an sich begrüßenswerte Unternehmen der Gesamtausgabe seiner Werke (DBW) insofern problematisch, als hier mit einem immensen Anmerkungsapparat der Eindruck erweckt wird, als habe Bonhoeffer wie ein wissenschaftlicher Theologe heute gearbeitet. Dabei geht leider das Bewusstsein verloren, dass er gerade nicht im wissenschaftlichen Raum blieb, sondern seine Theologie außerhalb von ihr im Einsatz für Kirche und Welt bewährt hat. 80 Vgl. dazu: „Dietrich Bonhoeffer, Pfarrer, Berlin-Charlottenburg 9 Marienburger Allee 43“, Begleitheft zur Ausstellung, hg. vom Vorläufigen Kuratorium Bonhoeffer-Haus, Berlin (West) 1988, Erinnerungs- und Begegnungsstätte Bonhoeffer-Haus, Marienburger Alle 43, 1000 Berlin 19; „Dietrich Bonhoeffer, Pfarrer, Berlin-Charlottenburg 9 Marienburger Allee 43“, Textheft zur Dietrich Bonhoeffer-Stadtrundfahrt, hg. vom Kuratorium der Erinnerungs- und Begegnungsstätte Dietrich Bonhoeffer Haus, Marienburger Allee 43, 14055 Berlin, März 2 1993. 81 Vgl. Zimmerling, Evangelische Spiritualität, 54. 82 Ruth von Wedemeyer, In des Teufels Gasthaus. Eine preußische Familie (1918–1945), hg. von Peter von Wedemeyer/Peter Zimmerling, Moers 2013 (6. Auflage der Taschenbuchausgabe).

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In diesem Zusammenhang ist die Wallfahrt, die Reise zu den Wirkungsstätten der Heiligen, als Form evangelischer Spiritualität wiederentdeckt worden. Wohl zuerst in Amerika haben kirchliche Organisationen regelrechte Pilgerreisen auf den Spuren Bonhoeffers angeboten.83 Solche Reisen tragen dazu bei, Leben und Werk des Heiligen mit Leib und Sinnen zu erfassen, sich noch einmal auf anderer Ebene als rein gedanklich mit ihm zu befassen.84 Eine nicht zu unterschätzende Bedeutung für das Gedächtnis an Bonhoeffer im Raum der evangelischen Kirche besitzt schließlich die Benennung von Kirchen und Gemeindehäusern, von kirchlichen Einrichtungen, Schulen, Straßen und Plätzen nach ihm. Solche Namensgebungen helfen dazu, ihn im Bewusstsein der Gemeinden zu verankern, zumal sie gerade an Gedenktagen regelmäßig Anlass bieten, sich mit ihm auch öffentlich auseinanderzusetzen. Das Beispiel Bonhoeffer zeigt, dass es eine Fülle von Möglichkeiten gibt, um das Gedächtnis der Heiligen im Rahmen evangelischer Spiritualität ganz praktisch neu zu verankern.

Literatur Quellen Evangelisches Gottesdienstbuch. Agende für die Evangelische Kirche der Union und für die Vereinigte Evangelisch-Lutherische Kirche Deutschlands, hg. von der Kirchenleitung der Vereinigten Evangelisch-Lutherischen Kirche Deutschlands und im Auftrag des Rates von der Kirchenkanzlei der Evangelischen Kirche der Union, Berlin 22001. Die Bekenntnisschriften der evangelisch-lutherischen Kirche, hg. im Gedenkjahr der Augsburgischen Konfession 1930, Göttingen 81979. (BSLK). Martin Luther, Von der Freiheit eines Christenmenschen, 1520; in: ders., Ausgewählte Werke. Bd. 2: Schriften des Jahres 1520, hrsg. von Borcherdt, Hans Heinrich/Merz, Georg, München 31983. Lumen Gentium, in: Rahner, Karl/Vorgrimler, Herbert, Kleines Konzilskompendium. Sämtliche Texte des Zweiten Vatikanums, Freiburg i.Br. 261994, 123–200. Tersteegen, Gerhard, Lebensbeschreibungen Heiliger Seelen, Bd. 1, 1733.

83 Jane Pejsa, Mission to Pomerania. Where Bonhoeffer Met the Holocaust. A History and Traveler’s Journal, Minneapolis/Minnesota 2000; dies., Away, Tangled Past. To the Future Through Poland and Germany, Minneapolis/Minnesota 2012, 5–46. 84 Vgl. dazu Hans-Frieder Rabus, Auf den Spuren Dietrich Bonhoeffers. Gruppenreise der Evangelischen Diakonissenanstalt Stuttgart, in: Deutsches Pfarrerblatt 96 (1996), 421f.432f; Peter Zimmerling, Reise nach Pommern. Unterwegs auf den Spuren Dietrich Bonhoeffers, in: Aufatmen, Heft 2 (1998), 62–68.

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Forschungsliteratur Hans-Martin Barth, Sehnsucht nach den Heiligen? Verborgene Quellen ökumenischer Spiritualität, Stuttgart 1992. –, Der Heilige Gott und seine Heiligen, in: Evangelische Akademie Baden, Heilige(s) für Protestanten. Zugänge zu einem anstößigen Begriff (Herrenalber Forum 7), Karlsruhe 1993, 55–75. Berger, Klaus, Von der notwendigen Unterscheidung das Heilige und das Unheilige, in: Evangelische Akademie Baden (Hg.), Heilige(s) für Protestanten. Zugänge zu einem „anstößigen“ Begriff (Herrenalber Forum, Bd 7), Karlsruhe 1993, 49–54. Erb, Jörg, Die Wolke der Zeugen. Lesebuch zum Evangelischen Namenskalender, Bd. 1–4, Kassel 1951–1963. Felmy, Karl Christian, Die orthodoxe Theologie der Gegenwart. Eine Einführung, Darmstadt 1990. –, Die Heiligen – Leitbilder der Kirche und Zeugnis an die Welt. Deutsch-russische Dialoge über Theologie und Kirche, in: Stimme der Orthodoxie, Heft 1 (1993), 22–27. Haustein, Jörg, Hagiologie – Heiligenverehrung – Heiligenpolitik, in: Materialdienst des Konfessionskundlichen Instituts Bensheim 48 (1997), 70–72. Josuttis, Manfred, Die Einführung in das Leben. Pastoraltheologie zwischen Phänomenologie und Spiritualität, Gütersloh 1996. Kirchenamt der EKD (Hg.), Identität und Verständigung. Standort und Perspektiven des Religionsunterrichts in der Pluralität, eine Denkschrift der Evangelischen Kirche in Deutschland, hg. im Auftrag des Rates der Evangelischen Kirche in Deutschland, Gütersloh 1994. von Lilienfeld, Fairy, Die Bedeutung der Heiligenverehrung in der orthodoxen Theologie und Volksfrömmigkeit, in: Müller, Gerhard Ludwig (Hg.), Heiligenverehrung – ihr Sitz im Leben des Glaubens und ihre Aktualität im ökumenischen Gespräch (Schriftenreihe der Katholischen Akademie der Erzdiözese Freiburg), München/Zürich 1986, 64–78. Müller, Gerhard Ludwig, Die Heiligen – ein altes und neues Thema der Ökumene. Überlegungen aus der Sicht der systematischen Theologie, in: ders. (Hg.), Heiligenverehrung – ihr Sitz im Leben des Glaubens und ihre Aktualität im ökumenischen Gespräch (Schriftenreihe der Katholischen Akademie der Erzdiözese Freiburg), München/Zürich 1986, 102–123. Planck, Oskar, Evangelische Heiligenverehrung, in: Quatember 20 (1955/56), 129–135. Ritschl, Dietrich, Überlegungen zur gegenwärtigen Diskussion über Heiligenverehrung, in: ders., Konzepte: Ökumene, Medizin und Ethik; gesammelte Aufsätze, München 1986, 60–71. Schilson, Arno, Neue Heilige in unserer Zeit? Ein Blick über die Grenzen der Kirche auf Leitfiguren in einer säkularen Gesellschaft und auf fundamentale Problemstellungen der Gegenwart (bisher unveröffentlichtes Vortragsmanuskript). Schlink, Edmund, Ökumenische Dogmatik. Grundzüge, Göttingen 1983. Zimmerling, Peter, Evangelische Spiritualität. Wurzeln und Zugänge, Göttingen 22010.

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Bibellese und Stille Zeit

Die tägliche Bibellese oder Einhaltung einer stillen Zeit mit Gebet entspricht heute dem, was man früher die „Hauskirche“ nannte, worunter die häusliche Andacht des Familienvaters mit seinen Angehörigen und dem Hauspersonal verstanden wurde. Es waren umfangreiche Bände, die dem Hausvater eine Anleitung geben wollten, und deren Titel sehr schön andeuten, worum es in der Sache geht. „Tägliche Haußkirche Oder Morgen- und Abend-Opffer zur Übung wahrer Gottseligkeit und Täglicher Außübung der Gottesdienste, So ein Christlicher Hauß-Vater oder Hauß-Mutter Morgens und Abends mit ihren Kindern und Gesinde oder auch andern halten kann“ (Münchberg 1698). Unter diesem Titel gab der Pfarrer Heinrich Arnold Stockfleth eine 674 Seiten umfassende Anleitung heraus.1 Der Titel macht deutlich, dass diese tägliche Andacht als Gottesdienst in Parallele zu dem sonntäglichen Gottesdienst verstanden wurde, wie es ja auch der Name „Hauskirche“ ausdrückt. Zentral für die Hauskirche war die Lektüre der Bibel, und darum bildete die Erläuterung, wie ein Hausvater die Heilige Schrift lesen und erklären könne, einen zentralen Teil der Anleitung. Dass das Gebet und also eine Anweisung zum Gebet einen wichtigen Teil der Hauskirche ausmacht, versteht sich von selbst. Natürlich besaß das Kirchenlied, das durch Martin Luther zu den Grundlagen evangelischer Frömmigkeit gehört, eine Kernfunktion der Erbauung im Rahmen der Hauskirche. Im Zuge der Individualisierung religiösen Lebens in der Neuzeit wurde aus der häuslichen Andacht die individuelle biblische Lektüre des Einzelnen oder des engsten Familienkreises, meist am Morgen, wobei die Zielsetzung dieselbe ist. Dabei geht es nicht so sehr um die Erweiterung der Kenntnisse der Schrifttexte, als um den Trost und die Lebensermutigung durch die biblischen Zusagen und Erzählungen und um die tägliche Einübung der in der Bibel eingeschärften 1 Ganz ähnlich Salomon Glasius oder Glaß (1593–1656): Christliches Hauß-Kirch Büchlein, Darinnen gelehrt und gezeiget wird, Wie ein Christ nicht allein für sich in der Wissenschafft derer zur Seligkeit nothwendigen Stücke sich gründen und in der wahren Gottseligkeit üben, sondern auch die Seinen hierinn recht anführen und auferziehen solle, Leipzig 1698, Erstauflage Gotha 1647.

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Grundsätze und Handlungsmaximen, um das Umsetzen der Schriftworte in das tägliche Leben, um die Bewährung der christlichen Pflichten durch die Tat. Als Hilfe dafür werden Bibellesepläne angeboten, die festlegen, welcher Abschnitt an jedem Tag zu lesen ist. So führt die Ökumenische Arbeitsgemeinschaft für Bibellesen in einem vierjährigen Turnus durch die ganze Bibel (in Auszügen), während die Liturgische Konferenz der Evangelischen Kirche in Deutschland ausgewählte Abschnitte aus der Heiligen Schrift angibt, die zu dem jeweiligen Sonntagsevangelium und dem Wochenspruch passen.2 Die heute etwa im CVJM von jungen Menschen geforderte Einhaltung einer Stillen Zeit am Morgen oder Abend hat noch eine andere Wurzel und geht auf eine Lebenserfahrung von Frank Buchman, dem Begründer der „Moralischen Aufrüstung“, zurück. Frank Buchman, Sohn eines lutherischen Pfarrers und einer Quäkerin wurde 1878 in Pennsburg/Pa. geboren, studierte Theologie und wurde 1902 zum lutherischen Pfarrer ordiniert. Erste Gemeindeerfahrungen sammelte er in einem Armenviertel von Philadelphia (Overbrook). Nach einer Europareise, wo er Bodelschwingh und Stöcker besuchte, gründete er in Philadelphia ein Hospiz, das ihn sehr forderte, aber schließlich zu seiner Entlassung durch dessen Vorstand führte. Bei einer anschließenden Erholungsreise nach Europa erlebte er eine entscheidende geistliche Wende während einer Erweckungskonferenz im englischen Keswick 1908. Während der Predigt über die Leiden des gekreuzigten Christus und das Verdienst seines Versöhnungstodes wurde ihm klar, dass er seinen Groll gegenüber dem Vorstand des Hospizes aufgeben und jedem Vorstandsmitglied persönlich vergeben musste. „Mir gingen die Worte durch den Sinn: ‚Dies hast Du für mich getan, was habe ich für Dich getan, mein gekreuzigter Herr?‘ Ich stand im Mittelpunkt meines eigenen Lebens. Das große ‚Ich‘ mußte durchgestrichen, durchkreuzt werden.“3 Er nahm den Auftrag Jesu zur Vergebung an, und es „war, als ob ein Lebensstrom in mich hineingegossen wurde.“4 Diese persönliche Beziehung zu Christus, die Bereitschaft zum Gehorsam gegenüber Jesu Geboten und Fingerzeigen wirkte sich auf sein tägliches Leben und Gebet aus. Durch den Evangelisten Frederick Brotherton Meyer, der ein Werk über das Geheimnis der göttlichen Führung schrieb,5 und nach der Lektüre eines Buches von Henry Wright,6 „der den Gedanken einer täglichen quiet time („stillen Zeit“) mit Hören auf göttliche guidance („Wegweisung“) entwickelte“,7 übte sich Buchman ein in diesem „horchenden Gebet“, das täglich auf die Winke 2 3 4 5 6 7

Die Lesungen sind z. B. in den Herrnhuter Losungen täglich angegeben. Lean, Faktor, 35. Ebd. Frederick Brotherton Meyer, The Secret of Guidance, Moody Classics, Chicago 2010. Henry B. Wright, The Will of God and a Man’s Lifework, YMCA Press 1909. Pahl/Thieme, Buchman, 1081f.

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und Hinweise Gottes wartet. Sein Biograf Garth Lean urteilt: „So entdeckte er ganz persönlich die tausendjährige Disziplin der Stille vor Gott.“8 Buchman nahm sich jeden Morgen eine Stunde zwischen 5 und 6 Uhr Zeit, um auf die Stimme Gottes zu hören.9 Wenn ihm dann Namen einfielen oder Stichworte von Aufgaben, so suchte er sie möglichst sofort in die Tat umzusetzen. Hinter dieser Praxis steht die Vorstellung, dass Gott mit dieser Welt und mit jedem Menschen einen persönlichen Plan hat. Einer der viel zitierten Sätze der Anhänger Buchmans lautet: „Wenn der Mensch horcht, redet Gott; wenn der Mensch gehorcht, handelt Gott.“10 Gott will also jeden Menschen und gerade auch die politisch Verantwortlichen in einem Land führen, wenn sie nur auf seine Stimme achten. Vor wichtigen Entscheidungen sollte der Mensch „stille Zeit halten“, alle Gedanken aufschreiben und mit einem geeigneten Partner durchsprechen. „Auf diese Weise bekomme man ‚Führung‘ und oft – freilich nicht immer – konkrete Weisungen vom Heiligen Geist.“11 Hinter dieser Erfahrung steht die Tatsache, dass Jesus nach dem Neuen Testament ganze Nächte im Gespräch mit seinem Vater zubrachte und sein Leben durch den Willen und die Leitung Gottes bestimmt wurde. Buchman war überzeugt, dass jeder Mensch die Stimme Gottes hören könne: „Dieses Horchen auf Gott bleibt nicht die Erfahrung einiger weniger Menschen, es ist das Normalste, Vernünftigste und Heilsamste, was ein Mensch tun kann.“12 Das Achten auf Gottes Stimme war nicht unbedingt an die Lektüre der Heiligen Schrift gebunden. Darum konnte Buchman die Stille Zeit auch Vertretern anderer Religionen nahelegen und als Gottes Auftrag beschreiben. Es wäre nun freilich verkehrt, wollte man die tägliche Übung der stillen Zeit als eine Methode ansehen, um Gottes Willen für jeden Tag zu erkennen. Entscheidend ist vielmehr seine Voraussetzung, dass der Mensch dieser Führung durch Gott bedarf, dass er also nicht fähig und geeignet ist, sein Leben selbst zu bestimmen. Es setzt die Erfahrung des Menschen voraus, dass er vor Gott ein Sünder ist.13 „Man beginnt dabei, seine eigene Nichtigkeit zu erkennen.“14 Stille Zeit zu halten bedeutet also in erster Linie, den eigenen Willen dem Willen Gottes zu unterwerfen und die eigenen Wünsche und Pläne durch Gott infrage stellen zu lassen.15 Das missionarische Ziel Buchmans war, „den jeweils Einzelnen zur ‚Änderung‘ hin zu einem 8 Lean, Faktor, 77. 9 „Wenn wir am Morgen wirklich vor Gott stille geworden sind, stehen wir den Tag über auch unter Gottes Leitung.“ So formuliert Oehler, Schweigen, 9. 10 Goessel, Aufrüstung, 48. 11 Ebd. 12 A. a. O., 78. 13 Vgl. Russel, Sünder. 14 Lean, Faktor, 78. 15 Zur theologischen Kritik an der Praxis der „Stillen Zeit“ s. von Goessel, Aufrüstung, 48–59.57– 59.

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bewussten ‚Leben unter Gottes Führung‘ auf der Grundlage von ‚Stiller Zeit‘ zu bewegen.“16 Buchman war sich bewusst, dass sich der Mensch sehr leicht über sich selbst und den göttlichen Auftrag täuschen kann und entwarf daher sechs Kriterien der Überprüfung: 1. Bereitschaft zu gehorchen, 2. Äußere Realisierbarkeit des göttlichen Auftrags, 3. Übereinstimmung mit den Prinzipien der Bergpredigt: absolute Ehrlichkeit, Reinheit, Selbstlosigkeit und Liebe,17 4. Übereinstimmung mit den Lehren der Bibel, 5. Einholen des Rats von Freunden, 6. Vergleich mit den Lehren der Kirche.18 Wer sein Hören auf Gott solcher Prüfung unterzieht, wird davor geschützt sein, Gottes Führung mit seiner eigenen Einbildung zu verwechseln. Buchman übte in den 1930er-Jahren Einfluss auf Deutschland in der Arbeitsgemeinschaft für Seelsorge aus und fand Eingang in Kreise der Volksmission.19 Nach 1945 nahmen vor allem der Marburger Kreis und die Offensive Junger Christen seine Gedanken auf. Wenn im kirchlichen Raum von der „stillen Zeit“ gesprochen wird, dann ist dabei das Verständnis von Buchman meist nicht mehr im Blick. Die Aufforderung zur täglichen stillen Zeit für Gott bleibt gebunden an die Lektüre der Schrift, doch übernimmt man von Buchman die Forderung, nach Gottes Willen und Leitung ganz persönlich zu fragen. Als Beispiel für diesen kirchlichen Gebrauch nenne ich die „Edelsteine“, kleine Handkärtchen, die der Verlag Licht und Salz als eine Kurzanleitung für die Gestaltung des christlichen Lebens herausgab. Das Kärtchen „Stille Zeit“ nennt die folgenden fünf Elemente als Merkmale: 1. Beten, 2. Lesen (der Schrift), 3. Nachdenken und Hören (z. B. durch Zeichen am Rand der Bibel oder persönliche Notizen), 4. Loben, Danken, Bitten (in Lied und Gebet), 5.Tun des Gehörten. In dieser Form wurde es etwa vom CVJM in seinen Empfehlungen für die Jugendlichen übernommen. Da es dem modernen Menschen schwerfällt, regelmäßig eine bestimmte Zeit des Tages für das Gespräch mit Gott frei zu halten, und er gern eine Anleitung dazu sucht, werden seit vielen Jahren „Einkehrtage“ oder der Besuch von Exerzitien, zuerst in Klöstern, später auch in evangelischen Kommunitäten, angeboten. Einrichtungen wie „Häuser der Stille“ in vielen Landeskirchen und die Durchführung von Meditationstagen im kirchlichen Auftrag zeigen das Verlangen nach Anleitung und gemeinsamem Einüben von Zeiten der Stille. Die Einladungen zu solchen Tagen machen deutlich, wie hier Anregungen von

16 17 18 19

Pahl/Thieme, Buchman, 1083. Nach Speer, Principles. A. a. O., 79. Hans Prehn, Volksmissionskreis Sachsen. Zeugen und Zeugnisse im Rückspiegel, Frankenberg 2001, 15f.

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Buchman, aber auch von anderen christlichen Traditionen aufgenommen werden.20

Literatur Bockmühl, Klaus, Frank Buchmans Botschaft und ihre Bedeutung für die protestantischen Kirchen, Bern 1963. Goessel, Hans Hartwig von, Die Moralische Aufrüstung im Blickfeld des Neuen Testaments, Berlin 1956 (Studien zur Evangelisation und Volksmission, Bd. 2). Lean, Garth, Der vergessene Faktor. Vom Leben und Wirken Frank Buchmans, Moers 1991. Oehler, Wilhelm Johannes, Fruchtbares Schweigen. 10 Predigten über die Grundgedanken der Gruppenbewegung. St. Gallen, Leipzig 21937. Pahl, Stefan und Hartwig Thieme, Art. Buchman, Frank Nathan Daniel, in: Ev. Lexikon für Theologie und Gemeinde Bd.1, Witten 22017, 1080–1085. Russell, Arthur James, Nur für Sünder, Zürich 1932. Speer, Robert E., The Principles of Jesus, New York 1902. Spoerri, Theophil, Dynamik aus der Stille. Die Aktualität Frank Buchmans, Luzern 1971.

20 Ich zitiere aus einer Beschreibung der „Wesensmerkmale evangelischer Einkehrtage“ der Arbeitsgemeinschaft für evangelische Einkehrtage anlässlich einer Einkehrtagung in Hamburg vom 6.–8. Dezember 1991: „Ziel von Einkehrtagen ist das Alleinsein des einzelnen Menschen mit Gott – so wie sich Jesus immer wieder in die Stille zurückgezogen hat. Einkehrtage wollen herausführen aus dem Vielerlei der täglichen Anforderungen und hinführen zur Stille vor Gott, zum Leben in der Gegenwart Gottes. Es kann auch so sein, dass der einzelne Teilnehmer in solchen Tagen einfach einmal Zeit für Gott haben möchte, daß niemand etwas von ihm verlangt. Es kommt vielleicht zu einer inneren Erneuerung, oder ein Mensch gewinnt Klarheit in bestimmten persönlichen Entscheidungen; er erkennt Gottes Willen für sein Leben genauer und wird bereiter, ihn zu erfüllen. Er darf inneren Abstand gewinnen und dafür bereit sein, daß ihm neue Erkenntnisse und Erfahrungen zuteil werden, es zu einer Hingabe oder zu neuer Hingabe seines Lebens an Jesus Christus kommen kann. So bieten Einkehrtage die Möglichkeit an, für eine Begegnung mit Jesus Christus ganz offen zu sein. Einkehrzeiten wollen auch Hilfe sein zur Einübung in das Leben aus der Stille; sie können eine neue Verwurzelung in der Stille für die Turbulenzen des Alltags bedeuten.“

Dietrich Meyer

Die Herrnhuter Losungen

1.

Die Entstehung der täglichen Losungen

Die Geschichte der Losungen geht auf das 18. Jh. und die Anfänge der Herrnhuter Brüdergemeine zurück. Es war Graf Nikolaus Ludwig von Zinzendorf, der in der Abendandacht vom 3. Mai 1728 der Gemeinde Herrnhut einen Liedvers für den kommenden Tag als Leitmotiv und Parole mitgab: „Liebe hat ihn hergetrieben, Liebe riß ihn von dem Thron. Und ich sollte ihn nicht lieben?“1 Der ganze Tag sollte unter einem geistlichen Motto stehen und das Leben der kleinen Siedlergemeinde prägen. Herrnhut zählte damals nur 31 Häuser. So bildete sich die Praxis heraus, dass ein oder mehrere Boten am Morgen eines Tages die Losung2 in die Häuser trugen und sich zugleich nach dem Wohl der Familien und einzelner Mitglieder erkundigten. Dabei konnten, etwa wenn Zinzendorf verreist war, durchaus auch einige Tage oder Phasen entstehen, in denen es keine Losung gab.3 Zweieinhalb Jahre blieb es bei dem mündlichen Brauch. Bald bestand die Losung aus einer Liedzeile, bald aus einem Bibelwort des Alten oder Neuen Testaments – hier hatte Zinzendorf kein festes Schema, sondern war ganz spontan. Die Losung sollte die Gemeinde geistlich anregen und zur Durchdringung des täglichen Lebens mit dem Geist Christi führen. Die Losung diente, so würde man heute sagen, als ein Mittel für den Gemeindeaufbau, um die Einheit unter den aus den unterschiedlichen Regionen und Konfessionen zuströmenden Siedlern zu fördern. Dass die Losungen ab 1731 gedruckt wurden, lag zunächst nicht in ihrer Absicht und nahm der Losung etwas von ihrem spontanen und 1 Heute findet sich der Vers – leicht abgewandelt – in: Gesangbuch der Evangelischen Brüdergemeine, Basel 2007, 567,2. 2 Der Begriff Losung hat also zunächst nichts mit „losen“ oder „auslosen“ eines Bibelwortes zu tun, sondern meint die Parole, das Erkennungszeichen, an dem man den andern erkennt. 3 Soweit man heute noch aus den Diarien oder anderen Quellen die Losungen für die Zeit von 1728–1730 zusammenstellen konnte, ist dies Dank der Arbeit von Claudia Mai in: Nikolaus Ludwig von Zinzendorf, Werke (in Auswahl), Texte zur Geschichte des Pietismus, Abt. IV, Bd. 7,6 nachzulesen, der zur Zeit vorbereitet wird.

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seelsorgerlichen Charakter. Aber das Anwachsen der Gemeinde und die Tatsache, dass manche unterwegs und nicht in Herrnhut anwesend waren, jedoch gern durch das Losungswort in Verbindung mit der Gemeinde stehen wollten, zwangen dazu, die Losung schriftlich niederzuschreiben und im Voraus für ein Jahr festzulegen.4 Wer die heutige Form des Losungsbuches kennt, unterliegt leicht dem Irrtum, dass es dieses feste Schema der Zuordnung eines alttestamentlichen und neutestamentlichen Wortes mit einem Liedvers schon im 18. Jh. gegeben habe. Dazu kam es erst am Anfang des 19. Jh. Es ist darum nützlich, die bewegte Anfangsgeschichte des Losungsbuches zu kennen. Am 2. Dezember 1728 bat Henriette Sophie von Gersdorf ihren Neffen Zinzendorf, biblische Sprüche für ein Spruchkästchen zusammenzustellen. Diese im 18. Jh. nicht ungewöhnliche Bitte und Praxis griff Zinzendorf gerne auf und durchsuchte die Bibel mit einigen Brüdern nach solchen Bibelworten. Diese Praxis eines biblischen Spruchbuches, oft in Form eines Kästchens, aus dem man sich bei Antritt einer Reise, dem Abschied eines Freundes oder in einer besonders bedrängenden Situation ein Bibelwort als Stärkung und Begleiter herauszog, steht also ebenfalls hinter dem Losungsbuch.5 Zinzendorf liebte es, seit 1740 Losungsworte nach einem thematischen Gesichtspunkt aus der Bibel auszuwählen, z. B. alle Worte Jesu an seine Jünger, oder alle Beschreibungen Jesu in den Evangelien, oder auch Äußerungen der Jünger in ihrer Zuneigung zu Jesus.6 Diese Spruchsammlungen mit Liedversen erschienen zusätzlich zu den Losungen und wurden parallel gelesen. In den Jahren nach 1755 bemühte sich Zinzendorf um eine stärkere trinitarische Ausgewogenheit des brüderischen Glaubens und gab ein Textbuch mit Worten über den Heiligen Geist heraus.7 Er erkannte die Gefahr, dass die tägliche Lesung von Losungen und Textbüchern die Lektüre der Heiligen Schrift verdrängen könnte, und erweiterte darum die Textbüchlein durch „Lectionen“, kurze Abschnitte aus der Heiligen 4 Der Titel lautet: Ein guter Muth, Als das Tägliche Wohl-Leben Der Creutz-Gemeine Christi zu Herrnhuth im Jahr 1731. Durch die Erinnerung ewiger Wahrheiten, Alle Morgen neu. 5 Vgl. dazu die Einführung von Claudia Mai in: Nikolaus Ludwig von Zinzendorf, Werke (in Auswahl), Texte zur Geschichte des Pietismus, Abt. IV, Bd. 7,6. Ich danke Frau Mai, dass ich diesen Text einsehen durfte. Die Losungen haben Vorläufer in Halle, Vorformen tauchen in Briefen Zinzendorfs auf, auch an einer Tür seines Herrenhauses in Berthelsdorf 1724. 6 1740: Das Lamm Gottes Seinen Dienern und Gemeinen auf ihren vorigen und neuen KampfPlätzen […]; 1744: Die holdseligen Reden Des Lieben Sohnes […]; 1745: Beschreibung Gottes des Lamms für die Gemeine, Deren Hirte Er ist […]; 1747: Tägliche Augen-Lust Für die Knechte und Mägde, Die durchs Jahr 1747 hindurch auf die Hände ihres Herrn und ihrer Frau sehen; 1756: Das Oel-Gefäß Seines Namens mit dem Namen seiner Braut angefüllet. 7 1757: Ein Büchlein von Gott dem heiligen Geist, der selbstständigen Weisheit und Unser aller Mutter Zum täglichen Gebrauch.

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Schrift. So erschien 1755 ein Büchlein mit dem Titel „Die Worte des Buchs für die Gemeine Zweiter Theil“, das 365 Worte aus dem 1. Buch Mose enthielt, dem dann weitere Lektionen aus dem Alten Testament folgten. In dieser Parallelität von Losungen und Textbüchern ist die spätere Unterscheidung von Losung und Lehrtext angelegt. Worum ging es Zinzendorf mit diesen immer wieder neu herausgegebenen Spruchbüchern mit Worten der Bibel? Offensichtlich darum, einem bloß schematischen Gebrauch der Bibel entgegenzuwirken. Er kämpfte im Grunde gegen eine doppelte Front: gegen eine tote Christenheit, in der das biblische Wort zwar gelesen und gepredigt wurde, aber keine alltagsprägende Kraft mehr besaß, und gegen eine säkulare Entchristlichung, die sich über eine solche wortgebundene Bibelfrömmigkeit erhaben fühlte. Das Mittel, das er dafür einsetzte, war zunächst die Zerteilung des Bibeltextes in kleine Happen, in behaltbare Sprüche, in Zusagen und Mahnungen, in Verheißung und Gebot. Sodann war es die Verbindung des Bibeltexts mit einem Liedvers, der als Echo auf dieses Wort durch seine Melodie und seinen Reim eine Spur in der Gefühlswelt eines Menschen hinterlässt. Was Zinzendorf experimentierend und immer wieder auf die Situation in seinen Gemeinden beweglich reagierend einführte, bekam im Lauf der Jahre feste Formen. Auf der ersten Synode nach Zinzendorfs Tod 1764 entschieden die Anwesenden, dass die Losungen immer ausgelost werden sollten, um sie „aus der Hand des Heilands“ anzunehmen, während die Lehrtexte ausgewählt wurden.8 1812 beschloss die Leitung der Brüder-Unität, dass die Losung immer aus dem Alten Testament, der Lehrtext immer aus dem Neuen Testament genommen werden sollte. Standen beide zunächst beziehungslos nebeneinander, so wurde es seit Beginn des 20. Jh. zur Aufgabe des Losungsbearbeiters, beide in eine sinnvolle Relation zueinander zu stellen.9

2.

Das Lesen der Losung in der morgendlichen Andacht

Wenn man das Lesen der Losung am Beginn eines Tages mit der Stillen Zeit am Morgen vergleicht, tritt ein Unterschied ans Licht. Wer die Losung liest, geht davon aus, dass Gottes Stimme an ihn heute im Wort der Heiligen Schrift zum Vorschein kommt. In der Zusage und Mahnung dieses Wortes erwartet er die Weisung für diesen Tag. Er hört nicht so sehr in sein Herz als vielmehr auf das Schriftwort. 8 Helmut Schiewe, Eine gute Gabe Gottes – die Losungen im Wandel der Zeiten, in: Die Losungen 2003, 9–18, hier 15. 9 Allerdings hatte schon Bischof Jeremias Risler 1789 angeregt, beide aufeinander zu beziehen.

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Was beide, Losung und Stille Zeit, verbindet, liegt in dem Umstand, dass der Losungsleser in dem täglichen Schriftwort Gottes Stimme für diesen Tag wahrnimmt und als an ihn persönlich gerichtet erkennt. Allerdings entspricht die morgendliche Lektüre der Losung weit eher der Hauskirche älterer Zeit als der Stillen Zeit Buchmans und ist im Grunde ein kurzer Gottesdienst, der aus dem Predigttext der alttestamentlichen Losung, seiner Auslegung durch den neutestamentlichen Lehrtext und dem antwortenden Lied der Gemeinde besteht. Dies gilt umso mehr, wenn das Lesen der Losung durch eine Auslegung und ein Gebet unterstützt wird. „Losung und Lehrtext bilden zusammen mit dem ihnen folgenden Liedvers oder Gebet eine kleine Liturgie. […] Wenn man will, kann man in diesem Gottesdienst die Losung als den Text und den Lehrtext als die Predigt bezeichnen“.10 Wer befürchtet, dass die Losung als Kurzandacht vor der täglichen Arbeit zur bloßen Form und Routine erstarrt, könnte überlegen, ob er nicht seine eigenen Gedanken zu diesem Wort schriftlich notieren sollte oder ob er nicht ein eigenes Lied zu Losung oder Lehrtext findet. Eine gute Übung ist auch die Frage, wie sich die Losung zum Lehrtext verhält und inwiefern der Bezug sachgemäß ist. Je mehr die Lektüre der Losung zu eigener Beschäftigung mit ihr anregt, desto weniger wird aus der morgendlichen Andacht ein geistloses Ritual. Aber auch der, der lediglich Zeit zur Lektüre der Losung findet, wird eine erstaunliche Erfahrung machen. Nach einigen Jahren sind ihm die Losungsworte bekannt, sie haben sich in sein Gedächtnis eingenistet. Da die Spruchsammlung der Losungen auf vier Jahre berechnet ist, kehren danach dieselben Sprüche wieder. Diese Sprüche sinken in das Gedächtnis eines Menschen ein und geben ihm eine Vertrautheit mit der Schrift. Zinzendorf meint: „Dadurch werden wir bibelfest. Dadurch kommen wir in die Umstände, daß wir zu einer lebendigen Bibel werden, wie es vom Heiland heißt: Dein Gesetz habe ich in meinem Herzen. So kriegt man die heilige Schrift ins Herz hinein, nicht eine aus der Luft hergeholte, nicht eine schimärische [erdichtete] heilige Schrift, nicht eine Bibel aus Phantasien und Spekulationen zusammengesetzt, sondern die geschriebene Bibel, das geschriebene und in der Christenheit rezipierte Wort.“11 So entsteht eine Gemeine von lauter „lebendigen Bibeln“. Die Schriftworte werden zum inneren Besitz eines Menschen und begleiten ihn auch im Alter, wenn seine Aufnahmefähigkeit nachlässt. Die Losungsleser werden freilich nur dann zur lebendigen Bibel, wenn diese Worte nicht nur im Gedächtnis haften, sondern auch ihr Leben und Verhalten prägen. Dazu kommt die Tatsache, dass seit einiger Zeit nicht nur die Lutherübersetzung, sondern auch andere Übersetzungen zugelassen werden, die einzelnen Worten eine oft erstaunliche Modernität und Gegenwärtigkeit geben. Andrerseits hindern sie ihre 10 Heidland, Losungen, 23; ähnlich Zimmerling, Losungen, 144f. 11 Hahn/Reichel, Zinzendorf, 193.

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Einprägsamkeit, sodass es bereits zu heftigen Protesten kam, als man Sprüche nach einer Revision der Lutherübersetzung, nämlich des NT von 1975, verwendete.

3.

Vom Geheimnis der Losungen

Von Theologen wird gern kritisch gegen die Losungen eingewendet, dass sie einzelne Schriftworte aus ihrem Zusammenhang reißen und damit der historische Bezug verloren geht. Aber gerade das ist bei der Losung gewollt. Sie versteht sich als Wort des erhöhten Christus, der zu mir spricht. Auch die Worte des Alten Testaments werden so wie bei Luther als Worte verstanden, die Gott durch seinen Sohn zu uns spricht, wobei dies insbesondere für die Worte des Psalters gilt. Zinzendorf denkt von dem lebendigen Christus, vom Auferstandenen her, der so wie in den 40 Tagen nach Ostern heute noch ungesehen unter uns wandelt. Das Leben des Christen ist ihm ein ununterbrochener Umgang mit Christus. Die tägliche, kontinuierliche Konnexion mit dem Heiland ist für ihn das Zentrum des christlichen Lebens. Die Losungen sind seine Parolen, die er der streitenden Gemeinde auf Erden gibt, um sie bei seiner Sache festzuhalten. Indem so alle Worte der Bibel als heute von Christus gesprochenes Wort gelten, gewinnt das Schriftwort eine neue Aktualität. Sie sprechen mir Trost und Verheißung zu, aber sie wollen auch meine Grenzen aufzeigen und rufen zu Demut und kindlichem Gehorsam. Wer die Worte der Schrift als persönliche Zurufe des Auferstandenen für die augenblickliche Stunde liest, versteht sie freilich nicht als Lehraussagen, als Zusammenfassung biblischer Wahrheiten und Heilstatsachen, sondern als Impuls zu eigenem Tun, als Zuspruch in Not und Bedrängnis, als Zusage der Gegenwart und Begleitung Christi. Zinzendorf sagte das so: „Was wir also Losungen nennen, dabey ist Scopus principalis nicht, Lehren und Principia daraus zu deduciren; denn dazu müste man vielmals einen ganz anderen Spruch anführen: sondern sich durch ein frapantes historisches oder Kriegs- oder Sieges-Wort untereinander aufzumuntern und den Spiritum des Worts den Tag über im Gemüth zu tragen und im Blick zu führen. […] Uns ist die Losung keine Drohung und Warnung, sondern ein Wort der Verheißung: es werden gute Gedanken des Heilands herauskommen, […] es erfreut noch, wenns auch nicht lehrt, es wirkt“.12

Mit den Losungen als Zurufen Christi entdeckte Zinzendorf die Dimension des Schriftwortes als Verheißung wieder, wie es Luther in seinem Verständnis des Worts als Evangelium und frohe Botschaft erfuhr. 12 Unitätsarchiv Herrnhut (UA): JHD 28. 1. 1759.

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Die Losung hat also in erster Linie einen ganz persönlichen Bezug zu ihrem Leser oder Hörer. Sie zielt auf die personelle Konnexion mit Christus durch sein Wort. Wer am Morgen die Losung liest, ist zuerst persönlich angeredet. Wer sein Leben in solcher Verbindung mit Christus lebt, weiß sich durch die Losung von ihm geführt und wird immer wieder ganz erstaunliche Proben solcher Führungen machen, wofür etwa das Büchlein von Theo Sorg ein eindrückliches Zeugnis gibt,13 aber auch das Tagebuch von Jochen Klepper und die Briefe Dietrich Bonhoeffers aus der Haft.14 Walter Garms schildert, wie seine Familie im Krieg auf dem Bahnhof in Chemnitz auf einen Zug wartete, der sie aus der Stadt herausbringen würde, aber alle Züge waren besetzt. Ein Blick in das Losungsbuch überraschte ihn: „Wenn ihr stille bliebet, könnte euch geholfen werden“ (Jes 30,15). Tatsächlich wurde ihnen spät am Abend geholfen. Garms schreibt: „Es [das Lesen der Losung, D.M.] ist eine Kette von immer neuen Begegnungen mit Gott in meinem Leben geworden, – einmal in der Art, daß ich es als notwendige Korrektur für mein Leben empfand und das andremal als Trost in Leidenstagen.“15

4.

Das Wort, das ich mir selbst nicht sagen kann

Zinzendorf hat die Losungsworte nur gelegentlich ausgelost, wie etwa die Losungen von 1731. Wichtiger war ihm, dass sie gleichwertig mit einzelnen Liedstrophen aus der täglichen Gemeinschaft mit Christus heraus Impulse zur christlichen Lebensführung und Lebensbewältigung waren. Hinter der Entscheidung der Synode von 1764, dass die Losung grundsätzlich ausgelost werden solle, steht die Erkenntnis, dass es bedenklich ist, wenn eine Person oder ein Kreis der Gemeinde die Auswahl der Losungen trifft; zu leicht können sich ideologische Willkür, menschliche Vorlieben und Einseitigkeiten einschleichen. Im Los bleibt es Gott anheimgestellt, sich dieses menschlichen Mittels zu bedienen, um seinen Willen kundzutun.16 Damit wird die Auswahl der Sprüche bewusst der Entscheidung eines menschlichen Leitungsgremiums entzogen. Der Christ, der sein Leben nach Gottes Willen führen will, wird daher in der Losung auch Gottes Fingerzeig zu erkennen suchen. In außergewöhnlichen Situationen, in denen er Gott um ein Zeichen für seine Entscheidung bittet, wird er Gottes Antwort und Fingerzeig der Losung entnehmen. Walter Siegfried Reichel 13 14 15 16

Sorg, Leuchtzeichen. Vgl. dazu Zimmerling, Losungen, 87–122; Renkewitz, Losungen, 58f. Walter Garms am 15. 7. 1952 in der Akte Losungszeugnisse (UA Herrnhut EFUD 981). Peter Vogt formuliert es so: „Die Pointe der Losungen bestand also vornehmlich darin, daß sie das im Los wirksame Moment der göttlichen Willenskundgebung zur Geltung brachte“, Vogt, Reden Gottes, 190.

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meint, dass die Brüdergemeine vor der Gefahr des ‚Däumelns‘, des willkürlichen Aufschlagens der Bibel, um nach einem Gebet die rechte Schriftstelle von Gott gezeigt zu bekommen, geschützt gewesen sei. „Wir hatten unser Losungsbuch. Das gab uns Gottes Wort für jeden Tag, und dabei herrschte doch völlige Freiheit in seiner Anwendung.“17 Freilich liegt die Auswahl der Losungssprüche in der Entscheidung eines Losungsbearbeiterkreises, und diese Sammlung von ca. 1800 Sprüchen wird etwa alle 10 Jahre revidiert, um zu prüfen, ob etwa wichtige Aussagen der Schrift unberücksichtigt blieben.18 Man kann fragen, ob der Kanon dieser Schriftworte nicht erheblich zu erweitern wäre, und es ist keine Frage, dass Zinzendorf eben dies mit seinen so unterschiedlichen Losungsbüchern bezweckt hat. Er hat zuletzt über 15.000 Sprüche (so Renkewitz19) zur Verfügung gehabt. Insofern ist im Laufe der Jahrhunderte eine Verengung eingetreten, die hinterfragbar ist. Auch liegt die Zuordnung eines neutestamentlichen Wortes und Liedverses in der Hand eines Bearbeiters, der nach seinen besten Absichten, aber eben doch nach menschlich begrenzten Kenntnissen entscheidet. So muss man mit dem Losungsbearbeiter Samuel Raillard feststellen: „Auch das Losungsbuch muß dem Wandel der Zeiten und den wechselnden Bedürfnissen der Gemeinde gerecht werden“ und unterliegt wie alles menschliche Werk menschlicher Gestaltung.20 Das Losungsbuch ist offen für Kritik und Anregungen seiner Leser21 und geht auf sachlich begründete Anregungen ein. Die Tatsache, dass das alttestamentliche Losungswort ausgelost wird und in allen deutschen und fremdsprachigen Ausgaben dasselbe ist, ist nun allerdings etwas Einmaliges und Unaufgebbares, es ist das Charakteristikum der Losungen, das sich gerade in schwierigen Zeiten bewährt hat. Als dem Gutachter in der DDR, Gerhard Bassarak, der Losungsjahrgang 1987 zur Prüfung vorgelegt wurde und die Losung für den 13. August am 26. Jahrestag des Mauerbaus lautete: „Machet die Tore weit und die Türen in der Welt hoch“ (Ps 24,7) und am 17. August „Mit meinem Gott kann ich über die Mauer springen“ (Ps 18,30), da 17 Losungsbüchlein, 9. 18 Christoph Levin, der seit 1980 zu dem Bearbeiterkreis gehörte, beschreibt, wie dieser Kreis auf neue exegetische Erkenntnisse und Kritik aus dem Leserkreis reagierte. In den 1960er und 1970er-Jahren habe man die prophetische Sozialkritik neu entdeckt (z. B. Jes 10,1f), in den1980er-Jahren eine erfahrungsgestützte Ethik (z. B. Spr 24,11f). In den 1990er-Jahren habe man bewusst das zu wenig bedachte narrative Element der biblischen Botschaft in den Blick genommen (z. B. Hiob 2,11 und 13 und Ps 22,2 „Mein Gott, mein Gott, warum hast du mich verlassen“ und damit Jesu Kreuzigung). Auch fällt auf, dass heute Losungsworte, die die Kreatur und Tierwelt bedenken, zu der Spruchsammlung gehören, vgl. Levin, Losung, 14 f. 19 Renkewitz, Art. Losungen, 451f. 20 Raillard, Bedeutung, 2. 21 Im Archiv der Brüder-Unität in Herrnhut gibt es eine beachtliche Sammlung an kritischen Einwänden und Anregungen aus dem Leserkreis.

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musste er wohl an eine bewusste Provokation denken.22 Aber die Direktion der Brüder-Unität konnte ihn überzeugen, dass sie diese Worte nicht ausgewählt, sondern nach der Tradition ausgelost habe und dass diese weltweit in allen Ländern ihrer Verbreitung identisch sind, und so sah er sich gezwungen einzuwilligen. Die Losung aus Ps 18,30 ist nicht aus politischen Gründen aus der Sammlung der Sprüche entfernt worden, sondern die ganze Zeit der DDR über alle vier Jahre aufgetaucht.23

5.

Die Losung als Deutungshilfe des Erlebten

Wenn man die Berichte von Menschen liest, die eine besondere Hilfe durch die Losung erlebt haben, ist es immer wieder die schlagartige Erkenntnis: Hier hat Gott zu mir gesprochen. Christoph Levin berichtet von seinem Vater, der am 5. und 6. Januar 1941 den Angriff der Roten Armee auf die deutschen Truppen vor Moskau erlebte, der zum entscheidenden Rückzug führte. Als er am Abend erschöpft mit einem Kameraden das Losungswort aufschlug, las er: „Fürwahr, der Herr ist an dieser Stätte, und ich wußte es nicht.“ Dass Gott auch in diesem weltlichen Kriegsgeschehen handelt, wusste er als Christ natürlich, aber die Aktualität dieser Tatsache gewann für ihn bei der Losungslektüre eine geradezu unheimliche Gültigkeit und tiefe Wahrheit.24 Manchmal geschieht diese Erkenntnis nicht im Rückblick, sondern die Losung strahlt wie ein Leuchtturm auf den Weg und gibt Orientierung und Kraft. Als sich am Abend des 21. Januar 1945 der Flüchtlingszug der ostpreußischen Gemeinde Wehlau in Bewegung setzte, las man vorher die Losung: „Der Herr sprach zu Gideon: Friede sei mit dir. Fürchte dich nicht: du wirst nicht sterben“ (Ri 6,23). Der Berichterstatter schreibt: „Der Tod war unser Begleiter. Aber über allem leuchtete uns die Losung des 21. 1. 1945.“25 Theo Gill schildert, wie die Kette der Losungen in der ersten Oktoberdekade 1989, als man in höchster Anspannung befürchtete, dass die Demonstrationen in Leipzig und Dresden mit Waffengewalt beendet würden, sehr deutlich gesprochen und ihren Lesern eine große Kraft gegeben habe.26 Das hatte Zinzendorf schon so gesehen:

22 23 24 25 26

Hose, Gottes Wort, 141. Gill, Losungsbuch, 23f. Levin, Losung, 17. Bericht in der Akte: Reaktionen von Losungslesern 1939–1945 (UA Herrnhut: DUD 4237). Gill, Losungsbuch, 24. Er nennt die Losungen vom 2. (Jes 48,18), 3. (1Sam 14,6), 5. (Jes 61,1), 6. (Ps 75,8), 8. (Ex 23,2), 9. Oktober (Jes 45,23f).

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„Unsere Losungen haben mehrenteils den Zweck, daß der Heiland uns über unsre gegenwärtigen Umstände bedeuten will, sodaß wohl, wenn man es nicht in acht genommen, ein Schade daraus entstanden ist. Mit den Losungen hats überhaupt die Bewandtnis, sie sind Haushaltungs-Regeln, wonach man den Gang der Gemeine richtet. Denn unsere Sache ist, die Zeichen der Zeit, die mit der Kirche zusammenhängen, zu verstehen.“27

6.

Die Alltagstauglichkeit der Losungen

Das Besondere der Losung besteht darin, dass sie ein biblisches Wort mit einem Datum im Kalender verknüpft. Das ist ein gewagter Schritt, und es ist darum notwendig, dass die Verbindung unter dem Gebet zu Gott geschieht, damit dies nicht zum Missbrauch ausschlage, sondern von Gott zu seiner Ehre gefügt werde. Die Verknüpfung des Bibelworts mit einem festen Datum birgt mancherlei Gefahren in sich, aber auch Chancen und Möglichkeiten. Diese Verknüpfung stellt jeden Tag unter ein bestimmtes Gotteswort und ist wie das Öffnen eines Fensters in die Ewigkeit, damit dieser Tag unter dem Segen Gottes steht. Gerade wenn dieser Tag von einer schwierigen Sitzung überschattet wird oder wenn eine schwierige Entscheidung ansteht, ist es wichtig, dass ich dieses Fenster öffne. Ich möchte dies die seelsorgerliche Funktion der Losung nennen. Diese Hilfe gilt zunächst dem Einzelnen, der mit seiner Not nicht weiß, an wen er sich wenden soll. Gerade dem in seiner Gefängniszelle Alleingelassenen – man denke an Dietrich Bonhoeffer – oder dem durch die Judenpolitik des NSStaates in tiefste Bedrängnis Gestürzten – wie Jochen Klepper – waren die Losungen ein wichtiges Gegenüber, ein Gesprächspartner, ein Öffnen des Fensters aus ihrer verschlossenen Situation.28 Und welchen Trost und Frieden in Gott bieten diese Losungen dem aller menschlichen Hoffnung beraubten Kranken in seiner Verzweiflung. Sicherlich spricht nicht jede Losung unmittelbar in die eigene Situation. Aber oft redet sie erstaunlich konkret und situationsbezogen. Die Alltagstauglichkeit der Losung bewährt sich auch in Situationen des öffentlichen und gesellschaftlichen Lebens. Peter Zimmerling nennt Beispiele von Politikern und Kirchenführern, denen es gelang, durch das Lesen der Tageslosung einen Sitzungsverlauf zu bestimmen.29 Zum Schlichter zwischen den Vertretern des Arbeitgeberverbandes der Metallindustrie von Baden-Württemberg und der Industriegewerkschaft Metall wurde am 17. Februar 1999 der ehemalige Bundesminister Dr. Hans-Jochen Vogel bestimmt. Er begann die Sitzung mit der 27 Hahn/Reichel, Zinzendorf, 244 (nach Sammlung der Losungs- und Textbüchlein 1762. Vorrede). 28 Vgl. dazu die Kapitel über Bonhoeffer und Klepper bei Zimmerling, Losungen, 87–122. 29 A. a. O., 149–156.

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Losung des Tages: „Laßt unter euch nicht eine Wurzel aufwachsen, die da Gift und Wermut hervorbringt“ (Dtn 29,17). Und er las auch noch den Lehrtext Eph. 4,31f zum großen Erstaunen der sechs Verhandlungsführer. Diese Öffnung des Fensters in eine andere Dimension des Lebens beeinflusste die Verhandlungen so positiv, dass am Ende des Tages ein Kompromiss erzielt werden konnte.30 Losungen können bei erlahmenden Sitzungen wie das Atemholen und Schöpfen frischer Luft sein, weil sie in einer festgefahrenen Situation, in der die Argumente ausgetauscht sind, eine Unterbrechung bieten und die Grenzen der eigenen Sicht durch einen neuen Blickwinkel enthüllen. Aber keine Frage: Die Verknüpfung von Bibelwort und Kalender hat auch ihre Gefahren. Sie kann dazu führen, die tägliche Losung als Orakel misszuverstehen. Das geschieht dann, wenn ich die Losung als Omen und Schicksalsspruch über mein Tun heute verstehe. Es kann ja durchaus sein, dass eine herrliche Verheißung der Losung heute gerade nicht für mich in Erfüllung geht, sondern dass ich das Gegenteil erlebe, nämlich Leid und Schmerzen, ein Missgeschick oder einen Unfall. Oft erkenne ich erst nachträglich, dass mir dieses scheinbare Unheil zum Segen gedient hat, oder dass die Losung nicht mir galt, sondern meinem Nächsten. Schwierig ist diese Verknüpfung auch, wenn ein Politiker die Losung als Bestätigung oder Ermunterung für sein politisches Tun versteht, wie es bei General Ludendorf geschah, der die Verheißungen für das Volk Gottes politisch auf das deutsche Volk bezog.31 Die Losungen sind vor einer weltlich-säkularen Fehlinterpretation nicht geschützt, was leicht dann geschieht, wenn die alttestamentliche Losung nicht in ihrem geistlichen Sinn und in ihrem Bezug auf das neutestamentliche Wort gelesen wird.

7.

Die Losung als Brücke zwischen Menschen und Konfessionen

Die Losungen waren zunächst ein Spezifikum der Herrnhuter Brüdergemeine und nur in ihr bekannt. Erst im 20. Jh. haben sie eine weltweite Verbreitung gefunden und werden heute in ca. 55 Sprachen übersetzt und in noch mehr Ländern gelesen. Dieses weltweite Interesse hat dazu geführt, dass es jeweils in diesen Ländern eigene Losungsbearbeiter gibt und auch Unterschiede in der Gestaltung bestehen. In vielen Sprachen fehlen die Dritttexte, also Lieder oder Gebete, oder werden von einem lokalen Bearbeiter ausgewählt und gestaltet. Noch bedeutsamer als diese internationale Verbreitung ist wohl die Tatsache, dass auch Mitglieder anderer Kirchen die Losung lesen. Das bedeutet natürlich, dass die Liedverse oder Gebete nicht bloß aus der Brüdergemeine oder dem 30 A. a. O., 152f. 31 Vgl. dazu Renkewitz, Losungen, 68f.

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Pietismus kommen dürfen. Die überkonfessionelle Verbreitung der Losung, die ganz im Sinne Zinzendorfs ist, war in der Vergangenheit besonders umstritten, als die Bearbeiter wagten, ein Gebet von Papst Paul VI., das er in Jerusalem bei der Begegnung mit Vertretern der orthodoxen Kirche gesprochen hat, als Dritttext abzudrucken. Dagegen gab es deutlichen Protest von evangelikaler Seite, weil man hier eine unevangelische Tendenz in der Bearbeitung zu erkennen glaubte.32 Die Brüdergemeine hat mit Recht die ökumenische Weite der Losung verteidigt und auch Liedstrophen aus dem katholischen Gesangbuch übernommen. Gottes Wort ist nicht an bestimmte Konfessionen gebunden, und darum sollte auch die Losung allen Christen zum gemeinsamen Besitz werden. Wenn ich die Losung am Morgen lese, weiß ich, dass nicht nur Millionen von Christen in aller Welt und in vielen Konfessionen den gleichen Text heute bedenken, sondern wohl auch meine Kinder oder Eltern, meine Verwandten und Freunde, und vor allem die Verfolgten und mit dem Tode bedrohten Christen in aller Welt. Ich stehe in einer großen Gemeinschaft von Menschen, die durch die Losung zu einer Gemeinde verbunden werden. „Losungen bauen an der Gemeinsamkeit des Geistes.“33 Fulbert Steffensky betont darum den bildenden Effekt der Losungen. „Lehren heißt zeigen, was man liebt und für was man einsteht.“ Kinder spüren, dass es den Eltern wichtig ist, sich diese Zeit für die Andacht am Morgen zu nehmen und den Tag mit dieser kleinen Liturgie zu beginnen. Wie schön, wenn auch sie die Zusagen und Mahnungen Gottes hören, wenn sie ihre Arbeit beginnen. Dieser seelsorgerliche Aspekt stand von Anfang an im Blickfeld, und Christian David kann darum die Losungen, die in die Häuser Herrnhuts getragen wurden, „gewisse Begrüßungen“ nennen, „die einer dem andern im Namen Gottes und von Gottes Gnaden im Glauben anwünschet.“34 In der Tat bieten die Losungen eine Brücke zum Nächsten, und man kann ihn auf seine Lektüre der Losung anreden. Die Losung bietet einen Anhaltspunkt zu einem tiefergehenden Gespräch und macht geistlich sprachfähig, um über eigene Erfahrungen mit dem Nächsten zu reden. Die Psychotherapeutin Maielies Hirsch stellt fest: „Das Ziel aller psychotherapeutischen Behandlung ist es, den Patienten dialogfähig zu machen. Die Voraussetzung dafür ist die Dialogfähigkeit des Arztes. Wie immer einer zu solcher Dialogfähigkeit gelangen mag – für mich ist die Voraussetzung dafür der Dialog zwischen Mensch und Gott. Und da spielen für mich wiederum die Losungen eine wichtige Rolle.“35 32 33 34 35

Reichel, Kampf. Fulbert Steffensky, in: Magazin, 18–19, hier 19. Hahn/Reichel, 141. Maielies Hirsch, „Ich lese noch die Losungen“. Stilübungen in Frömmigkeit. Erfahrungen einer Ärztin, in: Deutsches Allgemeines Sonntagsblatt, Nr. 1, vom 3. 1. 1971, 12.

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Gerade in schwierigen Situationen wie in einem Zuchthaus und in der Gefangenschaft konnte das Lesen der Losung den Sinn für Gemeinschaft und ein harmonischeres Miteinander fördern.36

8.

Losungsähnliche Andachtsbücher

Dass die Losung Nachahmer gefunden hat, ist natürlich. Innerhalb der Schweiz gab es den Versuch, ein eigenes Buch herauszubringen, das vor allem auf das Liedgut des schweizerischen Kirchengesangbuchs zurückgreift und das deutsche pietistische Liedgut meidet. „Der Zionspilger“, der von 1921 bis 1926 bestand, ging so weit, eigene Sprüche aus der Schrift auszuwählen.37 Er ist ein Beispiel dafür, welche Kritik an dem deutschen pietistischen Liedgut zu Beginn des 20. Jh. bestand, sodass man nach einem harschen Tadel von Eugen Jäckh gegenüber den Dritttexten auch geistliche Poesie und Gebete zuließ.38 Als ein interessantes Beispiel eines eigenständigen, mit der Losung vergleichbaren Andachtsbuches möchte ich das von den Maltesern benutzte Büchlein: „Das Wort Gottes für jeden Tag“ anführen.39 Es nennt zunächst Gedenktage, zwei oder mehr Angaben zur Bibellese und einen Liedimpuls. Dann folgen die drei wesentlichen Bestandteile: 1. Ein Bibelwort aus einer der angegebenen Bibelstellen, 2. Ein Gedanke zum Tag, oft nur ein Satz, etwa ein Zitat von einem Bischof oder Theologen. Manchmal ist der Text auch erheblich länger. 3. Ein meist frei formuliertes Gebet oder eine Liedstrophe. Das Beispiel zeigt die Gemeinsamkeiten mit der Losung: Die Texte sind in der Regel nicht länger als in der Losung und sehr dicht. Der geistliche Impuls zum Tag ist dreigliedrig aufgebaut, Bibelwort am Anfang und Gebet oder Lied am Schluss entsprechen der Losung. Er unterscheidet sich in dem „Gedanken zum Tag“, der keine Auslegung des Bibelwortes, sondern eine zusätzliche Anregung aus der kirchlichen Tradition bietet. Damit zeigt sich noch einmal, was das Besondere der Losung ausmacht: Die Tatsache eines unter Gebet ausgelosten Wortes Gottes für diesen Tag, die Zuordnung von alttestamentlichem und neutestamentlichem Wort, der Verzicht auf jede Auslegung, der Bezug des Dritttexts auf die Losung im Sinne einer Antwort der Gemeinde. Die Losung schwingt um den einen, in dem alttestamentlichen Wort gegebenen Gedanken, während das Beispiel der Malteser eher drei Leuchtpunkte für den einen Tag bietet. 36 So bezeugt es Gunter Pahte am 14. 1. 1952, der durch ein sowjetisches Militärgericht zu zehn Jahren Zuchthaus in der DDR verurteilt wurde und 1948 die Losung kennenlernte. 37 UA Herrnhut, DU 4225. 38 Brief vom 31. 3. 1931 (UA Herrnhut, DUD 4229). 39 Das Wort Gottes für jeden Tag. Die Lesungen des Tages und Impulse zum gelebten Glauben, Leipzig 2018.

Die Herrnhuter Losungen

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Literatur Gill, Theodor, Das Losungsbuch im geteilten Deutschland, in: Die Losungen der Herrnhuter Brüdergemeine, 2003, 19–25. Heidland, Hans-Wolfgang, Die Losungen im Ringen des Glaubens heute. Das Verständnis der Bibel in den „Täglichen Losungen und Lehrtexten der Brüdergemeine“, Hamburg 1980. Hose, Susanne, Gottes Wort per SMS aufs Handy. Das Sendungsbewusstsein der Herrnhuter Brüdergemeine am Beispiel der Losungen, in: dies. (Hg.), Minderheiten und Mehrheiten in der Erzählliteratur, Bautzen 2008, 141–153. Levin, Christoph, „Die Losung für den heutigen Tag steht“. Der ‚Erfinder‘ der Herrnhuter Losungen Nikolaus Ludwig Graf von Zinzendorf (1700–1760). Vortrag zum Reformationstag und Zinzendorfjubiläum am 31. Oktober 2010 in Lemgo, Detmold 2012. Direktion der Evangelischen Brüder-Unität (Hg.), Die Losungen. Ein Magazin zu den Losungen der Herrnhuter Brüdergemeine, Herrnhut 2010. Ev. Brüder-Unität (Hg.), Die Losungen der Herrnhuter Brüdergemeine. Geschichte, Entstehung, Verbreitung, Gebrauch, Herrnhut/Basel 2003. Das Losungsbüchlein der Brüdergemeine, hg. vom Verlag der Missionsbuchhandlung, Herrnhut 1936. Raillard, Samuel, Die volksmissionarische Bedeutung der Losungen der Brüdergemeine, in: Die Rundschau. Mitteilungsblatt der Inneren Mission, Jg. 10 (1939), Nr. 1, 1–3. Reichel, Hellmut, Zum ‚Kampf ‘ um die Losungen, Faltblatt, o.D. (1970) (UA Herrnhut, S 251/46). Renkewitz, Heinz, Die Losungen. Entstehung und Geschichte eines Andachtsbuches, Hamburg 21967. –, Art. Losungen der Brüderunität, 3RGG Bd. 4, 451ff. Sorg, Theo, Leuchtzeichen am Wege. Mit den Losungen leben, Neuhausen-Stuttgart 1998. Vogt, Peter, Aktuelles Reden Gottes. Die Herrnhuter Losungen, in: Klaiber, Walter/Thönissen, Wolfgang (Hg.), Die Bibel im Leben der Kirche. Freikirchliche und römischkatholische Perspektiven, Paderborn/Göttingen 2007, 185–198. Hahn, Hans-Christoph/Reichel Hellmut (Hg.), Zinzendorf und die Herrnhuter Brüder. Quellen zur Geschichte der Brüder-Unität von 1722 bis 1760, Hamburg 1977. Zimmerling, Peter, Die Losungen. Eine Erfolgsgeschichte durch die Jahrhunderte, Göttingen 2014.

Sabine Bobert

Den Himmel überall finden Die Rolle von Schweigen und Meditation

1.

Einleitung

„Halt an, wo läufst Du hin? Der Himmel ist in Dir. Suchst du Gott anderswo, du fehlst ihn für und für.“1 Der Theologe, Arzt und Mystiker Angelus Silesius (1624– 1677) greift für diesen Aphorismus auf eine Aussage Jesu zurück: „Man wird nicht sagen: Siehe hier oder da ist es! Denn sehet, das Reich Gottes ist inwendig in euch (ἐντὸς ὑμῶν)“ (Lk 17,20f). Wie werden wir dieser Tatsachen inne? Sodass wir nicht nur darüber wissen, sondern sie selbst erfahren können? Die Antwort der christlichen Mystik ist, die Blickrichtung zu wechseln: von der Außenperspektive zur Innenperspektive. Hauptthese ist im Folgenden, dass die mystische Unioerfahrung jedem Menschen offensteht, da jeder Mensch zu seiner Wesensentfaltung auf sie hin angelegt ist, und dass Schweigen und Meditation diese Kernerfahrung stark begünstigen. Der indische Jesuit Sebastian Painadath macht darauf aufmerksam, dass das mystische Einheitserlebnis mit der Selbstrücknahme des im Alltag ständig nach Außen projizierenden Geistes einhergeht.2 Die verbale Gebetssprache, die kirchlich vertraut ist, ist stark von Projektionen im psychoanalytischen Sinne geprägt. Aus der Sicht der Mystik müssen diese Projektionen als selbst erschaffen ins Bewusstsein gehoben und aufgehoben werden. Sonst werden sie zu einem Hindernis für genau die Erfahrung, zu der sie erschaffen wurden, nämlich den Willen, das Herz und den Kopf in die Richtung von Gottes Gegenwärtigsein zu leiten. Das Erkennen und Aufheben der Projektionen mündet in der Wahrnehmung, dass der vereinigte Zustand schon immer bestanden hat und nur durch die Projektionen und eigenen Geistes- und Seelenbewegungen in der Wahrnehmung verstellt wurde. 1 Silesius, Wandersmann Kapitel 4, 81. 2 Vgl. zum Folgenden Painadath, Gottes Geist, 111ff.138ff.

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Die Seele braucht zunächst Bilder, Gott zu suchen. Der Geist wird mit höherer Klarheit jedoch zum Bilderstürmer, wie es Meister Eckart beschreibt: „Scheidet ab die bildhafte Erscheinung und vereinigt euch mit dem formlosen Sein“.3 „Willst du Gott göttlich wissen, so muss dein Wissen in reines Unwissen und zum Vergessen deiner selbst und aller Geschöpfe gelangen“.4 „Leer sein aller Kreatur ist Gottes voll sein, und voll sein aller Kreatur ist Gottes leer sein“.5 Dieser Arbeitsschritt des Beobachtens des Erschaffens von Projektionen und ihre Auflösung ist daher der wichtigste auf dem Weg zur Vereinigungserfahrung. Er geschieht vor allem in Stille und Meditation. Auf der projizierenden Ebene des alltäglichen Verstandes (aus der Sicht der Meditationsforschung eine Weltwahrnehmung im Beta-Band von etwa 14 bis 30 Hertz mit inkohärentem EEG-Muster zwischen rechter und linker Hemisphäre)6 erscheint die äußere Welt als von der inneren Welt getrennt. Es ist die Welt der Subjekt-Objekt- und der Ich-Du/Es-Beziehungen. „Der Verstand kann etwas nur begreifen oder fühlen, insofern es vergegenständlicht wird. Alles, was in und um uns vorhanden ist, wird vom Verstand verobjektiviert, zum Du oder zum Es.“7 Nach dem gleichen Muster geht der Alltagsverstand auch mit Gott um: „Gott wird zum Du im religiösen Bewusstsein. In der religiösen Praxis wird Gott zum Objekt des theologischen Denkens und zur Gestalt der hierarchischen Repräsentation.“8 Mittel zur verstandesaffinen Vergegenständlichung Gottes sind Namen, Formen, Bilder, Vorstellungen, die zum jeweiligen gesellschaftlichen Kontext passen. Ebenso wird Christus vergegenständlicht. „Christus kommt da gewissermaßen von außen auf uns zu.“9 Er wird zu einem „Kultgegenstand“, einem „Denkgegenstand“, zu einer „Herren-Gestalt“ „objektiviert und fast politisiert“.10 Zur Überwindung des objektivierenden Umgangs mit Christus und zur Christuserfahrung im Sinne der Mystik – der Erfahrung des εἶναι ἐν Χριστῷ (In– Christus-Seins) – bedarf es einer Schulung des Bewusstseins durch meditative Praktiken. Im Folgenden zeige ich erstens auf, inwiefern noch Luther in der Tradition klösterlicher Meditationspraxis stand und wie er mit seinem tentatioVerständnis neue Akzente auf dem Meditationsweg setzte. Ferner gehe ich auf Bonhoeffers Weiterentwicklung des tentatio-Konzeptes ein. Zweitens erörtere 3 4 5 6 7 8 9 10

In: a. a. O., 86. Ebd. Ebd. Vgl. zur kurzen Einführung: Ott, Meditation, 157ff. Ott vertritt die These, dass eine Einheitserfahrung mit einem „Zustand globaler Synchronisierung schneller EEG-Wellen im Gamma-Bereich“ einhergeht (124, vgl. 121–124). Painadath, Gottes Geist, 112. A. a. O., 114. A. a. O., 68. Ebd.

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ich unter Rückgriff auf Abraham Maslows Konzept von „peak experiences“ und Bonhoeffers Verständnis eines „religionslosen Christentums“ Ziele der menschlichen Wesensentfaltung. „Peak experiences“ sind alltägliche Einheitserfahrungen in oft religionsloser Gestalt. Im dritten Hauptteil erörtere ich die Praktiken von Schweigen und Meditation als Einüben von Grundhaltungen zur Öffnung für „peak experiences“ bzw. alltägliche contemplatio-Erfahrungen – im Rahmen eines Christentums, das die Anfechtung durch den bildlosen Gott integriert hat.

2.

Luthers Meditationsverständnis

Martin Luther lebte noch in der frühchristlichen und mittelalterlichen Meditationstradition. Diese wurde von Guigo II, dem Kartäuserprior der Großen Kartause (vor 1174–1193), mit folgenden vier Elementen zusammengefasst: lectio, meditatio, oratio, contemplatio. Er nannte sie scala claustralium, Stufenleiter zur Gottesschau. „Die Lesung ist das eifrige Lesen der Bibel mit aufmerksamem Geist. Die Meditation ist die eifrige Tätigkeit des Verstandes, verborgene Wahrheiten durch die eigene Vernunft aufzudecken. Gebet heißt, sich ergebenen Herzens Gott zuzuwenden, um Böses zu beseitigen und Gutes zu erlangen. Kontemplation heißt, den auf Gott gerichteten Geist zu erheben und die Freude der ewigen Glückseligkeit zu verkosten.“11

Im Folgenden knüpfe ich für ein neu zu gewinnendes Verständnis von Schweigen und Meditation bei Luther an und aktualisiere sein Meditationsverständnis durch Dietrich Bonhoeffers Konzept von tentatio und religionslosem Christentum, sowie aus pastoralpsychologischer Perspektive.12 Luther griff für sein Meditationsverständnis auf Guigos Schema zurück und formte es aufgrund seiner spirituellen Erfahrungen um. Für Luther bleibt Meditieren weiterhin ein wichtiger Zugang zum biblischen Wort und zur Gotteserfahrung. In seiner Vorrede zum 1. Band der Wittenberger Ausgabe seiner deutschen Schriften von 1539 spricht er über die rechte Weise des Umgangs mit dem biblischen Wort. Das Wort Gottes und die Gotteserfahrung erschließen sich nach Luther in „Oratio, Medi11 Guigo der Karthäuser, Leiter, 5. Im lateinischen Original: „Est autem sedula Scripturam cum animi intentione inspectio. Meditatio est studiosa mentis action, occultae veritatis notitiam ductu propriae rationis investigans. Oratio est devote cordis intentione in Deum pro malis amovendis et bonis adipiscendis. Contemplatio est mentis in Deum suspension elevation, aeternae dulcedinis gaudia degustans“ (Ders., Scala claustralium, 476). Näheres zur Scala Claustralium bei Baier, Meditation, 31–47. Zur Transformation des Modells der Scala Claustralium im 13.–16. Jh.: a. a. O., 70–81. 12 Vgl. zum Folgenden Nicol, Meditation, 44ff.

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tatio, Tentatio“13 (Gebet, Nachsinnen, Anfechtung). Vergleicht man Luthers Aufgreifen der christlichen Meditationstradition mit Guigos Formel, so fällt als neue Akzentsetzung auf: Luther ersetzt die höchste Meditationsstufe, die contemplatio, durch die tentatio, die Erfahrung der Anfechtung.14 „Contemplatio […] bezeichnete als einer unter mehreren möglichen Begriffen den Höhepunkt der geistlichen Übung, die cognitio experimentalis de Deo“15 (Erkenntnis über Gott durch Erfahrung). Luther sieht also in der Anfechtung den Hauptweg der Gotteserfahrung. Der Religionswissenschaftler Karl Baier konstatiert bereits für Luthers Vorlesung zu Psalm 1 von 1516 das Fehlen der klassischen Kontemplationsterminologie: „Obwohl Luther victorinischer Meditationstheorie verpflichtet ist, fehlt in der Vorlesung zu Ps 1 jeder Hinweis auf contemplatio [Anschauung] und raptus [Unterbrechung].“16 An die Stelle der ekstatischen Liebesvereinigung mit Gott, die Guigo II. beschreibt, tritt eine alltäglichere „kleine Mystik“ im Sinne eines inspirierten Empfangens geistgewirkter Einsichten. Ein weiteres Charakteristikum von Luthers Meditationsverständnis ist die unbedingte Wortbezogenheit: „Der traditionelle Höhepunkt der Meditation, ihr Übergang in eine nicht mehr diskursiv vermittelte Gotteserfahrung, wird […] an die Lesung und Auslegung der Bibel zurückgebunden.“17 Bei dieser neuen Akzentsetzung spielten Luthers existenzielle Erfahrungen, die er exemplarisch für seine Epoche durchlebte, eine wichtige Rolle: Der übende Aufstieg zur kontemplativen Erfahrung, wie ihn noch Gerson und Tauler beschrieben, funktionierte in Luthers Leben nicht mehr, obgleich er sich nach einer kontemplativen unio-Erfahrung sehnte und an die kontemplative Tradition mit seiner Formel und oft auch in mystischer Begrifflichkeit anknüpfte.18 Luther erlebte Gott in den vielfältigen Anfechtungserfahrungen: „Zum dritten ist da Tentatio, anfechtung. Die ist der Prüfestein, die leret dich nicht allein wissen und verstehen, sondern auch erfahren, wie recht, wie warhafftig, wie süsse, wie lieblich, wie mechtig, wie tröstlich Gottes wort sey, weisheit uber alle weisheit.“19

Nicol: „Das ist für Luther religiöse Erfahrung – Erfahrung sozusagen sub contrario.“ Diese neue Akzentsetzung auf dem kontemplativen Weg spielt aus heutiger pastoralpsychologischer Sicht eine wichtige Rolle, 13 14 15 16 17 18 19

WA 50, 659,4. Vgl. Nicol, Meditation, 91–96. A. a. O., 92. Baier, Meditation, 75, vgl. 70–81. Baier mit Bezug auf Luthers Vorlesung zu Ps 1, a.a.O, 76. Vgl. zur Quellenauswertung die weiterhin unübertroffene Monografie von Nicol, Meditation. WA 50, 660,1–4.

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„den Akzent in pastoralpsychologischer Sicht von Verschmelzung, Fusion und besitzender securitas auf eine bleibende Differenz [zu verschieben], eine Gewißheit in einer Beziehung, die anfechtbar bleibt und geschichtlich für Veränderungen offen ist. Frömmigkeit unter dem Zeichen der tentatio ist ein Prozeß des Abschiednehmens vom nur nahen Gott und führt in ein Teilen der Anfechtung Christi“.20

Damit wird zugleich deutlich, wieso Luther die Anfechtung, die doch als äußeres Widerfahrnis erscheint, als geistliche Übung, als exercitium, versteht.21 „Während im Mittelalter caro, mundus und diabolos [Fleisch, (diesseitige) Welt und Teufel] als die drei Urheber von tentatio galten, erkannten Luther und Melanchthon den Teufel, am tiefsten jedoch Gott selbst als Urheber der Anfechtung. Die ernsteste Anfechtung sah Luther in der Erfahrung der Gottverlassenheit.“22 Luther: „Denn von Gott verlassen sein, das ist viel erger denn der Tod. Die ein wenig davon versucht und erfaren haben, die moegen etwas nachdencken. Aber sichere, rohe, unversuchte und unerfarne Leute wissen und verstehen nichts davon.“23

Aus pastoralpsychologischer Sicht bildet die Nähe, die Beziehung, die Grundlage für Differenzerfahrungen. Der unsere Gottesprojektionen durchkreuzende Gott ist das Subjekt von Anfechtungen. Die Anfechtung bezieht nicht nur den Glaubensgegenstand mit ein (theologische Dimension), sondern erschüttert auch das glaubende Selbst (anthropologische Dimension). Da die Anfechtung in der Erfahrung der Andersartigkeit und Bildlosigkeit und gedanklichen Transzendenz Gottes wurzelt, ist sie nicht methodisierbar. Sie lässt sich auf dem kontemplativen Weg nicht beseitigen, sondern nur jeweils verarbeiten – in einer ständigen Revision und schließlich Relativierung unserer Gottesbilder und Rollenerwartungen an Gott. In der anthropologischen Dimension zersprengt die Anfechtung auch die bisherigen Identitätsvorstellungen, Beziehungsprojektionen, Ideale und Gedankenkonstruktionen (einschließlich Weltbilder) des Menschen. In der Spiritualität von Dietrich Bonhoeffer, die stark von Luthers Spiritualität geprägt ist,24 spielt dieser Aspekt der tentatio gleichfalls eine pointierte Rolle. „Lectio, meditatio, oratio und temptatio: Dieser Zirkel im Leben des Pfarrers darf nicht aufhören. Das war etwas, was im Mittelalter richtig war.“25 Darüber hinaus wollte Bonhoeffer mit diesem Zirkel die Frömmigkeit jedes Christen umreißen.

20 21 22 23 24 25

Bobert-Stützel, Frömmigkeit, 303, vgl. a. a. O., 303ff. Vgl. Nicol, Meditation, 96. Bobert-Stützel, Frömmigkeit, 305. Predigt vom 1. November 1537, WA 45,237,23–26. Bobert-Stützel, Bonhoeffers Pastoraltheologie, 140ff. Zitiert in: a. a. O., 140, Anm. 300.

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Christologisch formuliert Bonhoeffer das spirituelle Faktum der Anfechtung im Leitbegriff des „Geheimnisses“. Bereits 1931 sprach Bonhoeffer vom „wahnwitzige[n] dauernde[n] Zurückgeworfensein auf den unsichtbaren Gott“.26 „Geheimnis heißt […] nicht einfach, etwas nicht zu wissen. Nicht der fernste Stern ist das größte Geheimnis, sondern im Gegenteil, je näher uns etwas kommt, je besser wir etwas wissen, desto geheimnisvoller wird es uns. Nicht der fernste Mensch ist uns das größte Geheimnis, sondern grade der nächste.“27

In der Christologie-Vorlesung von 1933 bündelt Bonhoeffer seine Überlegungen zum Zerschlagen von Projektionen in der Selbstoffenbarung der Andersartigkeit des Anderen (sei es Gott oder Mensch), indem er Luthers Gedanken von der Offenbarung „sub contrario“ und von der Gottheit im Inkognito aufgreift. Die „Verhüllung“ wird „um so dichter werden, je näher die Offenbarung ist“.28 Diese schon früh erarbeiteten Kernaussagen spitzt Bonhoeffer in seinen Gefängnisbriefen zu. Dort formuliert er die projektionssprengende Kraft vom Nahekommen des lebendigen Gottes in paradoxen Aussagen. „Der Gott, der mit uns ist, ist der Gott, der uns verlässt (Mk 15,34)! Der Gott, der uns in der Welt leben läßt ohne die Arbeitshypothese Gott, ist der Gott, vor dem wir dauernd stehen. Vor und mit Gott leben wir ohne Gott. Gott läßt sich aus der Welt herausdrängen ans Kreuz, Gott ist ohnmächtig und schwach in der Welt und gerade und nur so ist er bei uns und hilft uns.“29

Gott lässt uns bildlos werden. Er tötet den Bildergott der Fantasienwelt und der Gottesverwalter. Er führt dadurch in das Leben. Wir erleben die Auferstehung erst dann, wenn wir mit einem von Projektionen und Fantasien befreiten, klar gewordenen Geist Gottes Gegenwart im Hier und Jetzt schauen. Dann erkennen wir rückblickend: Es waren nur unsere Fantasien, unsere irrigen Gottes- und Selbstbilder, die uns von der Erfahrung der ständigen Gegenwart Gottes trennten. In der Radikalisierung der Anfechtung gehen die bildlose Mystik, Luther und Bonhoeffer konform: An der lebendigen Gottesbegegnung müssen unsere Gottesbilder, Selbstbilder, Weltbilder zerschellen. Der Wüsteneinsiedler und Lehrer Evagrius Ponticus (4. Jh.) lehrte seine Schüler: „Stelle dir die Gottheit nicht als Bild vor. Halte deinen Geist überhaupt frei von jeglicher Form.“30 Sein Schüler Johannes Cassian sah im bildbezogenen Beten eine „große Gotteslästerung und 26 DBW 11, 33. 27 Predigt zu 1Kor 2,7–10, in: DBW 13, 360. 28 Bonhoeffer, Christologie-Vorlesung, in: Gesammelte Schriften, Bd. 3, 238f. Vgl. „Darum musste das Incognito immer undurchsichtiger werden, je dringlicher die Christusfrage wurde.“ DBW 12, 345. 29 DBW 8, 394. 30 Evagrius, Gebet, 21.

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Schädigung des katholischen Glaubens“ und die „schlimmste Irrlehre“.31 Erst ein Durchlaufen dieses Prozesses, der sich wie seelisches und mentales Sterben anfühlt (vgl. Johannes vom Kreuz über die dunkle Nacht der Sinne und die dunkle Nacht der Seele32) führt zu einer seelischen und geistigen Auferstehung im Hier und Jetzt, zu einem klaren Geist, der weitgehend frei geworden ist von tagträumenden und projizierenden Filtern. Im Unterschied zu Luther und Bonhoeffer verharre ich jedoch nicht in der Antithese zur Scala Claustralium des Guigos II. Beide evangelischen Theologen ersetzten lediglich die Zielstufe der seligen Schau bzw. der Einheitserfahrung (contemplatio) durch den Hinweis auf die Notwendigkeit des Erlebens von Anfechtung (tentatio). Aus pastoralpsychologischer Sicht ist dieser Entwicklungsschritt wichtig, aus der symbiotischen Einheit und Übereinstimmung herauszufallen (quasi aus dem „Paradies“), sich abzugrenzen und ein starkes Ich im Gegenüber zu einem projizierten Du oder auch realen Du zu entfalten („Sünde“, Absonderung, Trennung bis hin zur Erfahrung von „Hölle“). Die Dualität der Ich-Du-Beziehung bzw. der Subjekt-Objekt-Spaltung wird dann durch Fantasien, Rollenzuweisungen und Bilder überbrückt (den projizierenden, fantasierenden Zustand). Das getrennte Ich ist jedoch dazu bestimmt, im nun scheinbar extern gegenüberstehenden „Gott“ die eigene, ihm fremd gewordene Natur wiederzuerkennen und sich mit ihr zu vereinigen. Diese Vereinigung geschieht nach der Stufe der Ichwerdung nicht mehr als Unterwerfung des Ich unter die Fremdbestimmung eines Gottes. Dies würde zur symbiotischen Zerstörung des Ich führen. Unio wird stattdessen erlebt als ein Eintauchen in ein Netzwerk der Liebe, um das höchste Potenzial des Ich zu entfalten („Super-Personalisation“). Diese nun dem Ich offenstehende Entwicklungsstufe verdeutliche ich, indem ich untere Aspekte der contemplatio-Stufe in zeitgenössischer Sprache als „peak experiences“ erläutere.

3.

Spiritualität als Wesensentfaltung des Menschen: peak experiences als alltägliche contemplatio-Erfahrungen

Ein Ziel des Menschen ist aus der Sicht christlicher Mystik, Gottes Gegenwart in allen Dingen und Prozessen auf Erden wahrzunehmen. Letztlich geht es um die Überwindung dualer Projektionen von der Gestalt, dass Gott irgendwo in der Ferne im Außen sei und der Mensch gottverlassen sein Leben lebt. Im Einheitserleben erfährt der Mensch, dass Gott ihm schon immer näher war als er sich 31 Cassian, Unterredungen, 301f. Vgl. Näheres zum bildlosen Beten bei den Wüstenvätern in: Bobert, Mystik, 124ff. 32 Vgl. Scagnetti-Feurer, Himmel, 67–83.

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selbst. Die Einheitserfahrung führt den Menschen zu seiner Wesenserkenntnis und Wesensentfaltung. Nimmt evangelische Spiritualität dies ernst, so dient sie dem Menschen bei seiner Wesensentfaltung und kann zu Bildungsprozessen und zur Weiterentwicklung sozialer Systeme einen grundlegenden Beitrag leisten. Der US-amerikanische Psychologe und Gründervater der Positiven Psychologie Abraham Maslow (1908–1970) versteht den Menschen von seiner biologischen Natur her auf mystische Gipfelerfahrungen zur vollen Gesundheit und Wesensentfaltung hin angelegt. „Der Mensch besitzt eine höhere und transzendente Natur, und sie ist Teil seines Wesens, d. h. seiner biologischen Natur als Mitglied einer Gattung, die der Evolution entsprungen ist.“33 Nach Maslows Forschung handelt es sich bei mystischen Gipfelerfahrungen um menschliche Wesenserfahrungen. Sie stehen jedem Menschen offen, und jeder benötigt sie zu seiner vollen Gesundheit und Wesensentfaltung. „Sie beschränken sich nicht auf randständige Menschen, d. h. Mönche, Heilige oder Yogis, Zen-Buddhisten, Orientalen oder Menschen in einem besonderen Stand der Gnade. Gipfelerlebnisse sind nicht etwas, das im Fernen Osten vorkommt, an besonderen Orten oder einem speziell geschulten oder auserwählten Volk. Es findet statt in der Mitte des Lebens, widerfährt alltäglichen Menschen in alltäglichen Berufen.“34

Der Zugang zu solchen Gipfelerfahrungen ist nicht an spirituelle Übungen – wie Stille und Meditation – gebunden. Sie widerfahren – unter bestimmten Bedingungen – Menschen mitten im Alltag. „Der Himmel ist überall um uns herum, steht im Prinzip immer zur Verfügung, bereit, für ein paar Minuten betreten zu werden. Er ist überall – in der Küche, bei der Arbeit oder auf einem Basketballplatz – überall dort, wo Vollkommenheit passieren kann, wo Mittel zum Zweck werden oder wo ein Job richtig gut gemacht wurde. Das Leben allseitiger Verbundenheit ist leichter erreichbar, als jemals erträumt.“35

Ein „religionsloses Christentum“ im Sinne Bonhoeffers, das sich in Anfechtungen Gottesbilder zerstören lässt und das auf Gott als außerweltliche Projektion verzichtet, kann Gottes Fülle – den „Himmel“ – in der Küche, beim Sport, in Liebesbegegnungen, in stimmigen Beziehungen erleben. Nicht mehr die Randbereiche des Lebens (mit Bonhoeffer: „Gott als Lückenbüßer“) sind auf dieser projektionsfreien Ich-Stufe für das Gotteserleben konstitutiv. Gott begegnet in alltäglichen Verrichtungen. Maslow: „Die zweite große Lektion, die ich gelernt habe, lautete, dass dies eine natürliche, keine übernatürliche Erfahrung war, und ich gab die Bezeichnung ‚mystische Erfahrungen‘ auf und nannte sie ‚Gipfelerlebnisse‘. Sie können wissenschaftlich un33 Maslow, Mystiker, 50. 34 A. a. O., 21. 35 A. a. O., 26.

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tersucht werden. […] Sie befinden sich innerhalb der Reichweite des menschlichen Wissens, sind keine ewigen Geheimnisse. Sie befinden sich in der Welt, nicht außerhalb der Welt. Nicht bloß Priester machen sie, sondern die ganze Menschheit. Sie stellen nicht länger Gegenstände des Glaubens dar, sondern öffnen sich der menschlichen Erforschung und dem menschlichen Wissen.“36

Ich verstehe Maslows Beschreibungen von contemplatio- bzw. Einheitserfahrungen – peak experiences – mitten im Alltag als positive Weiterführung dessen, was Bonhoeffer mit seiner These vom „religionslosen Christentum“ anstrebte. Ohne die Arbeitshypothese bzw. Projektion eines transzendenten, überweltlichen Gottes erleben Menschen sich mitten in alltäglichen Handlungen mit Gott als Fülle des Lebens verbunden. Nichtmystiker, Nicht-Christen beschreiben dabei ihre Erlebnisse mit nahezu den gleichen Worten und Merkmalen, wie dies einst kirchliche Mystikerinnen und Mystiker taten. Maslow: „Ich kann nicht sagen, dass sie identisch miteinander sind – das sind sie nicht. Aber sie sind viel näher daran, identisch zu sein, als ich mir jemals habe träumen lassen. Es war erstaunlich für mich zu hören, wie eine Mutter ihre ekstatischen Gefühle während der Geburt ihres Kindes beschreibt und dabei zum Teil die gleichen Worte und Sätze verwendet, die ich in den Schriften der heiligen Theresa von Avila oder Meister Eckhardt gelesen hatte, oder in japanischen oder hinduistischen Beschreibungen der Erfahrungen von ‚satori‘ oder ‚samadhi‘. (Aldous Huxley macht den gleichen Punkt in ‚Die ewige Philosophie‘.)“37

Die Wichtigkeit von Gipfelerfahrungen für die persönliche Entwicklung wird in Maslows Merkmalsbeschreibungen deutlich. Maslow stellt heraus, dass Gipfelerfahrungen die Weltanschauungen und den Charakter eines Menschen ändern können. „Eine klare Wahrnehmung […] zu haben, dass das Universum aus einem Stück sei und dass man seinen Platz in ihm habe – man sei Teil von ihm, gehöre ihm an –, kann eine so tiefe und erschütternde Erfahrung sein, dass die den Charakter und die Weltanschauung der betreffenden Person für immer ändert.“38

– Maslow spricht sogar davon, dass ein Gipfelerlebnis ein Besuch im Himmel sei: „Ich liebe die Metapher für das Gipfelerlebnis, dass es ein Besuch in einem persönlich definierten Himmel sei, von dem jemand auf die Erde zurückkehre. […] dass er zu jeder Zeit für alle von uns um uns herum existiere, man ihn jederzeit wenigstens für eine kleine Weile betreten könne.“39

36 37 38 39

A. a. O., 18. A. a. O., 22, mit Verweis auf Aldous Huxley, Die ewige Philosophie. A. a. O., 113. A. a. O., 120.

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– Ein Gipfelerlebnis geht mit einer veränderten Wahrnehmung einher (bzw. wird durch sie ermöglicht!): „Es ist die wahrste und totalste Art der visuellen Wahrnehmung oder des Hörens oder des Fühlens. Teils rührt es von einer besonderen Veränderung in der Haltung, die sich am besten beschreiben lässt als eine nicht prüfende, nicht vergleichende, nicht wertende Erkenntnis. Das soll sagen, Figur und Grund werden nicht scharf geschieden, etwa gibt es eine Tendenz, dass Dinge gleich wichtig werden anstatt sie in eine Rangfolge von wichtig bis unwichtig zu bringen.“ Beispielsweise betrachtet die Mutter ihr Neugeborenes: jedes Detail bezaubert sie. Sie lebt eine „Art totaler, nicht vergleichender Akzeptanz“.40

– Die Gipfelerlebnisse setzen einen objektiveren Blick voraus. Man bezieht das Erlebte nicht auf eigene Sorgen oder Bedürfnisse, sondern ist eher bedürfnislos und objektiv: „Normalerweise nehmen wir alles in Bezug auf menschliche Sorgen wahr und insbesondere auf unsere eigenen, selbstbezogenen Sorgen. In Gipfelerlebnissen haften wir nicht an, werden objektiver, fähiger, die Welt wahrzunehmen, als sei sie unabhängig nicht nur von dem Wahrnehmenden, sondern als könne die Natur an und für sich geschaut werden. […] man kann sie in ihrem eigenen Sein (und als Zweck in sich selber) sehen anstatt als etwas, das sich benutzen lässt.“41

– Die Gipfelerlebnisse setzen eine empfangende Haltung voraus sowie Müheund Wunschlosigkeit: „S[eins]-Erkenntnis im Gipfelerlebnis ist passiver und aufnehmender, demütiger, als normale Erkenntnis. Sie ist bereiter und fähiger, zuzuhören.“42 „Weil er weniger motiviert ist, das heißt sich der Mühe-, Wunsch- und Bedürfnislosigkeit annähert, erwartet er in solchen Augenblicken auch weniger von sich. Er ist weniger selbstsüchtig. (Wir müssen uns daran erinnern, dass die Götter generell als ohne Bedürfnisse und Wünsche, ohne Defizite, ohne Fehler angesehen werden, erfreut an allen Dingen. In diesem Sinne wird der unmotivierte Mensch mehr Ebenbild Gottes.)“43

– Das alltägliche Zeit- und Raumgefühl verliert seine Enge und weitet sich zu einem umfassenderen Dazugehören:

40 41 42 43

A. a. O., 114. A. a. O., 115. A. a. O., 119. A. a. O., 121.

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„In dem Gipfelerlebnis findet eine sehr charakteristische Desorientierung hinsichtlich Zeit und Raum statt bis hin zum Verlust des Bewusstseins von Zeit und Raum. Positiv ausgedrückt entspricht das der Erfahrung von Universalität und Ewigkeit.“44

– Der Erfahrende hadert nicht mehr mit dem Bösen und lässt seine Konflikte hinter sich: „Die Welt, die in Gipfelerlebnissen gesehen wird, ist schön, gut, wünschenswert, wertvoll usw. und wird niemals als böse und ablehnenswert erfahren. Die Welt wird akzeptiert. Die Leute werden sagen, dass sie sie dann verstehen. Am wichtigsten vor allem für den Vergleich mit religiösem Denken ist, dass sie irgendwie mit dem Bösen versöhnt werden. Das Böse selber wird akzeptiert und verstanden und am rechten Platz im Ganzen gesehen, als etwas, das dazugehört, als unvermeidlich, als notwendig und darum als angemessen.“45

– Auf dem Gipfelerlebnis hat der Mensch eine veränderte Selbsterfahrung – seelisch, in seinen Werten und Handlungszielen: „Für Gipfelerlebnisse werden solche Emotionen wie Staunen, Ehrfurcht, Ehrerbietung, Demut, Ergebung und sogar Lobpreis im Angesicht der Größe der Erfahrung berichtet. […] In Gipfelerlebnissen tendiert man, wenn auch vorübergehend, dazu, Furcht, Angst, Hemmung, Widerstand und Kontrolle, Fassungslosigkeit, Zögern und Zwanghaftigkeit zu verlieren. Die tiefe Furcht vor Auflösung, vor Krankheit […]“,46

die Person überwindet bisherige Konflikte und Polarisierungen. Insofern haben Gipfelerfahrungen auch eine therapeutische Wirkung. Man fühlt sich insgesamt als Person wirklicher, fühlt sich seiner wahren Identität nahe: „In Gipfelerlebnissen gibt es eine Tendenz, näher heranzurücken an eine vollkommene Identität oder Einzigartigkeit oder Besonderheit einer Person oder ihres wirklichen Selbst. Man wird eine wirklichere Person.“47

– Selbstbestimmtes Leben und Erkenntnis der eigenen Stärke: „Man empfindet sich in dieser Zeit mehr als verantwortlich, aktiv, als kreatives Zentrum der eigenen Aktivitäten oder der eigenen Wahrnehmungen, als selbstbestimmter, als freier Handelnder, mit mehr ‚freiem Willen‘ im Gegensatz zu sonst.“48

44 45 46 47 48

A. a. O., 117. Ebd. A. a. O., 119. A. a. O., 120. Ebd.

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– Die Entdeckung der eigenen Stärke führt zu einer liebenden Öffnung für Andere: „Aber es wurde auch entdeckt, dass genau die Personen, die die klarste und stärkste Identität haben, genau die sind, denen die größten Fähigkeiten eignen, das Ego oder Selbst zu transzendieren und selbstlos zu werden, wenigstens relativ selbstlos und egolos. […] Wer Gipfelerlebnisse hat, wird liebender und toleranter, und so wird er spontaner und ehrlicher und unschuldiger.“49

– Die Diastase zwischen Himmel und Welt ist aufgelöst – der Himmel wird allgegenwärtig erfahren: „Was das ‚Bewusstsein der Einheit‘ genannt wurde, ist oft durch Gipfelerlebnisse gegeben, etwa in dem Sinne, dass das Heilige in und durch das spezielle Vorkommen des Augenblicks, des Säkularen, des Weltlichen scheint.“50

Besonders wichtig für die Persönlichkeitsentwicklung als auch für soziale Systeme und deren Weiterentwicklung (bzw. kulturbegründend) ist Maslows Entdeckung, dass Menschen in Gipfelerfahrungen bestimmte Werte als selbstevident erfahren. Er nennt sie „S-Werte“, Seins-Werte. „Vielleicht war meine wichtigste Entdeckung das, was ich ‚S-Werte‘ oder die inneren Werte des Seins (being) nenne.“51 Eine nähere Erläuterung dazu findet sich bei Maslow in „S-Werte als Beschreibung der Wahrnehmung während Gipfelerlebnissen“.52 Im Folgenden liste ich diese Werte nur kurz auf: Wahrheit, Gutheit, Schönheit, Überwindung von Einseitigkeit, Lebendigkeit, Einzigartigkeit, Perfektion („nichts Überflüssiges, nichts fehlt; alles am richtigen Platz“53), Notwendigkeit, Vollständigkeit, Gerechtigkeit, Einfachheit, Reichtum, Mühelosigkeit, spielend Selbstgenügsamkeit. Wichtig ist dabei, dass es sich nicht um Emotionen des Erlebenden handelt. „Die Beschreibung der S-Werte, verstanden als Aspekte der Realität, sollten unterschieden werden von den Haltungen und Emotionen des Seinskenners gegenüber dieser genannten Realität und deren Attributen, etwa Ehrfurcht, Liebe, Bewunderung […].“54

49 50 51 52 53 54

A. a. O., 121. A. a. O., 122. A. a. O., 118. A. a. O., 146–151. A. a. O., 146. A.a.O, 149.

506

4.

Sabine Bobert

Schweigen und Meditation als Einüben von Grundhaltungen zur Öffnung für peak experiences (contemplatio-Erfahrungen)

Ich verstehe Maslows Forschung als Fortführung und Konkretion dessen, was Bonhoeffer mit seiner These vom „religionslosen Christentum“, das auf Gott als außerweltliche Projektion verzichtet, vorschwebte. Luthers Schritt hinein in die Anfechtung – hinein in den radikalen Zweifel an Gott, wie ihn die Kirche bisher lehrte – bei gleichzeitigem Festhalten an Gottes Bezogensein in Jesus Christus auf uns – war ein fundamentaler Schritt, um das Einzel-Ich des Menschen aus der großen Gottes-Symbiose herauszulösen. Luther begründete die Ich-AG im Glauben, die sich vom symbiotischen Kirchen- und Gottesgehorsam lossagt und die die Gottesbegegnung in Jesus Christus zum einzigen Maßstab für die Gottesbegegnung erhebt. Die Christusbeziehung stärkt den Einzelnen, statt ihn zu schwächen. Bonhoeffer führt den Anfechtungsgedanken als Gipfel des spirituellen Erlebnisses fort und entwickelt ihn zum Konzept des „religionslosen Christentums“ weiter. Dies ist ein Christentum, das auf Gott als außerweltliche Projektion verzichtet und Gott mitten im Alltag in Fülle und Kraft statt in Grenzsituationen erlebt. Faktisch heben beide damit die christliche Mystik auf neuzeitliches Niveau: Die Kontemplationserfahrung der „seligen Schau“ wird auf das Niveau des autonomen Ichs gehoben. Das Ich trennt sich von Gottesprojektionen als Lebensbewältigungsmittel und löst sich aus klerikalen Kontexten heraus. Es steuert seinen Alltag autonom und lebt in bewusster Weltlichkeit. Abraham Maslow beschreibt mit seiner psychologischen Entdeckung von „peak experiences“ mitten im Alltag einen weltlichen Alltag, der mit Grunderfahrungen von Mystikern koinzidiert. Mein Aufsatz zielt darauf, die christliche Mystik mit evangelischem Profil genau in dieser Weltlichkeit und Alltäglichkeit, die Abraham Maslow beschreibt, fortzudenken. Dies beinhaltet den Abschied vom außerweltlichen und kirchlich verwalteten Gott. Darüber hinaus zielt mein Ansatz auf den Abschied von Gottesprojektionen. Der bildlosen christlichen Mystik, wie sie Evagrius Ponticus im 4. Jh. auszuformulieren begann, geht es um die Überwindung dualer Projektionen dergestalt, dass Gott irgendwo in der Ferne im Außen sei und der Mensch gottfern oder -verlassen sein Leben lebt. Im Einheitserleben erfährt der Mensch, dass Gott ihm schon immer näher war als er sich selbst ist. Abraham Maslow vergleicht die notwendige (wenngleich nicht hinreichende) Grundhaltung für das mystische Einheitserleben mit den Grundhaltungen des Geschehenlassens beim sexuellen Erleben, Einschlafen, Entspannen oder Wasserlassen. „Die günstigste Geistesverfassung, um sie zu ‚empfangen‘, ist fast eine Art Passivität, ein Vertrauen oder eine ‚Kapitulation‘, eine taoistische Haltung des Gewährenlassens ohne

Den Himmel überall finden

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Störung oder Eingriff. Man muss in der Lage sein, Stolz, Wille, Macht, Steuerung, Kontrolle aufzugeben. Man muss in der Lage sein zu entspannen und es passieren zu lassen.“55 „So läuft die ganze Sache nicht bloß in religiöser Bekehrung oder mystischer Erfahrung ab, sondern auch in der Sexualität. Es ist sehr einfach, sexuelle Elemente in der mystischen Literatur ausfindig zu machen, und man kann leicht einsehen, dass eine sexualfeindliche Religion etwas Derartiges ablehnen musste.“56 „Gleiches gilt für Wasserlassen, Stuhlgang, Schlafen, Entspannung, etc. Alles das beinhaltet die Fähigkeit, loszulassen, die Dinge geschehen zu lassen. Willenskraft stört nur. In diesem gleichen Sinne scheint es, als ob der Einsatz von Willenskraft Gipfelerlebnisse hemme.“57

Bereits der Friedrich Heiler-Schüler Gustav Mensching beschreibt in seinem Buch „Das Heilige Schweigen“ die Auffassung der Mystik wie folgt: „Der Intensität des Interesses an Gott entspricht das Maß an religiöser Passivität und das Bewußtsein des Gnadenwaltens Gottes.“58 „Wo eigenes Wirken für möglich und wichtig gehalten wird, da ist für Gott kein Raum.“59 „[…] der Wille hat die Aufgabe, sich selbst aufzuheben.“60 Eine „Dunkle Nacht der Seele“, wie sie noch von William James mit Bezug auf den Mystiker Johannes vom Kreuz postuliert wurde, oder ein sogenanntes Brechen von Stolz erachtet Maslow hingegen für unnötig. „‚Loslassen‘, ‚Vertrauen‘ und dergleichen meinen nicht unbedingt ‚Dunkle Nacht der Seele‘, ‚pure Verzweiflung‘, Brechen des Stolzes oder In-die-Knie-Zwingen. Gesunder Stolz geht mit gesunder Empfänglichkeit einher. Nur ungesunder Stolz muss ‚gebrochen‘ werden.“61 „Stolz kann leicht krank machen, aber ebenso kann es auch der Mangel an Stolz, d. h. Masochismus. Es sieht so aus, als müssen die Menschen in der Lage sein, sowohl sich selbst zu bestätigen (stur, halsstarrig, wachsam, aufmerksam, dominant, aggressiv, selbstbewusst, etc.) als auch zu vertrauen, sich zu entspannen und empfänglich und taoistisch zu sein, Dinge ohne Eingreifen laufen zu lassen, demütig zu sein und sich zu fügen.“62

Im Folgenden gehe ich auf Schweigen und Meditation als Einüben in die Wahrnehmungshaltung für Gipfelerlebnisse ein. Es geht um ein Loslassen der Identität als homo faber. Es geht um das Einüben einer Wahrnehmung, die in der 55 56 57 58 59 60 61 62

A. a. O., 26. A. a. O., 32. A. a. O., 33. Mensching, Schweigen, 27. A. a. O., 15. A. a. O., 16. Maslow, Mystiker, 34. A. a. O., 32f.

508

Sabine Bobert

Lage ist, die Seins-Werte, wie sie Maslow nennt, als wahre Lebenswerte zu erleben – und nicht nur zu denken.

4.1

Schweigen

Dietrich Bonhoeffer versteht Schweigen in erster Linie als wortbezogen, dialogisch: als Warten auf das Wort des Mitmenschen und auf Gottes Wort und auf das Wahrnehmen.63 Schweigen und Reden stehen im Wechselverhältnis zueinander. Dies ist Bonhoeffer gerade auch für den geistlichen Beruf und das Predigen als Aufgabe wichtig. Ein Berufsredner, der keine Schweigezeiten kennt, verfällt ins Gerede. Ein undialogisches Schweigen, das sich selbst als Tugend setzt und sich nicht mehr durch Wahrnehmung stören lässt, wirkt tötend. „Schweigen heißt nicht Stummsein, wie Wort nicht Gerede heißt. Stummsein schafft nicht Einsamkeit und Gerede schafft nicht Gemeinschaft.“64 Aus dem schweigenden Hören entspringt ein sachlicher, pointierter Redestil. Auch für die Predigt fordert Bonhoeffer: „Stärkste Einschränkung des Worts, Bescheidung: Vermeiden jedes Überflusses. Das Wort muß wiegen.“65 Schweigen und innere Sammlung, wie sie in der Meditation eingeübt werden, erschaffen einen Wahrnehmungsraum für das Hören. Sie intensivieren andere Wahrnehmungskanäle. Claudia Kunz schreibt in ihrer Monografie „Schweigen und Geist“: „Schweigendes Hören ist die Basis jeder tiefergehenden und d. h. personalen Beziehung und Gemeinschaft.“66 Erst in diesem inneren Hörraum durch konzentrierte Gedankenstille öffnen sich Menschen einander und Gott. Dies „drückt sich in der Wendung vom ‚Ganz-Ohr-Sein‘ aus“.67 Erst durch diesen Hörraum verwandelt sich ein äußeres in ein inneres Wort, das dem eigenen Denken und Fühlen einverleibt wird. „Schweigendes Hören kann geradezu als ein ‚Sinn‘ des Glaubens bezeichnet werden, d. h. ein Wahrnehmungsorgan und innerer Wahrnehmungsraum für Gott und sein Wort.“68 Daher versteht Kunz das wortbezogene innere Schweigen als die LebensWendestelle. „Der Glaube kommt vom Hören und vom Schweigen, d. h. er kommt sowohl ‚von außen‘ wie ‚von innen‘. Der Glaube kommt wesentlich vom schweigenden Hören, denn nur auf diesem Weg ist er einerseits echtes Hören auf ein Wort, das nicht aus Eigenem stammt, sondern Gottes unverfügbares Wort ist, und andererseits kommt der Glaube so wirklich 63 64 65 66 67 68

Vgl. zum Folgenden Bobert-Stützel, Bonhoeffers Pastoraltheologie, 179ff. Gemeinsames Leben, DBW. 5, 67. Homiletik-Vorlesung, DBW 14, 499. Kunz, Schweigen, 702. A. a. O., 698. A. a. O., 700.

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aus der Personmitte des Menschen und ist dort verwurzelt. Schweigen ist die Kontaktund Wendestelle zwischen dem in der hierarchischen Beziehung ekklesial-vokal ergehenden göttlichen Wort und dem Herzen des Menschen.“69

„Das Schweigen ist also die Kontakt- und Wendestelle von außen nach innen wie von innen nach außen.“70 Schweigen und Rechtfertigungslehre sind eng miteinander verknüpft: Schweigend-empfangend gewinnt der Mensch seine Identität. Der Mensch im Alltagsbewusstsein ist sich selbst in seiner innersten Mitte weitgehend unbewusst. Seine Wesensmitte ist ihm entzogen und durch Alltagsgedanken und -gefühle verdeckt. Diese Wesensmitte wird durch Schweigen und Meditation wahrnehmbar. Claudia Kunz: „Hörendes Schweigen ist […] der ontologische ‚Stand‘ des Menschen vor Gott.“71 Sie spricht mit Bezug auf die Kirchenväter von einem „inspirativen Selbstverständnis“. „[…] ob – mit Gregor von Nazianz gesprochen – die Fühlungnahme mit dem Gottesgeist gelingt, wird also zur Schlüsselfrage menschlichen Selbstverständnisses. Dieses vor allem an der Zeit des Schweigens abgelesene inspirative Selbstverständnis wirkt sich auch in der Zeit des Redens aus.“72

Die Gegenwart Gottes wahrnehmend, gewinnt und erneuert der Mensch seine wahre Identität. Daher spricht Claudia Kunz von einem kontemplativ-betenden Grundvollzug, bei dem Stille eine grundlegende Rolle spielt. „Darin liegt bereits der entscheidende Hinweis auf den Grundvollzug menschlicher Identität, der ein kontemplativ-empfangender ist. In der hörenden Offenheit auf den Zu- und Anspruch Gottes gewinnt sich menschliche Identität, und in der Entsprechung zu Gottes Wort vollzieht sie sich. […] muss man von einem betenden Grundvollzug sprechen.“73

Das Schweigen ist der kreative Gegenpol zur aktiven Seite von Spiritualität. Der Mensch als creator temporis (Schöpfer der Zeit), als homo faber und Macher bedarf der grundlegenden Selbsterfahrung des Lebens aus Stille und der kontemplativen Selbstwahrnehmung heraus. Der zeitliche Zusammenhang von Aktion und Kontemplation ist in der gegenwärtigen Gesellschaft zerbrochen. In einem Leben, in dem es keine Zeiten des Schweigens und der Kontemplation mehr gibt, kommt der Mensch sich zunehmend abhanden.

69 70 71 72 73

Ebd. A. a. O., 704. A. a. O., 706. A. a. O., 690. Ebd.

510

Sabine Bobert

„Wer keine Zeit für Kontemplation und Schweigen mehr hat, der hat, weil er sie nicht mehr empfangen kann, auch keine Zeit und vor allem keine Gegenwart; ihm eröffnet sich kein Raum des Handelns, und er hat weder Raum noch Zeit für andere und kann so auch anderen weder einen Raum des Daseins noch eine Zeit des Werdens lassen. Ohne Zeiten des Schweigens und der Kontemplation verliert der Mensch seine Menschlichkeit. Es ist gerade die von M. Picard beobachtete Unproduktivität des Schweigens – ‚das Schweigen ist heute das einzige Phänomen, das ‚ohne Nutzen‘ ist‘ –, die das Humanum wahrt und den Menschen davor bewahrt, auf das reduziert zu werden, was er leistet, arbeitet und redet.“74

Der Mensch ist ein vieldimensionales Wesen. Er ist zeitlich, und er ist zur Teilhabe an der Ewigkeit bestimmt. In der Gedankenstille der Kontemplation macht er die Kernerfahrung des „nunc stans“, des stehenden Jetzt. Er erhebt sich über die physische Erfahrung der Zeitlichkeit. „Exemplarisch kann auf die psychologische Erfahrung von Zeitlosigkeit oder der stillstehenden Zeit in der Versenkung hingewiesen werden, wie sie C. Albrecht beschrieben hat: ‚Während der Versenkung verlangsamt sich der Erlebnisstrom immer mehr. Wo keine Akte mehr geschehen, da fehlen die Wegmarken für das Zeitgefühl. Der Versunkene erlebt sich nicht mehr als fortschreitend, sondern als stehend. Er spricht von ‚stehender Ruhe‘. Die Ruhe steht in ihm, und er steht in der Ruhe. Man kann verstehen, dass die Zeit stillzustehen scheint. […]‘.“75

Die Erfahrung der Zeitlosigkeit in Stille und Meditation „steht gleichsam quer zur horizontalen Welt- und Aktionszeit, vermittelt eine Erfahrung von Zeit-Transzendenz. Zur Zeitlichkeit des Menschen gehört auch dies, dass er nicht nur in Zeit eingebunden ist, sich vielmehr auch innerlich über sie erheben kann. Diese seine Zeit-Überlegenheit wird oft mit seiner Fähigkeit, Vergangenheit zu erinnern und Zukunft vorauszuschauen und beide in diesem Sinn zu vergegenwärtigen, veranschaulicht.“76

4.2

Meditation

Meditation schult die Wahrnehmungsfähigkeit des Geistes und führt zur Heilung des Gefühlslebens, sodass die Schönheit der Welt und die Immanenz Gottes in ihr wieder wahrgenommen werden können. Hauptsächlich geschieht dies, indem der Meditierende durch konzentrierte Selbstbeobachtung auf die Ebene der Metakognition gelangt. Sie schult im inneren Schweigen und Beobachten die Verantwortung für das Erschaffen gedanklicher und emotionaler Formen, bevor sie sich in Sprache und Handlungen manifestieren. Innere Dialoge und Mono74 A. a. O., 693. 75 A. a. O., 685. 76 A. a. O., 685f.

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511

loge sowie negative Gefühle verstellen die Wahrnehmung für Gottes Gegenwart in allen Dingen und Prozessen. Geistige und emotionale Klarheit führt zur Erfahrung, der Himmel sei überall, wie es Maslow beschreibt. In der Meditationsforschung sind bislang zwei Hauptgruppen von meditativen Übungen gut erforscht: (1) Achtsamkeitsmeditation und (2) Übungen zu Hingabe und Mitgefühl. Beide Übungsgruppen sind auch im Christentum zentral. Exemplarisch hebe ich hierfür das christliche Jesusgebet und Übungen aus dem Bereich der christlichen Liebesmystik hervor. 1. Achtsamkeitsmeditation: In der Achtsamkeitsmeditation lernt der Übende, aus seiner traumähnlichen Alltagstrance und seiner Mischung von Tagträumen, Gedankenflut und sedimentierten Emotionen aufzuwachen und voll und möglichst projektionsfrei im gegenwärtigen Augenblick anzukommen. Die Wirkung gleicht dann der von Maslow beschriebenen Erfahrung, dass „der Himmel überall“ ist. Sobald der Übende zum Beobachter seiner Gedanken- und Gefühlsströme wird, also auf die Stufe von Metakognition gelangt, klären sich Gedanken und Gefühle zunehmend. Der Professor für Klinische Psychologie Brant Cortright hebt hervor, dass bereits 30 Minuten Achtsamkeitsmeditation täglich über acht Wochen lang zum messbaren Wachstum bestimmter Gehirnregionen führt. „Achtsamkeitsmeditation führt zu einer Vergrößerung des Hippocampus auf seiner gesamten Länge. Gleichzeitig verdicken sich die kortikalen Strukturen in anderen Hirnarealen, insbesondere dem präfrontalen Cortex.“77 Noch ausgeprägter fallen diese Messergebnisse bei Langzeitmeditierenden aus. „Die Zunahme an grauer Substanz im Hippocampus war direkt proportional zur Anzahl von Jahren, die ein Proband mit der regelmäßigen Praxis von Achtsamkeitsmeditation zugebracht hatte. Auch in anderen Hirnarealen, die mit dem Selbstbewusstsein und der Empathie in Verbindung stehen, fand man mehr graue Substanz. Andererseits war diese in der Amygdala verringert, jenem Teil des Gehirns, der in Erwartung von angstmachenden oder traumatischen Stimuli ständig in Habachtstellung ist. Letztere Veränderungen werden mit einer geringeren inneren Unruhe, Angst und Stressbelastung erklärt.“78

Zur Achtsamkeitsmeditation zählen die Zen-Meditation und im Christentum das aus der frühen Kirche stammende Jesusgebet.79 2. Übungen zu Hingabe und Mitgefühl: Abraham Maslow hebt die Verschränkung von Werten und emotionalem Gestimmtsein zwischen dem Wahr77 Cortright, Gehirn, 229, vgl. 226ff. 78 A. a. O., 230. 79 Näheres zum Forschungskontext und zur Übungspraxis habe ich in Band 2 dieses Handbuchs sowie in meinem Buch „Mystik und Coaching“ dargelegt (Bobert, Spiritualität, dies., Mystik, vgl. www.mystik-und-coaching.de sowie Vorträge und Anleitungen im Youtube-Kanal „Mystik und Coaching Prof. Bobert“).

512

Sabine Bobert

nehmenden und Wahrgenommenen hervor. „Gipfelerlebnisse haben tendenziell eher nette Leute, und je besser die Umweltbedingungen für jemanden, umso eher kommt es zu Gipfelerlebnissen.“80 „Es scheint mir bereits festzustehen, dass irgendeine Art von dynamischem Isomorphismus im Gange ist, eine Art gegenseitiger und paralleler Rückkoppelung oder ein Nachhall zwischen den Eigenschaften des Wahrnehmenden und der wahrgenommenen Welt, so dass sie dazu neigen, sich gegenseitig zu beeinflussen. […] Güte kann eigentlich nur von einem gütigen Menschen wahrgenommen werden. […] die Person, die gut, wahrhaftig und schön ist, kann dies auch in der äußeren Welt wahrnehmen.“81

In der christlichen Meditation spielte lange Zeit auch die emotionale Kultivierung von Liebe, Erotik und Hingabe zu Gott und Jesus Christus eine Rolle. Biblische Grundlage hierfür war seit Origenes das Hohelied.82 Cortright unterscheidet von der Erforschung her drei Übungsgruppen: a) Die Verehrung eines Objekts der Liebe wie Jesus, Krishna oder die göttliche Mutter mit Liebe und Andacht, bei gleichzeitiger Desidentifikation von negativen Gefühlen und Impulsen; b) sich mit einem Gefühl der Liebe, Hingabe auf das Herz konzentrieren und dabei wiederum negativen Gefühlen keine Aufmerksamkeit mehr schenken; c) die vor allem vom Buddhismus her bekannte Praxis, bei der der Meditierende sein Mitgefühl und seine Güte zunächst auf Freunde und Familienmitglieder ausdehnt und schließlich auf andere Wesen, die Leid erleben. Auch diese Gruppe der Übungen wirkt sich bereits nach rund 30 Minuten täglich über zwei Monate auf die Hirnstrukturen aus. Cortright fasst die Ergebnisse der Meditationsforschung hierzu wie folgt zusammen: „Auch Übungen in Hingabe und Mitgefühl bringen den Hippocampus zum Wachsen, verstärken die Durchblutungsrate, erzeugen positivere Gefühle und Empathie und reduzieren Stress, Ängste und Depressionen.“83 „Sich 20 bis 30 Sekunden auf den Bereich des Herzens zu konzentrieren führt zu einer verbesserten Kohärenz des Herzrhythmus und der Gehirnwellenmuster. Sich auf Gefühle von Liebe, Hingabe, Wertschätzung oder Dankbarkeit zu konzentrieren und dabei im Herzen zentriert zu sein verbessert die Kohärenz zwischen Herz und Gehirn. Es stärkt die Immunantwort des Körpers, wie sich anhand eines höheren IgA-Werts ablesen lässt, eines Biomarkers der Immunfunktion. Es vermindert Stress, wie sich anhand niedrigerer Glucocorticoid-Werte und eines niedrigeren Blutdrucks nachweisen lässt. Es erhöht die Ausschüttung des sogenannten Jugendhormons DHEA“.84

80 81 82 83 84

Maslow, Mystiker, 27. A. a. O., 26. Vgl. Bobert, Jesus-Gebet, 259–265 sowie 346ff. Cortright, Gehirn, 233, vgl. 231ff. A. a. O., 239

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513

„Mit Oxytocin, Melatonin und DHEA sind drei hormonelle Neurogenese-Stimulatoren im Spiel, die bei Übungen in Demut und Mitgefühl verstärkt ausgeschüttet werden.“85

Auch Cortright hebt wie Maslow im Duktus der mystischen Tradtionen hervor, dass Meditationsübungen nicht auf singuläre besondere Erfahrungen abzielen, sondern auf die Humanisierung bzw. Weiterentwicklung des Menschen als Mensch. Die spirituellen Traditionen „betrachten die Verwirklichung des achtsamen Gewahrens und der Liebe als permanente Seinszustände, in denen die alltäglichen Verrichtungen auf einer höheren Ebene von Frieden und Freude ausgeführt werden – im Licht der Liebe, die der Seele innewohnt, losgelöst von äußeren Umständen oder Ereignissen. Achtsamkeit im Alltag bringt uns ins ewige Jetzt, in dem wir dem, was ist, mit Frieden und freimütiger Akzeptanz begegnen.“86

Painadath beschreibt diesen Zielzustand, über die Perspektive der Meditationsforschung hinausgehend, als Erfahrung des transpersonalen Selbst, was zu einer veränderten Weltperspektive führt. „Im tiefen spirituellen Bewusstsein erfährt der Mensch die Immanenz des Göttlichen in seinem Seinsgrund.“87 Statt der Ich-Du-Beziehung wird Gott hier zunehmend als der alles durchdringende Geist erlebt, „als das transpersonale Selbst.“88 „Dann wird es klar: Der Gott, zu dem ich beten will, ist eigentlich der Geist, der in mir betet (Röm 8,26). Gott ist das eigentliche Subjekt des Betens.“89

Literatur Quellen Angelus Silesius, Geistreiche Sinn- und Schlussreime (/Cherubinischer Wandersmann), Wien 1657 (/1675). Bonhoeffer, Dietrich, Dietrich Bonhoeffer Werke, Hg.: E. Bethge u. a., Gütersloh 1986. –, Gesammelte Schriften, Hg.: E. Bethge, München 1958. Cassian, Unterredungen mit den Vätern. Collationes Patrum. Münsterschwarzach 2011. Evagrius Ponticus, Über das Gebet (Tractatus de Oratione), übersetzt von John Eudes Bamberger und Guido Joos, Münsterschwarzach 2011. Guigo der Kartäuser, Scala claustralium sive tractatus de modo orandi, Patrologia Latina 184, 475–484.

85 86 87 88 89

A. a. O., 234. A. a. O., 235. Painadath, Gottes Geist, 117. A. a. O., 121. A. a. O., 121f.

514

Sabine Bobert

–, Die Leiter der Mönche zu Gott. Eine Hinführung zur lectio divina, übersetzt von Daniel Tibi, Nordhausen ³2011. Luther, Martin, Werke. Kritische Gesamtausgabe, Weimar 1883ff (WA).

Forschungsliteratur Baier, Karl, Meditation und Moderne, Würzburg 2009. Bobert, Sabine, Jesus-Gebet und neue Mystik. Grundlagen einer christlichen Mystagogik, Kiel 2010. –, Mystik und Coaching, Münsterschwarzach 2011. –, Postmoderne Spiritualität am Beispiel der Therapieszene, in: Zimmerling, Peter (Hg.), Handbuch Evangelische Spiritualität, Band 2: Theologie, Göttingen 2017, 208–228. Bobert-Stützel, Sabine, Frömmigkeit und Symbolspiel, Göttingen 2000. –, Dietrich Bonhoeffers Pastoraltheologie, Gütersloh 1995. Cortright, Brant, Das bessere Gehirn. Wie Sie lebenslang die Bildung neuer Nervenzellen anregen, München 2017. Kunz, Claudia, Schweigen und Geist. Biblische und patristische Studien zu einer Spiritualität des Schweigens, Freiburg/Basel/Wien 1996. Maslow, Abraham, Jeder Mensch ist ein Mystiker, Köln/ Kassel 2010. Mensching, Gustav, Das Heilige Schweigen. Eine religionsgeschichtliche Untersuchung, Gießen 1926. Nicol, Martin, Meditation bei Luther, Göttingen 1984. Ott, Ulrich, Meditation für Skeptiker. Ein Neurowissenschaftler erklärt den Weg zum Selbst, München 2010. Painadath, Sebastian, Gottes Geist reißt Mauern nieder. Die Erneuerung unseres Glaubens durch interreligiösen Dialog, München 2002. Scagnetti-Feurer, Tanja, Himmel und Erde verbinden. Integration spiritueller Erfahrungen, Würzburg 2009.

Vierter Teil: Seelsorge und Begleitung

Peter Zimmerling

Trinitarisch geprägte Seelsorge Skizze der Beziehung zwischen evangelischer Spiritualität und Poimenik

Evangelische Spiritualität gewinnt ihre Gestalt im Horizont des Glaubens an den dreieinigen Gott. In der Trinitätslehre findet sie die „Rahmentheorie“, die es ihr erlaubt, die gesamte Wirklichkeit in ihrer Vielfältigkeit auf Gott zu beziehen.1 Die Alte Kirche hat in diesem Zusammenhang die sog. Appropriationslehre entwickelt. Sie appropriiert den einzelnen Personen der Trinität verschiedene Dimensionen der Wirklichkeit: Dem Vater die Schöpfung, dem Sohn die Erlösung und dem Heiligen Geist die Heiligung. Wegen des altkirchlichen Grundsatzes opera ad extra sunt indivisa, die Werke Gottes nach außen sind unteilbar, hat der Mensch es trotzdem überall – in Natur, Geschichte und eigener Existenz – mit ein und demselben trinitarischen Gott zu tun.2 Es gibt keine Schöpfung durch den Vater, an der der Sohn und der Heilige Geist nicht mitbeteiligt wären. Genauso gibt es keine Versöhnung durch den Sohn, die nicht gleichzeitig das Werk des Vaters und des Heiligen Geistes wäre. Schließlich ist auch die Heiligung nicht allein Tat des Heiligen Geistes, sondern gleichermaßen des Vaters und Jesu Christi. In der Seelsorge wird diese Lehre konkret, weil die Fragen und Anliegen eines Menschen und seine gesamten Lebensbezüge in das Licht des Wirklichkeitsanspruches des christlichen Glaubens und der Rechtfertigung des Menschen gestellt werden.3 Die Trinitätslehre als „Rahmentheorie“ gilt also sowohl für die Spiritualität als auch für die Seelsorge. Dabei stehen beide seit der empirischen Wende Anfang der 1970er-Jahre mit ihrer Konzentration auf die Humanwissenschaften in der Seelsorge in einer spannungsreichen Beziehung. Auch wenn die Frage nach dem Proprium der Seelsorge gegenüber der Therapie heute nicht mehr zur starren Frontenbildung des vergangenen Jh. führt, ist sie letztlich nicht beantwortet. Im Folgenden soll gezeigt werden, inwiefern gerade eine trinitari1 Vgl. Zimmerling, Theologie; vgl. ders., Grundlegung. 2 Seeberg, Dogmengeschichte, 145. 3 Vgl. Peters, Christliche Seelsorge; dazu auch Rau, Albrecht Peters, bes. 337ff; Hartmann, Lebensdeutung; zuletzt Eschmann, Theologie der Seelsorge.

518

Peter Zimmerling

sche Konzeption die Seelsorge befruchten kann. Die mit dieser Konzeption einhergehende Verbindung von Spiritualität und Seelsorge vermag letztere vor einer Überfremdung durch die Therapie zu bewahren. Mehr noch: durch die trinitarische Konzeption können humanwissenschaftliche Erkenntnisse und Methoden theologisch begründet in die Seelsorge integriert werden. Ohne diese theologische und spirituelle Orientierung geht das besondere Profil der kirchlichen Seelsorge gegenüber der Therapie verloren. Kurz gesagt: die Seelsorge braucht die Spiritualität. Diese Wechselbeziehung gilt aber auch umgekehrt: evangelische Spiritualität – verstanden als der äußere Gestalt gewinnende gelebte Glaube –, braucht die Seelsorge zu ihrer Vergewisserung, Vertiefung und Korrektur.

1.

Die Leistungsfähigkeit der trinitarisch geprägten Seelsorge im Vergleich mit anderen Konzeptionen

1.1

Stärken des trinitarischen Ansatzes gegenüber der humanwissenschaftlichen Seelsorge

Indem die Trinitätslehre der Seelsorge die Berücksichtigung der menschlichen Geschöpflichkeit zur theologischen Aufgabe macht, wird der Weg frei, psychologische Erkenntnisse und therapeutische Methoden, die sich der wissenschaftlichen und damit methodischen Erforschung bzw. Heilung der menschlichen Psyche widmen, theologisch begründet in die Seelsorge zu integrieren. Gleichzeitig führt die Integration im Rahmen der trinitarischen Seelsorgekonzeption zu einer heilsamen Begrenzung dieser Erkenntnisse und Methoden. Die Botschaft von der Rechtfertigung allein aus Gnaden, der Kern reformatorischer Christologie, markiert die Grenze therapeutischen Bemühens: Es kann und braucht den Menschen nicht zu erlösen.4 Die Konsequenz daraus ist eine Entmythologisierung der Therapie, weg von ihrer „messianischen Aufladung“5 hin zur Selbstbegrenzung und realistischen Einschätzung therapeutischer Möglichkeiten. Eine weitere Gefährdung des herkömmlichen therapeutischen Bemühens, vor allem im psychoanalytischen Bereich, besteht darin, über der „Archäologie der Seele“ ihre „Futurologie“ zu vergessen, so vor Jahren Rudolf Bohrens provozierende Formulierungen.6 Therapien, die mehrere hundert Stunden dauern, 4 Eine Einsicht, die durchaus auch von Psychotherapeuten selbst vertreten wird: vgl. dazu Bopp, Priesterherrschaft; zum Ganzen auch Möller, Seelsorge, 415f. 5 Möller, Seelsorge, 415. 6 Vgl. hier und im folgenden Bohren, Macht und Ohnmacht, 22.30, Anm 8.

Trinitarisch geprägte Seelsorge

519

sind nichts Außergewöhnliches. Auch in diesem Zusammenhang bietet die trinitarische Seelsorgekonzeption die Chance, die Grenzen der therapeutischen Erkenntnisse und Methoden zu erkennen. Die Integration der Dimension des 3. Artikels, d. h. der Möglichkeiten des Heiligen Geistes, in die Seelsorge, hilft, ihr neue Wirkungsfelder zu erschließen. Die Möglichkeiten des Geistes übersteigen die in der Psyche des Menschen liegenden Selbstheilungskräfte und verhindern so, den Seelsorgesuchenden auf irgendwelche Unmöglichkeiten festzulegen.7 Wenn der Geist wirkt, bricht er ungute Festlegungen der Vergangenheit auf und befreit zu neuen, zukünftigen Erfahrungen. Aus diesem Grund scheint mir die Wiederentdeckung der heilenden Wirkung von Spiritualität für die Seelsorge unerlässlich. Bereits vor einigen Jahren haben eine Reihe von Therapeuten auf die Bedeutung der spirituellen Dimension für ihre Arbeit hingewiesen. Inzwischen lässt sich eine regelrechte Spiritualisierung vieler therapeutischer Richtungen beobachten.8 Eine letzte Konsequenz der Berücksichtigung des 3. Artikels in der Seelsorge besteht darin, die Seelsorge aus der – nicht zuletzt durch die Aufnahme humanwissenschaftlicher Erkenntnisse und Methoden zementierten – Fixierung auf das Individuum unter Vernachlässigung seiner sozialen Verfasstheit zu befreien. Das Wirken des Geistes führt den Einzelnen über sich selbst hinaus, indem er ihm die Augen für die Gemeinschaft der Christen öffnet. Der gemeindliche Horizont der Seelsorge ist in den vergangenen Jahren sträflich vernachlässigt worden. Der Geist öffnet dem Einzelnen aber nicht nur die Augen für die Kirche. Er hat die Erneuerung der ganzen Menschheit zum Ziel, also auch der Gesellschaft, und darüber hinaus der ganzen Schöpfung. Die Beschäftigung mit der eigenen Person sollte im Rahmen der Seelsorge Durchgangsstadium zu größerer Nächsten- und Weltorientierung sein. Nur auf diese Weise kann die neuschaffende Kraft des Geistes in der Seelsorge angemessen zur Geltung gebracht werden.

1.2

Stärken des trinitarischen Ansatzes gegenüber der kerygmatischen Seelsorge

Die trinitarische Seelsorgekonzeption will einerseits Engführungen der humanwissenschaftlich orientierten Seelsorge vermeiden, andererseits aber auch über den Ansatz der kerygmatischen Seelsorge hinausführen. An die Stelle der 7 Wie es etwa durch die These Freuds vom psychischen Determinismus geschieht. 8 Vgl. dazu z. B. Lechler, Neubeginn. Kritik an der Spiritualisierung vieler Therapien im esoterischen Kontext übt vor allem Hemminger, Anspruch, dort auch weiterführende Literaturhinweise.

520

Peter Zimmerling

Degradierung von Psychologie und Psychotherapie zur Magd der Theologie – so Eduard Thurneysens Vorstellung – tritt das Modell der Partnerschaft und gegenseitigen Lernbereitschaft.9 Auf diesem Hintergrund könnte Thurneysens Rede von der Therapie als Hilfswissenschaft für die Seelsorge eine neue Lesart finden: Es wird im seelsorgerlichen Vollzug immer wieder vorkommen, dass der Pfarrer, normalerweise ein therapeutischer Laie, sich von einem therapeutischen Fachmann helfen lässt.10 Umgekehrt wird dadurch der Weg für Therapeuten und Berater frei, z. B. in Grenzfragen von Analyse und Religion den kirchlichen Seelsorger und seine Kompetenz zu Rate zu ziehen. Die durch die trinitarische Seelsorgekonzeption ermöglichte gegenseitige Partnerschaft und Lernbereitschaft zwischen Theologie und Humanwissenschaften bildet die Voraussetzung für eine angemessene Diagnose psychischer Krankheiten durch den Seelsorger. Eine weitere Konsequenz der trinitarischen Verortung der Seelsorge ist die theologisch begründete Feststellung, dass psychische Krankheiten ein therapeutisches Handeln mit den entsprechenden Methoden erfordern.11 Der Seelsorgesuchende ist eben auch coram mundo, in weltlicher Perspektive, zu betrachten. Eine ausschließliche Behandlung coram deo, vor Gott, kann für einen psychisch kranken Seelsorgesuchenden gefährlich werden.12 Psychische Störungen – wie z. B. depressive Zustände – werden durch die Aufforderung zum häufigeren Gebrauch von Gebet, Bibel und Beichte noch verstärkt:13 „Es braucht eine gewisse Gesundheit, um meditieren und wirklich beten zu können.“14 Das heißt nicht, dass neben der therapeutischen bzw. psychiatrischen Behandlung eines psychisch Kranken nicht auch eine gleichzeitige seelsorgerliche Begleitung hilfreich sein kann. Ihm beizustehen, seine Krankheit auch coram deo, vor Gott, zu sehen, kann dem Kranken neue Perspektiven eröffnen und z. B. ungeahnte Kräfte der Hoffnung in sein Leben bringen. Die kerygmatische Seelsorge ist von der neuzeitlichen Denkfigur von Gott und der Einzelseele geprägt. Indem sich ihr Handeln vorwiegend auf den Bereich des 2. Artikels, auf die Vergebung, konzentriert, kommt es – ähnlich wie bei der humanwissenschaftlich geprägten Seelsorge – zu einer Absolutsetzung des einzelnen Seelsorgesuchenden und seiner Vergangenheit. Die neuzeitliche Denkfi9 In ähnliche Richtung scheint Helmut Tacke gedacht zu haben, als er den Vorschlag machte, Beraten und Bezeugen kontrapunktisch aufeinander zu beziehen, vgl. ders., Zur rechten Zeit, 197. 10 Darauf hat schon Werner Jentsch hingewiesen in: ders., Jugendseelsorge, 511. 11 Darauf weist Tacke hin, wenn er schreibt: „Es gibt ein Wissen um die Notwendigkeit fachkompetenter Behandlung psychisch erkrankter Menschen, die keineswegs in die Zuständigkeit des kirchlichen Seelsorgers gehören bzw. die zumindest Zusammenarbeit nötig machen“, vgl. ders., Zur rechten Zeit, 109. 12 Vgl. etwa Dieterich, Psychotherapie, 60ff. 13 In diesen Zusammenhang gehört auch die Problematik der sog. ekklesiogenen Neurosen. 14 Grün, Spirituelle Dimension, 89.

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gur von Gott und der Einzelseele ist jedoch eine Abstraktion. Der Mensch ist ein soziales Wesen. Dies wird in der trinitarischen Seelsorgekonzeption vor allem durch die Berücksichtigung der Wirklichkeit des Geistes Gottes zum Bewusstsein gebracht. Wir sahen schon, dass mit der Dimension des 3. Artikels der Gemeindebezug der Seelsorge gegeben ist. Die Rede vom Heiligen Geist weist darauf hin, dass zum biblisch-reformatorisch geprägten Christsein die Kirche, das Eingebundensein in die „Gemeinschaft der Heiligen“ gehört.15 Schließlich bewahrt die trinitarische Seelsorgekonzeption vor soteriologischer Verengung der Seelsorge. Die Berücksichtigung des Geisteswirkens hält die Hoffnung lebendig, dass der von Gott in Jesus Christus gerechtfertigte Mensch zwar täglich der Vergebung bedarf, aber gleichzeitig unterwegs ist zu seiner Neuschöpfung, die seine gesamte bisherige Existenz Zug um Zug verwandelt.

1.3

Stärken des trinitarischen Ansatzes gegenüber einer primär pneumatischen Orientierung der Seelsorge

Grundlegend für eine pneumatisch geprägte Seelsorge ist die Sichtweise des Menschen coram deo. Angesichts dieses Sachverhalts verhilft die Betrachtung des Menschen coram mundo, wie es dem therapeutisch geprägten seelsorgerlichen Handeln zugrunde liegt, dem seelsorgerlichen Handeln im Horizont des 3. Artikels zur notwendigen „Fleischwerdung“. Indem therapeutische Methoden die Selbsterkenntnis fördern, tragen sie zu der Erkenntnis bei, dass die Hoffnung auf die Erneuerung des Lebens durch den Geist nicht mit Flucht aus dem Alltag zu verwechseln ist, sondern mit dem alltäglichen Leben verknüpft werden muss. Der einzelne Seelsorgesuchende soll zu sich selbst kommen. Um dieses Ziel zu erreichen, ist es nach tiefenpsychologischen Erkenntnissen unerlässlich, das Gewordensein des Menschen zu erhellen. Die erste Stufe zur seelischen Gesundung besteht in der Bewusstwerdung der ins Unbewusste verdrängten traumatischen Erlebnisse. Diese Erkenntnis ist auch für die pneumatische Dimension der Seelsorge wichtig. Das lässt sich an folgender Erkenntnis der Wüstenväter verdeutlichen: „Die frühen Mönche sind skeptisch, wenn einer zu früh damit beginnt, zu meditieren und sich nur über Gott Gedanken zu machen. Sie glauben, dass wir dann bei den eigenen Projektionen hängenbleiben und nie den wirklichen Gott erkennen können. 15 Vgl. dazu Luthers Formulierungen im Kleinen Katechismus in seiner Auslegung zum 3. Glaubensartikel: „[…] der heilige Geist hat mich durchs Evangelion berufen […] gleichwie er die ganze Christenheit auf Erden berüft […] in welcher Christenheit er mir und allen Gläubigen täglich alle Sunde reichlich vergibt und am jüngsten Tage mich und alle Toten auferwecken wird und mir sampt allen Gläubigen in Christo ein ewiges Leben geben wird […].“; BSLK, 8. Auflage, Göttingen 1979, 511f; Hervorhebungen von P. Z.

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Und sie haben Angst, dass man dann die eigene Wirklichkeit überspringt und letztlich ins Leere springt. Die eigene Realität ist der Boden, von dem aus wir zu Gott gelangen. Alles andere wäre spiritual bypassing […], sprituelle Abkürzung, die meint, durch rein geistliche Methoden zu Gott zu kommen und die eigene oft so demütigende Realität außer acht lassen zu können. Von Antonius wird das Wort berichtet: ‚Wenn du siehst, dass ein junger Mönch mit seinem eigenen Willen nach dem Himmel strebt, halte seine Füße fest, ziehe ihn nach unten, denn es hat für ihn keinen Nutzen‘ (Smolitsch, 32)“.16

Weiter zeigt sich die Leistungsfähigkeit des trinitarischen Seelsorgemodells auch darin, dass es das seelsorgerliche Handeln im Bereich des 3. Artikels vor dem Verlust der Rechtfertigungserfahrung bewahrt. Das Wirken Gottes im Geist darf nicht unabhängig von seinem Wirken in Jesus Christus gedacht werden. Die trinitarische Seelsorgekonzeption hält die Erkenntnis wach, dass der Glaube an die dem Menschen in Jesus Christus geschenkte Versöhnung einen nicht einholbaren Vorsprung gegenüber jeder geistlichen Erfahrung besitzt. Die Botschaft von der Rechtfertigung konstituiert eine Wirklichkeit, die jede Erfahrung überbietet.17

2.

Zum Inhalt einer trinitarisch geprägten Seelsorge. Konkretionen

2.1

Seelsorgerliches Handeln im Horizont der Schöpfung

Seit der empirischen Wende haben vor allem die Humanwissenschaften mit ihren Erkenntnissen und Methoden das seelsorgerliche Handeln befruchtet. Primär geschah diese Befruchtung im Bereich des 1. Artikels, d. h. in der Sicht des Seelsorgesuchenden coram mundo. Und zwar in dreifacher Hinsicht: Die Humanwissenschaften haben Person und Rolle des Seelsorgesuchenden deutlicher sehen gelehrt, sie haben die Seelsorge veranlasst, methodische Konsequenzen daraus zu ziehen, dass das seelsorgerliche Gespräch ein Kommunikationsgeschehen darstellt und sie haben den Seelsorger für seine Rolle sensibilisiert. Die Humanwissenschaften haben erkannt, dass der Mensch nicht nur hinsichtlich seiner leiblichen, sondern auch hinsichtlich seiner seelischen Befindlichkeit wissenschaftlich erforschbar ist. Diese psychologische Erkenntnis stellte einen schöpfungsbejahenden Akt dar, unabhängig davon, dass sie nicht im Rahmen der Theologie, sondern im Raum der säkularen Wissenschaft gewonnen 16 Zit. nach Grün, Spirituelle Dimension, 88. 17 Christian Möller formuliert prägnant: „Die geglaubte Wirklichkeit des Heiligen Geistes ist ungleich größer als die erlebte oder an Zeichen festgemachte Wirklichkeit“ (ders., Gottesdienst, 12).

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wurde. Durch die Integration humanwissenschaftlicher Erkenntnisse und Methoden hat die humanwissenschaftliche Seelsorge aus dieser Tatsache die notwendige Konsequenz gezogen. Dabei kam es zur Übernahme ganz unterschiedlicher psychologischer Ansätze in der Seelsorge. War die humanwissenschaftlich orientierte Seelsorge am Anfang stark von psychoanalytischen Erkenntnissen (aus der Freud-Schule)18 und von der klientenzentrierten Psychotherapie (C.R. Rogers)19 geprägt, kam es später zu einer Rezeption der unterschiedlichsten psychologischen Schulen: z. B. der Verhaltenstherapie, aber auch von Logotherapie und Existenzanalyse V.E. Frankls.20 Sensibilisiert für die schöpferischen Selbstheilungskräfte des Ratsuchenden, versteht sich humanwissenschaftlich geprägte Seelsorge primär als Hilfe zur Selbsthilfe in Form von Reifehilfen, Werdehilfen und Wachstumshilfen.21 Die Humanwissenschaften haben aber nicht nur geholfen, die eigenständige Bedeutung von Person und Rolle des Ratsuchenden in der Seelsorge zu erkennen, sondern auch zu einer methodischen Berücksichtigung der während des seelsorgerlichen Gesprächs ablaufenden Kommunikation und ihrer Störungen geführt. So hat die Psychoanalyse die Seelsorge die Wichtigkeit des vorurteilsfreien Hörens gelehrt. Die große Entdeckung Freuds bestand ja darin, wie ein Mensch über lange Zeitstrecken hin unvoreingenommen beim Sprechen erhalten werden kann. Eigentlich hätte diese Entdeckung im Raum der Seelsorge erfolgen müssen: Denn den ratsuchenden Menschen als Geschöpf Gottes annehmen heißt auch, ihm vorurteilslos zuhören mit allem, was er ist und mitbringt. Schließlich haben die Humanwissenschaften dazu geführt, die Bedeutung der Rolle des Seelsorgers wissenschaftlich zu erforschen. Dadurch wurden Seelsorger und Seelsorgerinnen stimuliert, sich im seelsorgerlichen Gespräch einfühlsam, d. h. kommunikativ und flexibel zu verhalten. z. B. können unbewusste Motive und Kräfte eine die Wahrnehmungen verzerrende Macht ausüben und auf diese Weise seelsorgerliche Begegnungen in unguter Weise beeinflussen. Seelsorger und Seelsorgerin haben genau wie die Ratsuchenden die Tendenz, sich mit allen möglichen Abwehrmechanismen gegen die Einsicht in diese verborgene Dynamik zu wehren.22 Es kommt für die Seelsorger darauf an, „auf Anzeichen störender Einflüsse bei sich selbst wie beim anderen zu achten und ihnen auf-

18 Vgl. etwa Scharfenberg, Joachim, Einführung in die Pastoralpsychologie, unveränd. Nachdr. der 2. Auflage, Göttingen 1994. 19 Vgl. dazu Faber, Heije/van der Schoot, Ebel, Praktikum des seelsorgerlichen Gesprächs, mit einem Anhang von Hans-Christoph Piper, Göttingen 71987. 20 Frankl, Viktor E., Theorie und Therapie der Neurosen. Einführung in Logotherapie und Existenzanalyse, München 61987. 21 Jentsch, Seelsorger, 77. 22 Vgl. hier und im folgenden Berna, Verhältnisbestimmung, 121.

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merksam nachzugehen, um ihren Ursprung zu verstehen.“23 Nur so kann gegenseitiges Vertrauen wachsen und das seelsorgerliche Gespräch gelingen. Ohne damit den Wert der humanwissenschaftlichen Erkenntnisse und Methoden schmälern zu wollen, erlaubt die trinitarische Seelsorgekonzeption, Seelsorgesuchende, seelsorgerliche Begegnung und Seelsorger noch einmal in einer anderen, über die Humanwissenschaften und ihre Möglichkeiten hinausreichenden Perspektive zu sehen. Auch im Rahmen des 1. Artikels lassen sich Seelsorgesuchende, seelsorgerliche Begegnung und Seelsorger nämlich nicht nur coram mundo, sondern ebenso coram deo betrachten. Das bedeutet, dass ein Ziel trinitarisch geprägter Seelsorge darin besteht, dem Seelsorgesuchenden dabei zu helfen, ein Ja zu seiner Geschöpflichkeit zu finden, was immer auch ein Ja zu den eigenen Grenzen einschließt. Das kann u. U. bedeuten, Behinderungen bejahen zu lernen. Coram deo betrachtet, besteht die Chance darin, Grenzen und Behinderungen als Charisma wahrzunehmen.24 Gleichzeitig eröffnet der Blickwinkel coram deo dem Seelsorgesuchenden die Möglichkeit, seine Gottesebenbildlichkeit zu entdecken, d. h. die Ausrichtung seines Lebens auf die Ewigkeit zu realisieren. Dabei bedeutet Ewigkeit Partizipation an der Fülle des göttlichen Lebens. Ewiges Leben schließt deshalb die Verwirklichung aller nicht realisierten Möglichkeiten des Lebens ein. Konsequenz dieser Erkenntnisse wird eine große Entlastung aufseiten des Seelsorgesuchenden sein. Er braucht nicht länger alle sich bietenden Lebensmöglichkeiten auszukosten. Er muss auch nicht länger besinnungslos gegen alle Lebensbeschränkungen Sturm laufen. Überdies kann die Betrachtung des Lebens sub specie aeternitatis, unter dem Gesichtspunkt der Ewigkeit, zu einer Umwertung gesellschaftlich anerkannter Ziele und Werte führen. Besonders drastisch mutet in diesem Zusammenhang die Aussage Jesu in der Bergpredigt an, dass es besser sei, als Krüppel in den Himmel denn als Gesunder in die Hölle zu kommen (Mt 5,29ff). Das höchste Ziel der Seelsorge ist nach den Worten Jesu also keineswegs eine möglichst umfassende Leistungs- und Genussfähigkeit des Menschen – so das Credo Freuds. Das eigene Leben sub specie aeternitatis zu sehen, eröffnet ganz neue Perspektiven. Z. B. muss ein Seelsorgesuchender seine schwere Krankheit nicht länger nur als Lebensbeschränkung ansehen, sondern kann sie auch als Chance zur Umorientierung bisheriger Wertvorstellungen begreifen lernen. Ähnliches gilt für die Bewertung von Reichtum. Wohlstand wird von Jesus mehr als Gefahr denn als Segen betrachtet (Mt 6,19ff; „Der reiche Jüngling“: 19,16ff; vgl. auch die Gleichnisse vom reichen Kornbauern Lk 12 und vom armen Lazarus Lk 16). Davon ausgehend, werden Berufsfragen in der Seelsorge sub specie aeternitatis betrachtet andere Antworten finden als coram mundo. Ich 23 Ebd. 24 Moltmann, Geist, 205ff; ders., Diakonie, 52ff.

Trinitarisch geprägte Seelsorge

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denke hier z. B. an die Ablehnung einer beruflichen Beförderung zugunsten des Engagements in der christlichen Gemeinde.

2.2

Seelsorgerliches Handeln im Horizont der Versöhnung

Die trinitarische Seelsorgekonzeption ermöglicht, den Glauben im Seelsorgevollzug wieder angemessen zur Geltung zu bringen. Ziel der Seelsorge kann dabei nicht sein, dass Seelsorger und Seelsorgerin ihre Botschaft „loswerden“. Es geht auch nicht um eine Aufwertung religiöser Fragen im Seelsorgegespräch angesichts der seit einigen Jahren in unserer Gesellschaft zu beobachtenden „Rückkehr der Religion“. Ziel der Reintegration der Glaubensdimension in die Seelsorge ist vielmehr die Wiedergewinnung des Glaubens als Lebenshilfe.25 Mit der bewussten Reintegration des Glaubens in die Seelsorge soll ein in der jüngsten Vergangenheit viel zu wenig genutztes Potenzial an Lebenshilfe erschlossen werden. Die Dimension des Glaubens verhindert nicht die gebotene problemorientierte Profilierung der kirchlichen Seelsorge, sondern verstärkt diese Intention durch eigene Impulse.26 Konkret ist dazu z. B. eine Wiederentdeckung von Bibel und Beichte als Mittel der Seelsorge nötig.27 Ich möchte im Folgenden skizzieren, wie die Funktion der Bibel in einer trinitarischen Seelsorge im Horizont der Versöhnung aussieht.28 Schon seit einigen Jahren wird von Psychotherapeuten auf die heilende Bedeutung von Geschichten hingewiesen.29 In welcher Form auch immer – ob als Märchen, Mythen, Fabeln und Parabeln – hatten sie schon immer zwei Funktionen: Sie dienten der Unterhaltung und waren Medien einer Volkspsychotherapie. d. h. sie dienten der Lebenshilfe, die sich mit der des Vergnügens und Zeitvertreibs verknüpfte. Diese Funktionen lassen sich bereits bei der berühmtesten Erzählungssammlung der Welt, in „Tausendundeine Nacht“ erkennen: Die Erzählerin Scheherazade rettet mit ihren Geschichten nicht nur ihr Leben, sondern heilt mit ihnen auch die psychische Krankheit des grausamen Sultans. Eine entsprechende Wirkung können Geschichten bis heute entwickeln: Durch das Medium der Geschichten werden die Ursachen von Fehlverhalten aufgedeckt. 25 26 27 28

Vgl. Tacke, Glaubenshilfe; ders., Zur rechten Zeit. In gleichem Sinn Tacke, Glaubenshilfe, 181. Vgl. dazu auch Jentsch, Seelsorger, 35ff. Die Funktion der Beichte behandle ich in einem eigenen Artikel in diesem Handbuch, vgl. Zimmerling, Peter, Die Beichte als Mittel evangelischer Spiritualität. Ein Plädoyer für ihre Wiederentdeckung. 29 Vgl. z. B. Peseschkian, Nossrat, Der Kaufmann und der Papagei. Orientalische Geschichten in der Positiven Psychotherapie. Mit Fallbeispielen zur Erziehung und Selbsthilfe, Frankfurt a.M. 1979.

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Indem Hörer und Hörerinnen sich mit der Geschichte identifizieren, wird eine Lösung ihrer Probleme möglich. Manfred Josuttis wies als einer der ersten Theologen auf die Notwendigkeit hin, die Heilkraft des biblischen Wortes wiederzuentdecken. In seiner Pastoraltheologie hat er gezeigt, dass auch unter modernen wissenschaftstheoretischen Prämissen von einer solchen Heilkraft gesprochen werden kann.30 Konkret erfahrbar wird diese therapeutische Macht des Bibelwortes für den Hilfesuchenden nach Josuttis am ehesten in biblischen Segensformeln.31 Ein anderes Beispiel für das Potenzial der biblischen Texte, das für die Seelsorge nutzbar gemacht werden sollte, besteht in ihrer Fremdheit und Widerständigkeit. Beides darf nicht eingeebnet werden, weil die Texte sonst die Kraft verlieren, den am Seelsorgegeschehen Beteiligten neue Horizonte und ungeahnte Möglichkeiten der Lebensbewältigung zu erschließen. Darüber hinaus besitzt die Bibel insgesamt eine heilsame Kraft, die in konzentrierter Form in der Rechtfertigungsbotschaft zur Entfaltung kommt. Damit sich diese Kraft in der Seelsorge entfalten kann, sind die biblischen Texte in deren Vollzug ins Gespräch zu bringen.32 Das bedeutet keine Repristination der kerygmatischen Seelsorge Thurneysens. In ihr ist die Bibel zwar „mit ihren katechetischen Ergebnissen“, „in Form von Kernsätzen“, aber „weniger mit ihrer Geschichte und mit ihren Geschichten“ zu Wort gekommen.33 Demgegenüber geht es in der Seelsorge im Horizont der Versöhnung darum, die biblischen Geschichten von Abraham bis Petrus als Sprachhilfe des Glaubens zu entdecken, und zwar für Seelsorger und Seelsorgesuchende gleichermaßen.34 Dazu ist zunächst eine seelsorgerliche Umprägung des herkömmlichen Verständnisses des „Glaubenshelden“ nötig. Abraham und Petrus sind vorbildhaft nicht in ihrer moralischen Integrität, sondern darin, dass an ihnen die Größe der Verge30 Josuttis, Pfarrer, 89ff.97. 31 Vgl. dazu auch die ausgezeichnete Untersuchung von Claus Westermann, Der Segen in der Bibel und im Handeln der Kirche, München 1968. Auch die Erinnerung an den Konfirmationsspruch oder einfach der Zuspruch eines passenden Bibelwortes kann für Seelsorgesuchende eine Möglichkeit sein, die Kraft des Wortes Gottes im eigenen Leben neu zu erfahren (vgl. in diesem Zusammenhang die Seelsorgepraxis der Wüstenmönche, den Ratsuchenden auf deren Anfrage hin ‘ein Wort, wie sie das Heil finden können’ zu sagen; dazu: Manfred Seitz, Wüstenmönche, in: Christian Möller (Hg.), Geschichte der Seelsorge in Einzelporträts, Bd. 1, Göttingen/Zürich 1994, 90ff). 32 Vgl. dazu im einzelnen Bukowski, Bibel. 33 Tacke, Zur rechten Zeit zu reden, 199. 34 Im Hinblick auf den Seelsorgesuchenden vgl. dazu a.a.O., 200: „Nicht nur Christus und seine Heiligen, sondern auch Adam und seine ‚Unheiligen‘ sind in der Bibel zu hören. Das ist seelsorgerlich von größter Bedeutung. Die Bibel hilft dem in sich selbst gefangenen Menschen, aus seiner Sprachlosigkeit herauszukommen. Er soll ja nicht nur angesprochen werden, sondern er soll sich auch selber aussprechen. Aus der Bibel kommt ihm dazu die entscheidende Sprachhilfe entgegen“; vgl. auch 119f.

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bungskraft Gottes sichtbar wird. Nur wenn die Geschichten so verstanden werden, helfen sie zum Glauben und dadurch auch zum Leben.

2.3

Seelsorgerliches Handeln im Horizont der Neuschöpfung

Die trinitarische Seelsorgekonzeption ermöglicht, eine derzeit wenig beachtete Dimension der Seelsorge wieder ins Gedächtnis zu rufen: ihre Funktion als Aufbauhilfe für den neuen Menschen. Seelsorge hat es nämlich weder nur mit der Stärkung der Identität noch allein mit dem Zuspruch der Vergebung zu tun, sondern auch mit der Gestaltung des neuen Lebens in der Kraft des Geistes, bonhoefferisch gesprochen: mit der Nachfolge. In diesem Zusammenhang sind drei Stichworte wesentlich, die in der gegenwärtigen kirchlichen Seelsorge noch nicht im Entferntesten die Beachtung gefunden haben, die sie verdienen: einmal die persönliche Spiritualität, zum anderen die christliche Gemeinde und schließlich der gesellschaftliche Horizont der Seelsorge. Im Folgenden sollen Spiritualität, Gemeinde und Gesellschaft in ihrer Bedeutung für das seelsorgerliche Handeln im Horizont der Nachfolge skizziert werden.35 Es ist hier nicht der Ort, Ursachen und Wesen der zunehmenden spirituellen Sehnsüchte der Postmoderne zu untersuchen.36 Eines jedoch liegt m. E. klar auf der Hand: Das enorm angewachsene Wissen der Moderne hat uns manche Annehmlichkeiten und verbesserte Lebensqualität beschert, nur nicht das Geheimnis eines zufriedenen, erfüllenden Lebens. Hinter den spirituellen Sehnsüchten verbirgt sich der berechtigte Wunsch, eine Antwort auf Schuld, Leiden und Endlichkeit und damit auf die Frage nach dem Sinn des Daseins zu finden. An diesem Wunsch darf die Seelsorge keinesfalls vorbeigehen. Die trinitarische Seelsorgekonzeption erlaubt, die gegenwärtige Sehnsucht nach geistlichen Erfahrungen innerhalb und außerhalb der Kirche positiv aufzugreifen und sie mit dem Wirken des Geistes in Verbindung zu bringen. Nach christlichem Verständnis ist der Glaube an den dreieinigen Gott Ermöglichungsgrund und Energiequelle der Spiritualität. Den Glauben zu erneuern und zu stärken, ist darum eine wesentliche Aufgabe auch des seelsorgerlichen Handelns im Horizont des 3. Artikels. Neben Bibel und Beichte sind hierbei das Gebet, der Gottesdienst und die Sakramente wichtig, deren seelsorgerliche Funktion bisher noch zu wenig erkannt wurde.37 Es ist höchste Zeit, neben der cura animarum specialis (der expliziten Seelsorge) die Bedeutung der cura animarum generalis (der allgemeinen, beiläufigen Seelsorge) in den Fokus zu stellen. Z. B. ermöglicht 35 Vgl. dazu Eschmann, Theologie der Seelsorge. 36 Vgl. dazu im Einzelnen: Zimmerling, Wiederkehr. 37 Eine Ausnahme bildet z. B. Möller, Predigen.

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der regelmäßige Empfang des Abendmahls, sich auch sinnlich des Geistes als der Kraft Gottes zum Leben zu vergewissern. Im Zusammenhang mit der Spiritualität steht der kirchlichen Seelsorge auch die Entdeckung von geistlicher Vaterund Mutterschaft bevor, die besonders in der Orthodoxie in Gestalt der Starzen bis heute gepflegt wird, aber auch im Raum des Katholizismus in Gestalt des Spirituals nicht unterschätzt werden sollte.38 In diesem Zusammenhang bietet der Begriff der Spiritualität einen großen Vorteil: Da er die existenzielle Dimension des Glaubens hervorhebt, vermag er die Zusammengehörigkeit von Frömmigkeitsübung und Lebensgestaltung mit dem Glauben zum Ausdruck zu bringen. Eine dynamische, perspektivenreiche Auffassung von Spiritualität, wie sie das Ziel der Seelsorge sein sollte, beschreibt Luther so: „Das christliche Leben ist nicht Frommsein, sondern ein Frommwerden, nicht Gesundsein, sondern ein Gesundwerden, nicht Sein, sondern ein Werden, nicht Ruhe, sondern eine Übung. Wir sinds noch nicht, wir werdens aber. Es ist noch nicht getan und geschehen, es ist aber im Gang und Schwange. Es ist nicht das Ende, es ist aber der Weg. Es glühet und glänzt noch nicht alles, es bessert sich aber alles.“39

Was Luthers Definition von Spiritualität so attraktiv macht, ist die Tatsache, dass sie einerseits den pädagogischen Aspekt der Übung enthält und andererseits die Spannung zwischen „schon jetzt“ und „noch nicht“ berücksichtigt. Neben der Spiritualität wartet die Gemeinde darauf, in ihrer Bedeutung für die Seelsorge entdeckt zu werden. In den vergangenen Jahren haben sich im Bereich der Soziologie und Philosophie die Stimmen gemehrt, die die soziale Verfasstheit des Menschseins betont und näher erforscht haben.40 Schon auf dem Hintergrund dieser Überlegungen wird deutlich, dass das in der Seelsorge immer noch vorherrschende protestantische Denkmodell von Gott und dem Einzelnen eine Abstraktion darstellt. Darüber hinaus hilft der Rekurs auf das reformatorische und das urchristliche Gemeindeverständnis, die Gemeinde als Raum der Seelsorge und die Bedeutung des Laien für die Seelsorge zu erkennen. Für die neutestamentlichen Texte ist Christsein nur inmitten der Gemeinde vorstellbar. Dabei hat Paulus das Charismatische als eine Grundkategorie des urchristlichen Gemeindelebens herausgestellt (1Kor 12–14; Röm 12). Jeder Mensch besitzt seine besonderen Gaben und erst durch ihr Zusammenspiel entsteht eine seelsorgerliche Gemeinde. Konsequent fordert Paulus dazu auf, dass die Gemeindeglieder

38 Vgl. dazu Kaißling/Goritschewa, Starzen. Rudolf Bohren hat schon vor Jahren auf die Bedeutung von geistlicher Vaterschaft für die Kirche hingewiesen: ders., Väter; vgl. auch Zimmerling, Evangelische Spiritualität. 39 WA 7, 336, 31–36, Schreibweise modernisiert. 40 Vgl. dazu z. B. die einschlägigen Veröffentlichungen von Niklas Luhmann.

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untereinander Seelsorge üben sollen: „Darum ermahnt euch untereinander und einer erbaue den andern, wie ihr auch tut“ (1Thess 5,11).41 Das Eintreten für eine seelsorgerliche Gemeinde scheint mir aus folgenden Gründen unerlässlich zu sein: Kein Seelsorger ist als Ansprechpartner für alle Probleme geeignet. So ist der Laie häufig „Fachmann“ für die in der Seelsorge angesprochenen Lebensbereiche. Es leuchtet ohne Weiteres ein, dass z. B. ein Ingenieur in beruflichen Fragen einem anderen Ingenieur besser beistehen kann als ein Theologe oder Therapeut. Zudem ist ein Pfarrer schon aus Zeitgründen völlig überfordert, wenn er in einer Gemeinde als Einziger Seelsorge zu üben bereit ist. Außerdem kommt der einzelne Seelsorger schnell an die Grenzen seiner Belastbarkeit, wenn er nicht in der Gemeinde durch ein tragfähiges Beziehungsnetz von Einzelnen, Familien und Gruppen entlastet wird, die den Seelsorgesuchenden im Alltag aufzufangen vermögen. Hier ist z. B. an das Angebot einer zeitlich begrenzten Gesprächsgruppe unter der Leitung eines geeigneten Gemeindeglieds zu denken, zu der die Hinterbliebenen der in einem bestimmten Zeitraum Verstorbenen eingeladen werden könnten. Ein letztes, vielleicht das wichtigste Argument für eine seelsorgerliche Gemeinde sollte nicht übersehen werden: Meist geschieht Seelsorge in der Gemeinde beiläufig, durch zufällige Begegnungen im Alltag, also ohne Anmeldung in einer Sprechstunde. Durch die Professionalisierung droht diese Form der Seelsorge verdrängt zu werden oder gar verlorenzugehen. Schließlich trägt die trinitarische Seelsorge dazu bei, die immer wieder zu beobachtende Ausblendung des gesellschaftlichen Horizonts aus der Seelsorge zu überwinden. Eine Seelsorgekonzeption, die die Kategorie der Nachfolge bzw. der Neuschöpfung durch den Geist zur Geltung bringen will, will den einzelnen Seelsorgesuchenden in der ganzen Weite seines Lebens einschließlich seiner gesellschaftlichen Interdependenzen in den Blick bekommen.42 Indem das Individuum in der modernen Gesellschaft eingebunden ist in vielfältige gesellschaftliche Interessengruppen, können sich z. B. ethische Konflikte ergeben, in denen gesellschaftsbedingte Sachzwänge stärkeres Gewicht erhalten als interpersonelle Zusammenhänge.43 Von hier aus ergibt sich die Notwendigkeit einer Seelsorge im gesellschaftlichen Horizont, die eine Seelsorge an der Gesellschaft

41 Auf der gleichen Linie liegt Luthers Aufforderung zum „mutuum colloquium et consolatio fratrum“ (Schmalkaldische Artikel, 3. Teil, Vom Evangelio, in: BSLK, 449). 42 Rainer Mayer hat schon vor Jahren auf den individualistisch verengten Blickwinkel gegenwärtiger kirchlicher Seelsorge hingewiesen; vgl. hier und im Folgenden: ders., Seelsorge, 20f. 43 Vgl. die in den Grundzügen immer noch gültige Analyse von Eberhard Müller, Die Welt ist anders geworden. Vom Weg der Kirche im zwanzigsten Jahrhundert, Hamburg 31958; ebenso Müller, Eberhard/Basse, Ottokar u. a. (Hg.), Seelsorge in der modernen Gesellschaft. Erfahrungen und Perspektiven, Hamburg 1961.

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einschließt.44 Nach dem Zweiten Weltkrieg sind die Evangelischen Akademien mit dem Ziel gegründet worden, eine entsprechende Seelsorge an den unterschiedlichen gesellschaftlichen Gruppen mit ihren je spezifischen Problemen zu üben.45 Die dabei gewonnenen Erfahrungen zeigen, dass neben den Erkenntnissen von Psychologie und Therapie auch Wirtschaftswissenschaften, Soziologie und Politologie – um nur einige zu nennen – für die Poimenik wichtig werden können.

3.

Die Bedeutung der Seelsorge für die Spiritualität

Nicht nur für die Seelsorge ist die spirituelle, trinitarisch konturierte Dimension unverzichtbar. Umgekehrt sollte auch die Seelsorge ein Grundbestandteil evangelischer Spiritualität sein. Fjodor Dostojewski schreibt in seinem Roman „Schuld und Sühne“: „Es müsste doch so sein, dass jeder Mensch irgendwo hingehen könnte; denn es kommen Zeiten, wo man sich unbedingt an irgendjemand wenden muss.“ Das gilt gerade für Jugendliche in der spannungsreichen Pubertätszeit, von Zeit zu Zeit aber genauso für jeden Erwachsenen, etwa an biografischen Wendepunkten oder in Krisenzeiten. Dabei stellt die christliche Gemeinschaft den Raum dar, in dem das Wissen um die Möglichkeit zur Seelsorge vermittelt wird, in dem das Bedürfnis nach Seelsorge entsteht und in dem konkrete Seelsorgeangebote gemacht werden können.46 Im Folgenden soll die Bedeutung der Seelsorge für die Spiritualität anhand von vier Themenfeldern exemplarisch verdeutlicht werden.

3.1

Seelsorge führt zur Selbsterkenntnis

Wie oben schon gezeigt, verhilft die Betrachtung des Menschen coram mundo der Spiritualität zur notwendigen „Fleischwerdung“. Der Seelsorgesuchende soll zu sich selbst kommen, in seiner Geschöpflichkeit seine Möglichkeiten und Grenzen entdecken und so zu größerer Selbsterkenntnis geführt werden. Eine wichtige Voraussetzung auf dem Weg zur Selbsterkenntnis ist die Einsicht, dass Christsein nicht mit moralischer Vollkommenheit zu verwechseln ist. Das Problem vieler Christen besteht darin, dass sie angesichts des christlichen Ideals, das sie als Maßstab verinnerlicht haben, die Augen vor der Wirklichkeit verschließen, 44 So auch Mayer, Seelsorge, 22. 45 Vgl. in diesem Handbuch Johannes Bilz/Rüdiger Sachau, Das Politische und das Fromme. Evangelische Akademien und Spiritualität. 46 Zimmerling, Evangelische Spiritualität, 242–282.

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weil die Wahrheit zu schmerzhaft wäre. Oft haben Christen sich mit Lieblingsvorstellungen über sich selbst so angefreundet, dass regelrechte Immunbarrieren entstanden sind, die verhindern, diese Vorstellungen durch eine realistische Selbstsicht zu ersetzen. Ein Seelsorger kann helfen, diese Immunbarrieren zu überwinden. Paul Schütz, ein vergessener evangelischer Theologe des vergangenen Jahrhunderts, schrieb: „Der Nächste steht uns in Wahrheit nicht im Wege, sondern er steht am Rand des Abgrundes, als Schutzengel, der uns hindert, aus den Realitäten hinaus in die Illusion zu treiben.“47 Bereits im Alten Testament wird festgestellt, dass Gott es den Aufrichtigen gelingen lässt (Spr 2,7). Wenn darüber hinaus im Neuen Testament gesagt wird, dass Jesus Christus ein Freund der Wahrheit ist (Joh 14,6), besteht kein Zweifel, dass der Mut zur Wahrhaftigkeit gegenüber sich selbst immer auch ein erster Schritt in Richtung auf Gott und den Nächsten darstellt.

3.2

Seelsorge bewahrt vor Entmutigung und vermittelt Trost

Inhaltlich geht es in der Seelsorge darum, dem Menschen einerseits zur Selbstwerdung, andererseits zur Selbstvergewisserung durch heilsame Selbstbegrenzung zu verhelfen. Auf der einen Seite steht vielen heute ein früher undenkbarer Reichtum an Selbstverwirklichungsmöglichkeiten zur Verfügung. Die Vielfalt von Lebensmöglichkeiten ist an sich etwas Positives. Seelsorge hat die Aufgabe, Menschen „Mut zum Selbst“ zu machen, wie es in der Seelsorgebewegung früher formuliert worden ist.48 Auf der anderen Seite ist angesichts zunehmender Veraltungsgeschwindigkeiten und Ausdifferenzierung heute jeder Mensch gezwungen, eine Patchwork-Identität zu entwickeln, die dem rasanten gesellschaftlichen Wandel Rechnung trägt und aus verschiedenen möglichen Lebensmustern zusammengesetzt wird. Mit der Multioptionsvielfalt geht die Angst einher, etwas zu verpassen, die sich in der Scheu vor Selbstfestlegungen auswirkt.49 Die Konsequenz ist eine häufig zu beobachtende Überanstrengung des Subjekts, das sich ständig selbst neu definieren muss. Angesichts dieser Situation geht es darum, Menschen zur Selbstvergewisserung durch „Selbstbegrenzung“ und „Selbstverendlichung“ – auch in spiritueller Hinsicht – zu verhelfen.50 „Die postmoderne Gesellschaft provoziert durch die Illusion, dass man immer unendlich viele Möglichkeiten habe, beim Einzelnen das Gefühl: ‚Ich darf nicht am Ende sein!‘ – Eben dies als gesellschaftlichen Zwang zu entlarven, vermag ein 47 48 49 50

Schütz, Paul, Warum ich noch ein Christ bin, Augsburg 1996, 79. Vgl. dazu Rogers, Persönlichkeit, 167ff. Schulze, Erlebnis-Gesellschaft, 65.548; Gross, Multioptionsgesellschaft. So Schieder, Seelsorge, 40–43, in Aufnahme von Überlegungen Henning Luthers (vgl. ders., Religion und Alltag. Bausteine zu einer praktischen Theologie, Stuttgart 1992).

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Seelsorger dann, wenn er diesen letzten Schritt der Selbstverendlichung mitgehen kann: Du darfst am Ende sein – ich will das mit Dir aushalten!“51 Dass daraus keine „Glorifizierung fragmentarischer Existenz und fragmentarischer Arbeitserfolge“ wird – so der Vorwurf Manfred Josuttis52 –, verbürgt der reformatorisch verstandene Rechtfertigungsglauben. Dieser bildet gewissermaßen die inhaltlich-theologische Ermöglichung von „Selbstbegrenzung“ und „Selbstverendlichung“. Dass mir meine Gerechtigkeit von außen als iustitia aliena, als fremde Gerechtigkeit, zugeeignet wird, ist nicht Ausdruck einer entmündigenden, klein machenden Erfahrung, sondern einer heilsam rettenden Erfahrung.53 Sie ermöglicht, dass ich bei mir selbst einzukehren vermag, meine Selbstbegrenzung bewusst annehmen kann. Ich muss nicht mehr sein, als ich vor Gott und Menschen bin: ein heilsam begrenzter Mensch.

3.3

Seelsorge hilft evangelischer Spiritualität zu Verbindlichkeit und Reflexion

Der Wunsch nach spirituellen Erfahrungen führt zu einer Betonung der fides qua creditur, des Glaubensaktes, gegenüber der fides quae creditur, des Glaubensinhaltes.54 Theologisch ist die Sehnsucht nach Erfahrungen durchaus berechtigt. Erst wenn die Glaubensinhalte einem Menschen zur Sache der eigenen Erfahrung werden, beginnen sie für ihn lebendig zu werden und seine Existenz zu durchdringen. Die fides quae creditur drängt zur fides qua creditur, ja, sie erreicht ihr Ziel erst in der fides qua creditur.55 Die Betonung der Erfahrungsseite des Glaubens ist darüber hinaus aufgrund der postmodernen Verlockung zum Fundamentalismus wichtig:56 Der gelebte Glaube bewahrt vor fundamentalistischen Verhärtungen bzw. hilft, diese zu überwinden. Ein von Erfahrung geprägtes Christsein eröffnet die Chance, ein Leben lang in die fides quae creditur hineinzuwachsen; ein Prozess, der nie zum Abschluss kommt. Der Soziologe Gerhard Schulze hat die These aufgestellt, dass die gegenwärtige Gesellschaft eine durchgängige Erlebnisorientierung auszeichnet: Nicht mehr die Außenorientierung auf eine zu vollbringende Leistung bestimmt den Lebensentwurf, sondern die Innenorientierung auf das „Projekt des schönen Lebens“: „Das Projekt des schönen Lebens ist das Projekt, etwas zu erleben.“57 Gerade 51 52 53 54 55

Schieder, Seelsorge, 40. Josuttis, Pastoraltheologie, 120. Vgl. hier und im Folgenden Möller, Riss, 44–51. So auch Oberman, Mystik, 83f. Das lässt besonders deutlich Luthers Glaubensverständnis erkennen; vgl. dazu dessen Auslegung der drei Artikel des Apostolischen Glaubensbekenntnisses im Kleinen Katechismus. 56 S. im Einzelnen Zimmerling, Evangelische Spiritualität, 182–191. 57 Schulze, Erlebnis-Gesellschaft, 38.

Trinitarisch geprägte Seelsorge

533

spirituelle Erlebnisse haben einen hohen Erlebniswert. Sie bieten den „Kick“, den viele Zeitgenossen ersehnen. Die Möglichkeit, Nicht-Alltägliches zu erfahren, fasziniert viele Zeitgenossen. Hier findet die Suche nach „dem Transzendenten“ eine Antwort. Die Betonung der Erfahrungsseite des Glaubens öffnet ihn auch für nicht-intellektuelle Dimensionen. Dadurch können neben Intellekt und Willen auch Emotion und Körper in den Frömmigkeitsvollzug einbezogen werden. Es soll nicht verschwiegen werden, dass die Erfahrungsorientierung der Spiritualität auch problematische Seiten besitzt: Analog zu ähnlichen Entwicklungen im postmodernen säkularen Lebensraum58 lässt sich im Rahmen der jüngeren spirituellen Entwicklungen eine Überbetonung von Erfahrungen beobachten. Das gilt im Hinblick auf deren Gewichtung und im Hinblick auf deren Deutung. Besondere geistliche Erlebnisse stellen jedoch immer nur die Ausnahme dar. Problematisch ist der Trend zur „Erleberei“ (Hans Urs von Balthasar) auch dann, wenn Gotteserlebnisse im Schnellverfahren gesucht werden oder Spiritualität lediglich als Entspannungsmethode verstanden wird, um angesichts von Lärm und Zerstreutheit zu Stille und Besinnung zu finden. Reife Spiritualität beinhaltet ein wirkliches Sich-Einlassen auf den christlichen Glauben, wozu Langfristigkeit bzw. Kontinuität und die Offenheit für Fremdheitserfahrungen gehören. Evangelische Spiritualität ist ein Prozess, der das ganze Leben umfasst. Wirkliche Begegnung ist zwischen Menschen nur möglich, wenn ich mir Zeit nehme und bereit bin, die Fremdheit des anderen auszuhalten. Das gilt genauso im Hinblick auf die Begegnung mit dem dreieinigen Gott. Auch darf die Betonung der Erfahrung die theologische Reflexion nicht ausschließen. Beides bedingt und befruchtet sich vielmehr gegenseitig. Es sei an dieser Stelle an Philipp Melanchthons reformatorische Zuordnung von Frömmigkeit und Bildung erinnert: „Zwei Begriffe sind es, auf die gleichsam als auf das Ziel das ganze Leben ausgerichtet ist: Frömmigkeit und Bildung.“59 Zur Bildung gehört die Beschäftigung mit spirituellen Fragen. Umgekehrt bleibt spirituelle Erfahrung unbegriffen, dunkel und vage, wenn sie nicht reflektiert und artikuliert wird. Spiritualität benötigt die Theologie als kritische Instanz, um nicht dem Sog des Faktischen zu erliegen. Es gibt eine Übermacht der Erfahrung, die jede kritische Distanz zu sich selbst auflöst und eine Selbstkorrektur unmöglich macht. Das Gespräch mit einer Seelsorgerin oder einem Seelsorger bietet die Chance, für die genannten Gefährdungen evangelischer Spiritualität sensibilisiert zu werden und ihnen nicht zu erliegen.

58 Schulze scheint eine Krise der Erlebnisgesellschaft anzudeuten, wenn er schreibt: „Die gegenwärtige Krise des Subjekts ist durch fürsorgliche Entmündigung jedoch nicht zu entschärfen. Wir, das Publikum, müssen erkennen, daß wir die Situation, in der wir uns befinden, nicht anders verdienen“, a. a. O., 549. 59 Philipp Melanchthon, Supplementa Melanchthoniana VI/1, Leipzig 1910, 373.

534 3.4

Peter Zimmerling

Seelsorge überwindet den spirituellen Solipsismus und führt in die Gemeinde

Immer wieder ist die mangelhafte ekklesiologische Bestimmtheit des protestantischen Glaubens bzw. evangelischer Spiritualität beklagt worden – besonders von Papst Benedikt XVI.60 Angesichts zunehmender Pluralisierungs- und Individualisierungstendenzen leuchtet die Notwendigkeit ein, die gemeinsam gelebte Spiritualität zu fördern. Eine Entlastung der Spiritualität des einzelnen Christen in einem zunehmend säkularen bzw. multireligiösen Milieu erscheint mir nur möglich auf dem Weg einer Stärkung der christlichen Gemeinschaft. Kirchentage und Kommunitäten haben in den vergangenen Jahrzehnten geholfen, die Wichtigkeit der Gemeinschaftsdimension für die gelebte Spiritualität zu entdecken. In vielen Gemeinden wird der sonntägliche Gottesdienst schon lange von weiteren Formen gottesdienstlicher Gemeinschaft, auch von Ansätzen einer Alltagsgemeinschaft der Gemeindeglieder untereinander in Form von Hauskreisen und Selbsthilfegruppen flankiert. Allerdings ist eine Versammlung von Christen nicht schon automatisch eine christliche Gemeinschaft, in der Vertrauen und Offenheit voreinander herrschen. „Es kann sein, dass Christen trotz gemeinsamer Andacht, gemeinsamen Gebetes, trotz aller Gemeinschaft im Dienst allein gelassen bleiben, dass der letzte Durchbruch zur Gemeinschaft nicht erfolgt, weil sie zwar als Gläubige, als Fromme Gemeinschaft miteinander haben, aber nicht als die Unfrommen, als die Sünder […]. Unausdenkbar das Entsetzen vieler Christen, wenn auf einmal ein wirklicher Sünder unter die Frommen geraten wäre. Darum bleiben wir mit unserer Sünde allein, in der Lüge und der Heuchelei; denn wir sind nun einmal Sünder.“61

Eine Gemeinschaft begnadigter Sünder lässt sich nicht organisieren. Sie muss wachsen. Sie entsteht aus dem Erschrecken über die Brüchigkeit und Fragwürdigkeit der menschlichen Existenz, letztlich aus der Erkenntnis und dem gegenseitigen Bekenntnis der eigenen Unbrüderlichkeit und Lieblosigkeit. Im Horizont des Reiches Gottes betrachtet, stellt die christliche Gemeinde eine Vorwegnahme, ein sichtbares Zeichen des Reiches Gottes dar. Nikolaus Ludwig von Zinzendorf schrieb: „Die Gemeine ist der einzige Beweis gegen den Unglauben. Es braucht gar keiner Begründung, wenn nur eine Gemeine ist.“62 In der christlichen Gemeinde scheint etwas auf von der endgültigen Befriedung des

60 Vgl. etwa: Ratzinger, Joseph/Benedikt XVI, Gott und die Welt. Ein Gespräch mit Peter Seewald, München 2005 (Erstauflage 2000). 61 Bonhoeffer, Gemeinsames Leben, 93. 62 16. 09. 1754, zit. nach Otto Uttendörfer, Nikolaus Ludwig Graf von Zinzendorf. Evangelische Gedanken. Gewißheit, Freude, Kraft, Berlin 1948, 178.

Trinitarisch geprägte Seelsorge

535

menschlichen Miteinanders und damit auch von der Erlösung der Schöpfung am Ende der Tage.

Literatur Berna, Rosmarie, Unterwegs zu einer neuen Verhältnisbestimmung von Psychotherapie und Seelsorge, in: Brennpunkt Seelsorge, Heft 5 (1994). Bohren, Rudolf, Macht und Ohnmacht der Seelsorge, in: Pfeifer, Samuel (Hg.), Seelsorge und Psychotherapie. Chancen und Grenzen der Integration, Moers 1991, 17–30. –, Mit dem Geist bekommen wir Väter und mit den Vätern einen Geist, zuletzt abgedruckt in: Zimmerling, Peter (Hg.), Aufbruch zu den Vätern. Unterwegs zu neuer Vaterschaft in Familie, Kirche und Kultur, Moers 1994, 44–65. Bonhoeffer, Dietrich, Gemeinsames Leben. Das Gebetbuch der Bibel, hg. von Gerhard Ludwig Müller/Albrecht Schönherr, DBW 5, Gütersloh 1987. Bopp, Jörg, Die Priesterherrschaft der Therapeuten, in: Psychologie heute, Heft 11 (1985), 36–45. Bukowski, Peter, Die Bibel ins Gespräch bringen. Erwägungen zu einer Grundfrage der Seelsorge, Neukirchen 41999. Dieterich, Michael, Psychotherapie, Seelsorge, biblisch-therapeutische Seelsorge (Reihe biblisch-therapeutische Seelsorge, 1), Neuhausen-Stuttgart 1987. Eschmann, Holger, Theologie der Seelsorge. Grundlagen, Konkretionen, Perspektiven, Neukirchen-Vluyn 22002. Gross, Peter, Die Multioptionsgesellschaft, Frankfurt a.M. 41996. Grün, Anselm, Die spirituelle Dimension der Psychotherapie, in: Pfeifer, Samuel (Hg.), Psychotherapie und Seelsorge im Spannungsfeld zwischen Wissenschaft und Intuition, Moers 1996, 77–93. Hartmann, Gert, Lebensdeutung. Theologie für die Seelsorge, Göttingen 1993. Hemminger, Hansjörg, Anspruch und Wirklichkeit esoterischer Lebenshilfe. Esoterische Therapieformen. Ideen, Methoden, Kritik, in: Utsch, Michael (Hg.), Wenn die Seele Sinn sucht. Herausforderung für Psychotherapie und Seelsorge, Neukirchen-Vluyn 2000, 51– 69. Jentsch, Werner, Handbuch der Jugendseelsorge. Geschichte, Theologie, Praxis, Gütersloh 1973. –, Der Seelsorger: beraten, bezeugen, befreien. Grundzüge biblischer Seelsorge, Moers 3 1984. Josuttis, Manfred, Der Pfarrer ist anders. Aspekte einer zeitgenössischen Pastoraltheologie, München 41991. –, Die Einführung in das Leben. Pastoraltheologie zwischen Phänomenologie und Spiritualität, Gütersloh 1996. Kaißling, Maria/Goritschewa, Tatjana, Russisch-orthodoxe Seelsorger/Starzen, in: Möller, Christian (Hg.), Geschichte der Seelsorge in Einzelporträts, Bd. 3 Von Friedrich Schleiermacher bis Karl Rahner, Göttingen/Zürich 1996, 359–375.

536

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Lechler, Walther H. (Hg.), So kann’s mit mir nicht weitergehen! Neubeginn durch spirituelle Erfahrungen in der Therapie, mit Beiträgen von Eugen Drewermann u. a., Stuttgart 1994. Mayer, Rainer, Seelsorge zwischen Humanwissenschaften und Theologie. Ein Beitrag zur Neuorientierung in der gegenwärtigen Seelsorgediskussion, in: Theologische Beiträge 14 (1983), 20f. Möller, Christian, Wie geht es in der Seelsorge weiter? Erwägungen zum gegenwärtigen und zukünftigen Weg der Seelsorge, in: Theologische Literaturzeitung 113 (1988), 409–422. –, Gottesdienst als Gemeindeaufbau. Ein Werkstattbericht, 2., durchgesehene Auflage, Göttingen 1990. –, Seelsorglich predigen. Die parakletische Dimension von Predigt, Seelsorge und Gemeinde, 2., durchgesehene und erweiterte Auflage, Göttingen 1990. –, Der heilsame Riss. Impulse reformatorischer Spiritualität, Stuttgart 2003. Moltmann, Jürgen, Diakonie im Horizont des Reiches Gottes. Schritte zum Diakonentum aller Gläubigen, Neukirchen 21989. –, Der Geist des Lebens. Eine ganzheitliche Pneumatologie, München 1991. Oberman, Heiko A., Die Bedeutung der Mystik von Meister Eckhart bis Martin Luther, in: Böhme, Wolfgang (Hg.), Begegnung mit Gott. Über mystischen Glauben, Stuttgart/ Hamburg 1989, 83–101. Peters, Albrecht, Christliche Seelsorge im Horizont der drei Glaubensartikel. Aspekte einer theologischen Anthropologie, in: Theologische Literaturzeitung 114 (1989), 641–660. Rau, Gerhard, Albrecht Peters, in: Möller, Christian (Hg.), Geschichte der Seelsorge in Einzelporträts, Bd. 3: Von Friedrich Schleiermacher bis Karl Rahner, Göttingen/Zürich 1996, 325–340. Rogers, Carl R., Entwicklungen der Persönlichkeit, Stuttgart 1973. Schieder, Rolf, Seelsorge in der Postmoderne, in: WzM 46 (1994), 26–43. Schulze, Gerhard, Die Erlebnis-Gesellschaft. Kultursoziologie der Gegenwart, Frankfurt a.M./New York 21992. Seeberg, Reinhold, Lehrbuch der Dogmengeschichte, Bd. 2, Leipzig 41933. Tacke, Helmut, Glaubenshilfe als Lebenshilfe. Probleme und Chancen heutiger Seelsorge, Neukirchen 1975. –, Mit den Müden zur rechten Zeit zu reden. Beiträge zu einer bibelorientierten Seelsorge, Neukirchen-Vluyn 1989. Zimmerling, Peter, Spirituelle Sehnsüchte heute. Die Wiederkehr der Religion, in: Utsch, Michael (Hg.), Wenn die Seele Sinn sucht. Herausforderung für Psychotherapie und Seelsorge, Neukirchen-Vluyn 2000, 16–34. –, Auf dem Weg zu einer trinitarischen Grundlegung evangelischer Spiritualität, in: Welker, Michael/Volf, Miroslav (Hg.), Der lebendige Gott als Trinität. Jürgen Moltmann zum 80. Geburtstag, Gütersloh 2006, 360–376. –, Evangelische Spiritualität. Wurzeln und Zugänge, Göttingen 22010. –, Zur Theologie der Evangelischen Spiritualität. Eine Einführung in Band 2 des Handbuchs Evangelische Spiritualität, Göttingen 2017, 20–42.

Peter Zimmerling

Die Beichte als Mittel evangelischer Spiritualität Ein Plädoyer für ihre Wiederentdeckung

Die Einzelbeichte wird gegenwärtig im evangelischen Raum kaum wahrgenommen.1 Vielen evangelischen Christen ist sie nicht einmal bekannt bzw. sie missverstehen sie als konfessionsunterscheidendes Merkmal gegenüber Katholiken. Es war deshalb ungewöhnlich, dass ich am Anfang meines Theologiestudiums die Beichte kennenlernte. Ein älterer lutherischer Pfarrer weckte in mir den Wunsch nach Seelsorge und Beichte. Ich hatte beobachtet, dass die unterschiedlichsten Menschen kamen, um bei ihm zu beichten. Mit einer liturgisch geprägten Beichte, zu der der Zuspruch der Vergebung unter Handauflegung gehörte, begann meine persönliche Geschichte mit der Beichte. Später konnte ich vor allem während meiner Tätigkeit als Pfarrer einer evangelischen Kommunität vielfältige Praxiserfahrungen sowohl als Beichtender als auch als Beichthörer machen. In einem ersten Punkt sollen der Begriff der Beichte und ihre Wurzeln im Neuen Testament erläutert werden. Dem schließt sich im zweiten Punkt eine Analyse der Situation der Beichte heute an. Im dritten Punkt wird kurz die Geschichte der Beichte seit der Reformation skizziert. Der vierte Punkt enthält praktisch-theologische Einsichten zur Beichte. Im abschließenden fünften Punkt werden Anregungen zur Praxis der Beichte gegeben.

1.

Zum Begriff der Beichte und ihren Wurzeln im Neuen Testament

Die heutige Sprachwissenschaft geht von einem Zusammenhang von „beichten“ mit dem Wort „ja“ aus. Danach hat „beichten“ aufgrund seiner althochdeutschen Wortwurzel etymologisch die Bedeutung von „be-jahen“, von „Ja sagen“. Schon

1 Ich habe mich bereits in einer Reihe von Veröffentlichungen zum Thema Beichte geäußert. Viele der folgenden Überlegungen finden sich in: Zimmerling, Studienbuch Beichte; ders., Studienbrief; ders., Beichte heute; ders., Angebot.

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Luther schrieb: „Zum ersten halte ich, das Wort Beichten kome von dem wortlin ‚Jahen‘, darvon gemacht wird ‚Bejychtet‘, ‚bejeht‘, das ist, ‚bekennet‘.“2 Die Beichte kann in unterschiedlichen Formen erfolgen. Viele Christen praktizieren die sog. Herzensbeichte im stillen Gebet, indem sie Gott um Vergebung ihrer Sünden bitten. Die Vaterunser-Bitte „vergib uns unsere Schuld“ stellt hierzu eine prototypische Formulierung dar. Daneben existiert die geschwisterliche Beichte, die Versöhnung von Christen untereinander. Sie geht auf Aussagen Jesu in der Bergpredigt zurück, wonach vor dem Dienst für Gott die Versöhnung mit dem Bruder erfolgen soll (Mt 5,23f). Im Raum der evangelischen Kirchen wird, wenn überhaupt, die gemeinsame Beichte der im Gottesdienst Versammelten praktiziert.3 Sie kommt vor als „offene Schuld“ (d. h. öffentliche Schuld) entweder ohne explizite Zusage der Vergebung oder als gemeinsam gesprochenes Schuldbekenntnis mit förmlichem Zuspruch der Vergebung durch Pfarrer bzw. Pfarrerin. Schließlich gibt es die Einzelbeichte, Privatbeichte oder persönliche Beichte, früher oft „Ohrenbeichte“ genannt. Wenn nicht anders vermerkt, ist im Folgenden die Einzelbeichte gemeint. Im Protestantismus ist sie mehr und mehr hinter der gemeinsamen Beichte im Gottesdienst zurückgetreten.4 In der orthodoxen und der römisch-katholischen Kirche zählt sie dagegen bis heute zu den Sakramenten, auch wenn ihre Inanspruchnahme gerade im Katholizismus seit einiger Zeit rapide im Rückgang begriffen ist. Zur Einzelbeichte gehören Beichtvater bzw. Beichtiger und Beichtkind bzw. Beichtender. Im Katholizismus fand sie früher gewöhnlich im Beichtstuhl in der Kirche statt. Häufig wird zur Vorbereitung und Selbstprüfung ein Beichtspiegel verwendet, ein Verzeichnis möglicher Sünden. Schon aus juristischen Gründen besitzt die Einzelbeichte – in der Theorie auch in den evangelischen Kirchen – eine herausgehobene Bedeutung. Jede Beichte vor einem Pfarrer steht unter dem Beichtgeheimnis, das vom Staat anerkannt und geschützt wird. Der Beichthörer ist durch seine Ordination zur unbedingten Verschwiegenheit verpflichtet. Auch vor Gericht kann er nicht zu einer Zeugenaussage im Hinblick auf den Inhalt der Beichte gezwungen werden. Nach den Evangelien beauftragt Jesus Christus seine Jünger, an seiner statt Sünden zu vergeben: „Wahrlich, ich sage euch: Was ihr auf Erden binden werdet, soll auch im Himmel gebunden sein, und was ihr auf Erden lösen werdet, soll auch im Himmel gelöst sein“ (Mt 18,18; vgl. auch Joh 20,22f). Die Vollmacht zur Sündenvergebung wird also nicht nur Petrus (Mt 16,19), sondern allen Jüngern 2 Sermon vom Sakrament (1526), WA 19, 513; vgl. dazu auch Friso Melzer, Das deutsche Wort Beichte, in: Zimmerling, Ermutigung, 37f. 3 Vgl. dazu im Einzelnen: Böttrich: Schuld bekennen. 4 Zur wechselvollen Geschichte der Beichte in den evangelischen Kirchen vgl. im Einzelnen: Peter Zimmerling, 1. Zur Geschichte der Beichte, in: ders., Studienbuch Beichte, 13–41.

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übertragen. Durch die Verkündigung des Evangeliums sollen Menschen zum Glauben kommen und Vergebung ihrer Sünden empfangen. Dabei richtet sich das Angebot der Vergebung nicht nur an Nichtchristen. Auch diejenigen, die an Jesus Christus glauben, benötigen Vergebung ihrer Sünden: „Wenn wir sagen, wir haben keine Sünde, so betrügen wir uns selbst, und die Wahrheit ist nicht in uns. Wenn wir aber unsre Sünden bekennen, so ist er treu und gerecht, dass er uns die Sünden vergibt und reinigt uns von aller Ungerechtigkeit“ (1Joh 1,8f). Die klassische Belegstelle für die Einzelbeichte findet sich in Jak 5,16: „Ist jemand unter euch krank, der rufe zu sich die Ältesten der Gemeinde, dass sie über ihm beten und ihn salben mit Öl in dem Namen des Herrn. Und das Gebet des Glaubens wird dem Kranken helfen, und der Herr wird ihn aufrichten; und wenn er Sünden getan hat, wird ihm vergeben werden. Bekennt also einander eure Sünden und betet füreinander, dass ihr gesund werdet. Des Gerechten Gebet vermag viel, wenn es ernstlich ist“ (Jak 5,14–16).

Bei genauerem Hinsehen wird deutlich, dass hier nicht zur Einzelbeichte nach heutigem Verständnis aufgefordert wird. Vielmehr soll ein gegenseitiges Schuldbekenntnis zwischen den Ältesten und dem Kranken erfolgen. Es handelt sich also um eine Form von öffentlicher Beichte. Die Beichte erfolgt stellvertretend für die Gemeinde vor den Ältesten. Auch die Ältesten sind auf die Vergebung Jesu Christi angewiesen. Beichthörer und Beichtender stehen auf der gleichen Stufe vor Gott – eine wichtige Erkenntnis angesichts des im Zusammenhang mit der Einzelbeichte häufig zu beobachtenden unguten Machtgefälles. Dass die Beichte mit dem Krankengebet verbunden ist, zeigt, dass Jakobus eine ganzheitliche Seelsorge vor Augen steht. Eine gestörte Beziehung zwischen Mensch und Gott bzw. von Menschen untereinander hat Einfluss auf das leibliche Wohlbefinden. Voraussetzung sowohl für Vergebung als auch für Heilung ist das Bekenntnis der Sünden voreinander. Ohne Bekenntnis der Schuld keine Erfahrung der Vergebung. Weiter fällt auf, dass der Kranke die Ältesten zu sich rufen soll. Bekenntnis der Schuld und Krankengebet bleiben der Initiative des Kranken überlassen. Beides soll freiwillig bleiben: Angebote Gottes, die niemandem aufgenötigt werden dürfen.

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2.

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Eine ambivalente Situation: zwischen „Abschied von der Schuld“ und „Entschuldigungsseuche“

Der Umgang mit Schuld stellt sich heute ambivalent dar. Einerseits lässt sich – mit guten Gründen – ein „Abschied von der Schuld“ in der Gesellschaft, ja selbst in der Kirche, diagnostizieren.5 Ein Indiz dafür ist die Beobachtung, dass den meisten Menschen kaum noch verständlich ist, was Schuld und Sünde im biblischen Sinn bedeuten. In der Alltagssprache hat sich eine Abschwächung der Rede von Sünde und Schuld zu einer religiös neutralen Bedeutung oder gar zur rein ironischen Verwendung ereignet. So findet das Wort „sündigen“ nur noch gegenüber Übertretung von Verkehrsregeln oder bei gesundheitsschädlichem Essverhalten Verwendung. Sünde und Schuld wurden mehr und mehr zu einem rein privaten Phänomen, zu einer Angelegenheit der subjektiven Innerlichkeit ohne Bezug auf Gott.6 Da für viele Menschen Gott aus dem Alltag verschwunden ist, begegnet er ihnen bestenfalls noch an den Rändern des Lebens: in Grenzsituationen des Leides oder der Freude. Sie fühlen sich ihm – als dem Schöpfer – auch nicht mehr für ihr alltägliches Tun und Lassen verantwortlich. An die Stelle Gottes sind andere Instanzen getreten: verinnerlichte Forderungen an sich selbst, denen man unter allen Umständen genügen will, die Erwartungen an ein gelingendes Leben7 und die Ansprüche der Gesellschaft oder der eigenen Familie. Auch die neue Sehnsucht nach Spiritualität ist nicht mit der Erkenntnis von Sünde und Schuld verbunden.8 Es geht ihr weithin um eine – angesichts der Risikogesellschaft verständliche – Selbstvergewisserung des Individuums und die Steigerung der Lebensqualität durch spirituelle Erfahrungen. Ein transzendentes göttliches Gegenüber, vor dem man sich für sein Handeln verantwortlich fühlt, spielt in den spirituellen Neuaufbrüchen keine Rolle. Schließlich stellt auch die Nazi-Vergangenheit Deutschlands paradoxerweise ein Hindernis auf dem Weg zu einem christlichen Verständnis von Schuld und Vergebung dar. Angesichts der Shoa erscheint die persönliche Schuld des heutigen Menschen bedeutungslos, wenn nicht banal. Es gab in Deutschland nicht nur eine „Unfähigkeit zu trauern“;9 es gibt auch eine Unfähigkeit, Schuld zu erkennen und zu bekennen.

5 Vgl. Richard Riess (Hg.), Abschied von der Schuld? Zur Anthropologie und Theologie von Schuldbekenntnis, Opfer und Versöhnung (ThAkz 1), Stuttgart 1996; vgl. dazu auch Eberhard Hahn, „Ich glaube … die Vergebung der Sünden“. Studien zur Wahrnehmung der Vollmacht zur Sündenvergebung durch die Kirche Jesu Christi (FSÖTh 92), Göttingen 1999, 181–195. 6 Gräb, Makel. 7 Vgl. dazu Schneider-Flume, Leben. 8 Vgl. dazu im Einzelnen Zimmerling, Spiritualität, 126–138. 9 Mitscherlich, Trauern.

Die Beichte als Mittel evangelischer Spiritualität

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Andererseits zeichnet sich nach Jahrzehnten der Verdrängung der Schuld aus dem öffentlichen Bewusstsein – man denke nur an die Waschmittelreklame der 1960er-Jahre, in denen Hausfrauen aufgrund des Gebrauchs des richtigen Waschmittels ein gutes Gewissen verheißen wurde –, seit einiger Zeit eine Veränderung der gesellschaftlichen Gemütslage ab. Im Gefolge des Scheiterns der modernen Utopien von einer neuen Gesellschaft und einem neuen Menschen erfolgte eine Rückkehr der Rede von Schuld in den öffentlichen Raum. Es ist geradezu modern geworden, in der Öffentlichkeit Schuld zu bekennen: und zwar individuelle und kollektive gleichermaßen.10 In vielen Filmen geht es explizit darum, wie Menschen mit ihrer Schuld fertig werden können.11 Dass Menschen ein Bewusstsein von Schuld und Versagen haben, zeigt schon länger die moderne Literatur.12 Inzwischen nehmen sich darüber hinaus Journalisten und Soziologen des Themas Schuld und Vergebung in verstärktem Maße an.13 Prominente Beispiele für Schuldbekenntnisse im politischen Raum sind die von Bill Clinton vor dem amerikanischen Senat im Zusammenhang mit der Lewinsky-Affäre und vom japanischen Ministerpräsidenten Obuchi in dessen Rede 1998 in Korea im Hinblick auf den Überfall Japans. Selbst die Queen hat bei ihrem vorletzten Staatsbesuch in Deutschland im Jahr 2004 dem öffentlichen Druck nicht widerstehen können und sich zwar nicht verbal für das britische Flächenbombardement auf deutsche Städte während des Zweiten Weltkriegs entschuldigt. Stattdessen lud sie aber zu einem Benefizkonzert in die Berliner Philharmonie ein, dessen Spenden dem Wiederaufbau der Dresdener Frauenkirche zugutekamen. In diesen Zusammenhang gehören auch die nach dem Ende des Apartheidsregimes in Südafrika eingesetzten Versöhnungskommissionen. In einem christlich geprägten Land wie der Südafrikanischen Republik führten diese Kommissionen zur Versöhnung von politischen Gegnern; eine Versöhnung, die 10 Vgl. dazu im Einzelnen Dahlgrün, Sorry. 11 A. a. O., 310. 12 Dazu gehören z. B. Albert Camus, La Chute, worin Schuld in Form von nicht wahrgenommener Gleichgültigkeit gegenüber fremder Not thematisiert wird, Hermann Broch, Die Schlafwandler, worin es um Orientierungslosigkeit und Unfähigkeit zu kritischem Verhalten geht, Rolf Hochhuth, Der Stellvertreter, das den Selbstfreispruch und die Leugnung von Mitschuld thematisiert, Max Frisch, Andorra, worin es um Nicht-wahrhaben-Wollen vorhandener Schuld und um Sündenbockdenken geht, Siegfried Lenz, Zeit der Schuldlosen, das das Schuldigwerdenmüssen in einem totalitären Staatsgefüge zum Inhalt hat, Johannes Gründel, Art. Sünde V. Theologisch-ethisch, in: LThK3, Bd. 9, Freiburg i.Br. u. a. 2000, 1129f). 13 Vgl. Jan Fleischhauer u. a., Aufstieg einer Sünderin, in: Spiegel 9/2010, 66–74 (Titelbild mit Unterschrift: „Mensch Käßmann, Vom Umgang mit der Schuld); Matthias Matussek, Auf Teufel komm raus (Die sieben Todsünden der Bibel), in: Spiegel 7/2010, 61–71; Gerhard Schulze, Die Sünde. Das schöne Leben und seine Feinde, Frankfurt a.M. 2008; Peter Gross, Jenseits der Erlösung. Die Wiederkehr der Religion und die Zukunft des Christentums, Bielefeld 22008.

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als Zeichen von Transzendenz im gesellschaftlichen Raum gedeutet werden kann.14 „Daily Talkshows“ sind ein prominentes Beispiel dafür, wie sich das Bedürfnis nach Eingeständnis und Entlastung von Schuld im säkularen Raum der Medien Gehör verschafft.15 In den vergangenen Jahren ist immer wieder die These aufgestellt worden, dass Talkshows als Beichtstuhlersatz fungieren. Was ist von dieser These zu halten? Aus Seelsorge und Therapie ist bekannt, dass durch das Aussprechen verdrängter Schuld eine seelische Reinigung stattfinden kann.16 Talkshows lassen kathartische Züge erkennen.17 Diese Züge scheinen jedoch nicht bei allen Beteiligten positiv zur Wirkung zu kommen. Vielleicht sollte man von niederschwelligen seelsorgerlichen Dimensionen in Talkshows sprechen, die je nach Form der Beteiligung unterschiedliche Intensität gewinnen. Jüngere empirische Untersuchungen über die Motivation von Talk-Gästen und Zuschauern haben dazu brauchbares Material erschlossen.18 Indem Daily Talkshows das Bedürfnis nach Aussprache und Entlastung von Schuld medial geschickt vermarkten, eröffnen sie Menschen die Möglichkeit, in einer anonymen Öffentlichkeit ihre Probleme und Nöte zur Sprache zu bringen. Das gilt nicht nur für die Talkgäste, sondern auch für die ungleich größere Zahl der Zuschauerinnen und Zuschauern von Talkshows, die sich mit ihren alltäglichen Lebensproblemen in den Talkshow-Themen wiederfinden. Diese scheinen von den Lebensgeschichten der Talkgäste und den Beiträgen der Talkmaster Orientierung für ihr eigenes Leben zu erwarten. Man sollte diese Sendungen weder vorschnell als „Seelen-Striptease“ verurteilen noch als bloße Unterhaltung abtun. Sie sind stattdessen ein Hinweis darauf, wie groß in einer postmodernen Gesellschaft das Bedürfnis nach Aussprache und Entlastung, nach Zuspruch von Identität und nach Orientierung ist.19 Das

14 Wüstenberg, Bonhoeffer. 15 Eine konstruktiv-kritische Darstellung der seelsorgerlichen Bedeutung von Daily Talkshows für Gäste bietet Margita Feldrapp, Daily Talks als Lebenshilfe für die Gäste? Ein medienkritischer Diskurs unter Berücksichtigung der Gastperspektive (Studien zur christlichen Publizistik 9), Erlangen 2004. 16 Krusche, Einzelgespräch, 120f. 17 Christiane Krautscheid, Zur Beichte ins Fernsehen, PÄD Forum 25/1997, 482–84; Gerhard Naujokat, Outen oder Beichten?, Idea Spektrum 19/1999, 18f. 18 Gary Bente/Bettina Fromm, Affektfernsehen. Motive, Angebotsweisen und Wirkungen, Opladen 1997; Andrea Claudia Hoffmann, Öffentlichkeit als Therapie? Zur Motivation von Daytime-Talk-Gästen, München 1998; Bettina Fromm, Privatgespräche vor Millionen. Fernsehauftritte aus psychologischer und soziologischer Perspektive, Konstanz 1999; Andreas Weiß, Wer sieht sich das nur an? Den Zuschauern von Daily-Talkshows auf der Spur. Eine Rezipientenbefragung, München 1999. 19 Damit sollen in keiner Weise die psychischen Folgeschäden geleugnet werden, die sich bei den Talkshowgästen durch auf suggestivem Wege bewirkte Preisgabe von intimen Geständnissen

Die Beichte als Mittel evangelischer Spiritualität

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Kommunikationsbedürfnis in einer vom Individualismus geprägten Gesellschaft ist riesig, ebenso das Verlangen nach medial vermittelter Selbstvergewisserung, schließlich auch die Erwartung an die Fernsehgemeinde, durch sie Vergebung und Entlastung, Erneuerung und Lebenshilfe zu erfahren. Die genannten Beispiele zeigen: Das Thema Schuld und Entlastung bzw. Vergebung, das ursprünglich primär im Raum der Religion beheimatet war, wird an säkularen Orten aufgegriffen und thematisiert. Es ist in den öffentlichen Raum zurückgekehrt. Aber auch in Theologie und Kirche scheint sich eine Renaissance der Beichte zu ereignen. Sie ist an manchen Orten zum heimlichen Modethema avanciert. Praktiziert wird speziell die Einzelbeichte heute vor allem auf Kirchentagen und in Kommunitäten. In Taizé etwa bilden sich nach dem Abendgebet in der großen Kirche lange Schlangen mit jugendlichen Besuchern, die sich bei einem der dazu bereitstehenden Brüder der Gemeinschaft aussprechen bzw. die Beichte ablegen wollen. Bücher zum Thema Beichte finden in der weltlichen Presse Resonanz. Immer wieder werden Diskussionssendungen über den Umgang mit Schuld und Versagen in Radio und Fernsehen ausgestrahlt. Der christliche Beitrag zur Frage nach der Entlastung von Schuld ist offensichtlich gefragt. Insgesamt lassen sich in Gesellschaft und Kirche eine Sehnsucht nach Aussprache und Entlastung, manche sprechen kritisch von einer regelrechten „Entschuldigungsseuche“,20 und Ansätze zu einer vorsichtigen Neuentdeckung der Beichte beobachten.21 Im Bekennen von Schuld und Versagen vor Gott liegt eine Lebenskraft verborgen, die im Protestantismus heute weithin unbekannt ist und deshalb ungenutzt bleibt. Schuldbekenntnis und Vergebungszusage stellen Zeichen menschlicher Würde dar. Schuldig zu werden gehört zum Menschsein. Niemand kann dem entgehen. Ich nehme mein Leben ernst, indem ich meine Schuld eingestehe. Schuld zu leugnen, zu bagatellisieren oder zu verdrängen, bedeutet demgegenüber eine Missachtung meines Menschseins. Das Sündersein darf – anders als eine jahrhundertelange Tradition der Beichte auch in der evangelischen Kirche es suggerierte – nicht länger als Ausdruck einer kleinmachenden und entmündigenden Erfahrung missverstanden werden.22 Vielmehr muss es als heilsam rettende Erfahrung begriffen werden. Das Stehen zu meinem Sündersein in der Beichte ermöglicht mir die Einkehr in eine Selbstbegrenzung, die mir letztlich zugutekommt. Dass die christliche Rede von Sünde, Schuld und einstellen können (Colin Goldner, Meiser, Fliege & Co. Ersatztherapeuten ohne Ethik, Psychologie heute 23/1996, 20–27). 20 Dahlgrün, Sorry, 308. 21 Darauf deutet z. B. hin die vielfach nachgefragte kirchliche Handreichung von Klaus-Peter Herztsch, Wie mein Leben wieder hell werden kann. Eine Einladung zur Beichte in der evangelisch-lutherischen Kirche, Kirchenleitung der VELKD (Hg.), Hannover 2002. 22 Vgl. dazu ausführlich Möller, Riss, bes. 44ff.

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Vergebung den Menschen zu entlasten vermag und ihm gleichzeitig seine Verantwortlichkeit zurückgibt und so zur Stärkung seines Selbstwertgefühls beiträgt, wird nicht von heute auf morgen im öffentlichen Bewusstsein Eingang finden. Theologie und Kirche haben die Rede von Sünde und Schuld zu lange dazu missbraucht, Menschen in Abhängigkeit und Angst zu halten. Um hier ein neues Bewusstsein zu fördern, sind aufseiten von Theologie und Kirche Fantasie und Beharrlichkeit gefragt.

3.

Ein Blick zurück: Zur Geschichte der Einzelbeichte23

Die Einzel- oder Privatbeichte besitzt eine lange Geschichte, in der sie sich mehrfach grundlegend gewandelt hat.24 Dabei lassen sich mehrere folgenreiche Einschnitte erkennen: die Entstehung der Beichte im orientalischen Mönchtum, die Demokratisierung der Einzelbeichte im Gefolge der iro-schottischen Germanenmission im 7. Jh., die Reform der Beichte durch die lutherische Reformation im 16. Jh., der sukzessive Verlust der Beichte im Protestantismus seit dem Ende der lutherischen Orthodoxie, Ansätze zur Wiedergewinnung der Beichte seit dem 19.Jh., die massive theologische Kritik an der Beichte durch Vertreter der humanwissenschaftlich geprägten Seelsorge am Beginn der 1970er-Jahre und Anzeichen einer zaghaften Renaissance der Beichte in den vergangenen Jahren im evangelischen Raum bei gleichzeitigem rapiden Schwinden der Beichtpraxis in der katholischen Kirche.

3.1

Die Reform der Beichte durch Martin Luther (1483–1546)

Martin Luther weist in seinen Schriften regelmäßig auf den großen Nutzen der Einzelbeichte hin. Eine Art Kompendium seiner Beichtauffassung liegt im „Großen Katechismus“ und im „Kleinen Katechismus“ vor. Im „Kleinen Katechismus“ wird die Beichte zunächst auf ihre beiden wesentlichen Stücke beschränkt: Es geht in ihr allein um das Bekenntnis der Sünde und um die Absolution. „Die Beichte begreift zwei Stücke in sich: eins, daß man die Sünde bekenne, das andere, daß man die Absolution oder Vergebung vom Beichtiger empfange als von Gott selbst […]“25 Damit ist die mittelalterliche Verknüpfung der Beichte mit einer Fülle von Bußleistungen vom Tisch. Weiter weist Luther 23 Vgl. dazu im Einzelnen Zimmerling, Studienbuch Beichte, 20–35; ders., Angebot, 88–109. 24 Vgl. dazu im Einzelnen: Isnard W. Frank, Art. Beichte II. Mittelalter; Ernst Bezzel, Art. Beichte III. Reformationszeit; Helmut Obst, Art. Beichte IV. Neuzeit, in: TRE 5, Berlin/New York 1980, 414–428. 25 Zit. nach Luther, Ausgewählte Werke, Bd. 3, 179.

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darauf hin, dass nur bewusste Sünden bekannt werden müssen. Damit ist die Forderung der mittelalterlichen Kirche nach vollständiger Aufzählung aller begangenen Sünden überwunden. Die Beichte ist Gottes Angebot, sich das Evangelium persönlich zusprechen zu lassen: „Wir vermahnen aber du sollst beichten und deine Not nicht anzeigen darum, daß du es als ein Werk tust, sondern hörest, was dir Gott sagen lässt. Das Wort, sage ich, oder die Absolution sollst du ansehen, sie groß und teuer achten als ein trefflichen, großen Schatz mit allen Ehren und Dank anzunehmen.“26 Die Beichte ist im Kern Zuspruch des Evangeliums. Genauso wenig wie ein Mensch zur Annahme des Evangeliums gezwungen werden kann, sollte er mit Zwangsmitteln zum Gebrauch der Beichte gebracht werden: „Man soll wohl dazu reizen, aber nit treiben, man soll dazu locken, aber nit zwingen. Man soll die Leute darin bestärken, aber man soll nit drohen und schrecken mit der Beicht. Frei, willig und gern soll man beichten. Kann man das nit tun, so lasse man das Treiben ausstehen.“27 Die Beichtpraxis wird durch die neuen Einsichten Luthers von Ängstlichkeit und Skrupulosität befreit. Er öffnet ihr einen Spielraum der Freiheit. Dass sie dem Menschen ein befreites Gewissen schenken will, muss sich widerspiegeln in der Art, wie in ihr Schuld bekannt wird. Darum sollen nur konkrete Sünden gebeichtet werden. Es soll auch nicht nach Sünden gesucht werden; der Beichtende ist frei von der ängstlichen Fixierung auf vielleicht in der Vergangenheit begangene, aber in Vergessenheit geratene oder unbewusst gebliebene Sünden: „Wenn aber jemand sich nicht befindet beschweret mit solcher oder größeren Sünden [die Luther zuvor aufgezählt hat], der soll nicht sorgen oder weiter Sünde suchen noch erdichten und damit eine Marter aus der Beicht machen, sondern erzähle eine oder zwo, die du weißt.“28 Indem Luther die Absolution ins inhaltliche Zentrum der Beichte rückt, wird sie zu einer freudigen, ja fröhlichen Angelegenheit: „Wer nun sein Elend und Not fühlet, wird wohl solch Verlangen danach kriegen, daß er mit Freuden hinzu laufe.“29 Besonders wertvoll ist die Beichte für Luther deshalb, weil in ihr die Absolution in der Beichte im Auftrag Gottes durch einen Mitmenschen erteilt wird. Das Evangelium, die gute Nachricht von der Vergebung meiner Schuld, findet seinen Weg zu mir nicht anders als durch das Wort des Bruders: „Denn welchem willst du dein Gebrechen klagen denn Gott? Wo kannst du ihn aber finden denn in deinem Bruder? Der kann dich mit Worten stärken und helfen.“30

26 Zit. nach a. a. O., 290. 27 Von der Beichte (1521), WA 8, 177, 28–33 (; Sprache modernisiert); ähnlich auch Großer Katechismus, in: BSLK, 730ff. 28 Kleiner Katechismus, zit. nach Luther, Ausgewählte Werke, Bd. 3, 180. 29 Großer Katechismus, zit. nach a. a. O., 290. 30 WA 15, 488, 30, zit. nach Althaus, Theologie, 274.

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Am Schluss seiner Überlegungen zur Beichte im „Kleinen Katechismus“ stellt Luther sie noch in einen größeren Zusammenhang hinein. Ihre damit verbundene Relativierung soll ihrer Entlastung und ihrer Wirksamkeit dienen. Nicht immer genügt nämlich ein einzelnes kurzes Beichtgespräch, um den angefochtenen Menschen zu trösten. Daran wird sichtbar, dass die Beichte für Luther in den größeren Raum der seelsorgerlichen Begleitung gehört. „Welche aber große Beschwerung des Gewissens haben oder betrübt und angefochten sind, die wird ein Beichtvater wohl wissen mit mehr Sprüchen zu trösten und zum Glauben reizen.“31 Es ist für Luther unfassbar, dass Menschen das Angebot der Beichte ausschlagen. Er kommt darum im „Großen Katechismus“ zu dem Schluss, dass derjenige, der nicht beichtet, gar kein Christ sein kann, weil er dadurch zu erkennen gibt, dass er das Evangelium selbst verachtet: „Willst du es aber verachten und so stolz ungebeichtet hingehen, so schließen wir das Urteil, daß du kein Christ bist […]. Denn du verachtest, was kein Christ verachten soll, […] und ist ein gewisses Zeichen, daß du auch das Evangelium verachtest.“32 Umgekehrt ist die Praxis der Beichte ein untrüglicher Hinweis auf das Christsein eines Menschen: „Darum wenn ich zur Beichte vermahne, so tue ich nichts anders, denn daß ich vermahne, ein Christ zu sein. Wenn ich dich dahin bringe, so habe ich dich auch wohl zur Beicht gebracht.“33 Luther rückt Christsein und Beichte damit unmittelbar zusammen. Wer Christ ist, übt die Beichte, und wer die Beichte übt, ist ein Christ. In solchen Sätzen spiegelt sich Luthers eigene Erfahrung. Er war davon überzeugt, dass er gerade der eigenen regelmäßigen Beichtpraxis das Bleiben im Glauben verdankte. „Aber dennoch will ich mir die heimliche Beichte niemand lassen nehmen und wollte sie nicht um der ganzen Welt Schatz geben. Denn ich weiß, was Trost und Stärke sie mir gegeben hat. Es weiß niemand, was sie vermag, denn wer mit dem Teufel oft und viel gefochten hat. Ja, ich wäre längst vom Teufel erwürgt, wenn mich nicht die Beichte erhalten hätte.“34

31 32 33 34

Kleiner Katechismus, zit. nach Luther, Ausgewählte Werke, Bd. 3, 180. Großer Katechismus, zit. nach a. a. O., 291. Ebd. WA 10/III, 61,7.28, zit. nach Althaus, Theologie, 273f.

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3.2

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Der sukzessive Verlust der Beichte im Protestantismus nach der Reformation

Im reformierten Bereich wurde die Einzelbeichte bald durch die Kirchenzucht ersetzt, obwohl Calvin selbst sie noch empfohlen hat.35 Im Raum der lutherischen Kirchen führte Luthers reformatorische Entdeckung paradoxerweise sowohl zur Erneuerung als auch zum Niedergang der Einzelbeichte: Zur Erneuerung, insofern sie aus einem kirchlichen Zwangsinstrument zur Knechtung der Gewissen zum befreienden Angebot der persönlichen Vergewisserung der Vergebung wurde; zum Niedergang, insofern die Beichte fortan freiwillig praktiziert werden sollte und darum nicht mehr mit kirchlichen Disziplinarmaßnahmen durchgesetzt werden konnte. Die evangelisch gewordenen Kirchenmitglieder missverstanden die neu gewonnene Freiheit zur Beichte als Freiheit von der Beichte. Luther war darüber so verärgert, dass er im „Großen Katechismus“ den Gemeindegliedern erneut das Joch des Papsttums auf den Hals wünschte.36 Allerdings konnte er aufgrund der neuen reformatorischen Erkenntnisse die Beichte nicht wieder für alle obligatorisch machen. Als Ausweg bot sich die Katechismusprüfung an. Diese trat in der Folgezeit in den lutherischen Kirchen an die Stelle der Beichte als Voraussetzung der Zulassung zum Abendmahlsempfang. Der Kommunikant musste Rechenschaft darüber ablegen, ob er den Sinn des Abendmahls verstanden hatte. Im Zusammenhang damit bestand auch die Möglichkeit zur Einzelbeichte. Dadurch drohte allerdings eine ungute Vermischung von Glaubensprüfung und Beichte. Im Verlauf der weiteren Entwicklung des Luthertums verfiel die Beichte zunehmend.37 Im 17. Jh. wurde sie im Zeitalter der lutherischen Orthodoxie mehr und mehr zu einem mechanischen Katechismusverhör vor dem Abendmahlsgang, das zudem oft mit einer Geldzahlung verbunden war. Aufgrund der Kritik des älteren Pietismus an dieser Praxis wurde die Beichte als Institution in vielen lutherischen Landeskirchen an der Wende vom 17. zum 18. Jh. abgeschafft.38 Mit dem Hinweis auf die notwendige Freiwilligkeit der Beichte sollte es dem Einzelnen überlassen bleiben, ob er die seelsorgerliche Aussprache mit dem Pfarrer suchte oder nicht. Der Pietismus übersah angesichts seines Misstrauens gegenüber toten rituellen Formen, dass statt der Abschaffung die Erneuerung des Beichtrituals sinnvoller gewesen wäre. Indem dieses abgeschafft wurde, ging es in der Folgezeit für die Kirche als Ganzes verloren. Dazu beigetragen hat neben dem 35 36 37 38

Vgl. Calvin, Institutio, 407–409. Vgl. Großer Katechismus, zit. bei Luther, Ausgewählte Werke, Bd. 3, 287f. Vgl. dazu im Einzelnen Klein, Beichte. Vgl. dazu im Einzelnen z. B. Helmut Obst, Der Berliner Beichtstuhlstreit. Die Kritik des Pietismus an der Beichtpraxis der lutherischen Orthodoxie (AGP 11), Witten 1972.

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Pietismus wesentlich der Einzug des Rationalismus in Theologie und Kirche. Dieser lehnte die Beichte an sich ab, da er in ihr nur die Ausübung von Zwang auf das autonome Gewissen des Menschen zu sehen vermochte.

3.3

Ansätze zur Erneuerung der Beichte im 19. und 20. Jh.

Im 19. Jh. kam es im Gefolge der Erweckungsbewegung in Württemberg durch Johann Christoph Blumhardt (1805–1880)39 und in Franken durch Wilhelm Löhe (1808–1872)40 ansatzweise zu einer Wiedergewinnung der Einzelbeichte.41 Erneut zeigten sich in der Zeit nach dem Ersten Weltkrieg Bestrebungen zur Wiedergewinnung der Beichte. Die 1931 gegründete evangelische Michaelsbruderschaft, zu der neben Theologen auch Laien gehörten,42 und die weniger bekannte Sydower Bruderschaft traten in Theorie und Praxis für die persönliche Beichte ein. Auch Dietrich Bonhoeffer gehörte in den 1930er-Jahren zu den Pionieren der evangelischen Beichte im 20. Jh. Das Neue seines Ansatzes gegenüber den beiden genannten Bruderschaften bestand darin, dass es ihm darum ging, die Beichte für die gesamte Kirche wiederzugewinnen.43 Als Direktor des Predigerseminars der Bekennenden Kirche und als Leiter des damit verbundenen Bruderhauses in Finkenwalde bei Stettin (1935–1937) ermunterte Bonhoeffer die Vikare zur persönlichen Beichte untereinander und beichtete selber bei einem von ihnen.44 Theologisch reflektierte er diese Bemühungen in seinem Buch „Gemeinsames Leben“.45 Neben Bonhoeffer traten damals auch andere

39 Zur Biografie: Friedrich Zündel, Johann Christoph Blumhardt. Ein Lebensbild, Gießen 131936; Dieter Ising, Johann Christoph Blumhardt. Leben und Werk, Göttingen 2002; Werkausgabe: Johann Christoph Blumhardt, Gesammelte Werke. Schriften, Verkündigungen, Briefe, hg. von Gerhard Schäfer, Göttingen 1968ff. 40 Zur Biografie Löhes vgl. Erika Geiger, Wilhelm Löhe (1808–1872). Leben, Werk, Wirkung (Testes et testimonia veritatis – Zeugen und Zeugnisse der Wahrheit 3), Neuendettelsau 2003. 41 Ein wichtiger Vertreter der lutherischen Erneuerung, der für die Wiedergewinnung der Beichte eintrat, war auch der Mecklenburger Theodor Kliefoth; vgl. dazu: Martin Gral, Beichte und Absolution als Zentralanliegen der lutherischen Erneuerung bei Theodor Kliefoth im 19. Jh., in: Was heißt hier lutherisch! Aktuelle Perspektiven aus Theologie und Kirche, hg. von Reinhard Rittner, Bekenntnis (Schriften des Theologischen Konvents Augsburgischen Bekenntnisses 37), Hannover 22005, 87–103. 42 Vgl. dazu Karl Bernhard Ritter, Die Ordnung der Beichte, im Auftrag der Evang. Michaelsbruderschaft hg. von Karl Bernhard Ritter/Wilhelm Stählin, Kassel 31952. 43 Vgl. Bonhoeffer, DBW 5, 14. 44 Vgl. Eberhard Bethge, Dietrich Bonhoeffer. Theologe, Christ, Zeitgenosse, München 41978, 532f; vgl. dazu auch: Peter Zimmerling, Bonhoeffer als Praktischer Theologe, Göttingen 2006, 176–182. 45 Vgl. Bonhoeffer, DBW 5.

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Vertreter der Bekennenden Kirche wie Hans Asmussen für die Erneuerung der Einzelbeichte ein.46 Nach dem Zweiten Weltkrieg verstärkten sich diese Ansätze durch den Sieg der Bekennenden Kirche und die Vorherrschaft der dialektischen Theologie. Besonders die lutherischen Landeskirchen in Deutschland versuchten, durch ihre Ordnungen die Einzelbeichte wiederzubeleben.47 Maßgeblichen Anteil an der Erneuerung der Einzelbeichte nach dem Zweiten Weltkrieg hatte der damals gegründete Deutsche Evangelische Kirchentag. Eines der Themen des Frankfurter Kirchentages von 1956 lautete: „Evangelische beichten“.48 Aus den Kirchentagsprotokollen der Nachkriegszeit wird ersichtlich, dass viele Kriegsheimkehrer die Möglichkeit zur persönlichen Beichte nutzten.49 Neben den Kirchentagen sind gegenwärtig vor allem die verschiedenen, seit dem Zweiten Weltkrieg entstandenen evangelischen Kommunitäten Orte, an denen die Einzelbeichte angeboten und von einer größeren Anzahl evangelischer Christen praktiziert wird. Aus meiner eigenen Tätigkeit als Pfarrer einer Kommunität weiß ich, dass eine Reihe von Freunden und Tagungsgästen regelmäßig bei einzelnen Mitgliedern der Gemeinschaft beichteten.50 Die Beicht-Agende der VELKD von 1993 will eine Brücke von der gesellschaftlichen Situation zur traditionellen Beichte schlagen.51 Dabei steht der Gedanke im Zentrum, dass die Beichte, als Akt menschlicher Reife und Verantwortungsübernahme interpretiert, eine immer noch gültige Antwort auf das Problem des menschlichen Schuldigwerdens darstellt. Die Agende knüpft mit ihrer Deutung der Beichte als reditus ad baptismum, als Rückkehr zur Taufe, an reformatorische Auffassungen an und hebt Freiheit und Freude als Konsequenzen der Beichte hervor. Darüber hinaus bemüht sie sich um einen weiteren Brückenschlag: von der Allgemeinen Beichte im Gottesdienst, die in der evangelischen Kirche fast ausschließlich noch praktiziert wird, zur Einzelbeichte. Beide Formen werden als gleichwertig verstanden. Sie hätten die Aufgabe, sich zu 46 Vgl. Hans Asmussen, Die Seelsorge. Ein praktisches Handbuch über Seelsorge und Seelenführung, München 1935, 226–230; Vgl. dazu auch die Beichtuntersuchung des BonhoefferSchülers Albrecht Schönherr, Lutherische Privatbeichte, Göttingen 1938. 47 Vgl. Klein, Beichte, 230ff; vgl. in diesem Zusammenhang auch: Vergebung als Lebenshilfe. Zur Frage der Einzelbeichte heute. Studiendokument des Lutherischen Weltbundes (Kommission für Gottesdienst und Geistliches Leben), hg. von Friedrich-Wilhelm Künneth, Berlin/Hamburg 1970. 48 Vgl. Hansjörg Bräumer, Das Sakrament der Beichte. Überlegungen zu seiner Entstehung und seinem Gebrauch, Breklum 1977, 31. 49 Vgl. dazu Wolfgang Böhme, Der Weg. Weltverantwortung und Gottesliebe. Aufsätze und Predigten, Hamburg 1987, 14. 50 Vgl. Zimmerling, Spiritualität, 167. 51 Vgl. Agende für evangelisch-lutherische Kirchen und Gemeinden, Bd. III/3 Die Beichte, hg. von der Kirchenleitung der Vereinigten Evangelisch-Lutherischen Kirche Deutschlands, neu bearbeitete Ausgabe, Hannover 1993, 10–15; 85f.

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ergänzen, wobei jedoch die gemeinsame Beichte die Einzelbeichte nicht ersetzen könne. Die Allgemeine Beichte habe vielmehr die Aufgabe, die Einzelbeichte in Erinnerung zu halten und zu ihr hinzuführen. Der Blick in die protestantische Kirchengeschichte zeigt allerdings, dass die Praxis der Allgemeinen Beichte nicht zur Erneuerung der Einzelbeichte führte, sondern umgekehrt diese sukzessive ersetzt hat. Insgesamt konnte der weitgehende Verlust der Einzelbeichte im Protestantismus seit dem 18. Jh. durch deren Wiederentdeckung im 19. Jh. im Gefolge der Erweckungsbewegung und im 20. Jh. im Rahmen der Bekennenden Kirche und der neu entstandenen geistlichen Bruder- und Schwesternschaften und Kommunitäten zwar nicht rückgängig gemacht werden. Die Praxis der Privatbeichte ist bis heute auf einzelne Gruppen und Kreise der evangelischen Kirche beschränkt geblieben. Aber auch wenn diese Ansätze nicht zu einer Verankerung der Privatbeichte in der gesamten Kirche führten, hielten sie doch in der Kirche das Bewusstsein wach, dass die Beichte eine – wenn auch weithin außer Gebrauch gekommene – Form evangelischer Spiritualität darstellt.

4.

Beichte praktisch-theologisch52

In den vergangenen 100 Jahren seit dem Ersten Weltkrieg hat sich die Bedeutung der Beichte im Rahmen der Praktischen Theologie mehrfach radikal gewandelt, wobei der Begriff Beichte hier weit zu fassen ist und neben der Privat- oder Einzelbeichte auch andere Formen wie die Herzensbeichte oder die Allgemeine Beichte im Gottesdienst umfasst. Bildete die Beichte seit den 1920er-Jahren für die kerygmatische Seelsorge das Herz der Seelsorge, wurde sie nach der sog. empirischen Wende Anfang der 1970er-Jahre von wichtigen Vertretern der humanwissenschaftlich orientierten Seelsorge in den Hintergrund gedrängt, wenn nicht sogar radikal abgelehnt. Verstärkt seit den 1990er-Jahren lässt sich eine langsame Rehabilitierung der Beichte in der evangelischen Seelsorgediskussion beobachten, wenn sie auch nicht die überragende Bedeutung wiedergewonnen hat, die sie für die kerygmatische Seelsorgekonzeption besaß. Für die kerygmatisch orientierte Seelsorge, die maßgeblich von der dialektischen Theologie Karl Barths bestimmt war, bildete die Beichte den Fluchtpunkt des gesamten seelsorgerlichen Handelns. Verantwortlich dafür war eine theozentrische Sicht des Menschen. Für die Theologie des Wortes war, mit Martin 52 Eine ausführliche Version der folgenden Überlegungen findet sich in: Peter Zimmerling, Die Bedeutung der Beichte im Rahmen der Praktischen Theologie seit dem Ende des Ersten Weltkriegs, in: Gunter Prüller-Jagenteufel u. a. (Hg.), Beichte neu entdecken. Ein ökumenisches Kompendium für die Praxis (Kontexte. Neue Beiträge zur historischen und systematischen Theologie, 45), Göttingen 2016, 173–185.

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Luther gesprochen, der Mensch der von Gott zu rechtfertigende Sünder. Alle drei Hauptvertreter der kerygmatischen Seelsorge – Eduard Thurneysen, Hans Asmussen und Dietrich Bonhoeffer – waren von diesem theologischen Ansatz geprägt, wobei sie gleichzeitig je eigene Akzentsetzungen erkennen lassen.53 Die Beichte als theologische Mitte der dialektischen Seelsorgekonzeption verschaffte ihr ein klares theologisches Profil und erlaubte, kirchliche Seelsorge und säkulare Beratung theologisch begründet voneinander zu unterscheiden. Im Gefolge der sog. empirischen Wende in der Theologie, die das Ende der Vorherrschaft der kerygmatisch geprägten Seelsorge bedeutete, gewannen in den 1970er-Jahren die Kritiker der Beichte die Oberhand. Einer der Hauptvertreter der humanwissenschaftlich orientierten Seelsorgebewegung war Joachim Scharfenberg (1927–1996), der seinen Ansatz primär im Gespräch mit der Tiefenpsychologie Sigmund Freuds entwickelt hat. 1972 stellte er in einem Artikel die Beichte radikal in Frage – und damit gleichzeitig die kerygmatische Seelsorgekonzeption insgesamt.54 In der Beichte kulminiert für ihn das vom sog. Bruch gekennzeichnete Gesprächsparadigma der kerygmatischen Seelsorge. Dieses Paradigma sei aufgrund neuer Einsichten aus den Humanwissenschaften überholt. Im Seelsorgegespräch gehe es um die wertschätzende Annahme des Ratsuchenden. Darüber hinaus verlange die veränderte gesellschaftliche Situation, den traditionellen Seelsorgeansatz mit der Beichte als Zentrum hinter sich zu lassen. Voraussetzung für die Wirksamkeit der Beichte ist nach Scharfenberg die Übertragung der Schuld des Beichtenden auf den Beichthörer. In einer freiheitlich-demokratisch verfassten Gesellschaft funktioniere jedoch ein solcher Übertragungsmodus auf fraglos anerkannte Autoritäten nicht mehr. Darum müsse es in der Seelsorge in Zukunft darum gehen, die Probleme der Seelsorgesuchenden im Gespräch zu bearbeiten mit dem Ziel, diesen ein Leben in Freiheit und Selbstbestimmung zu ermöglichen. Höchstens in kommunitätsähnlichen Gemeinschaften ist für Scharfenberg die Beichte noch denkbar – allerdings auch hier in einer tiefgreifend veränderten Gestalt: nämlich in Form 53 Vgl. dazu Eduard Thurneysen, Rechtfertigung und Seelsorge, in: Zwischen den Zeiten 6, München 1928, 208–218; ders., Die Lehre von der Seelsorge, München 1948, z. B. 251; Herbert Goltzen/Johann Schmidt/Henning Schröer, Art. Asmussen, Hans (1898–1968), in: TRE 4, Berlin/New York 1979, 259–265; Hans Asmussen, Die Seelsorge, München 1934. „Seelsorge ist die Verkündigung des Wortes Gottes an den einzelnen“; „Seelsorge geschieht von Mann zu Mann“ lauten darin die prägnanten Bestimmungen über das Wesen der Seelsorge (a. a. O., 15); Bonhoeffer hat sich auch noch an anderen Stellen zur Beichte geäußert, jedoch nie in der Geschlossenheit und Präzision wie in „Gemeinsames Leben“; so im Abschnitt über die Beichte in seiner Finkenwalder Seelsorgevorlesung: Bonhoeffer, DBW 14, 589–591; in den Mitschriften zu gesonderten Lehrveranstaltungen über die Beichte: „Beichte und Abendmahl (Thesen)“; „Die Beichte (Nach dem Großen Katechismus)“, a. a. O., 749–755; vgl. zu Bonhoeffer auch Peter Zimmerling, Bonhoeffer als Praktischer Theologe, Göttingen 2006, 176– 182. 54 Vgl. Joachim Scharfenberg, Seelsorge und Beichte heute, in: WzM 24/1972, 80–90.

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einer selbstkritischen Gruppenaussprache, in der Scharfenberg das Öffentlichkeitsmoment der urchristlichen Beichtpraxis wieder zu entdecken meint.55 Nach den virulenten Auseinandersetzungen in den 1970er-Jahre zwischen der kerygmatischen und der therapeutisch orientierten Seelsorge und zwischen Befürwortern und Ablehnern der Beichte hat sich der Pulverdampf inzwischen verzogen. Damit ist eine nüchternere und realistischere Wahrnehmung der Chancen und Grenzen der Beichte möglich geworden. Ernst Bezzel, zuletzt Regionalbischof der bayerischen Evangelisch-lutherischen Kirche in Ansbach, war der erste, der in Aufnahme, Kritik und Weiterführung von Anliegen der empirischen Seelsorgebewegung versuchte, die Beichte neu zu begründen.56 In seiner 1982 publizierten Dissertation setzte er sich – zehn Jahre nach dem Artikel von Scharfenberg – mit dessen Ablehnung der Beichte auseinander. Im Zentrum von Bezzels Überlegungen steht die Frage, warum die Beichte für die Seelsorge theologisch unerlässlich ist. Zwei Gründe sind für ihn maßgeblich: Die Beichte halte die Bedeutung des Glaubens für die Seelsorge im Bewusstsein, wobei der Glaube gleichzeitig Wirkfaktor und Ziel der evangelischen Seelsorge sei. Zudem sei die Beichte im Hinblick auf die Rolle und das Selbstverständnis des Seelsorgers notwendig. Denn dieser dürfe eben nicht nur als einfühlsamer Berater, sondern müsse auch als Zeuge verstanden werden. Der Zuspruch der Vergebung in der Beichte sei deshalb „transempirisch“ zu interpretieren; er ergehe unabhängig von der psychologischen Qualifikation des Seelsorgers. Nötig sei dessen religiöse Sprachfähigkeit. Dass Bezzel eine theologische Vermittlungsposition einnimmt, zeigt sich an der Tatsache, dass er keine einfache Repristination der traditionellen Beichte und ihres Settings intendiert. Nur wenn die veränderte gesellschaftliche Bewusstseinslage berücksichtigt werde, habe die Beichte als Mittel der Seelsorge eine Zukunft. Entscheidend auf dem Weg dahin sei die Überwindung der hierarchischen Über- und Unterordnung von Beichtvater und Beichtkind durch die Reintegration des Beichthörers in die Gemeinde und die Überwindung des Formalismus und Mechanismus im Beichtgespräch. Seit der Dissertation von Bezzel ist die Diskussion um Seelsorge und Beichte weitergegangen. Die Praktische Theologin Corinna Dahlgrün stellte 2002 die These auf, dass die Frage nach Schuld und Vergebung seit einigen Jahren wieder Thema öffentlicher Diskussionen sei, während die Kirchen hier noch Nachholbedarf erkennen ließen.57 Dahlgrün zog den Schluss, dass Beichte und Vergebung 55 A. a. O., 88. 56 Vgl. Ernst Bezzel, Frei zum Eingeständnis. Geschichte und Praxis der evangelischen Einzelbeichte, Stuttgart 1982. 57 Dahlgrün, Sorry; zur kritischen Auseinandersetzung mit Dahlgrün vgl. Bernd Beuscher/ Wiepke Naumann/Britta Schroeter, Weltschelte? Von der Last und Lust, als Christen Mensch in der Welt zu sein. Anmerkungen zum Aufsatz von Corinna Dahlgrün, in: PTh 91/2002, 322–

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nicht nur theologisch geboten, sondern auch anthropologisch notwendig seien. Sie plädierte deshalb dafür, den Kirchengemeinden die vielfältigen Möglichkeiten der Beichte wieder ins Bewusstsein zu rufen und ohne Sorge zu sein im Hinblick auf eine mangelnde Zeitgemäßheit des Beichtrituals.58 Die humanwissenschaftlich geprägte Seelsorgebewegung führte in der Seelsorge seit dem Ende der 1960er-Jahre zu einer breiten Rezeption psychologischer Erkenntnisse und therapeutischer Methoden. Heute ist es möglich, die Chancen und Grenzen des humanwissenschaftlich-therapeutischen und des theologischseelsorgerlichen Umgangs mit Sünde und Schuld vorurteilsfreier und nüchterner als früher wahrzunehmen und auf diese Weise voneinander zu lernen. Das Beichtgespräch hat humanwissenschaftlichen Erkenntnissen zu verdanken, dass es professioneller als früher geführt werden kann. Psychologische Kenntnisse bewahren den Beichthörer z. B. vor einem kasuistischen Vorgehen und helfen ihm, den Beichtenden besser in dessen besonderer Notlage wahrzunehmen. Sie lassen ihn auch wachsam sein gegenüber Übertragungsmechanismen, die sich in jedem Seelsorgegespräch einstellen. Die Psychotherapie fand heraus, dass es krankhafte Formen der Schulderfahrung gibt. Daraus lernte die Seelsorge, dass zwischen Schuld und Schuldkomplex, d. h. zwischen echten und pathologischen Formen von Schulderfahrung und Schuldgefühl unterschieden werden muss. Das Schuldgefühl als Zwangsneurose und Selbstbestrafungswahn kann therapiert werden. Die Beichte bleibt hier wirkungslos, wenn sie nicht sogar zur Verfestigung der Neurose führt. Auf der anderen Seite gibt es echte Sünde und Schuld, die durch keine Therapie behandelt werden können. Davon legen nicht nur die biblischen Schriften, sondern auch die moderne Kulturentwicklung, aber auch philosophische und politische Diskurse an vielen Stellen Zeugnis ab.59 Wirkliche Sünde und Schuld gehören in die Beichte!

327; Ralph Kunz, Beichte nachgefragt. Zum Aufsatz von Corinna Dahlgrün und den Anmerkungen von Bernd Beuscher, Wiebke Naumann und Britta Schroeter, in: PTh 91/2002, 520–524. Corinna Dahlgrün hat inzwischen ihre Überlegungen weiterentwickelt: vgl. dazu dies., Zum Profil einer lutherischen Praktischen Theologie – an den Beispielen Kirchenmusik und Beichte, in: Was heißt hier lutherisch! Aktuelle Perspektiven aus Theologie und Kirche, hg. von Reinhard Rittner (Bekenntnis. Schriften des Theologischen Konvents Augsburgischen Bekenntnisses 37), Hannover 22005, 211–233; dies., Die Beichte als christliche Kultur der Auseinandersetzung mit sich selbst coram Deo, in: Handbuch der Seelsorge. Grundlagen und Profile, hg. von Wilfried Engemann, Leipzig 2007, 493–507. 58 Vgl. Dahlgrün, Sorry, 321. 59 Zur Thematisierung von Schuld und Sünde im Film „Wie im Himmel“ vgl. Gräb, Makel, bes. 240–242; zum Umgang mit Schuld in gesellschaftlichen Zusammenhängen vgl. Magdalene L. Frettlöh, Vergebung oder „Vernarbung der Schuld“? Theologische und philosophische Notizen zu einer frag-würdigen Alternative im gesellschaftlichen Umgang mit Schuld, in: Evangelische Theologie 70/2010, 116–129.

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Die Beichte stellt eine gemeindepädagogische Aufgabe dar. Bereits im Kindesalter können Angebote einer kindgemäßen Hinführung zu Bekenntnis und Vergebung gemacht werden. Kommen solche Angebote bei Kindern an, sind sie die beste Voraussetzung dafür, dass diese auch im Erwachsenenalter einen Zugang zur Beichte finden. Entscheidend ist dabei, dass im Kindesalter die Begleitung auf dem Weg zur Beichte primär durch die nächststehenden Menschen, also die Eltern, erfolgt.60 Es fällt auf, dass das Thema „Schuld bei Kindern“ in Theologie und Kirche bisher fast nirgends thematisiert wird. Das gilt für die theologische Literatur genauso wie für Kindergottesdienst- und Unterrichtspläne (für Christenlehre und Religionsunterricht gleichermaßen). Entsprechenden Unterrichtseinheiten in Konfirmandenunterricht und Christenlehre käme eine wichtige Rolle auf dem Weg zur Wiedergewinnung der Beichte zu. Sie sollten die Möglichkeit einschließen, Beichte im Vollzug kennenzulernen. Gerade jugendgemäße meditative Beichtformen können helfen, die Hemmschwelle gegenüber der Einzelbeichte abzubauen.61 Es gibt inzwischen eine große Anzahl unterschiedlicher meditativer Beichtformen. Folgende Formen sind in der jüngsten Vergangenheit – vor allem im Rahmen von Konfirmandenrüstzeiten und Jugendgottesdiensten – erprobt worden: einen Nagel als Sinnbild der eigenen Sünden unter einem Holzkreuz ablegen; Beichtzettel verbrennen, auf denen vorher persönliche Sünden notiert werden konnten; Steine in einen See werfen, die zuvor mit einer besonders drückenden Sünde beschriftet wurden. Da in den meisten Kirchgemeinden die Einzelbeichte unbekannt ist, muss sie auch unter den erwachsenen Kirchenmitgliedern erst wieder ins Bewusstsein gerufen werden. Dafür bieten sich Gemeindeabende und Predigtreihen zum Thema, ebenso das Bekanntmachen des Angebots der Beichte im Gemeindebrief an. Eine weitere Möglichkeit besteht in der Einrichtung eigener Bußgottesdienste (etwa als abendlicher Vespergottesdienst) mit vorangehender oder anschließender Möglichkeit zur Einzelbeichte.62

60 Vgl. dazu im Einzelnen: Hans Peter Mahlke, Schuld und Vergebung bei Kindern, in: Werner Klän/Christoph Barnbrock (Hg.), Heilvolle Wende. Buße und Beichte in der evangelischlutherischen Kirche, Göttingen 2009, 99–113. 61 Vgl. hier und im Folgenden: Reiner Braun, Impulse zur Erneuerung der Beichte durch meditative Formen, in: Heinz-Dieter Neef (Hg.), Theologie und Gemeinde. Beiträge zu Bibel, Gottesdienst, Predigt und Seelsorge, Stuttgart 2006, 155–166. 62 Gerhard Ruhbach, Das ganze Leben eine Buße. Sünde und Sündenvergebung im Alltag und als gottesdienstliche Handlung, in: Wolfgang Böhme (Hg.), Sündigen wir noch? Über Schuld, Buße und Vergebung (Herrenalber Texte 65), 50.

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5.

555

Anregungen zur Praxis der Beichte

Abschließend möchte ich noch einige praktische Hinweise zur Durchführung der Beichte anhand von vier einfachen Fragen geben: Wann, wem, wo und wie beichten? Dabei sollen auch Gefährdungen der Beichte nicht verschwiegen werden.

5.1

Wann beichten?

Ziel des Glaubens ist die Befreiung von Lebens- und Todesängsten, damit Freude und Frieden den Alltag prägen. Auf dem Weg dahin stellt die Beichte eine große Hilfe dar, zuweilen ist sie sogar ein unerlässliches Mittel. Allerdings besitzt die Beichte im Leben eines Menschen nicht zu allen Zeiten die gleiche Bedeutung. So wie es in der Natur und in der Entwicklung des Menschen Jahreszeiten gibt, finden sich diese Phasen auch auf dem Weg des Glaubens. In einem Lebensabschnitt wird die Beichte regelmäßig und häufig praktiziert werden, in einem anderen nur sporadisch, bisweilen wird sie ganz in den Hintergrund treten. Dem Schuldbekenntnis in der Beichte geht gewöhnlich ein längerer Prozess von Erkennen und Anerkennen der Schuld voraus. Häufig entsteht ein Bewusstsein der Sünde durch die Predigt oder die persönliche Bibellese, aber auch durch das seelsorgerliche Gespräch. Die Beichte in Anspruch nehmen sollten wir dann, wenn uns das Gewissen anhaltend anklagt und wir die Vergebung nicht mehr glauben können, wenn eine oder mehrere konkrete Sünden über uns Macht gewonnen haben oder wenn uns das geistliche Leben zur lästigen Routine geworden ist. Vor allem in letzterem Fall ist auf dem Weg zur Schulderkenntnis ein sog. Beichtspiegel eine Hilfe. Anhand der Zehn Gebote oder anderer Fragen, die das persönliche Handeln beleuchten, erfolgt eine Prüfung des Lebens vor Gott. Allerdings sollte ein solcher Beichtspiegel nicht von skrupulösen Menschen verwendet werden, sondern nur unter der Voraussetzung, dass das Bedenken des persönlichen Lebens nicht zur Zermarterung des Gewissens oder zum Herumwühlen im eigenen oder fremden Schmutz verführt.

5.2

Wem beichten?

Nach evangelischem Verständnis kann jeder Christ Beichthörer sein und vollgültig die Vergebung der Sünden zusprechen. Hier wirkt sich das von der Reformation neu entdeckte allgemeine Priestertum aus! Allerdings werden aufgrund ihrer Ausbildung und der in der Ordination erfolgten Verpflichtung auf das Beichtgeheimnis Pfarrerinnen und Pfarrer häufig bevorzugte Beichthörer

556

Peter Zimmerling

sein. In der Regel kann nur derjenige Beichthörer sein, der selbst die Beichte für sich praktiziert. Indem er selbst beichtet, erwirbt er neben Erkenntnis der Sünde zugleich Barmherzigkeit gegenüber der Sünde und Schwäche des Beichtenden. Das gilt gleichermaßen für Ordinierte und Nichtordinierte. Im Raum der evangelischen Kirche ist die Beichte meist kein isoliertes Geschehen, sondern wächst aus einer seelsorgerlichen Beziehung. Von daher ist es das Naheliegende, den Seelsorger auch zum Beichthörer zu wählen. Wichtig ist, dass man einen Menschen zum Beichthörer nimmt, zu dem man rückhaltloses Vertrauen besitzt. Entscheidend bei der Beichte ist, dass der Beichthörer die Schweigepflicht einhält. Bei Jugendlichen und jungen Erwachsenen sollte der Beichthörer darüber hinaus jemand sein, der den Beichtenden an geistlicher Erfahrung und Lebensalter voraus ist. Allerdings habe ich selbst in dieser Lebensphase auch gelungene Beichten zwischen Gleichaltrigen erlebt. Nicht geeignet als Beichthörer sind gewöhnlich Familienangehörige – etwa die eigene Ehefrau und der Ehemann – oder Menschen, zu denen man in einem beruflichen oder anderen Abhängigkeitsverhältnis steht, da sich hier andere Beziehungskräfte störend auf die Beichte auswirken.

5.3

Wo beichten?

Klassischer Ort der Beichte ist im Katholizismus bis heute der Beichtstuhl in der Kirche. Nicht anders war es ursprünglich auch in der lutherischen Kirche. Was hätte ich schon dafür gegeben, wenn wir Protestanten einen solchen Ort zur Verfügung hätten. Immer wieder habe ich mir ein dunkles Zimmer zur Beichte gewünscht, um nicht schutzlos den Blicken des Beichthörers ausgeliefert zu sein. Allerdings ist der Versuch, durch den Beichtstuhl in der Kirche die Anonymität zu wahren und das göttliche Gegenüber als eigentlichen Adressaten der Beichte im Bewusstsein zu halten, ein zweischneidiges Schwert. Viele moderne Katholiken empfinden den Beichtstuhl als zu unpersönlich und meinen, dass damit ein ungutes ritualisiertes, ja mechanistisches Verständnis der Beichte gefördert würde. Hin und wieder ist von evangelischen Pfarrern der Versuch unternommen worden, die Sakristei als Raum der Beichte zu nutzen und der Gemeinde dafür feste Sprechzeiten bekannt zu geben. Ein Angebot, das anscheinend nicht ohne Resonanz bleibt. Wichtig erscheint mir, dass die Gestaltung jedes Raumes, in dem die Beichte erfolgt, erkennen lässt, dass sie zwar vor einem menschlichen Zeugen, aber letztlich vor Gott abgelegt wird. Dazu haben sich das Anzünden einer Kerze und ein Kreuz als hilfreich erwiesen. Um anzudeuten, dass Gott zwischen Beichthörer und Beichtendem steht, liegt das Kreuz am besten auf einem Tisch zwischen beiden.

Die Beichte als Mittel evangelischer Spiritualität

5.4

557

Wie beichten?

Nach reformatorischem Verständnis sind die Grundkonstanten der Beichte das Bekenntnis und der Zuspruch der Vergebung. Da es sich bei der Beichte um ein richtiges Gespräch handelt, ist wie bei jedem anderen seelsorgerlichen Gespräch entscheidend, dass der Beichthörer ausreichend Zeit hat und zuhören kann.63 Der Beichtende sollte in keiner Weise bedrängt werden: weder dass er sich möglichst kurz fasst noch dass er bestimmte Sünden bekennt. Er muss ausreden dürfen. Allerdings kann es vorkommen, dass er ermutigt werden muss, wirklich alles, was ihn bedrückt, auszusprechen. Wichtig ist, dass konkrete Sünden bekannt, ohne dass Einzelheiten ausgebreitet werden. Es fällt zwar leichter, ein allgemeines Sündenbekenntnis abzulegen, dieses ist aber für den Beichtenden auch viel weniger tiefgreifend. Das Nennen von Einzelheiten gibt der Sünde eine zu große Bedeutung. Sie kommt in der Beichte als bereits von Jesus Christus besiegte zur Sprache. Die Beichte kann ohne jede gebundene Form oder anhand einer liturgischen Ordnung durchgeführt werden. Ohne gebundene Form legt der Beichtende nach Aufforderung durch den Beichthörer dar, was er als Schuld bekennen möchte. Dann spricht der Beichthörer ihm in frei gewählten Worten die Vergebung im Namen Jesu Christi zu. Geschieht die Beichte nach einer liturgischen Ordnung, ist es vor der erstmaligen Beichte nötig, den Ablauf zu erklären. Während der Beichte ist dem Beichtenden an der dafür vorgesehenen Stelle die Möglichkeit zu geben, seine Schuld auszusprechen. Beide Formen haben sowohl Vor- als auch Nachteile. Evangelische Christen, die jedem Ritual skeptisch gegenüberstehen, werden eine freie Form der Beichte bevorzugen. Das gilt auch für viele Jugendliche und junge Erwachsene, die es gewohnt und von der Stärke ihrer Persönlichkeit her in der Lage sind, ihre Überzeugungen, Gedanken und Empfindungen offen, frei und unmittelbar zum Ausdruck zu bringen. Andere bevorzugen die geprägte Form der Beichte als eine Art Geländer, das ihnen Sicherheit verleiht. Gerade beim Bekennen besonders demütigender Sünden erweist sich die Beichtordnung als Stütze, an der sich der Beichtende festhalten kann. Eine einfache Beichtordnung findet sich in fast allen Ausgaben des Evangelischen Gesangbuchs unter der Überschrift „Anleitung zur Einzelbeichte“.

63 Vgl. hier und im Folgenden Johannes Busch, Stille Gespräche, Wuppertal 1959, 39f.

558 5.5

Peter Zimmerling

Gefährdungen der Beichte

Auch wenn dieses Buch zu einer Neuentdeckung der Beichte im Rahmen evangelischer Spiritualität beitragen will, soll am Schluss auf Gefährdungen eingegangen werden, die der Beichte drohen. Die größte Gefährdung besteht darin, die Beichte als gutes Werk zu betrachten, das der Beichtende Gott darbringt. Damit ist das Wesen evangelischer Beichte vollkommen verkannt. Das Augenmerk liegt in der Beichte nicht auf meinem, sondern auf Gottes Tun. In der Beichte handelt Gott an mir! Ich lasse mir von ihm persönlich, stellvertretend durch den Bruder oder die Schwester, den Dienst der Sündenvergebung leisten. Im Zentrum der Beichte steht nicht mein Bekenntnis der Sünden, sondern deren Vergebung durch Gott. Zu den Gefährdungen gehört auch das Verständnis der Beichte als einen isolierten Akt, der zum übrigen Leben in keiner Beziehung steht. Nach dem Motto: Habe ich nur erst meine Schuld gebeichtet, ist aller Kampf beendet. Dadurch wird die Beichte einerseits überfordert, andererseits wird sie auf einen Heilsautomatismus reduziert. Die Herrschaft der Sünde ist durch Beichte und Vergebung gebrochen, aber darum noch nicht endgültig beseitigt. Bis ans Lebensende bleibt jeder Christ zugleich Sünder und Gerechter. Darum sollte die Beichte Bestandteil einer geistlichen Lebensführung sein. Sie steht einerseits im Zusammenhang mit den übrigen Lebensäußerungen der christlichen Gemeinde, wozu Gottesdienst, Sakramente, Gebet, Bibellese und Gemeinschaft gehören, andererseits will die Erfahrung der Absolution den Beichtenden in einen Lebensstil der Vergebung hineinziehen (vgl. dazu Mt 18,21–35). Entscheidend für die Glaubwürdigkeit des Beichthörers ist, dass er schweigen kann. Das ist jedoch für viele alles andere als leicht. Es gibt leider kaum Orte in einer Gemeinde, an denen die Versuchung zum Klatsch größer ist als Pfarrhaus und Gemeindebüro. Ebenso fällt es vielen Beichthörern schwer, das Beichtgeheimnis gegenüber dem Ehepartner zu wahren. Wo der Beichthörer jedoch das Beichtgeheimnis bricht, verliert er über kurz oder lang unweigerlich das Vertrauen der Beichtenden. Auch das Beichtgespräch selbst ist für den Beichthörer von mancherlei Gefährdungen bedroht. Es stellt sich ihm die Aufgabe, zwischen echten und unechten Schuldgefühlen zu unterscheiden. Im Hinblick auf jedes unechte Schuldgefühl kommentarlos die Vergebung zuzusprechen, würde die Wirksamkeit der Beichte zerstören. Vor allem Jugendliche und junge Erwachsene leiden unter dem Problem eines überzarten und konfusen Gewissens. Die Aufgabe des Beichthörers besteht in diesem Zusammenhang darin, dem Heranwachsenden zu helfen, sein Gewissen durch Gottes Wort bilden zu lassen. Das Gewissen ist eine in hohem Maße abgeleitete Größe, bedarf also der Erleuchtung von außen.

Die Beichte als Mittel evangelischer Spiritualität

559

Viele Christen leiden unter Anfechtungen im Hinblick auf die Gewissheit ihres Heils. Diese werden dann häufig an vermeintlich begangenen Sünden festgemacht. Der Beichthörer darf auch hier nicht beim Vordergründigen stehen bleiben, sondern hat die Aufgabe, den Beichtenden hinter die von ihm bekannten Sünden zur eigentlichen Ursache seiner Anfechtungen zu führen. Besondere Behutsamkeit ist in diesem Zusammenhang bei Jugendlichen geboten, deren Anfechtungen sich dadurch auszeichnen, „daß sie im Zusammenhang von Entwicklungskrisen als Ineinander von Schuld- und Schicksalserfahrung, angesichts von Scheitern und Scham, als Folge maßloser Erwartungshaltungen und in Form von hemmenden Erwählungszweifeln in Erscheinung … [treten].“64 Vor allem in geistlichen Gemeinschaften, aber auch in traditionellen Kirchgemeinden kommt es immer wieder vor, dass die Beichte vom Beichthörer zur Ausübung geistlicher Gewaltherrschaft über die Seelen missbraucht wird.65 Das geschieht dann, wenn einer – etwa der Leiter der Gemeinschaft oder Gemeinde – Beichthörer für alle anderen ist. Um diesem Missbrauch zu entgehen, ist es wichtig, dass nicht einer allein, sondern mehrere in einer Gemeinschaft oder Gemeinde die Beichte hören. Gefährdet ist ein Beichthörer auch dann, wenn zwischen ihm und dem Beichtenden eine erotische Spannung besteht oder sich einstellt. Dadurch schieben sich im Beichtgeschehen unweigerlich andere Interessen in den Vordergrund als der Auftrag zur Vergebung der Sünde. In diesem Fall ist es dringend geboten, den Beichtenden auf einen anderen Beichthörer zu verweisen. Schließlich noch ein Wort dazu, wie der Beichthörer mit der bei ihm gebeichteten Schuld umgehen sollte. Gerade Beichten von sexuellen und okkulten Sünden werden seine Gedanken- und Gefühlswelt nicht unbeeinflusst lassen. Das kann in Einzelfällen bis zu Gemütsverstimmungen und Schlafstörungen führen. Da sich solche Reaktionen kaum vermeiden lassen, ist es wichtig, wie der Beichthörer damit umgeht. Er sollte sich klarmachen, dass er in der Beichte nicht in eigener Sache tätig ist. Vielmehr hört er die Beichte an Christi statt. Darum kann er das Gehörte im Gebet getrost Jesus Christus anvertrauen.

64 Werner Jentsch, Handbuch der Jugendseelsorge, Teil IV,2 Gesprächsseelsorge, Gütersloh 1986, 585. 65 Vgl. Bonhoeffer, DBW 5, 100.

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Peter Zimmerling

Literatur Quellen Calvin, Johannes, Unterricht in der christlichen Religion. Institutio Christianae Religionis, letzte Auflage 1559 (1. Auflage 1535), hg. v. Weber, Otto, Neukirchen 1955. Luther, Martin, Werke. Kritische Gesamtausgabe, Weimar 1883ff (WA). –, Ausgewählte Werke. Die Münchener Lutherausgabe, hg. von Borcherdt, Hans Heinrich/ Merz, Georg, München 31962. Bonhoeffer, Dietrich, Gemeinsames Leben/Das Gebetbuch der Bibel, hg. von Müller, Gerhard Ludwig/Schönherr, Albrecht, DBW 5, München 1987. –, Illegale Theologenausbildung: Finkenwalde 1935–1937, hg. von Dudzus, Otto/Henkys, Jürgen, DBW 14, München 1996.

Forschungsliteratur Althaus, Paul, Die Theologie Martin Luthers, Gütersloh 1962, 274. Böttrich, Thomas: Schuld bekennen – Versöhnung feiern. Die Beichte im lutherischen Gottesdienst, Arbeiten zur Pastoraltheologie, Liturgik und Hymnologie 46, Göttingen 2008. Dahlgrün, Corinna, „Sorry, du, dumm gelaufen!“. Beobachtungen zur Kultur des Beichtrituals, PTh 91/2002, 308–312. Gräb, Wilhelm, Der menschliche Makel. Von der sprachlosen Wiederkehr der Sünde, PTh 97/2008, 238–253. Klein, Laurentius, Evangelisch-Lutherische Beichte. Lehre und Praxis, Paderborn 1961. Krusche, Günter, Das seelsorgerliche Einzelgespräch, in: Becker, Ingeborg u. a. (Hg.), Handbuch der Seelsorge, Berlin 41990, 115–138. Mitscherlich, Alexander, Die Unfähigkeit zu trauern. Grundlagen kollektiven Verhaltens, München 1967 (seitdem viele Auflagen). Möller, Christian, Der heilsame Riss. Impulse reformatorischer Spiritualität, Stuttgart 2003. Schneider-Flume, Gunda, Leben ist kostbar. Wider die Tyrannei des gelingenden Lebens, Göttingen 2002. Wüstenberg, Ralf K., Bonhoeffer and Beyond. Promoting a Dialogue Between Religion and Politics, International Bonhoeffer Interpretations, Bd. 2, Frankfurt a.M. 2008, 79–87. Zimmerling, Peter (Hg.), Beichte – Ermutigung zum Neuanfang, Moers 1988. –, Studienbuch Beichte (UTB 3230), Göttingen 2009. –, Studienbrief Beichte – Gottes vergessenes Angebot, in: Brennpunkt Gemeinde 64/2011. –, Die evangelische Beichte heute. Situation, theologische Herausforderungen, Anstöße zur Praxis, in: Alexander Deeg/Irene Mildenberger/Wolfgang Ratzmann (Hg.), Angewiesen auf Gottes Gnade. Schuld und Vergebung im Gottesdienst (Beiträge zu Liturgie und Spiritualität 26), Leipzig 2012, 37–58. –, Beichte – Gottes vergessenes Angebot, Gießen 32018. –, Evangelische Spiritualität. Wurzeln und Zugänge, Göttingen 22010.

Andreas Ebert

Beichtspiegel und Anstiftung zum spirituellen Wachstum Das Enneagramm und die evangelische Spiritualität

1.

Zur Geschichte des Enneagramms

Das Enneagramm (gr. ἐννέα „neun“ und γράμμα „Zeichen“) ist ein geometrisches Symbol, das seit den 1970er-Jahren als „Landkarte“ einer spirituellen Typologie verwendet wird, die in zahlreichen psychotherapeutischen, kirchlichen und esoterischen Kontexten Anhänger hat. Es besteht aus einem Kreis, auf dem im Abstand von je 40° neun Punkte markiert sind, die im Uhrzeigersinn von 1 (Beginn) bis 9 (Vollendung) durchnummeriert werden. In diesen Kreis ist ein gleichseitiges Dreieck eingefügt. Die Ecken des Dreiecks markieren und verbinden die Punkte 3, 6 und 9. Die Figur wird durch ein unregelmäßiges Sechseck vervollständigt, das die Punkte 1, 4, 2, 8, 5 und 7 verbindet. Häufig werden die Verbindungslinien mit Pfeilspitzen versehen (9 zu 3 zu 6 zu 9; 1 zu 4 zu 2 zu 8 zu 5

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Andreas Ebert

zu 7 zu 1), die in der typologischen Arbeit mit dem Enneagramm eine besondere Bedeutung haben. Die Herkunft des Symbols ist bis heute nicht erschlossen. 1916 taucht das Symbol erstmals im Westen auf. Es war zentraler Bestandteil des komplexen Lehrgebäudes von Georges Iwanowitsch Gurdjieff (geboren zwischen 1864 und 1877; gestorben 1949), wie es von seinem Schüler Piotr D. Ouspensky dargestellt wurde.1 Gurdjieff wird in Alexandropol im Grenzgebiet zwischen Armenien und Georgien geboren, wo damals Gläubige mehrerer Religionen leben. Zeitlebens bezeichnet er sich als einen „pythagoräischen Griechen“ und vor allem als „esoterischen Christen“.2 Er will zunächst Arzt und russisch-orthodoxer Priester werden, ist jedoch bald von der kirchlichen Lehre enttäuscht, die seiner existenziellen Suche nicht genügend Nahrung bietet. Er fragt sich, wie Menschen wach werden können für ihren wirklichen Lebenssinn. Nach eigenen Angaben begibt er sich deshalb jahrzehntelang auf spirituelle Reisen, die ihn angeblich bis nach Ägypten, Indien und Tibet führen. In einem bis heute unauffindbaren Kloster einer „Sarmoun-Bruderschaft“, deren Wurzeln angeblich bis auf Pythagoras zurückgehen, will er jene Überlieferung kennengelernt haben, die seiner Auffassung vom Enneagramm zugrunde liegt. Seit 1908 beginnt er öffentlich zu wirken, zunächst in Taschkent, ab 1912 auch in Moskau und St. Petersburg. Auf der Flucht vor der Oktoberrevolution lässt er sich 1919 in Tiflis nieder, wo er ein erstes Institut eröffnet. Nach Aufenthalten in Konstantinopel, Berlin und Dresden gründet Gurdjieff im Oktober 1922 bei Paris das „Institut für die harmonische Entwicklung des Menschen“. Dort lehrt er vor allem seine „Movements“, Bewegungsfolgen, die zum Teil auf dem Enneagramm-Symbol basieren, das im Boden des Instituts eingelassen ist. 1949 stirbt er beim Unterrichten der „Movements“ und wird nach orthodoxem Ritus beigesetzt.3 Gurdjieff hat das Enneagramm offenkundig nicht als typologisches Modell verstanden, das den neun Punkten des Enneagramms bestimmte Charaktermuster zuordnet. Für ihn geht es zunächst darum, dass die drei Teile, Zentren oder „Hirne“ des Menschen (Denken, Fühlen und instinktive Motorik) harmonisch entwickelt und integriert werden. Das Enneagramm ist in den „Movements“ vor allem ein Schrittmuster, das dieser Integration dienen soll, vergleichbar dem Wirbeltanz der Derwische im Sufismus, der islamischen Mystik. Ein möglicher christlicher Hintergrund des Enneagramms lässt sich aus der Schrift „153 Kapitel über das Gebet“ des Wüstenvaters Evagrius Ponticus (345– 399) herleiten.4 In der Einleitung dieses Leitfadens zur Kontemplation setzt sich 1 2 3 4

Vgl. Ouspensky, Suche. Walker, Gurdjieff ’s Teaching. Zur Biografie u. a.: Gurdjieff, Begegnungen; Bennett, Gurdjieff; Shirley, Gurdjieff. Ebert, Origins, 1; Quirolo, Pythagoras.

Beichtspiegel und Anstiftung zum spirituellen Wachstum

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Evagrius mit der Bedeutung der Zahl 153, der Anzahl der gefangenen Fische aus Joh 21,10, auseinander. In der Antike war die Vorstellung des Pythagoras Allgemeingut, dass Zahlen nicht nur eine quantitative, sondern auch eine qualitative Bedeutung haben und sich geometrisch darstellen lassen. Evagrius erkennt in der Zahl 153 „sowohl die Form eines Dreiecks als auch eines Sechsecks“, Symbole der Trinität und des „geordneten Kosmos“. „Die Zahl 100 ist in sich ein Quadrat, die Zahl 53 ein Dreieck; sie ist aber auch kugelförmig. Warum? Nun, sie besteht aus der Summe von 25 und 28. 28 ist in sich ein Dreieck und 25 eine Kugel, denn sie ist die Summe aus 5 mal 5. So ergibt diese Summe also eine quadratische Figur, die die 4fache Zahl der Tugenden symbolisiert und eine kugelförmige, die ja durch ihre kreisförmige Bewegung die Zeit ausdrückt und ein geeignetes Symbol ist für ein tieferes Verstehen der Welt“.5

Hier finden sich die drei Grundelemente des Enneagrammsymbols (Dreieck, Sechseck, Kreis), die für die Trinität bzw. die drei „theologischen Tugenden“ (Glaube, Hoffnung und Liebe), die geschaffene Welt und den Kreislauf der Zeit stehen – und zusätzlich ein Quadrat, das nach Evagrius die vier „philosophischen Tugenden“ (Gerechtigkeit, Tapferkeit, Weisheit und Besonnenheit) versinnbildlicht. Abgesehen vom Quadrat sind die geometrischen Elemente Dreieck, Sechseck und Kreis im Enneagrammsymbol vereint. Sind die Lehren des Evagrius womöglich die Hauptquelle des Enneagrammsymbols und der später von Oscar Ichazo entwickelten Enneagramm-Typologie? Lynn Quirolo schreibt dazu: „Gurdjieff […] wuchs im Grenzgebiet zwischen Armenien und Georgien auf, wo bis heute Evagrius, ein in Georgien geborener Grieche, sehr verehrt wird. Die Lehren des Evagrius und der Wüstenväter waren wesentlicher Bestandteil der östlichen orthodoxen Kultur und dürften mit Sicherheit Gurdjieff während seiner Kindheit und seiner frühen geistigen Entwicklung beeinflusst haben.“6

Auch der später selig gesprochene Franziskanermönch Ramon Llull (1232–1316) aus Mallorca hat zwei neunstrahlige Figuren entwickelt, die Gurdjieff vermutlich kannte: Ausgangspunkt für die Wahrheitssuche der großen Religionen sind für Llull die neun (!) Namen oder Eigenschaften Gottes, die er auf der Peripherie seiner Kreisfigur „A“ im Uhrzeigersinn anordnet, wobei A in der Mitte für das Wesen Gottes steht, B bis K für Gottes Eigenschaften Güte, Größe, Ewigkeit, Macht, Weisheit, Wille, Tugend, Wahrheit und Herrlichkeit. Eine weitere neunzackige „Figur T“, die aus drei gleichseitigen Dreiecken besteht, stellt neben den

5 Evagrius Ponticus, Praktikos, 86; Evagrius’ Spekulation entspricht der Pythagoräischen Zahlenlehre, vgl. Sarton, George, Ancient Science Through the Golden Age of Greece, Dover 1952. 6 Quirolo, Pythagoras.

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Andreas Ebert

„absoluten Prinzipien“ der „Figur A“ neun davon abgeleitete „relative Prinzipien“ wie Unterschied, Entsprechung oder Ähnlichkeit dar.7 Ebenso dürften die Theorien des Jesuiten und Universalgelehrten Athanasius Kircher (1602–1680) zur Vorgeschichte des Enneagramms beigetragen haben. Wie Llull arbeitete er an der Entwicklung einer Universalsprache, die Religionen verbindet anstatt zu spalten. Auf der Titelseite seines Buches „Arithmologia“ ist ein Neuneck dargestellt, das Llulls „Figur T“ ähnelt.

Llulls „Figura A“

Kirchers Neuneck

Der bolivianische Psychiater Oscar Ichazo (geb. 1931) war der Erste, der das Enneagramm fünfzig Jahre nach der Präsentation durch Gurdjieff als typologisches Modell vorstellte. Auch er verschleierte seine Quellen. Aber unter ihnen scheint wiederum der Wüstenvater Evagrius Ponticus eine maßgebliche Rolle gespielt zu haben. Evagrius hat mehrere Schriften über die acht bzw. neun „Hauptlaster“ verfasst, die Menschen auf dem Weg zur Vereinigung mit Gott behindern. Meist bezeichnet er sie als λογισμοὶ („Gedankengebilde“), also mentale Konzepte, die bestimmte Gefühle und Taten nach sich ziehen und insofern Ursprung allen Elends sind. Die Beobachtung und Abwehr dieser Leidenschaften, verbunden mit dem kontemplativen Gebet, der Ausrichtung auf das göttliche Licht, können zur Heilung und Erleuchtung führen. 7 Vgl. Häring, Coaching, 23.

Beichtspiegel und Anstiftung zum spirituellen Wachstum

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Ichazos Modell vereint daneben Einflüsse der jüdischen Mystik (Kabbala) und des Sufismus, gepaart mit modernen psychologischen und therapeutischen Erkenntnissen. In dieser Form wird es heute von Therapeuten und Therapeutinnen verschiedener Schulrichtungen, in der religiösen Bildungs- und Exerzitienarbeit, in Seelsorge und Geistlicher Begleitung, aber auch in der Unternehmensberatung und im Coaching weltweit verwendet. Zahlreiche Vereine und Organisationen verbreiten das Enneagramm als Modell der Persönlichkeitsentwicklung und tragen so zur Verbindung von Spiritualität, Therapie und Arbeitswelt bei. Ichazos Theorie geht davon aus, dass jeder Mensch eine von neun essenziellen Qualitäten besitzt, in denen sich neun Eigenschaften Gottes spiegeln. Im Lauf der frühen Kindheit wird der Fluss dieser puren Essenz unweigerlich blockiert, sodass es niemandem möglich ist, das eigene „wahre Selbst“ zu entfalten. Stattdessen wählen Menschen eine von neun Überlebensstrategien oder Notlösungen, die von Anfang an beides zugleich sind: Schutzmechanismus und Entfremdung vom eigenen ursprünglichen Wesen. Sie manifestieren sich in neun Mustern, die in sich logische automatisch funktionierende Mechanismen sind und lebenslang wirken. Diese Muster imitieren in gewisser Weise die essenziellen Qualitäten und „Heiligen Ideen“, die als Aspekte der Gottesebenbildlichkeit in jeder Person angelegt sind.8 Schon Gurdjieff ging von drei „Gehirnen“ (intellektuell, emotional und animalisch) in jedem Menschen aus. In dessen Gefolge verteilt Ichazo die neun Enneagramm-Muster auf drei „Zentren“. Durchgesetzt haben sich die zum Teil missverständlichen Begriffe „Bauchzentrum“ (die Muster 8, 9 und 1; Thema Macht und Selbstbehauptung), „Herzzentrum“ (die Muster 2, 3 und 4; Thema Beziehung) und „Kopfzentrum“ (die Muster 5, 6 und 7; Thema Angst und Sicherheit). Das Ideal wäre eine Balance der drei Zentren und ihrer Qualitäten. In der Regel aber bewegen sich Menschen vor allem in einem der Zentren („dominant“), können auf ein Hilfszentrum („sekundär“) zurückgreifen und vernachlässigen das dritte Zentrum, das deshalb ein Schattendasein führt und nicht zur Verfügung steht, wenn die Situation es eigentlich erfordert.

2.

Die neun Muster des Enneagramms

Muster 1: Das idealistische Streben nach Vollkommenheit In diesem Charaktertyp herrscht ein unbestechliches Gefühl für Wahrheit und Gerechtigkeit vor. Um keine Fehler zu machen, ist dieser Typ darauf bedacht, überlegt und vernünftig zu reagieren. Dieser Perfektionismus führt leicht zu Kritiksucht und Selbstgerechtigkeit und zu pedantischer Ordnungsliebe. Bei den 8 Überblick zu den „Heiligen Ideen“ bei Almaas, Facetten, 24ff.

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Andreas Ebert

Mitmenschen verbreitet Muster 1 oft das Gefühl, dessen moralischen Ansprüchen nicht genügen zu können. Leidenschaft: Zorn auf jede Art von Unvollkommenheit. Abwehrmechanismus: Reaktionskontrolle. Innerer Zensor entscheidet, welche Regung „richtig“ oder „falsch“ ist. Arbeitswut. Befreiung: wenn Zorn zugelassen wird und Erkenntnis wächst, dass es nicht nur einen „richtigen“ Weg gibt. Die Begegnung mit dem kreatürlichen Wachstum der Natur kann Muster 1 vermitteln, dass Dinge gedeihen, auch ohne dass ständig kontrollierend eingegriffen wird. Muster 2: Das Bedürfnis, gebraucht zu werden Dieser Typ besitzt die Fähigkeit, sich ganz auf die Bedürfnisse anderer Menschen einzustellen. Oft hat er einen großen Freundes- und Bekanntenkreis, und dennoch eine unerfüllte Sehnsucht, selbst geliebt zu werden. Distanzierung von oder Kritik an Muster 2 führt meist zu gekränktem Stolz und zu Liebesentzug. Leidenschaft: Stolz. „Ihr braucht mich, aber ich brauche euch nicht!“ Abwehrmechanismus: Verdrängung eigener Bedürfnisse; Mangel an Selbstfürsorge; Suchtgefährdung. Durch vorschnelle „Belohnung“ mit Süßigkeiten, Konsum oder Sex wird die Wahrnehmung und Befriedigung echter Bedürfnisse verdrängt. Befreiung: Erkennnen der eigenen Hilfsbedürftigkeit; echte Demut und Dankbarkeit; Freisein können und Freilassen können. Muster 2 in gereifter Form ist fähig zu bedingungsloser Freigiebigkeit und Liebe. Muster 3: Der Druck, erfolgreich zu sein Dieser Charaktertyp möchte bewundert werden. Er geht ganz in seinen Aufgaben auf und verfolgt deren Erledigung. Muster 3 ist enorm anpassungsfähig. Das Interesse an Mitmenschen ist dafür gering. Es herrscht Angst vor Selbstzweifeln, Misserfolgen und Niederlagen. Den Zugang zu den eigenen echten Gefühlen zu erlangen, fällt schwer, stattdessen werden fremde Gefühle nachgeahmt, um bei anderen anzukommen (Chamäleon). Leidenschaft: Betrug, Lüge, Täuschung. Totale Identifikation mit der jeweils angenommenen Rolle. Konkurrenzkampf; Zwang zu siegen. Die Mittel, die zum Erfolg führen, sind zweitrangig. Abwehrmechanismus: Konkurrenzkampf mit anderen; Daueraktivismus. Befreiung: Weg von der Außenorientierung zu sich selbst; Wahrhaftigkeit. Muster 4: Die fortwährende Suche nach sich selbst Dieser Typ verströmt die Aura einer unbestimmten Sehnsucht, die nie Erfüllung findet. Häufiger Drang nach künstlerischer Ausdrucksmöglichkeit, der mit einem Hang zur Selbstinszenierung einhergeht. Muster 4 ist außenorientiert, und

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sucht dabei nach der eigenen Identität durch Abgrenzung („Ich bin anders“). Wird als nonkonformistisch und gefühlsdramatisch wahrgenommen, fühlt sich selbst häufig unverstanden und als Außenseiter. Leidenschaft: Neid. Hin und her gerissen zwischen Abgrenzung und Anziehung („Push-Pull-Beziehungen“). Abwehrmechanismus: Künstlerische Sublimierung von Trauer und Enttäuschungen. Befreiung: Im Hier und Jetzt leben, anstatt in Nostalgie und Fernweh zu versinken. Authentizität suchen im banalen Alltag, in einem gesunden Realismus und einer emotionalen Balance. Muster 5: Der Wunsch nach Beobachten und Durchblick Menschen dieses Typs halten Distanz zu ihrer Umwelt. Sie beobachten lieber, als dass sie sich einmischen. Ihr Denken ist systematisierend und verspricht Durchblick. Emotionale Erfahrungen werden analysiert und in größere Zusammenhänge eingebettet. Dieser Typ braucht Rückzugsgefilde, hasst Aufdringlichkeit und Übergriffigkeit. Sein Wissen ist ihm Schutzwall gegen bedrängende Erfahrungen und Konflikte. Oft geht Muster 5 mit einer Sammelleidenschaft einher, die auch materielle Dinge umfassen kann. Leidenschaft: Geiz. Muster 5 geizt besonders mit Selbstmitteilung, bleibt in zwischenmenschlichen Beziehungen freundlich und höflich, aber unterkühlt. Abwehrmechanismus: Isolierung und Rückzug. Befreiung: Annahme der eigenen Körperlichkeit; Berührung, Beziehung, konkretes Handeln, wo das Durchdachte umgesetzt wird. Muster 6: Das Streben nach Sicherheit Bei diesem Muster herrscht das Grundgefühl von Misstrauen und Angst vor. Sicherheit wird bei Personen, Gruppen oder Ideologien gesucht. Deshalb haben Normen, Gesetze und Vorschriften einen hohen Stellenwert. Da Autoritäten immer auch als fehlbar erlebt werden, ist die Loyalität dieses Typs nicht uneingeschränkt, sondern von Misstrauen begleitet. Hier liegt oft eine Zerrissenheit zwischen Anlehnungsbedürfnis und „Verdacht“ vor. Deshalb kann dieser Charaktertyp ängstlich und anpassungsbereit oder aber wagemutig auftreten. Leidenschaft: Angst. Dauerndes Katastrophenszenario im Kopf. Abwehrmechanismus: Projektion. Von anderen kaum beachtete Kleinigkeiten können zu Indizien für anstehende apokalyptische Schrecknisse stilisiert werden. Sündenbocksuche. Befreiung: Selbstvertrauen. Muster 7: Genuss-Sucht Dieser Typ sucht in ständig wechselnden Erlebnissen Genuss. Glück und Freude

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werden intensiv geplant, dagegen Schmerz und Dunkelheit vermieden. Muster 7 ist ein ewiges Kind: Abenteuerlustig, neugierig, verspielt, begeisterungsfähig und meistens gut gelaunt. Andere Menschen sollen durch ihn aufgeheitert werden. Leidenschaft: Unersättlichkeit und Maßlosigkeit. Furcht vor Situationen, in denen sich negative Gefühle ausbreiten können. „Multitasking“. Abwehrmechanismus: Rationalisierung; Fähigkeit, aus etwas Unangenehmem etwas Positives zu machen. Befreiung: „Entschleunigung“: Weniger ist mehr. Durch das Verweilen bei Schmerz und Trauer, ohne sie schönzufärben, kann Tiefe erlebt werden. Muster 8: Entweder-Oder, Schwarz oder Weiß Die 8 ist kämpferisch und zielstrebig. Es herrscht ein dualistisches Denken in Schwarz und Weiß bzw. Freund und Feind vor. Oftmals zeichnet eine direkte bis drastisch-deftige Sprache dieses Muster aus. Nähe wird durch Streit gesucht. Dagegen fallen ihm Kompromisse, Entschuldigungen und Eingestehen von Fehlern schwer. Ist er nicht selbst in einer Führungsposition, gibt es die Neigung zur Rebellion; als Führungsperson neigt 8 zur Dominanz bis hin zum Machtmissbrauch. Leidenschaft: Schamlosigkeit; Missachtung der vom Gegenüber gezogenen Grenzen. Abwehrmechanismus: Verleugnung. Jeder Anflug von Schwäche oder Zweifel wird ignoriert. Befreiung: Zugang zur eigenen Schwäche und Verwundbarkeit finden; Zugang zum unschuldigen inneren Kind, das sich nach Liebe sehnt; Behutsamkeit und Zärtlichkeit. Muster 9: Harmoniestreben Typ 9 vermeidet Konflikte durch Abtauchen oder Vermittlung zwischen streitenden Parteien. Ihn zeichnet eine hohes Einfühlungs- und Anpassungsvermögen aus. Er wirkt auf seine Umwelt bescheiden und in sich ruhend; bisweilen sogar emotional unbeteiligt. Innerlich ist 9 oft aufgewühlt (Vulkan). 9 weiß eher, was er nicht will, als was er will. Es fällt ihm oft schwer, den Fokus zu finden und entschieden zu handeln. Schwieriges wird aufgeschoben. Leidenschaft: Trägheit. Mangel an Initiative. Alles ist gleich gültig – alles ist gleichgültig! Bei unvermeidlichen Konflikten Strategie des Aussitzens oder Flucht. Abwehrmechanismus: Betäubung – Computer, Fernsehen, Alkohol, Drogen, aber v. a. Schlaf als Zufluchtsort, wenn das Leben zu anstrengend und zu fordernd wird. Befreiung: Aktive Parteinahme, eigener Fokus und Standpunkt, engagiertes Handeln.

Beichtspiegel und Anstiftung zum spirituellen Wachstum

3.

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Das Enneagramm als Mittel zur Persönlichkeitsund Spiritualitätsentwicklung

Für die christliche Spiritualität wurde das Enneagramm v. a. vom amerikanischen Franziskanermönch Richard Rohr und dem Verfasser dieses Artikels fruchtbar gemacht. Es wird in diesem Kontext verstanden als Mittel zur Selbsterkenntnis und zur spirituellen Weiterentwicklung, das seinen Platz vor allem in der Geistlichen Begleitung hat. Jeder Mensch kann sich in einem „Typus“ des Enneagramms wiederfinden. Zur Dynamik des Modells gehört die Annahme, dass dieses automatisierte Verhaltensmuster einer Person bereits die erste Stufe von Entfremdung darstellt. Der ursprüngliche Mensch „vor dem Fall“ trägt als Ebenbild Gottes (Gen 1) einen einmaligen Aspekt Gottes in sich. Mit dieser Interpretation beziehen sich viele christliche Enneagrammlehrer/innen auf Arbeiten der in der Esoterik verwurzelten Spiritualitätslehrer A.H. Almaas und Sandra Maitri, die diesen ursprünglichen Wesensaspekt das jeweilige „Seelenkind“ nennen.9 Es befindet sich in Einklang mit den neun „Heiligen Ideen“ (Archetypen) und den jeweiligen essenziellen Qualitäten Vollkommenheit (1), Wille und Freiheit (2), Gesetz, Hoffnung, Harmonie (3), Ursprung (4), Allwissen, Transparenz (5), Kraft, Glaube (6), Weisheit, Arbeit, Plan (7), Wahrheit (8), Liebe (9).10 Am Anfang der Beschäftigung mit dem Enneagramm – ob in einer Therapie oder als Mittel der Selbsterkenntnis – verhilft es dazu, eigene Verhaltensmuster und Masken zu enttarnen. Hinter dem angeeigneten Persönlichkeitsmuster kann das „wahre Selbst“ aufscheinen, das nicht auf eine verfremdende Maske angewiesen ist und sich als Ganzes als von Gott geliebt erkennt. Die Zahlen des Enneagramms sind untereinander mit Pfeilen verbunden. Die Bewegung gegen die Pfeilrichtung verweist auf den „Trostpunkt“, bzw. „Herzpunkt“ oder „Seelenkind“-Aspekt. Da Konflikte in Familie und Umwelt die freie Entfaltung des „Seelenkindes“ und der in ihm angelegten „Heiligen Ideen“ und essenziellen Qualitäten verhindert haben, kann das Kind auf Dauer nicht im Sein ruhen, sondern konstruiert unbewusst das entfremdete Lebensprogramm seines Musters. In einer gefallenen Welt kann die ursprüngliche Unschuld nicht überleben; es ist unmöglich, als Mensch nicht zu sündigen. Dadurch wird der Kontakt zum inneren Kind verschüttet. Der Versuch, Kontakt zu dieser ursprünglichen essenziellen Qualität aufzunehmen, ist mühsam, da ja der eigene Typus gerade dadurch entstanden ist, dass das Seelenkind unterdrückt und weggesperrt wurde und sich deshalb nicht entfalten konnte. Deswegen begegnet uns dieser Aspekt 9 Vor allem Maitri, Seele, 281ff; vgl. Rohr in der amerikanischen Ausgabe des Enneagrammbuchs von Rohr/Ebert, The Enneagram: A Christian Perspective, 45 ff: „Original Sin“. 10 Almaas, Einheit; Maitri, Seele.

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zunächst in seiner unreifen, nicht-entwickelten Form, also mit seinen Schattenthemen bzw. seiner „Leidenschaft“. Diese Leidenschaften entsprechen neun Sünden: Zorn (1), Stolz (2), Eitelkeit (3), Neid (4), Geiz (5), Angst (6), Völlerei (7), „Wolllust“ (8) und Trägheit (9). In bestimmten Krisensituationen oder unter Druck von innen und außen kann es zu einer Desintegration bzw. einer Art Kurzschluss kommen: Das angeeignete Muster „brennt durch“ und funktioniert nicht mehr. In solchen Situationen bricht aus sonst unbewussten und unter Kontrolle gehaltenen Schichten der Persönlichkeit die Leidenschaft des „Stresspunktes“ heraus. Er ist gleichsam die zweite Eskalationsstufe der Entfremdung. Den jeweiligen Stresspunkt findet man im Enneagrammsymbol, wenn man vom jeweiligen Muster aus dem Verlauf des Pfeiles folgt. Am Beispiel von Typ 1 dargestellt: Je unvollkommener dieser Typ sich fühlt, desto strenger und kritischer geht er mit sich um, er entfernt sich von seinen eigenen Perfektionsidealen, verliert die Möglichkeit, sich zu entspannen, und fühlt sich nur noch falsch wie Typ 4 – voll negativer, depressiver Gefühle und dem Eindruck, nicht verstanden zu werden (Mangelerleben, Sinnkrise). Der Stresspunkt manifestiert sich überfallartig, besetzt die Psyche und ist nicht sofort unter Kontrolle zu bringen. Er konfrontiert uns mit der eigenen Schattenthematik. Und dennoch enthält auch er essenzielle Qualitäten und „Heilige Ideen“, die der Integration und Ganzwerdung der Gesamtpersönlichkeit dienen. Diese Qualitäten treten dann zutage, wenn ein Mensch innehält, in liebender Aufmerksamkeit die Rolle des unparteiischen fairen Zeugen oder objektiven Beobachters der eigenen Seelendynamik einnimmt und sich diesen Qualitäten kontemplativ annähert, indem er beispielsweise die „Heilige Idee“ des eigenen Stresspunktes meditiert. Wieder am Beispiel von Typ 1 dargestellt: Die „Heilige Idee“ seines Stresspunkts 4 besteht im „Heiligen Ursprung“: Alles kommt aus dem Ursprung, der einen Quelle, Gott, und kehrt wieder dorthin zurück. Es gibt keine Trennung zwischen mir und dem Ursprung, und zwischen den Dingen und dem Ursprung. Alles ist die Entfaltung des Seins, und daher ist alles immer zutiefst mit dem Sein verbunden. Spirituelle Übungen zur Integration des Stresspunktes könnten in einem christlichen Kontext etwa die künstlerische Gestaltung der Energie dieses Punktes (durch ein Bild oder eine Struktur) oder die Suche nach einem Symbol für diesen „Dämon“ sein. Die Bilder und Symbole können, wie vom Autor dieses Beitrags mehrfach erprobt, im Rahmen einer Abendmahlsfeier zu den eucharistischen Gaben auf den Altar gelegt werden, den Ort der Transformation und Integration. Im Anschluss an die Feier ist es möglich neue Bilder zu gestalten, die in der Regel erstaunlich plastisch den inneren Wandlungsprozess dokumentieren. Weitere Aspekte des Enneagramms wie die „Flügeltypen“ ( jedes Muster enthält Aspekte seiner beiden Nachbarn) oder die jeweils drei Untertypen jedes

Beichtspiegel und Anstiftung zum spirituellen Wachstum

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Musters („selbsterhaltend“, „sexuell“ und „sozial“), sowie die nicht-typologische Anwendung des Enneagramms als Modell zur Strukturierung von Entscheidungs- und Veränderungsprozessen werden in der Literatur ausführlich entfaltet und würden den Rahmen dieses Beitrags sprengen.11

4.

Kritik am Enneagramm

Im Raum der Kirchen ist das Enneagramm nicht unumstritten. Auf der einen Seite stehen zahlreiche Befürworter, die das Enneagramm in der Geistlichen Begleitung und der Entwicklung der eigenen Spiritualität schätzen und verwenden, etwa römisch-katholische Orden und geistliche Gemeinschaften oder im evangelischen Bereich etwa die „Emerging Church“-Bewegung. Auf der anderen Seite wird von Kritikern v. a. auf Grund der obskuren und angeblich esoterischen Wurzeln vor dem Enneagramm gewarnt. Diese Sicht machte sich 2003 auch der Päpstliche Rat für die Kultur und der Päpstliche Rat für den interreligiösen Dialog zu eigen. In der Untersuchung „Jesus Christus, der Spender lebendigen Wassers. Überlegungen zu New Age aus christlicher Sicht“ wurde das Enneagramm 2003 als Beispiel einer „Rückkehr der alten gnostischen Ideen unter der Maske des so genannten New Age“ genannt, das, „wenn es als Mittel zum geistlichen Wachstum gebraucht wird, eine Vieldeutigkeit in Lehre und Leben des christlichen Glaubens zur Folge“ habe.12 Allerdings führt das Papier keinerlei Gründe für diese Ablehnung an, geschweige denn eine Konkretion des New-Age- bzw. Gnosisvorwurfs. Das oberflächliche Urteil hat entsprechend auch nicht dazu geführt, dass das Enneagramm im Raum der katholischen Kirche an Beliebtheit verlor. Aus evangelischer Perspektive befasste sich u. a. Michael Utsch von der Evangelischen Zentralstelle für Weltanschauungsfragen in Berlin mit dem Enneagramm.13 Insbesondere beruft sich Utsch auf die Kritik des Münchner Religionspsychologen Bernhard Grom am Enneagramm.14 Dieser hält Astrologie und Enneagramm für ähnlich geartete Modelle einer spirituellen Alltagspsychologie, die naiv, aber harmlos seien. Das Problem liege in den „wissenschaftlichen Mängeln“ des Enneagramms. So sei etwa die Begründung für die Aufteilung der neun Typen des Enneagramms in die drei Gruppen Bauch, Herz und Kopf „unsäglich schlicht und wenig plausibel“.15 Zudem könnten die neun Typen 11 Zu den „Flügeltypen z. B. Maitri, Seele, 314ff; zu den Untertypen Maitri, Seele, 300ff; zum Prozessmodell Ebert, Spiritualität, 208ff. 12 Päpstlicher Rat für die Kultur/Päpstlicher Rat für den Interreligiösen Dialog, Jesus Christus. 13 Utsch, Enneagramm. 14 Grom, Charaktertypen. 15 Utsch, Enneagramm.

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kaum trennscharf voneinander abgegrenzt werden, so dass es häufig zu Fehldiagnosen komme. Schließlich gebe es „keine Methode, um Fehler zu erkennen und zu gesicherten Ergebnissen zu kommen“.16 Trotz der Gefahr der terminologischen Vermischung von Psychologie und Spiritualität würdigt Utsch das Enneagramm als u. U. wertvolles diagnostisches Hilfsmittel zur Selbsterkenntnis: Das Enneagramm kann zwar zu Selbsterlösungsfantasien verführen und als Macht- und Kontrollinstrument missbraucht werden. Behält man diese Gefahren im Blick und gleicht sie durch gesunden Menschenverstand und biblisch-theologisches Wissen aus, kann es durchaus nützliche Selbsteinschätzungen und Einsichten befördern.17

5.

Das Enneagramm im Kontext evangelischer Theologie und Spiritualität

Das Enneagramm in seiner christlichen Deutung setzt bei der Gottesebenbildlichkeit des Menschen an, die nach dem Sündenfall nicht verloren gegangen ist, allerdings verschüttet und verzerrt wurde. Sie sehnt sich nach ihrer Wiederherstellung; mit der gesamten Schöpfung wartet sie darauf, dass „die Kinder Gottes offenbar“ werden (Röm 8,22). Damit vertritt das Enneagramm eine Anthropologie, die die Sünde nicht als ursprüngliches Wesensmerkmal des Menschen definiert. Das Enneagramm erzählt die Geschichte des Menschen, so Richard Rohr, nicht beginnend mit dem Sündenfall in Gen 3, sondern mit der Erschaffung des Menschen in Gen 1. Im Enneagramm kann der Mensch seine Erlösungsbedürftigkeit erkennen. Die Sünde – „das, was von Gott trennt“ – wird im Enneagramm konkret benannt. Insofern ist es eine Art Sünden- und Beichtspiegel. Die Muster des Enneagramms stehen für schädliche Filter, die alle Lebensbereiche trüben und den Menschen unfrei und unglücklich machen. Durch diese Erkenntnis kann der Impuls zur Umkehr und Neuorientierung („Buße“) kommen, in deren Licht sich der Mensch als von Gott gewollt und zur Freiheit von Sündenmustern berufen erkennt. Evangelische Theologie und Spiritualität haben Luthers Formel „simul iustus et peccator“ häufig statisch und dualistisch verstanden und prozesshafte Heiligungs- und Wachstumsprozesse skeptisch beurteilt. Dabei sprach Luther selbst von solcher Prozesshaftigkeit: „Das Leben ist nicht ein Frommsein, sondern ein Frommwerden, nicht ein Gesundsein, sondern ein Gesundwerden, nicht ein Sein, sondern ein Werden, nicht eine Ruhe, sondern eine Übung. Wir sind’s noch nicht, wir werden’s aber. Es ist noch nicht getan 16 Ebd. 17 Ebd.

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oder geschehen, es ist aber im Gang und im Schwang. Es ist nicht das Ende, es ist aber der Weg. Es glüht und glänzt noch nicht alles, es bessert sich aber alles“.18

Freilich gibt es für Luther keinen einfachen Aufstieg. Rückfälle und Anfechtungen („tentatio“) sind die Dauerbegleiter jeder christlichen Existenz. So ist auch das Enneagramm keine „Erlösungs-Methode“ – immer wieder wird der Mensch in schädliche Muster und Verhaltensweisen zurückfallen. Aber er kann aus der Selbsterkenntnis lernen und so den „alten Adam“ (Röm 5) immer neu abschütteln. Schon die Wüstenväter und -mütter wussten, dass jeder Mensch letztlich mit allen Leidenschaften konfrontiert ist und sich mit allen „Sünden“ auseinandersetzen muss. Und doch gibt es eine typenabhängige besondere Neigung zu bestimmten „Lastern“. Durch das Enneagramm werden auch die „Früchte des Geistes“ benannt, in denen sich Gottes Wesen und das „Sein in Christus“ differenzieren und manifestieren (vgl. Gal 5,22). Die Einladung, zu wachsen und zu reifen, ist stärker als die Überbetonung der Sündhaftigkeit und des Unvermögens des Menschen. Das Enneagramm kann deshalb als weisheitliche Orientierungshilfe zur Selbstwahrnehmung („Sündenerkenntnis“) und zur Selbstwerdung (Transformation) verstanden werden. Auch das paulinische Gemeindebild (1Kor 12) kann mit dem Enneagramm weiterführend interpretiert werden. Beide gehen davon aus, dass jeder und jede eine spezifische Begabung (Charisma) hat und zugleich begrenzt ist. Niemand ist alles und niemand ist nichts. Alle sind aufeinander angewiesen und können nur in einer geisterfüllten Interaktion Christus sichtbar machen. So kann das Modell Einzelnen und Gemeinschaften helfen, zu einer Balance zwischen gesundem Selbstbewusstsein und gesunder Selbstbescheidung und -begrenzung zu finden. Evagrius verstand das Leben als Weg: Wir kommen aus der Einheit (mit Gott), müssen alle durch das vielgestaltige Tal der Entfremdung wandern und sind dazu berufen und bestimmt, erneut eins zu werden mit der Quelle, was mehr ist als eine Rückkehr zum Ursprung, da der Weg der Wandlung alle Stadien der Entfremdung integriert und transformiert. Solange das Enneagramm diesem Weg des geistlichen Reifens dient und nicht als Herrschaftswissen (womöglich kommerziell) missbraucht wird, kann es sich als wirkungsvolles und hilfreiches Werkzeug auf dem Weg zu Gott erweisen, ohne zu beanspruchen, selbst „erlösend“ zu sein oder eine Therapie oder spirituelle Umkehr zu ersetzen.

18 WA 7, 336, 31–36 (Schreibweise modernisiert).

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Literatur Almaas, Ali Hameed, Facetten der Einheit: Das Enneagramm der Heiligen Ideen, München/Bielefeld 2004. Bennett, John G., Gurdjieff: Ursprung und Hintergrund seiner Lehre, Basel 1989. Ebert, Andreas, Are the Origins of the Enneagram Christian After All?, in: Enneagram Monthly, Januar 1996, 1. –, Die Spiritualität des Enneagramms, München 2008. –/ Küstenmacher, Marion, Erfahrungen mit dem Enneagramm: Sich selbst und Gott begegnen, München 1999. –/–, Die Perlen der Seele: Meditieren mit dem Enneagramm, München 2009. Evagrius Ponticus, Praktikos. Über das Gebet, Münsterschwarzach 1986. Gurdjieff, Georg I., Begegnungen mit bemerkenswerten Menschen, Berlin 2013. Grom, Bernhard, Wer bin ich? Reichweite und Grenzen von Charaktertypen in Psychologie und Esoterik, Köln 2000. Häring, André, Coaching mithilfe des Enneagramm: Ein Werkzeug zur Prozess- und Selbstreflexion, Hamburg 2014. Maitri, Sandra, Neun Porträts der Seele, Die spirituelle Dimension des Enneagramms, Bielefeld 2004. Ouspensky, Peter D., Auf der Suche nach dem Wunderbaren: Die Lehren des großen Meisters G.I. Gurdjieff, München 2010. Palmer, Helen, Das Enneagramm. Sich selbst und andere verstehen lernen, München 22000. Päpstlicher Rat für die Kultur/Päpstlicher Rat für den Interreligiösen Dialog, Jesus Christus, der Spender lebendigen Wassers. Überlegungen zu New Age aus christlicher Sicht, http://www.vatican.va/roman_curia/pontifical_councils/interelg/documents/rc_pc_in terelg_doc_20030203_new-age_en.html, abgerufen am 18. 09. 2018. Quirolo, Lynn, Pythagoras, Gurdjieff and the Enneagram. Part I, Enneagram Monthly, April 1996. –, 1; Pythagoras, Gurdjieff and the Enneagram. Part II, Mai 1996. Riso, Don Richard, Die neun Typen der Persönlichkeit und das Enneagramm, München 1989. Rohr, Richard/Ebert, Andreas, Das Enneagramm. Die 9 Gesichter der Seele, München 22009 (Bearbeitung der amerikanischen Ausgabe: dies., The Enneagram. A Christian Perspective, 2001. Shirley, John, Gurdjieff. Leben und Werk, Darmstadt 2006. Utsch, Michael, Das Enneagramm, in: Materialdienst 5/2013, https://www.ezw-berlin.de/ html/15_2481.php.

Gaston Nogrady

Der Exorzismus Ein vergessenes Seelsorgemittel der Kirche

1.

Hinführung

Hat der Exorzismus einen Platz im Raum evangelischer Spiritualität? Oder ist er nicht eher ein Unkraut, das über die Mauer von außen in diesen Garten hineinwuchern will? Sind es nicht sektiererische Randgruppen, die den Exorzismus oft medienwirksam praktizieren und damit dem Anliegen des Glaubens mehr schaden als nützen? Oder sind es bestenfalls originelle Ausnahmegestalten wie Johann Christoph Blumhardt, der durch seinen Exorzismus an der Gottliebin Dittus berühmt geworden ist?1 Die Beschäftigung mit dem Exorzismus kann gefährlich sein. Niemand sollte sich ihm aus Neugier oder Sensationslust zuwenden. So wie die Wirkung mancher Heilpflanze als Heilmittel oder als tödliches Gift von ihrem rechten Gebrauch und ihrer rechten Dosierung abhängt, so kann auch der Exorzismus heilsam oder zerstörerisch wirken. Aber so wie die Heilpflanze nicht wegen ihres Missbrauchs aus dem Garten verbannt wird, so sollte auch der Exorzismus seinen Platz im Garten evangelischer Spiritualität behalten, bzw. wiederbekommen. Mit Peter Zimmerling bin ich der Überzeugung, dass der Exorzismus zu den „alten Seelsorgemitteln der Kirche“2 gehört, die es lohnt, wieder zu entdecken. Es sind meine praktischen Erfahrungen als Seelsorger, die mich zu einer gründlichen Beschäftigung mit dem Thema geführt haben. Menschen kommen zu mir als Pfarrer und suchen Hilfe: Ein Jugendlicher träumt jede Nacht vom Teufel. Die Angst raubt ihm den Schlaf. Eine alte Frau hält sich für „verdammt“ und will nicht mehr leben. Besonders oft hörte ich diesen Wunsch nach Schutz vor bösen Mächten und Einflüssen in Taufgesprächen. Auf meine Frage nach dem Grund für das Taufbegehren antworten Eltern häufig: „Damit das Kind 1 Vgl. Blumhardt, Heilung, 147ff, sowie die Monografie darüber von Friedrich Zündel, Heilung. 2 Zimmerling, Mächte, 277. Zimmerlings Formulierung nehme ich in der Überschrift auf.

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unter Gottes Schutz steht.“3 Als junger Pfarrer hielt ich diese Aussage für theologisch inkorrekt. Sollte damit das Wesen der Taufe erfasst sein? Liegt hier nicht vielleicht sogar ein abergläubiges Missverständnis der Taufe vor? In meinem Theologiestudium hatte ich ganz andere Dinge gelernt.4 Bei meiner Suche nach einem theologisch verantwortlichen Umgang mit diesen Phänomenen war es mir wichtig, die Skylla einer Theologie, die den Teufel nicht mehr kennt, ebenso zu meiden, wie die Charybdis einer sektiererisch-schwärmerischen Dämonologie, die dem Teufel zuviel Ehre gibt, indem sie ihn überall am Werke sieht.5 So stieß ich auf Martin Luthers „Taufspiritualität“,6 die mir zu einer großen Hilfe in der Seelsorge geworden ist. Insbesondere Luthers Taufbüchlein von 1526 (mit Vorrede!) hat mir die Augen geöffnet für ein weitgehend verschüttetes kirchliches Erbe: Exorzismus und Abrenuntiation als „alte Seelsorgemittel der Kirche“.7 Zur Klärung der Begriffe: Ich verstehe unter „Exorzismus“ eine „Beschwörung mit dem Ziel der Teufelsaustreibung“.8 Beim Exorzismus wird der „unreine Geist“ direkt angesprochen („beschworen“). Die Exorzismen in der christlichen Tradition gehen – bis in ihren Wortlaut – auf die Exorzismen Jesu zurück: „Fahre aus, du unreiner Geist!“, so exorzisiert Jesus (Mk 5,8) und so sprechen in seinem Namen später die Apostel (Apg 16,18). Jesus selber gab seinen Jüngern die Vollmacht dazu – übrigens im engen Zusammenhang mit dem Auftrag zur Taufe (Mk 16,15–17). Vom Exorzismus zu unterscheiden ist das „exorzistische Gebet“,

3 Taufe Orientierungshilfe, 40, stellt im Auftrag des Rates der EKD fest: „Weil Menschen wissen, dass ihrer Fürsorge insbesondere für ein neues menschliches Leben Grenzen gesetzt sind und jedes Menschenleben nicht nur von Krankheit und Tod, sondern auch von Einsamkeit und Sucht, von Selbstüberschätzung und Selbstverachtung bedroht ist, verbinden sie mit der Taufe – und besonders mit der Taufe von Kindern – die Hoffnung auf göttlichen Segen, der Bedrohung abwendet und Schutz verleiht. […] Die Taufe macht den Glaubenden gewiss, dass Gott eine Grenze zieht und die Person von den bösen Kräften und Mächten unterscheidet, die in ihr und um sie am Werk sind.“ 4 Erst später habe ich entdeckt, dass Theologen wie z. B. Karl Barth, Eduard Thurneysen oder Edmund Schlink durchaus eine theologisch verantwortete Rede vom Teufel entworfen haben, auf die ich mich in dieser Arbeit beziehe. Ihre Ansätze waren mir in meiner Studienzeit (1984– 91 in Westdeutschland) aber nicht begegnet. Vielmehr bestimmte in jenen Jahren wieder Schleiermachers Urteil über den Teufel das theologische Denken: „Die Vorstellung vom Teufel, wie sie sich unter uns ausgebildet hat, ist so haltlos, daß man eine Überzeugung von ihrer Wahrheit niemandem zumuten kann“ (Schleiermacher, Glaube, 211). 5 Karl Barth beschreibt die beiden entgegengesetzten Gefahren unter der Überschrift „Gottes Botschafter und ihre Widersacher“ so: „Man ignoriere die Dämonen, dann betrügen sie uns damit, daß sie uns ihre Macht verheimlichen […]. Man verabsolutiere, respektiere und fürchte sie als wahre Mächte, dann haben sie uns eben damit betrogen, daß sie uns ihren Charakter als Lüge verheimlichen konnten“ (Barth, KD III/3, 618). 6 Der Begriff übernehme ich von Peter Zimmerling, in: ders., Charismatische Bewegungen, 375. 7 S. Anm. 2. 8 Nagel, Exorzismus, 751.

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das eine Bitte an Gott um Befreiung von dem unreinen Geist ist.9 Die „Abrenuntiation“ ist weder eine Beschwörung noch ein Gebet, sondern eine wirksame Verpflichtung des Menschen. Als Absage an den Widersacher Gottes ist sie gleichsam die Kehrseite des Vertrauens auf den dreieinigen Gott im Glaubensbekenntnis. Auch die Abrenuntiation lässt sich auf das Neue Testament zurückführen: Terminologisch nimmt sie eine Bedingung für den Eintritt in die Jüngerschaft Jesu auf. So fordert Jesus: „Wer sich nicht lossagt (= absagt) von allem, was er hat, der kann nicht mein Jünger sein.“ (Lk 14,33) Und aus der Zuwendung der Gnade Gottes in der Taufe folgert der Titusbrief, „dass wir absagen dem gottlosen Wesen“ (Tit 2,12). Meine These lautet: Der Exorzismus (und die Abrenuntiation) gehört zu evangelischer Spiritualität. Gerade an der Verortung des Exorzismus in der Taufe zeigt sich der besondere Beitrag evangelischer Spiritualität, deren Spezifikum ich in der Betonung von Gottes grundlegendem Gnadenhandeln – im Heilsgeschehen Jesu Christi bzw. individuell zugeeignet in der Taufe – sehe. So beginne ich meine Überlegungen mit dem Blick in Luthers Taufbüchlein und verfolge danach die Bedeutung von Exorzismus und Abrenuntiation in der ev.-luth. Kirche bis zur Gegenwart. Einige Beispiele für Formulierungen von Exorzismus und Abrenuntiation für die Praxis gegenwärtiger evangelischer Spiritualität schließen den Artikel ab.

2.

Luthers Taufbüchlein von 1526

Luthers Taufbüchlein von 1526 besitzt maßgebliche Bedeutung für lutherische Tauftheologie: Das Taufbüchlein mit Vorrede ist bereits der Katechismusausgabe B von 1529 als Anhang beigefügt worden10 und ist noch heute in der Ausgabe der Bekenntnisschriften der evangelisch-lutherischen Kirche zu finden.11 Auch wenn das Taufbüchlein nicht zu den Bekenntnisschriften im engeren Sinne gehört, sondern nur eine Art Anhang darstellt, erweist sich seine normative Bedeutung für die lutherische Tauftheologie doch darin, dass es die Taufordnungen des Luthertums bis zum heutigen Tag bestimmt.12 Weil Luther davon ausgeht, dass Gott das Sakrament der Taufe in der Geschichte der Kirche im Wesentlichen „unbefleckt und unvergiftet erhalten hat

9 Röm.–Kath. Theologen nennen ersteren „imprekatorischen Exorzismus“ und letzteren „deprekatorischen Exorzismus“, vgl. Richter, Exorzismus, 14. 10 Vgl. Peters, Kommentar, 157. 11 Nach dieser Ausgabe (BSLK) zitiere ich. 12 Vgl. Peters, Kommentar, 157.

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von Menschensatzungen“,13 steht sein Taufbüchlein in großer Kontinuität zur traditionellen Taufliturgie.14 1523 veröffentlicht er erstmalig ein Taufbüchlein, in dem er sich „fast ängstlich an die traditionelle Ritualistik“15 der „Agenda communis“ von 1512 hält, einer damals weit verbreiteten Taufagende, die v. a. von Augustinern gern verwendet wurde und ein typisches spätmittelalterliches Taufformular darstellt.16 Das Neue an Luthers Taufbüchlein besteht zunächst nur in dessen Übersetzung ins Deutsche. Diese Übersetzung ist aber nicht zuerst politisch, humanistisch oder pädagogisch motiviert, sondern führt bereits zu Luthers spezifischem Taufverständnis als einer „Kampfhandlung gegen den Satan“.17 Luther schreibt in der Vorrede von 1526, dass der Priester bei der Taufe „fein deutlich und langsam sprechen [soll], daß es die Paten hören und vernehmen künnden und die Paten auch einmütiglich im Herzen mit dem Priester beten, des Kindlins Not aufs allerernstlichst fur Gott tragen, sich mit ganzem Vermügen für das Kind wider den Teufel setzen und sich stellen, daß sie es ein Ernst lassen sein, das dem Teufel kein Schimpf ist“.18

Die Paten müssen die Taufhandlung verstehen, damit sie diese bewusst und ernst als ein Kampfgeschehen gegen den Teufel mitvollziehen können, ja, dadurch mitkämpfen können und sollen. Luther gibt damit den Paten und der Gemeinde eine große Verantwortung im Taufgeschehen. Die Vernachlässigung dieser Verantwortung – auch durch den Gebrauch der lateinischen Sprache – ist für Luther ein Grund für den schlechten Glaubenszustand vieler Getaufter. So beklagt er: „Und ich besorge, daß darum die Leute nach der Taufe so ubel auch geraten, daß man so kalt und lässig mit ihnen umbgangen und so gar ohn ernst für sie gebeten hat in der Taufe.“19 Luthers sehr konservative Rezeption der spätmittelalterlichen Taufordnung ist begründet in seiner positiven Einschätzung der traditionellen Tauftheologie, aber auch seelsorgerlich motiviert: Er will nicht, dass die „schwachen Gewissen“ 13 In De captivitate Babylonica praeludium schreibt Luther 1520: „Benedictus deus et pater domini Iesu Christi, qui secundum divitas misericordiae suae saltem hoc unicum sacramentum servanti in Ecclesia sua illibatum et incontaminatum a constitutionibus hominum“ (WA 6, 526). Die kursiv geschriebenen Wörter sind oben übersetzt. 14 Seit der ältesten uns vorliegenden Taufordnung, der Traditio Apostolica (auch „Hippolyts Kirchenordnung“ genannt) aus dem Jahr 215 n. Chr., gehören der Exorzismus und die Abrenuntiation selbstverständlich zu allen Taufordnungen der Ost- und der Westkirche bis ins 16. Jh. Lediglich einige kirchliche Sondergemeinschaften wie die Waldenser und die Hussiten lehnen sie aufgrund ihrer traditionskritischen Prägung ab. 15 Peters, Kommentar, 158. 16 Ebd.; vgl. auch Jordahn, Taufgottesdienst, 362. 17 Peters, Kommentar, 172, vgl. a. a. O., 176. 18 BSLK, 537,17–25; vgl. a. a. O., 535,7–22. 19 BSLK, 536,20–24.

Der Exorzismus

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an der Gültigkeit ihrer unter dem Papsttum empfangenen Taufe zweifeln.20 Luther sieht im traditionellen Taufordo zwar eine Reihe von „menschlichen Zusätzen“,21 die er aber 1523 aus seelsorgerlichem Grund noch beibehält. Luther wird deshalb aus dem eigenen reformatorischen Lager kritisiert. Die Rufe nach einer „Reinigung“ der Taufliturgie werden immer lauter.22 Es ist von großer Bedeutung, welche Stücke des traditionellen Taufordo Luther unter die „menschlichen Zusätze“ rechnet und bei seiner Neufassung 1526 tilgt, und welche er beibehält.23 In der Vorrede von 1526 nennt er als „äußerliche Stücke“: „unter die Augen blasen, Kreuze anstreichen, Salz in den Mund geben, Speichel und Kot in die Ohren und Nasen tun, mit Öle auf der Brust und Schuldern salben und mit Cresem [Chrisam] die Scheitel bestreichen, Westerhembd anziehen und brennend Kerzen in die Händ geben“.24 Alle diese Stücke sind Symbolhandlungen. Bis auf die Obsignatio crucis (Bezeichnung mit dem Kreuz) und das Westerhemd streicht Luther diese Symbolhandlungen 1526. Auf den ersten Blick könnte man meinen, dass er damit die Taufe von exorzistischen Handlungen reinigen wollte, da die Exsufflatio (Anblasen), die Datio salis (Darreichung des Salzes) und die vor der eigentlichen Taufe stattfindende Salbung exorzistisch gedeutet wurden.25 Schaut man genauer hin, ist das Gegenteil der Fall: Luther schreibt in der Vorrede von 1526, dass der Teufel diese Handlungen nicht „scheuet oder fleucht. Er verachtet wohl größer Ding, es muß ein Ernst hie sein“.26 Wieder betont Luther den „Ernst“,27 den Priester, Paten und Gemeinde bei der Taufe haben müssen. Sie sollen die Taufliturgie „ernstlich mitbete[n]“.28 Das „scheuet und fleucht“ der Teufel. Auffällig verlagert Luther den Charakter der Taufhandlung von der Symbolebene auf die Wortebene. Das betrifft gerade die exorzistischen Elemente: Er behält den sog. „kleinen Exorzismus“29 zu Beginn der Taufhandlung bei. So beginnt das Taufbüchlein ganz unvermittelt mit der Beschwörung des unreinen Geistes durch den Pfarrer: „Fahr aus, du unreiner Geist, und gib Raum dem heiligen Geist.“ Daran schließt sich die 20 21 22 23 24 25

26 27 28 29

Aus der Vorrede zum Taufbüchlein von 1523, BSLK, 538, Anm. 7. Ebd. Vgl. Jordahn, Taufgottesdienst, 358f. Bei meinem Vergleich der beiden Taufbüchlein Luthers beziehe ich mich auf ihre Gegenüberstellung bei Jordahn, Taufgottesdienst, 356–360 und Jilek, Taufe, 296f. BSLK, 536,25–537,1. Kretschmar belegt die exorzistische Deutung dieser Elemente; Kretschmar, Geschichte, 72f.95. Kirsten vertritt aufgrund dieser Streichungen die These, Luther habe die traditionelle Taufordnung „aus exorzistischer Verzerrung ihres Sinnes und ihrer Gestalt erlöst“ (ders., Taufabsage, 8). BSLK, 537,6–8. Insgesamt achtmal spricht Luther in der Vorrede von diesem „Ernst“. BSLK, 537,11. Die Terminologie „kleiner“ und „großer Exorzismus“ habe ich von Rietschel übernommen (Rietschel, Liturgik, 576 u. ö.).

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Obsignatio crucis, die Bezeichnung mit dem Kreuz, an: „Nimm das Zeichen des heiligen Kreuzes beide an der Stirn und an der Brust!“30 Nach dem Sintflutgebet folgt der sog. „große Exorzismus“. Der Pfarrer spricht: „Ich beschwöre dich, du unreiner Geist, bei dem Namen des Vaters + und des Sohns + und des heiligen Geistes +, daß du ausfahrest und weichest von diesem Diener Jesu Christi, N., Amen.“31 Obwohl Luther im Vergleich zum Taufbüchlein von 1523 neben den o.g. exorzistischen Symbolhandlungen den „großen Exorzismus“ auch textlich kürzt, indem er die zwei vorausgehenden Beschwörungen („Darum, du leidiger Teufel…“ und „So höre nun, du leidiger Teufel …“) streicht32 und nur die o.g. dritte Beschwörung beibehält und auch die exorzistischen Gebete nach dem kleinen und dem großen Exorzismus weglässt, hat der exorzistische Charakter dieses Eingangsteils der Taufe dennoch nichts von seiner Massivität verloren. Im Gegenteil: Luther konzentriert den Exorzismus auf das seines Erachtens Wesentliche. Diese liturgische Konzentration gebraucht Luther in seinen liturgischen Reformen immer dort, wo ihm etwas besonders wichtig ist.33 Mit Albrecht Peters bin ich der Auffassung, dass dadurch „die zentrale Kampfhandlung gegen den Satan nur noch härter heraus[tritt].“34 So kann man die Exorzismen in Luthers Taufbüchlein auch nicht als Reste einer mittelalterlichen Teufelsangst abtun. Im Gegenteil! Was Paul Althaus über Luthers Lehre vom Teufel im Allgemeinen sagt, gilt auch für Luthers Tauftheologie: „Er hat den Teufel viel ernster genommen als das Mittelalter […]. Er führt nicht einfach ein Stück theologischer und auch volkstümlicher Überlieferung weiter, sondern bezeugt die Wirklichkeit und Furchtbarkeit der Macht des Teufels aus eigener Erfahrung mit persönlichster Überzeugung in größtem Ernst.“35 Hier liegt ein wichtiger Grund für die seelsorgerliche Dimension von Luthers Tauftheologie. Sie lässt sich in dem kurzem Satz aus dem Kleinen Katechismus über den Nutzen der Taufe zusammenfassen: „Sie wirket Vergebung der Sünden, erlöset vom Tod und Teufel und gibt die ewige Seligkeit allen, die es 30 31 32 33

BSLK, 538,18–23. A. a. O., 539,30–34. Vgl. Jordahn, Taufgottesdienst, 365f.360; Jilek, Taufe, 297. So konzentriert Luther z. B. die Abendmahlsliturgie auf die Einsetzungsworte und beseitigt deshalb Epiklese und Anamnese. Gerade auf diesem Hintergrund und unter Berücksichtigung des o.g. Zitates aus De captivitate wird deutlich, wie wichtig der Taufexorzismus und die Abrenuntiation für Luther sind! 34 Peters, Kommentar, 172f. Auch Rietschel kommt zu dem Ergebnis: „Luther hatte ja den Exorzismus auch in der zweiten Ausgabe des Taufbüchleins gekürzt. Bei dieser Kürzung bestimmten ihn keine prinzipiellen Bedenken gegen den Exorzismus selbst, denn gerade die beiden Exorzismen, die er behielt, der sog. kleine beim Beginn der Taufe und der sog. große tragen den bestimmten Charakter des Exorzismus, d. h. der Austreibung des Satans aus dem Täufling. Daß Luther dem Exorzismus bei der Taufe eine besondersartige Bedeutung, ja eine Wirksamkeit zuschrieb, kann nicht bezweifelt werden“ (Rietschel, Liturgik, 576). 35 Althaus, Theologie, 145.

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gläuben, wie die Wort und Verheißung Gottes lauten.“36 In diesem Satz wird der soteriologische Ansatz von Luthers Tauftheologie deutlich. Ich sehe darin den Grund für ihre besondere Eignung im Rahmen der Seelsorge. In dieses theologische Denken gehört auch die Abrenuntiation in Luthers Taufbüchlein: Während die Exorzismen im ersten Teil der Taufhandlung (vor der Kirche/im Vorraum) stattfanden und gleichsam vorbereitenden Charakter haben,37 findet die Abrenuntiation am Taufbecken statt.38 Die Abrenuntiation übernimmt Luther weitgehend aus der Tradition. Auch die deutsche Sprache war bei diesen Fragen an die Paten bereits in vorreformatorischer Zeit üblich.39 Wie seine Vorlage, die Agenda communis von 1512, lässt Luther auf die Abrenuntiation unmittelbar die Glaubensfragen folgen,40 sodass Absage und Zusage auch äußerlich eine Einheit bilden und nicht durch ein anderes liturgisches Element getrennt werden.41 So hat die Abrenuntiation in Luthers Taufbüchlein folgende Gestalt: „Darnach laß der Priester das Kind durch seine Paten dem Teufel absagen und spreche: ‚N., entsagest Du dem Teufel?‘ Antwort: ‚Ja.‘ ‚Und all seinen Werken?‘ Antwort: ‚Ja.‘ ‚Und all seinem Wesen?‘ Antwort: ‚Ja.‘“42 36 BSLK, 515,38–516,2. 37 Rietschel, Liturgik, 593: „Der Exorzismus schafft nach Luthers Auffassung zunächst Raum, damit die positive Wirkung, die den Glauben in den Kindern weckt, ohne Hindernis stattfinden kann.“ 38 Jordahn weist den traditionellen Ortswechsel während der Taufhandlung auch für das Taufbüchlein 1526 nach, obwohl dort in der Rubrik nur vermerkt ist: „Darnach leite man das Kindlin zu der Taufe“, Jordahn, Taufgottesdienst, 392f. 39 „Die Fragen werden lateinisch und deutsch gestellt und deutsch beantwortet, so Bamberg 1491, Mainz 1513, Schleswig 1512“ (Jordahn, Taufgottesdienst, 393). 40 Vgl. a. a. O. 41 Die Bedeutung dieser Einheit betont Hans Kirsten. In seiner Monografie „Die Taufabsage“ zeigt er auf, wie im Mittelalter zwischen die Absage und die Zusage im Credo liturgische Elemente wie die Taufwasserweihe oder eine Salbung getreten sind, die die Einheit der beiden Elemente zerstörten. Wenn er allerdings schreibt, „daß Luthers Reformation der Taufe in Gestalt der beiden Taufbüchlein von 1523 und 1526, in denen er mit sicherem Griff den Taufkern mit Absage, Zusage und anschließender Taufe wieder zum eigentlichen Mittelpunkt der Handlung gemacht hat“ (Kirsten, Taufabsage, 138), dann übersieht er, dass Luther diese Anordnung bereits aus seiner Vorlage übernimmt (vgl. Jordahn, Taufgottesdienst, 393). 42 BSLK, 540,19–26. Daran schließen sich die Glaubensfragen folgendermaßen an: „Darnach frage er: ‚Gläubest Du an Gott, den allmächtigen Vater, Schepfer Himmels und Erden?‘ Anwort: ‚Ja.‘ ‚Gläubest Du an Jesum Christ …‘“ (a. a. O., 27–40).

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Die Abrenuntiation entspricht der folgenden Glaubenszusage: Dreimalige Frage des Priesters an den Täufling mit jeweils dreimaliger Antwort durch die Paten. Absage und Zusage bilden die zwei Seiten einer Medaille. Jordahn beschreibt das so: „In der Abrenuntiation wird der Besitzer des Hauses gewechselt. Das verlassene Haus wird mit dem Glauben geschmückt. Der Mensch wechselt den Besitzer.“43 Obwohl Luther sich mit diesen Formulierungen in der Tradition befindet, haben sie für ihn eine existenzielle Bedeutung: Hier spitzt sich das o.g. „Kampfgeschehen“ noch einmal zu. Durch die stellvertretende Antwort der Paten wird ihr ernstes Mitkämpfen bei diesem Kampf um das Kind hörbar. Sie setzen „sich mit ganzem Vermügen für das Kind wider den Teufel“44 ein. Exorzismus und Abrenuntiation bei der Taufe unterstreichen Luthers Auffassung, dass ein Ungetaufter unter der Herrschaft des Teufels steht, im Besitz des Teufels ist, also vom Teufel besessen ist!45 Die ganze Taufhandlung ist ein wirklicher Herrschaftswechsel. Dem entsprechen Luthers Aussagen in „De servo arbitrio“: Der Mensch ist ein Reittier und wird entweder vom Teufel oder von Gott geritten.46 Von den Gedanken dieser Schrift bekommt auch die Reihenfolge Exorzismus – Abrenuntiation ihre theologische Begründung: Der Mensch unter dem Teufel ist nicht frei, um sich für Gott zu entscheiden. Seiner Entscheidung muss ein gnadenhaftes Handeln Gottes vorausgehen. Das geschieht im Exorzismus, den der Täufling passiv an sich vollziehen lässt. Doch dann wird der Mensch durchaus in Gottes Handeln einbezogen: „non operatur (sc. Deus) in nobis sine nobis“ (Gott wirkt nicht in uns ohne uns):47 Die Abrenuntiation ist die aktive Antwort des Menschen auf Gottes Befreiungstat. Exorzismus und Abrenuntiation werden von Luther bewusst aufeinander bezogen als passive und aktive Momente in dem großen Befreiungsgeschehen der Taufe. Sie dürfen deshalb auch nicht gegeneinander ausgespielt werden.48

43 Jordahn, Taufgottesdienst, 399. 44 BSLK, 537,22f. 45 So schreibt Luther in der Vorrede zum Taufbüchlein von 1526: „Denn Du hie hörest in den Worten dieser Gebet, wie kläglich und ernstlich die christlich Kirche das Kindlin herträgt und so mit beständigen, ungezweifelten Worten bekennet, es sei von Teufel besessen und ein Kind der Sunden und Ungnaden, und so fleißlich bittet umb Hülf und Gnade durch die Tauf, daß es ein Kind Gottes werden müge“ (a. a. O., 535,30–536,7). Luther macht hier keinen Unterschied zwischen Kindern und Erwachsenen, auch keinen zwischen Kindern von Christen und von Nichtchristen (vgl. Peters, Kommentar, 177). 46 Vgl. WA 6, 709. 47 A. a. O., 754f. 48 Das tun m. E. Kirsten und Echternach: Während Kirsten mehr die aktive Seite betont und entsprechend nur die Abrenuntiation für ‚lutherisch‘ hält und den Exorzismus ablehnt (Kirsten, Taufabsage, 138), fällt Echternach ins andere Extrem, wenn er die passive Seite betont und entsprechend die Abrenuntiation ablehnt (Echternach, Segnende Kirche, 99), und

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Exorzismus und Abrenuntiation werden in der Zeit nach Luther unter die taufbegleitenden „Zeremonien“,49 bzw. die „Adiaphora“50 gerechnet. In diesen sog. ‚Mitteldingen‘ herrscht nach evangelischer Auffassung Freiheit.51 Trotzdem soll „man diejenigen halten, so ohn Sund mugen gehalten werden“.52 So behalten die meisten lutherischen Kirchenordnungen den Exorzismus bei, als eine „Auslegung des Taufgeschehens“: Durch den Exorzismus werde „die Lehre von der Erbsünde und hoch schädlichem Zustande der ungetaufften Kinder […] reichlich und heilsamlichen erkläret“.53 Doch schon bald streichen v. a. oberdeutsche lutherische Kirchenordnungen den Exorzismus.54 Wahrscheinlich spielen dabei Einflüsse Zwinglis und Calvins eine Rolle, die Exorzismus und Abrenuntiation grundsätzlich verwerfen.

3.

Das weitere Schicksal von Taufexorzismus und Abrenuntiation bis zur Gegenwart

Rietschel stellt fest: „Der Rationalismus räumte mit dem Exorzismus auf […]. Alle Agenden des 19. Jh. haben den Exorzismus nicht mehr.“55 Der Rationalismus lehnte den Exorzismus als „Aberglauben“ grundsätzlich ab und der Pietismus will ihn entweder in ein Gebet umwandeln oder schafft ihn ebenfalls ab.56 Albrecht Peters erkennt in dieser Entwicklung eine grundlegende Wandlung in der Sicht des Menschen: „G.F. Seiler spricht deutlich aus, daß hinter diesem Angriff (auf den Exorzismus57) ein anderes Verständnis unserer menschlichen Existenz vor Gott steht: ‚Die meisten Mit-

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nur den (kl.) Exorzismus in die Taufhandlung aufnehmen möchte (vgl. a. a. O., 101, ebenfalls mit Berufung auf Luther). Johann Gerhard, vgl. Jordahn, Taufgottesdienst, 518. Martin Chemnitz, vgl. Rietschel, Liturgik, 577. Von den „Adiaphora“ handelt der X. Artikel der von Chemnitz maßgeblich mitverfassten Konkordienformel. Er wird dort synonym mit „Kirchengebräuchen“, „Mitteldingen“ und „Ceremoniis Ecclesiasticis“ verwendet und bezeichnet kirchliche Traditionen, die nicht unmittelbar im NT geboten sind (BSLK, 813ff.1053ff). Jede Ortsgemeinde hat die Freiheit, mit diesen Adiaphora so umzugehen, wie es „guter Ordnung, christlicher Disziplin und Zucht, evangelischem Wohlstand und zu Erbauung am nützlichsten, förderlichsten und besten angesehen wird“ (BSLK, 1056,32–36). Vgl. CA XXVI, in: a. a. O., 106,24–107,4. CA XV, in: a. a. O., 69,7f. So z. B. die Lauenburger Kirchenordnung von 1585, vgl. Jordahn, Taufgottesdienst, 455. Vgl. a. a. O., 463. Rietschel, Liturgik, 581. Vgl. Peters, Kommentar, 173. Der „Angriff“ auf den Exorzismus richtet sich auch gegen die Abrenuntiation. Sie steht nicht im Zentrum der Auseinandersetzung, weil sie im Sinne der Aufklärung als moralische Verpflichtung interpretiert werden kann (vgl. Höfling, Taufe, 237: „… der Sünde und aller

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glieder der evangelischen Kirche wissen es ja, daß die neugeborenen Kinder der Christen unschuldige Geschöpfe des allerheiligsten Gottes sind […], die aber durchaus nicht unter einem gefährlichen Einfluß des bösen Geistes stehen. Freilich hatte man zu Luthers Zeiten eine andere Ansicht von der Taufe. Sie ist (so dachte der große Mann) das Mittel, den Teufel vom Kinde wegzutreiben.‘“58

Aus dieser Äußerung Seilers wird deutlich, wie weit die evangelische Theologie von der Erbsündenlehre der Kirche, wie sie noch in CA, Art. 2 festgehalten wird, abgerückt ist. Heißt es hier: „daß auch dieselbige angeborne Seuch und Erbsunde wahrhaftiglich Sund sei und verdamme alle die unter ewigen Gotteszorn, so nicht durch die Tauf und heiligen Geist wiederum neu geborn werden.“59 Seiler spricht dagegen von Christenkindern als „unschuldigen Geschöpfen“. Damit wird der ganze Ernst, der für Luthers Taufverständnis bestimmend war (und in einer Linie mit dem NT und der Alten Kirche steht) unverständlich. Die Taufe wird zu einer harmlosen Familienfeier. Daran hat sich bis in die Gegenwart nicht viel geändert. Oswald Bayer betont deshalb die bleibende Bedeutung und Herausforderung von Luthers Taufverständnis: „Zum Ernst der Taufe gehört nicht zuletzt die Absage an den Teufel […], die in dem genannten Taufbüchlein einen breiten Raum einnimmt.60 Heute ist sie auf die Formel Wir ‚sagen ab allem teuflischen Werk und Wesen‘61 verkürzt. Doch wird auch diese von vielen Pfarrern weggelassen, weil es anstößig erscheint, bei einem schönen Familienfest vom Teufel zu reden. Dem Bösen abzusagen ist jedoch unerläßlich, um deutlich zu machen, daß kein Mensch in einem neutralen Raum lebt. Ich bin immer umkämpft: Entweder gehöre ich dem dreieinen Gott oder anderen Herren und Mächten. Taufe ist kein harmloser Ritus, sondern ein Kampf gegen das Böse.“62

Es ist eine wichtige Beobachtung, dass das Verständnis für Exorzismus und Abrenuntiation auch abhängig ist von persönlichen bzw. zeitgeschichtlichen Erfahrungen: Immer wenn das (der) Böse als sehr mächtig erlebt wurde, wie z. B. in den Verfolgungen der Alten Kirche, in Luthers Glaubenskämpfen63 und

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Unheiligkeit entsagen“). Aber trotzdem verschwindet auch die Abrenuntiation im 19. Jh. aus den Taufagenden, bzw. sie ‚überwintert‘ in Fußnoten zu zweiten oder dritten Varianten, wie in der sächsischen Agende von 1906, wo es auf S. 12 in einer Fußnote heißt: „Hier ist die Abrenuntiation, wenn ihr Gebrauch in der Gemeinde üblich ist und von beteiligter Seite nicht ausdrücklich abgelehnt wird, in folgender Fassung einzufügen: ‚Entsagst du dem Teufel und allem seinem Werk und Wesen?‘ Antwort der Paten: ‚Ja‘“. Peters, Kommentar, 174. BSLK, 53,9–13. Bayer bezieht sich in einer Anmerkung auf die Abrenuntiation und auf den Exorzismus (Bayer, Theologie, 243, Anm. 59)! Bayer zitiert hier aus dem Kirchenbuch für die Evangelische Landeskirche in Württemberg (a. a. O., 244, Anm. 60). Bayer, Theologie, 243f. Vgl. sein Lied „Ein feste Burg“, EG 362.

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schließlich wieder in den Begegnungen mit den antichristlichen Ideologien des Nationalsozialismus und des Kommunismus, dann wurden diese liturgischen Elemente wiederentdeckt.64 Auf evangelischer Seite knüpfte man dabei bewusst an Luther an. So formuliert Peter Brunner offensiv: „Vom Standort der Theologie Luthers aus hat sich nicht der zu verteidigen, der sich für die Beibehaltung des Exorzismus ausspricht, sondern der, der seine Abschaffung vertritt.“65 Umgekehrt schwindet das Verständnis für Exorzismus und Abrenuntiation in geschichtlich und persönlich ‚harmloseren‘ Zeiten, in denen man sich über den Ernst des Bösen leichter täuschen lässt. Es ist deshalb mein Anliegen, der Wiederentdeckung dieser beiden Elemente das Wort zu reden. Und das nicht aus theologischen Vorlieben, sondern wie bereits in der Hinführung angedeutet, aus seelsorgerlicher Verantwortung. Ich knüpfe dabei an Martin Luther und an Theologen der Bekennenden Kirche wie Peter Brunner an. Die Erfahrung der Manifestation des Bösen im Nationalsozialismus und im Krieg führte dazu, dass die Taufagenden der Nachkriegszeit exorzistischen Elementen sowie der Abrenuntiation breiten Raum einräumten.66 Auch wenn die Tendenz zur ,Harmlosigkeit‘ seitdem wieder beide Elemente zurückdrängt, sind Spuren von ihnen in der Taufagende der VELKD von 198867 erkennbar: Nach der Obsignatio crucis, die als Herrschaftswechsel gedeutet werden kann („Du gehörst Christus, dem Gekreuzigten“68), folgt ein exorzistisches Gebet: „[…] Und weil du dieses Kind dir zum Eigentum erwählt hast, so befreie es von der Macht des Bösen.“69 Eine Abrenuntiation ist bei der Taufe eines Erwachsenen unter Form C in drei Varianten ausgeführt70 und für die Kindertaufe immerhin noch unter „Texte zur Auswahl“/„Entfaltung des Glaubensbekenntnisses“ möglich: „Liebe Eltern und Paten! […]. Wollt ihr, daß dieses Kind 64 So ist es gewiss kein Zufall, dass die erste evangelische Taufordnung, die nach über 100 Jahren wieder einen Taufexorzismus vorsieht, aus dem Jahre 1944 stammt und von Theologen der Bekennenden Kirche verfasst wurde (Joachim Beckmann, Peter Brunner, Walter Reindell); vgl. Jordahn, Taufgottesdienst, 624ff. 65 Zitiert nach a. a. O., 626. 66 Vgl. die Taufagende 1952 (Teil der Agende III, Die Amtshandlungen). 67 Ich halte es für bemerkenswert, dass die aktuellen Taufagenden der VELKD und der röm.kath. Kirche sich in der Frage von Taufexorzismus und Abrenuntiation weitgehend angenähert haben – aber aus unterschiedlicher Richtung: Während die VELKD-Agende beide Elemente seit 1945 zaghaft wiederentdeckt, mildert „Die Feier der Kindertaufe“ den bis zum II. Vaticanum bestehenden imprekatorischen Exorzismus in einen deprekatorischen; Kindertaufe, 12: „Die abschließende Oration hat den Charakter eines Exorzismus.“, vgl. a. a. O., 34, und entspricht damit der VELKD-Agende. 68 Agende, Taufe, 23. 69 A. a. O., 24. 70 A. a. O., 121. Unter den drei Varianten finden sich klassische („Sagst du ab dem Bösen/Satan und all seinem Werk und Wesen?“) wie auch neu gestaltete („Willst du von der Gewalt des Bösen befreit werden? Willst du dich durch die Taufe unter die Herrschaft Jesu Christi stellen?“ oder „Sagst du ab der Macht des Bösen, um Christus, deinem Herrn zu gehören?“).

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durch die Taufe der Gewalt des Bösen entrissen wird, so antwortet: Ja.“71 Die Ev.Luth. Landeskirche Sachsens legt allerdings einen stärkeren Akzent auf diese beiden Elemente, indem sie bei der Einführung der Taufagende von 1988 ganz bewusst mit einer „Ausführungsverordnung“ an Formulierungen aus der Vorgängeragende festhält.72

4.

Die seelsorgerliche Bedeutung von Taufexorzismus und Abrenuntiation

„Baptizatus sum!“ Mit diesem Ausspruch hat sich Luther in Anfechtungen getröstet. Es wird überliefert, dass er ihn vor sich auf seinen Schreibtisch schrieb, um so ständig an seine Taufe erinnert zu werden.73 Luther gründet darauf auch seine Seelsorge, wenn er einen angefochtenen Freund tröstet: „Semel ad tentatum dixit: An non es baptizatus? O, quam magnum donum est baptismus et verbum Dei!“ (Einmal sagte ich zu einem Angefochtenen: Bist du etwa nicht getauft? O, welch große Gabe ist die Taufe und das Wort Gottes!).74 So sagt er in der Vorrede zum Taufbüchlein: „Ist doch die Taufe unser einiger Trost und Eingang zu allen göttlichen Gütern und aller Heiligen Gemeinschaft.“75 Für Luther ist Taufgedächtnis Trost in Anfechtung und Zweifel. Die Erinnerung an den dort erfolgten Herrschaftswechsel wehrt alle Ängste und Zweifel ab, die unsere Verbindung zu Gott infrage stellen wollen. Die Gewissheit des in der Taufe geschehenen Herrschaftswechsels entlarvt solche Ängste und Zweifel als lügenhafte Angriffe des Teufels, als Anfechtungen. Das Taufgedächtnis erweist sich als wirksame Waffe zu ihrer Abwehr. Das ‚extra nos‘ der Taufe tröstet den Angefochtenen auch dann noch, wenn seine eigene Glaubenskraft am Ende ist. Darin zeigt sich die seelsorgerliche Bedeutung evangelischer Soteriologie! 71 A. a. O., 99. 72 Ausführungsverordnung, §3: „Anstatt der Anrede an Eltern und Paten zur Hinführung auf das Glaubensbekenntnis kann folgender Wortlaut verwendet werden: „Pfarrer: Liebe Eltern und Paten! Begehrt ihr, daß dieses Kind getauft und durch das heilige Sakrament der Gewalt des Bösen entrissen und unter die Herrschaft Christi gestellt wird, so antwortet: Ja. – Eltern und Paten: Ja. – Pfarrer: So bekennt für dieses unmündige Kind den Glauben, sagt damit ab dem Satan und all seinem Werk und Wesen und tut Zusage Gott, dem Vater, dem Sohne und dem Heiligen Geiste.“ Auf schriftliche Nachfrage im Landeskirchenamt teilte mir OLKR Dr. Münchow am 13. Juni 2008 mit, dass diese Form aus der vorhergehenden Taufagende der VELKD stamme, die 1956 in Sachsen eingeführt worden war. Er verwies mich außerdem auf das Kirchengesetz zur Einführung dieser Agende vom 18. April 1956 (ABl. 1956, A 23f) und dort insbesondere auf §2 Ziff. 3: „Mit der Ordnung ist anerkannt, daß die Absage an den Teufel nicht nur geschichtliche Bedeutung hat.“ 73 Vgl. Taufe Orientierungshilfe, 27. 74 WA TR 1, 444. 75 BSLK, 537,46–538,3.

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Die Erinnerung an die Taufe gehört für mich deshalb wesentlich zur Seelsorge dazu. Oft erlebe ich, dass Christen ihren Glauben auf persönliche Erlebnisse oder Erfahrungen gründen. Wenn diese Erfahrungen aber plötzlich fragwürdig werden oder die damit verbundenen Gefühle nachlassen, kann das ‚sola gratia‘ in der konkreten Erinnerung an die Taufe zu einer großen Befreiung werden: eine Befreiung von selbst auferlegten Lasten, aber auch von der Angst um den eigenen Glauben und damit nicht selten verbunden einer Angst vor dem Teufel, der als eine Macht erfahren wird, die den Glauben bedroht. Tauferinnerung dient in diesem Falle der Korrektur einer Glaubensvorstellung, die sich in der Krise als nicht tragfähig erweist. In der Seelsorge wird der Angefochtene behutsam auf den festen Grund der Taufe zurückgeführt. Das Taufgedächtnis hat zugleich eine wichtige Funktion beim Umgang mit Schuld und Vergebung. Schuld belastet das Gewissen, das Verhältnis zu Gott und zum Nächsten. Ohne die Verantwortung des Schuldiggewordenen für sein Handeln zu leugnen, empfindet er doch, wie er durch die Schuld in den Wirkungsbereich einer zerstörerischen Macht geraten ist. Dieser als böse empfundene Machtanspruch wird in Beichte und Vergebung gebrochen. In diesem Sinn ist die Beichte Rückkehr zur Taufe, Tauferinnerung.76 An diesen beiden Situationen der Seelsorge, in denen jeweils die Erinnerung an die Taufe als Glaubenshilfe verstanden wird, wird die schon im NT und später bei Luther festgestellte Spannung wieder deutlich: Zum einen befreit die Taufe aus der Herrschaft des Teufels. Taufgedächtnis bedeutet dann wie im ersten Fall: „Du bist durch die Taufe frei geworden. Fürchte dich nun nicht mehr vor den lügenhaften Anfechtungen des Teufels, der dir diese Befreiung zweifelhaft machen möchte. Halte ihm entgegen: Ich bin getauft!“ Zum anderen stellt uns die Taufe in einen lebenslangen Kampf mit dem Teufel. Taufgedächtnis bedeutet dann wie im zweiten Fall: „Kehre immer wieder zurück zu deiner Taufe. Ersäufe den alten Adam/Eva in dir ‚durch tägliche Reu und Buße‘.“77 Bis jetzt habe ich von der Taufe im Allgemeinen als wichtigem Thema der Seelsorge gesprochen. Damit möchte ich betonen, dass die Taufe – auch wenn sie ohne Exorzismus und Abrenuntiation vollzogen worden ist – als Herrschaftswechsel grundlegende Bedeutung für die Seelsorge hat. Nun aber möchte ich begründen, warum ich gerade die beiden Elemente der Taufliturgie, den Exorzismus und die Abrenuntiation, für die Seelsorge für hilfreich halte: Eduard Thurneysen beendet seine „Lehre von der Seelsorge“ mit §15 „Seelsorge als Exorzismus“.78 Dabei versteht er Seelsorge wesentlich als Zuspruch der 76 Vgl. Agende, Beichte, 91. Als Hinführung zur Absolution wird dort gesagt: „Was Gott dir in deiner Taufe gegeben hat, Vergebung der Sünden und Befreiung von der Macht des Bösen, das wird dir heute neu geschenkt.“ 77 BSLK, 516, 32f. 78 Thurneysen, Seelsorge, 280–297.

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Vergebung. Sie ist für ihn ein „Machtgeschehen“: „eine alte Herrschaft wird gestürzt und eine neue wird errichtet. Und darum ist die Ausrichtung der Vergebung letztlich zu verstehen als Exorzismus. Es werden Dämonen ausgetrieben, wenn Gottes Wort in Kraft verkündigt wird.“79 Das geschieht wiederum in der dargestellten Spannung: als Erinnerung an den in der Taufe geschehenen Sturz der „alten Herrschaft“ und in dem erneuten „Ja-sagen“80 zu dem, was in der Taufe geschah und sich in der Vergebung aktualisiert. Peter Zimmerling nimmt Thurneysens Ansatz auf und sucht nach einem „seelsorgerlichen Weg“,81 um Menschen zu helfen, die unter dämonischen Belastungen leiden. Als einen Schritt auf diesem Weg schlägt er vor, „sich neu mit den alten Seelsorgemitteln der Kirche im Hinblick auf böse Mächte zu beschäftigen. Exorzismus und Abrenuntiation (Absage an den Teufel) wurden in den evangelischen Landeskirchen erst in der Zeit von Pietismus und Rationalismus endgültig abgeschafft. Beide Seelsorgemittel waren für Luther selbstverständliche Bestandteile kirchlichen Handelns“.82 In diesem Sinne sehe auch ich im Taufexorzismus und in der Abrenuntiation „Seelsorgemittel“, also Elemente, die in der Seelsorge hilfreich sein können. In ihnen wird in Worte gefasst, was in der Taufe in Bezug auf den Herrschaftswechsel geschehen ist: Gott hat den Teufel aus dem Lebenshaus des Getauften ausgetrieben (Exorzismus) und der Täufling hat daraufhin selber (bzw. durch Eltern und Paten) dem Teufel abgesagt. Die im Evangelium wurzelnde Spannung von Indikativ und Imperativ, von Gottes zuvorkommendem Handeln und der Antwort des Menschen wird im Passiv des Exorzismus und im Aktiv der Abrenuntiation erfahren. Ich halte diese Abfolge von passiv und aktiv auch in der Seelsorgesituation für anthropologisch hilfreich: Hilfesuchenden wird durch die Erinnerung an die in ihrer Taufe geschehene Befreiung die Angst vor der vermeintlichen Übermacht des Bösen genommen. Ihnen wird zugesagt: „Der Teufel ist damals aus deinem Leben ausgetrieben worden. Er hat kein Recht mehr auf dich!“ Nach diesem passiven Element der Seelsorge sollten die so Erinnerten (wieder) zu einer aktiven Antwort finden: „Ja, ich will aus dieser Befreiung leben! Ich widersetze mich allen Machtansprüchen des Bösen.“

79 A. a. O., 282. Ganz ähnlich formuliert auch Joachim Scharfenberg: „Dem Zerfall der Seelsorge in Einzelfunktionen kann nur da gewehrt werden, wo die Betrachtungsweise eine Dimension tiefer reicht. Man wird da nämlich entdecken, daß es hinter Irrtum, Krankheit und Sünde eine Wirklichkeit gibt, die das Neue Testament als das Dämonische bezeichnet“ (Scharfenberg, Seelsorge, 59). 80 Vgl. Thurneysen: „In und mit diesem Jasagen zur Vergebung ereignet es sich, daß die Herrschaft der Dämonen über uns gebrochen wird“ (ders., Seelsorge, 291). 81 Zimmerling, Mächte, 277. 82 Ebd.

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Dabei sehe ich einen Unterschied zwischen dem Taufexorzismus und der Abrenuntiation: Während ich die Abrenuntiation grundsätzlich für wiederholbar halte, hat der Taufexorzismus etwas Einmaliges, an das nur erinnert werden kann.83 Diese Erinnerung kann gleichwohl eine konkrete Aktualisierung bedeuten, wie sie in der Absolution bei der Beichte geschieht.84 Jede Bitte um Befreiung vom Bösen ist von nun an eine „Rückkehr“ in die Taufe! Darauf kann dann eine erneute Abrenuntiation gleichsam als Bestätigung des „zum Vater zurückgekehrten Sohnes“ erfolgen. Die Abrenuntiation kann als erneutes „Ja“ zu Gottes Befreiung als sehr heilsam erfahren werden. „Es ist eine Wohltat, um die Möglichkeit zu wissen, daß der Mensch sich im Namen Jesu gegen die personale Macht des Bösen stellen und sich von ihr lossagen kann.“85 Damit spricht Schlink auch die Frage nach der Personalität des Bösen an, die in der theologischen Diskussion umstritten ist. Ich sehe durchaus, dass das Böse den biblischen Begriff der Person als eines geliebten Gegenübers zum Schöpfer pervertiert und damit sprengt. Trotzdem will ich gerade aus seelsorgerlichen Erwägungen an der traditionellen Vorstellung des Bösen als einer ‚Person‘ festhalten, weil eine unpersönliche Macht viel schwieriger in Worte gefasst und abgewehrt werden kann. Ich bin mir bewusst, dass die Seelsorge in dieser Frage sehr sensibel sein muss. Die Rede vom Teufel darf die vorhandene Angst nicht verstärken, sondern muss in nüchterner und glaubensgewisser Weise vom Sieg Jesu Christi ausgehen. Zur Seelsorge als Paraklese gehört nicht nur der Trost, sondern auch die Ermahnung. Diese ist nötig, wenn die Taufe nur als ein „harmloser Ritus“ oder als „Familienfest“86 missverstanden wird. Wenn ich im Taufgespräch die Taufhandlung mit Eltern und Paten durchgehe und erkläre, dann erlebe ich nicht selten, wie gerade das Thema ‚Herrschaftswechsel‘ und die konkrete Absage an den Satan einen Ernst in das Gespräch bringen, der vorher so nicht da war. Dabei habe ich noch nie erlebt, dass Eltern und Paten sich dieser Wendung verschlossen hätten. Im Gegenteil: In dem Ansprechen des Ernstes der Taufe konnten dann

83 Ich bin der Ansicht, dass ein Getaufter – gegen seinen Willen – nicht wieder vom Teufel besessen sein kann. Wenn Menschen zu mir in die Seelsorge kamen und sich für ‚besessen‘ hielten, dann handelte es sich nicht um wirkliche Besessenheit, sondern um Anfechtungen. Die Anfechtungen bestehen gerade in den lügenhaften Besitzansprüchen des Teufels, denen widersprochen werden muss. Deshalb halte ich die vorschnelle Diagnose der Besessenheit – v. a. in pfingstlerisch-charismatischen Kreisen – für seelsorgerlich schädlich und kontraproduktiv. Allerdings will ich das Phänomen der Besessenheit von Getauften auch nicht gänzlich ausschließen (vgl. die Erfahrungen Blumhardts mit der Gottliebin Dittus, s. Anm. 1). 84 Vgl. Agende, Beichte, 91: „Befreiung von der Macht des Bösen wird dir heute neu geschenkt.“ 85 Schlink, Verderbensmächte, 184. 86 Beide Formulierungen bei Bayer, Theologie, 244.

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auch Ängste und Wünsche der Familie ausgesprochen werden, die man sich bei einem ‚harmloseren‘ Verlauf des Gespräches nicht auszusprechen getraut hätte.87

5.

Gegenwärtige Formen für Taufexorzismus und Abrenuntiation

Martin Luther übersetzt den traditionellen Taufordo ins Deutsche, „damit die Paten und Beistände deste mehr zum Glauben und Andacht gereizet werden und die Priester, so da täufen, deste mehr Fleiß umb der Zuhörer willen haben müssen.“88 Nach Luther ist es für den Erfolg89 der Taufe entscheidend, dass Paten und Gemeinde „ernstlich mitbeten“90 und zwar „einmütiglich im Herzen mit dem Priester“.91 Das bedeutet für die konkrete Sprachgestalt von Taufexorzismus und Abrenuntiation, dass sie für die Taufgemeinde verständlich und mitvollziehbar sein soll. Die Übersetzung ins Deutsche allein reicht dafür heute nicht mehr aus. Die hermeneutischen Bemühungen müssen weitergehen. Dabei spielt die Situation und Prägung der Gemeinde eine große Rolle. Dennoch sollten Schwierigkeiten beim Verstehen nicht sofort zum Verzicht dieser beiden Elemente in der Taufliturgie führen. Hier gilt, was Bischof Wolfgang Huber im Vorwort zur „Orientierungshilfe zu Verständnis und Praxis der Taufe“ schreibt: „1) Eine evangelische Orientierung im Verständnis der Taufe geht von der biblischen Überlieferung aus. Auch diejenigen biblisch geprägten Bilder und Ausdrücke werden aufgenommen und neu erschlossen, die in einem zeitgenössischen Verstehenshorizont zunächst fremd, ja befremdlich wirken. Denn sie enthalten einen Bedeutungsüberschuss, den man auch dann nicht leichtfertig aus der Hand geben sollte, wenn er sich heute gängigen Verstehensmustern nicht sofort fügt. Gerade in der Fremdheit kann nämlich eine religiöse Tiefendimension, ja eine Glaubenswahrheit zum Ausdruck kommen, die sich vielleicht erst in intensiver Beschäftigung erschließt, dann aber als umso wertvoller erweist. 2) Eine evangelische Orientierung im Verständnis der Taufe würdigt die Verwurzelung des reformatorischen Denkens in den Schätzen der Tradition der Alten Kirche.“92 Die Bedeutung von Taufexorzismus und Abrenuntiation erschließt sich heute sicher nur durch intensive Beschäftigung: Taufgespräch, Taufkatechese, Predigt 87 Z. B. Ängste vor bösen Einflüssen oder vor okkulten Belastungen in der Familie; Wünsche nach umfassendem Schutz, so wie es o.g. EKD-Orientierungshilfe ebenfalls belegt (vgl. Anm. 3). 88 BSLK, 533,18–22. 89 Vgl. a. a. O., 536,20–24. 90 A. a. O., 537, 11. 91 A. a. O., 537, 19f. 92 Taufe Orientierungshilfe, 8.

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und Bibelgespräch werden immer wieder darauf eingehen müssen, damit es hier zu einem evangelischen Verständnis kommt.

5.1

Formen des Taufexorzismus

Das Wort „Exorzismus“ ist heute durch reißerisch aufgemachte Filme („Der Exorzist“), durch den Fall der Anneliese Michel, der in den Medien intensiv behandelt wurde, und durch Exorzismen in sektiererischen und esoterischen Kreisen schwer belastet. Der katholische Liturgiewissenschaftler Klemens Richter schlägt als Alternativbezeichnung „Liturgie zur Befreiung vom Bösen“93 vor. Das Wort „Befreiung“ hat einen „evangelischen Klang“ und scheint mir gut geeignet, den Sachverhalt angemessen zu beschreiben. „Befreiung vom Bösen“ könnte als Überschrift über einer exorzistischen Handlung bei der Taufe stehen. Um der Kontinuität willen bleibe ich aber im Folgenden bei der traditionellen Terminologie. Unter dem eigentlichen Taufexorzismus verstehe ich die Form der Beschwörung, die sich direkt an den Bösen wendet.94 Diese Form wird als besonders anstößig empfunden und ist deshalb in gegenwärtigen evangelisch-landeskirchlichen und römisch-katholischen Taufformularen nicht mehr zu finden. Sie ist andererseits aber auch am eindrücklichsten und wird gerade in den kurzen, knappen Formulierungen des Taufbüchleins von 1526 konzentriert wahrgenommen. Deshalb gibt es auch heute unter evangelischen Theologen Verfechter dieses Exorzismus. Helmut Echternach plädiert für die Verwendung des kleinen Exorzismus zu Beginn der Taufe: „Es dürfte sich meiner Meinung nach empfehlen, die heute den Taufvollzug einleitende signatio crucis mit einem exorzistischen Satz zu verbinden; etwa: ‚Fahre aus, du unreiner Geist, und gib Raum dem Heiligen Geist.‘“95 Auch Gerd Kelter spricht sich für die Wiedereinführung des Taufexorzismus aus, allerdings in Anknüpfung an den großen Exorzismus im Taufbüchlein,96 weil dieser ausdrücklich unter Anrufung des Namens Gottes geschehe: „Es ist ja auch hier nicht der Amtsträger, der in eigener Vollmacht handelt, sondern der Diener Christi, der in der Vollmacht seines Herrn und in seinem Auftrag handelt.“97 Ihm folgend gibt es in der im Jahr 2010 erschienenen Taufagende der Selbständigen Evangelisch-Lutherischen Kirche die Möglichkeit, 93 94 95 96

Richter, Exorzismus, 148. Richter nennt diese Form den „imprekatorischen Exorzismus“ (ders., Exorzismus, 14). Echternach, Kirche, 101. „Ich beschwere Dich, Du unreiner Geist, bei dem Namen des Vaters + und des Sohnes + und des heiligen Geistes +, daß Du ausfahrest und weichest von diesem Diener Jesu Christi, N., Amen“ (BSLK, 539,30–34). 97 Kelter, Taufexorzismus, 147.

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dass der Täufer vor der obsignatio crucis spricht: „Im Namen Jesu Christi gebiete ich dir: Weiche, du unreiner Geist, dass N. N. ein Sohn/eine Tochter Gottes werde und immerdar bleibe.“98 Ich gebe zu, dass es im Blick auf die konkrete Formulierung solch eines Taufexorzismus zu Problemen kommen kann. Ich sehe aber auch keine überzeugende sprachliche Alternative zu den o.g. Formulierungen aus Luthers Taufbüchlein. Diese nehmen sowohl den biblischen Sprachgebrauch auf und betonen damit ihren Ursprung im Handeln Jesu und der Apostel. Gerade ihre „harte“99 Sprachform ist geeignet und hilfreich, um in der Seelsorge die radikale Distanzierung zum Bösen in Worte zu fassen. Der Taufexorzismus stellt zudem die liturgisch gebundene Form der Umsetzung des Auftrags des Auferstandenen (Mk 16,17) dar und könnte somit ein Gegengewicht gegen den oft theologisch fragwürdigen Umgang mit Exorzismen in pfingstkirchlichen Gruppen sein. Im Unterschied zu Luthers Taufbüchlein von 1526 möchte ich aber den Exorzismus mit einem exorzistischen Gebet verbinden, um deutlich zu machen: Es ist in jedem Fall Gott, der die Befreiung bewirkt. Steht der Taufexorzismus allein, könnte bei der Gemeinde der Eindruck entstehen, der Pfarrer vollziehe hier ein magisches Ritual aus eigener Vollmacht. Das exorzistische Gebet in der Taufagende der VELKD von 1988100 halte ich für gut geeignet, um den Sachverhalt des Herrschaftswechsels zu verdeutlichen. Es steht an erster Stelle unter drei Gebeten zur Auswahl. Es besitzt auch inhaltlich Priorität, weil es mit der Formulierung „befreie es von der Macht des Bösen“ das Anliegen des Exorzismus aufnimmt. Eine Wiederholung des Taufexorzismus ist aus unter Punkt 4 genannten Gründen – anders als bei der Abrenuntiation – nicht möglich. Dennoch gibt es die wiederkehrende Bitte um Schutz vor dem Teufel (schon im Vaterunser!). Luthers Morgen- und Abendsegen101 kann mit der Bitte „Dein heiliger Engel sei mit mir, daß der böse Feind keine Macht an mir finde“ und mit der vorangehenden Segnung mit dem Kreuzeszeichen als erneutes Unterstellen unter die Herrschaft Christi im Sinne einer Tauferinnerung verstanden werden. Die Handreichung der VELKD zur Feier des Taufgedächtnisses von 2013 schließt ihre Einführung mit einem Zitat aus Luthers Großem Katechismus: „Also sieht man, wie ein hoch trefflich Ding es ist um die Taufe, so uns dem Teufel aus dem Hals reißet, Gott zu eigen macht.“102 In ihren ‚Bausteinen‘ für die Feier des Taufgedächtnisses nimmt sie Bezug auf die Obsignatio crucis: „Mit dem

98 99 100 101 102

Kirchenagende, Taufe, 16 vgl. a. a. O., 38.64. Vgl. Peters, Kommentar, 173. Agende, Taufe, 24. Vgl. EG 815.852. Feier des Taufgedächtnisses, 2013, 11.

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Zeichen des Kreuzes wurden wir gesegnet. Wir gehören zu Christus, unserem Erlöser.“103

5.2

Formen der Abrenuntiation

Die drei Alternativen der Abrenuntiation bei der Taufe eines Erwachsenen in der Taufagende der VELKD halte ich ebenfalls für geeignet. Während die erste Form etwas passivischer nach dem „Willen“ fragt, „aus der Gewalt des Bösen (befreit)“ zu werden, sind die zweite und dritte Form aktive Absagen an „die Macht des Bösen“, bzw. an „den Bösen/Satan“.104 Die fakultative Formulierung eines „entfalteten Glaubensbekenntnis“ bei der Taufe von Kindern: „Wollt ihr, daß dieses Kind durch die Taufe der Gewalt des Bösen entrissen wird, so antwortet: Ja.“105 macht deutlich, dass die Befreiung im eigentlichen Taufakt geschieht und hier lediglich verbal ‚entfaltet‘ wird. Die nur von der sächsischen Landeskirche beibehaltene Formulierung „So bekennt für dieses unmündige Kind den Glauben, und sagt damit ab dem Satan und allen seinem Werk und Wesen und tut Zusage Gott dem Vater“106 stellt den Zusammenhang von Zusage und Absage sehr schön heraus. Außerdem wird hier das Glaubensbekenntnis selbst im Sinne einer Abrenuntiation verstanden! Schon in der Alten Kirche konnten die Gegenstände der Absage, d. h. die konkrete Gestalt des Bösen, je nach Kontext und Situation sehr vielfältig sein. Anders als beim Exorzismus plädiere ich bei der Abrenuntiation für eine sprachliche und inhaltliche Bandbreite von Formulierungen. Es wäre zu überlegen, ob gerade bei der Taufe von Erwachsenen – je nach tatsächlicher Betroffenheit – Abhängigkeiten, Süchte oder Verstrickungen konkret beim Namen genannt werden sollten, um den Lebensbezug deutlicher zu machen. Z. B.: „Sagst du ab der Macht des Bösen, der Macht der Drogen und der Macht des Okkultismus?“ Antwort: „Ja, mit Gottes Hilfe!“107 Diese eben genannte Konkretisierung wird in einem Vorschlag der Ev.-Luth. Landeskirche Sachsens zur Feier des Taufgedächtnisses aufgenommen: „Im Taufgedächtnis der Gemeinde kann die Abrenuntiatio nach einer knappen Einleitung zu Beginn des Taufgedächtnisses am besten in einem Kyrie-Gebet Ausdruck finden, etwa in folgender Form: 103 104 105 106 107

A. a. O., 19. Agende, Taufe, 121. A. a. O., 99. Zitiert in Anm. 72. Solche konkreten Absagen sollten im Gespräch miteinander gesucht und nur dann verwendet werden, wenn der Täufling das wünscht. Andernfalls sind allgemeine Formulierungen zu verwenden.

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L: Lasst uns zum Herrn beten, der uns in der Taufe berufen hat, dass wir ihm in einem neuen Leben nachfolgen. Herr Jesus Christus, du bist gekommen, um uns nahe zu sein: Hilf uns abzusagen der Undankbarkeit, dass sie unser Leben nicht freudlos mache: Kyrie eleison … Herr Jesus Christus, du hast dich für uns dahingegeben: Hilf uns abzusagen der Selbstsucht, dass sie uns nicht von den Brüdern und Schwestern trenne: Christe eleison … Herr Jesus Christus, du hast dem Versucher widerstanden: Hilf uns, uns vom Bösen abzukehren, dass es nicht Macht über uns gewinne: Kyrie eleison …“108

Auch die Agendarische Handreichung der VELKD für die Feier des Taufgedächtnisses thematisiert die Absage an das Böse. Sie tut das in Form eines Sündenbekenntnisses, das sich in Gebetsform an den „gerechten Gott“ richtet: „Vergib, dass wir uns immer wieder verführen lassen zum Bösen und uns dir entziehen. Vergib, dass wir den Mächten dieser Welt folgen und zögern, deinen Willen zu tun. Verwandle uns durch dein Wort und erneuere uns, dass nichts als dein Wille geschehe.“109 Die einfachste liturgische Form der Wiederholung der Abrenuntiation beim Taufgedächtnis ist das Singen vom Tauflied „Ich bin getauft auf deinen Namen“ und davon speziell der dritten Strophe: „Doch hab ich dir auch Furcht und Liebe, Treu und Gehorsam zugesagt; ich hab, o Herr, aus reinem Triebe dein Eigentum zu sein gewagt; hingegen sagt ich bis ins Grab des Satans schnöden Werken ab.“ (EG 200). Dieses traditionelle Tauflied ist ein Hinweis darauf, dass die Abrenuntiation in der ev.-luth. Kirche zum Taufgedächtnis gehörte. Die Taufe hat einen besonderen Bezug zum Osterfest. Deshalb ist die Feier des Taufgedächtnisses in der Osternacht – dem ursprünglichen Tauftermin – eine sinnvolle Möglichkeit. In der Agende II, Passion und Ostern, herausgegeben von der VELKD im Jahr 2011, wird die ganze Gemeinde bei dort stattfindenden Taufen gemeinsam mit den Täuflingen bei der Variante „mit Absage an das Böse (abrenuntiatio)“ angesprochen: „Wer sich zum dreieinigen Gott bekennt, wendet sich damit ab von der Macht des Bösen und allem, was dem Leben Feind ist. Lasst uns das tun und zusammen mit N.N. unseren Glauben an Gott, den Vater, den Sohn und den Heiligen Geist bekennen.“110 Im Anhang dieser Agende findet sich eine ausführlichere Weise der Abrenuntiation unter der Überschrift: „Erneuerung des Taufbekenntisses und Absage an das Böse“. Dort fragt der Liturg die Gemeinde: „Widersagt ihr dem Bösen und allen Mächten, die sich Gott widersetzen?“ Darauf antwortet die Gemeinde: „Ja, wir sagen ab.“ Der Liturg fragt 108 Handreichung zur Taufordnung, B 34. 109 Feier des Taufgedächtnisses, 27. 110 Agende, Ostern, 155.

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weiter: „Sagt ihr Lug und Trug ab?“ Und die Gemeinde antwortet wieder: „Ja, wir sagen ab.“111 Wie bereits in der Taufagende hat die Selbständige EvangelischLutherische Kirche in der Liturgie „der Feier der Osternacht“ die traditionelle lutherische Form bewahrt: „Liturg zur Gemeinde: In dieser heiligen Nacht hat Gott in der Auferstehung seines Sohnes der Welt die Erlösung bereitet. Wir preisen ihn, daß er diese Erlösung durch das Wasserbad der heiligen Taufe auch uns zugewandt hat. Darum dankt Gott für diese Gnade und bekennt euch zu dem, was er an euch getan hat, daß er euch errettet hat von der Macht der Finsternis und versetzt in das Reich seines lieben Sohnes. Liturg: Steht auf und sprecht mit mir: Ich entsage dem Teufel und all seinem Werk und Wesen und ergebe mich dir, du Dreieiniger Gott, Vater, Sohn und Heiliger Geist, im Glauben und Gehorsam dir treu zu sein bis an mein Ende“ (danach folgt das Apostolikum).112

Exorzismus und Abrenuntiation sollten einen festen Platz in evangelischer Spiritualität haben. Ihren primären Ort haben sie in der Taufhandlung. Im Rückbezug auf die Taufe sowohl bei der Beichte als auch im Taufgedächtnis sind sie Hilfsmittel für das geistliche Leben des Christen, insbesondere in der Seelsorge an Angefochtenen.

Literatur Quellen Agende für die evangelisch-lutherische Landeskirche des Königreichs Sachsen. Zweiter Teil. Besondere gottesdienstliche Handlungen, Leipzig 21906. Agende für evangelisch-lutherische Kirchen und Gemeinden, Bd. II/1: Passion und Ostern, hg. von der Kirchenleitung der Vereinigten Evangelisch-Lutherischen Kirche Deutschlands, Hannover 2011. Agende für evangelisch-lutherische Kirchen und Gemeinden, Bd. III: Die Amtshandlungen, hg. von der Kirchenleitung der Vereinigten Evangelisch-Lutherischen Kirche Deutschlands, Berlin und Hamburg, 31969. Agende für evangelisch-lutherische Kirchen und Gemeinden, Bd. III: Die Amtshandlungen, Teil 1: Die Taufe, hg. von der Kirchenleitung der Vereinigten Evangelisch-Lutherischen Kirche Deutschlands, Hannover 1988. Agende für evangelisch-lutherische Kirchen und Gemeinden, Bd. III: Die Amtshandlungen, Teil 3: Die Beichte, hg. von der Kirchenleitung der Vereinigten Evangelisch-Lutherischen Kirche Deutschlands, Hannover 1993.

111 A. a. O., 316. 112 Feier der Osternacht, 20.

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Ausführungsverordnung zum Kirchengesetz über die Einführung der neu bearbeiteten Ausgabe von Teil 1 „Die Taufe“ des Dritten Bandes der Agende für evangelisch-lutherische Kirchen und Gemeinden vom 20. November 1997, in: Amtsblatt der EvangelischLutherischen Landeskirche Sachsens 1998, A 37. Die Bekenntnisschriften der evangelisch-lutherischen Kirche, Göttingen 91982. [BSLK] Evangelisch-Lutherische Kirchenagende, Bd. III/1: Die Heilige Taufe, hg. von der Kirchenleitung der Selbständigen Evangelisch-Lutherischen Kirche, Göttingen 2010. Die Feier der Kindertaufe in den katholischen Bistümern des deutschen Sprachgebietes. Hg. im Auftrag der Bischofskonferenzen Deutschlands, Österreichs und der Schweiz und des Bischofs von Luxemburg, Freiburg i. Br. 2006. Die Feier des Taufgedächtnisses, Agendarische Handreichung zu Agende III: Die Taufe, für evangelisch-lutherische Kirchen und Gemeinden, hg. im Auftrag der Kirchenleitung und Generalsynode der Vereinigten Evangelisch-Lutherischen Kirche Deutschlands vom Amt der VELKD, Hannover 32013. Die Feier der Osternacht, hg. von der Selbständigen Evangelisch-Lutherischen Kirche, Groß Oesingen 2003. Handreichung zur Taufordnung vom 11. April 2005 und zur Rechtsverordnung zur Ausführung der Taufordnung vom 26. April 2005, in: Amtsblatt der Evangelisch-Lutherischen Landeskirche Sachsens 2005, B 25–34. Kirchengesetz über die Einführung einer neuen Agende für die Taufe, vom 18. April 1956, in: Amtsblatt der Evangelisch-Lutherischen Landeskirche Sachsens 1956. Luther, Martin, De captivitate Babylonica ecclesia praeludium (1520), in: Ders., D. Martin Luthers Werke, Kritische Gesamtausgabe, Bd. 6, Weimar 1988, 484–573. [WA 6] –, De servo arbitrio (1525), in: Ders., D. Martin Luthers Werke, Kritische Gesamtausgabe, Bd. 18, Weimar 1908, 600–787. [WA 18] –, Tischrede Nr. 894, in: Ders., Tischreden, Bd. 1, Weimar 1912, S. 144f. [WA TR 1]

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Corinna Dahlgrün

Exerzitien und geistliche Begleitung

Die Sache hat viele Namen und mancherlei Gesichter: Exerzitien sind geistliche Übungen; sie bezeichnen das wiederholende, vertiefende Praktizieren geistlicher Methoden; sie sind Askese, nicht im Sinne von ‚Verzichten‘, sondern von ‚Üben‘, von verlässlicher Regelmäßigkeit; sie sind Bemühen um Heiligung – praxis pietatis eben, das Leben des Glaubens in suchender, hörender Aufmerksamkeit auf Gottes Wort.1 Und es gibt sie in vielerlei Gestalt: als klassisch ignatianische oder kontemplative Exerzitien, als Exerzitien im Alltag oder auf der Straße, als Wander-, Wüsten- oder Online-Exerzitien, an einem einzelnen Tag, zusammenhängend in einer Woche, über einen längeren Zeitraum verteilt oder in einem weiteren Sinn als ein das Leben begleitendes Element. Es gibt sie in den unterschiedlichsten Denominationen, in Klöstern und Tagungshäusern, in Akademien, Kirchengemeinden und im Internet. Doch was genau ist gemeint mit diesen Angeboten? Was versprechen sie, was verlangen sie den Teilnehmerinnen und Teilnehmern ab? Was unterscheidet Exerzitien von der täglichen, individuellen Gestaltung des eigenen Glaubens, einer morgendlichen ‚stillen Zeit‘ etwa? Es gibt Gemeinsamkeiten unter den verschiedenen Formen: Der Mensch, der an Exerzitien teilnehmen möchte, der Exerzitiennehmer, erhält von seinem geistlichen Begleiter, dem Exerzitiengeber, einen Impuls.2 Diesen Impuls nimmt er auf, lässt ihn schweigend, aufmerksam, meditierend in sich wirken und in ein Gebet münden. Das dabei Erfahrene wird reflektiert, zunächst allein, dann im Gespräch, entweder nur mit dem Begleiter, der Begleiterin der Exerzitien oder 1 Ich beschränke meine Ausführungen auf das Christentum, doch finden sich Exerzitien der Sache nach ebenso in anderen Religionen. – Dieser Beitrag gründet auf etlichen anderenorts veröffentlichten Überlegungen; vgl. zu Askese ausführlich Dahlgrün, Askese, 165ff; zur Heiligung: Dahlgrün, Spiritualität, 279–286; zur geistlichen Beratung oder Begleitung: a. a. O., 286– 294. 2 Ein biblisches Wort oder eine Geschichte, ein altes oder modernes Märchen, ein Gedanke aus einem geistlichen Text oder ein Symbol (auf Wanderexerzitien etwa die Größe der Berge, der Weg, das Wetter, ein Stein).

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auch mit einer Gruppe anderer Exerzitiennehmer. Dies führt im Falle des Gelingens zu einer Vertiefung oder Erfrischung seines Glaubenslebens, zu einer neuen Aufmerksamkeit für die Anwesenheit Gottes in seinem Leben. Gegebenenfalls werden daraus – nachdem im Gespräch mit dem geistlichen Begleiter die Kriterien der Unterscheidung der Geister, der discretio, angewendet wurden – Folgerungen gezogen für die Gestaltung des weiteren Lebens, für eine Entscheidung, für den Alltag oder den Glaubensweg. Eine andere Gemeinsamkeit besteht darin, dass Menschen unterschiedlicher Denominationen die verschiedensten Exerzitienangebote wahrnehmen, und dass sie dazu aus den unterschiedlichen Angeboten nach eigener Neigung wählen, also keineswegs notwendig in der christlichen Gemeinschaft bleiben, der sie selbst angehören.3 Nach einem Blick auf wenige exemplarische Punkte der Entwicklung der Exerzitien (1.) sollen einige Formen etwas genauer vorgestellt werden (2.–6.); abschließend wird die geistliche Begleitung in den Blick genommen, die nicht nur für die Exerzitien eine Rolle spielt (7.).

1.

Exerzitien in der Geschichte der Spiritualität

Die geistlichen Übungen der Wüstenväter und -mütter (4. Jh.) können als eine frühe und andauernde Gestalt der Exerzitien, als ein lebenslanges Exerzitium angesehen werden. Alle seine Bestandteile – das Beten, das schweigende Betrachten biblischer Worte, die geübte Enthaltsamkeit in allen leiblichen Belangen, das Arbeiten, das Gespräch mit anderen Vätern oder Müttern, die das Erfahrene geistlich beurteilen – haben ein Ziel: die Schärfung der Aufmerksamkeit für Gott, die immer größere Übereinstimmung mit Gottes Willen, die Gotteskindschaft und Gottesfreundschaft gemäß Joh 15,18. So lehrt der Altvater Johannes: „Wenn nun einer, soviel es einem Menschen möglich ist, Gott erkennt, dann wird er auch die anderen Geheimnisse Gottes und die anderen Wesen erkennen. Und je reiner sein Herz ist, um so mehr wird ihm Gott offenbaren und seine Geheimnisse enthüllen. Er wird nun Gottes Freund.“4

Die geistlichen Übungen, die täglichen Exerzitien, ermöglichen den Müttern und Vätern zu erreichen, was sie für ihr Leben wünschen: die größtmögliche Nähe zu Gott.

3 Eine Beschränkung auf explizit „evangelische“ Exerzitien ist auch darum nicht sachgemäß. Das von vielen Christen genutzte Angebot von Zen-Meditation oder bewusstseinserweiternden Übungen auf nicht-christlichem Hintergrund wäre eigens zu untersuchen. 4 Weisung 966, 317f.

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Ähnliches findet sich in der Ordensregel der Benediktiner (Regula Benedicti, 6. Jh.), die insgesamt einen Weg bezeichnet, der immer mehr zu Gott führt, sogar zur Höhe der Vollkommenheit (ad celsitudinem perfectionis): „Ist denn nicht jede Seite oder jedes von Gott beglaubigte Wort des Alten und Neuen Testamentes eine verläßliche Wegweisung für das menschliche Leben? Oder welches Buch der heiligen katholischen Väter redet nicht laut von dem geraden Weg, auf dem wir zu unserem Schöpfer gelangen?“5

Der benediktinische Weg betrachtet die täglichen Verrichtungen der Handarbeit ebenso als geistliche Übung wie die geistliche Schriftlesung (lectio divina)6 und deren „wiederkäuendes Betrachten“7 in der Meditation, wie die gemeinsame Feier der Stundenliturgie und die Übung des Schweigens. Es ist dabei nie eine allein kognitive Aneignung, ein bloßes Verstehen der Bibelworte das Ziel, sondern die immer tiefere Durchdringung und Formung des ganzen Lebens durch das Wort und den Willen Gottes.8 Durchaus in dieser Tradition – allerdings ohne die Vorstellung eines geistlichen Fortschritts – empfiehlt auch Martin Luther (1483–1546) den Christen, um die Aufmerksamkeit für Gottes Willen zu stärken und ein Leben der Heiligung zu führen, ihren „alten Adam“ an jedem Morgen in der Taufe zu ersäufen, regelmäßig zu beten, das Abendmahl zu empfangen, in der Heiligen Schrift zu lesen und ihre Pflicht an dem Platz zu tun, auf den Gott sie gestellt hat.9 Luther lehrt also nicht nur den Glauben an die rechtfertigende Gnade Gottes, sondern fordert von den Glaubenden die Übung eines geistlichen Lebens, die Askese, das Exerzitium, dies freilich nur, solange der Mensch sich nicht einbilde, das Heil auf diesem Weg verdienen zu können. Das Heil dürfe der Mensch allein von Gott erhoffen. Die Rechtfertigung setze aber, so führt Luther aus, den Menschen auf den Weg der Heiligung, den er mit Gottes Hilfe gehen solle – und nur dank dieser Hilfe gehen könne, weil er aus Gottes Gnade bereits angefangen habe, fromm zu sein.10 Mehr als ein Anfang könne die Taufe oder Buße nicht sein, wir würden durch sie nicht ganz gesund, sondern lediglich mit der ‚ersten Gnade‘ auf eine Weise verbunden, dass wir täglich mehr (und immer von neuem) heilten. Wir seien ein angefangenes, nicht ein bereits vollbrachtes Werk Gottes. Das Leben sei

5 Benediktusregel 73,3 und 4,240f. 6 Vgl. a. a. O., 48, 184–189. 7 Der Begriff wird von Lambert, Ruminatio, 1072, u. a. zurückgeführt auf Gregors des Großen Homiliae in Ezechielem (zu Kap. 10). Auch Ps 1,2 kann als häufig zitierter Beleg herangezogen werden. 8 Zu nennen sind ergänzend beispielsweise die karmelitischen Exerzitien nach Teresa von Avila und Johannes vom Kreuz, in deren Zentrum das Gebet der liebenden Aufmerksamkeit steht. 9 Vgl. zur Sicht Luthers auch Zimmerling, Spiritualität, 49–73. 10 Vgl. WA 7, 337,5ff.

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601

nicht ein Sein, sondern ein Werden, nicht Ruhe, sondern Übung.11 Auch der Gottesdienst gilt für Luther als Exerzitium, insofern er insbesondere Jugendliche in das Leben mit der Schrift und in Gottes Wort einüben kann.12 In besonderer Weise wird der Begriff der Exerzitien heute mit der Lehre des Ignatius von Loyola (1491–1556) verbunden, der auf der Basis eigener Erfahrung die geistlichen Übungen als ein Verfahren entwickelt, sich in Einsamkeit und Stille durch die Wahrnehmung des persönlichen Glaubensfundaments, durch die Betrachtung eines biblischen Textes und durch Gebet in die Glaubensgeheimnisse einzuüben und den Willen Gottes für das eigene Leben zu erspüren. Die ignatianischen Exerzitien sind Übungen des Einzelnen unter Anleitung eines Exerzitienmeisters. Sie geschehen möglichst in Abgeschiedenheit und Stille, umfassen fünf Betrachtungen, die jeweils für eine Stunde durchgeführt werden sollen, und sind thematisch präzise geplant. In ihrer Langform erstrecken sie sich über vier Wochen, wobei die Zeitangaben von den geistlichen Fortschritten des Exerzitiennehmers abhängen – der Exerzitiengeber wird angewiesen, die Übungen der zweiten Woche erst dann beginnen zu lassen, wenn eine Entwicklung erkennbar sei: „Denn da es vorkommt, daß in der ersten Woche manche zögernder sind im Finden dessen, was sie suchen: Zerknirschung, Schmerz, Tränen über ihre Sünden; wie ferner die einen eifriger sind als die andern und mehr von verschiedenen Geistern umherbewegt und geprüft, ist es erfordert, die Woche das eine Mal abzukürzen, das andere Mal zu verlängern. Und so werde es auch in den andern, folgenden Wochen gehalten, indem man alles gemäß der jeweiligen Lage einzurichten sucht. Doch sollen die Übungen in ungefähr dreißig Tagen zum Abschluß gebracht werden.“13 Betrachtungsgegenstände sind, nach dem Bedenken der eigenen Sünden und der Sündenstrafen in der ersten Woche, Momente des Lebens Jesu, von der Inkarnation über das irdische Leben und die Passion bis zu den Erscheinungen des Auferstandenen. Wichtig ist für die ignatianischen Exerzitien ebenso wie für alle anderen, dass die Betrachtungen unter Einsatz aller Sinne und nicht allein mit der Kraft des Verstandes durchgeführt werden: „denn nicht das Vielwissen sättigt die Seele und gibt ihr Genüge, sondern das Fühlen und Kosten der Dinge von innen.“14

11 A. a. O., 337,30–35. 12 WA 19, 73. 13 Ignatius, Exerzitien, 8 (Nummer 4). Diese „großen“ Exerzitien wurden schon zu Ignatius’ Zeit von Menschen absolviert, die den priesterlichen Dienst oder eine Zugehörigkeit zum Jesuitenorden anstrebten. Ihnen sollen die verschiedenen Schritte helfen, sich über die eigene Berufung klar zu werden und zu einer Entscheidung zu gelangen hinsichtlich der dem Exerzitiennehmer bestimmten Weise, Gott zu dienen. 14 Ignatius, Exerzitien, 7 (Nummer 2).

602

2.

Corinna Dahlgrün

Ignatianische Exerzitien

Für lange Zeit, bis ins 20. Jh. hinein, wurden die ignatianischen Exerzitien in Gestalt von Vorträgen mit anschließend empfohlenen Gebetsübungen angeboten.15 Inzwischen hat eine Rückbesinnung auf die von Ignatius empfohlenen Einzelexerzitien stattgefunden, zu denen aus anderen religiösen Traditionen, vor allem der buddhistischen, das Stichwort der „Achtsamkeit“ hinzugekommen ist. Die Website der deutschsprachigen Jesuiten beschreibt ihre Angebote dementsprechend: „Es geht um die Beziehung zwischen Gott und Mensch, die im Mittelpunkt der Exerzitien steht. Dort erfährt der Mensch sich als Empfangender. Alle Dimensionen des Menschen werden in diese Beziehung hineingenommen: Denken, Phantasie, Bilder, Ideen, Gefühle, Wahrnehmung, Leib und Geist. Aus den Exerzitien wächst so mehr Klarheit für das eigene Leben, die Fähigkeit, Entscheidungen zu treffen, zu lieben und entschlossen zu handeln. Heute gibt es eine Reihe von verschiedenen Exerzitienformen, die zwischen einer und vier Wochen dauern. Sie sind inspiriert durch die ‚Geistlichen Übungen‘, die aus den Lebenserfahrungen des heiligen Ignatius von Loyola entstanden sind.“16

Ignatianische Exerzitien gibt es in der klassischen Form, ebenso als Wander- oder Wüstenexerzitien, auch als Film-Exerzitien – in allen Formen jedoch geht es um „ernsthaftes und strenges Üben“, um die Neuausrichtung der Exerzitiennehmer auf Gott hin, um die Klärung ihres inneren Standortes: Die Exerzitien „können Ihnen dienen, wenn Sie Ihren Kompass neu ausrichten möchten; wenn Sie sich tiefer in die Grundbotschaften des Evangeliums einwurzeln möchten, wenn Sie vor einer wichtigen Entscheidung stehen und diese Entscheidung auf christlicher Grundlage fällen möchten oder wenn Sie sich ernsthaft fragen, zu welchem Leben Sie als Christin, als Christ eigentlich berufen sind.“17 Bei den Online-Exerzitien, einem weiteren Angebot der Jesuiten, ebenso mancher Diözesen, handelt es sich demgegenüber eher um eine erste Hinführung zu einem eigenen Gebetsleben. Auch hier gibt es – in der Regel für einen Zeitraum von vier Wochen – einen täglichen Impuls, der den Tag begleiten soll, dazu die Möglichkeit, die Erfahrungen per E-mail mit einem Begleiter zu besprechen,18 doch ist das Angebot gegenüber den klassischen Exerzitien als „niedrigschwellig“ zu bezeichnen.

15 Vgl. Lambert, Landschaft, 22. 16 https://www.jesuiten.org/seelsorge/exerzitien.html, eingesehen am 05. 09. 2017. 17 P. Franz-Xaver Hiestand SJ und P. Christof Wolf SJ, http://film-exerzitien.org, eingesehen am 05. 09. 2017. 18 Die Online-Exerzitien sind, auch wenn sie nicht allein von den Jesuiten angeboten werden, doch dem Vorbild der ignatianischen Exerzitien verpflichtet.

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3.

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Kontemplative Exerzitien

Die kontemplativen Exerzitien sind aus der ignatianischen Tradition hervorgegangen, sind jedoch vielfach beeinflusst von benediktinischen und franziskanischen Traditionen; zuweilen kommen Elemente der christlichen Mystik19 und auch fernöstlicher Spiritualität (Zen, Yoga) hinzu. In einem Internetauftritt einer franziskanischen Gemeinschaft, die ein Angebot kontemplativer Exerzitien macht, heißt es warnend: „Diese Tage sind intensive Zeiten der Stille und des Schweigens (zwischen 5 und 10 Tagen), darauf ausgerichtet, sich in die Achtsamkeit auf den Augenblick einzuüben, und sich so zur eigenen Mitte, zum Herzen und zum ‚Herzensgebet‘ führen zu lassen. Kurselemente sind: 3–5 Stunden gemeinsame Schweigemeditation, Wahrnehmung der Natur, Einzelbegleitung, Impulse zur Meditation, Gottesdienst, durchgehendes Schweigen. Psychische Belastbarkeit und Erfahrung mit Kontemplativem Gebet und längeren Schweigezeiten sind erforderlich“.20

Wie viele Exerzitiengeber dieser Richtung bezieht sich auch diese Gruppe auf den Jesuiten Franz Jalics, der ein eigenes Exerzitienhaus im fränkischen Ort Gries gegründet hat. Sein Ansatz ist in einem Praxisbuch zu kontemplativen Exerzitien ausführlich beschrieben. Jalics unterteilt die Exerzitien in zehn „Zeiten“, die jeweils mit einer Ansprache beginnen, die in einen bestimmten inhaltlichen Aspekt des Geschehens einführt (z. B. die Entsprechung und Verflochtenheit der Beziehungen des Menschen zu anderen Menschen und zu Gott [2. Zeit]; die Nichtigkeit der Welt [4. Zeit]; die Leidensbereitschaft [6. Zeit]); darauf folgen Anleitungen zur Meditation (vor allem als Wahrnehmung unterschiedlicher Gegenstände wie der Natur, des Weges des Atems im eigenen Körper, des Zentrums der Handinnenfläche [1.–3. Zeit] usw.21). Im Anschluss an die Meditation führt Jalics ausführliche Gespräche mit den einzelnen Exerzitiennehmern; deren typisierte und anonymisierte Wiedergabe soll die Leserin anleiten, sich reflektierend mit dem selbst Erlebten zu beschäftigen. Das Ziel ist ein Loslassen des Denkens, Wollens und Tuns im Gegenüber zu Gott: „das konsequente Loslassen diskursiven Denkens und der Beschäftigung mit dem eigenen psychischen

19 Zu denken ist hier u. a. an die Tradition der apophatischen Theologie. 20 http://exerzitien-juist.de/kontemplative-exerzitien.html, eine vom Bistum Osnabrück verantwortete Seite, eingesehen am 05. 09. 2017. 21 Um möglichen Einwänden vorzubeugen betont Jalics, dass seine kontemplativen Exerzitien zwar nicht Bibelworte zum Inhalt der Meditation machten, doch insgesamt auf der Basis der biblischen Botschaft ruhten: „Dieses Buch und seine Gebetsweise entspringen vollständig der Offenbarung und sind in sie eingebettet. Was könnte christlicher sein, als ständig mit voller Aufmerksamkeit beim auferstandenen Christus zu verweilen?“ (Jalics, Exerzitien, 20). Ob seine Exerzitien ohne das Wort extra nos gegen die Gefahr gefeit sind, im Hören auf den ‚Gott in mir‘ beim eigenen Selbst anzukommen, sei wenigstens gefragt.

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Fortschritt.“22 Dabei handle es sich aber noch um eine aktive Kontemplation. „Wird die Gnade stärker, hört auch diese Aktivität des Menschen auf. Die Aufmerksamkeit auf Gott wird von innen her gehalten.“23

4.

Exerzitien im Alltag

Jalics kontemplative Exerzitien sind als geschlossene Exerzitien ebenso wie als Exerzitien im Alltag durchführbar,24 doch soll nun eine stärker schriftgebundene und weniger kontemplative Form vorgestellt werden. Das Angebot25 von Exerzitien im Alltag geht auf eine Anregung des Ignatius zurück, der damit auf die Einsicht reagierte, dass nicht jeder Mensch seine Lebenszusammenhänge für eine längere Zeit hinter sich lassen kann. In der Beschreibung eines solchen Konzepts heißt es, die Exerzitien im Alltag seien ein Übungsweg, „der helfen will, aufmerksam und durchlässig zu werden für die Gegenwart Gottes im persönlichen Leben und in allem Leben“. Weiterhin seien sie ein Weg der Erfahrung Gottes, der dazu helfen könnte, „das Leben verstehen zu lernen als die Sprache, mit der Gott zu mir spricht“. Und sie seien ein Verwandlungsweg, der bereit mache anzunehmen, dass Gott ein Leben in Fülle schenken wolle. Die Exerzitien erstrecken sich über vier bis fünf Wochen, für die jeweils ein kleines, in der Tasche zu tragendes Heft inhaltliche Impulse anbietet. Das Heft enthält eine biblische Geschichte, aufgeteilt auf die Tage der Woche, einen Kommentar dazu als Anregung zur Besinnung, einen weiteren geistlichen Text und einen sehr kurz gehaltenen „Impuls für den Tag“26, der auf das Thema bezogen ist und sich wegen seiner Kürze gut einprägt. Zwanzig bis dreißig Minuten sollen sich die Exerzitiennehmer täglich, ungestört, betend mit den An22 23 24 25

A. a. O., 14. Ebd. A. a. O., 26f. Ich danke Frau Marianne Bonzelet (Kempen, Geistliche Familie Charles de Foucauld) sehr herzlich für das reichhaltige, von ihr selbst entwickelte Material, das sie mir für diese Untersuchung zur Verfügung gestellt hat, und dem ich in der Darstellung dieser Exerzitiengestalt folge. Die Zitate sind den „Hinweisen“ zum Modell „Da berühren sich Himmel und Erde“ aus dem Jahr 2006 entnommen. 26 So lauten beispielsweise die Impulse in der ersten Woche „geschenkte Augen-Blicke“ zu Gen 16,1f: „Wer hofft, ist sich selbst immer ein paar Schritte voraus“ (Friedolin Stier); zu Gen 16,3b.4a: „Wer von der Hoffnung lebt, fliegt ohne Flügel“ (Portugiesisches Sprichwort); zu Gen 16,4b–62: „Realisten brauchen Hoffnung. Ohne Hoffnung wird übersehen, welche Möglichkeiten die Gegenwart bietet“ (Hermann Reiter); zu Gen 16,6b–8: „Hoffen heißt leben: es heißt der Gegenwart Sinn geben, sich aufmachen, Grund haben weiterzugehen“; zu Gen 16,9–11.13a: „Schlimmer als der Verlust allen Reichtums ist der Verlust der Hoffnung.“ (Paul Claudel); zu Gen 16,13b.14a.15: „Die Hoffnung: eine geheimnisvolle, mächtige Kraft, die das Leben stärkt – den Leib wie die Seele“ (Wilhelm Mühs).

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regungen des Heftes beschäftigen, weitere zehn Minuten dienen am Abend dem betenden Tagesrückblick. Ein Begleitheft gibt Anregungen für das „Wie“ der Umsetzung, Verstehenshilfen, Textbausteine wie Vorbereitungsgebete, das Gebet der liebenden Aufmerksamkeit, Anleitungen zur Bildbetrachtung oder zur Meditation. An einem Abend in der Woche treffen sich die Exerzitiennehmer zum Teilen ihrer Erfahrungen, zur Hilfe bei Schwierigkeiten, zum gemeinsamen Gebet und zur Einführung in die Thematik der folgenden Woche. Außerdem können sie das Angebot von Einzelbegleitung nutzen; dies wird durch ein Wort Piet van Breemens SJ näher ausgeführt: „Geistliche Begleitung ist eine Hilfe, die ein Mensch einem anderen leistet, damit dieser in seinem Glauben wächst und in der Verwirklichung des göttlichen Willens mehr er/sie selbst wird.“ Damit die Erfahrung der Exerzitien im Alltag auch das künftige Alltagsleben prägen kann, wird schließlich dazu ermutigt, die Schritte im Beibehalten der Übungen klein zu halten – anderenfalls bestünde die Gefahr, „dass ich mehr dem idealen Bild meiner selbst nachstrebe als dem, wie mich Gott führen will“.

5.

Exerzitien auf der Straße

Einen anderen Schwerpunkt als die bisher vorgestellten Modelle haben die mit dem Namen von Christian Herwartz SJ verbundenen Exerzitien auf der Straße. Herwartz, der selbst in einer Fabrik gearbeitet hat, bezieht sich zum einen auf die Exerzitienerfahrung des Ignatius in Manresa, das Leben unter Bettlern, zum anderen auf die Grundentscheidung der 32. Generalkongregation des Jesuitenordens zur „Teilnahme am Kampf für Glauben und Gerechtigkeit“,27 auch die in Begegnungen führende „Betrachtung zur Erlangung der Liebe“28 des Ignatius ist für seine Konzeption wichtig.29 Wie alle anderen Exerzitien sind auch diejenigen auf der Straße eine geistliche Suchbewegung, bei der das „gegenwärtige absichtslose Wahrnehmen“30 von besonderer Bedeutung ist, nur eben an fremden, ungewohnten, ungern aufgesuchten Orten – in den Fluren der Sozialämter etwa, in Rotlichtvierteln, den Versammlungsorten der Wohnungslosen oder in Moscheen. Wahrgenommen werden die eigenen Berührungsängste, doch immer wieder auch der im fremden Anderen begegnende Christus (entsprechend Mt 25,31–46). Zentral für Her27 Herwartz, Sohlen, 14, s. auch 47. 28 Ignatius, Exerzitien, 71–73 (Nummer 230–237). 29 In der daraus resultierenden Hinwendung zu den Armen und Ausgegrenzten sieht er zudem Bezüge zu den französischen Arbeiterpriestern, den Arbeiterpfarrern in der DDR, den Kl. Brüdern und Kl. Schwestern Jesu und den englischen „Zeltmachern“ (vgl. dazu die Website der Christians in Secular Ministry, http://www.chrism.org.uk). 30 Herwartz, Standortbestimmung, 255.

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wartz’ Konzept ist dabei die Geschichte von Moses Begegnung mit JHWH in der Wüste, die Erkenntnis, angesichts des brennenden Dornbuschs, auf heiligem Boden zu stehen (Ex 3,1–9)31: „Wenn wir – und sei es nur für einen Moment – das Gewohnte verlassen, können wir mitten im Alltag auf etwas stoßen, das uns neugierig macht. Wenn wir diesen Impuls nutzen und losgehen, kann der Moment kommen, aufmerksam stehen zu bleiben. Dann sollten wir unsere Schuhe des Herzens ausziehen und ganz konkret die Schuhe des Weglaufens, der Distanz, des Größerseins, des Vergleichens, des Urteilens und des verletzenden Zutretens ablegen. Das Leben, ja Gott selbst will mit uns sprechen, an welchem Ort und aus welchem stacheligen Dornbusch heraus dies auch immer geschehen soll. Dann stehen wir plötzlich auf heiligem Boden, mitten auf den Straßen des Lebens. Wir sind zum Hören und Fragen eingeladen.“32

Während der Straßen-Exerzitien sind die Teilnehmenden in einfachen Gemeinschaftsquartieren, einer Wärmestube etwa, einem Obdachlosentreff oder einer Notunterkunft untergebracht – an den Orten, an denen die Menschen der Straße zu finden sind;33 das Essen, aus einer Gemeinschaftskasse finanziert oder von einer ‚Tafel‘ geholt, ist ebenfalls einfach. Über Tag sind sie auf den Straßen unterwegs; in manchen Städten gibt es Listen mit Aufbruchsorten, die von den meisten Teilnehmenden in ihrem Alltag eher gemieden würden. Die Übenden suchen „den Auferstandenen oder seine Boten und verlassen den privaten Lebensbereich, in dem sie die Gestaltungshoheit haben. Sie gehen auf die Straße, wo sie jedem begegnen können.“34 Verschiedene biblische Texte sind Verstehenshilfen für das Erlebte. Die am Tag wahrgenommenen Eindrücke münden in den von den geistlichen Begleitern gestalteten Gottesdienst am späten Nachmittag und in den verbindlichen Austausch, meist in kleinen Gruppen. Die letzte Phase der Exerzitien wird von der Geschichte der Jünger in Emmaus bestimmt (Lk 24,1–43). Wie die Jünger, die nach Jerusalem zurückkehren, sollen auch die Exerzitiennehmer in ihrem Alltag von den Begegnungen berichten, die ihr Herz brennen ließen.

6.

Evangelische Exerzitien

Für Luther hatten geistliche Übungen als Antwort auf das Geschenk der Rechtfertigung selbstverständlich zum Leben des Glaubens gehört, und diese Übungen hatten, wie alle dargestellten Formen der Exerzitien, nicht eine allein kognitive 31 Vgl. zu der für Herwartz’ Konzept zentralen Dornbuschgeschichte ausführlich Herwartz, Gegenwart, 29–65. 32 Herwartz, Sohlen, 53. 33 Vgl. a. a. O., 66: „Großer Komfort könnte das Üben der Offenheit behindern.“ 34 Herwartz, Standortbestimmung, 256.

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Ausrichtung, sondern zugleich eine leiblich-seelische Dimension. Dies ist in der weiteren evangelischen Entwicklung in Vergessenheit geraten und wird erst seit einigen Jahren – unter anderem befördert durch ökumenische Kontakte – zunehmend neu entdeckt.35 Peter Zimmerling, der für eine Wiedergewinnung der Mystik, doch ebenso der Spiritualität insgesamt für die evangelische Theologie wirbt, empfiehlt für die erneuerte evangelische Spiritualität vor allem das persönliche Gebet und die persönliche Bibellese als wesentliche Bestandteile,36 doch ebenso bedenkt er, neben Freizeiten und Glaubenskursen, auch die Möglichkeit von Exerzitien. Er erinnert hier an die von den Michaelsbrüdern nach dem Ersten Weltkrieg angebotenen Retreats sowie an die Exerzitienangebote evangelischer Kommunitäten, die bemüht seien, „methodische und spirituelle Erkenntnisse aus der katholischen Tradition mit unaufgebbaren Einsichten reformatorischer Theologie zu verbinden.“37 Zimmerling hält dies für fruchtbar, insofern es zu einer stärkeren spirituellen Sammlung führen könne, als es die Teilnahme am Gottesdienst vermag. Außerdem seien Exerzitien eine heilsame Unterbrechung des Alltags, stillten durch die Gesprächsangebote die Sehnsucht nach persönlicher Aussprache und ermöglichten durch die ganzheitliche Ansprache dem Exerzitiennehmer, „Zugang zu einer erfahrungsbezogenen Spiritualität [zu] finden“.38 Anna Elisabeth Diederich bietet in ihrem Exerzitienbuch, an Zimmerling anschließend und unter Rückbezug auf die reformatorischen particulae exclusivae, Anleitungen für ausdrücklich evangelische Exerzitien.39 So bewahre das solus Christus vor der Gefahr negativer mystischer Erfahrungen ebenso wie vor derjenigen narzisstischer Selbstwiederholung; das sola gratia erinnere an die Unverfügbarkeit der Erfahrungen und führe in eine kontemplative Haltung; das sola scriptura bestimme die Exerzitieninhalte. Das sola fide schließlich erinnere daran, dass evangelische Exerzitien in den Glauben einüben wollten, „Glauben nicht im Sinne eines einmaligen Vertrauensaktes, sondern als ein in der jewei-

35 Anm. des Hg.: Mit ökumenischer Unterstützung entstanden Exerzitien und schriftlich begleitete Exerzitien im Alltag im Bund der Evangelischen Kirchen in der DDR bereits in den 70er- und 80er-Jahren des 20. Jh. Zur historischen Entwicklung vgl. Zeitler, Herzlich danke ich, 41–81; zur Schwerpunktsetzung durch die evangelische Theologin Karin Johne vgl. a. a. O., 112–131. 36 Zimmerling, Spiritualität, 18–26.193–207.208–215. Weiterhin erinnert er an die sakramentale und die musikalische Dimension, die Gemeinschaftsdimension und an – von den Bekenntnisschriften ausdrücklich verworfene – geistliche Übungen wie Pilgern, Fasten und Heiligengedächtnis (216ff). 37 A. a. O., 278f. 38 A. a. O., 280. Zwar solle der Exerzitiennehmer über sein Leben nachdenken, doch ebenso solle er biblische Texte imaginieren; den Affekten, der Emotionalität und der Körperlichkeit sei Raum zu geben (ebd.). 39 Diederich, Exerzitien, 15–18.

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ligen Alltagssituation existentiell gelebtes Vertrauen auf Christus“.40 Demnach seien evangelische Exerzitien christusorientiert, kontemplativ, schriftgebunden und alltagsorientiert. Als eine sehr interessante und ergiebige Sonderform der evangelischen Exerzitien, die dabei ganz in Übereinstimmung mit den Exklusivpartikeln stehen, sind die „Exerzitien mit Kierkegaard“ anzusehen, die Albrecht Haizmann vorschlägt. Er weist darauf hin, dass Kierkegaard das Christentum als etwas Einzuübendes und den Glauben als Lernprozess verstanden habe, bei dem Christus selbst der Lehrende sei.41 Kierkegaard leite seine Leser zu einem Weg an, der in der „Dialektik von ‚Einladung‘ und ‚Halt‘“42 zu der Verheißung von Joh 12,32 führe („wenn ich erhöht werde von der Erde, so will ich alle zu mir ziehen“). Angesprochen würden dabei nicht nur die Einsicht, sondern auch die Affekte und die Imagination; die Übung ziele auf Verinnerlichung und die Integration in den Lebensvollzug. So führe Kierkegaard vom Staunen als dem Anfang des Lernens zur Sündenerkenntnis und zur Umkehr. In den Ausführungen zum ‚Halt‘ würden dem Leser Verlangsamungen zugemutet, die ihn zu Christus selbst führten: „Und kein Wort von Jesus Christus ist dir erlaubt dir anzueignen, du hast nicht das geringste Teil an ihm, nicht im allerfernesten Sinne Gemeinschaft mit ihm, wenn du nicht so gleichzeitig geworden bist mit ihm in seiner Erniedrigung, daß du ganz wie die damals Gleichzeitigen hast aufmerksam werden müssen auf die Vermahnung von ihm: selig der sich nicht an mir ärgert! Es ist dir nicht erlaubt, Christi Worte hinzunehmen und ihn fortzulügen.“43 An verschiedenen Stellen betone Kierkegaard dieses Ärgernis, das allein durch den Glauben überwunden werden könne: „O, das Leidensgeheimnis, Zeichen des Ärgernisses sein zu müssen, um des Glaubens Gegenstand sein zu können.“44 Ärgernis und Leiden seien es, die auch den Übenden selbst erwarteten: „Christi Leben auf Erden, es ist das Paradigma; zur Gleichheit mit ihm soll ich mein Leben zu bilden suchen, und soll es jeder Christ auf Erden.“45 „Das Entscheidende am christlichen Leiden ist: Freiwilligkeit, und daher Möglichkeit des Ärgernisses für den, der leidet.“46 Vermeidbar sei dies nicht, da nur das Gleichzeitigwerden mit Christus, das Gedenken an ihn, helfe, „zu vergessen, was mich von ihm abziehen will.“47 Der 40 A. a. O., 18. Das Buch enthält dann eine Fülle von Vorschlägen für die Umsetzung in konkrete Exerzitienangebote. 41 Vgl. Haizmann, Exerzitium, 176. 42 A. a. O., 181, Anm. 14. Die Einladung ist Mt 11,28, der Heilandsruf der Halt Mt 11,6, „selig ist, wer sich nicht an mir ärgert“. 43 Kierkegaard, Einübung, 35. Diese Meditation könnte eine ähnliche Wirkung haben wie die ignatianischen Übungen ab der zweiten Woche. 44 A. a. O., 94. 45 A. a. O., 102. 46 A. a. O., 104; Hervorhebung im Original. 47 Haizmann, Exerzitium, 194.

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von Christus Gezogene solle Christus nicht loslassen, ihn festhaltend solle er die Wirklichkeit durchleben.48 Ziel der von Kierkegaard angeleiteten Übung ist die Nachfolge, die imitatio Christi. Auch das Exerzitienmodell Kierkegaards ist mit dem Alltagsleben durchaus vereinbar, wie generell im evangelischen Raum die „Gottsuche im Alltag“ gebräuchlicher ist als etwa diejenige in der Einsamkeit oder in klösterlicher Gemeinschaft.49 Ebenso sind evangelische Formen der praxis pietatis in der Regel etwas durchaus Alltägliches, mit dem Tagesgeschäft Vereinbares – eine Andacht am Morgen mit einem Psalm, den Losungen, einem Gesangbuchlied, Luthers Morgensegen; Tischgebete; das Nachtgebet. Damit dies als „Exerzitium im Alltag“ anzusehen ist, braucht es zum einen das aktive Bemühen, Gott auf diesem Wege im eigenen Leben mehr zu finden, zum anderen braucht es einen Begleiter, eine Begleiterin des Wegs.

7.

Die geistliche Begleitung

Niemand sollte im Bereich des christlichen Glaubens allein unterwegs sein – schon die Jünger wurden von Jesus zu zweit auf den Weg geschickt. Für Exerzitien gilt das in besonderer Weise, denn zum einen ist Wegweisung nötig, zum anderen ist in der Stille der Meditationen oft nicht nur die Stimme Gottes zu hören. Es braucht also einen Menschen, der die einzelnen Schritte anleitet, der im Erleben des Exerzitiennehmers mittels der Unterscheidung der Geister Gottes Weg zu erkennen hilft und den Übenden mit seinem Gebet begleitet.50 Doch auch außerhalb der Exerzitien gilt: Jeder Mensch, der Spiritualität leben will, braucht nicht nur ganz allgemein die Gemeinschaft der Mitchristen zur Stützung und zum Leben seines Glaubens, er braucht ganz speziell einen Menschen, der auf demselben Weg ist, und zu dem er darum mit seinen Erfahrungen, mit seinen Fragen, mit seinen Schwierigkeiten und Nöten kommen kann. Er braucht jemanden, der ihn kennt und versteht, und dem gegenüber er zu völliger Offenheit bereit und in der Lage ist. Er braucht jemanden, der in Zweifelsfällen raten kann, der bei Verirrungen zurechtweist und dem er so weit vertraut, dass er seiner Weisung folgt und – was schwerer ist – sich gegebenenfalls die Zurechtweisung gefallen lässt. 48 Vgl. a. a. O., 196. 49 Vgl. für die verschiedenen Wege der Gottsuche Dahlgrün, Spiritualität, 4–65, („Gott suchen im Alltag“ 43–54). 50 Vgl. Diederich, Exerzitien, 34. Allein das Moment der Anleitung rechtfertigt m. E., hier eher von Beratung oder sogar Führung zu sprechen, wie es die englische Rede vom „spiritual director“ ungescheut tut; vgl. etwa Jeff, Spiritual Direction.

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Über was für besondere Eigenschaften muss ein solcher Mensch verfügen, wie und wo ist er zu finden? Dass es nicht irgendein beliebiger Mitmensch sein kann, ist angesichts der Erfordernisse deutlich. Es kann nicht einmal irgendein beliebiger Geistlicher sein, denn die Gaben sind nicht gleichermaßen an alle Christen verteilt, und auch die Gabe der Unterscheidung der Geister ist nicht jedem gegeben (1Kor 12,10).51

7.1

Erfordernisse

Unverzichtbar für einen Ratgeber in geistlichen Belangen, darüber sind sich alle Autoren spiritueller Schriften einig, ist, neben der selbstverständlich zu erwartenden Klugheit und der Gabe der discretio, die eigene geistliche Praxis und Erfahrenheit in geistlicher Führung. Weiterhin ist Menschenkenntnis erforderlich, die die Möglichkeiten und Grenzen des Gegenübers einzuschätzen in der Lage ist, aber auch die Fähigkeit, eigene Interessen außer Acht zu lassen in einer Haltung der Liebe zum Ratsuchenden.52 Hinzutreten sollte etwas, das Philipp Jacob Spener „Erleuchtung“ nennt, eine erkennbare Lebendigkeit des Glaubens und der Gottesbeziehung, die spürbare, sich dem anderen mitteilende Praxis des Gebets. In der „Philokalie“ wird noch eine weitere Forderung erhoben, die der Irrtumslosigkeit. „Und das Zeichen dafür, daß er sich nicht irrt, ist nichts anderes als daß das, was er sagt, tut und denkt, in jeder Hinsicht von der göttlichen Schrift bezeugt wird.“53 Der Ratgeber, die Ratgeberin muss also ein geistlicher Mensch sein, muss den Weg selbst gehen und darauf mindestens so weit gekommen sein wie der Ratsuchende. Er muss beten und den Ratsuchenden betend begleiten. Er oder sie braucht geistliche, fachliche, persönliche Autorität. Er muss Mut haben, um seinem Gegenüber auch Härten nicht zu ersparen. Und er selbst sollte seinerseits regelmäßig eine geistliche Begleitung aufsuchen. Der Karmelit Kees Waaijman formuliert, seine Betrachtung zahlreicher Quellen und die Überlegungen zum Verlauf spiritueller Prozesse abschließend, die folgenden, gegenüber dem bisher Gesagten teilweise anders akzentuierten Anforderungen: Der geistliche Ratgeber muss über Wissen, Erkenntnis und Einsicht verfügen, Wissen um die Struktur und die wahrscheinlichen Schritte eines Lebens in der praxis pietatis, Erkenntnis der dialogischen Struktur und 51 Die Fähigkeiten geistlicher Ratgeberschaft sind also nicht zwingend an das Amt, an Ordination oder Weihe, gebunden. Nicht selten haben sich sog. Laien, und häufig Frauen, als sehr fähige geistliche Ratgeber erwiesen. 52 So Franz von Sales, Philothea, 34: „Er soll voll Liebe, Wissenschaft und Klugheit sein. Fehlt eine dieser Eigenschaften, so bist du in Gefahr.“ 53 So Gregorios der Sinaite, Philokalie, V/438.

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Einsicht in das Handeln Gottes am Menschen: „Insight into the transition from human activity to God’s working is of essential importance for a proper spiritual accompaniment.“54 Seine Unterscheidungsgabe muss den äußeren Anschein durchschauen und zwischen scheinbarem und echtem Fortschritt auf dem spirituellen Weg unterscheiden können. Er muss über eigene Erfahrungen verfügen und imstande sein, diese zu reflektieren. Außerdem muss er sich Rechenschaft ablegen über seine eigenen Motive im Hinblick auf seine Bereitschaft, die Begleitung eines Menschen zu übernehmen: „Am I keeping someone in accompaniment, because I have a need for this? Do I dare to admit that a certain accompaniment exceeds the limits of my competence?“55 Und schließlich sollte er sich die Frage stellen, ob tatsächlich er derjenige ist, der diesen Ratsuchenden begleiten sollte. „He must, after all, know that every spiritual way is unique and that not everyone is suited to everyone. It calls for experience to assess this situation correctly.“56 Sehr wichtig sind zudem die von Peter Hundertmark festgehaltenen Kennzeichen und Regeln57: Es handle sich bei geistlicher Begleitung um eine frei eingegangene und ausgehandelte Beziehung zweier verantwortlicher Erwachsener. Der Ratsuchende müsse mit seinem Alltag zurechtkommen und psychische Gesundheit und Stabilität mitbringen. Der Ratgeber mache sich nie selbst zum Gegenstand des Gesprächs, wache über die stimmige Balance von Nähe und Distanz, wahre die Vertraulichkeit, verfolge keine eigenen Interessen, achte auf seine Grenzen und sorge für sich, bemühe sich um ein geistliches Leben und lasse sich selbst geistlich begleiten. Entscheidend ist für Hundertmark bei dem allen, „dass Gott selbst in Jesus Christus der eigentliche Begleiter ist“.58

7.2

Suchen und Finden

Nicht jeder Ratgeber, gleich wie fähig er oder sie sein mag, passt für jeden Ratsuchenden, darin ist Kees Waaijman zuzustimmen – wenn kein Vertrauensverhältnis entsteht, nützt die stärkste Begabung nicht. Dass ein wirklich „passender“ Ratgeber nicht leicht zu finden ist, muss nicht eigens betont werden; nicht umsonst hat Franz von Sales das Diktum der Teresa von Avila, geeignet sei einer unter tausend, noch verschärft: Nur einer unter zehntausend komme ernstlich in Frage.59 Doch wo ist dieser eine zu finden? 54 55 56 57 58 59

Waaijman, Spirituality, 920; zum gesamten Zusammenhang s. 895–920. A. a. O., 920. Ebd. Hundertmark, Ethos. A. a. O., 131. Franz von Sales, Philotea, 34.

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Aussichtsreich ist eine Suche zunächst grundsätzlich in Orden oder Kommunitäten, die über ein höheres Maß an Erfahrung in geistlicher Begleitung oder Führung verfügen, als es sich in klassischen Ortsgemeinden und Parochien findet. Doch sollte der Blick hier nicht zu eng sein. In vielen Gemeinden gibt es Menschen, die über große Begabungen verfügen, ohne zugleich in Ämter zu drängen, und mindestens evangelische Christen täten gut daran, den Gedanken des „Priestertums aller“ auch in dieser Hinsicht ernst zu nehmen. Grundsätzlich empfiehlt es sich, wie in allen anderen geistlichen Belangen auch, die Suche im Gebet zu begleiten. Hat der Ratsuchende dann jemanden gefunden, sollte er die im vorigen Abschnitt benannten Kriterien anlegen und zugleich überprüfen, ob er zu wirklich schonungsloser Offenheit gegenüber diesem Menschen imstande ist – es ist kein anonymes Gegenüber, dem ich in solchen Gesprächen die Abgründe meines Herzens anvertraue, und ich muss in der Lage sein, meine wahrscheinlich vorhandene Scham zu überwinden. Sind alle diese Fragen positiv beantwortet, scheint mir der Rat des Franz von Sales weise: „Setze dein Vertrauen nicht auf seine Person noch auf sein menschliches Wissen, sondern auf Gott. Er wird dir seine Gunst erweisen und durch diesen Menschen zu dir sprechen, ihm das in Herz und Mund legen, was deinem Glück dient. Deshalb musst du auf ihn wie auf einen Engel hören, der vom Himmel herabgestiegen ist, um dich emporzuführen.“60 Damit ist nicht ausgeschlossen, dass im Laufe des geistlichen Weges ein anderer Ratgeber gesucht werden muss, doch ist eine solche Entscheidung nur nach gründlichem Bedenken und keinesfalls bei dem ersten Auftreten von Unmut oder Unzufriedenheit zu treffen.

7.3

„Auf ihn wie auf einen Engel hören“?

Die Autoren der „Philokalie“ fordern von jedem gottsuchenden Menschen ausdrücklich, sich einen geistlichen Vater zu suchen, sich ihm bedingungslos unterzuordnen und ihm Gehorsam zu leisten. „Vater“ wird hier somit klassisch patriarchal verstanden, der „Vater“ ist ein weiser, erfahrener Mann mit Autorität, er ist ein „Führer“. Generell haben die Quellen aus dem Bereich geistlicher Literatur mit dieser Vorstellung eines direktiv und autoritär, sogar streng vorgehenden geistlichen Begleiters keinerlei Schwierigkeiten, im Gegenteil: Von der Alten Kirche an bis in die Neuzeit wird geistliche Führung als unverzichtbar angesehen. Demgegenüber wird heute oft auf die Abneigung des neuzeitlichen Individuums hingewiesen, sich Autoritäten unterzuordnen. Diese Scheu vor der Möglichkeit, die Autonomie des modernen Menschen zu hinterfragen oder sogar 60 Ebd.

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zu gefährden, ist jedoch nicht in allen neuzeitlichen Zusammenhängen anzutreffen. So sprechen Managementtheorien in administrativen Fragen von „Leitung“, hinsichtlich des Umgangs mit Menschen aber ganz selbstverständlich von „Führung“ – und in die Leitung gelangt nur, wer Führungsqualifikation unter Beweis gestellt hat. Offensichtlich ist, wenn es um Ziele geht, auch Führung erforderlich. Nun kann es im Hinblick auf das Einrichten des eigenen Lebens durchaus ein „richtig“ und ein „falsch“ geben; das Abweichen von einem Weg kann Gefahr bedeuten (gemäß den Bekenntnisschriften sogar die Gefahr, aus der Taufgnade hinauszufallen) – es sollte also jemanden geben, der vor Umwegen oder Abwegen warnen kann. Dabei ist aber zu bedenken, dass es Sicherheit im geistlichen Leben nicht gibt; auch Begleiter sind – gegen das Votum der Philokalie – irrtumsfähig. Darum bleibt die Verantwortung für den eigenen Weg und das eigene Leben beim Ratsuchenden, seine Vernunft ist nicht zu dispensieren.

7.4

Frei zum Gehorsam

Der Mensch ist als Geschöpf Gottes auf die Beziehung zu Gott hin geschaffen und von seinem Schöpfer in die Freiheit der eigenen Entscheidung für das Gute oder das Böse entlassen. Diese Freiheit führt unter den Bedingungen dieser Welt, selbst wenn man dem Menschenbild Augustins und seinem non posse non peccare nicht völlig zustimmen möchte, zur Sünde, in die jeder Mensch in der einen oder anderen Weise verstrickt ist, die ihn bindet und die dazu führt, dass der Mensch sein In-sich-selbst-verkrümmt-Sein nicht aus eigenem Willen aufbrechen kann. Darum ist der Mensch angewiesen auf eine erneute Befreiung, die Erlösung durch Christi Tod und Auferstehung aus Gottes Gnade. Nimmt der Mensch Christi Erlösungshandeln im Glauben an, wird er durch das Wirken des Heiligen Geistes, der ihm in der Taufe gegeben wird, frei zum Widerstand gegen die Sünde, frei zum Guten, frei auch, Gott und den Nächsten und sich selbst zu lieben (Röm 8,1f). In und zu dieser Freiheit zum Guten bleibt er allerdings auf das Wirken Gottes in ihm angewiesen, und er bleibt verwiesen auf seine Bestimmung, die Gottes- und Nächstenliebe. Der Mensch ist befreit, aber er steht damit nicht im luftleeren Raum völliger Selbstbestimmtheit, er hat den einen Macht-Raum, den der Sünde, verlassen können, doch nur, indem er einen anderen Macht-Raum, den Raum Gottes, betritt (Gal 2,19a). Die christliche Freiheit ist nicht Freiheit „an sich“,61 sie ist die Freiheit der Liebe, die das Gesetz Christi erfüllt, und sie ist Freiheit zur Liebe 61 In der philosophischen Ethik wird diese Freiheit „an sich“ auch als Willkür bezeichnet und von derjenigen unterschieden, die sich nach Gründen, wie etwa der Liebe richtet.

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(1Kor 9,21). Der Verzicht auf die willkürliche Freiheit ist also Gehorsam gegenüber dem Liebesgebot (Gal 6,2). Die Freiheit führt, weil sie aus der Liebe kommt, in die Liebe und damit in die Knechtschaft hinein, zugleich aber in die Freiheit von sich selbst und von der eigenen Freiheit. Wer diese Freiheit nicht im Opfer des Dienens bewährt, verleugnet die Liebe als Grund der Freiheit (1Kor 9,19).62 Gehorsam gegenüber einem geistlichen Ratgeber ist also im Vertrauen darauf, dass der Ratgeber Gott untersteht und seinerseits auf Gott zu hören und ihm zu gehorchen versucht, sinnvoll, gut, richtig. Gehorsam ist auch darum gut und richtig, weil er nur möglich ist in einer Haltung der Demut, die er gleichzeitig einübt. Und Demut ist, wenn auch gegenwärtig nicht sehr populär – bei aller Freude an der eigenen Geschöpflichkeit und bei allem Bewusstsein von deren Würde – die einzig angemessene Haltung des Geschöpfes gegenüber seinem Schöpfer und Erlöser. Freilich dispensiert der Gehorsam nicht, nach Art eines „Kadavergehorsams“, völlig von eigenem Hinfühlen und Überdenken; hier widerspreche ich der „Philokalie“ und anderen Texten der Tradition, nicht jedoch den biblischen Zeugnissen. Der Mensch soll die Verantwortung für sein eigenes Leben nicht völlig in die Hand eines anderen Menschen legen, denn auch ein geistlicher Ratgeber ist nicht vor Rückfällen in seiner praxis pietatis geschützt, auch er ist auf die Umkehr und die Gnade Gottes bleibend angewiesen.63 Ein in freiem Gehorsam gewähltes, selbst verantwortetes, bewusstes Befolgen des geistlichen Rates ist unverzichtbar – und das gilt noch einmal mehr für die Zeit der Exerzitien.

Literatur Quellen Die Benediktusregel lateinisch/deutsch, hg. im Auftrag der Salzburger Äbtekonferenz, Beuron 32001. Herwartz, Christian, Exerzitien auf der Straße – Standortbestimmung, GuL 87/3 (2014) 252– 260. –, Brennende Gegenwart. Exerzitien auf der Straße (Ignatianische Impulse 51), Würzburg 2011. –, Auf nackten Sohlen. Exerzitien auf der Straße (Ignatianische Impulse 18), Würzburg 2 2010. 62 Martin Luther nimmt dieses Paradox in seiner Schrift „Von der Freiheit eines Christenmenschen“ nachdrücklich auf. 63 Außerdem wächst die Kenntnis der Seelen, die Fähigkeit zur Einschätzung der Äußerungen des jeweils anderen im Laufe der Zeit auf beiden Seiten.

Exerzitien und geistliche Begleitung

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Ignatius von Loyola, Die Exerzitien, Einsiedeln/Freiburg 121999. Jalics, Franz, Kontemplative Exerzitien. Eine Einführung in die kontemplative Lebenshaltung und in das Jesusgebet, Würzburg 92005. Kierkegaard, Sören, Einübung im Christentum, Gesammelte Werke und Tagebücher 18, 26. Abteilung, übersetzt von Emanuel Hirsch, Simmerath 2003. Luther, Martin, Grund und Ursach aller Artikel D. Martin Luthers, so durch römische Bulle unrechtlich verdammt sind (1521), in: Martin Luthers Werke, Kritische Gesamtausgabe Bd. 7 (WA 7), hg. von Joachim Karl Friedrich Knaake u. a., Weimar 1897, 299–457. –, Vorrede zur Deutschen Messe und Ordnung des Gottesdienstes (1526), in: Martin Luthers Werke, Kritische Gesamtausgabe Bd. 19 (WA 19), hg. von Joachim Karl Friedrich Knaake u. a., Weimar 1897, 72–80. Philokalie der heiligen Väter der Nüchternheit. Durch sie wird mittels der sittlichen Philosophie in praktischem Tugendleben und in Beschauung der Geist gereinigt, erleuchtet und vollendet, Band 1–6, Hg. nicht angegeben [Pater Dr. Georg Hohmann OSA], Würzburg 2004. von Sales, Franz, Philotea. Anleitung zum frommen Leben, Eichstätt 2005. Weisung der Väter. Apophthegmata Patrum, auch Gerontikon oder Alphabeticum genannt. Übersetzt von Bonifaz Miller, in: Sophia. Quellen östlicher Theologie Bd. 6, Trier 6 2003.

Forschungsliteratur Dahlgrün, Corinna, Die Übung des guten Lebens. Praktisch-theologische Aspekte der Askese in lutherischer Sicht, BThZ 32/1, 2015, 159–180. Dahlgrün, Corinna, Christliche Spiritualität. Formen und Traditionen der Suche nach Gott. Mit einem Nachwort von Ludwig Mödl, Berlin/Boston 22018. Diederich, Andrea Elisabeth, Evangelische Exerzitien. Anleitung – Bausteine – Anwendung, Göttingen 2009. Haizmann, Albrecht, Sören Kierkegaards ‚Einübung im Christentum‘ (1850/ 55) als evangelisches Exerzitium, in: Schulz, Heiko/Stewart, Jon/Verstrynge, Karl (Hg.), Kierkegaard Studies. Yearbook 2010, Berlin/New York 2010, 175–199. Hundertmark, Peter, Ethos Geistlicher Begleitung, in: ders. / Mückstein, Walter (Hg.), Brennpunkt Leben – Brennpunkt Gott. Handbuch geistliche Begleitung, Ostfildern 2012, 131–133. Jeff, Gordon, Spiritual Direction for Every Christian, London 22007. Lambert, Bernhard Maria, Ruminatio, in: Praktisches Lexikon der Spiritualität, hg. von Christian Schütz, Freiburg i. Br. 1988, Sp. 1072–1074. Lambert, Willi SJ, Landschaft geistlichen Begleitens, in: Hundertmark, Peter / Mückstein, Walter (Hg.), Brennpunkt Leben – Brennpunkt Gott. Handbuch geistliche Begleitung, Ostfildern 2012, 14–26. Waaijman, Kees, Spirituality. Forms, Foundations, Methods, Studies in Spirituality Supplement 8, Leuven/Paris/Dudley,MA 2002. Zeitler, Barbara, Herzlich danke ich für alle Briefe. Geistliche Begleitung nach Karin Johne, Leipzig 2012. Zimmerling, Peter, Evangelische Spiritualität. Wurzeln und Zugänge, Göttingen 22010.

Jürgen Ziemer

Spiritual Care Spirituelle Begleitung im Kontext von Palliative Care

Seit einigen Jahren ist Spiritual Care im Bereich von Palliativmedizin und Seelsorge intensiv im Gespräch. Der Begriff ist aus den USA importiert, wo traditioneller Weise klinische Einrichtungen in einem viel engeren Kontakt zu religiösen, kirchlichen und spirituellen Institutionen und Personen geführt werden, als dies hierzulande überhaupt denkbar ist.1 „Spiritual Care“ ist kaum ins Deutsche übersetzbar, wenn man die inspirierende Vieldeutigkeit2 dieses Titels erhalten will.

1.

Was ist Spiritual Care?

Eine weitgefasste Definition bietet Traugott Roser: „Spiritual Care ist die Organisation gemeinsamer Sorge um die individuelle Teilnahme und Teilhabe des Patienten an einem als sinnvoll erfahrenen Leben im umfassenden Verständnis.“3 Der primäre Ort dieser Sorge ist die Palliative Care, also die medizinische und pflegerische Herausforderung durch die Menschen, die ihre oft letzte Lebensphase in einem klinischen Umfeld erleben.4 Welche Grundforderungen an Pflege und Betreuung zu stellen sind, hat die Weltgesundheitsorganisation (WHO) im Jahr 2002 festgelegt: „Palliativbetreuung dient der Verbesserung der Lebensqualität von Patienten und ihren Familien, die mit einer lebensbedrohlichen Erkrankung konfrontiert sind. Dies geschieht durch Vorbeugung und Linderung von Leiden […] und Behandlung von 1 Einen guten Eindruck dazu vermittelt Koenig, Spiritualität. 2 Doris Nauer findet fünfzehn Varianten des Verstehens für Spiritual Care: Nauer, Spiritual Care, 14–19. 3 Roser, Spiritual Care, 463. 4 Prinzipiell ist bei Spiritual Care das ganze Gesundheitswesen im Fokus. Vgl. dazu etwa Spiritual Care 2016/2 über Schwangerschaft und Geburt; 2016/5 über Kinder und Jugendliche.

Spiritual Care

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Schmerzen und anderen Problemen physischer, psychosozialer und spiritueller Natur.“5

Spiritual Care steht also für „die umfassende Sorge um den kranken Menschen, die den Berufen des Seelsorgers und des Arztes und im Grunde allen Berufen im Gesundheitswesen gemeinsam ist.“6 Spiritual Care ist eine gemeinschaftliche Aufgabe und fordert zu einer multiprofessionellen Zusammenarbeit im Dienste des Patienten heraus. Die Seelsorge ist daran beteiligt wie die Palliativmedizin und die gesamte pflegerische Betreuung. Recht verstanden ist sie das Ende einer sektoralen Patientenversorgung. Sie verlangt in hohem Maße Kooperation und Kommunikation der hier engagierten Professionen. Worum es geht, hat Allan Kellehaer auf eine einfache Formel gebracht: für Patienten Räume der „Selbstsorge“ zu öffnen und dafür zu sorgen, dass sie sich zugleich einbezogen fühlen in die „gemeinschaftliche Sorge“ um Sinn und Geborgenheit.7 Bisher ist Spiritual Care eher ein konzeptueller Begriff. Er wird dadurch konkretisiert, dass es seit 2010 am Klinikum der Universität München zwei ökumenisch besetzte Professuren für Spiritual Care gibt, deren zentrale Aufgabe es ist, „Spiritualität als potentielle Ressource in der Krankheitsverarbeitung weiter zu erschließen im Zusammenwirken verschiedener Berufsgruppen“.8 Inzwischen ist auch an der Universität Zürich eine ähnliche Professur eingerichtet worden. Nicht zuletzt im Schlepptau dieser Professuren hat es in den letzten Jahren sowohl von palliativmedizinischer Seite wie auch von der Praktischen Theologie her eine engagierte Diskussion über das inhaltliche Profil und die organisatorische Form von Spiritual Care gegeben.

2.

Wege zu Spiritual Care

Spiritual Care kommt nicht von ungefähr. Der Weg dahin wurde geebnet durch eine ganze Reihe von Veränderungen und Innovationen in Kultur, Medizin, Religion und Gesellschaft, von denen wenigstens einiges hier skizziert sei: – Zunächst muss an dieser Stelle die enorme Karriere des Begriffs der Spiritualität benannt werden. Was Spiritualität ist, wussten wir vor einer Generation kaum. Heute ist Spiritualität für weite Bereiche unseres kulturellen und 5 6 7 8

Zitiert nach: Borasio, Sterben, 56. A. a. O., 94. Heller/Heller, Spiritualität, 14; vgl. Nauer, Spiritual Care, 19. Zitiert bei: Kohli Reichenbach, Spiritualität, 16.

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religiösen Erlebens zu einem allgemeinen Sehnsuchtswort geworden.9 Spiritualität deutet auf die Offenheit des Menschen für eine Verbundenheit zu anderen hin, zur Natur und zum universalen Sein und für sein Verlangen nach Tiefe und Sinnerfahrung in den einzelnen Phasen seiner Biografie. Gerade in einer Welt, die durch Rationalität und gnadenloses Effizienzdenken geprägt ist, wächst bei den Einzelnen das seelische Bedürfnis, Zusammenhänge zu entdecken und sich innerlich zu gründen in etwas, das Tiefe und Bestand hat, jenseits von Kommerz, Unterhaltung und Konkurrenz. Dieses moderne Spiritualitätsverständnis ist oft sehr vage und ziemlich unbestimmt. Gerade deshalb übt es eine Anziehungskraft aus auf viele Menschen, denen die Bindung an Kirche und Religion längst verlorengegangen ist. Besonders intensiv tritt dieses Bedürfnis zutage in den Randzonen des individuellen Lebens, wenn wir uns als Menschen in unserer Fragilität und Verletzlichkeit erfahren.10 – Auf diesem sehr breiten Hintergrund vollzieht sich im Bereich der Medizin, speziell der Palliativmedizin, ein Neuansatz, der die einseitige naturwissenschaftliche Sicht auf den Menschen ausweitet und seine geistigen, emotionalen und spirituellen Bedürfnisse konsequent in den Blick nimmt. Das klingt naheliegend und wenig sensationell. Wenn man aber das bisherige Selbstverständnis der Medizin als exklusiv wissenschaftsbasierte Heilkunde in Rechnung stellt, handelt es sich um eine therapiegeschichtliche Revolution. Mit einem Mal kommen ganz neue Herausforderungen auf den Arzt zu, die wesentlich zum Heilungsauftrag dazugehören. Es scheint nicht unangemessen, hier von einem „Spiritual Turn“ zu sprechen.11 Worauf das inhaltlich und methodisch hinausläuft, ist im Grunde nicht neu. Der Arzt Gian Domenico Borasio zitiert Wilhelm von Humboldt: „Es ist unglaublich, wieviel Kraft die Seele dem Körper zu leihen vermag!“12 Aber diese Art von Wissen war unserer modernen Medizin verloren gegangen. Neuanfänge sind nötig, um spirituelle Kommunikationsformen in die Therapie zu integrieren. Dabei geht es dann nicht primär und allein um die Erzielung therapeutischer Erfolge, sondern um einen heilsamen Umgang mit der gegebenen Krankheitssituation. Palliativmedizin wird Palliative Care. – Eine wichtige Bedeutung für die Entwicklung des Spiritual-Care-Gedankens stellt die Hospizbewegung dar. Cicely Saunders, Krankenschwester und Ärztin, eröffnet 1967 im Londoner Südosten das St. Christopher‘s Hospice für schwerstkranke Patienten, nachdem sie schon vorher mit ambulanter Hospizarbeit ihre Vorstellungen von einer menschengerechten Betreuung Ster9 Grundlegende Ausführungen zur „Spiritualität im Gesundheitswesen“ bei Roser, Spiritual Care, 429ff. 10 Für den Zusammenhang von Spiritualität und Gesundheit vgl.: Achtner, Gesundheit, 247ff. 11 Vgl. Frick; „Spiritual Turn“. 12 Borasio, Sterben, 88.

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bender umgesetzt hatte. Inzwischen hat sich die Idee weltweit durchgesetzt und zu einer Vielzahl von Hospizgründungen geführt. Die Hospize, ambulant oder stationär, bieten den Patienten die Möglichkeit, ihre verbleibende Lebenszeit so zu gestalten, wie sie es für sich wünschen. Hier werden medizinische, sozialpsychologische, pflegerische und spirituelle Aspekte des Sterbebeistands als eine Einheit gesehen. Hospize sind „Inseln der Humanität“13 in einer Welt, in der viele Menschen unbeachtet und einsam sterben. Als solche Inseln sind sie auch Wegbereiter einer modernen Palliative Care.14 – Ein wichtiger Meilenstein auf dem Weg zu Spiritual Care stellt auch die Neuinterpretation dessen dar, was wir unter Gesundheit verstehen. Dazu hat die WHO im Zusammenhang mit ihrem kontinuierlichen Bemühen um Gesundheitsförderung weltweit entscheidend beigetragen.15 In ihrer Charta von Bangkok 2006 geht sie davon aus, dass das „Erreichen des höchstmöglichen Gesundheitsstandards“16 ein fundamentales Menschenrecht darstelle. Gesundheitsförderung basiere genau darauf. Sie folge einem Konzept, das „Gesundheit als einen Bestimmungsfaktor für Lebensqualität einschließlich des psychischen und geistigen Wohlbefindens“17 begreife. Die letzte Passage lautet im englischen Original: „encompassing mental and spiritual wellbeing.“18 Ohne um Wörter zu streiten, wird deutlich, dass Gesundheit über die körperlichen Bedürfnisse hinaus eng mit der psychischen und seelischen Befindlichkeit von Menschen zusammenhängt. Von diesen Zusammenhängen geht auch das gesundheitspolitische Konzept der Salutogenese aus, das Aaron Antonovsky begründet hat. Gesundheit ist danach etwas, das viel zu tun hat mit der subjektiven Einstellung der Personen. Antonovsky spricht von einem „Kohärenzgefühl“, das die Einzelnen dazu befähigt, auch bedrohlichen Widerfahrnissen nicht hilflos gegenüberzustehen. Dazu gehört, dass man die Dinge, die einem widerfahren, verstehen und zuordnen kann, dass man entdeckt, wie sie zu gestalten und zu handhaben sind und dass man darin eine Bedeutung, einen Sinn, zu erkennen vermag.19 Diese Verhaltensweisen sind mehr als rein kognitive Bewältigungsmechanismen, sie sollten jedenfalls nicht so verstanden werden. Sie haben einen spirituellen Aspekt. Hier ist die

13 14 15 16

Weiß, Sterben, 12. Zu Spiritual Care im Hospiz vgl. Icking, Hospiz; ferner: Heller/Heller, Spiritualität, 93–114. Vgl. dazu: Stempin, Gesundheitspolitik, 60–63. Die deutsche Version der Charta ist zu finden unter: www.who.in/healthpromotion/conferen ces/6gchp/BCHP/German_version.pdf; abgerufen am 21. 08. 2017. 17 Ebd. 18 Die englische Version findet sich unter www.who.int/healthpromotion/Milestones_Health_ Promotion_05022010.pdf ?ua=1; abgerufen am 21. 08. 2017. 19 Vgl. von Heyl u. a., Salutogenese, 13–15.

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Sichtweise des Glaubens und der Hoffnung von hoher Bedeutung, um in einer etwaigen Krankheitssituation bestehen zu können.20 – Als ein letzter Aspekt für die Entwicklung von Spiritual Care in der deutschen Gesellschaft mag noch hingewiesen werden auf die radikale Veränderung der religiösen Landschaft in unserer Gesellschaft. Der Prozess der Säkularisierung schreitet voran, freilich in unterschiedlicher Intensität, in Ostdeutschland stärker als in Westdeutschland, bei Protestanten mehr als bei Katholiken.21 Im Ergebnis ist klar, dass der prägende Einfluss religiöser Institutionen auf die Lebenseinstellungen der Menschen geringer wird. Alternative Religions- und Spiritualitätsformen treten medial auffällig in Erscheinung, werden aber selten in Anspruch genommen, und die „Prozesse religiöser Individualisierung“ fallen „nur schwach“ aus. So sind viele Menschen in Religionsdingen ungeübt, oft auch unfähig, ihre spirituellen Sehnsüchte und Fragen zu artikulieren und erst recht hilfreich damit umzugehen.22 In kritischen und finalen Lebenssituationen wird dann etwas spürbar von der spirituellen Not der leidenden Menschen. Oft ist unter den Angehörigen und Freunden niemand, der hier in angemessener Weise hilfreich sein kann. Da wird das Angebot von Spiritual Care relevant – professionell und auf die einzelne Person ausgerichtet, spirituell, religiös offen und kirchlich unabhängig.

3.

Spiritual Care als Praxis spiritueller Begleitung

Spiritual Care ist nicht primär Aufgabe von in der kirchlichen Seelsorge tätigen Personen, und sie gilt nicht nur Christen, auch nicht nur religiös in irgendeiner Weise verankerten Menschen, sondern allen, die im palliativen medizinischen Bereich ankommen – als Betroffene und als Angehörige, als professionell und ehrenamtlich Arbeitende. Spiritualität im Palliativbereich beschreibt Simon Peng-Keller als „verleiblichte Antwort auf die Anfechtung menschlichen Sinnverlangens“ und entsprechend Spiritual Care als „die Aufgabe, in klinischen Kontexten Räume zu schaffen, in denen solche Angefochtenheit und die durch sie hervorgerufene

20 Zum Verständnis und zur kritischen Einschätzung der Salutogenese aus theologischer Sicht vgl. auch: Rieger, Gesundheit, 106–117. 21 Zu den Details vgl. die sehr differenzierenden Darstellung bei Pollack/Rosta, Religion, 98ff (Westdeutschland), 274ff (Ostdeutschland). 22 Vgl. a. a. O., 174. An anderer Stelle macht Pollack auch darauf aufmerksam, dass es besonders in Ostdeutschland viele frühere Kirchenmitglieder gibt, die heute völlig „ohne den Bezug auf letzte Werte oder mittlere Transzendenzen“ auskommen: A. a. O., 284, Anm. 3.

Spiritual Care

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Suchbewegung zur Sprache gebracht werden kann“.23 Der Weg dazu ist die persönliche Begegnung „seelsorglicher“ Natur.

3.1

Begegnung im palliativen Kontext

„Spiritual Care ist Begegnung“, heißt es im Repetitorium Palliativmedizin.24 Das ist die eigentliche Herausforderung an spirituelle Begleiter. Durch Begegnung werden die Räume spiritueller Suche geschaffen. Es geht um das In-BeziehungSein eines vom Leid betroffenen Menschen. Eine Begegnung, die hilfreich ist, setzt Vertrauen voraus.25 Dazu bedarf es seitens der spirituellen Begleiter bestimmter seelsorglicher Einstellungen: – Zunächst geht es um eine Spiritualität aufmerksamen Wahrnehmens: Ich komme als Begleiter mit offenen Augen, und nicht gleich als jemand, der schon Bescheid weiß. Das ist eine Grundeinstellung. Spiritual Care geht von dem Patienten, dem Kranken, dem Sterbenden aus. Was ich da wahrnehme, ist maßgebend für die Beziehung. Das bezieht sich erst einmal auf den äußeren körperlichen Zustand des Patienten. Ich sehe ihn leiden, ahne seine Schmerzen, vielleicht auch seine Verunsicherung. Wenn ich nah genug dran bin und genau hinschaue, gelingt es mir vielleicht, behutsam dem, was ich sehe, Sprache zu geben. Hilfreich ist, wenn ich es schaffe, eine „Sprache des Übergangs“ zu finden, die die sinnliche Wahrnehmung transparent werden lässt für die „Sprache der Gefühle“ und die „Sprache der Seele.“26 – Ich komme zu einem Patienten zugleich als aufmerksam Hörender. Das ist eine ebenso wichtige Grundeinstellung wie das Wahrnehmen. Ich komme nicht als der, der schon vorher weiß, was er einem Patienten zu bringen hat. Ich höre, was und wie ein Mensch erlebt, was ihm widerfährt, was er erzählen möchte und was ihn bewegt. Ich höre, und das bezieht sich auch auf das Verständnis, das mein Gegenüber von der Spiritualität hat, auch wenn er dieses Wort gar nicht direkt verwendet. Hier gilt der aufschlussreiche Satz von Traugott Roser: „Spiritualität ist, was der Patient dafür hält!“, und das bedeutet: „Die individuelle, aus der einzelnen Lebensgeschichte resultierende und aktuell durch eine existenzielle Situation herausgeforderte Spiritualität“ stellt den Raum dar, „in dem Fragen aufbrechen können und schöpferische Umorientierung möglich wird.“27 Konkret mag das der Gedanke an eine vertraute Person sein, die Erinnerung an ein bestimmtes Erlebnis, an einen 23 24 25 26 27

Peng-Keller, Spiritualitätsbegriff, 46. Zitiert bei Nauer, Spiritual Care, 65. Peng-Keller, Kommunikation, 101. Vgl. dazu Grözinger, Sprache, 158–174. Roser, Spiritual Care, 407.

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fast schon vergessenen Text, ein berührendes Musikstück. Was dem Patienten wichtig ist, kann zum Ausgangpunkt einer Begegnung und gemeinschaftlicher spiritueller Suche werden. – Spiritual Care wird dann den mir nahen und zugleich fremden Menschen erreichen, wenn ich ihm als Mitfühlender und in Solidarität begegne. Empathie, um die wir uns als eine Grundeinstellung in der Seelsorge bemühen, ist auch hier gefragt. Oft ist es das Einzige, was ich geben kann. Mit jemand auszuhalten, was ihm an Unannehmbarem, Sinnlosem widerfahren ist – kann hilfreicher sein als gut gemeinte Lösungen, die den Leidenden nicht wirklich erreichen. Frank Mathwig verweist in diesem Zusammenhang auf Fulbert Steffensky, der ein „Harmoniediktat“ der „neuen Spiritualität“ kritisiert.28 Spiritual Care kann nicht das Mittel sein, das Unerträgliche zu erklären und zu entschärfen. Sie kann aber sehr wohl der Klage Raum geben, vielleicht auch dem Protest Sprache verleihen und so zu einer Form von Mitfühlen, von Compassion, werden. – Und schließlich: Wer im Zusammenhang von Spiritual Care wirksam werden möchte, sei er Christ, sei er Seelsorger, sei er auf andere Weise spirituell geprägt, wird dazu etwas von dem brauchen, wovon er sich selbst „im Leben und Sterben“ ernährt und was ihn innerlich trägt. Spiritual Care fordert mich als Glaubenden, Vertrauenden, geistlich erwachsen Gewordenen heraus. Spiritual Care als Begegnung hat auch mit Inhalten zu tun. Diese werden unterschiedlich formuliert sein, der jeweiligen Profession, der jeweiligen kulturellen und religiösen Herkunft entsprechend. Aber sie müssen benennbar und vermittelbar sein. Spiritualität erschöpft sich nicht im Unkonkreten und Nebulösen, auch wenn die Klarheit einer spirituellen Aussage nicht die Eindeutigkeit von naturwissenschaftlichen Aussagen erlangen kann, wie sie im medizinischen Routinebetrieb erwartet wird. Wer in der Spiritual Care tätig ist, muss darauf vorbereitet sein, nach seinem Glauben und seiner Hoffnung gefragt zu werden. Dabei ist es wichtig, auch mit den Ungewissheiten und Zweifeln umzugehen, die mir darin begegnen. Je offener und aufrichtiger ich dabei mir selber gegenüber bin, je freier werde ich sein, davon anderen etwas weiterzugeben, wenn es auch für sie an der Zeit ist.29

28 Mathwig, Spiritual Care, 37. 29 Hilfreich für diese Art Umgang mit spirituellen Gedanken und Texten: Eulenberger u. a., Gott ins Spiel bringen.

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3.2

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Spirituelle Themenfelder am Lebensende

Alle Themen, um die es inhaltlich in der Spiritual-Care-Begegnung gehen kann, sind bekannt. Sie werden umfänglich in der reichlich vorhandenen Seelsorgeliteratur behandelt.30 Hier geht es aber eher darum, die Vielfalt der Themen aus der Perspektive der Menschen, die uns im palliativmedizinischen Bereich begegnen, anzudeuten – und dabei offen zu lassen, ob und wieweit sie einen inneren Zugang zu religiösen Aspekten unserer Menschlichkeit haben. Sie begegnen uns am Lebensende, aber auch in jeder anderen Phase des Lebens. Es gehört zur Sensibilität spiritueller Begleitung, deutlich, aber nicht aufdringlich zu sein. Im Grunde sind es alles zutiefst menschliche Themen, deren Codierung als „spirituell“ oder „religiös“ oder eben „persönlich“ und „menschlich“ letztlich jeder Einzelne für sich selbst wahrnehmen muss. Ich nenne einige der wichtigsten Themen und versuche einfühlend und assoziativ die möglichen Erfahrungsinhalte anzudeuten: – Der nahe Tod, das nahe Sterben. Der Tod ist kein Tabuthema im öffentlichen Diskurs der Disziplinen, wohl aber der ganz persönliche Tod, mein eigenes Sterben: Wie wird er sein? Wie erlebe ich die Zeichen seiner Annäherung? Was wird er mir nehmen, was werde ich gewinnen? Wovon muss ich Abschied nehmen?31 Was geschieht eigentlich, wenn der Tod eintritt?32 Was wünsche ich mir für die letzte Phase meines Lebens? – Der zerbrechliche Leib. Was bedeutet es, so unausweichlich mit der Fragilität des eigenen Körpers konfrontiert zu sein: sich nicht mehr wie gewohnt bewegen zu können, die Kontrolle über einzelne Körperfunktionen zu verlieren, für die elementaren Lebensvorgänge auf Hilfe angewiesen zu sein? Wie anspruchsvoll muss ich sein? Wie dankbar darf ich sein? Für manchen ist es eine neue Erfahrung, dass der Körper, der bisher einfach nur funktioniert hat, nun mit einem Mal den größten Raum einnimmt. – Der bohrende Schmerz. Die Schmerzerfahrungen der Patienten sind sehr unterschiedlich. Das hängt natürlich mit den jeweiligen Krankheitsursachen und Krankheitssymptomen zusammen. Aber dessen ungeachtet wird Schmerz individuell erfahren. Seine Phasen strukturieren den Tag und desavouieren oft die Nacht. Mancher hat gelernt damit umzugehen, andere droht er zu zermürben. Schmerz weckt das

30 Klessmann, Seelsorge, 383ff; Plieth, Seelsorge, 552ff; Ziemer, Seelsorgelehre, 235ff. 325ff. 31 Vgl. Kast, Abschiedlich, 105ff. 32 Vgl. Renz, Hinübergehen, 23ff.

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Bedürfnis nach Ruhe, die Sehnsucht nach Erlösung.33 Manchmal entlastet es schon, ihn beklagen zu dürfen. Der verlorene Sinn. „Wozu noch leben?“ klagen so viele ältere Menschen in der vermeintlich letzten Phase des Lebens, und es ist ihnen bitter ernst damit. Oft verbindet sich mit der Klage über die Sinnlosigkeit der eigenen Existenz ein mehr oder weniger klarer Sterbewunsch. Stärker als dieser ist aber oft die Enttäuschung: ich werde nicht gebraucht, ich werde nicht mehr gehört und nicht mehr gefragt. Ich spüre keine Resonanz mehr auf das, was ich bin und was ich sage. Das Leben spielt auf der anderen Seite. Intellektuelle Erörterungen über den Sinn des Lebens verfangen selten. Persönliche Zuwendung und lebendige Kommunikation können einen Menschen stärken, dass Unannehmbare zu tragen, weil sie die Gewissheit stärken, darin nicht allein zu sein. Das verborgene Leben. Die Krankheitssituation ist Gelegenheit für den Blick zurück: Wer war ich? Wo komme ich her? Was bleibt? Jede Seelsorgerin weiß, wie stark das Bedürfnis ist, von sich zu erzählen. Das vertieft das Lebensgefühl und trägt zur „Lebenssättigung“34 bei. Manches müsste noch einmal genauer angeschaut werden, was mitgeschleppt wird, aber verborgen bleibt. Aber man möchte nicht immer nur für sich die alten Geschichten im Kopf herumwälzen, wenn die Nacht lang ist. Mancher spricht von Lebensbilanz, aber das ist für die meisten viel zu voluminös. Einfach jemanden haben, der sich mit freut, wenn man dankbar zurückschaut, und der mitträgt, was schwer war und was noch offen bleibt.35 Die fernen Nächsten. Glücklich, wer sich in schwerer Krankheit und am Lebensende in seiner Familie aufgehoben weiß. Enkelkinder können den Lebensmut kräftig stärken. Und Liebe ist das kostbarste Gut auf der letzten Reise. Es ist deshalb sehr sinnvoll, bei Spiritual Care die Angehörigen einzubeziehen. Nicht immer ist das möglich. Manchmal sind Familien räumlich weit getrennt, manchmal ist das familiale System durch Konflikte erodiert. Jetzt wird das besonders schmerzhaft spürbar, wo die Kontakte zu den Nächsten so sehr gebraucht würden. Ändern kann man daran oft wenig, aber darüber zu sprechen, das hilft schon. Manchmal gelingt es, im professionellen Kontakt neues Vertrauen zu gewinnen, auch wenn klar ist, dass Familie nicht einfach ersetzt werden kann. Wir ahnen nicht, wie einsam manche Menschen am Lebensende sind. Die zarte Hoffnung, der verschüttete Glaube. Vielerlei Namen haben Hoffnung und Glauben, die die Menschen mitbringen,

33 Vgl. Roser, Spiritual Care, 343, mit Hinweis auf Henning Luther. 34 Vgl. dazu a. a. O., 462–471. 35 Hilfreiche Fragen dazu bei Peng-Keller, Letzte Worte, 16.

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und manches davon mag merkwürdig klingen. Aber statt Neues zu pflanzen, ist es aussichtsreicher zu pflegen, was ein Mensch mitbringt. Ein Spruch, ein Lied, ein Wort, ein Bild, die Erinnerung an einen Menschen, an ein glückliches Widerfahrnis, ein altes Gebet – alles dies kann zum Baustein werden für eine kleine Burg der Hoffnung. Und Erfahrungen von Zuwendung und Liebe sind eine wichtige Voraussetzung dafür. Machen kann man sie nicht. „Anzukommen in der Hoffnung ist Herausforderung und Gnade“, schreibt Monika Renz.36

4.

Offene Fragen zu Spiritual Care

Spiritual Care ist seit Jahren in der Diskussion. Ganz unterschiedliche Erfahrungen verbinden sich damit: im Hospiz, auf Palliativstationen, in verschiedenen Engagements der Sterbebegleitung und nicht zuletzt in einer schon fast unübersehbaren Fülle wissenschaftlicher, praxisbezogener und populärer Literatur. Spiritual Care ist – einmal abgesehen vom Hospiz – allenfalls in Anfängen institutionalisiert – im Forschungs- und Ausbildungsbereich und wohl ansatzweise auch in einigen klinischen Einrichtungen. Aber primär ist es eine fruchtbare Idee, eine Bewegung. Vor allem stellt es in unserer modernen Gesellschaft die Art und Weise in Frage, wie wir mit unserer Endlichkeit umgehen – mit den Grenzen unseres Wohlstands, unserer Weltgestaltung, unseres Lebens. Wie in einem Brennpunkt kommen alle diese Fragen dort zusammen, wo die letzte Phase des menschlichen Lebens gestaltet und bestanden werden muss. Es verwundert nicht, dass an einem für die Kultur der Gesellschaft so wichtigen Punkt die Sichtweisen auch sehr unterschiedlich sein können. Das spiegelt sich in den Diskussionen um Spiritual Care wider. Aus der Sicht der Krankenhausseelsorge sind die Fragen naheliegenderweise besonders ausgeprägt. Mit ihr ist ja faktisch immer schon ein Akteur von Spiritual Care im System, der dazugehört und sich zugleich unterscheidet. Darum geht es auch in vielen Veröffentlichungen aus evangelischer und katholischer Sicht zum Thema.37

36 Renz, Hoffnung, 66. 37 Für mich besonders hilfreich, informativ und kritisch: Nauer, Spiritual Care.

626 4.1

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Spiritualität für alle?

Gemeinsam ist den Konzepten von Spiritual Care und Seelsorge, dass sie von einer integrativen Anthropologie ausgehen, die den Menschen als eine psychosomatische Gesamtheit ansieht.38 Den geistigen, sozialen und spirituellen Aspekten des Menschseins gebührt dementsprechend die gleiche Aufmerksamkeit wie den körperlichen und medizinischen, wenn es um ein Heilwerden des Menschen und die Förderung von Lebensqualität geht. Das ist wichtig in einer zunehmend globalisierten Welt, in der Menschen unterschiedlichster religiöser Prägung in ihnen fremde Religions- und Lebenskulturen einwandern. Sie brauchen gerade dann die Möglichkeit, auch spirituell heimisch zu werden in der Weise, die ihnen entspricht. Sie brauchen Zugänge zu einer Spiritualität, die niemand ausgrenzt, aber auch niemand vereinnahmt. Spiritualität, die niemanden ausgrenzt Für das Krankenhaus und speziell für die Einrichtungen der Palliativmedizin ist es zunehmend wichtig, ankommenden Patienten in der Komplexität ihrer Bedürfnisse, also auch in religiöser Hinsicht, gerecht zu werden. Krankenhausseelsorge und nun auch Spiritual Care wollen sich angemessen darauf einstellen. Das setzt eine hohe Flexibilität voraus. Es gibt keinen eindeutigen Indikator für spirituelle Bedürfnisse. Vielmehr ist es Aufgabe von Spiritual Care, Patienten auf ihre Ängste und Erwartungen auf sensible Weise anzusprechen und sich von hier aus mit ihnen auf die gemeinsame Suche nach dem zu begeben, was sie stärkt und zuversichtlich macht. Das ist der gleiche Weg, der auch für die Seelsorge gilt. Seelsorgerinnen wenden sich im Krankenhaus voraussetzungslos Menschen unterschiedlicher Religionen, Konfessionen und Weltanschauungen zu, nicht nur ihren eigenen Kirchenmitgliedern. Im modernen Krankenhaus bekommt man es unweigerlich mit Patienten zu tun, die längst aus der Kirche ausgetreten sind oder ihr nie angehörten, mit Muslimen oder gläubigen Hindus, aber auch mit Agnostikern und Atheisten und nicht selten mit „unbekümmerten Alltagspragmatikern“.39 Über Jahrzehnte haben wir in Ostdeutschland die Erfahrung gemacht, dass es durchaus gelingen kann, in fruchtbare Kommunikation mit nicht oder anders religiösen Menschen zu geraten, sofern sie spüren, dass sie in ihrem Denken und Sein respektiert werden.40

38 Vgl. etwa Frick, Anthropologie. 39 Zulehner, GottesSehnsucht, 11. 40 Vgl. Geilhufe, Offenheit, 190; Ziemer, Säkularität, 101f; Belok, Seelsorge, 80.

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Spiritualität, die niemanden vereinnahmt Keiner wird übergangen und ausgegrenzt, aber es gehört zur Freiheit von Patienten wie auch Mitarbeitern im Krankenhaus, von jeder Art spirituellen und seelsorglichen Angebots Abstand zu nehmen – und zwar ohne Begründung und ohne dass ihnen das in irgendeiner Weise zum Nachteil gereicht. Es gibt in unseren Krankenhäusern, seien sie kommunal, kirchlich oder in freier Trägerschaft, keine Zwangsseelsorge und auch keine Zwangsverordnung zu Spiritual Care. Das Grundrecht der Religionsfreiheit, das die negative Religionsfreiheit einschließt, gilt auch im Krankenhaus, und hier besonders; denn das Krankenhaus ist ein Ort, den man in vielen Fällen nicht frei gewählt hat. Dabei ist darauf zu achten, dass es auch keine Formen indirekter Nötigung gibt. Auch ein „spirituelles Assessment“, wie es mit dem von Eckhard Frick entwickelten Fragebogen zur persönlichen Spiritualität41 vorliegt, überschreitet für mein Gefühl die Grenzen dessen, was hier angebracht ist. In diesem Zusammenhang muss auch entschieden einer Anthropologie religiöser Vereinnahmung widersprochen werden. Der Auffassung, wonach im Grunde alle Menschen „irgendwie religiös“ und natürlich auch „spirituell“ interessiert seien, muss ich gerade auf dem Hintergrund ostdeutscher Erfahrungen entschieden widersprechen. Es gibt durchaus Menschen, die sich ausdrücklich als religionslos verstehen, nicht auf irgendwelche Religionssurrogate ausweichen und sich auch nicht als „spirituelle“ Menschen verstehen. Ob sie damit zu einer ganz objektiven Selbstwahrnehmung gelangt sind, kann man offenlassen.42 Aber wenn Roser definiert: „Spiritualität ist das, was der Patient darunter versteht“, so muss man umgekehrt auch sagen können: „Religionslosigkeit ist, was der Betreffende für sich darunter versteht“, und das habe ich erst einmal zu akzeptieren. Ausgegrenzt oder vereinnahmt: Mitunter ist es eine Frage der Begrifflichkeit. Manche möchten vielleicht vor allem auf eine menschliche und offene Weise angesprochen werden – von Ärzten, von Pflegerinnen, von Seelsorgerinnen, die da sind. Sie suchen Möglichkeiten, das, was ihnen jetzt – krank und vielleicht den Tod vor Augen – wichtig ist und was sie bewegt, aussprechen zu dürfen. Das geht oft mit den eigenen Angehörigen nicht so gut, weil sie zu nah dran oder zu weit weg sind. Jetzt im Krankenhaus Menschen anzutreffen, denen man sich anver41 Der von Eckhard Frick entwickelte Fragebogen zu Spiritualität SPIR ist verschiedentlich dargestellt worden, z. B. bei Borasio, Spiritualität, 115f. Vielleicht ist es meiner protestantischen Mentalität zuzuschreiben, dass mir für die Idee eines solchen spirituellen Fragebogens jegliches Verständnis abgeht. Ich würde mich vor dem Eintritt in eine Station fürchten, in der ich auf solche Fragen antworten muss wie die, ob ich ein „gläubiger Mensch“ bin oder nicht. Weiß ich’s denn? 42 Die Problematik ist zu komplex, als dass sie hier nebenbei erörtert werden kann. Zur weiteren Klärung sei hingewiesen auf: Tiefensee, Religiöse Indifferenz, bes. 93f; vgl. auch Ziemer, Säkularität, 93ff.

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Jürgen Ziemer

trauen kann – das ist wichtig in der fremden Welt von Medizin und Therapie. Was und wie das mit „Spiritualität“ zu tun hat – das ist dann keine ganz so wichtige Frage aus der Patientenperspektive.

4.2

Spiritual Care im Medizinsystem?

Bisher liegt in den meisten klinischen Einrichtungen die seelsorgliche und geistliche Betreuung der Patienten in der Zuständigkeit klinikunabhängiger Institutionen und Personen: Kirchen, Religionsgemeinschaften, Gemeinden. Für Spiritual Care werden jetzt klinische Einrichtungen selbst initiativ, nicht nur im Blick auf die Finanzierung (wie das schon bei einigen privaten Trägern gelegentlich der Fall ist), sondern auch inhaltlich, konzeptuell und personell. Das ist in gewisser Weise ein Systemwechsel, der durchaus ambivalente Aspekte mit sich führt.43 Es gibt viele Seelsorgerinnen und Seelsorger in den Krankenhäusern, die sich sehr wünschten, von den Kliniken und dem ärztlichen Personal kollegial unterstützt und herausgefordert zu werden. Im Krankenhausalltag werden die in der Seelsorge arbeitenden Mitarbeiter meist wenig wahrgenommen, selten als Partner auf Augenhöhe im klinischen Alltag angesehen. Die positive Seite dieser Positionierung im medizinischen System ist eine große Unabhängigkeit im Umgang mit den Patienten auf den Stationen und in der Gestaltung der seelsorglichen und spirituellen Angebote.44 Wenn nun durch Spiritual Care spirituelles Handeln stärker zum Engagement des Krankenhauses wird, fragt es sich, wie gut man dabei den Abstand zu den Normativen des medizinischen Systems wird einhalten können. In der Diskussion um Spiritual Care ist dies eines der zentralen Bedenken.45 Könnte Spiritual Care am Ende dazu gebraucht werden, die klinischen Abläufe auf der Palliativstation zu optimieren? Wird spirituelle Zuwendung funktionalisiert, um den Patienten ruhiger und gelassener werden zu lassen, um einen „positiven Einfluss auf Therapie und Behandlung“46 zu erzielen, wie er im Interesse der Institution Krankenhaus läge? Dazu passt die – besonders in der nordamerikanischen Religionspsychologie oft gestellte – Frage, ob religiöse Menschen vielleicht doch nachweisbar gesünder lebten.47 Es ist kein abwegiger 43 Vgl. Karle, Krankenhausseelsorge, 437ff.542f.549ff. 44 Vgl. den Abschnitt „Die Haltung der offenen Hände und die Kritik am System“ bei Heller/ Heller, Spiritualität, 86f. 45 Fragen, die sich von hier zu Spiritual Care ergeben, sind zusammengestellt bei Nauer, Spiritual Care, 94–137. 46 Gärtner, Seelsorge, 212. 47 Vgl. dazu Zwingmann/Klein, Religiöse Menschen, 21–36.

Spiritual Care

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Gedanke, dass positive spirituelle Erfahrungen sich im gesundheitlichen Erleben niederschlagen – aber eben nicht in einer kalkulierbaren und vorhersagbaren Weise, wie es dem Medizinsystem entspräche. Es geht letztlich darum, was unter spirituellem Handeln auf der Krankenstation verstanden wird. Von grundlegender Bedeutung ist aus meiner Sicht, dass der Orientierungspunkt immer die Person des einzelnen Patienten ist. Seine bzw. ihre spirituellen Bedürfnisse sind wie in der Seelsorge auch bei Spiritual Care das Maß spirituellen Handelns. Eine solche Sichtweise ist schwer organisierbar, und so passt Spiritualität vielleicht oft nicht zu den funktionalen Abläufen auf einer Station. Wenn Traugott Roser Spiritual Care als einen „Organisationsbegriff“ versteht, dann möchte ich ihm gerne zustimmen unter der Voraussetzung, dass es primär um die Organisation dessen geht, was nicht organisierbar ist – Spiritualität, Humanität, Menschlichkeit.

4.3

Wer verantwortet Spiritual Care?

Ein wichtiger Unterschied zwischen Seelsorge und Spiritualität liegt in der organisatorischen und institutionellen Verankerung beider, jedenfalls in unserem deutschen Krankenhaussystem. Seelsorge im Krankenhaus erfolgt im Auftrag von kirchlichen bzw. religiösen Institutionen. Sie sorgen für die fachliche Ausbildung und legen professionelle Standards für die Berufsausübung fest. Spiritual Care ist dagegen ein Engagement des Krankenhauses. Hier ist bisher noch weithin offen, welcher Personenkreis für die praktische Umsetzung von Spiritual Care auf der Palliativstation in Frage kommt. Sind es Angehörige des medizinischen Systems, die für die spirituellen Aufgaben speziell ausgebildet werden? Sind es Anbieter auf dem Markt spiritueller Methoden? Welche fachlichen und persönlichen Voraussetzungen werden an die Beauftragung für Spiritual Care geknüpft?48 Damit eng verbunden ist die Frage nach einem tragenden theoretischen Bezugsrahmen von Seelsorge und Spiritual Care im klinischen Umfeld. Seelsorge geschieht auf dem Hintergrund von christlicher Gemeinde und Theologie. Sie stellt eine Form von „Kommunikation des Evangeliums“ dar.49 Für den Vollzug orientiert sie sich an einer in der Regel pastoralpsychologisch ausgerichteten Praxistheorie. Für Spiritual Care ist das weit weniger klar. Obwohl es inzwischen eine Fülle von qualifizierten Arbeiten zu Spiritual Care gibt, ist doch, soweit ich 48 Es sei aber darauf hingewiesen, dass Fragen der Aus-, Fort- und Weiterbildung in Spiritual Care 2016/1 behandelt werden. 49 Näheres zur theologischen Grundierung von Seelsorge z. B. : Ziemer, Seelsorgelehre, 136– 160.175ff.

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sehe, noch offen, woran diese sich inhaltlich – theologisch oder philosophisch – im Krankenhaus orientieren kann. Diese Differenz im inhaltlichen Bezug darf freilich nicht überbetont werden. Sowohl in der Seelsorge wie bei Spiritual Care wird unter den geistig-kulturellen Bedingungen der Gegenwart eine hilfreiche Wirkung weniger an spezifischen Inhalten festgemacht, als vielmehr an der Art und Weise der Kommunikation. Eckhard Frick betont: „Wichtigstes Validitätskriterium für Spiritualität ist die Authentizität im Dialog mit dem Anderen als dem ‚Experten‘ seiner Suche.“50 Mit Armin Nassehi zu sprechen, geht es im Krankenhaus heute wesentlich darum, „Unbestimmtheit auszuhalten“ und sie zu „symbolisieren“51 – also vielleicht im Gestus der offenen Hände, des Gebets oder auch des Schweigens. Das ist sehr nahe am Patienten dran, der ja in vielerlei Hinsicht und buchstäblich im Ungewissen lebt und durch eine derartige Weise der Zuwendung Trost erfahren kann, vielleicht. Es bleibt die Frage: wie wird dafür gesorgt, dass spirituelles Handeln im Krankenhaus professionell und verantwortlich geschieht? Für die Seelsorge ist die wichtigste Form der Qualitätssicherung die Verpflichtung zu regelmäßiger Supervision, zu der auch die theologisch-kritische Reflektion der seelsorglichen Praxis gehört. Wer sorgt dafür entsprechend bei Spiritual Care? Und wer schützt die Patienten einer Palliativstation vor spirituellen Übergriffen? Vielleicht stehen schon gut ausgerüstete Anbieter von spiritueller Hilfe bereit – mit einem prallen Füllhorn aller nur denkbaren „spirituellen“ Wohltaten!? Da ist es gut, Kriterien dafür zu haben, was geht und was nicht.

5.

Seelsorge und Spiritual Care

Die Diskussion um Spiritual Care hat die Seelsorge in Zugzwang gebracht. Eberhard Hauschildt konstatiert, dass durch die ganze Diskussion um Spiritual Care die Arbeit der Krankenhausseelsorge einerseits aufgewertet wurde: „Denn nun gibt es neue Gründe für Seelsorge.“52 Das Aufkommen von Spiritual Care macht deutlich: auch andernorts wird als dringend und bedeutsam erachtet, worum es in der Seelsorge geht. Andererseits, so Hauschildt, wird Seelsorge durch Spiritual Care abgewertet, indem sie auf die religiöse Verortung eingeschränkt wird. Darauf kann sich Seelsorge nicht einlassen. Sie ist prinzipiell für alle Patienten da, die dies wollen – unabhängig davon, wie sie sich selbst religiös einschätzen. 50 Frick, Spiritual Turn, 29. 51 Nassehi, Spiritualität, 39. 52 Hauschildt, Spiritual Care, 2.

Spiritual Care

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Nicht ganz von der Hand zu weisen ist die Befürchtung, die Krankenhausseelsorge könnte durch die institutionelle Förderung von Spiritual Care einen folgenreichen Bedeutungsverlust erleiden. Das wäre sehr bedenklich. Isabelle Noth weist nachdrücklich auf diesen Aspekt der Diskussion hin und betont, dass „Seelsorge noch bedeutend Anderes ist als medizinisch geprägte (westlich-säkulare) Spiritual Care“.53 Beides ist gegeneinander nicht austauschbar. Isolde Karle hatte schon Jahre davor gewarnt, das Besondere der Seelsorge preiszugeben: die Differenz zur ökonomisch-medizinischen „Leitkodierung“ des Krankenhauses, die Zielfreiheit ihrer Zuwendung zu den Patienten und die besonderen „religiösen Ressourcen“,54 auf die in der seelsorglichen Kommunikation zurückgegriffen werden kann. In der Tat: Ökumenisch ausgerichtete Seelsorge ist ein unverzichtbares Element in unserer Krankenhauslandschaft. Sie kann durch Spiritual Care sinnvoll ergänzt werden, aber darf weder in ihr aufgehen noch durch sie ersetzt werden.55 In jedem Fall ist Seelsorge angesichts von Spiritual Care herausgefordert, Modelle des Miteinanders beider zu diskutieren. Doris Nauer folgend sehe ich drei mögliche Modelle im Gespräch:56 1 Spiritual Care als Seelsorge Krankenhausseelsorge gliedert sich in die gemeinsame Sorge für den kranken Menschen in das Spiritual-Care-System ein. Das ist die Grundvorstellung Traugott Rosers. Er versteht dabei Spiritual Care als einen Organisationsbegriff. Spiritual Care führt die unterschiedlichen Berufe und Professionen im Krankenhaus mit der Seelsorge zusammen in die gemeinsame Sorge. Seelsorge hat hier eine prägende Funktion und kann speziell, so schwebt es Roser vor, im klinischen Kontext von Kranksein und Sterben die theologisch begründete Verheißung von Leben als Schalom zur Entfaltung bringen.57 Das ist eine respektable Vision, aber ist sie auch realistischerweise wirklich umsetzbar? In München vielleicht, in Leipzig kaum. Dafür ist hier der Abstand zu allem Religiösen, das Seelsorge mit prägt, zu groß. Mindestens so wichtig ist die andere Frage, was wird dann tatsächlich von Seelsorge bleiben? Spiritual Care und Seelsorge sind trotz aller Nähe doch nicht dasselbe! Die Krankenhausseelsorge, wie sie in den Kliniken bei uns praktiziert wird, ist ein stabiles und eigenständiges Arbeitsfeld der Kirchen. Die in ihr tätigen Seelsorgerinnen und Seelsorger arbeiten in aller Regel sehr engagiert und professionell, was die kommunikativen, die theologischen und die spirituellen Herausforderungen 53 Noth, Seelsorge, 111ff.115. 54 Karle, Krankenhausseelsorge, 546–554. 55 Gegen das von Stefan Gärtner präferierte niederländische Modell „Seelsorge wird Spiritual Care“ hat Kunz, Steilpass, 245f in diesem Sinne eine klare Position bezogen. 56 Nauer, Spiritual Care, 163f. 57 Vgl. Roser, Spiritual Care, 510.

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angeht. Die ökumenisch arbeitende Krankenhausseelsorge sollte in unseren klinischen Einrichtungen erkennbar als das bleiben, was sie ist. 2 Seelsorge neben Spiritual Care Seelsorge arbeitet auf den Stationen wie bisher, auf der Palliativstation arbeitet ein Spiritual-Care-Team. Die Seelsorge beteiligt sich an der dortigen spirituellen Begleitung nur, wenn ein ausdrücklicher Wunsch eines Patienten (z. B. nach einem Beichtgespräch, nach einer Abendmahlsfeier) besteht. Das wäre die Verteilung der Kompetenzen und Aufgaben, wie sie jetzt die übliche Verhaltensweise in den Krankenhäusern darstellt, zumal es immer Stationen gibt, die die Seelsorgerin sowieso nicht regelmäßig besuchen kann. Ob es freilich gut wäre, eine sich im Palliativbereich entwickelnde Spiritual Care nur aus der Distanz zu betrachten, wäre hier doch zu fragen. Es werden dann Chancen gegenseitiger Inspiration und Kooperation verspielt. 3 Seelsorge in Kooperation mit Spiritual Care So verstehe ich eines der Kombinationsmodelle von Eberhard Hauschildt.58 Seelsorge ergänzt das Spiritual-Care-Team, ohne ihren eigenen Status aufzugeben. Sie ist aktiv beteiligt an konzeptuellen Überlegungen zur spirituellen Arbeit im Krankenhaus und kooperiert in spezifischen Fragen. Das geschieht ansatzweise vielerorts schon, etwa in der Mitarbeit bei der Beratung ethischer Fragen. Formen der Kooperation wären beispielsweise Konsultation, Koordination, Supervision, Zusammenarbeit bei Projekten, die das ganze Krankenhaus betreffen usw. Dieser Ansatz erscheint mir erstrebenswert, weil er Wachstumsmöglichkeiten für beide Engagements offenhält. Im Grunde muss sich ein Miteinander von Seelsorge und Spiritual Care entwickeln, und das vermutlich an unterschiedlichen Orten in unterschiedlicher Geschwindigkeit. Es wird viel Kraft kosten und setzt eine inhaltlich klar konzipierte Organisation von Spiritual Care ebenso voraus wie eine funktionstüchtige und dialogfähige Krankenhausseelsorge. Aber es wäre aller Mühe wert – um der Menschen willen, um die es beiden geht.

6.

Zum Schluss: Evangelische Spiritualität im Kontext von Palliativmedizin und Spiritual Care?

Was Evangelische Spiritualität bedeuten könnte, muss immer wieder neu gefragt werden, für die Seelsorge ebenso wie für das, was wir im Care-Bereich praktischtheologisch mit durchdenken und mitgestalten. Spiritual Care ist hier eine willkommene Herausforderung. Es geht darum, den Menschen im klinischen 58 Hauschildt, Spiritual Care, 5.

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Kontext einen Raum zu geben, in dem sie sich vertrauensvoll artikulieren können und sich als leidende und hoffende Persönlichkeiten erkannt und angenommen fühlen. Evangelische Spiritualität lässt uns den einzelnen Menschen im Licht des Evangeliums sehen: fragil und angefochten einerseits, geliebt und gesegnet andererseits. Offene Gespräche und einfühlsame spirituelle Formen möchten dem dienen und so zugleich die Tür offenhalten für das, was wir aus eigenem Vermögen nicht erwirken können.

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Astrid Giebel

Die Praxis evangelischer Spiritualität in der Diakonie

1.

Einleitung

Dieser Beitrag stellt in einem ersten Teil heraus, dass Spiritualität unverzichtbarer und essenzieller Bestandteil der Fachlichkeit im Gesundheits- und Sozialwesen ist. Das Verhältnis von Spiritualität, Religiosität und Multikulturalität wird im zweiten Teil reflektiert. Der dritte Teil nimmt Bezug auf die Charta der Rechte hilfe- und pflegebedürftiger Personen, die besagt, dass Menschen mit Hilfe- und Pflegebedarf ein Recht auf religions- und kultursensible Unterstützung und Begleitung haben. Diesem Recht zu entsprechen, setzt, so der vierte Teil, die Befähigung von Mitarbeitenden im Gesundheits- und Sozialwesen voraus, die Dimension von Spiritualität in ihr professionelles Handeln kompetent einzubeziehen. Im fünften Teil werden – nun im speziell konfessionellen Verständnis – neuere Ansätze zur Reflexion und Praxis von christlicher Spiritualität in der Diakonie als Evangelischem Wohlfahrtsverband dargestellt. Zugleich benennt der sechste Teil Kritikpunkte hinsichtlich einer einseitigen Wahrnehmung von „Spiritualität als Ressource“. Wie Existenzielle Kommunikation zu spirituellen Fragen mit Patientinnen, Heimbewohnern oder Menschen mit Hilfe- und Assistenzbedarf – im Berufsalltag zumeist in Kurzgesprächen – gelingen kann, skizziert der siebte Teil. Spiritualität in einzelnen Handlungsfeldern der Diakonie wird exemplarisch im achten Teil beleuchtet. Abschließend werden ausgehend vom „Vaterunser“, das Jesus Christus seine Nachfolgerinnen und Nachfolger gelehrt hat, beispielhaft konkrete Umsetzungsmöglichkeiten von christlicher Spiritualität im Krankenhaus identifiziert.

Die Praxis evangelischer Spiritualität in der Diakonie

2.

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Spiritualität im Gesundheits- und Sozialwesen

Zwei Praxisbeispiele zum Einstieg: Existenzielles Kurzgespräch vor der OP: Eine 52jährige Patientin wird während der Examensprüfung einer Krankenpflegeschülerin zum Operationssaal gebracht. Sie soll zum fünften Mal operiert werden, weil sich die Operationsnaht erneut infiziert und geöffnet hat. Laut Krankengeschichte hat sie seit Monaten mit diesem Problem zu tun. Sie wirkt gefasst. Auf die Frage der Lehrerin hin, was ihr denn für ihren Krankheitsweg Kraft gebe, strahlt sie wie von innen heraus und antwortet mit großer Gewissheit: „Das ist mein Glaube.“ Die Examensschülerin und die Lehrerin schauen sich an. Sie sind in diesem Augenblick von der Ausdruckskraft und der Zuversicht berührt. – Solche Kurzgespräche zu existenziellen Fragen erleben Pflegende in ihrem Berufsalltag immer wieder. Es sind Momente, die sich besonders einprägen. Sie erinnern Pflegende in ihren Arbeitsfeldern – Krankenhäusern, Altenheimen, ambulanten Pflegediensten – daran, warum sie den Beruf eigentlich ergriffen haben: nämlich Menschen umfassend, an Leib und Seele, zu pflegen. Spiritualität in normierten Zeittakten: Meistens hastet die 53jährige Pflegeserviceleiterin durch die Gänge des evangelischen Krankenhauses in P. Freitags geht sie schon mal langsamer. Dann liegt eine anstrengende Arbeitswoche hinter ihr. Sie ist zuständig für die gesamte Essensorganisation im Haus. Bisweilen nimmt sie an einem Tag die Essenswünsche von 80 Patienten und Patientinnen auf. Drei Minuten pro Patient ist die Vorgabe. „Manchmal weinen sie, sind verzweifelt nach einer OP oder einer schlimmen Diagnose. Weil ich gläubig bin, biete ich oft an, für sie zu beten“, erzählt die gelernte Hauswirtschaftlerin. „Das geschieht intuitiv, aber ist das auch richtig? Ich wünschte mir mehr Handwerkszeug im Umgang mit Patienten. Und im Umgang mit Konfliktsituationen auf den Stationen.“ Sie bekommt ihren Wunsch erfüllt und kann an einer zwölftägigen Weiterbildung über anderthalb Jahre teilnehmen zum Thema: „Existenzielle Kommunikation und spirituelle Ressourcen in der Pflege.“1 Spiritualität – das belegen diese und andere zahlreiche Praxisbeispiele – ist nicht nur in den Arbeitsbereichen christlich geprägter, konfessioneller Wohlfahrtsverbände, sondern generell im Gesundheits- und Sozialwesen ein unverzichtbarer Bestandteil der fachlichen Theoriebildung und des professionellen Handelns.

1 Vgl. Giebel u. a., DiakonieCare.

638 2.1

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Spiritualität im Gesundheitswesen

Bezogen auf das Gesundheitswesen nahm 1995 die Weltgesundheitsorganisation (WHO) „Spirituality/Religion/Personal beliefs“ (Spiritualität, Religion, persönliche Überzeugungen) als eigenen Bereich in ihren Fragebogen zur Erhebung von gesundheitsbezogener Lebensqualität auf (WHOQOL-100), weil ihn viele Patientinnen und Patienten als wichtig und bedeutsam erachteten. In der WHODefinition von Palliative Care im Jahr 2002 wurde Spiritualität zum ersten Mal in der neueren Medizingeschichte auf eine Ebene gestellt mit der physischen und psychosozialen Dimension im Rahmen der Krankenversorgung:2 „Palliative Care ist ein Ansatz, der die Lebensqualität von Patienten und ihren Familien verbessert, die sich mit Problemen konfrontiert sehen, wie sie mit lebensbedrohlichen Erkrankungen verbunden sind. Dies geschieht durch die Verhütung und Erleichterung von Leidenszuständen, indem Schmerzen und andere Probleme (seien sie körperlicher, psychosozialer oder spiritueller Art) frühzeitig entdeckt und exakt eingeordnet werden.“3 Ganz pragmatisch ist aus Sicht der WHO in ihrer Definition von Palliative Care jeder Mensch spirituell, weil er sich spätestens angesichts des Todes existenziellen Fragen stellen muss. Das Konzept Spiritualität dient hier als anthropologische Kategorie, um die existenzielle Lebenshaltung insbesondere in Grenzsituationen des Lebens zu beschreiben. Zu Spiritualität als vierte Dimension von Gesundheit und Krankheit (neben der biopsycho-sozialen Dimension) formuliert Ralph Marc Steinmann fünf Definitionsthesen: 1.) Spiritualität ist eine Basisressource. Sie ist von konstitutiver Bedeutung für Entstehung, Erhalt und Ausbau einer ganzheitlich verstandenen Gesundheit. 2.) Spiritualität ist eine Gesundheitsdeterminante. Sie ist ein grundlegender, transpersonaler Bedingungsfaktor für Gesundheit und Heilung. 3.) Spiritualität ist ein Schutzfaktor in der primären, sekundären und tertiären Krankheitsprävention. 4.) Spiritualität ist eine Copingstrategie. Spiritualität hilft beim Umgang mit und bei der Bewältigung von Stresssituationen einschließlich Krankheiten. 5.) Spiritualität kann ein therapeutischer Faktor im Heilungsprozess sein.4 Hinsichtlich dieses weitgefassten Spiritualitätsverständnisses ist in der medizinischen, psychologischen und pflegewissenschaftlichen Fachliteratur seit den 1990er-Jahren ein „explosionsartiger“ Anstieg der Publikationen zu Religion respektive Spiritualität und psychischer wie körperlicher Gesundheit zu verzeichnen, der sich gegenwärtig weiter fortsetzt. Darauf weisen Constantin Klein, 2 Vgl. Hanrieder, Entdeckung. 3 http://www.who.int/cancer/palliative/definition/en/, Abruf am 16. 01. 2018. Vgl. auch Jakob/ Bartmann, Gesundheit. 4 Steinmann, Spiritualität, 69.

Die Praxis evangelischer Spiritualität in der Diakonie

639

Hendrik Berth und Friedrich Balck hin und bündeln in ihrem Aufsatzband dazu zahlreiche Konzepte, Befunde und Erklärungsansätze.5 Aus der Fülle der in den letzten Jahren erschienenen Publikationen seien hier beispielhaft benannt die Aufsatzbände von Eckhard Frick und Traugott Roser zu „Spiritualität und Medizin“ und von Walter Schaupp, Johann Platzer und Wolfgang Kröll zu „Gesundheitssorge und Spiritualität im Krankenhaus“.6

2.2

Spiritualität im Sozialwesen

Bezogen auf das Sozialwesen schreibt das Handbuch der Vereinten Nationen, dass Soziale Arbeit stets im spirituellen Kontext geschieht: „Die Soziale Arbeit findet stets in fünf Kontexten statt, die ein Ganzes bilden, auch wenn sie sich getrennt analysieren lassen. Diese Kontexte sind der geographische, der politische, der sozioökonomische, der kulturelle und spirituelle. […] Spiritueller Kontext: Keine Gesellschaft, in welcher Soziale Arbeit praktiziert wird, ist wertfrei. Für die Soziale Arbeit und eine humanere Praxis ist entscheidend, dass man dem Geist, den Werten, Einstellungen, Moralvorstellungen, wie auch den Hoffnungen und Idealen der KlientInnen Beachtung schenkt und dass sich die SozialarbeiterInnen zugleich ihrer Wertvorstellungen bewusst sind.“7

Im gleichen Duktus äußert sich Joachim Weber: „Wo Helfen […] sich […] auf die Welt und die Liebe zu ihr einlässt, wird Helfen und damit Soziale Arbeit zum besonderen Schnittpunkt von Spiritualität und freiheitlichem Handeln.“8 Da Spiritualität für ihn allgemein den Umgang mit der Transzendenz meint, sind alle Menschen spirituell.9 Nach Weber ist der Bedarf an Sozialarbeit durch drei Phänomene gekennzeichnet: Not, Gewalt und aus beidem folgende Verlassenheit. „Not jeglicher Art droht Freiheit ständig zu verschlingen“,10 indem sie Handlungsspielräume einengt oder zerstört. Unter der Unfreiheit leiden die Klientinnen und Klienten am meisten. Selbst wenn die unmittelbaren Ursachen der Not beseitigt sind, ist es schwer, das Leben wieder selbstbestimmt zu gestalten. Der Weg aus der Unfreiheit heraus ist lang. Klientinnen und Klienten auf diesem Weg zu unterstützen bzw. ihnen freie, selbstbestimmte Schritte zu ermöglichen, ist Aufgabe von Sozialarbeit. Spiritualität kann die Erlangung des

5 6 7 8 9 10

Klein u. a., Gesundheit. Frick/Roser, Spiritualität; Schaupp u. a., Gesundheitssorge. Handbuch der Vereinten Nationen/IFSW/IASSW, Soziale Arbeit, 7. Weber, Spiritualität, 8ff. Vgl. ebd. A. a. O., 123.

640

Astrid Giebel

Ziels der „praktischen Freiheit im Kontext Sozialer Arbeit“11 unterstützen und mit ermöglichen. Tobias Graupner weist darauf hin, dass die von Sozialarbeiterinnen und Sozialarbeitern in der Ausbildung erworbenen Kompetenzen im Bereich der Krisenintervention, Krisenkommunikation und Gesprächsführung auch für den Bereich von Glaubenskrisen, Sinn- bzw. spirituellen Krisen relevant, übertragbar und nutzbar sind.12 Um andere spirituell begleiten oder Ehrenamtliche in spiritueller Begleitung befähigen zu können, ist es erforderlich, die eigene Spiritualität, Traditionen, in denen Sozialarbeiterinnen und Sozialarbeiter stehen, Bilder und Rituale, von denen sie geprägt sind, gründlich zu reflektieren.13

3.

Spiritualität, Religiosität, Multikulturalität

Zusammen mit der gesellschaftlichen Entwicklung hin zu Multikulturalität und Pluralität kann auch im Bereich von Religion und Spiritualität hierzulande eine fortschreitende Diversifizierung beobachtet werden. Während beide Elemente früher tendenziell deckungsgleich waren und sich gemeinsam im Spannungsfeld von Tradition und Moderne befanden, hat sich Spiritualität heute oftmals von klassischen religiösen Kontexten gelöst oder aber innerhalb solcher Kontexte (u. U. fundamentalistisch) vertieft. Dabei scheint das menschliche Bedürfnis nach Transzendenz nicht abgenommen, sondern in Zeiten anhaltender Krisenhaftigkeit womöglich noch zugenommen zu haben.14 Die Begriffswurzel, das lateinische „spiritualis“, ist die Übersetzung des neutestamentlichen Begriffs „pneumatikos“ und meint die christliche Lebensgestaltung aus der Kraft des Geistes Gottes.15 Spiritualität als ursprünglich zentrales Konzept des christlichen Glaubensvollzugs erfährt heute einen Bedeutungswandel. Religionswissenschaftler sprechen von einem „Markt der Sinnanbieter“ und „spirituellen Wanderern“,16 die ihre individuelle Spiritualität aus verschiedenen Traditionen patchworkartig kombinieren. Dabei ist zu beachten: Geschulte Aufmerksamkeit für das Geheimnis Gottes (= enge Definition) ist etwas anderes als die Wahrnehmung der Verbundenheit mit einem großen Ganzen (= weite Definition). Zwischen einer anthropologisch gedeuteten, transpersonalen Spiritualität als „Bezogenheit auf ein größeres Ganzes“17 und einer theologisch verstandenen, 11 12 13 14 15 16 17

A. a. O., 126. Vgl. Lewkowiecz/Lob-Hüdepohl, Spiritualität. Graupner, Spiritualität, 109. Vgl. Dömling, Kennzeichen. Barth, Spiritualität; sowie Peng-Keller, Spiritualitätsbegriff. Vgl. dazu Utsch, Lebenshilfe. Vgl. hierzu die beiden Religionspsychologen Cole/Pargament, Spiritual Surrender.

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personalen Spiritualität als persönlicher Gottesbeziehung bestehen Spannungen und Unvereinbarkeiten.18

4.

Charta der Rechte hilfe- und pflegebedürftiger Personen

Menschen mit Hilfe- und Pflegebedarf haben ein Recht auf religions- und kultursensible Unterstützung und Begleitung. Dies stellt die Charta der Rechte hilfeund pflegebedürftiger Personen heraus, erarbeitet von 2003 bis 2005 vom Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend und dem Bundesministerium für Gesundheit und Soziale Sicherung. Im Artikel 7, Religion, Kultur und Weltanschauung, heißt es: „Jeder hilfe- und pflegebedürftige Mensch hat das Recht, seiner Kultur und Weltanschauung entsprechend zu leben und seine Religion auszuüben.“19 Im Einzelnen lauten die Rechte (in persönlicher Anrede formuliert) hilfe- und pflegebedürftigen Personen: „Berücksichtigung kultureller und religiöser Werte: Ihre kulturellen und religiösen Gewohnheiten und Bedürfnisse sollen so weit wie möglich berücksichtigt werden. So sollten Sie die an Ihrer Pflege, Betreuung und Behandlung beteiligten Personen darüber unterrichten oder unterrichten lassen, wenn Ihnen bestimmte Umgangsformen, Werte, Rituale und religiöse Handlungen wichtig sind. Ausübung religiöser Handlungen: Wenn Sie Rituale oder religiöse Handlungen (wie z. B. Beten, Fasten, Waschungen) ausüben möchten, soll Ihnen die dazu erforderliche Hilfestellung zukommen. Bitte berücksichtigen Sie bei der Auswahl eines Dienstes oder einer stationären Einrichtung, dass religiös und weltanschaulich ausgerichtete Träger bzw. Einrichtungen sich in ihrem Leitbild an bestimmten Werten und Vorstellungen orientieren. Hilfe bei elementaren Lebensfragen: Sie können erwarten, dass Ihre elementaren Lebensfragen und Lebensängste ernst genommen werden. Entsprechend Ihren Wünschen soll eine Geistliche/ein Geistlicher oder eine Person mit seelsorgerlichen Fähigkeiten hinzugezogen werden. Respektierung von Weltanschauungen: Auch wenn Sie eine Weltanschauung vertreten, die von Personen, die Sie unterstützen, nicht geteilt wird, können Sie erwarten, dass Ihnen mit Respekt begegnet wird.“20

Für die Berufsfelder im Gesundheits- und Sozialwesen bedeutet dies, dass Wahrnehmung spiritueller Bedürfnisse, die Ausübung religiöser Rituale, die 18 Vgl. Utsch, Lebenshilfe sowie ders., Ressourcen. 19 Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend (Hg.), Die Charta der Rechte hilfe- und pflegebedürftiger Menschen, https://www.pflege-charta.de/de/die-pflege-charta/ acht-artikel.html, Abruf am 16. 01. 2018. 20 Ebd.

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Berücksichtigung kulturgeprägter Werte nicht in das Belieben von Mitarbeitenden in helfenden Berufen gestellt, sondern Rechte von hilfe- und pflegebedürftigen Personen sind, die in das helfende, begleitende, unterstützende professionelle Handeln einzubeziehen und zu beachten sind. Erforderlich hierzu ist, dass Mitarbeitende entsprechende Kompetenzen erwerben können und darin befähigt werden, im individuellen Hilfehandeln die jeweiligen Umgangsformen, Werte, Rituale und religiöse Vollzüge (Waschungen, Gebete, Fasten…) des/der Betroffenen zu berücksichtigen. Im Umkehrschluss sind aber auch die kulturgeprägten Werte, religiösen Überzeugungen und spirituellen Bedürfnisse der Helfenden von gleichrangiger Bedeutung. Helfendes Handeln „auf Augenhöhe“ schließt wechselseitigen Respekt, Wertschätzung der beteiligten Persönlichkeiten und Achtung ihrer Würde ein.

5.

Spirituell und professionell – kein Gegensatz

Die Wahl des Begriffs „Recht“ auf religions- und kultursensible Unterstützung und Begleitung hat Konsequenzen für die berufliche Praxis von Mitarbeitenden im Gesundheits- und Sozialwesen. Während ein „Wunsch“ dem Wohlwollen des Wunsch-Erfüllenden ausgesetzt und von ihr oder ihm in der Erfüllungsqualität ganz und gar abhängig ist, fordert der Begriff „Recht“ die bestmögliche Erfüllung und Qualität ein. Spirituelle Begleitung kann so nicht mehr dem Zufall, den persönlichen Begabungen, intrinsischen Motivationen oder jeweiligen Interessen von Mitarbeitenden im Gesundheits- und Sozialwesen überlassen werden. Sie ist eine verpflichtende Aufgabe, deren professionelle Umsetzung fachlich gesichert sein muss. Das Recht auf kultursensible Hilfe und spirituelle Begleitung wird durch die beteiligten Professionen bzw. die professionell Tätigen gewährleistet – und wird dementsprechend auch zur Aufgabe, die es zu gestalten gilt. In praktischer Umsetzung erfordert dies von Mitarbeitenden im Gesundheits- und Sozialwesen, sich ihrer eigenen spirituellen Vorstellungen gewahr und ihrer jeweiligen religiösen bzw. kulturellen Prägungen bewusst zu werden. Die Wahrnehmung spiritueller Bedürfnisse und religiöser Interessen von Patientinnen, Heimbewohnern und Menschen mit Assistenz- und Hilfebedarf korreliert mit der vertieften Auseinandersetzung mit der eigenen Spiritualität, wobei diese nicht per se bei Mitarbeitenden im Gesundheits- und Sozialwesen konfessionell oder religiös verankert ist.21 Eine umfassende, den ganzen Menschen wahrnehmende Begleitung wird erst möglich, wenn die Religion bzw. der Kulturkreis der Patientin, des Bewohners oder des Menschen mit Hilfe- und Assistenzbedarf 21 Vgl. hierzu beispielsweise Comte-Sponville, Atheist.

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bekannt ist und beachtet wird. Um die von Mensch zu Mensch variierenden, kulturell spezifischen Bedürfnisse und Wünsche der Patientinnen, Bewohner oder Menschen mit Hilfe- und Assistenzbedarf erkennen und auf sie eingehen zu können, müssen Mitarbeitende im Gesundheits- und Sozialwesen transkulturelle und interreligiöse Kompetenz erwerben, also die Fähigkeit, bestimmte Präferenzen und Orientierungen zu erkennen, anzuerkennen und in die praktische Arbeit einzubeziehen.22

6.

Diakonische Geistesgegenwart – Spiritualität in der Diakonie

Bereits 1984 skizzierte inmitten der sich im Gesundheits- und Sozialwesen zunehmend ausdifferenzierten Spiritualitätsverständnisse erstmals Henning Schröer mit dem Brückenschlag „Von der ‚christozentrischen Diakonie‘ zur diakonischen Geistesgegenwart“ das Verhältnis von Pneumatologie und Diakonie: „Diakonische Spiritualität kann nicht von oben verordnet werden, sie muss sich, ohne den Reiz des Spektakulären, entwickeln, sie bedarf biblischer Vergewisserung, spielerischer Möglichkeiten, eucharistischer Gemeinschaft, Mut zur Ent-Täuschung in der Wahrheit des Glaubens.“ Und er fragt: „Vita spiritualis und spiritualis vitalis [geistliches Leben und lebendige Spiritualität], wie entsteht das in einer Zeit, da Hilfe doch organisiert werden muss, Krisen zu managen sind, Defizite öffentlich eingeklagt werden müssen, Strukturen nicht einfach verteufelt werden dürfen?“23 Beate Hofmann und Michael Schibilsky kam in den Folgejahren das Verdienst zu, mit dem – nicht als Lehrbuch, sondern als Lesebuch verstandenen, 2001 erschienenen – Sammelband „Spiritualität in der Diakonie“ Anstöße zur Erneuerung christlicher Kernkompetenz zu geben und erstmals zum Dialog mit anderen Professionen einzuladen. Denn: „Spiritualität im Alltag der Diakonie hat es mit Menschen zu tun – um Gottes Willen. Es liegt also am Menschenbild christlicher Diakonie, dass wir Spiritualität als eine der Grunddimensionen menschlichen Lebens anerkennen und achten. Spiritualität steht gleichberechtigt neben den anderen sechs Grunddimensionen des Lebens: Der Macht, der Zeit, dem Geld, dem Sinn, der Hoffnung und der Liebe – oder in anderer Akzentuierung und Sichtweise: neben der Körperlichkeit (Somatik), Zeitlichkeit (Endlichkeit des Lebens), Geschichtlichkeit (Biographik), Gruppenzugehörigkeit (Sozialität), Wahrhaftigkeit (Theorie) und Bedeutsamkeit (Relevanz).“ Weiter führten Schibilsky und Hofmann aus: „Wenn wir von professioneller diakonischer Arbeit sprechen, gehört um des Menschen willen die Kenntnis seiner 22 Vgl. dazu auch Eppenstein/Kiesel, Soziale Arbeit. 23 Schröer, Geistesgegenwart, 77.

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spirituellen Dimension zum Grundwissen einer jeden am Menschen orientierten Profession hinzu: zur Pflege, zur Medizin, zur Betriebswirtschaft, zur Pädagogik, zur Psychologie, zur Administration, zur Gerontologie und zur Kybernetik (Leitung). Die Aufgabe, die wir mit diesem Beitrag einläuten oder wiedererwecken, bedeutet nicht mehr und nicht weniger, als das verfügbare Wissen über Spiritualität des Menschen in allen an der Kultur des Helfens beteiligten Professionen diakonischer Arbeit zu etablieren, auch in der Chirurgie und in der Buchhaltung, um zwei prominente Beispiele zu nennen.“24 Dabei warnen die Herausgebenden vor einem Missverständnis: Es geht nicht um die Bekehrung säkularer Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter der Diakonie zu einer bestimmten kirchlich approbierten Form religiöser Existenz, sondern es geht aus Respekt vor der spirituellen Dimension eines jeden Menschen um fachlich angemessene Berücksichtigung und Erschließung dieses Lebensbereiches: „Dahinter steht die Erfahrung, dass Sinnverlust, Verlust von Lebensmut, Verlust von Transzendenzerfahrung in gleicher Weise zu dramatischen Notlagen in der Existenz des Menschen führen können wie ein gebrochenes Bein, eine verkalkte Vene, der Verlust einer Arbeitsstelle oder einer eigenen Wohnung.“25 Diese Überlegungen aufgreifend, wurde in einem dreijährigen (2010–2012), mit Mitteln des Europäischen Sozialfonds und des Bundesministeriums für Arbeit und Soziales durchgeführten Projekts der Diakonie Deutschland – in elf Städten unter Beteiligung von 330 Pflegekräften und mehreren evangelischen Krankenhäusern, geriatrischen Einrichtungen und ambulanten Pflegediensten – zunächst im Kontext der Pflege der Dreiklang von Spiritualität (Gottesliebe), Existenzielle Kommunikation (Nächstenliebe) und Selbstsorge (Selbstliebe) entwickelt (vgl. Mk 12,29f par). In Vorbereitung zu diesem Projekt entstand der Aufsatzband „Spiritualität in der Pflege“ (Neukirchen 2010, inzwischen vergriffen); die Projektergebnisse wurden in den Aufsatzbänden „Geistesgegenwärtig pflegen – Existenzielle Kommunikation, Spiritualität und Selbstsorge im Pflegeberuf“ Bd. 1 (Neukirchen 2012, ebenfalls vergriffen) und Bd. 2 (Neukirchen 2013) zusammengefasst. Das erarbeitete Curriculum und eine Arbeitshilfe zur Organisationsentwicklung erschienen im Band „DiakonieCare“ (Neukirchen 2013). In einem Anschlussprojekt übertrug der Bundesverband evangelische Behindertenhilfe (BeB) das Curriculum DiakonieCare auf die Themenfelder Psychiatrie und Behindertenhilfe (2012–2014) und veröffentlichte die Projektergebnisse im Band „Geistesgegenwärtig begleiten – Existenzielle Kommunikation, Spiritualität und Selbsthilfe in der Psychiatrie und Behindertenhilfe“ (Neukirchen 2014). Autorinnen und Autoren aus dem Gesamtverband Suchthilfe (GVS) und dem Kontext des Evangelischen Zentralinstituts für Familienbera24 Hofmann/Schibilsky, Spiritualität, 12. 25 A. a. O., 13.

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tung (EZI) schrieben im Folgejahr Beiträge für den Band „Geistesgegenwärtig beraten – Existenzielle Kommunikation, Spiritualität und Selbstsorge in der Beratung, Seelsorge und Suchthilfe“ (Neukirchen 2015). Zum Abschluss dieser thematischen Serie gaben aus dem Kontext des Deutschen Evangelischen Krankenhausverbandes (DEKV) und des Christlichen Gesundheitskongresses zahlreiche Ärztinnen und Ärzte Einblick zum Themendreiklang in ihre beruflichen Handlungsfelder im Band „Geistesgegenwärtig behandeln – Existenzielle Kommunikation, Spiritualität und Selbstsorge in der ärztlichen Praxis“ (Neukirchen 2016).

7.

Kritische Anmerkungen zur Betrachtung von „Spiritualität als Ressource“

Dem Postulat Henning Schröers, „Diakonie darf nicht von oben verordnet werden“ oder der Feststellung von Michael Schibilsky und Beate Hofmann, bei Spiritualität gehe es „nicht um Bekehrung von Mitarbeitenden zu einer bestimmten kirchlich approbierten Form religiöser Existenz“ entsprechen Äußerungen und Erfahrungswerte aus der diakonischen Praxis. So benannten Mitarbeitende und Leitende, die in diakonischen Einrichtungen und Diensten tätig sind, im Rahmen von Schulungen zu „Spiritualität, Existenzieller Kommunikation und Selbstsorge in der diakonischen Praxis“26 Aspekte, die aus ihrer Sicht bei einseitiger Fokussierung auf Spiritualität als individuelle oder organisationale Ressource kritisch zu betrachten sind: • Effekte wie Entspannung, Reduzierung von Stress u. ä. sind „Nebenwirkungen“ christlicher Meditation, aber nicht deren Ziel. • Spiritualität darf nicht instrumentalisiert oder „verzweckt“ werden. • Spiritualität ist „Geheimnis“ und entzieht sich der Machbarkeit. • Spiritualität als individueller, sehr intimer Weg entzieht sich dem Zugriff durch den Arbeitgeber. • Spiritualität darf auch nicht ansatzweise als weiteres „Managementinstrument“ dazu verwendet werden, noch mehr Leistung aus den Mitarbeitern herauszupressen. • Zudem äußerten Mitarbeitende „Angst vor Missionierung“. Spirituelle/religiöse Angebote für Patientinnen, Heimbewohner, Menschen mit Hilfe- und Assistenzbedarf, aber auch für Mitarbeitende können sowohl unterstützend und gesundheitsfördernd als auch belastend sein, insbesondere wenn 26 Vgl. dazu Giebel u. a., DiakonieCare.

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die Formen und die Botschaften spiritueller/religiöser Angebote widersprüchlich zur Alltagskultur im eigenen diakonischen Arbeitsfeld wahrgenommen werden. In der Arbeit mit Menschen, die Unterstützung und Hilfe brauchen, suchen und finden Mitarbeitende Momente, die sie sinnvoll, erfüllend und stärkend erleben. Dafür benötigen sie einen unterstützenden Rahmen (Organisationsentwicklung). Die zentrale Frage, die sich insbesondere an die Träger von Diakonischen Werken richtet (top down), lautet: Wie kann die Einrichtungsleitung dazu beitragen und es gewährleisten, dass Mitarbeitende in helfenden Berufen religiöse Kompetenz gewinnen, für sich spirituelle Zugänge erschließen, ihrem beruflichen Handeln geistlichen Sinn geben und ihren persönlichen Glauben auch im Beruf realisieren (Personalentwicklung)?

8.

Existenzielle Kommunikation mit Patientinnen, Heimbewohnern, Menschen mit Hilfe- und Assistenzbedarf

Zum Arbeitsalltag von Mitarbeitenden im Gesundheits- und Sozialwesen gehört immer wieder die unvermittelte Auseinandersetzung mit existenziellen Fragestellungen von Patientinnen, Heimbewohnern oder Menschen mit Hilfe- und Assistenzbedarf. Nicht selten werden solche existenziellen Fragen „zwischen Tür und Angel“ geäußert, so dass es der Befähigung von Mitarbeitenden zu Kurzgesprächen bedarf.27 Existenzielle Fragen können eine positive Krankheitsdiagnose sein, Krisen, unerträgliche Lebenslagen, aufbrechende Leid- oder Sinnfragen. Um adäquat reagieren zu können, brauchen Mitarbeitende im Gesundheits- und Sozialwesen und insbesondere in konfessionellen Einrichtungen Kenntnis der christlichen Tradition, damit sie wahrnehmen, in welchen Bildern und Worten (Gebeten, Liedern, Bibeltexten) die von ihnen Begleiteten zu Hause sind. Pflegebedürftige mit anderen weltanschaulichen Überzeugungen bedürfen in gleichem Maße kultursensibler Pflege. Werden Bewohner oder Patientinnen von Pflegenden begleitet, die religiös unmusikalisch28 sind, fühlen sich Menschen in herausfordernden Lebenslagen bzw. in existenziell krisenhaften Situationen untröstlich allein gelassen (Personalentwicklung).

27 Vgl. hierzu Lohse, Kurzgespräch; ders., Trainingsbuch; Matolycvz, Kommunikation. 28 Zweimal hat Jürgen Habermas die markante Selbstbeschreibung „religiös unmusikalisch“ in der Öffentlichkeit verwendet: zuerst in seiner Dankrede zur Verleihung des Friedenspreises des Deutschen Buchhandels im Jahr 2001, dann nochmals in der Diskussion zwischen ihm und dem damaligen Kardinal Joseph Ratzinger in der Katholischen Akademie in München im Jahr 2004. Dass er dabei, ohne es besonders zu erwähnen, eine semantische Anleihe bei Max Weber machte, war ihm ebenso bewusst wie seinem damaligen Publikum.

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9.

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Spiritualität in den diakonischen Handlungsfeldern

Für diakonische Einrichtungen ist es künftig (über-)lebenswichtig, ihre christlichen Erkennungsmerkmale ausdrücklich benennen zu können. Den kirchlichen Trägern steht dies unter dem wachsenden Druck nicht-christlicher Konkurrenz in der Wohlfahrtspflege klar vor Augen. Musste einmal ein „Unter-dieRäuber-Gefallener“ lebensbedrohlich lange warten, bis sich endlich ein Passant dem Hilfebedürftigen zuwandte (Lk 10,25–37), so stehen heute in der Regel mehrere professionelle Helfer bereit, die darum wetteifern, gegen Bezahlung mit entsprechenden Dienstleistungen beauftragt zu werden. Die Geisteshaltung einer sozialen Einrichtung lebt davon, dass im Alltagsgeschäft die zustimmende Überzeugung der Vielen widerhallt. Insofern ist die Spiritualität einer Institution, der „Geist des Hauses“, der diakonische Geist einer Einrichtung, ein Resonanzkörper der hier arbeitenden Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter. Eine vollständige Identifikation der Mitarbeitenden mit den spirituellen Leitzielen einer Einrichtung wird immer eine Utopie bleiben; es kann sich – im besten Fall – jeweils nur um Annäherungen handeln. Da nicht nur die Zustimmung, sondern die Einstimmung der vielen Einzelnen (bottom up) notwendig ist, um eine Institution tatsächlich in eine ähnliche Richtung zu orientieren, ist die Berücksichtigung beider Faktoren notwendig: Individuum und Institution, Personalentwicklung und Organisationsentwicklung.29

9.1

Diakonische Pflege – Geistesgegenwärtig pflegen

Diakonische Pflege weiß in der Begleitung von Menschen in existenziellen Situationen um ihre christlichen Wurzeln und bezieht diese Grunddimension des professionellen Handelns in die jeweiligen Arbeitsfelder ein. Die drei zentralen Säulen diakonischer Pflege sind Selbstsorge, Spiritualität und Existenzielle Kommunikation. Hier wird das dreifache Gebot der Liebe (Lk 10,27 par.) aufgegriffen und konkretisiert. Gottesliebe findet in gelebter Spiritualität, die Selbstliebe in der Selbstsorge und die Nächstenliebe in existenzieller Begleitung bei Krankheit und Hilfebedürftigkeit ihren Ausdruck. Die Begleitung von Menschen in vulnerablen Lebenslagen ist der Kernauftrag der Diakonie. Rainer Funk beschreibt, dass gegenwärtig unverzichtbare Aspekte des Lebens wie das Durchleben von Krankheit und Leid, das Nachlassen der Kräfte im Alter, das Bewältigen von Krisensituationen verdrängt werden. Negativ erlebte Grundaffekte wie Angst, Schuld, Scham werden vielfach verleugnet.30 Genau mit diesen 29 Siehe Windolph, Spiritualität, 241f. 30 Vgl. Funk, Ich und Wir, 212–213.

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gesellschaftlich verdrängten und verleugneten existenziellen Situationen sind Pflegende täglich konfrontiert. Sie benötigen einen Gegenentwurf zum Umgang mit existenziellem Leid. Ein Kernelement des christlichen Glaubens ist, dass er existenzielles Leid in vielfältiger Form aufgreift und nicht verdrängt oder verleugnet. In den Evangelien wird anschaulich beschrieben, wie Jesus im Garten Gethsemane und am Kreuz existenziell gelitten hat. Auf diesem Hintergrund – verbunden mit dem Wissen um die Auferstehungshoffnung an Ostern – setzt sich diakonische Pflege mit dem christlichen Gegenentwurf zum Umgang mit existenziellem Leid auseinander und überträgt ihn in die Alltagspraxis.

9.2

Geistesgegenwärtig begleiten in der Psychiatrie und Behindertenhilfe

Geistesgegenwärtig begleiten – diese Aufgabe hat die Gewissheit des Glaubens zur Voraussetzung, dass Gottes Geist sich mit unserem menschlichen Geist verbinden kann und will. Und dass Gottes Geist Menschen dazu bewegt, aneinander Anteil zu nehmen, einander mit Empathie zu begleiten und sich um die Seelen von Mitmenschen zu sorgen. Denn nach dem Zeugnis der Bibel hat Gott uns Menschen als Beziehungswesen geschaffen: Menschen brauchen eine vertrauensvolle Beziehung zu Gott und fürsorgliche Beziehungen zu- und untereinander, damit ihr Leben gelingt. Im Blick darauf hat der evangelische Theologe Ulrich Bach die Kirche als „Ergänzungsgemeinschaft“31 bezeichnet. Christinnen und Christen mit und ohne eine Behinderung oder psychische Erkrankung wissen darum, dass sie mit ihren je eigenen Gaben und Defiziten auf Ergänzung und geistesgegenwärtige Begleitung durch ihre Mitmenschen angewiesen sind. Vielfach wird noch immer das spirituelle Erleben psychisch erkrankter Menschen nicht als Grenzerfahrung verstanden, die es gemeinsam zu entschlüsseln gilt, als eine Einladung zum Trialog von Betroffenen, Angehörigen und Fachkräften, sondern eher als diagnostischer Beleg für das Vorliegen klassifizierbarer Symptome. Dabei erleben psychisch erkrankte Menschen die Auseinandersetzung mit spirituellen Fragen häufig widersprüchlich und gleichzeitig mit besonderer Intensität und Empfindsamkeit. Die Auseinandersetzung mit Spiritualität und Religiosität als einer wesentlichen Ausdrucksform des Lebens wurde lange Zeit in der Psychiatrie vernachlässigt. Psychisch erkrankte Menschen können je nach ihrem Erleben sich im Glauben aufgehoben, in ihrem Bewusstsein erleuchtet, mit einer transzendenten Macht verbunden oder auch von dieser bedroht fühlen. Sie können in einer stärkeren Ausprägung eine besondere Mission oder eine besondere Bedrohung und Strafe, der sie ausgesetzt sind, erfahren. Sie setzen sich mit Vergebung von Schuld und Sünde auseinander, 31 Vgl. Bach, Bausteine.

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erleben ihr Leben und ihr Schicksal als göttliche Fügung oder Strafe oder sie leiden – wie viele andere Menschen auch – darunter, auf ihr Bedürfnis nach Transzendenz keine Antwort zu finden. Eine umfassende Teilhabe von Menschen mit Behinderung kann nur dann Realität werden, wenn sie gemäß ihrer individuellen Biografie, ihrer Kultur und Weltanschauung leben und ihre Religion in ihrer jeweiligen Glaubensgemeinschaft ausüben können. Dies schließt (neben baulichen und anderen Zugangsvoraussetzungen) vor allem Sprachfähigkeit, Klärung der Wünsche, Interessen und konkreter Vorstellungen zu gelebter Spiritualität, aber auch die Wahrnehmung elementarer Fragen und Lebensängste ein. Von Bedeutung sind zudem Kenntnisse der an der Assistenz, Pflege, Betreuung und Behandlung beteiligten Personen, welche Umgangsformen, Werte, Rituale und religiösen Handlungen Menschen mit Behinderungen wichtig sind. Inklusion geht davon aus, dass jede Person ein wichtiges Glied der Gemeinschaft ist und dass gerade die Anerkennung der Vielfalt eine wesentliche Basis für die emotionale und soziale Ebene gemeinsamen Lebens darstellt. Ein inklusives Bild von Gesellschaft eröffnet auch die Chance zu gemeinsam gestalteter und gelebter Spiritualität und Religiosität sowie die Kommunikation über existenzielle Fragen, die die Dimensionen von Krankheit und Gesundheit mit einbezieht. Spiritualität mit psychisch erkrankten Menschen oder mit Menschen, die eine körperliche oder geistige Behinderung haben, gemeinsam zu gestalten, ist nicht primär eine Frage von Methodik und Didaktik. Grundlegende Voraussetzung ist hierfür die Begegnung auf Augenhöhe.32

9.3

Geistesgegenwärtig beraten in der Suchthilfe

Dramatische Ereignisse wie der Tod eines Angehörigen, Scheidung, die Geburt eines Kindes, Umzug oder Aufgabe einer Wohnung, Arbeitsplatzwechsel, berufliche Beförderungen und Arbeitsplatzverlust, aber auch weniger dramatische Ereignisse wie ein gebrochenes Bein senken die Widerstandskraft gegenüber Erkrankungen und Unfällen und im Zusammenhang mit Suchtmittelkonsum nach erreichter Abstinenz die Vermeidung von Rückfällen und persönlichen Krisen. Diese Lebensereignisse haben eines gemeinsam: Sie vermitteln intensive Erfahrungen von Verlust oder Veränderung, insbesondere wenn es darum geht, die Beziehung zu einem Suchtmittel aufzugeben. Spirituelle Orientierungen in der Suchthilfe können deutliche Vorteile für den individuellen Genesungsprozesses mit sich bringen. Es liegt eine Reihe von Studien zur spirituellen Orientierung von Menschen mit Suchtproblemen vor, die 32 Vgl. Bundesverband evangelischer Behindertenhilfe u. a., Geistesgegenwärtig begleiten.

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einen positiven Zusammenhang zwischen Spiritualität und positiv verlaufendem Genesungsprozess nachweisen.33 Im Kontext der Diakonie schreibt Andreas Diekmann zu „Spirituellen Akzenten in der Therapie“: „Im Heiligen Geist verlieren sich kleinliche theologische Kontroversen zugunsten des ‚Spirits‘ einer göttlichen Schöpfung, in der die, die es verstehen, Gottes Zuwendung als Botschaft der (Selbst- und) Nächstenliebe verbreiten und den Spagat zwischen der wenig liebevollen Welt und der existenziellen Hoffnung auf die Göttlichkeit in einem weiteren Sinn mit ihrer religiösen Spiritualität aufrechterhalten können. Der intellektuell nicht fassbare Glaube wird in der gelebten Spiritualität umso intensiver erfahrbar. So lässt sich im ‚Getragensein‘ mit dem Ganzen und der aktiven Verantwortung im individuellen existenziellen Mikrokosmos Lebenssinn finden und – wichtiger noch – erhalten.“34

10.

Christliche Spiritualität im Krankenhaus – bezogen auf das Vaterunser35

Christliche Spiritualität ist… Vaterunser … Beziehungsreich Ø Pflege und ärztliche Begleitung ist in einem christlichen Krankenhaus Beziehung. Inmitten der vielen und kurzen Kontakte im Klinikalltag gelingt es, einander – auch berufsgruppenübergreifend – wahrzunehmen und mit Wertschätzung zu begegnen. Im Himmel … Unverfügbar Ø Gesundheit ist nicht „machbar“, sondern immer auch ein Wunder. Gott kann unverhofft Genesung wider menschliches Ermessen schenken. Ein solches übernatürlich oder außergewöhnlich empfundenes Wunder liegt allein in seiner Hand. Dein Name werde geheiligt. … (An)Betend Ø Spiritualität im Gesundheitswesen wird in Symbolen, Riten, seelsorgerlichen Gesprächen sichtbar. Sie ereignet sich aber auch im stillen Gebet von

33 Vgl. im Einzelnen dazu Wessel, Suchthilfe. 34 Diekmann, Suchttherapie, 191. 35 Formuliert von der Verfasserin, erstmals veröffentlicht in: Diakonie Deutschland u. a., Geistesgegenwärtig pflegen, Bd. II, 265–268 und in DEKVthema 6/2012, 3.

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Mitarbeitenden für ihre Patientinnen und Patienten, inmitten ihres medizinisch-pflegerisch-therapeutischen Handelns. Dein Reich komme. … Heilsam Ø Spirituelle Praxis im Krankenhaus dient der Bewältigung von Krankheit, Leid und Schmerz. Entsprechende Bildungsangebote für Führungskräfte und Mitarbeitende fördern und unterstützten die Profilierung von christlicher Spiritualität in diakonischen Krankenhäusern. Dein Wille geschehe … Recht-schaffend Ø Die christliche Dienstgemeinschaft ist Garant für gute Arbeitsbedingungen. In Verantwortung für alle Mitarbeitenden werden Arbeitszeiten, Entlohnung und soziale Absicherung gleichermaßen vereinbart und eingehalten. Wie im Himmel so auf Erden. … Präsent Ø Die wichtigste Stunde ist immer die Gegenwart. Auch in normierten Zeittakten, Minutenpflege und verdichtetem Arbeitsanfall gilt die gesamte Aufmerksamkeit immer dem Gegenüber, insbesondere wenn er oder sie unserer Hilfe bedarf. Unser tägliches Brot gib uns heute. … Dankbar Ø Dankbarkeit ist eine innere Haltung, die zur Ausgeglichenheit und Zufriedenheit führt. Eingeübt ist sie ein Faktor von Resilienz und Coping und damit wesentlicher Bestandteil der Burnout-Prophylaxe im betrieblichen Gesundheitswesen. Und vergib uns unsere Schuld … Versöhnend Ø Gott war in Christus und hat die Welt mit sich selbst versöhnt (2Kor 5,19). Für eine versöhnende Kommunikation müssen sich Mitarbeitende vorurteilsfrei begegnen können und das verständige Hören üben. Wie auch wir vergeben unseren Schuldigern … Friedvoll Ø Selig sind die Friedensstifter (Mt 5,9). Konflikte entstehen fast unvermeidlich, wenn Menschen miteinander arbeiten. Aktiv sich um Frieden zu bemühen, ist unerlässlich für ein gelingendes Konflikt- und Beschwerdemanagement. Und führe uns nicht in Versuchung, … Angefochten Ø Qualifikation und Engagement können Krisen, Brüche, auch Scheitern in Biografien oder Unternehmen nicht immer verhindern. Fehleroffenheit

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und innovatives Lernen in der Organisation korrespondieren mit einem barmherzigen Umgang sich selbst oder anderen gegenüber. Sondern erlöse uns von dem Bösen. … Befreiend Ø Freiräume und Gestaltungsmöglichkeiten motivieren Mitarbeitende im christlichen Krankenhaus. Es ist niemand erlaubt, die Arbeitsqualität etwa durch Mobbing einzuschränken. Jeder erhält Verantwortung und Aufgaben, an denen er wachsen kann. Denn dein ist das Reich … Hierarchiefrei Ø In christlicher Spiritualität gilt das Ansehen jeder Person. Machtgefälle im Team oder zwischen den Professionen werden überbrückt und die Asymmetrie von mächtigen Helfern und ohnmächtigen Patienten aufgehoben. und die Kraft … Kraftvoll Ø Ärzte, Pflegende und Therapeuten wissen sich im Glauben gehalten. So können sie auch ihren Patientinnen und Patienten Halt geben. Christliche Spiritualität ist eine wesentliche Kraftressource. und die Herrlichkeit … Staunend Ø Staunen macht das Herz weit und weckt Lebensfreude. Atemberaubende Naturerlebnisse können begeistern, aber auch außerordentliche menschliche Leistungen und herausragende Erfolge im Team. In Ewigkeit … Unverlierbar Ø Die unvergängliche Würde eines jedes Menschen wird im christlichen Krankenhaus geachtet. Räume zur Entfaltung von Integrität werden geschaffen, indem Grenzen respektiert und Anerkennung und Zugehörigkeit gewährt werden. Amen. … Wahrhaftig Ø Ein aufrichtiger und wahrhaftiger Umgang ist von zentraler Bedeutung. Im Spannungsfeld zwischen ökonomischen Zwängen und ethischem Anspruch ist ein unermüdliches Bemühen um Glaubwürdigkeit und eine faire, transparente und ehrliche Kommunikation unerlässlich.

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Literatur Bach, Ulrich, Ohne die Schwächsten ist die Kirche nicht ganz. Bausteine einer Theologie nach Hadamar, Neukirchen-Vluyn 2010. Barth, Hans-Martin, Spiritualität, Göttingen 1993. Bundesverband evangelische Behindertenhilfe/Armbruster, Jürgen/Frommann, Nicole/ Giebel, Astrid (Hg.), Geistesgegenwärtig begleiten. Existenzielle Kommunikation, Spiritualität und Selbstsorge in der Psychiatrie und Behindertenhilfe, Neukirchen 2014. Comte-Sponville, André, Woran glaubt ein Atheist? Spiritualität ohne Gott, Zürich 2008. Cole, Brenda S./Pargament, Kenneth I., Spiritual Surrender: A Paradoxical Path to Control, in: Miller, William R. (Hg.), Integrating Spirituality into Treatment, Washington 2009, 179–198. Diakonie Deutschland/Stockmeier, Johannes/Giebel, Astrid/Lubatsch, Heike (Hg.), Geistesgegenwärtig pflegen. Existenzielle Kommunikation und spirituelle Ressourcen im Pflegeberuf, Bd. I, Grundlagen und Werkstattberichte, Neukirchen 2012, und Bd. II, Studien und Projektergebnisse, Neukirchen 2013. Diekmann, Andreas, Spiritualität in der Suchttherapie, in: Giebel, Astrid/Lilie, Ulrich/ Utsch, Michael/Wentzek, Dieter/Wessel, Theo (Hg.), Geistesgegenwärtig beraten. Existenzielle Kommunikation, Spiritualität und Selbstsorge in Beratung, Seelsorge und Suchthilfe, Neukirchen 2015, 186–202. Dömling, Georg, Kennzeichen kultursensibler Pflege, in: Diakonie Deutschland/Stockmeier, Johannes/Giebel, Astrid/Lubatsch, Heike (Hg.), Geistesgegenwärtig pflegen. Ehm, Simone/Giebel, Astrid/Lilie, Ulrich/Prönneke, Rainer (Hg.), Geistesgegenwärtig behandeln. Existenzielle Kommunikation, Spiritualität und Selbstsorge in der ärztlichen Praxis, Neukirchen 2016. Eppenstein, Thomas/Kiesel, Doron, Soziale Arbeit interkulturell, Stuttgart 2008. Frick, Eckhard/Roser, Traugott, Spiritualität und Medizin. Gemeinsame Sorge für den kranken Menschen, Stuttgart 2009. Funk, Rainer, Ich und Wir. Psychoanalyse des postmodernen Menschen, München 2005. Giebel, Astrid/Lubatsch, Heike/Meussling-Sentpali, Annette, DiakonieCare. Existenzielle Kommunikation, Spiritualität und Selbstsorge in der Pflege. Curriculum und Arbeitshilfe zur Organisationsentwicklung für Pflegeberufe, Krankenhäuser und Pflegeeinrichtungen, Neukirchen 2013. Giebel, Astrid/Lilie, Ulrich/Utsch, Michael/Wentzek, Dieter/Wessel, Theo (Hg.), Geistesgegenwärtig beraten. Existenzielle Kommunikation, Spiritualität und Selbstsorge in Beratung, Seelsorge und Suchthilfe, Neukirchen 2015. Graupner, Tobias, Die Spiritualität der Sozialen Arbeit im Hospiz. Wuppertal 2008. Hanrieder, Tine, Die Entdeckung der Religion. Spiritualität und Glauben werden relevant für die globale Gesundheitspolitik, WZB Mitteilungen Heft 152, 2016. Hofmann, Beate/Schibilsky, Michael (Hg.), Spiritualität in der Diakonie. Anstöße zur Erneuerung christlicher Kernkompetenz, Neukirchen 2001. Jakob, Beate/Bartmann, Peter, Gesundheit und Gesundheitsförderung. Ansätze zur Integration der spirituellen Dimension in Konzepte und die Arbeit der WHO, in: Armbruster, Jürgen/Petersen, Peter/Ratzke, Kathrin (Hg.), Spiritualität und seelische Gesundheit, Köln 2013, 48–62.

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Astrid Giebel

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Fünfter Teil: Lebenswelt und Bildung

Cornelia Coenen-Marx

Familie als Wiege der Spiritualität

1.

Der Familien-Chor: Lieder, die durch die Zeiten tragen

Ein amerikanischer Countrysong erzählt vom Familien-Chor, in dem jede und jeder eine eigene Stimmlage hat – bei allen Familienfesten und über die Abschiede hinweg schließlich auch im Himmel. Die gegangen sind, singen im „höheren Chor“. Mich erinnert das an meine eigene Familie, in der kein Fest gefeiert wurde, ohne dass neue und alte Gesangbücher aus dem Regal am Klavier zum gemeinsamen Singen verteilt wurden. Die Psalmen von Jorissen waren dabei besonders geliebt; sie wurden nicht nur gesungen, sondern auch memoriert als zentrales Glaubensbekenntnis reformierter Familien und Gemeinden. Zu jedem Geburtstag eines Familienmitglieds lernten Kinder und Enkel einen neuen Psalm – ein selten genutzter Traditionsschatz, der mich bis heute begleitet. Die Tradition begann zu erodieren, als in meiner Generation Schwiegersöhne mit anderer konfessioneller Prägung einheirateten; sie ging ganz verloren, als die Großelterngeneration starb. Zuvor aber erfuhr sie noch eine Bereicherung durch den amerikanischen Schwager: Weihnachten blieb es nun nicht bei „Vom Himmel hoch“ – auch „Hark, the harold angels sing“ wurde gesungen. Mit der Familie zusammen zu feiern und zu singen, das macht nach einer Chrismon-Umfrage von 2013 für die allermeisten Menschen Weihnachten aus. „O Tannenbaum“, „Ihr Kinderlein kommet“, oder auch in der „Weihnachtsbäckerei“ werden rund um die Bescherung vor allem da gesungen, wo man gemeinsam mit Kindern feiert. Jeweils kurz vor Weihnachten kann man in den bunten Blättern wieder Lebenshilfe für das große Familienfest finden: vom Weihnachtsmenü über Last-Minute-Geschenke bis zur Beratung bei zerbrochenen Träumen. Unter dem Titel „Das Fest der gebrochenen Herzen“ erzählte die „Bunte“ 2013/14 von prominenten Patchworkfamilien, die an den Festtagen zwischen den unterschiedlichen Familienteilen mit Ex-Partner/innen, Geschwistern, Halbgeschwistern und Großeltern balancierten. Der Titel erinnert daran, wie stark gerade zu Weihnachten die Sehnsucht nach der „heilen Familie“ ist. 2016 erfreute sich eine Edeka-Werbung unzähliger Klicks im Netz: Es ging um

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einen einsamen alten Mann, der nur über den Trick mit seiner Todesanzeige seine erwachsenen Kinder dazu bringt, zu Weihnachten noch einmal nach Hause zu kommen und am geschmückten Familientisch Platz zu nehmen. Die lutherische Tradition des Heiligen Abends mit „Vom Himmel hoch“, Weihnachtskrippe, Christkind und Bescherung spielt in unserer Kultur nach wie vor eine zentrale Rolle: Die weihnachtlichen Rituale stützen die Familie als „Gemeindekern“. „Nirgendwo in Europa ist der Anspruch, wie das Familienleben zu gestalten sei, derart hochgesteckt wie bei uns“, schreibt Christine Eichel.1 Tatsächlich gehören – allen Trennungen und Scheidungen zum Trotz – ein glückliches Familienleben und eine stabile Partnerschaft zu den sehnlichsten Wünschen der allermeisten; das gilt, wie Umfragen zeigen, gerade für die Jungen. Angesichts gravierender gesellschaftlicher Umbrüche wird die Familie als Schutzraum erfahren, als Ressource erlebt. „Familien werden dabei vielfältige Aufgaben zugetraut und zugemutet: Kinder sollen so erzogen werden, dass sie das Leben in einer auf Individualisierung angelegten Wissensgesellschaft bestehen. Ehe- und Lebenspartner sollen sich gegenseitig ermöglichen, persönliches Glück zu erfahren und zu genießen und einander eine Stütze sein. Kranke und alte Menschen sollen versorgt werden, verwandtschaftliche, nachbarschaftliche und freundschaftliche Netze wollen gepflegt und weiterentwickelt werden.“2

Als Gemeinschaft soll die Familie vielfältige gesellschaftliche Anforderungen ausbalancieren. Das Zitat stammt aus der Orientierungshilfe der EKD zur Familienpolitik, die 2013 unter dem Titel „Zwischen Autonomie und Angewiesenheit“ veröffentlicht wurde. Der Titel beschreibt das zentrale Spannungsfeld. Zu den Trends, die unser Leben verändern, gehört die „Versinglung“ der westlichen Gesellschaften: 28 % aller US-Haushalte sind heute Single-Haushalte; verglichen mit 9 % in den 1950er-Jahren ein enormer Anstieg. In Schweden sind es 47 %, in Großbritannien 34 %, in Japan 31 % – aber in Kenia nach wie vor nur 15 %, in Indien sogar nur 3 %. In einem Artikel für „Le Monde diplomatique“ kommt der Soziologe Eric Klinenberg zu dem Ergebnis, dass Alleinleben der beste Weg ist, die modernen Werte einer individualistischen Gesellschaft zu leben: Freiheit, Selbstverwirklichung und Selbstkontrolle, eben Autonomie.3 Single zu sein ist längst kein Durchgangsstadium mehr, sondern eine Lebensform genauso wie alleinerziehend zu sein. Auch viele Paare kennen Lebensphasen, in denen sie aus beruflichen Gründen über lange Zeit getrennt leben. Immerhin jedes dritte Paar in den ersten Berufsjahren ist betroffen und für viele ist das der selbstverständliche Preis für berufliche Mobilität und Karriere. 1 Eichel, Lutherland, 59. 2 Kirchenamt der EKD, Familie, 24. 3 Klinenberg, Vivre.

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Zurück bleiben die Immobilen, die Alten und oft genug die Kinder, die eben, die in besonderem Maße auf andere angewiesen sind. Aber auch moderne Individuen, autonome Subjekte, sind letztlich auf konstitutive Beziehungen und tragende Gemeinschaften angewiesen. Denn in ihnen entsteht das Bedeutungsgewebe, das dem Leben Sinn gibt, der rote Faden, der Identität formt. Wir sind Beziehungswesen; wir wachsen in Abhängigkeit auf und bleiben auch dann auf andere angewiesen, wenn wir als Erwachsene in Arbeitsbeziehungen kooperieren oder in Krankheit und Pflegebedürftigkeit Hilfe brauchen. Im Glück sexueller Begegnung „erkennen“ wir den oder die andere als „Fleisch von meinem Fleisch“, wie es im zweiten Schöpfungsbericht heißt (Gen 2,23); in der körperlichen Hingabe erleben wir ein Angewiesensein jenseits von Hilfebedürftigkeit. „Als Ergänzung“, so die EKD-Orientierungshilfe, „die uns gerade nicht unfrei macht, sondern viel von dem frei setzt, was unsere Person ausmacht. Erst in der Erfahrung der eigenen Unvollkommenheit und Angewiesenheit reifen wir zu erwachsenen Menschen, die dann auch bereit sind, Verantwortung für die nächste Generation zu übernehmen.“4

Angesichts der beruflichen Beschleunigungsprozesse und gesellschaftlichen Zerreißproben, die Familien erleben, ist das offenbar schwer geworden. Immer häufiger wird Erfahrung durch Innovation entwertet, immer hektischer passt man sich durch Neuaufstellung gesellschaftlichen Veränderungen an. Auf dem Hintergrund zunehmender Mobilität schwindet die Möglichkeit, an einem Ort wirklich Wurzeln zu schlagen, und die schiere Zahl der Lebens- und Arbeitsbeziehungen bedroht die Dauer der Bindungen. Während sich in der Moderne Beruf und Status der Familie noch von Generation zu Generation änderten, haben Menschen heute im Laufe eines Lebens oft mehrere Berufe, mehrere Partnerschaften. Der Soziologe Hartmut Rosa beschreibt diese Prozesse als strukturelle Entfremdung, die schließlich auch die eigene Identität betrifft. „Wenn unsere Identität geformt wird über das, woran uns etwas liegt oder worum wir uns sorgen, dann wird die Unsicherheit über das, was uns wichtig ist und der Verlust von (sozialer Stabilität) notwendig zu einer Störung unseres Selbstverhältnisses führen.“5

Um uns unser selbst sicher zu sein, brauchen wir Resonanz in stabilen Beziehungen. Deshalb richtet sich unsere Sehnsucht darauf, uns verorten zu können in den großen und manchmal verstörenden Transformationsprozessen, uns zu Hause zu fühlen in einer Gemeinschaft und Erfahrungen miteinander zu teilen. Wenn Familien zusammenkommen, Erinnerungen austauschen und gemeinsam singen, erfahren sie in einem umfassenden Sinne Resonanz: Erinnerungen an die gemeinsame Geschichte werden wach, Veränderungen werden sichtbar. Gerade 4 Kirchenamt der EKD, Familie, 62 5 Rosa, Beschleunigung, 113.

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zu Weihnachten bilden die biblischen Bilder und Geschichten einen Resonanzboden, um die eigene Geschichte in einer größeren gehalten zu wissen.

2.

Anspruch und Wirklichkeit: Familie in Zerreißproben

Laut einer Allensbach-Studie lehnen 64 Prozent der Deutschen mit einem Kind, aber nur 27 Prozent der Franzosen weiteren Nachwuchs ab.6 In Deutschland, meint Eichel, spuke die Idee einer idealen Familie in den Köpfen, „ein trautes Heim mit Präsenz möglichst beider Eltern, viel Zeit für Erziehung, Bildung und gemeinsame Unternehmungen“.7 Auf jeden Fall sollte ein Elternteil für die Kleinkinderziehung zu Hause bleiben, denken 45 Prozent der (noch) Kinderlosen: Ein Einkommen müsse ausreichen, bevor man ein Kind bekomme. Dabei spielt nach Meinung der Autorin eine entscheidende Rolle, dass Luther die Themen Elternschaft und Erziehung ins Zentrum seines Nachdenkens über Familie gesetzt hat. Im Verhältnis der Eltern zu ihren Kindern sah er das Verhältnis zwischen Gott und Mensch abgebildet: „Gott befiehlt Vater und Mutter das Amt, dass sie Kinder erziehen, wobei man lernen und gleichwie in einem Spiegel sehen kann, wie Gott uns gegenüber gesinnt ist. […] Wie des Vaters Herz gegenüber den Kindern, so steht Gottes Herz dir gegenüber. Daher kommt das Sprichwort und ist wohl auch wahr, dass Vater und Mutter an den Kindern den Himmel und die Hölle verdienen können, je nachdem, ob sie ihnen gut oder übel vorstehen.“8

Kinder zu erziehen, ist also eine Lebensaufgabe und darin zugleich ein geistliches Amt. Für Luther sind die Eltern „Apostel, Bischöfe und Pfarrer“9 für ihre Kinder, Familie ist der Mikrokosmos göttlicher Herrschaft, Keimzelle der Gesellschaft. Der „protestantische Blick auf die Familie hat die kollektive deutsche Mentalität geprägt und die Messlatte der Familien- und Erziehungsideale hoch angelegt“, so Eichel.10 Dabei spiele eine entscheidende Rolle, dass das Bürgertum im 19. Jh. Luthers Familienideal als Projektionsfläche wiederentdeckte. „Die verklärte Rückschau auf Luthers Familie passte zum Zeitgeist von Romantik und Biedermeier, passte zur Innerlichkeit, zur Kultivierung häuslicher Intimität im Kontrast

6 Eichel, Lutherland, 58 7 Ebd. 8 Martin Luther, Anweisung zu einer christlichen Kinder-Erziehung, besorgt von Abth. II. der Gesellschaft für innere Mission nach dem Sinne der lutherischen Kirche. Nr. 2 Nürnberg, 1850 In der Joh. Phil. Raw’schen Buchhandlung. 9 Vom ehelichen Leben, WA 10/2, 301,23f. 10 Eichel, Lutherland, 64.

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zur bedrohlich empfundenen Industrialisierung und zu den Umwälzungen des technischen Fortschritts.“11

Familie wurde zur „Wärme- und Werteinsel, die Kontinuität und Solidarität versprach“.12 Mit der offensichtlichen Spannung zwischen Wunsch und Wirklichkeit setzt sich auch die oben zitierte Orientierungshilfe der EKD auseinander. Sie beschreibt vier große Herausforderungen, die Familien heute kennzeichnen:13 Die Zeit für Familiengründung ist knapp geworden. Lange Ausbildungszeiten und schwierige Berufseinstiege haben zur Folge, dass die Geburt von Kindern im Lebenslauf immer weiter hinausgeschoben wird: Das Durchschnittsalter der Erstgebärenden liegt gegenwärtig bei 29 Jahren (Ostdeutschland: 27 Jahre), 60 % der Kinder werden von Müttern zwischen 26–35 geboren.14 Dabei spielt die Reproduktionsmedizin eine immer größere Rolle. Zugleich nimmt die Vielfalt des Familienlebens zu. Ein Drittel aller Kinder werden nichtehelich geboren. Das sind doppelt so viele, wie noch vor zwanzig Jahren. Dabei gibt es allerdings einen markanten deutsch-deutschen Unterschied: Im Westen sind es nämlich nur 27 % der Kinder, im Osten 61 %. Familie ist nicht einfach Schicksalsgemeinschaft, sondern mehr und mehr auf Entscheidungen füreinander gegründet. Die Soziologie spricht inzwischen von Familie als „Herstellungsgemeinschaft“:15 Familie zu leben, braucht bewusste Arbeit an einer gemeinsamen Identität und Kultur, Zeit für vielfältige Kontakte und eine gute finanzielle Basis. Fast jede dritte Familie hat inzwischen einen Migrationshintergrund (30 % in West-, 14 % in Ostdeutschland,16 Zu diesen Familien zählen alle Eltern-Kind-Gemeinschaften, bei denen mindestens ein Elternteil eine ausländische Staatsangehörigkeit besitzt oder die deutsche Staatsangehörigkeit beispielsweise durch Einbürgerung erhalten hat. Knapp ein Viertel der zugewanderten Familien kommt aus der Türkei. Etwa ein Fünftel stammt aus Osteuropa, ein weiteres Fünftel aus süd- oder westeuropäischen Ländern.17 Wenn man sich vorstellt, dass noch in der Nachkriegszeit Ehen daran scheiterten, dass die Paare nicht „das gleiche Gesangbuch“ hatten, lässt sich ahnen, welche Herausforderung in der religiösen Vielfalt steckt, die damit verbunden ist. Zugleich wächst die gesellschaftliche und ökonomische Spreizung nicht nur deshalb, weil sich die sozialen Milieus in Deutschland in hohem Maße auseinanderentwickeln. Auffällig ist die Polarisierung sozialer Lebenslagen 11 12 13 14 15 16 17

Eichel, Lutherland, 65. Ebd. Kirchenamt der EKD, 25ff. BMFSFJ, Geburten, 9f. Vgl. z. B. Jurczyk, Herstellungsleistung. BMFSFJ, Familienbericht, 18. A. a. O., 19.

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zwischen Ein- und Zwei-Verdiener Haushalten, vor allem aber zwischen denen, die für Kinder sorgen, und denen, die keine Kinder zu versorgen haben. Familienarbeit wird finanziell nur honoriert, wenn sie auf Ehe- oder Lebenspartnerschaft basiert. Auch deshalb sind Alleinerziehende, die kaum in Vollzeit arbeiten können, überdurchschnittlich häufig von Einkommensarmut betroffen – mit einem Kind sind sie zu 46 %, mit zwei und mehr Kindern sogar zu 62 % armutsgefährdet. „Familie ist, wo Kinder sind“,18 heißt denn auch die politische Formel, mit der die Vielfalt der Familienformen in einem neuen Leitbild aufgenommen wird, das letztlich Familienförderung verändern soll. Angesichts des demographischen Wandels in der „unterjüngten“ Gesellschaft ist aber auch dieser erweiterte Familienbegriff unvollständig. Familie ist überall da, wo private Sorgearbeit geleistet und der Zusammenhalt zwischen den Generationen gestaltet wird; das gilt auch für erwachsene Kinder mit ihren pflegebedürftigen Eltern. Nach einem solchen Raum der wechselseitigen Fürsorge und Entlastung, von Geborgenheit und Sicherheit sehnen sich die meisten Menschen. Wenn allerdings die sozialpolitischen Rahmenbedingungen mit dem gesellschaftlichen Wandel nicht Schritt halten, geraten Familien in Zerreißproben oder zerbrechen gar an äußerer und innerer Überforderung. Viel bewusster als in früheren Generationen müssen deshalb Familien selbst die Form ihres Zusammenlebens immer wieder auf den Prüfstand stellen. Rollen, Aufgaben und Beziehungen wandeln sich mit den inneren und äußeren Herausforderungen. Was ist gerade wichtiger: Zeit für Familie und Fürsorge oder ein stabiles, besseres Einkommen für alle? Stimmt die Arbeitsteilung zwischen den Partnern noch? Lässt die Pendelbeziehung genügend Raum für gemeinsame Zeiten? Welche Rolle spielt der Wohnort für die Stabilität der Netze? Wenn Kinder in solche Beratungen einbezogen und ernst genommen werden, lernen sie frühzeitig, Zerreißproben wahrzunehmen, sich über Kriterien klar zu werden und die Schattenseiten, die es in jeder Entscheidung gibt, zu benennen. Entscheidend wird sein, ob die Familie einen Raum bietet für das unkalkulierbare „Mehr“, das im Miteinander erwächst.

3.

Gotteskommunikation im Alltag der Familie

Die Beziehungen zwischen den Familienmitgliedern sind von einer solchen Bedeutung, dass sie in der gesamten Bibel zum Symbol für die Gottesbeziehung werden, in der wir Schöpfung, Schuld und Vergebung, Selbstwerdung und Liebe über den Tod hinaus erleben. Beziehungen in der Familie bilden „die Folie, ohne 18 Die politische Formel wurde mit Beginn der rot-grünen Regierung 1998 nach und nach von allen Parteien übernommen.

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die eine Fülle biblischer Geschichten und Texte anscheinend nicht ausreichend verstanden werden können“, heißt es in der Familienschrift der Ev. Kirche in Mitteldeutschland.19 Wir denken Gott als Vater und Mutter, Jesus stellt Kinder in die Mitte des Jüngerkreises, und was Vergebung und Neuanfang bedeutet, wird an Geschichten von Ehebruch deutlich. Umgekehrt prägt unser Gottes- und Menschenbild auch unsere Kommunikation miteinander. Albert Biesinger spricht in diesem Zusammenhang von „Gotteskommunikation“ – Gotteskommunikation ist das Abendgebet genauso wie die Meditation am Morgen; Gotteskommunikation ist aber auch, „wenn der erwachsene Enkel Silvester mit den gebrechlichen Großeltern feiert, wenn er die Zerstreutheit und die Phantasien der Oma, die früher doch so eine starke Frau war, wahrnimmt.“20 Oder „,wenn die 18jährige nicht bereit ist, in die längst gebuchten Ferien abzufliegen, ohne vorher ihre […] krebskranke Freundin auf der Intensivstation zu besuchen.“21 „Familien sind originärer Ort der Gotteskommunikation, weil sie der Ort erster und eindrücklicher Beziehungen überhaupt sind“, so Biesinger.22 Die 5. Kirchenmitgliedschaftsuntersuchung (KMU) der EKD unterscheidet bei der religiösen Kommunikation eine eher informativ-intellektuelle, eine praktisch-handlungsorientierte und eine existenzielle Dimension. „Existenziell-religiöse Kommunikation wird hier mit der Frage nach dem verbalen Austausch über den Sinn des Lebens operationalisiert – und diese wird von den Befragten eindeutig im Privaten verortet. Das Gespräch über den Sinn des Lebens gehört nicht in die Öffentlichkeit, sondern ist offenbar ein persönliches, als intim empfundenes Thema, das in erster Linie mit dem Partner/der Partnerin besprochen wird, dann auch mit Freunden/Freundinnen. An dritter Stelle wird die (erweiterte) Familie genannt. Der Austausch über religiöse Themen erfolgt also primär in Mikronetzwerken von Wahlverwandten und engsten Vertrauten, denen man sich in hohem Maß verbunden fühlt und die sich in der Regel zudem auch untereinander kennen.“23

Familie ist zentraler Ort von Glaubenserfahrung und Gespräch über den Glauben. Da muss es beunruhigen, dass es bei den evangelischen Kirchenmitgliedern „über die Generationen hinweg zu einer kontinuierlichen Abnahme sowohl der Verbundenheit mit der Kirche als auch der Religiosität [kommt]. Ein zentraler Grund hierfür liegt in der abnehmenden Breitenwirkung der religiösen Sozialisation: Je jünger die Befragten sind, umso seltener geben sie an, religiös erzogen worden zu sein. Von den Evangelischen ab 60 Jahren wurden nach eigenen Angaben etwa 83 % religiös erzogen, von den Kirchenmitgliedern unter 30 Jahren sagen das nur noch 55 %. Unabhängig vom

19 20 21 22 23

Ev. Kirche in Mitteldeutschland, Blickpunkt: Familie. Biesinger, Gotteskommunikation, 14. A. a. O., 104. A. a. O., 92. KMU V, 7.

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Lebensalter der Befragten erscheint die jeweilige Herkunftsfamilie als der zentrale Ort, an dem religiöse Sozialisation wirksam stattfindet.“24

Dass Eltern und Großeltern für die Weitergabe des Glaubens wichtiger sind als Pfarrerinnen, Erzieherinnen oder Lehrer, haben bereits frühere Untersuchungen nachgewiesen. So beunruhigend allerdings der Befund der KMU ist: verwundern kann er nicht. „Der moderne Individualismus steht meines Erachtens nicht nur für einen persönlichen Impuls, sondern auch für einen sozialen Mangel, einen Mangel an Ritualen […] Die moderne Gesellschaft hat die durch Rituale hergestellten Bindungen geschwächt“,25 schreibt der Soziologe Richard Sennet in einem Buch über Kooperation, in dem er darstellt, dass die Fliehkräfte des Marktes und die ökonomische Funktionalisierung aller Lebensbereiche – von Bildung bis zu Gesundheit – nicht nur Familien, sondern auch die Zusammenarbeit im Betrieb oder in Vereinen schwächen. Gemeinschaften brauchen Kontinuität und Vertrauen; umgekehrt entsteht hier das (Ur)Vertrauen, das Gesellschaften auch in Krisen zusammenhält, ein Mehrwert, der ökonomisch und funktional nicht zu berechnen ist. Das große Gewicht von Berufskarrieren in unserer Erwerbsgesellschaft, die mangelnde Wertschätzung von Erziehungs- und Pflegearbeit, die wachsende Bedeutung von Bildungsabschlüssen für Chancengleichheit lenken aber den Fokus vom gemeinsamen Weg auf die möglichst erfolgreiche Entwicklung jedes Einzelnen und implementieren damit die Fliehkräfte von Markt und Wettbewerb in die Familien. Zwar wird – etwa verglichen mit den 1970er-Jahren – wieder häufiger in der gleichen Schicht bzw. im gleichen Milieu geheiratet, doch spielt dabei die religiöse Prägung eine geringere Rolle. Nicht nur in konfessionsverbindenden Ehen oder in Partnerschaften, in denen nur einer einer Kirche angehört, sondern auch in der wachsenden Zahl von bikulturellen Familien gilt es, fremde Traditionen kennenzulernen und über Rituale zu „verhandeln“; leider oft mit dem Ergebnis, dass auf eine explizit religiöse Erziehung verzichtet wird. Fühlten sich viele Familien schon in konfessionsverbindenden Ehen überfordert und oft genug von den Kirchen allein gelassen, wenn es etwa um die Taufe oder die Teilnahme an der Eucharistie ging, so ist die Unsicherheit im Blick auf Hochzeiten religionsverschiedener Paare oder die Beschneidung von Jungen doppelt groß. Vielen werden die eigenen religiösen Prägungen erst in der Begegnung mit dem Partner/der Partnerin bewusst. Die traditionelle Rollenteilung in Deutschland, nach der Mütter für die religiöse Erziehung zuständig sind („Kinder, Küche, Kirche“), wird deutlich erschwert, wenn die religiöse „Muttersprache“ und das gesellschaftliche Umfeld nicht übereinstimmen. Wer aber die Kinder von den reli24 A. a. O., 10. 25 Sennet, Zusammenarbeit, 201.

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giösen Wurzeln der Familien trennt, enthält ihnen spirituelle Erfahrungen und Lebenskräfte vor, die für die Entwicklung der eigenen Identität Bedeutung haben. Dabei bietet bikulturelles Aufwachsen die Chance, Lebensdeutungen unterschiedlicher Kulturen und Religionen verstehen und deuten zu können, die eigenen Werte zu überprüfen und das eigene Weltverständnis zu erweitern. Das Zusammenleben mit anderen Religionen kann gerade Protestanten deutlich machen, dass Religion alle wesentlichen Lebenszusammenhänge betreffen kann – von Speisen und Fasten bis zur Kleidung, von Tischgebeten und Abendliedern bis zu Hochzeiten und Beerdigungen. Dass sich religiöse Überzeugungen heute für viele immer schon im Plural darstellen, muss kein Nachteil sein, solange Kinder in ihrer eigenen Tradition Heimat empfinden. Dabei lässt sich von den Prozessen der innerdeutschen Ökumene lernen: Dass Symbole und Rituale aus dem katholischen oder lutherischen Kontext inzwischen in allen evangelischen Gemeinden eine Rolle spielen, ist eine Bereicherung. Ich denke an Lichterbäume, geschmückte Taufbecken oder an Taufkerzen, die in den Familien bewahrt und am Tauftag angezündet werden können. Auf institutioneller wie persönlicher Ebene kann der Dialog nicht nur Bereicherung, sondern auch Befreiung bedeuten. Die Klärung der anstehenden Fragen, die Auseinandersetzung mit den verschiedenen Kirchen, mit Ritualen und religiöser Erziehung bietet Gelegenheit, das eigene Gottesbild noch einmal zu überprüfen und zu einem eigenen Weg zu finden. „Zum christlichen Glauben gehört die Fähigkeit, sich selbst und anderen Rechenschaft über diesen Glauben geben zu können; das setzt heute insbesondere Dialogfähigkeit und die Offenheit gegenüber anderen Religionen und Weltanschauungen voraus – mithin die „Bereitschaft, sich angesichts bleibender Differenzen der wechselseitig kritischen Auseinandersetzung zu stellen.“26

Schon die „ökumenische“ Trauung mit den je unterschiedlichen Erwartungen beider Kirchen an die religiöse Erziehung zeigt auf paradoxe Weise: Familien sind Subjekt ihrer Spiritualität und Theologie. Eltern unterschiedlicher Konfession und Religion, kirchlich Verbundene wie Suchende müssen darin gestärkt werden, mit Vielfalt zu leben, eigene Antworten zu finden und Traditionen zu entwickeln. Kinder brauchen Ermutigung, ihrer religiösen Neugier und Sehnsucht zu folgen. Kirchengemeinden und kirchliche Erwachsenenbildung tun gut daran, mit ihren Bildungsangeboten die je eigene und eigensinnige „Familientheologie“ zu unterstützen, die sich im allmählichen Reflektieren spiritueller Erfahrungen herausbildet – aus Kinderfragen, dem religiösen Wissen der Erwachsenen und gemeinsamen Erlebnissen.27 Aber auch das Patenamt muss aus dem Schatten der

26 Kirchenamt der EKD, Bildung, 59. 27 Biesinger, Gotteskommunikation, 102.

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Jahrhunderte geholt werden. Denn wie in der Urgemeinde brauchen Familien in einer säkularen und multireligiösen Umwelt überzeugte Christinnen und Christen an ihrer Seite – als geistliche Begleitung, aber auch als Brücke zu einer Kirchengemeinde. Rüdiger Maschwitz hat eine Struktur für einen Patenkurs von vier Abenden entwickelt.28 Klar ist: Die religiöse Erziehung in Familie, Tageseinrichtungen, Schulen und Konfirmandenarbeit muss ergänzt werden durch Wege erwachsenen Glaubens; auch hier gilt – wie im Beruf – das Prinzip lebenslangen Lernens. Und schließlich brauchen Großeltern Unterstützung bei der Glaubensvermittlung an ihre Enkel. Angesichts des Zerbrechens von Partnerschaften bilden die Generationenbeziehungen oft die entscheidende und gewissermaßen unkündbare Stabilität.

4.

Raum der wechselseitigen Fürsorge

„Eltern sind die ersten Boten des Glaubens, die ein Kind kennenlernt“, schreiben Meike Wagener-Esser und Thilo Esser.29 Noch vor Erzieherinnen, Lehrern und Pfarrerinnen erfahren Kinder an Eltern und Großeltern, was christlicher Glaube für ihr Leben bedeuten kann. Von Anfang an spüren sie, ob die Impulse, die ihnen gegeben werden, authentisch sind. In jeder Interaktion und elterlichen Intervention erfahren Kinder deren Haltungen und Werte. Wo Eltern in Gottvertrauen leben, können Kinder lernen, dass Menschen Alltag und Zukunft trotz offener Fragen, Unsicherheiten und Konflikte mutig gestalten können. Eine zentrale Rolle spielt dabei das Gebet; und zwar nicht nur wegen des Gottesbildes, das implizit vermittelt wird, sondern zunächst wegen der Haltung der Hingabe und Offenheit, die Orientierung gibt, noch bevor Worte sie begründen. Das gilt auch da, wo Grenzen erfahren und gesetzt werden müssen. Ein begründetes „Nein“ der Eltern kann später Gelegenheit geben, die eigenen Maßstäbe zu prüfen und weiterzuentwickeln. Grenzen zu akzeptieren, zu erweitern und auch zu überschreiten, daran zu scheitern und Grenzen neu zu erfahren, gehört vielleicht gerade heute zu den wesentlichen Lernerfahrungen in einer scheinbar grenzenlosen Welt. Kleine Kinder brauchen den ganzen Tag Aufmerksamkeit und Fürsorge und können damit die Rhythmen der Erwachsenen kräftig auf den Kopf stellen – von der Nachtruhe bis zu den Zeiten für gemeinsame Mahlzeiten. Diese Zeit dauernden Gefordertseins und intensiver Zuwendung muss gleichwohl nicht als Verlust verstanden werden. Ignatius von Loyola, auf den sich Wagener-Esser und Esser beziehen, kann dabei Lehrmeister sein: „Wenn Ihr könnt, hört Messe und obliegt den gewohnten Andachten, wenngleich sie abgekürzt werden kön28 Maschwitz, Gemeinsam, 148ff. 29 Wagener-Esser/Esser, Familie, 16.

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nen, wenn Ihr der Hilfe für die Nächsten obliegt; denn es ist Gebet, was man für sie tut.“30 Und Luther nimmt die Erziehung von Kindern und die Fürsorge in der Familie so wichtig, dass für ihn aus der Perspektive des Glaubens auch das Wiegen des Kindes oder das Waschen der Windeln „alles eitel goldene, edele Werk“31 sind. Heute wird Familienarbeit unterbewertet. Dabei ist sie durchaus anspruchsvoll; hier werden routinemäßige Tätigkeiten und Beziehungsarbeit – Erziehungs- und Pflegeleistungen sowie emotionale Zuwendung – miteinander verknüpft. Ziel der Sorgearbeit ist aber nicht die Herstellung eines Produkts, es geht auch nicht einfach um eine Dienstleistung, sondern um das „Für-andereDasein“ und Zeit haben, das Sich-Kümmern um das Wohlergehen eines/r anderen. Es geht um die Weitergabe des Lebens, die Grundbedingungen „guten Lebens“ für das gedeihliche Aufwachsen von Kindern. Angesichts der neuen Anforderungen in der Arbeitswelt, vor dem Hintergrund der demographischen Entwicklung und des sozialen Wandels von Geschlechterrollen und Lebensformen können diese familiären Tätigkeiten nicht mehr als selbstverständliche Aufgabe der Mütter vorausgesetzt werden. Die „Versorgungslücke“, das CareDefizit, das damit entsteht, stellt für Staat und Gesellschaft eine erhebliche Gestaltungsaufgabe dar. „In Zukunft muss es darum gehen, Erwerbsarbeit und die Fürsorge im Erwerbsverlauf und im Familienzyklus gerecht zu verteilen und zugleich Gesellschaft und Staat für die Schaffung der Rahmenbedingungen in die Verantwortung zu nehmen.“32

Die fürsorgliche Praxis in der Erziehung von Kindern oder die Pflege anderer ist im Sinne Hannah Arendts Sorge für die Welt, nicht nur Last oder Pflicht. Dabei meint Welt „den unersetzlichen Zwischenraum, der zwischen dem Menschen und seinem Mitmenschen“ zu gestalten ist.33 „Wir brauchen einander, wir helfen einander, wir verlassen uns aufeinander“, wie Wagener–Esser/Esser schreiben.34 Eine gemeinsame Mahlzeit am Tag, heute vielleicht eher das Abendessen, ist mehr als Gelegenheit zur Nahrungsaufnahme. „Wir teilen und verteilen nicht nur die Lebensmittel, sondern wir teilen uns unser Leben mit. Jedem in der Familie ist wichtig, wie es den anderen geht. Es ist ihm oder ihr nicht egal. Hier ist der zentrale Ort, an dem sich Gemeinschaft konstituiert.“35

In meiner Kindheit war das gemeinsame Mittagessen zugleich der Ort, die Geschichten aus der Kinderbibel vorzulesen, so wie morgens beim Frühstück die Losung gelesen wurde. Heute hat das Vorlesen eher seinen Platz beim Zubett30 31 32 33 34 35

Zitiert nach a. a. O., 18. Vom ehelichen Leben, WA 10/2, 296,14f. Kirchenamt der EKD, Familie, 86. Arendt, Vita activa, 7. Wagener-Esser/Esser, Familie, 17. Arendt, Vita activa, 12.

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gehen. Gleichwohl kann ein „Tischritual“ wie das Anzünden einer Kerze, ein Gebetswürfel, von dem reihum Gebete gesprochen werden oder das Händereichen zur „gesegneten Mahlzeit“ das gemeinsame Essen aus dem Alltag herausheben. Die Shell-Jugendstudien zeigen, dass sich das Klima in den Familien in den letzten Jahren „erwärmt“ hat – vielleicht auch deswegen, weil die Partner bei großen Konflikten eher auseinandergehen. Auch die Generationenkonflikte in Familien haben abgenommen. Heute erleben Jugendliche ihre Eltern immer häufiger als Partner, nehmen deren Hilfe in Problemsituationen gern in Anspruch und ziehen später von zu Hause aus. Und auch eine große Mehrheit der Eltern gibt an, enge oder sehr enge Beziehungen zu ihren erwachsenen Kindern zu unterhalten. Für die Mehrheit der Älteren ist die Großelternschaft eine Sinn gebende Altersrolle, sie verbinden damit ein hohes Maß an Wohlbefinden, Erfüllung und Zufriedenheit. Wie viele aus der Nachkriegsgeneration habe ich meine Großeltern nie kennengelernt. Auch Erinnerungsstücke gab es kaum – bis auf ein paar Fotos und eine Brosche ging alles unter den Bomben oder auf der Flucht verloren. Aber meine Eltern haben so von ihnen erzählt, dass sie mir nahekamen – in Bildern, Geschichten und Gesten. Vielleicht waren es diese Erschütterungen im Fundament meiner Generation, die mir die Großelterngeschichten der Bibel lieb gemacht haben – die Geschichten der „Erzväter“ Abraham, Isaak und Jakob und die ihrer Frauen Sara, Rebekka, Lea und Rahel. Als Kind hat es mich fasziniert, wie die Hoffnung auf eine neue Welt zusammen mit dem Segen durch die Generationen weitergegeben wurde. Oft hatte ich das Bild der russischen Matroschkas vor Augen – von Puppen in der Puppe, geborgen und geprägt durch die, die uns umgaben. Das Generationenerbe, das war mir früh klar, geht weit über das materielle Vermögen hinaus. Es umfasst Geschichten und Verheißungen, Schuld und Segen. Während meine Familie an den wenigen Stücken hing, die aus der Großelterngeneration erhalten blieben, erlebte ich als Gemeindepfarrerin auch das umgekehrte: alte Menschen, die mir ihre Erbstücke, Bibeln und Bücher für die Gemeinde schenkten, weil Kinder und Enkel nichts mehr damit anfangen konnten. Mit Krieg und Nachkrieg sind überall in Mitteleuropa familiäre Traditionen erodiert und Erinnerungsfäden gerissen. Was die Großeltern angeht, so geht es der heutigen Enkelgeneration ganz anders als mir damals – in gewisser Weise umgekehrt. An Großeltern ist kein Mangel! Viele haben nicht nur zwei Großelternpaare – in Patchworkkonstellationen sind es oft mehr. Es ist keine Seltenheit, dass vier Generationen gleichzeitig leben, wenn auch nicht unter einem Dach. Wo das Lebensdach in meiner Zeit noch brüchig war, können Kinder und Jugendliche heute auf eine Vielfalt von Erfahrungen der Älteren zurückgreifen. Und die Generationen fühlen sich emotional eng verbunden. Großeltern leisten Erhebliches für die soziale Ent-

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wicklung der Kinder – nicht zuletzt, was die Weitergabe des Glaubens angeht. Ganz praktisch käme manche junge Familie ohne die Solidarität zwischen den Generationen in finanzielle Notsituationen, aber auch bei plötzlichen Kinderbetreuungsengpässen in große Schwierigkeiten. Umgekehrt erhalten Ältere, wenn sie hilfsbedürftig werden, Unterstützung bei Einkauf und Hausarbeit und schließlich bei der Pflege. Junge wie Alte haben damit teil an Erfahrungen, die weit über den eigenen Erlebnisraum hinausreichen. Dass wir nicht für uns allein leben, sondern nach vorn und hinten in einer Lebenskette stehen, kann als spannungs- und konfliktreich erfahren werden, es kann aber auch ein tiefes Lebensvertrauen geben, das mit Gottvertrauen verbunden ist. In der Wahl des Taufspruchs, im Nachdenken über den Konfirmationsspruch, mit Taufbecher oder Konfirmationsbibel wird das immaterielle Erbe weitergegeben. Taufe und Konfirmation sind wunderbare Gelegenheiten, die Übergabe eines solchen Geschenks mit einem Stück Familiengeschichte zu verbinden. Auch der Segen kehrt allmählich in die Schwellensituationen des Alltags zurück, etwa beim Einzug in ein neues Haus, zu Beginn einer Reise und immer häufiger in der Sterbebegleitung. Dabei werden alte Rituale nicht nur übernommen, sondern auch neue situativ und kontextbezogen entwickelt. Als eine alte Nachbarin starb, die mir immer Blütenkränze fürs Haar geflochten hatte, knüpfte meine Mutter mit mir ein Kränzchen aus Gänseblumen für den Sarg. Diese selbstverständliche Nähe zum Bestattungsgeschehen war damals wohl Privileg des Pfarrhauses – inzwischen haben die Zivilgesellschaft in der Hospiz- und Trauerbegleitung, aber auch moderne Bestattungsinstitute das Feld für sich entdeckt.36

5.

Familienzeit: Alltag, Rhythmen, Rituale

Wenn Menschen einander nahekommen wollen, brauchen sie Zeit. Eltern möchten Zeit haben für ihre Kinder, Kinder Zeit mit ihren Eltern verbringen, Paare brauchen Zeit für erfüllte Sexualität, gemeinsame Gespräche und Erfahrungen, alle Familienmitglieder brauchen auch Zeit für sich selbst und schließlich brauchen Familien auch Zeit für andere soziale Netzwerke, wie die Kirchengemeinde oder Vereine. Die jüngsten Familienberichte der Bundesregierung zeigen aber, dass neben der finanziellen Absicherung der Mangel an gemeinsamer Zeit eines der wichtigsten Probleme von Familien heute ist. Die Zeitrhythmen von Arbeit, Wirtschaft, Schule, Freizeit sind kaum noch kompatibel. Dem fallen in den Familien schnell die Zeiten zum Opfer, die der Gemeinschaft und 36 Vgl. dazu die Angebote auf der Messe „Tod und Sterben“, die regelmäßig im Mai in Bremen stattfindet.

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dem Austausch dienen. Gemeinsame Mahlzeiten, freie Stunden am Wochenende, selbst Familienbesuche oder der gemeinsame Urlaub müssen angesichts der vielfältigen Anforderungen oft langfristig geplant werden. Dabei hat die gemeinsam verbrachte Zeit gerade für Kinder eine herausragende Bedeutung: Sie stiftet Nähe, ermöglicht gegenseitige Anteilnahme, Unterstützung und Fürsorge. Nicht zu unterschätzen sind die beiläufigen und nicht geplanten Zeiten, in denen Familienmitglieder einfach nur zusammen an einem Ort sind, ohne gezielt etwas Gemeinsames zu unternehmen. „Gott ist in der Welt“, schreiben Wagener-Esser/ Esser, anwesend in den kleinen und großen Dingen, im Schönen und im Traurigen. „Vielleicht lässt er sich finden in der liebenden Umarmung des Kleinkindes, beim dankbaren Blick in den gefüllten Kleiderschrank, beim Trösten des Schulkindes, weil die Mathearbeit leider nicht so ausgefallen ist, wie erhofft. Nur wer den genauen Blick auf die Erfahrungen des Alltags wagt, kann die Spuren Gottes darin entdecken.“37

Am besten gelingt das sicher, wenn wir als Erwachsene uns auf die Erfahrungswelt der Kinder einlassen. Dazu braucht es die verlässliche Anwesenheit der Eltern zu den Zeiten, in denen Erfahrungen geteilt werden können – vor allem abends und am Wochenende. Dabei geht es darum, zwischen den großen Fragen des „Woher komme ich – wohin gehe ich?“ und den alltäglichen Lebensvollzügen eine Brücke zu bauen. Albert Biesinger nutzt dazu einen Schlüsselbegriff aus der lateinamerikanischen Befreiungstheologie. Es geht um „dignification“, die Erfahrung, dass die alltäglichen Augenblicke sinnerfüllt sein können.38 Die Würde des Augenblicks zu erfahren und zu gestalten, ist eine, wenn nicht die wesentliche Aufgabe religiöser Erziehung im Alltag. Martin Buber spricht in diesem Kontext von „Umfassungserfahrungen“39 – zum Beispiel in der Art, wie wir aufstehen und den Tag beginnen. So vergesse ich nicht, wie mein Vater uns jeden Morgen das Müsli vorbereitete. Aber auch die wechselseitige Hilfe in Krankheiten und Krisen oder die Haltung, in der wir Konflikte lösen, öffnen den Blick über den Tag hinaus. Schutz und liebevolle Pflege in Krankheitsphasen, Streit und Versöhnung, Spielen und Feiern: In der religiösen Erziehung in der Familie werden die elementaren Lebensvollzüge transparent für einen leuchtenden Hintergrund; ganz so wie Kinder es kennenlernen, wenn sie zu Sankt Martin Laternen basteln. Für Martin Horstmann hat Familienspiritualität drei große Zugänge:40 den Jahreskreis, bestimmte Praktiken und schließlich Lebenshaltungen, die Spiritualität nähren, bildlich gesprochen, „Wurzeln“. Dazu zählt er Verbundenheit und Mitgefühl, schöpferisch sein, Achtsamkeit und Staunen. Familie lebt von 37 38 39 40

Wagener-Esser/Esser, Familie, 20. Biesinger, Gotteskommunikation, 21. A.a.O, 23. Horstmann, Familienspiritualität.

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Kontinuität, von Rhythmen und Ritualen, die die gemeinsame Identität und Kultur prägen: das Zubettbringen, das Sonntagsfrühstück, der Heiligabend. Rituale stärken Familien; der Angstpegel sinkt und die Konflikte nehmen ab, wo ein Gutenacht-Ritual von beiden Eltern getragen wird.41 Wer allerdings so beschäftigt ist, dass er sich auch selbst nicht mehr spürt, kann kaum spirituelle Erfahrungen machen. Darum sind Wochenende und Sonntag so wichtig: sie eröffnen Familien Zeit für Gemeinschaft, Zeit für andere Menschen, für sich selbst und im Besonderen für Gott. Anders als andere freie Tage ist der Sonntag auch gesellschaftlich aus dem Alltag „ausgegrenzt“ und respektiert. Die Geschichte des jüdischen Sabbats zeigt: Nicht die Familien haben den Sabbat getragen – sondern der Sabbat die Familien.42 Auch Feste wie Weihnachten oder Ostern, die Familien ihren Rhythmus geben und mit Familiengeschichten verbunden werden, bieten die Möglichkeit, Leben gemeinsam zu gestalten und zu feiern und dabei zu erfahren, wie unsere Alltagswirklichkeit in der Tiefe mit einer anderen, spirituellen Dimension zusammengehört. „Wenn man die Feste des Jahreskreises feiert, immer und immer wieder, wird man dreierlei entdecken: Es gibt einen zyklischen Ablauf in der Zeit, es gibt Gründe zum Feiern und den Festen und Zeiten wohnen bestimmte Themen inne.“43

Der zyklische Ablauf der Zeit erinnert daran, wie der Jahreslauf mit seinen vorchristlichen Festen und das Kirchenjahr zusammenhängen – und welche Erkenntnisse über unsere Welt (…und was sie im Innersten zusammenhält) darin stecken. Dabei spielt die „Inszenierung“ eine Rolle, die weit über das rationale Verstehen hinausgreift und alle Sinne anspricht: Die besondere Atmosphäre eines Samstagabends, das Sonntagsfrühstück, das eine große Ruhe ausstrahlt und der festliche Osterbrunch mit den bunt gefärbten Eiern machen auch schon den Kleinen deutlich, dass wir eine „andere Zeit“ feiern. Genauso ist es mit Hochzeitstagen oder runden Geburtstagen und schließlich auch mit den „Nachfeiern“ bei einer Beerdigung. Je vielfältiger aber die Zeitrhythmen in den Familien werden, je mehr Patchworkfamilien zur Normalität werden, desto mehr wird es nötig, das Miteinander auszuhandeln. Was die Veränderung der Familienstrukturen für die Gestaltung von Familienfesten und Familientraditionen und damit für die religiöse Sozialisation bedeutet, beginnen wir erst allmählich zu begreifen. Nicht nur die Zahl der kirchlichen Trauungen geht zurück, auch die Zahl der kirchlichen Beerdigungen, der 41 Biesinger, Gotteskommunikation, 102. 42 „Nicht die Juden haben den Sabbat gehalten, sondern der Sabbat hat die Juden gehalten“, schrieb im 19. Jh. der jüdische Schriftsteller Achad Ha’am. Da der Sabbat ein Familienfest ist, lässt sich das übertragen: der Sabbat führt die Familien regelmäßig zusammen und gibt dabei allen eine Rolle. 43 Horstmann, Familienspiritualität.

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christlichen Friedhöfe, der über Generationen gepflegten Familiengräber. Traditionen erodieren – und während die einen gleich ganz auf Rituale verzichten, gestalten andere sie neu und liebevoll, aber eben individuell. Dazwischen finden sich die vielen, die sich große Mühe geben, um der Kinder willen alte Rituale in neuen Konstellationen zu gestalten – als Geschiedene die Konfirmation der Kinder gemeinsam feiern, Weihnachten zwischen den unterschiedlichen FeierOrten pendeln, die Gottesdienste verschiedener Konfessionen besuchen und dabei häufig Zerrissenheit empfinden. Noch ist nicht sichtbar, wie wachsende Verschiedenheit auch religiös als Bereicherung erlebt werden kann. Tatsächlich scheint sie „häufig zu Unsicherheiten bei der religiösen Erziehung zu führen, da es den Beteiligten an Bearbeitungsstrategien fehlt oder über strittige oder Streit auslösende Fragen in Familien lieber geschwiegen wird“.44

6.

Kochschulen des Glaubens: Was können Gemeinden tun?

Zwar werden Ortsgemeinden oft von einigen wenigen Familien getragen, deren Mitglieder sich in Kirchenvorstand, Jugendarbeit oder auf Freizeiten engagieren, doch lebt die Beziehung der meisten zur Gemeinde eher punktuell zu den Kasualien auf. Das distanzierte Verhältnis hat verschiedene Gründe. Familien sind in ihrer religiösen Orientierung nur noch selten homogen. Neben der unterschiedlichen und unterschiedlich intensiven kirchlichen Bindung spielt das Gefühl eine Rolle, mit der eigenen Form des Familienlebens als konfessionsverschiedene, Patchwork- oder Regenbogenfamilie, Alleinerziehende oder Pendler nicht wirklich „dazuzugehören“. Hinzu kommen die Zerreißproben und Überlastungen in der Rushhour des Lebens – gerade während der Konfirmandenphase tritt der Sonntagsgottesdienst in zeitliche Konkurrenz nicht nur zum Sport, sondern auch zum Familienfrühstück. Kirche wird dabei oft genug als Anforderung an ein „heiles Familienleben“, nicht aber als Unterstützung in Krisenzeiten erlebt. Mitarbeitende in Kirche und Diakonie begegnen Familien vor allem in Festzeiten und in Krisensituationen. Bei Hochzeiten, Taufen und Konfirmationen, bei Kindergartenentlassungen und Einschulungsfeiern oder bei der Schulentlassung, in der Jugendarbeit oder auch, wenn Kinder und Jugendliche durch die Scheidung ihrer Eltern belastet werden. Wenn dabei Vertrauen wächst, entsteht ein Bogen der Lebensbegleitung, der weiterträgt. Das kann gelingen, wenn in der Vorbereitung und Gestaltung von Kasualien Offenheit und Sensibilität für die tatsächliche Lebenssituation der jeweiligen Familien spürbar wird, wenn deren Hoffnungen und Wünsche zu Wort kommen, sodass gerade in Umbrüchen Verstehen, Versöhnung und Neuanfänge 44 Schweitzer, Wirkungszusammenhänge.

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möglich werden. Immer häufiger zeigt sich, dass über die bekannten Kasualien hinaus zaghaft neue entstehen oder alte neugestaltet werden: bei Ein- und Auszügen, bei Trennung und Scheidung oder bei Tauffeiern an Flüssen und Seen. Evangelische Gemeinden verstehen sich in besonderer Weise als Gemeinschaften, die vom Engagement ihrer Mitglieder getragen werden. „Die befragten Kirchenmitglieder rekonstruieren die Gestaltung ihrer Kirchenmitgliedschaft vorwiegend als individuelle Summe von eigenverantwortlichen Entscheidungen; aus der Außenperspektive stellen sich die unterschiedlichen Gestaltungsformen zugleich vielfach als sozialisationsbedingt oder als durch gesellschaftliche Rahmenbedingungen beeinflusst dar“,45

heißt es in der Zusammenfassung der 5. KMU. Kirchengemeinden können Räume anbieten, in denen sich die Generationen begegnen, wo Familien mit Kindern Paten-Großeltern finden und ältere Menschen ihre beruflichen Erfahrungen als Mentoren weitergeben, wo Eltern sich wechselseitig unterstützen und Alleinerziehende ein hilfreiches Netzwerk knüpfen. Eine Untersuchung des Sozialwissenschaftlichen Instituts der EKD hat gezeigt, dass Alleinerziehende überproportional häufig in den Blick kommen, wenn in der Kirche vom Wandel der Familie die Rede ist.46 Diese Gruppe wird dann vor allem im Blick auf ihre Probleme und besonderen Herausforderungen beschrieben. Für sie gibt es gezielte Betreuungskonzepte in den Gemeinden, Hausaufgabenbetreuung für die Kinder oder Präventionsprogramme, um drohender Armut vorzubeugen. Der Fokus auf die Situation Alleinerziehender kann aber verdecken, dass wir es insgesamt mit einer Polarisierung sozialer Lebenslagen zu tun haben. Männer und Frauen mit nur einem Verdienst, die Erwerbsarbeit und Sorge verbinden müssen, stehen dabei am Ende der Kette – das gilt nicht nur, was das Einkommen, sondern auch, was die Wertschätzung angeht, und ist offenbar in der Kirche nicht anders als in der Gesellschaft. Jedenfalls äußern Alleinerziehende zwar eine hohe Motivation, ihr Kind taufen zu lassen, doch wird dieser Wunsch erstaunlich selten in die Tat umgesetzt, wie eine andere Studie des Sozialwissenschaftlichen Instituts der EKD gezeigt hat.47 Das mag auch damit zusammenhängen, dass Erfahrungen wie Scheidung, Verlust und Scheitern im kirchlichen Kontext noch immer zu selten thematisiert werden. Tageseinrichtungen für Kinder, die sich in Zusammenarbeit mit Beratungsstellen und Familienbildungsstätten zu Familienzentren entwickeln, aber auch Mehrgenerationenhäuser, zeigen, was Gemeinden bieten und sein können: Orte, die alle Generationen einladen, miteinander ins Gespräch zu kommen und einander zu unterstützten. Wenn es um die Weitergabe von Glauben und Werten, 45 KMU V, 6. 46 Sozialwissenschaftliches Institut der EKD, Familie und Familienpolitik. 47 Sozialwissenschaftliches Institut der EKD, Taufverhalten.

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Traditionen und Erfahrungen geht, brauchen Familien und Gesellschaften, braucht die Kirche alle Generationen. Wo die nächsten Verwandten fehlen, brauchen Familien mit kleinen Kindern oder pflegebedürftigen Angehörigen nachbarschaftliche Unterstützung in Stress- und Krisensituationen. In den sogenannten Sorgenden Gemeinschaften und aktiven Nachbarschaften entstehen wieder Wahlfamilien, wie sie in der Urkirche selbstverständlich waren und in den geistlichen Gemeinschaften seit dem 19. Jh. neu eingeübt werden. Dabei lässt sich schließlich an die alten Erfahrungen der Patenschaft anknüpfen. Das gilt nicht nur im Blick auf Taufpatenschaften, sondern auch für soziale Patenschaften und Mentorate. Rüdiger Maschwitz vergleicht diesen Prozess der geistlichen Begleitung mit dem Kochenlernen – dem Einkaufen, Zubereiten und Essen gemeinsam mit einem erfahrenen Koch. Wo Familien in diesem Sinne das Kochen verlernt haben, brauchen sie die Gemeinden als Kochschulen – als Impulsgeber für einen gemeinsamen lustvollen Neubeginn.

Literatur Arendt, Hannah, Vita activa oder Vom tätigen Leben, Zürich 2013. Biesinger, Albert, Gotteskommunikation. Religionspädagogische Lehr- und Lernprozesse in Familie, Gemeinde und Schule, Ostfildern 2012. Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend (BMFSFJ), 8. Familienbericht: Zeit für Familie – Familienzeitpolitik als Chance einer nachhaltigen Familienpolitik: Bericht der Sachverständigenkommission und Stellungnahme der Bundesregierung, Bundestagsdrucksache 17/9000 vom 15. 03. 2012. –, Geburten und Geburtenverhalten in Deutschland, September 2012, https://www.bmfsfj. de/blob/75090/7a1ebb08b6be4f49607ad3bdbefda302/geburten-und-geburtenverhal ten-in-d-data.pdf, abgerufen am 08. 10. 2018. Eichel, Christine, Deutschland Lutherland. Warum uns die Reformation bis heute prägt, München 2015. Evangelische Kirche in Deutschland (Hg.), Engagement und Indifferenz – Kirchenmitgliedschaft als soziale Praxis. V. EKD-Erhebung über Kirchenmitgliedschaft, Hannover 2014. [KMU V] Ev. Kirche in Mitteldeutschland (Hg.), Im Blickpunkt: Familie. Familienbezogene Arbeit in der Förderation Evangelischer Kirchen in Mitteldeutschland. Positionen und Impulse für eine Konzeptionsentwicklung, Neudietendorf, 2007. Horstmann, Martin, Familenspiritualität, https://marthori.wordpress.com/2016/09/04/fa milienspiritualitaet/, abgerufen am 24. 10. 2018. Jurczyk, Karin, Famile als Herstellungsleistung. Hintergründe und Konturen einer neuen Perspektive auf Familie, in: dies./Lange, Andreas/Thiessen, Barbara (Hg.), Doing Family. Warum Familienleben heute nicht mehr selbstverständlich ist, Weinheim 2014, 50–70.

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Kirchenamt der EKD (Hg.), Kirche und Bildung. Herausforderungen, Grundsätze und Perspektiven evangelischer Bildungsverantwortung und kirchlichen Bildungshandelns. Eine Orientierungshilfe des Rates der Evangelischen Kirche in Deutschland, Gütersloh 2009. –, Zwischen Autonomie und Angewiesenheit. Familie als verlässliche Gemeinschaft stärken. Eine Orientierungshilfe des Rates der Evangelischen Kirche in Deutschland, Gütersloh 2013. Klinenberg, Eric, „Vivre seul, mais pas solitaire“, in: Le Monde Diplomatique, März 2013. Maschwitz, Rüdiger, Gemeinsam Gott begegnen, Kinder geistlich begleiten – das Praxisbuch für Schule, Gemeinde und Familie, München 2011. Meyer-Klaus, Ulrike (Hg.), Zusammen wachsen, Rituale für Familien, Ostfildern 2006. Wagener-Esser, Meike/Esser, Thilo, Als Familie im Glauben wachsen, Würzburg 2008. Rosa, Hartmut, Beschleunigung und Entfremdung. Entwurf einer kritischen Theorie spätmoderner Zeitlichkeit, Berlin 2013. Schweitzer, Friedrich, Wirkungszusammenhänge religiöser Familienerziehung. Ergebnisse der Tübinger Familienstudie und religionspädagogische Konsequenzen, in: Biesinger, Albert u. a. (Hg.), Brauchen Kinder Religion? Weinheim/Basel 2005, 11–21. Sennett, Richard, Zusammenarbeit. Was unsere Gesellschaft zusammenhält, aus dem Englischen von Michael Bischoff, Berlin 2012. Sozialwissenschaftliches Institut der EKD: Analyse zum Taufverhalten der evangelischen Bevölkerung in Deutschland), 2009. Sozialwissenschaftliches Institut der EKD (Hg.), Johann, Sabrina, Familie und Familienpolitik. Familie und Familienpolitik – Studie zur familienbezogenen Arbeit in drei ausgewählten Landeskirchen, 2012.

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Evangelische Spiritualität und Gemeindepädagogik

Evangelische Spiritualität und Gemeindepädagogik – passt das zusammen? Spiritualität ist ein unscharfer Begriff, der in religiösen und säkularen Kontexten mit unterschiedlicher Füllung bzw. Schwerpunktsetzung gebraucht wird. Eine notwendige Abgrenzung und Eingrenzung erfährt der Begriff durch das Adjektiv „evangelisch“. Evangelisch meint auf das Evangelium von Jesus Christus bezogen, auf seine Heilstat in Kreuz und Auferstehung als Grundlage für die Rechtfertigung des umkehrbereiten Sünders aus Gnade. Evangelische Spiritualität verweist auf den Spiritus Sanctus, den Parakleten, durch den Christus in seiner Gemeinde gegenwärtig ist und der die Kommunikation mit Christus gestaltet (Joh 14 u. 16). Damit grenzt sie sich von einem weiten Verständnis von Spiritualität ab, in der auch der Mensch im Mittelpunkt steht mit seiner Sehnsucht, das Materielle zu transzendieren und dabei zu neuen Erfahrungen oder auch zu sich selbst zu kommen,1 also einer Spiritualität, die sich im Letzten im spiritus humanus gründet. Evangelische Spiritualität ist nicht konfessionell abgrenzend, denn gerade in diesem Bereich lassen sich auf katholischer oder auch orthodoxer Seite wertvolle Impulse finden. Sie ist aber konfessionell eingrenzend. Denn andere Konfessionen schauen auf einen viel größeren Reichtum an Spiritualität und deren Reflexion zurück. Deshalb soll der Fokus in erster Linie auf der Untersuchung evangelischer Spiritualität liegen. Folgende Aspekte bilden die Grundlage für eine gemeindepädagogische Arbeit im Kontext von Spiritualität:2 Evangelische Spiritualität hat ihren Ursprung im dreieinigen Gott und ist Ausdruck der liebenden Beziehung zu ihm. Auf dieser Grundlage wird durch Initiative des Geistes Gottes vom Menschen die Beziehung zu Gott in Übereinstimmung mit seinem Wort gestaltet. Das hat Auswirkungen auf die Beziehung 1 Dies geschieht in Anlehnung an die von Dahlgrün, Spiritualität, 118–121, erarbeiteten Elemente einer christlichen Spiritualität. 2 Vgl. Dahlgrün, Spiritualität, 131–153. Vgl. zum weiteren Verständnis des Begriffs und zur Abgrenzung von anderen Begriffen, a. a. O., 99–131.

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zum Nächsten und zur Umwelt. Die Gestaltung erfolgt sowohl individuell als auch durch die Gemeinschaft der Glaubenden. Evangelische Spiritualität umfasst die innere Haltung genauso wie das daraus folgende Handeln, Kontemplation und Aktion, wobei die Beziehung zu Christus grundlegend ist, um Gefahren einer gesetzlichen Frömmigkeit entgegenzutreten. Welchen Stellenwert hat eine derartige Spiritualität in Theologie und Kirche? Finden wir in der Reformation, z. B. bei Luther, das Bemühen, Theologie mit Spiritualität, den reflektierten Glauben mit dem gelebten Glauben zusammenzuhalten, wird die Spiritualität später angesichts der konfessionellen Auseinandersetzungen und als Folge des aufklärerischen Rationalismus immer mehr aus der Theologie verbannt. In der Folge finden wir im Pietismus (z. B. bei Spener und Zinzendorf) und im 20. Jh. vor allem bei Einzelpersonen (am bekanntesten Dietrich Bonhoeffer, aber auch bei anderen wie Julius Schniewind, Manfred Seitz oder Gerhard Ruhbach) das Bemühen, dass diese Dimension nicht verlorengeht bzw. wieder neu in Theologie und Kirche gewonnen wird. Allerdings blieb die jahrhundertelange Vernachlässigung nicht ohne Folgen, die bis heute nachwirken. In zahlreichen Veröffentlichungen wird auf spirituelle Defizite in Theologie und Kirche hingewiesen. Nur ein paar Beispiele: Es ist die Rede von einer „vergessene[n] Dimension evangelischer Theologie.“3 Dies hat Auswirkungen auf das geistliche Leben innerhalb der Kirche: Es ist zunehmend ärmer geworden, „immer weniger Menschen wissen, wie sie eigentlich beten sollen“, „persönliche Frömmigkeit“ scheint „ausgetrocknet“.4 Die Vermittlung eines geistlichen Lebens gelingt häufig weder in der Familie noch in der Gemeinde.5 Statt dass der glaubende Mensch seine Beziehung zu Jesus Christus im Alltag gestaltet, wird der autonome Mensch propagiert, der sein Leben nach seinen eigenen Vorstellungen gestaltet6 – der lebendige Gott, Jesus Christus, die Führung durch den Heiligen Geist, das Hören auf Gottes Wort und der Gehorsam ihm gegenüber, die Gestaltung des Glaubenslebens in Familie und Gemeinde zusammen mit anderen Christen und vieles andere mehr – haben bis in die Kerngemeinde an Bedeutung verloren. Es ist die Rede von der „Selbstsäkularisierung“ der evangelischen Kirche.7

3 Zimmerling, Spiritualität, 15. Schon Manfred Seitz (Erneuerung, 74) hatte das Fehlen einer theologia ascetica in der protestantischen Theologie beklagt, die er als „Einübungslehre in den christlichen Glauben“ verstand. Harms (Glauben üben, 13) konstatiert, dass die Bedeutung der geistlichen Übung für eine evangelische Spiritualität in der Praktischen Theologie noch kaum untersucht sei. 4 Dahlgrün, Spiritualität, 2. 5 Vgl. Josuttis, Einführung, 135. 6 Explizit von Nipkow (Bildungsfrage, 108) in der Frage nach „subjektiver Selbstbestimmung“ formuliert. 7 Huber, Kirche in der Zeitenwende, 10.

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Während Zimmerling auf die Bedeutung des Religionsunterrichts für die Weitergabe des christlichen Glaubens hinweist,8 konstatiert Ruhbach bereits 1996: „Der RU soll nur noch informieren, aber in bewusster Distanz zu jeder Glaubensüberzeugung.“ Zur Weitergabe von Information im Konfirmandenunterricht stellt er fest: „Kirchlicher Unterricht hat sich weithin der Bedürfnisgesellschaft angepaßt und auf Lernen von Psalmen, Chorälen, biblischen und katechismusartigen Grundbeständen verzichtet.“9 Auch 2013 stellt Husmann in den didaktischen Leitlinien zum schulischen Religionsunterricht klar, dass dort keine Partizipation angestrebt wird und wir evangelischerseits „hinter die Trennung von Einübung in religiöse Praxen“ und die kognitiv verstandene religiöse Bildung nicht zurück könnten.10 „Wen wundert“, so resümiert Ruhbach, „daß es weder zu Erlebnissen mit Gott kommt, geschweige denn zu verdichteter Erfahrung.“ „Unter solchen Verhältnissen kann geistliches Leben nicht gelingen.“11 Aus katholischer Sicht beschreibt Papst Franziskus das spirituelle Defizit in der Kirche in seiner Weihnachtsansprache 2014 an die Kurie und mit ihr an alle Christen treffend in 15 Krankheiten, von denen er drei speziell als spirituelle Krankheiten bezeichnet: Die Krankheiten „des ‚spirituellen Alzheimer‘“ (als Vergessenheit der persönlichen Geschichte mit dem Herrn), der „geistlichen ‚Versteinerung‘“ (bei der das menschliche Mitgefühl in der kirchlichen Bürokratie verlorengegangen ist) und der „existentiellen Schizophrenie“ als „Frucht der […] fortschreitenden spirituellen Leere, die durch Diplome und akademische Titel nicht gefüllt werden kann“.12 Auch von Seiten der Politik wird konstatiert, dass die Kirche ihren spirituellen Kern verloren habe.13 Auf der anderen Seite besteht bei vielen Christen und Nichtchristen eine große spirituelle Sehnsucht, die – vielleicht auch mangels entsprechender Angebote der Kirche – versucht wird, in Formen aus unterschiedlichen religiösen Kontexten zu stillen. Man kann deshalb – in Anlehnung an den Begriff der „vagabundieren-

8 Zimmerling, weites Feld, 13. 9 Beide Zitate vgl. Ruhbach, Spiritualität, 37. 10 Husmann, Spiritualität, 16. Die von ihr auch erwähnte „Herzensbildung“ wird für die Praxis des Religionsunterrichts nicht weiter bedacht. 11 Ruhbach, Spiritualität, 37. 12 Papst Franziskus, Ansprache an die römische Kurie, http://w2.vatican.va/content/francesco/ de/speeches/2014/december/documents/papa-francesco_20141222_curia-romana.html, abgerufen am 27. 09. 2018. 13 So Bergner, Kirche, 439, zum Beitrag des damaligen Bundesfinanzministers Wolfgang Schäuble zum Lutherjahr. Schäuble betont, dass „die besondere Überzeugungskraft, die von religiös motiviertem politischen Handeln ausgeht“, „in dessen geistlicher, spiritueller Basis“ liegt. Dagegen entstehe manchmal der Eindruck, „es gehe in der evangelischen Kirche primär um Politik, als seien politische Überzeugungen ein festeres Band als der gemeinsame Glaube“, (Schäuble, Reformationsjubiläum, 46).

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de[n] Religiosität“14 von einer „vagabundierenden Spiritualität“ sprechen.15 Hartl nennt noch eine weitere Herausforderung zeitgenössischer Spiritualität: Er bezeichnet sie als „Lass-uns-mal-darüber-reden“-Spiritualität. „Religiöse Anstrengung, das passt nicht ins Anforderungsprofil einer Wellness-Religion von heute, stört nur in unserer spirituellen Komfortzone.“16 Es ist die Herausforderung einer unverbindlichen Spiritualität, die wohltun, aber – im Gegensatz zur Nachfolge – nichts kosten darf. Auf diesem Hintergrund stellt sich die Frage: Kann Gemeindepädagogik hier einen Beitrag leisten und beim Gewinnen bzw. Wiedergewinnen einer evangelischen Spiritualität helfen? Betrachtet man die genannten Herausforderungen, kann man dies ohne Zögern bejahen, da hier grundlegende Aufgaben angesprochen sind, in denen eine reflektierte gemeindepädagogische Arbeit eine wichtige Hilfe darstellt. Allerdings besteht die Gefahr, dass bei einem solchen Verständnis Gemeindepädagogik lediglich Mittel zur Lösung kirchlicher Plausibilitäts- oder Tradierungsprobleme würde. Dies kann jedoch allenfalls ein Nebeneffekt sein. Biblisch gesehen sind Glaube und Leben eng verbunden, weswegen Spiritualität auch als „gelebter Glaube“ bezeichnet werden kann.17 Die Beziehung zu Jesus Christus will gestaltet werden, ebenso braucht der Glaube die Lebensgestaltung bzw. -umsetzung im Alltag. Deshalb muss grundsätzlicher gefragt werden: Ist die Gestaltung einer evangelischen Spiritualität und die Förderung von Menschen, die nach Spiritualität oder nach Glauben suchen und diesen gestalten wollen, nicht eigentlich genuine Aufgabe einer Gemeindepädagogik? Dagegen können folgende Einwände erhoben werden: • Spiritualität gehöre in die Unmittelbarkeit zwischen Mensch und Gott und könne deshalb nicht Objekt von Lernprozessen sein. Sie müsse gelebt und könne nicht gelernt werden. • Außerdem stehe Pädagogik als menschliches Handeln in der Gefahr, Gottes Rechtfertigungsgnade durch menschliches Tun zu verdunkeln. • Schließlich sei zu fragen, ob nicht jeder seine eigene Spiritualität finden müsse, sodass sich pädagogisches Handeln an anderen per se verbiete, weil es die Freiheit des Menschen in Frage stelle und deshalb von Spiritualität allenfalls im Kontext von (Selbst-)Bildung gesprochen werden könne.

14 Zimmerling, weites Feld, 11 15 Vgl. Zimmerling, Spiritualität, 127, der unter Rückgriff auf Küenzlen verschiedene Formen der neuen Religiosität aufzählt und von „vagabundierende[r] Religiosität“ spricht. 16 Hartl, Gott ungezähmt, 56f. 17 Zimmerling, weites Feld, 8, definiert in Anlehnung an die EKD-Studie Spiritualität z. B. als „den äußere Gestalt gewinnenden gelebten Glauben“.

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Das sind berechtigte Fragen und Einwände, die zu bedenken sind. Dabei sind jedoch folgende Aspekte zu berücksichtigen: • Ein Element von Spiritualität, das in die Unmittelbarkeit zwischen Mensch und Gott gehört, ist das Gebet. Trotzdem baten die Jünger: „Lehre uns beten“ (Lk 11,1) und Jesus hat sich dieser Bitte nicht entzogen. Damit wird deutlich: Gestaltete Spiritualität und angeleitete Lernprozesse schließen sich nicht aus. • Vor der Gefahr, dass sich das menschliche Ich vor Gott schiebt, ist keine Spiritualität gefeit. Das gilt in gleicher Weise, wenn Menschen anderen Menschen helfen wollen, Elemente von Spiritualität in ihrem Leben zu gestalten. Auf der anderen Seite ist es Gottes Weise, dass er zu vielem, was er tut oder tun will, Menschen gebraucht. In der Theologie ist dafür der „Begriff der theonomen Reziprozität“18 geprägt worden, nach der zu Gottes Handeln nicht das menschliche Handeln hinzukommt, sozusagen als Additiv, das Gottes Handeln ergänzen und damit verdunkeln könnte, sondern beides in einer inneren Verflochtenheit, die ein Wesen von Gottes Handeln ausmacht. Dies gilt für Gottes Handeln auf dem Weg des Christ-Werdens genauso wie des ChristBleibens. • Jeder Mensch hat die Freiheit, pädagogische Hilfe in Anspruch zu nehmen oder auch abzulehnen, sofern sie überhaupt angeboten wird. Neben dem Spiritualitätsbegriff wird auch der Begriff der Gemeindepädagogik unterschiedlich gefüllt, deshalb soll auch hier eine Begriffsbestimmung vorangestellt werden. Der Teilbegriff „Gemeinde“ soll hier nicht nur als Ortsangabe verstanden werden, wo dann eine beliebige Pädagogik realisiert werden kann, sondern als theologische Näherbestimmung. Damit wird eine Pädagogik auf der Grundlage der Gemeinde gefordert, die von der Heiligen Schrift her konzentriert ist. Die Herausforderung für die Gemeindepädagogik besteht in diesem Zusammenhang darin, dass die Wichtigkeit von Spiritualität im Leben nicht mehr nur theologisch betont oder problematisiert wird, sondern ihre Realisierung als Aufgabe verstanden wird und konkrete Hilfen für ihre Gestaltung gegeben werden. Dazu gilt es, Klarheit über Zieldispositionen zu gewinnen, Mittel und Wege zu finden, die helfen, entsprechende Dispositionen zu fördern und das pädagogische Feld so zu gestalten, dass es diese Aufgabe unterstützt. Trotzdem haben in einem Teil der Veröffentlichungen zur Gemeindepädagogik viele Grundthemen der Spiritualität keine große Bedeutung.19 Die Frage stellt sich: Womit hängt das zusammen, dass eine Thematik, die eine elementare, 18 So z. B. Bohren, Predigtlehre, 76f, unter Rückgriff auf die Pneumatologie Anton A. van Rulers. 19 Exemplarisch sei das gemeindepädagogische Kompendium von Adam/Lachmann genannt, in dem zwar einige interessante Grundlagenthemen und Handlungsfelder beschrieben werden, aber Themen der Spiritualität weder explizit noch implizit eine Rolle spielen.

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pädagogische Aufgabe der Gemeinde darstellt, in gemeindepädagogischen Veröffentlichungen weitgehend ausgeblendet scheint? Eine Ursache liegt in einer anthropologischen Grundentscheidung,20 nach der – in Aufnahme eines Gedankens von Rousseau – der Mensch das entfaltet, was in ihm angelegt ist, auch seine Beziehung zu Gott. Diese kommt von innen, deshalb ist die Subjektorientierung der Pädagogik für diesen Ansatz entscheidend. Eine von außen kommende Offenbarung, die dem Subjekt auch normativ gegenüber treten kann, wird abgelehnt; damit erübrigt sich deren Vermittlung als pädagogischer Auftrag. Auch die Gestaltung einer gelebten Spiritualität wird dann nicht mehr in der Heiligen Schrift begründet oder ihre Vermittlung reflektiert, sondern das einzelne Subjekt entscheidet über seine spirituellen Bedürfnisse und ggf. ihre Gestaltung. Kritisch muss gefragt werden, ob es sich dann überhaupt noch um christliche Spiritualität handelt.21 Ein spiritueller Begleiter gibt hier allenfalls Impulse für das selbst-entdeckende Lernen. Dies korrespondiert mit der Entscheidung, den Schwerpunkt gemeindepädagogischer Reflexion weg von Grundaufgaben von Pädagogik und Katechetik hin zu einer kritischen Religionspädagogik zu verschieben. Diese hat „sich als Emanzipationsbewegung weg von der kirchlich-theologisch orientierten Katechetik etabliert“.22 Die Vertreter einer Gemeindepädagogik in der emanzipatorisch-kritischen Tradition der Religionspädagogik schlagen vor, statt Gemeindepädagogik den Begriff der Bildung bzw. der „theologische[n] Bildungstheorie“ zu verwenden.23 Dabei ist dies nicht nur eine begriffliche oder methodische Frage des Zugangs, wie die kritische Bemerkung zur Katechetik zeigt, sondern vor allem eine inhaltliche Frage. Während es bei Pädagogik als Lehre von der Erziehung „um Prozesse der Vermittlung von für wichtig gehaltenen Verhaltensweisen, Einstellungen, Fähigkeiten usw.“24 geht und Katechetik eine inhaltliche Norm voraussetzt, die vermittelt wird,25 verwendet diese den Menschen in den Mittelpunkt stellende Gemeindepädagogik einen Bildungsbegriff,26 der weitgehend als Selbst-Bildung

20 Vgl. Englert, Lebenslauf, 101f, der diese in zwei unterschiedlichen Modellen beschreibt, dem Anlage- und dem Bekehrungsmodelle, und Wunderli, Offenbarung, 32ff, der diese in verschiedenen antinomischen Begriffspaaren kontrastiert. 21 Dahlgrün, Spiritualität, 123, spricht von religiösen Suchbewegungen, die aber nicht als christliche Spiritualität zu bezeichnen sind. 22 Bubmann, Gemeindepädagogik, 24. Von Nipkow, Bildung, 74, wurde sie deshalb als „kirchenvergessene Religionspädagogik“ bezeichnet. 23 Bubmann, Gemeindepädagogik, 24. 24 Klika/Schubert, Erziehungswissenschaft, 108. 25 Vgl. Wunderli, Offenbarung, 34. 26 Zur Auseinandersetzung mit dem Bildungsbegriff vgl. Nipkow, Bildung, 25–61, und kritisch dazu und zur Religionspädagogik Printz, Gemeindepädagogik, 42–47.

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verstanden wird.27 Deshalb ist es auch nachvollziehbar, dass zum einen dann viele zentrale Themen und Aufgaben evangelischer Spiritualität wegfallen bzw. nicht im Blick sind, weil sie offenbarungstheologisch begründet sind, zum anderen die mit ihrem Vermitteln und Anleiten als Hilfe zum Lernen und Üben verbundene pädagogische Tätigkeit als „pädagogische Nachstellung“28 abgelehnt wird. Die Hilfen der Pädagogik, die auch im NT an vielen Stellen erwähnt sind, werden von dieser Gemeindepädagogik nicht positiv reflektiert und genutzt. Dafür stehen ausschließlich die Selbstentfaltung des Einzelnen oder politische Anliegen im Fokus.29 Sehr viel unbefangener geht die angelsächsische Gemeindepädagogik mit Fragen der Spiritualität um. Hier zeigt sich ein anderes Verständnis von Gemeindepädagogik, das offenbarungstheologisch begründet und pädagogisch breiter aufgestellt ist. Unter den Stichworten „Christian Education“ oder „Spiritual Formation“ wird über gemeindepädagogische Ziele und Wege im Kontext von Spiritualität nachgedacht und es werden praktische Hilfen gegeben.30 Auch einige deutsche Monografien im Bereich der Gemeindepädagogik haben diese Aufgabe im Blick und entfalten einzelne Aspekte.31 Ebenso wird in vielen Arbeiten zu Fragen einer Evangelischen Spiritualität unbefangen über pädagogische Aufgaben reflektiert.32 Von daher bestehen gute Voraussetzungen, Gemeindepädagogik und Spiritualität fruchtbar miteinander ins Gespräch zu bringen. In den folgenden drei Kapiteln sollen in pädagogisch grundlegenden Bereichen einige Aspekte betrachtet werden, in denen Gemeindepädagogik beim Gewinnen und der Gestaltung einer evangelischen Spiritualität eine Hilfe sein kann. 27 Vgl. Kunstmann, Religionspädagogik, 337: „Bilden ist immer Sich-bilden. Das verträgt keine vorgeordneten Autoritäten und keine festen Zielangaben.“ Oder auch Klika/Schubert, Erziehungswissenschaft, 109: „Bildung ist […] das, was man aus sich macht.“ 28 So z. B. Lämmermann, Gemeindepädagogik, der deshalb von Gemeindebildung sprechen möchte. 29 Zu den Schwerpunkten der verschiedenen Hauptströmungen der Gemeindepädagogik vgl. Printz, Sackgasse, 151–174. 30 Sehr deutlich wird dies in dem Titel des Buches von George Barna, Transforming Children into Spiritual Champions, das ein gemeindepädagogisches Programm für Kinder entfaltet. James K.A. Smith (Desiring the Kingdom. Worship, Worldview an Cultural Formation,) sieht die gemeindepädagogische Aufgabe über die bloße Vermittlung eines christlichen Weltbildes hinaus („information“, a. a. O., 219) hin zu einer ganzheitlichen Prägung mit den Aspekten „liturgy, formation and desire“ (Rückentitel). 31 Z. B. Frömmigkeit als Erziehungsziel, vgl. Printz, Gemeindepädagogik, 105–116. Vgl. ebenso die Entwürfe von Mauerhofer, Löwen und Wunderli. 32 Exemplarisch sollen genannt werden: Zimmerling, Spiritualität; Sautter, Spiritualität lernen; Dahlgrün, Spiritualität; Harms, Glauben üben; Hermission, Spiritualität; Husmann, Spiritualität lernen.

Evangelische Spiritualität und Gemeindepädagogik

1.

683

Gemeindepädagogische Arbeit mit Zielen als Hilfe zur Gestaltung evangelischer Spiritualität

Grundlegende Herausforderung jeder pädagogischen Arbeit und somit auch der Gemeindepädagogik ist die Klärung ihrer Ziele. Pädagogisches Handeln muss sich und anderen Rechenschaft darüber geben, was es erreichen will. Nur so bleibt die Freiheit des Edukanden erhalten, dass er entscheiden kann, ob er mit den genannten Zielen übereinstimmt und das pädagogische Angebot annimmt. Nur so kann über geeignete Hilfen nachgedacht werden, wie die Ziele erreicht werden können. Nur so kann pädagogisches Handeln evaluiert werden, ein Kennzeichen von Professionalität. Diese Aspekte gelten auch für die Ziele von Spiritualität. Die Zielarbeit in der Gemeindepädagogik kann Evangelischer Spiritualität helfen, sich und anderen Rechenschaft zu geben über die ihr eigenen Ziele. Zwei Aufgaben sollen in diesem Zusammenhang näher benannt werden:

1.1

Die inhaltliche Bestimmung der Zieldispositionen

Angesichts des schillernden Containerbegriffs Spiritualität bzw. einer vagabundierenden Spiritualität ist es erforderlich, dass inhaltlich benannt wird, welche Zieldispositionen jeweils zu einer evangelischen Spiritualität gerechnet werden. In der EKD-Studie von 1979 „Evangelische Spiritualität“ sprechen die Verfasser „von drei Strängen erneuerter Spiritualität“, die sie in den Jahren zuvor meinten feststellen zu können: „a) von der bibelorientierten, evangelistischen Spiritualität, welcher die charismatisch-pfingstliche Spiritualität verwandt ist; b) von der liturgischen, meditativen Spiritualität, die sich z. B. in den evangelischen Kommunitäten neu entfaltet hat – und c) von der emanzipatorisch-politischen Spiritualität, die sich auf prophetische Tradition beruft und in die Solidarität mit den Armen stellt.“33 Was darunter jeweils konkret zu verstehen ist, wo Gemeinsamkeiten und wo Unterschiede bzw. wo Grenzen bestehen, kann durch klare inhaltliche Dispositionsbeschreibungen verdeutlicht werden. Dies ist eine entscheidende Hilfe bei der Verständigung.

33 Kirchenkanzlei, Evangelische Spiritualität., 13.

684 1.2

Markus Printz

Die Konkretisierung von Zieldispositionen

Inhaltlich bestimmte Zieldispositionen bedürfen der Konkretisierung, damit es nicht bei allgemeinen, globalen Zielbestimmungen bleibt (intensivere Beziehung zu Gott, nach seinem Willen leben), die weder dem, der Neues in seiner Spiritualität lernen will, noch dem, der ihm dabei helfen soll, Orientierung geben. Für eine gelebte Spiritualität braucht es Fähigkeiten und Fertigkeiten, die eine solche Lebensgestaltung ermöglichen (z. B. Fähigkeit, Ablenkungen zu erkennen und zu beseitigen, innerlich ruhig zu werden, das Wort Gottes für sich persönlich zu lesen und in seiner Bedeutung für das eigene Leben zu verstehen). Grundlage dafür sind Haltungen und Bereitschaften (z. B. auf Gott zu hören, sich Zeit zu nehmen für das Gebet, neue Gestaltungsformen auszuprobieren). Schließlich braucht es Wissen und Kenntnisse (z. B. Aspekte, wie ich Gottes Willen in meinem Leben erkenne, über die Bedeutung der Übung und welche Möglichkeiten es gibt, Übung in den Alltag zu integrieren, wie ich Erfahrungen unterscheiden kann, ob sie Impulse von Gott sind oder eher aus dem eigenen Wunschdenken stammen). Zwei Beispiele für Veröffentlichungen, in denen ansatzweise eine inhaltliche Bestimmung und Konkretisierung stattgefunden hat: 1. Aus dem emanzipatorisch-politischen Kontext stammt der Beitrag von Oesselmann. Die allgemeine Zieldisposition „Verantwortung für die Nächsten“ wird inhaltlich politisch bestimmt und mit folgenden Stichworten konkretisiert: • „Orientierung und Beteiligung von Gemeinde an der verantwortlichen Gestaltung einer globalen (Lebens-)Welt.“34 • Befreiungstheologische,35 wirtschaftskritische oder ökologische Zieldispositionen (213ff) oder der Konziliare Prozess für Frieden, Gerechtigkeit und Bewahrung der Schöpfung (229ff). Als konkrete Beispiele werden genannt: Initiativen gegen Atomkraft, Energieeffizienz kirchlicher Immobilien, fair gehandelte Nahrungsprodukte (231). • Das ebenso in diesem Kontext erwähnte ökumenische Lernen gründet auf gemeinsamen Erfahrungen, gerade auch im Blick auf soziale Veränderungen (230).

34 Oesselmann, Entwicklungen, 210. Die Seitenzahlen im Text beziehen sich auf den Artikel Oesselmanns. 35 A. a. O., 232 über Paulo Freire: „Wir sind Erzieher-Propheten […]. Pädagogisches Ziel ist es, sozial und kulturell ausgeschlossene Menschen aus dem Gefängnis internalisierter Vorurteile zu lösen – ein Befreiungsprozess.“

Evangelische Spiritualität und Gemeindepädagogik

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2. Ein Beispiel aus dem Kontext bibelorientierter Spiritualität findet sich bei Hempelmann.36 Seiner These „Evangelische Spiritualität ist Bibel-Spiritualität“ stellt er die Erläuterung „Sie hat die Bibel lieb“ (48) an die Seite und beschreibt dann für den Umgang mit der Bibel zusammenfassend folgende Aspekte, aus denen sich entsprechende Dispositionen ableiten lassen: Sorgfalt im Umgang mit der Heiligen Schrift, Exegese und nicht Eisegese, die ganze Heilige Schrift ernstnehmen, der Bibel einen Vorsprung geben, auf jede Form von Bibelkritik verzichten, auf Versuche verzichten, die eigene Meinung durch selektiven Gebrauch des Wortes Gottes zu bestätigen, spekulativen Umgang mit der Bibel vermeiden und in den Grundlagen des christlichen Glaubens zu einer „verlässlichen, nachprüfbaren und gut vermittelbaren Aussage“ gelangen (55f). Damit hat jeder, der Spiritualität in die eine oder andere Richtung versteht und vertiefen möchte, eine Vorstellung, um welche Zielbereiche es sich dabei handelt. Gleichzeitig stellt diese inhaltliche Beschreibung und Konkretisierung der jeweiligen Zieldispositionen eine gute Grundlage für das Gespräch dar, welche Zieldispositionen jemand einer von ihm angestrebten Spiritualität zuordnen bzw. welche Rangordnung er ihnen geben würde. Über solche Zieldispositionen kann nun nachgedacht werden sowohl für und mit Menschen, die noch auf der Suche nach dem Glauben und Erfahrungen mit Gott sind als auch für und mit denen, die sich eine Vertiefung ihres Glaubens an Gott wünschen. Ist die Zielsetzung klar, stellt sich die Frage nach Hilfen, damit die gewünschten Ziele auch erreicht werden. Aus gemeindepädagogischer Sicht sind zwei Bereiche zu nennen. Zunächst sollen Aspekte der Gestaltung des pädagogischen Feldes beschrieben werden. Sie sind in gleicher Weise relevant für Menschen, die erst noch gewonnen werden sollen für die spirituelle Dimension ihres Lebens wie für Menschen, die bewusst nach Möglichkeiten suchen, wie sie die spirituelle Dimension ihres Lebens gestalten können. Dann soll über pädagogische Mittel nachgedacht werden, die eine Hilfe sind im direkten Bezug zwischen einem Mentor und einem Mentee in Sachen Spiritualität.

2.

Die Gestaltung des pädagogischen Feldes

Mit pädagogischem Feld sind die Umgebung bzw. die Umstände gemeint, in denen sich Mentor und Mentee befinden und deren Faktoren einen nicht geringen Einfluss auf das Lernen haben. Diese sind deshalb zu reflektieren und hilfreich zu gestalten. Die Gestaltung des pädagogischen Feldes bietet gerade für Neulinge die Chance, dass erste spirituelle Erfahrungen ermöglicht werden, die 36 Hempelmann, Kernsätze Spiritualität. Die Seitenzahlen im folgenden Abschnitt beziehen sich darauf.

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Interesse wecken und die Bereitschaft fördern, weitere Hilfen in der Ausgestaltung der eigenen Spiritualität in Anspruch zu nehmen, z. B. in Form direkter Begleitung und Anleitung. 1. Die Gestaltung des Glaubenslebens ist nicht nur eine individuelle Sache. Der mit dem Gestaltungsauftrag verbundene Plural (Röm 12,1f; Gal 5,16; Phil 1,27 u. a.) weist auf die Gemeinde, die sich in Gottesdienst, verschiedenen Kreisen und manchen Formen von Gemeinschaft realisieren kann. Sie kann dem Einzelnen die notwendige Ermutigung und Korrektur geben und ihn so vor Überforderung bewahren.37 In Zeiten eines brüchigen Glaubens ist es möglich, sich in von anderen gestaltete Elemente hineinzugeben. Die consolatio fratrum et sororum, der gegenseitige seelsorgerliche Rat von Brüdern und Schwestern, Beichte und Absolution gehören in diesen Kontext, genauso wie das gemeinsame Singen, Beten, Bibellesen oder der gemeinsame Dienst. Eine Gemeinschaft, in der einer dem anderen eine Hilfe ist in der Gestaltung seiner Beziehung zu Gott, entsteht gewöhnlich nicht von allein. Hier bedarf es gestalterischer Hilfen, der Impulse und der Korrektur. Exemplarisch kann dies gut in Bonhoeffers Werk „Gemeinsames Leben“ studiert werden, in dem er die von ihm mit seinen Studenten gelebte spirituelle Praxis entfaltet und reflektiert. Auch die seit ca. zwanzig Jahren von den Kirchen geförderte „Geistliche Begleitung“ durch speziell ausgebildete Seelsorgerinnen und Seelsorger hat das Gemeinschaftliche und die pädagogische Hilfe im Blick. 2. In den biblischen Berichten spielen Orte immer wieder eine Rolle.38 So gibt es heilige Orte, an denen Menschen die Schuhe ausziehen, weil sie dem heiligen Gott begegnen wollen.39 Jesus zieht sich immer wieder zurück an einen einsamen Ort, um zu beten. Auch wenn wir als Menschen des neuen Bundes nicht mehr an besondere Orte, wie den Tempel in Jerusalem oder eine Kirche, gebunden sind, sondern Gott an jedem Ort begegnen können (Joh 4,24), ist es auch für Christen hilfreich, Orte zu haben, an denen sie den Alltag hinter sich lassen und bewusst der Begegnung mit Gott Raum geben können. Dies kann eine speziell eingerichtete Ecke eines Zimmers sein. Auch in Kirchen, Gemeindehäusern und Schulen können Ecken oder Räume gestaltet werden, die zur inneren Sammlung einladen. Einfache Gestaltungsmöglichkeiten können sein: Ein kleiner Tisch mit einer aufgeschlagenen Bibel, eine Kerze, ein Kreuz, ein Bild (in der orthodoxen Tradition eine Ikone). Dabei geht es jeweils um Elemente, die die innere Sammlung und Ausrichtung auf Christus begünstigen. Auch eine Kniebank kann dazu helfen, eine für den Einzelnen spirituell 37 Hierauf weist Dahlgrün, Spiritualität, 94, zu Recht hin. 38 S. im Einzelnen zu diesem Punkt den Artikel von Peter Zimmerling, Kirchenräume, in diesem Band. 39 Vgl. Ex 3,5; Jos 5,15; vgl. auch Dahlgrün, Spiritualität, 374f.

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angemessene Körperhaltung zu finden. Umgekehrt ist es wichtig, zerstreuende und ablenkende Elemente fernzuhalten. So wird man einen solchen Bereich an einem öffentlichen Ort, wie z. B. einer Kirche, in einer stillen Ecke einrichten, der vom übrigen Publikumsverkehr geschützt ist. Nicht zuletzt bieten sich Häuser der Stille oder Klöster als Orte an, wo Menschen bewusst für eine begrenzte Zeit einen Ortswechsel vollziehen, um Gott Raum zu geben. Henry Nouwen reflektiert in seinem Buch „Ich hörte auf die Stille. Sieben Monate im Trappistenkloster“ die spirituellen Erfahrungen, die er als Professor der Theologie dort im Wechsel von ora et labora gemacht hat. Auch die Kirchenraumpädagogik beruht auf der Einsicht, dass Menschen (nicht nur in Lebenskrisen) solche Orte aufsuchen und dort in besonderer Weise für spirituelle Erlebnisse offen sind. Die Aufgabe der Gemeindepädagogik besteht darin, um die Bedeutung solcher Orte zu wissen, darauf hinzuweisen und vor allem diese hilfreich zu gestalten. 3. Neben den Orten spielt die Zeit bei der Gestaltung einer gelebten Spiritualität eine wichtige Rolle.40 Statt darüber zu klagen, dass es die Fülle an Ablenkungen, Angeboten und Aufgaben sind, die Menschen nicht zur Ruhe kommen und ihnen keine Zeit lassen, um das Leben mit Gott zu gestalten, ist es Aufgabe der Gestaltung des pädagogischen Feldes, dabei zu helfen, diese Realität zu erkennen und wieder Zeiten zu gewinnen, einzurichten und mit Leben zu füllen, die Spiritualität ermöglichen. Es geht dabei um die Gestaltung der sabbatlichen Dimension der Woche. Gott hat den Juden die Gestaltung der Woche durch Arbeitstage und einen Ruhetag vorgegeben, genauso die des Jahres durch Arbeitszeiten und Festzeiten. Im Christentum kennt man in der liturgischen Tradition z. B. die Tagzeitengebete, im Pietismus die Stille Zeit, in der charismatischen Bewegung besondere Lobpreiszeiten. Luther hat mit dem Morgen- und Abendsegen eine Anleitung für die inhaltliche Füllung einer solchen Gebetszeit gegeben. Das Glockenläuten in den Dörfern hatte nicht nur die Funktion der Zeitansage, sondern auch einer solchen Unterbrechung des Tageslaufs mit der Einladung zum Gebet. Die Gemeindepädagogik sollte die besonderen Zeiten im Blick haben, angefangen von der Gestaltung des Sonntags über besondere Festzeiten zu Gemeindefreizeiten, Zeiten der Stille, Auszeiten, Pilgerwanderungen u.v.m. In der Gestaltung von Gebetsstationen in einer Kirche oder einem Gemeindehaus und der Planung eines Gebets über einen längeren Zeitraum (z. B. 24 h oder 48 h), zu dem Gemeindeglieder für eine bestimmte Zeit verbindlich oder spontan zusammenkommen, sind gemeinschaftliche, örtliche und zeitliche Aspekte verbunden. 40 Vgl. dazu Dahlgrün, Spiritualität, 373f.

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3.

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Gemeindepädagogische Arbeit als Hilfe für die Gestaltung evangelischer Spiritualität

Hat jemand Interesse an der Gestaltung seines spirituellen Lebens, ist auch eine gewisse Offenheit vorauszusetzen, Hilfen in Form von Unterweisung, Anleitung, Einübung, Ermutigung oder auch Korrektur z. B. von einem geistlichen Begleiter anzunehmen. Hilfe kann auch in traditionellen gemeindlichen Veranstaltungen wie Gottesdiensten, Haus- und Gemeindekreisen, Jugend- und Kinderkreisen, Konfirmandenunterricht u.v.m. gegeben werden. Luther hat zunächst die Hausväter als Verantwortliche für die Spiritualität der ihnen Anvertrauten im Blick gehabt und als Hilfe dafür den Kleinen Katechismus geschrieben, durch den nicht nur Information über die Grundlagen eines gelebten Glaubens in didaktisch aufbereiteter Weise weitergegeben wurde, sondern auch andere pädagogische Mittel Anwendung fanden. Diese sollen im Folgenden beschrieben und auf heute übertragen werden. In ihrer Dissertation mit dem Titel „Glauben üben“ hat Silke Harms die Bedeutung des Katechismus für eine evangelische Spiritualität herausgearbeitet. Luther erkannte bei seinen Gemeindevisitationen, dass viele Gemeinden geistlich verwahrlost waren und sah die Ursache der häufigen Wirkungslosigkeit der Predigt als Mittel der Unterweisung nicht in erster Linie in homiletischer Unfähigkeit, sondern u. a. darin, dass das geistliche Leben vieler Gemeindeglieder auf den Gottesdienstbesuch beschränkt blieb und dem in der Predigt Angesprochenen das Übungsfeld fehlte. (Heute fällt bei den meisten Kirchenmitgliedern selbst das Element des Gottesdienstbesuchs weg.) Die Predigt muss durch verschiedene Formen geistlicher Übung in Gemeinde und Familie, außerdem durch individuelle und begleitete Übungsangebote ergänzt werden, die eine existenzielle Aneignung des Evangeliums ermöglichen – eine wichtige gemeindepädagogische Erkenntnis. Der Kleine Katechismus als didaktisches Mittel war die Grundlage dafür. Die vier Stufen der Katechismusübung haben eine große Nähe zu den vier gemeindepädagogischen Schritten bei der Unterweisung:41 1. Einübung: Auf dieser Stufe werden Kenntnisse über Grundthemen des Glaubens erworben. Methodisch geschieht dies durch Auswendiglernen. Durch Memorieren wird im Gedächtnis eine Grundlage gebildet, die für Luther besonders in Anfechtungszeiten wichtig war. Dabei ist unter Memorieren nicht das stumpfsinnige Pauken zu verstehen, sondern ein effektives Aneignen von kognitivem Wissen, wie es bis heute in Kulturen mit einem hohen 41 Die folgenden Ausführungen nehmen die Darstellung von Harms, Glauben üben, 90–99, auf und beziehen diese auf pädagogische Schritte der Unterweisung (vgl. dazu Printz, Gemeindepädagogik, 159–185).

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Anteil an Analphabeten, was zu Luthers Zeit auch für Deutschland zutraf, essenziell ist. Heute steht dafür eine Fülle didaktischer Hilfsmittel zur Verfügung (Literatur, Anschauungsmaterial, weitere Medien). 2. Verstehen: Dem Auswendiglernen folgt das kognitive Durchdringen. Dieses ist als dialogisches Geschehen zu betrachten und ähnelt dem, was wir gemeindepädagogisch als Lehrgespräch bezeichnen. 3. Vertiefung: Sie ähnelt der Anleitung. Einzelne Stücke des Katechismus werden im Hinblick auf bestimmte Zielgruppen vertieft (Beispiel: Kinder 4. Gebot; Erwachsene 7. Gebot). 4. Ausübung: Hier gilt es, das Gelernte im Alltag zu praktizieren, d. h. Katechetisches verbindet sich mit Aszetischem. Moderne Katechismen für Jugendliche,42 ebenso wie manche Glaubenskurse, stehen in der Tradition der Vermittlung grundlegender Informationen.43 Hauskreise als Hilfe zur Gestaltung spirituellen Lebens setzen darüber hinaus auf das Gespräch als wesentliches Element der kognitiven Vergewisserung, aber auch des Austauschs über Möglichkeiten oder Probleme in der Anwendung und Umsetzung des in einem biblischen Text oder Abschnitt eines Glaubenskurses Gelesenen in den Alltag. Dadurch kann Anleitung und Einübung geschehen. Diese Elemente ermöglichen die Umsetzung dessen, was z. B. als Auftrag Jesu in Mt 28,19 gesagt ist „lehret sie halten alles, was ich euch befohlen habe“. Das „HaltenLehren“ geht über das Lehren hinaus, weil es nicht nur die Vermittlung der Lehre, sondern auch die Lebensgestaltung des Jüngers im Blick hat. Auch Exerzitien, wie sie in Klöstern und Einkehr- oder Stillehäusern angeboten werden, dienen der Einübung in spirituelles Leben.44 Während mit dem Stichwort Katechismen und Glaubenskurse besonders die kognitive Dimension angesprochen ist, lebt Spiritualität stark von der affektiven Dimension. Wer nicht innerlich angesprochen und im Herzen überzeugt ist, dass er den biblischen Gestaltungsauftrag des geistlichen Lebens in seinem Alltag umsetzen will, wird sich schwer tun mit der Bereitschaft zur Verwirklichung im Sinne einer dauerhaften Disposition. Hier ist das pädagogische Mittel des Vor42 Als Beispiele für jugendgemäße Kurse in Jüngerschaft, Nachfolge und Hingabe seien die seit 2008 in der EC-Edition in zahlreichen Auflagen herausgegebenen „Jesus First“ (Roland Werner, Jesus first. Das 7-Wochen Abenteuer) oder „Not a fan“-Anleitungen genannt (Kyle Idleman, not a fan. Vom Bewunderer zum Nachfolger). An die klassischen Hauptstücke des Katechismus knüpft „Yoube“ an, ein 2015 im Fontis-Verlag herausgegebener „Evangelischer Jugendkatechismus“: Dominik Klenk/Roland Werner/Bernd Wannenwetsch, YOUBE Evangelischer Jugendkatechismus. Die Basics des Glaubens. 43 Vgl. Harms, Glauben üben, 262f mit konkreten Beispielen. 44 Harms, a. a. O., plädiert für eine Verknüpfung der Vermittlung christlicher Inhalte mit der Einübung in christliche Grundvollzüge und nennt als Beispiel einen „Glaubensübungskurs“ der Hannoverschen Landeskirche.

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bildes von nicht zu überschätzender Bedeutung. Evangelische Spiritualität lernt jemand nicht in erster Linie aus Lehrbüchern oder in Seminaren und Workshops, sondern von Menschen, die selbst ein gestaltetes spirituelles Leben führen. Wenn die spirituelle Gestaltung des Lebens eines Menschen attraktiv ist, motiviert dies andere, Spiritualität im eigenen Leben zu praktizieren. Fazit: Wie auf allen Feldern, auf denen gelernt und geübt wird, kann pädagogisches Reflektieren und Handeln auch für evangelische Spiritualität eine wichtige Hilfe sein: „Wir können nur das, was wir üben: Beten und Glauben, Hoffen und Lieben.“45

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45 Ruhbach, Spiritualität, 38.

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Hermisson, Sabine, Spiritualität in der Ausbildung zum Pfarrberuf. Eine Bestandsaufnahme im Dialog mit George Lindbecks Überlegungen zum Thema, in: ZThK 108, 2/ 2011, 225–251. Huber, Wolfgang, Kirche in der Zeitenwende – Gesellschaftlicher Wandel und Erneuerung der Kirche, Gütersloh 1998. Husmann, Bärbel, Lässt sich Spiritualität lernen? Didaktische Leitlinien, in: dies./ Biewald, Roland (Hg.), Spiritualität. Impulse zur Reflexion religiöser Praxis im Religionsunterricht (Themenheft Religion Heft 11), Leipzig 2013, 16–20. Josuttis, Manfred, Die Einführung in das Leben. Pastoraltheologie zwischen Phänomenologie und Spiritualität, Gütersloh 1996. Kirchenkanzlei im Auftrage des Rates der Evangelischen Kirche in Deutschland (Hg.), Evangelische Spiritualität. Überlegungen und Anstöße zur Neuorientierung. Vorgelegt von der Arbeitsgruppe der Evangelischen Kirche in Deutschland, Göttingen 1979. Klika, Dorle/Schubert, Volker, Einführung in die Allgemeine Erziehungswissenschaft. Erziehung und Bildung in einer globalisierten Welt, Weinheim/Basel 2013. Kunstmann, Joachim, Religionspädagogik. Eine Einführung, Tübingen/Basel, 22010. Lämmermann, Godwin, Gemeindepädagogik kontrovers. Thesen zur Begründung und Verteidigung ihrer bildungstheologischen Grundlegung, in: http://www.philso.uni-augs burg.de/de/lehrstuehle/evangtheol/relpaed/kontakt/team/laemmermann/publikatio nen/downloads/Gemeindepaedagogik_kontrovers.pdf, abgerufen am 2. 4. 2016. Löwen, Heinrich, Grundriss einer neutestamentlichen Gemeindepädagogik. Entwicklung eines gemeindepädagogischen Konzeptes unter besonderer Berücksichtigung der Ekklesiologie, [München] Grin, 2012. Mauerhofer, Armin, Pädagogik auf biblischer Grundlage. Menschenbilder, Erziehungsziele, pädagogische Prinzipien und gemeindepädagogische Überlegungen; Entwicklungspsychologie, bibelorientierte Didaktik und katechetische Überlegungen, Nürnberg 22009. Nipkow, Karl Ernst, Bildung als Lebensbegleitung und Erneuerung. Kirchliche Bildungsverantwortung in Gemeinde, Schule und Gesellschaft, Gütersloh 1990. –, Die Bildungsfrage der Kirche nach innen und außen im Spiegel der bildungstheoretischen Reflexionen Peter Biehls, in: ders./Biehl, Peter, Bildung und Bildungspolitik in theologischer Perspektive, Münster 2003, 103–110. Nouwen, Henri J.M., Ich hörte auf die Stille: Sieben Monate im Trappistenkloster, Freiburg 2014. Oesselmann, Dirk, Gesellschaftliche Entwicklungen als Herausforderung an eine weltverantwortende Gemeindepädagogik, in: Bubmann u. a., Gemeindepädagogik, Berlin 2012, 209–233. Printz, Markus, Gemeindepädagogik in der Sackgasse? Eine kritische Analyse der Veröffentlichungen zur Gemeindepädagogik der letzten fünf Jahre, in: JETh 30 (2016), 151– 174. –, Grundlinien einer bibelorientierten Gemeindepädagogik. Pädagogische und praktischtheologische Überlegungen, Wuppertal/Zürich 1996. Ruhbach, Gerhard, Geistlich leben. Wege zu einer Spiritualität im Alltag, Gießen/Basel 1996.

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Markus Printz

Sautter, Jens Martin, Spiritualität lernen. Glaubenskurse als Einführung in die Gestalt christlichen Glaubens, (Beiträge zur Evangelisation und Gemeindeentwicklung Band 2), Neukirchen 2005. Schäuble, Wolfgang, Das Reformationsjubiläum 2017 und die Politik in Deutschland und Europa, in: Pastoraltheologie 2016/1, 44–53. Seitz, Manfred, Erneuerung der Gemeinde. Gemeindeaufbau und Spiritualität, Göttingen 1985. Wunderli, Armin, Äußere oder innere Offenbarung. Eine qualitative Untersuchung zur Wahl der Erziehungsziele kirchlicher Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter, Frankfurt 2016. Zimmerling, Peter, Evangelische Spiritualität. Wurzeln und Zugänge, Göttingen 22010. –, Spiritualität – ein weites Feld. Grundlegende Überlegungen, in: Husmann, Bärbel/Biewald, Roland (Hg.), Spiritualität. Impulse zur Reflexion religiöser Praxis im Religionsunterricht (Themenheft Religion Heft 11), Leipzig 2013, 7–15.

Götz Häuser

Glaubenlernen auf dem Weg Glaubenskurse als Stationen geistlichen Lebens

1.

Einführung

Glaubenskurse als Thema in einem Handbuch zur Evangelischen Spiritualität? Das liegt zunächst nicht auf der Hand und macht doch Sinn. Weil es zum Wesen des christlichen Glaubens gehört, dass er sich nicht von selbst versteht, und weil es keine Praxis des Glaubens gibt und keine evangelische Spiritualität ohne Fragen und Nachdenken über diesen Glauben. Christlicher Glaube existiert nur im Prozess des Glaubenlernens, das heißt auf einem Weg des Glaubens und im Gespräch nicht nur mit Gott, sondern auch mit anderen Glaubenden und Nichtglaubenden, Frommen und Zweiflern. So gesehen ist der Glaube immer in Bewegung. Fortschritte wie Rückschritte, Umwege wie Abkürzungen gehören dazu. Nach Möglichkeit aber auch besondere Haltpunkte und Stationen, an denen der Glaube gemeinsam gelernt, erfahren und gestaltet werden kann. Glaubenskurse, wie sie in den vergangenen Jahrzehnten nicht nur in Deutschland entwickelt wurden, sind solche Stationen auf dem Weg des Glaubenlernens. Sie sind Werkstätten, Experimentierfelder und Sprachschulen des christlichen Glaubens. Hier treffen sich Interessierte im Rahmen eines Projekts, um über Grundfragen des christlichen Glaubens miteinander nachzudenken, sich auszutauschen und in einer Lerngemeinschaft auf Zeit Glauben und Leben zu teilen. Im 16. Jh. hat Martin Luther mit gleicher Intention den Katechismus neu entdeckt und hat in der für ihn typischen kraftvollen Sprache gefordert, dass alle Christen „sich drinnen uben […] mit lesen, lehren, lernen, denken und tichten [nachsinnen] und nicht ablassen, bis solange sie erfahren, daß sie den Teufel totgelehrt und gelehrter geworden sind, denn Gott selber ist.“1 Somit ist 1 Vorrede zum Großen Katechismus, BSLK 552,43–553,9. Dass zum Lernen auch das Reden, Handeln und sogar das Singen gehört, stellt Luther an anderer Stelle seiner Vorrede heraus (BSLK 549). Siehe ausführlich dazu Häuser, Glauben, 222–239.

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Götz Häuser

Glauben für den Reformator nur denkbar als ein stetiges Glaubenlernen, als ein Sich-Auseinandersetzen und Prüfen, Vertrauenwagen und den Glauben Hinterdenken, Zweifeln und Staunen, Sich-Gott-überlassen und ihm immer wieder neu begegnen – und all das stets im Gespräch mit anderen Weggenossen und vor allem immer wieder im Gespräch mit Jesus Christus selbst. Glauben im Werden und als dynamisches Geschehen, Glauben als Prozess und als ein immer neues und vertieftes Glaubenlernen – das macht die Intention, aber auch die spirituelle Dimension von Glaubenskursen aus.2 Ich schreibe dies nicht nur vor dem Hintergrund wissenschaftlicher Erforschung und Diskussion über das Phänomen der Glaubenskurse,3 sondern auch im Rückblick auf viele Jahre Praxis und Erfahrung in den beiden Gemeinden, in denen ich als Gemeindepfarrer bisher gewirkt habe. Die jährlich durchgeführten Glaubenskurse haben nach außen gewirkt und interessierte, neue Leute angesprochen, die manchmal auch einen Zugang in die Gemeinde gefunden haben, wo sie nun ihren persönlichen Glaubensweg weitergehen. Zugleich haben die Kurse das geistliche Leben der gesamten Gemeinde und vieler einzelner Gemeindeglieder verändert. Denn dass es im Glauben nicht um ein geschlossenes System geht, sondern um einen offenen Prozess, und dass wir als Gemeinde Raum haben und Raum bieten wollen, um mit Insidern wie mit Randsiedlern und Fremden gemeinsam dem Christusglauben auf die Spur zu kommen, gehört nach meinem Eindruck inzwischen zum Selbstverständnis unserer Gemeinde. Die Erfahrungen mit Glaubenskursen und dass sie einen festen Ort im Jahresrhythmus haben, machen uns zum einen offener für Suchende, Zweifelnde und Fragende. Zum anderen fällt es uns leichter, die eigene Suche und die eigenen Fragen wahrzunehmen, zuzulassen und als fruchtbar für den persönlichen geistlichen Weg zu begreifen. Einige Äußerungen von Teilnehmenden machen beispielhaft deutlich, was Menschen hier erfahren haben und in welcher Weise Glaubenskurse Inhalte des Glaubens vermitteln und zugleich auf die Praxis des Glaubens wirken, auf die persönliche Spiritualität. Auf den Feedbackbögen am Ende der Kurse haben Teilnehmende auf die Frage nach dem wichtigsten persönlichen Impuls unter anderem notiert: Glauben heißt „in Beziehung zu Gott leben“, aber auch „ständige Arbeit mit Gott (beten) und mit der Bibel und mit den Mitmenschen“. Ein anderer hat festgestellt: „seit ich den Kurs besuche, spreche ich wieder täglich mit Gott und seit einiger Zeit ‚spricht‘ er zurück, bzw. ich kann es wieder erkennen“. Eine Teilnehmerin fasst ihren persönlichen Ertrag in Stichworten zusammen: 2 Dieser Dynamik entspricht die Bedeutung des lateinischen cursus, das als Fortgang oder Bewegung wiedergegeben werden kann und in Verbindung mit dem Glauben eine geistige bzw. geistliche Reise meint. So verstanden könnte man das ganze Christenleben als einen Glaubenskursus bezeichnen. 3 Häuser, Glauben.

Glaubenlernen auf dem Weg

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„nach einer Lebenskrise, Neuorientierung, mich selber finden, authentisch, offen, spirituelle Entwicklung, Vertrauen“. Eine andere hat erfahren: „Glauben heißt, sich von Gott lieben lassen“ und „es gibt nicht immer eine Lösung, aber eine Aussicht“. Wie es zu solchen Erfahrungen kommen kann und was es dazu braucht, soll im Folgenden im Überblick gezeigt werden. Ein kurzer historischer Rückblick hilft, das Phänomen der Glaubenskurse bzw. des Glaubenlernens mit Erwachsenen in die Geschichte evangelischer Katechetik und Spiritualität einzuordnen. Biblische Einsichten und systematische Überlegungen zeigen, in welcher Weise das Glaubenlernen zum Wesen des christlichen Glaubens gehört. Zuletzt wird die Gestalt und Praxis der Glaubenskurse in den Blick genommen als Orte evangelischer Spiritualität und als Stationen geistlichen Lebens.

2.

Glaubenlernen in Geschichte und Gegenwart

In der Anfangszeit des Christentums, als die Christen sich in einer überwiegend nichtchristlichen Gesellschaft und Kultur behaupten mussten, waren die Erwachsenentaufe und mit ihr das Erwachsenenkatechumenat die übliche Praxis des Zugangs zur Kirche und zur Gemeinschaft der Christen.4 Hier lernten die Anwärter, was es mit dem Christusglauben auf sich hat, nach welchen Regeln die Christen ihr Leben führen sollten und was in den nur für Glaubende zugänglichen Gottesdiensten geschah. Die Eingangshürden waren hoch, da der Heilsraum der Kirche nur denen offenstand, die bereit waren, sich der wenigstens dreijährigen Lern- und Prüfungszeit des Katechumenats zu unterziehen, bevor sie durch die Taufe (meist in der Osternacht) in die „Gemeinschaft der Heiligen“ aufgenommen wurden. Mit der Ausbreitung des Christentums im vierten Jh. und im Zuge der sich dann etablierenden Kindertaufpraxis, war es mit dem Institut des Erwachsenen-Katechumenats allerdings bald wieder vorbei. Erstaunlich bleibt, dass der steile Zugang zum Christentum die Interessenten gerade nicht abschreckte und dass trotz eines anspruchsvollen Lernprogramms die Zahl der Taufbewerber stetig wuchs. Es war kein Christentum zu ermäßigten Bedingungen; gleichzeitig gelang es den Gemeinden, ihren Glauben deutlich zu vertreten und Menschen persönlich anzusprechen.5 Im Mittelalter war neben der Predigt die Privatbeichte ein wichtiger Ort der Katechese, die immer mehr zum Mittel der kirchlichen Erziehung wurde. Die 4 Dazu und zum Folgenden ausführlich Häuser, Glauben, 91–93.215–250. 5 Wegweisend und instruktiv bis heute Augustinus‘ Lehrschrift für Lehrende: De catichizandis rudibus (CChr.SL 46, Turnhout 1969; Übersetzung W. Steinmann/O. Wermelinger, SKV 7, München 1985).

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Büßer wurden einem regelrechten Glaubensverhör unterzogen, in dessen Verlauf sie dem Priester die sogenannten Patenhauptstücke aufsagen mussten: Credo und Vaterunser, später auch den Dekalog. In diese Tradition trat Martin Luther ein und knüpfte mit seinen katechetischen Arbeiten daran an, wobei er das Bewährte grundlegend neu buchstabierte, nämlich im Hören auf das in Jesus Christus beschlossene und in der Schrift geoffenbarte Evangelium von der Rechtfertigung des Gottlosen aus Glauben allein. Äußerer Anlass für Luthers Katechismen, die er später zu seinen wichtigsten Werken zählte, waren die kursächsischen Visitationen. Sie brachten eine erschreckende Unkenntnis zutage, selbst über die elementarsten Glaubensdinge, und zwar nicht nur unter den Gemeindegliedern, sondern ebenso unter den Geistlichen. Vor diesem Hintergrund verstärkte Luther sein Bemühen um den Katechismus, den er als geistlichen Lern- und Übungsweg verstand, als Vademecum für den Glauben und das Leben aus dem Glauben. Dabei waren die dem Katechismus beigegebenen typischen Fragen (Was ist das?) und die entsprechenden Antworten nicht als unverrückbarer Memorierstoff, sondern exemplarisch gedacht, als Muster eines Dialogs zwischen Lehrer und Schüler. Wobei Luther selbst sich keineswegs nur als Lehrer, sondern zugleich stets als Schüler des Katechismus verstand. Alle Christen – Kinder wie Erwachsene – sollten sich im Glaubenlernen üben, weil „sich Gott selbs nicht schämet, solchs täglich zu lehren, als der nichts Bessers wisse zu lehren, […] so er doch dran lehret von Anfang der Welt bis zum Ende, und alle Propheten sampt allen Heiligen […] noch immer Schüler sind und bleiben und noch bleiben müssen?“6

Leider setzte sich diese wichtige Einsicht nicht durch und Luthers Katechismus wurde in der Folgezeit zum dogmatischen Memoriertext vor allem für Kinder und Jugendliche.7 Erst im 20. Jh. trat im Zuge der antikirchlichen Übergriffe der Nationalsozialisten die gemeindliche Dimension des katechetischen Auftrags wieder in den Vordergrund. In Schule und Öffentlichkeit war ein ordentlicher evangelischer Unterricht damals nicht mehr möglich, nur noch im Raum der Bekennenden Kirche und der ihr zugehörigen Gemeinden. Mit der Wiederentdeckung des Kleinen Katechismus wurde der Bedarf an neuen Formulierungen der evangelischen Lehre deutlich, aber auch generell die Notwendigkeit, die katechetische Arbeit im Sinne eines Gesamtkatechumenats für alle Altersstufen neu zu ordnen. Wegweisend waren neben den Arbeiten von Dietrich Bonhoeffer,8 Hans Asmussen und Heinrich Vogel vor allem Überlegungen von Oskar Hammelsbeck, 6 Vorrede zum Großen Katechismus, BSLK 551,30–552,10. 7 Zur Bedeutung und zur Praxis des kirchlichen Unterrichts mit dem Heidelberger Katechismus reformierter Prägung siehe Häuser, Form und Maß. 8 Vgl. Braun, Bonhoeffers gemeindepädagogisches Wirken.

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der auf die Bedeutung eines kontinuierlichen und alle Gemeindeglieder umfassenden Unterrichts hingewiesen hat, in dem das „Bleiben in der Lehre“ (Apg 2,42) und das Bleiben bei dem einen Lehrer, Christus, Gestalt annimmt.9 Nach 1945 war es mit dem Bemühen um ein Erwachsenen- bzw. Gesamtkatechumenat allerdings bald wieder vorbei. Erst in den 1960er-Jahren wurden neue Formen des Glaubenlernens wieder erprobt. Dazu gehörten die sogenannten „Laienseminare“, die zwar vor allem der Mitarbeiterausbildung dienten, darüber hinaus aber für alle Gemeindeglieder offenstanden, gerade auch für Kirchenferne, die sich für bestimmte geistliche und theologische Fragen interessierten. Heinrich-Hermann Ulrich nannte sie eine „Arbeitsgemeinschaft auf Zeit für bestimmte Sachfragen“ und empfahl als Arbeitsform das „partnerschaftliche Lehrgespräch“, nicht mehr die Katechese alten Stils im strengen Gegenüber von Lehrendem und Belehrtem, „sondern eine Bemühung um Lehre und Erkenntnis, die von der Partnerschaft beider gegenüber der Wahrheit ausgeht“.10 Wie das aussehen kann, hat an prominenter Stelle Helmut Thielicke demonstriert, der 1960 in einem Artikel in den Pastoralblättern die Dringlichkeit der Glaubenslehre für Erwachsene herausgestellt und von eigenen Versuchen berichtet hat, im Hamburger „Michel“ Kurse zu Grundfragen des christlichen Glaubens anzubieten, mit großer Resonanz. Thielicke kritisiert in scharfer Form die Saumseligkeit seiner Kirche, die über ihrem vielfältigen Engagement das Wesentliche, nämlich die Einführung der Menschen in die Grundlagen des Glaubens, sträflich vernachlässigt habe: „Ich sorge mich, dass die Gemeinde Jesu über dem vielen, was sie so zu unternehmen begonnen hat, etwas anderes vergessen könnte, das uns noch mehr bedeuten sollte […]. Wer noch nie etwas von Goethe, Schiller und Thomas Mann gehört hat, der gilt als ungebildet. Aber wer weiß denn etwas von Mose oder Jesaja oder Paulus oder selbst Christus? […] Wir müßten Christenlehren und Glaubensschulen für Erwachsene einrichten! Das ist das Thema Nummer 1 der Kirche […] immer wieder Grundlagen!“11

Leider hat sein Beispiel nicht Schule gemacht. In Folge der gesellschaftlichen Umbrüche in den 1960er- und 1970er-Jahren standen andere Fragen im Vordergrund. Erst Ende der 1970er-Jahre trat das Glaubensthema wieder stärker in Erscheinung, zum einen im Zuge der Katechismusarbeit der VELKD, bei der sich die Frage nach der Vermittlung des Glaubens gerade unter Erwachsenen in neuer Weise stellte.12 Zum anderen rückte das Thema durch neue missionarische Im-

9 10 11 12

Hammelsbeck, Unterricht. Ulrich, Erwachsenenkatechumenat, 44f bzw. 41. Thielicke, Dringlichkeitsstufen, 68f. Dazu gehören der von H. Reller u. a. herausgegebene Evangelische Erwachsenenkatechismus (1975) und der Evangelische Gemeindekatechismus (1979), zu dem ein umfangreiches Kursmaterial entwickelt wurde.

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pulse und ein wachsendes Interesse an Fragen des Gemeindeaufbaus ins Blickfeld. Es entstand eine Reihe unterschiedlicher Kurse und Konzepte, teilweise im Gefolge der sich etablierenden modernen Erwachsenenbildung, teilweise im Rückgriff auf ältere, bewährte Arbeitsformen oder im Wagnis neuer Ideen und Methoden. Ein prominenter Klassiker dieser Ära ist Wolfram Kopfermanns „Farbwechsel“, der als Vorbild zahlreicher anderer Kurse gelten kann. Zunächst in der Spur von Heribert Mühlens Glaubensseminar „Einübung in die christliche Grunderfahrung“ (Mainz 1976) hat Kopfermann starke missionarische Akzente gesetzt, um glaubensfernen Menschen eine Brücke zum Glauben zu bauen. Mit seinem Kursprojekt „Christ werden – Christ bleiben“ (im Anklang an die EKDSynode von 1988) hat Burkhard Krause diese Linien weiter gezogen in die Mitte der Volkskirche hinein. Ähnliche Entwicklungen gab es in Großbritannien, wo in den 1980er-Jahren der heute weltweit populärste Kurs, der Alpha-Kurs von Nicky Gumble, entstand; in den 1990er-Jahren kam in England der Emmaus-Kurs hinzu. Eine weitere wichtige Spur ist das im Gefolge des 2. Vatikanischen Konzils neu erwachte Interesse an der Tradition des altkirchlichen Erwachsenenkatechumenats als Vorbereitung Erwachsener auf ihre Taufe. Zumal in einer Zeit, in der für viele Menschen die Begegnung mit dem Christentum nicht mehr selbstverständlich in der Kindheit stattfindet und die Zahl der Ungetauften steigt. So ist in den vergangenen Jahren ein breites und vielfältiges Angebot an Glaubenskursen für unterschiedliche Anlässe und Zielgruppen entstanden. Das von der EKD im Jahr 2012 auf den Weg gebrachte Projekt „Erwachsen Glauben“ im Zuge des Reformprozesses „Kirche der Freiheit“ und im Vorfeld des Reformationsjubiläums 2017 hat in vielen Landeskirchen einen Aufbruch befördert und Früchte getragen.13 Leider ist der kräftige und wichtige Impuls inzwischen weitgehend verpufft. Die vielen guten Kursangebote werden zu wenig genutzt. Was Nachhaltigkeit und die dauerhaft entschlossene Unterstützung der Kirchenleitungen bräuchte, läuft Gefahr, im Zuge einer kurzlebigen Kampagnenkultur aufgerieben zu werden. Vom einst ausgegebenen Ziel, allen Menschen in erreichbarer Nähe regelmäßig Glaubenskurse anzubieten, sind wir noch weit entfernt. Und das, obwohl das Glaubenlernen und das Bleiben in der Lehre Jesu Christi unverzichtbar zum christlichen Glauben gehören, erst recht in einer zu13 S. dazu: Erwachsen Glauben; im Zentrum steht hier die Vorstellung diverser Kurskonzepte. Bemerkenswert ist dabei die aktive Kooperation der Abteilungen „Missionarische Dienste“ aus den Landeskirchen und anderer Akteure missionarischer Gemeindearbeit mit den Instituten der Evangelischen Erwachsenenbildung. Hilfreich ist die Verbindung mit der Milieuforschung und eine entsprechende Einstufung und Empfehlung der vorgestellten Kursangebote. Eine vorläufige Auswertung der EKD Kampagne bieten Monsees u. a. in ihrer Untersuchung „Kurs halten. Erfahrungen von Gemeinden und Einzelnen mit Kursen zum Glauben“ (2015).

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nehmend säkularen Welt, in der die Ratlosigkeit wie die Offenheit und Neugier für Glaubensfragen wachsen.

3.

Glaubenlernen als dynamischer Prozess

Nach dem Zeugnis des Neuen Testaments und gemäß dem Auftrag des auferstandenen Christus ist das Glaubenlernen ein essentielles Merkmal christlicher Existenz (Mt 28,18–20). Es gehört in Verbindung mit der Taufe zum Wesen der Jüngerschaft, also zur Nachfolge des gekreuzigten und auferstandenen Jesus Christus. Und es gehört zur Weggemeinschaft mit den anderen Jüngerinnen und Jüngern (μαθηταί), die in unterschiedlicher Nähe und in unterschiedlichem Tempo dem einen Lehrer folgen, dem διδάσκαλος Jesus. Dabei geschieht das Glaubenlernen nicht vor allem im Blick auf einen bestimmten Lehrinhalt, sondern im Blick auf die Person des Lehrers und entsprechend durch die Beziehung der Glaubenden zu Jesus Christus.14 Es geht immer von Neuem um die Begegnung mit dem im Wort seiner apostolischen Zeugen gegenwärtigen Herrn. Offiziell und öffentlich manifest wird dies in der Taufe, in der der κύριος Ἰησοῦς den Täufling durch seine Glauben wirkende promissio erstmals oder erneut in seine Nachfolge und Gemeinschaft ruft und die neue Existenz im Glauben ein für allemal besiegelt. Der sich auf die Taufe hin bzw. von ihr her ergebende Glaubensweg bleibt stets auf diese göttliche Initiative bezogen. Den wegweisenden Zusammenhang des Glaubenlernens mit der Taufe spiegelt auch Apg 2,42 wider. Dort werden nach der Pfingstpredigt des Petrus mit anschließender großer Tauffeier (Apg 2,14–41) in konzentrierter Form die vier Basispunkte christlicher Existenz und geistlichen Lebens genannt. Dabei steht neben der Gemeinschaft, dem Brotbrechen und dem Gebet das Bleiben in der διδαχὴ τῶν ἀποστόλων an erster Stelle. Gemeint ist die immer neue Beschäftigung mit der Predigt und dem Zeugnis der Apostel, die beharrliche Auseinandersetzung mit dem Evangelium von Jesus Christus, wie es die Augen- und Ohrenzeugen des Auferstandenen verkündigt haben und verbürgen. Das Neue Testament in Kontinuität und Gegenüber zur jüdischen Heiligen Schrift ist ein Produkt dieses Prozesses. Die Auslegung der Bibel in die jeweils aktuelle Zeit und Situation hinein, also die 14 Das Wortfeld μαθητεύειν bzw. μαθητής bezeichnet im Neuen Testament nicht allgemein den „Schüler“, der sich einem Lehrer anschließt, um von diesem ein bestimmtes Wissen oder Handwerk zu erlernen (so im jüdischen und hellenistischen Wortgebrauch). Entscheidend ist vielmehr die Beziehung des μαθητής zu seinem Lehrer. Nicht auf die Lehre kommt es an, sondern auf die Person des Lehrers, nicht auf bestimmte Lehrinhalte, sondern auf die „persönliche Bindung …, die das gesamte Leben des als μαθητής Bezeichneten formt“ (Rengtstorf, ThWNT IV, 444). S. dazu und zum folgenden ausführlich Häuser, Glauben, 26– 36 u. ö.

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Arbeit am persönlichen und gemeinsamen Credo, ist eine permanente Aufgabe und Herausforderung der ganzen christlichen Gemeinde. In dieser Dynamik gestaltet sich das Glaubenlernen als „ein Lernen auf dem Wege“,15 nämlich auf dem Weg des Glaubens, der aus der Nachfolge Jesu Christi in der Gemeinschaft mit allen Nachfolgenden erwächst. Dabei gehören Lehre und Leben untrennbar zusammen, weil die Auseinandersetzung mit dem Glaubensinhalt immer jetzt und hier stattfindet, im alltäglichen Leben, wo sich der Glaube aktuell und manchmal akut bewähren muss. Es gibt darum kein Glaubenlernen ohne Überraschungen und ohne die Überschreitung des persönlichen Horizonts; aber auch nicht ohne Beharrlichkeit und Übung. Denn die Vorwärtsbewegung im Glauben geschieht nicht als sukzessiver Stufenweg, auf dem immer neue Wahrheiten zu entdecken wären. Sondern es geht um die zunehmende Erschließung der einen Wahrheit, wie sie in Christi Person und Werk beschlossen ist (vgl. Eph 4,15). Entsprechend kommt der Glaubensfortschritt aus dem Bleiben, und das Glaubenlernen hat neben der prozesshaften und progressiven zugleich eine iterative Gestalt. Die Dynamik des Glaubens erwächst paradoxerweise aus dem Beharren, aus der Wiederholung und der Treue zu dem einen Glaubensgrund.16 Dabei stehen Jesus Christus gegenüber alle Glaubenden auf einer Stufe, auch wenn dies subjektiv anders empfunden werden mag und wir Menschen uns gerne vergleichen. Denn wer könnte bestimmen, was ‚Fortschritt‘ im Glauben bedeutet und woran dies gemessen werden soll! Zumal am Ende womöglich der im Glauben stärker ist, der sich in seiner Schwachheit Gottes Gnade genügen lässt (2Kor 12,9) und nur mehr sagen kann: „Ich glaube; hilf meinem Unglauben!“ (Mk 9,24). Darum sind die „Anfänger“ im Glauben von den „Fortgeschrittenen“ nie allzu weit entfernt, weil alle immer neu auf den einen Anfänger und Vollender des Glaubens angewiesen sind (Hebr 12,2), auf Jesus Christus. Aber sie sind auch aufeinander angewiesen im Dialog, im Angesprochenwerden und im Weitergeben des Verstandenen, ebenso im Widerspruch und in der Auseinandersetzung. Denn keiner kommt von selber auf den Glauben oder kann sich selber sagen, worum es im Glauben geht. Und keine bleibt dabei allein, sondern braucht die andere, die ihr Rede und Antwort steht. Wer glaubt, hat immer den Bruder und 15 So Schoberth summarisch im Einleitungskapitel ihrer Monografie zum Thema Glaubenlernen (a. a. O., 14), in der sie überzeugend die These entfaltet, „dass Lernen ein Moment des Glaubens selbst ist und Glauben-lernen geradezu als nota ecclesiae gelten kann“ (a. a. O., 3). Dabei geht es ihr um „das spezifische Lernen …, das dem Glauben zugehört“ und um „das Aufsuchen eines Lernens, das dem Wirken Gottes Raum gibt und gerade darin Wege sucht, seine Gegenwart täglich neu nachzubuchstabieren“ (a. a. O., IX). Vergleiche dazu Hofmann, Glauben bilden, 40 sowie 50–60 und 60–68. 16 Besonders eindrücklich wird dieses Bleiben (μένειν) und Beharren in den Abschiedsreden im Johannesevangelium thematisiert; siehe Joh 14,20; 15,4–7 und 1Joh 2,6.24–27.

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die Schwester neben sich, von denen er lernen oder zu denen er selbst reden und sie lehren kann, vor allem aber: mit denen er gemeinsam in der Lehre Jesu ist und bleiben soll. Entsprechend ist das Gegenüber im Gespräch die Grundform des Glaubenlernens. Verbunden mit der Einsicht, dass die Wahrheit im Gespräch niemals bei einem der Partner liegen kann – darum verbietet sich jede Form der Rechthaberei. Aber auch nicht zwischen ihnen, als könne sie im Kompromiss gefunden werden. Sondern jene Wahrheit, die in Jesus Christus beschlossen ist und daher eine personale Größe darstellt, steht allen Glaubenden gleichermaßen gegenüber. Keiner kann sie alleine und niemand kann sie endgültig erfassen, sondern immer nur gemeinsam und immer nur vorläufig: im Hören auf das Evangelium und auf den einen Lehrer, Christus. Glaubenlernen geschieht im Zuge eines vielfachen und vielseitigen Gesprächs, in dem die Glaubenden immer wieder herausgefordert werden, zu hören: auf Christus, auf die Mit-Glaubenden wie auf die Mit-Zweifelnden in der Auseinandersetzung mit der Lebenswelt, wobei alle Bezüge vielfältig ineinander verflochten sind und sich wechselseitig bedingen.17

4.

Glaubenskurse als Stationen geistlichen Lebens

Von jeher war das Glaubenlernen eng verbunden mit unterschiedlichen Ausdrucksformen christlicher Spiritualität, an vorderster Stelle mit dem Gottesdienst. In der Alten Kirche nahmen die Taufanwärter am ersten Teil des Gottesdienstes, an der Katechumenenmesse, teil und wurden auf die Messe der Gläubigen vorbereitet, auf die Feier der Eucharistie, zu der sie nach der Taufe zugelassen waren. Im Mittelalter wie in der Reformationszeit blieb der Gottesdienst der wesentliche Bezugspunkt für das Glaubenlernen, weiterhin im Blick auf das Abendmahl, nun aber in Verbindung mit der vorausgehenden obligatorischen Beichte. Dazu kamen später die Katechismusgottesdienste als eigene Institution, in denen regelmäßig über die wichtigsten Lehrstücke gepredigt wurde. In der reformierten Tradition wurden die 129 Fragen und Antworten des Heidelberger Katechismus in zweiundfünfzig Lernportionen aufgeteilt, analog zu den zweiundfünfzig Wochen und Sonntagen im Jahr. Auf diese Weise wurde der Katechismus zum festen Begleiter im Jahreslauf, zum Vademecum auf dem Weg durchs Leben.18 Zwar ist diese Art des Glaubenlernens mit Erwachsenen 17 Siehe dazu Hofmann, Glauben bilden, 52–60. 18 Wenn Glaubenskurse im Jahresprogramm einer Gemeinde oder kirchlichen Einrichtung einen festen Platz bekommen (etwa regelmäßig in der Passionszeit), folgen sie immerhin dieser Spur.

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heute so kaum noch praktikabel. Der Gottesdienst als Inbegriff und Intensivform christlicher, ja evangelischer Spiritualität bietet sich aber nach wie vor als Orientierung an,19 weil viele Elemente aus den Glaubenskursen auf den Gottesdienst bezogen und mit ihm verbunden sind. Und weil der Gottesdienst in seiner wöchentlichen Regelmäßigkeit auch auf den Weg des Glaubens und des Glaubenlernens zielt, als Haltepunkt und als Station in einem prinzipiell nicht abgeschlossenen Prozess. Nicht zufällig münden viele Glaubenskurse am letzten Abend in einen gemeinsamen Abschluss-Gottesdienst oder integrieren gezielt Elemente aus dem Gottesdienst in ihre Konzeption.20 Grundlegend und wegweisend ist die Tauferinnerung, die den Gottesdienst eröffnet: „im Namen des Vaters und des Sohnes und des Heiligen Geistes.“ Sie steht dafür, dass der Glaube sich gänzlich der Initiative und dem Wirken des dreieinigen Gottes verdankt. Der Glaube ereignet sich zwar im Erfahrungsraum der menschlichen Lebenswirklichkeit; er kann und soll gefördert werden in der Gemeinschaft der zum Gottesdienst versammelten Gemeinde, im Hören auf Gottes Wort in der Heiligen Schrift und im Hören aufeinander, auch im gemeinsamen Gebet und Gesang. Gleichwohl verdankt sich der Glaube vollständig der zuvorkommenden Entscheidung und Berufung des dreieinigen Gottes, wie sie in der Taufe anschaulich zur Sprache kommt. Entsprechend steht in jedem Glaubenskurs von Anfang an fest – ob sich der Kurs an Getaufte oder Ungetaufte wendet, ob er zur Taufe hinführt oder dahin zurück, ob er Getaufte im Glauben weiterführt oder diesen Bezug ganz offen lässt –, dass der Glaube an den dreieinigen Gott als fides quae creditur, als Glaubensinhalt, zwar Gegenstand des Glaubenskurses ist und entsprechend erforscht, besprochen und bestritten werden kann, dass er als fides qua creditur, als Glaubensakt, zugleich aber unverfügbar ist und bleibt. Der Glaube kann gelehrt und diskutiert, bezweifelt und verstanden werden und ist doch nicht wie ein Lernstoff in der Schule operationalisierbar und lernbar. Er bleibt in seiner existenziellen und persönlichen Dimension ein Geschenk, das der dreieinige Gott aus freien Stücken Menschen zueignet. Das macht jeden Glaubenskurs frei von allem Drängen und von allem Druck. Er ist ergebnisoffen, und ob und wie die Teilnehmenden Gottes großes JA erwidern, wird man sehen. Der Glaubenskurs gewährt den mehr oder weniger 19 Jens Martin Sautter versteht Glaubenskurse generell als Lernfelder christlicher Spiritualität und als Einführung in die Gestalt des christlichen Glaubens. Durch das Einüben von Vollzügen des Glaubens kann der Glaube zwar nicht methodisch angeeignet, aber immerhin angebahnt werden. Siehe ders., Spiritualität lernen, 21–42 u. ö. Das Wesen des christlichen Glaubens als einzigartige und unverfügbare Christus-Relation wie sie im Neuen Testament beschrieben wird, gerät bei ihm allerdings etwas aus dem Blick. 20 Explizit und eindrücklich im Kurskonzept „Gottesdienst leben“ (heute unter dem Namen „Spiritualität im Alltag“); siehe dazu Erwachsen Glauben, 152–157; sowie Häuser, Glauben, 197–201.

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Glaubenden, den Interessierten wie den Zweiflern einen Freiraum für Unerwartetes und Überraschungen. Dass sich die meisten Glaubenskurse inhaltlich an der Schrittfolge des trinitarisch gegliederten Credos orientieren, rundet den Bezug zur Taufe und zum Taufbekenntnis ab.21 Die Predigt steht im Zentrum jedes evangelischen Gottesdienstes, nicht im Sinne eines Monologs, mit dem der Prediger vom erhobenen Ort der Kanzel die Gemeinde anspricht, sondern im Sinne der Selbstmitteilung Gottes, der sich im Menschenwort der Bibel und im Zeugenwort der Predigt an seine Hörer wendet und sich seinen Menschen vorstellt: wer er ist, was er von uns will und was er für uns tut. Es ist also Gott, der das Gespräch sucht und den Dialog eröffnet, wohlgemerkt nicht nur den Dialog zwischen Gott und Mensch, sondern auch den Dialog der von Gott angesprochenen Menschen miteinander, was in unseren regulären Gottesdiensten oft zu wenig zum Ausdruck kommt. Im Glaubenskurs hingegen steht gerade diese Form des Dialogs, die intensive Kommunikation und Auseinandersetzung der Angesprochenen, im Mittelpunkt. Es geht um Reden und Zuhören, Fragen und Antworten, um den persönlichen Austausch und um den offenen Diskurs. Dabei bezieht sich der Vortrag, der in der Regel das Gespräch eröffnet, nicht wie zumeist in der Predigt dezidiert auf ein bestimmtes Bibelwort, sondern auf ein zentrales Glaubensthema,22 das zwar in Verantwortung gegenüber der Heiligen Schrift entfaltet wird, aber im Überblick und zugespitzt, mit einer gewissen Unabgeschlossenheit, die ausdrücklich zum eigenen Nachdenken und zum Diskutieren herausfordern soll. Denn es geht nicht einfach um die Vermittlung von Informationen, sondern um die Einladung zum Dialog. Es geht im Glaubenskurs um das nach oben offene Gespräch, in dem die Kursteilnehmenden miteinander und voneinander lernen und in das sich – so die Hoffnung und Verheißung – Gott selbst einbringen wird. Weder der Vortragende noch die anderen Mitarbeiter aus dem Glaubenskursteam, die die GesprächsKleingruppen begleiten, treten in diesem Diskurs als Experten auf, die den anderen sagen, was zu glauben ist und wie es „richtig“ ist (vgl. Mt 23,10). Sie sind nicht Hüter der Wahrheit, sondern Zeugen ihres Glaubens; sie stehen nicht über den anderen Teilnehmenden, sondern neben ihnen; nicht als Lehrende, sondern als Schülerinnen und Schüler des einen Lehrers, Christus. Entsprechend geht es in einem Glaubenskurs nicht um die Vermittlung einer bestimmten Wahrheit, als könne irgendein Mensch darüber verfügen; es geht auch nicht darum, eine gemeinsame Wahrheit auszuhandeln, als könne sie im Kompromiss gefunden werden; und es geht nicht um eine Vielzahl individueller Wahrheiten, als könne 21 Zur Taufe als grundlegendem Anhaltspunkt und Quellort des Glaubenslernens und der Glaubenskurse s. Häuser, Glauben, 274–280. 22 Gängige Kursthemen sind beispielsweise die Frage „Was bedeutet Glauben?“, das Thema „Gottesbilder“ oder die Beschäftigung mit der Person und dem Werk Jesu Christi. Je nach Konzept umfasst ein Glaubenskurs zwischen vier bis elf Kurseinheiten.

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sich jeder Mensch das, was ihn im Leben wie im Sterben trägt, selbst konstruieren. Es geht um die eine in der Person Jesu Christi beschlossene, uns persönlich angehende und geschenkte existenzielle Wahrheit (Joh 14,6), die der Auferstandene Menschen auf dem Weg erschließt (Lk 24,32). Im Gottesdienst stehen Gebete und Lieder für die Antwort des Menschen auf die Anrede Gottes und für das – womöglich auch nur vorläufige und versuchsweise – Einstimmen in die Erfahrungen anderer auf dem Weg des Glaubens. In vielen Glaubenskursen tauchen diese klassischen Formen christlicher Spiritualität auf, manchmal als quasi liturgischer Rahmen zu Beginn oder am Ende einer Kurseinheit, manchmal auch erst im Laufe oder gegen Ende des Kursprozesses oder im Rahmen eines Abschlussgottesdienstes, der das vertraute Gesprächsformat erweitert und Gott als den Initiator, Lehrer und Gesprächspartner auf dem Weg des Glaubens explizit ins Spiel bringt. Selbstverständlich muss klar sein, dass ein solcher Gottesdienst ein offenes Angebot ist, das – wie der gesamte Kurs – nur in einem Raum der Freiheit und Freiwilligkeit funktioniert. Wer Distanz braucht und möchte, darf sie wahren und ohne schräge Blicke auf seinem Beobachterposten bleiben. Wenn Glauben aber in seinem Wesen Beziehung ist, dann ist es angemessen, Ausdrucksformen und Gestaltungsmöglichkeiten dieser Beziehung vorzustellen. Wie aus dem Gespräch über Gott das Gespräch mit ihm werden kann und wie persönliche Erfahrungen im Glauben sich im (gemeinsamen) Singen verdichten können, darf in einem Kurs gezeigt und demonstriert werden. Dass man dem Glauben im aufmerksamen Nachdenken und im kritischen Diskurs nur ungenügend auf die Spur kommt und dass es zum Erfassen die Erfahrung braucht, sozusagen das Anprobieren und versuchsweise Tragen der „Gewänder“ des Glaubens, die selbst wenn sie einem noch zu groß erscheinen, doch schon einen Menschen kleiden und wärmen – das gilt es anzuschauen und nach Möglichkeit persönlich zu erleben.23 Wie die alten oder auch die neuen Lieder und Gebete passen, wie die fremden, aber auch die eigenen Worte wirken, lässt sich nur begrenzt im Diskurs begreifen. Dass man im Glauben etwas wagen und ausprobieren kann und dass es andere gibt, von denen gelernt und mit denen experimentiert werden darf, macht etwas deutlich von der „Freiheit der Kinder Gottes“ (Röm 8,21). Meine bisherige Erfahrung ist, dass einzelne Lieder oder die Vorstellung eines Gebets und zuletzt auch ein abschließender Gottesdienst für keinen Kursteilnehmenden schwierig waren. Viele haben am Ende eines Glaubenskurses sogar gerade diesen Abschlussabend als ein besonderes Highlight beschrieben, an dem 23 In der Religionspädagogik wurde diese Einsicht in der performativen Didaktik fruchtbar gemacht. Für Sautter liegt hier die besondere Chance von Glaubenskursen, dass sie Räume öffnen, in denen ein ‚learning by doing‘ möglich ist, ein Abschauen, Ausprobieren, Erfahrungen sammeln und reflektieren. S. ders., Spiritualität lernen, 291–312.

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es im Rahmen eines Stationengottesdienstes in unserer Kirche viele Angebote und einen großen Freiraum gibt, dem eigenen Glauben, Fragen und Unterwegssein auf die Spur zu kommen, und diverse spirituelle Ausdrucksformen persönlich auszuprobieren.24 Das Abendmahl ist selten Bestandteil eines Glaubenskurses, weder als Thema noch im Rahmen einer gemeinsamen Feier. Womöglich würde diese Form der Gemeinschaft und der Intimität coram Deo, vor Gott, manche Zeitgenossen, zumal die Skeptiker und Ungetauften, überfordern. Die Erfahrung einer gemeinsamen Mahlzeit aber hat sich in vielen Glaubenskurskonzepten als wesentliches und starkes Element bewährt. Viele Kurse beginnen mit einem ausführlichen Imbiss und nehmen sich dafür etwa eine halbe Stunde Zeit. Wichtig ist dabei die Gastfreundschaft, die eine Gemeinde den Kursteilnehmenden gewährt, indem sie nicht nur für Seele und Geist, sondern auch für das leibliche Wohl sorgt. Wichtig ist vor allem die gemeinsame Mahlzeit selbst mit den dabei möglichen persönlichen Begegnungen an den Gruppentischen, an denen etwas vom Alltag und vom Leben der Gäste in die Kursgemeinschaft einfließen kann. Hier können die Einzelnen nach ihrem Tagwerk erst einmal zur Ruhe kommen, einander erzählen, was sie erlebt und bewältigt haben und sich persönlich näherkommen – jeder wie er es kann und mag. Oft verändert das die Atmosphäre in den anschließenden Diskussionen, fördert ein vertrauensvolles Miteinander in den mitunter auch existenziell herausfordernden Gesprächen über zentrale Glaubensfragen. So wird deutlich, dass Glauben und Leben zusammengehören, dass Kopf, Herz und Hand einander brauchen, auch im Glauben und in der Gemeinde. Die Tischgemeinschaft, in der sich unterschiedliche Persönlichkeiten und Biografien, Milieus und Generationen, Fragestellungen und Frömmigkeiten begegnen, ist exemplarisch ein Stück Gemeinde auf Zeit. Damit verbunden sind die Wahrnehmung von Verschiedenheiten mit einem gehörigen Spannungspotenzial und im besten Fall viele fruchtbare und ertragreiche Auseinandersetzungen. Es gehört unbedingt zur Vitalität einer Gemeinde und macht entsprechend den besonderen Reiz eines Glaubenskurses aus, dass hier Fromme und Zweifler, erfahrene Christen und streitbare Agnostiker, schräge Vögel und gediegene Bürger zusammenkommen, dass neben Petrus und dem Lieblingsjünger auch Thomas und Judas am Tisch des Herrn sitzen und dass die Tischgenossen

24 Ein Psalm, ein Lied, ein biblischer Impuls, ein Vertrauensgebet am Taufstein, das Entzünden einer Kerze für einen anderen Menschen am Altar, Sorgen/Lasten/Schulden aufschreiben und loswerden an einem Kreuz, ein persönliches Gespräch mit Gebet und Segenszuspruch in der Sakristei, ein Bibelwort ziehen aus einem Körbchen mit Bibelsprüchen, sich selbst oder einem anderen oder Gott einen Brief schreiben und so in Worte fassen, was mich bewegt, etc.

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erfahren, wie sehr sie einander brauchen und bereichern und wie sie gemeinsam Glauben leben lernen.25 Der Segen am Ende ist für nicht wenige Menschen der bedeutsamste Augenblick des Gottesdienstes. Sie erleben ihn, gerade wenn er direkt und persönlich zugesprochen wird (etwa in Form des aaronitischen Segens Num 6,24–26), als Verdichtung der Gottesdiensterfahrung und als besondere Stärkung für die bevorstehende, noch unbekannte nächste Etappe auf dem Lebensweg. Der Segen öffnet und gestaltet den Übergang vom Gottesdienst in der Gemeinde zum Gottesdienst in der Welt. Er verheißt, dass Gott dem Gesegneten wie im liturgischen Raum nun auch im Lebensraum des Alltags zuvorkommt und begegnet. In gleicher Weise sind Glaubenskurse besondere Stationen auf dem Weg des Glaubens und deuten doch zugleich über sich hinaus. Was im Kurs an vier bis acht oder mehr Abenden im Rahmen eines zeitlich begrenzten Projekts geschieht, soll in das alltägliche Leben der Teilnehmenden hinein erweitert werden. Die Gespräche mit anderen Menschen und mit Gott sollen nachwirken und fortgesetzt werden, im persönlichen Bereich und in der Gemeinde – etwa im Gottesdienst und danach beim Kirchenkaffee, in einem Gemeindekreis oder im Ehrenamt, gut möglich auch an einem anderen Ort und mit ganz anderen Leuten. Denn jeder Glaubenskurs ist nur eine Station auf dem verheißungsvollen Weg des Glaubenlernens, auf dem der Auferstandene manchmal ganz offen sich erklärt, auf dem er aber oft genug auch unerkannt und unvermutet sich Menschen beigesellt (Lk 24,15.32).

Literatur Braun, Judith, Dietrich Bonhoeffers gemeindepädagogisches Wirken im Rahmen seines Kirchenverständnisses, Arbeiten zur Religionspädagogik, Bd. 67, Göttingen 2019. Erwachsen Glauben. Missionarische Bildungsangebote. Grundlagen – Kontexte – Praxis, Gütersloh 22014. Häuser, Götz, Einfach vom Glauben reden. Glaubenskurse als zeitgemäße Form der Glaubenslehre für Erwachsene. Neukirchen-Vluyn 22010.

25 Glaubenskurse für bestimmte Zielgruppen machen Sinn. Aufregender und dynamischer sind aber möglichst heterogene Gruppen, in denen es sich auch nach Erkenntnissen der modernen Lernforschung am effektivsten lernen lässt. Auch darum ist es eine Engführung, Glaubenskurse vor allem als missionarische Instrumente zu begreifen. Sie sind für kirchendistanzierte Neugierige und glaubenskritische Interessierte ebenso von Bedeutung wie für fromme Gemüter und die Insider der Gemeinde. Zweifellos gilt das lebenslange Lernen nicht nur in Sachen Beruf, sondern auch und erst recht für den Glauben. Und wer weiß, ob in einem Glaubenskurs nicht gerade die Fortgeschrittenen Entscheidendes lernen durch die Skeptiker und Neulinge im Glauben.

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Häuser, Götz, „Eine gewisse und beständige Form und Maß“. Katechismustexte und Glaubenskurse, in: Heimbucher, Martin/Schneider-Harpprecht, Christoph/Siller, Aleida (Hg.), Zugänge zum Heidelberger Katechismus. Geschichte – Themen – Unterricht, Neukirchen-Vluyn 2012, 193–199. Hammelsbeck, Oskar, Der kirchliche Unterricht. Aufgabe, Umfang, Einheit, München 2 1947. Hofmann, Beate, Sich im Glauben bilden. Der Beitrag von Glaubenskursen zur religiösen Bildung und Sprachfähigkeit Erwachsener, Leipzig 2013. Luther, Martin, Vorrede zum Großen Katechismus, Bekenntnisschriften der evangelischlutherischen Kirche, Göttingen 101986, 543–733. Monsees, Jens/Witt, Carla J./Reppenhagen, Martin, Kurs halten. Erfahrungen von Gemeinden und Einzelnen mit Kursen zum Glauben, Neukirchen-Vluyn 2015. Rengstorf, Karl Heinrich, Art. μαθητής κτλ., ThWNT 4, 1942, 417–465. Sautter, Jens Martin, Spiritualität lernen. Glaubenskurse als Einführung in die Gestalt christlichen Glaubens, Neukirchen-Vluyn 32008. Schoberth, Ingrid, Glauben-lernen. Grundlegung einer katechetischen Theologie, CThM.PT 28, Stuttgart 1998. Thielicke, Helmut, Über die Dringlichkeitsstufen in der kirchlichen Verkündigung, PBL 100 (1960) 6870. Ulrich, Heinrich-Hermann, Erwachsenenkatechumenat, Berlin 1964.

Wolfgang Ilg

Spiritualität bei Freizeiten

Eine eigene Spiritualität von Freizeiten gibt es nicht. Und doch werden viele Menschen auf die Frage nach gemeinschaftlich erlebten spirituellen Momenten von Erfahrungen bei Freizeiten berichten. Der vorliegende Beitrag stellt die Chancen dar, die sich in der herausgehobenen Situation einer Freizeit für spirituelle Gemeinschaftserfahrungen ergeben. Zunächst soll ein Blick auf Begriff und Geschichte der Freizeiten geworfen werden. Danach folgt ein Durchgang durch verschiedene Freizeitformen, wobei dem spezifisch evangelischen Phänomen der Konfirmandenfreizeiten ein eigener Exkurs gewidmet ist. Die spirituelle Dimension von Freizeiten wird danach – auch mit dem Blick auf Praxisformen – vorgestellt. Eine Reflexion zur angemessenen Gestaltung von Freizeiterfahrungen, auch in ausdrücklicher Bezogenheit auf den Alltag zuhause, beschließt den Beitrag. Freizeiten finden sich in nahezu allen denkbaren Altersgruppen und Arbeitsfeldern der evangelischen Kirche. Eine zentrale Bedeutung kommt dabei den Freizeiten mit jungen Menschen zu. Nicht nur quantitativ, sondern auch im Blick auf ihre spirituelle Dimension können Jugendfreizeiten als das Paradigma der Freizeitenarbeit angesehen werden. Um Redundanzen zu vermeiden, wird im Folgenden an einigen Stellen nur von Jugendfreizeiten die Rede sein, wobei das Gesagte auf Freizeiten vieler weiterer Altersgruppen übertragen werden kann. Bei aller (auch begrifflichen) Vielfalt der unterschiedlichen Freizeitformen kann übergreifend festgehalten werden, dass Freizeiten in der Regel eine besonders verdichtete Form des gemeinsamen Lebens bieten. Weil beim gemeinsamen Unterwegssein weite Teile des Tages mit anderen geteilt werden, kommt den Beziehungen untereinander eine herausragende Bedeutung zu. Der Abstand vom heimischen Alltag und ein in der Regel entspanntes Zeiterleben bieten den Rahmen für eine hohe Erlebnisintensität, die meist mit persönlichen Begegnungen und Gesprächen verbunden ist. Wie dieser Rahmen inhaltlich gefüllt wird, kann dabei ganz unterschiedlich aussehen – auch für spirituelle Formen ergeben sich vielfältige Chancen und Herausforderungen.

Spiritualität bei Freizeiten

1.

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Begriffsbestimmung und Geschichte

Eine gängige Definition beschreibt Jugendfreizeiten als „mit Gruppen durchgeführte, freiwillige, nicht am Heimatort stattfindende Aktivitäten, die mehr als zwei Tage dauern und deren Zielsetzung über die bloße Organisation eines gemeinsamen Urlaubs hinaus pädagogisch begründet und von Erwachsenen begleitet wird.“1 Diese Definition lässt sich auf Freizeiten anderer Altersgruppen übertragen: Eine Freizeit ist mit einem Ortswechsel verbunden, beinhaltet aber ein „Mehr“ gegenüber einer reinen Urlaubsfahrt. Dieses „Mehr“ kann bei Chorfreizeiten das gemeinsame Singen, bei Seniorenfreizeiten die Auseinandersetzung mit Biografiearbeit, bei inklusiven Freizeiten das reflektierte Miteinander von Behinderten und Nichtbehinderten betreffen. Allen solchen Formen gemeinsam ist, dass durch den Aufenthalt an einem dritten Ort auch das Gefüge innerhalb der Gruppe in Bewegung kommt. Eine umfangreiche Analyse der Geschichte kirchlicher Freizeiten wurde 1994 von Bernd-Michael Haese unter dem Titel „Erleben und Erfahren“ veröffentlicht. Erstmals wurden darin die Wurzeln von Ferienfahrten systematisch aufgearbeitet. Haese beschreibt verschiedene Einflüsse, die in der Mitte des 19. und zu Beginn des 20. Jh. dazu führten, dass „sich die Methode der Jugendfreizeiten und Ferienlager an verschiedenen Stellen gleichzeitig entwickelt hat“.2 Ein wichtiger Anstoß lag in der Wandervogelidee, die vor allem die Ideale von Einfachheit und Naturnähe betonte. Im kirchlichen Bereich organisierte die sogenannte „Bibelkränzchen-Bewegung“ – erstmals angestoßen durch eine 1883 in einem Pfarrhaus durchgeführte Ferienwoche von sieben Gymnasiasten – um den Jahrhundertwechsel eine Vielzahl solcher Fahrten. Auch weitere Einflüsse, so der Pfadfindergedanke, aber auch paramilitärische Übungslager, sorgten für eine zunehmende Attraktivität von Freizeiten. Der Nationalsozialismus bot in überregionalen Lagern den Jugendlichen des sogenannten „Dritten Reichs“ das Erleben völkischen Zusammenhalts, während christliche Freizeiten nicht mehr in freien Jugendverbänden, sondern nur noch unter dem Dach der Kirchengemeinden stattfinden durften. Nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs etablierten sich die verbandlich getragenen Freizeiten rasch wieder und wurden von praktisch allen Jugendorganisationen als eine Arbeitsform von zentraler Bedeutung entdeckt und intensiviert. Im Kinder- und Jugendhilfegesetz werden sowohl die internationale Jugendarbeit als auch die Kinder- und Jugenderholung als Schwerpunkte der Jugendarbeit genannt.3

1 Ilg, Evaluation, 15 unter Rückgriff auf Haese, Erleben und erfahren, 96. 2 Haese, Erleben und erfahren, hier: 87. 3 Sozialgesetzbuch VIII, §11.

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In den ersten beiden Jahrzehnten des 21. Jh. gehören Freizeiten nach wie vor zu den beliebtesten Veranstaltungsformen nicht nur für das Jugendalter, sondern für eine ganze Fülle von Zielgruppen.4 Mit kommerziellen Jugendreisen erwächst den Kirchen und anderen Verbänden zunehmende Konkurrenz auf dem „Reisemarkt“. Den typischerweise weltanschaulich, politisch oder auf bestimmte Lebensstilpräferenzen zugeschnittenen, oft ehrenamtlich gestalteten Freizeiten, wird von kommerzieller Seite ein Modell entgegengestellt, bei dem vor allem die Kundenzufriedenheit zählt, inhaltliche oder pädagogische Ansprüche zugunsten der Freiheit des Individuums aber bewusst zurückgestellt werden.5 Für die Durchführung von Freizeiten stellen entsprechende Räumlichkeiten oder Zeltplätze eine unerlässliche Voraussetzung dar. Eine Vielzahl von Tagungsstätten, Jugendhäusern, Klöstern oder christlichen Hotels haben sich auf die Durchführung von Freizeiten spezialisiert, teilweise auch mit eigenen geistlich geprägten Programmangeboten.6

2.

Formen der Freizeiten

Die Palette von Veranstaltungsformaten, die allgemein mit dem Stichwort „Freizeiten“ assoziiert werden, reicht von Zeltlagern über Kinderbibelwochen bis zu multinationalen Workcamps. Im Folgenden sollen vorrangig solche Formen von Gruppenfahrten beschrieben werden, bei denen Spiritualität eine hervorgehobene Rolle spielt. Die Begrifflichkeiten variieren dabei nicht nur in Abhängigkeit vom jeweiligen Format, sondern auch regional. So wird der Begriff der „Rüstzeiten“ vor allem in Ostdeutschland verwendet, während er in anderen Gebieten Deutschlands kaum mehr bekannt ist. Andere häufige Begriffe lauten Camp, Ferienfahrt, Lager usw.

2.1



Gängige Freizeitformate

Kinderfreizeit oder Jugendfreizeit: Die prototypische Sommerfreizeit dauert ungefähr eine oder zwei Wochen. Die Gruppengröße ähnelt der einer Schulklasse. Da die Leitung zumeist durch ein Team aus Haupt- und Ehrenamtlichen wahrgenommen wird, lassen sich häufig sehr intensive Betreuungsver-

4 Als aktueller Sammelband, auch mit Verweisen auf weitere Publikationen, empfiehlt sich Drücker/Fuß/Schmitz, Wegweiser Kinder- und Jugendreisepädagogik. 5 Vgl. paradigmatisch die Dissertation des Mitbegründers eines der größten kommerziellen Jugendreiseunternehmen, ruf Jugendreisen: Porwol, Qualität. 6 Unter www.evangelische-haeuser.de findet sich der Zusammenschluss von über 300 christlichen Freizeithäusern.

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hältnisse von durchschnittlich 1 zu 6 realisieren. Ob die Freizeit im Inland oder im Ausland stattfindet, spielt in der Praxis eine nachgeordnete Rolle, da Kontakte zu Land und Leuten oftmals einen eher geringen Stellenwert haben. Eine Sonderform stellen Freizeiten dar, bei denen der tägliche Ortswechsel das Konzept bestimmt. Hierzu gehören Wandertouren bzw. „Hikes“, Fahrradoder Motorradfahrten, Kajak- und Segeltouren, aber auch Wohnmobilfreizeiten für junge Erwachsene.7 Internationale (Jugend-)Begegnung: Im Unterschied zu den meisten Freizeiten steht bei Begegnungsmaßnahmen das interkulturelle Lernen im Zentrum des Programms.8 Zumeist treffen Jugendliche aus zwei oder mehr Ländern zusammen. Bei der Arbeit an einem verbindenden Thema lernt man sich kennen und kommt in intensiven Kontakt und Austausch. Neben künstlerischen, sportbezogenen oder anderen Jugendbegegnungen stellen Workcamps eine eigene Form von Begegnungsmaßnahmen dar. Hier wirken die Teilnehmenden ganz praktisch an einem Projekt mit, beispielsweise der Sanierung eines Klosters, oftmals in einer Gruppe von Menschen aus vielen verschiedenen Herkunftsländern. Neben dem Sprachenlernen gehören auch Erfahrungen anderer spiritueller Prägungen zu den eindrücklichen Erlebnissen solcher Begegnungen, die zumeist ökumenisch orientiert sind. Ein wichtiger Ort, der stilbildend für die spirituelle Dimension internationaler Begegnungen wurde, ist die Gemeinschaft von Taizé mit ihren schlichten liturgischen Formen und eingängigen Gesängen. Tage der Orientierung (mancherorts auch „Tage ethischer Orientierung“): Eine Gruppe von Schülern tauscht für drei Tage das Klassenzimmer mit einem Kloster. Begleitet von zumeist studentischen Mitarbeitenden mit Jugendarbeitserfahrung erleben die Jugendlichen eine intensive gemeinsame Zeit, in der sie aus den üblichen Zwängen der Schule befreit sind. Die Themen werden zumeist von den Schülern selbst festgelegt. Die Aufgabe des Teams liegt darin, Impulse zum Nachdenken über Orientierungsfragen anzubieten, Gespräche anzuleiten und bei Bedarf seelsorgerlich zuzuhören. Spirituelle Angebote erweisen sich für kirchenferne Schüler als oftmals ungewohnt und werden daher behutsam und freiwillig im Programm eingebaut.9 Stadtranderholungen und Kinderbibelwochen: Solche zumeist für Kinder im Elementar- und Primarbereich angebotenen Veranstaltungen bieten die Gemeinschaft einer Freizeit, ohne dass die Kinder auswärts übernachten müssen.

7 Grundlegende Darstellungen und empirische Daten finden sich für Jugendfreizeiten in Ilg, Evaluation; für Kinderfreizeiten vgl. Roth u. a., Evaluation von Kinderfreizeiten. 8 Vgl. grundlegend Friesenhahn/Thimmel, Schlüsseltexte. Empirische Daten zu den Gemeinsamkeiten und Unterschieden von Freizeiten und internationalen Jugendbegegnungen finden sich in Ilg/Dubiski, Reise, 107–111 sowie Becker/Thimmel, Zugangsstudie. 9 Vgl. zu Grundlagen und Methoden zuletzt: Haußmann/Dömland, Warum wohin?

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Angeboten wird ein Halbtags- oder Ganztagsprogramm im Gemeindehaus, in speziellen Waldheimen oder einem großen Veranstaltungszelt. Eltern nehmen diese Formen der Ferienbetreuung häufig in Anspruch, weil damit die – gerade in Zeiten der Ganztagsschule bestehende – Betreuungslücke während der Schulferien verringert werden kann. Bei Kinderbibelwochen bietet sich die Möglichkeit, Kinder, die oftmals nur sehr geringe Vorkenntnisse mitbringen, mit biblischen Geschichten vertraut zu machen. Vielfach werden dabei Theater, Musik sowie andere kreative Zugänge eingesetzt.10 Gemeindefreizeit: Eine beliebte Form, altersübergreifend gemeinsam unterwegs zu sein, stellen Gemeindefreizeiten dar. Alle Mitglieder einer Kirchengemeinde vom Säugling bis zum Greis sind eingeladen, ein Wochenende oder eine Urlaubswoche miteinander zu verbringen. Meist wechseln sich altersdifferenzierte Angebote und gemeinsame Unternehmungen ab. Ein gemeinsamer Gottesdienst bildet oft die spirituelle Mitte und verdeutlicht die Zusammengehörigkeit der verschiedenen Generationen in der Kirchengemeinde. Seniorenfreizeit: Ein bekanntes Konzept für ältere Menschen stellen Seniorenfreizeiten dar, die manchmal auch als „Urlaub ohne Koffer“ beschrieben werden. Oftmals werden hierzu die außerhalb der Ferien leicht verfügbaren Jugendfreizeithäuser genutzt. Die Teilnehmenden werden von Fahrdiensten zuhause abgeholt und abends wieder zurückgebracht, so dass die Übernachtung im heimischen Bett erfolgen kann. Tagsüber ist Zeit für Begegnungen, Spiele, Vorträge, Musik und gemeinsame Andachten. Woche gemeinsamen Lebens: Ein komplementärer Ansatz zum „Urlaub ohne Koffer“ findet sich bei den Wochen gemeinsamen Lebens. Eine Gruppe von Jugendlichen trifft sich dafür beispielsweise im CVJM-Haus während einer Schul- bzw. Arbeitswoche. Tagsüber geht jeder seinen normalen Tätigkeiten nach. Danach kehrt man jedoch nicht nach Hause zurück, sondern trifft sich gemeinsam mit Gleichaltrigen, kocht zusammen, gestaltet das Abendprogramm und übernachtet im Gemeinschaftsquartier. Die Woche gemeinsamen Lebens stellt eine besonders alltagsnahe Form der Freizeit dar, was auch für spirituelle Formen die Chance bietet, intensive Bezüge zum Schul- und Berufsleben herzustellen.

10 Eine der wenigen wissenschaftlichen Arbeiten zu Stadtranderholungen bietet Hübner, Freiwilliges Engagement. Materialien für Kinderbibelwochen in der EKD finden sich unter www.kinderbibelwochen.de.

Spiritualität bei Freizeiten

2.2

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Exkurs: Konfirmandenfreizeiten als evangelisches Spezifikum

Während die im vorigen Abschnitt genannten Freizeitformen keine konfessionelle Prägung aufweisen, hat sich spätestens seit Ende des 20. Jh. mit der Konfirmandenfreizeit eine Freizeitform als „typisch evangelisch“ etabliert, die mittlerweile als eine der Freizeitformen mit der größten Reichweite gelten kann. Im Zuge der Reformbewegung vom Konfirmandenunterricht zur Konfirmandenarbeit wurden Konfirmandenfreizeiten oder Konfi-Camps in den letzten Jahrzehnten zu einem Markenzeichen der Arbeit mit Konfirmanden. Den bundesweiten Studien zur Konfirmandenarbeit zufolge führen 91 % der Kirchengemeinden in der EKD mindestens eine solche mehrtägige Fahrt durch. Bei 48 % handelt es sich dabei um ein Wochenende mit ein oder zwei Übernachtungen, fast ebenso häufig finden sich Formen mit drei, vier oder noch mehr Übernachtungen, die entweder als längeres Camp oder in Form zweier Wochenendfreizeiten durchgeführt werden.11 In einigen Landeskirchen sind Konfi-Camps mit Gruppen von mehreren hundert Jugendlichen entstanden, mancherorts dauern die Camps sogar eine oder zwei Wochen und decken auch in inhaltlicher Hinsicht wesentliche Teile der Konfi-Zeit ab.12 Von den Jugendlichen werden diese Intensivphasen als Höhepunkte der Konfi-Zeit bewertet, wie die Studien zur Konfirmandenarbeit nicht nur in den quantitativen Befragungen, sondern auch bei qualitativen Interviews verdeutlichen: „Bei mir hat sich der Glaube eigentlich auf dem Konfi-Camp so entwickelt“, berichtet beispielsweise ein 16-Jähriger. Und eine Ehrenamtliche bezeichnet die Camps als besonders geeigneten Ort für spirituelle Erfahrungen: „Alles, was wir eigentlich so vermitteln wollen, mit Gott und dem Glauben, das kommt eigentlich dann in solchen Momenten richtig rüber.“13 Durch die Etablierung der Konfi-Camps in den letzten Jahrzehnten kann zumindest für die jüngere Generation festgehalten werden: Fast jeder Evangelische hat in seiner Jugendzeit bereits eine (Konfirmanden-)Freizeit erlebt und diese in der Regel in positiver Erinnerung, oftmals auch im Blick auf spirituelle Angebote bei dieser Freizeit. Damit kommt den Freizeiten zunehmend die Rolle eines identitätsstiftenden „Markenkerns“ des Evangelischseins zu.14 11 Schweitzer u. a., Konfirmandenarbeit im Wandel, 130. 12 Vgl. die grundlegende Arbeit von Saß, Frei-Zeiten. Zum finnischen Modell, das für viele Entwicklungen in Deutschland Pate stand, auch: Haeske/Niemelä, Das finnische Erfolgsgeheimnis. Praxisartikel zu Konfirmandenfreizeiten finden sich in KU Praxis, Abgefahren. 13 Schweitzer u. a., Jugendliche nach der Konfirmation, 150. Zu den quantitativen Ergebnissen vgl. Schweitzer u. a., Konfirmandenarbeit im Wandel, 153. 14 Die besondere Bedeutung der Konfi-Camps wurde auch anlässlich des 500. Reformationsjubiläums im Jahr 2017 deutlich: In Wittenberg organisierte die EKD eine eigene Zeltstadt, bei der über elf Wochen hinweg jeweils 1500 Jugendliche zu Konfi-Camps zusammenkamen.

714 2.3

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Fließende Übergänge zu anderen Formaten

Die exemplarische Aufstellung unterschiedlicher Freizeitformen ließe sich leicht verlängern. Schon die genannten Beispiele zeigen, dass die Abgrenzung zu anderen Formaten jeweils fließend verläuft. Dies gilt grundsätzlich für jeden Aspekt der eingangs zugrundegelegten Definition von Freizeiten. So erscheint das Gruppenerlebnis für Freizeiten zwar von zentraler Bedeutung. Mit Pilgerwegen, erlebnispädagogischen Angeboten eines „Solo“-Laufes oder der sogenannten Visionssuche (vision quest) gibt es aber auch Einzelaktivitäten, die wesentliche Charakteristika der Freizeiten aufnehmen. Wird der Aspekt der Freiwilligkeit aus der Definition herausgelassen, erweisen sich Klassenfahrten oder der internationale Schüleraustausch als schulische Formate mit einer großen Nähe zu Freizeiten. Der in der Definition genannte Abstand vom Heimatort trifft schon bei einem Format wie der „Woche gemeinsamen Lebens“ nur bedingt zu. Und selbst der zeitliche Aspekt einer Dauer von mehr als zwei Tagen bleibt eine willkürliche Grenzziehung, da mancherorts auch zweitägige Kurzfreizeiten von Samstag auf Sonntag angeboten werden. Freizeiten lassen sich also durch äußerliche Charakteristika nur unscharf definieren. Bedeutsamer ist das „Lebensgefühl“ einer Freizeit, das im Hinblick auf die spirituelle Dimension im nächsten Abschnitt genauer beschrieben wird.

3.

Die spirituelle Dimension bei Freizeiten

Freizeiten bieten Raum für ganz unterschiedliche Inhalte und Gestaltungsformen. Im Blick auf die spirituelle Dimension erscheinen fünf Aspekte als besonders bedeutsam:15

3.1

Gemeinschaft

Teilnehmende beschreiben die wichtigste Erfahrung bei Freizeiten zumeist mit dem Stichwort Gemeinschaft. Die Rahmenbedingungen einer Freizeit bieten hervorragende Voraussetzungen dafür, dass die Teilnehmenden und Mitarbeitenden in intensive Beziehungen treten können. Gilt diese Feststellung generell für Freizeiten, so gewinnt sie bei kirchlichen Veranstaltern eine eigene theologische Dimension. Was mit dem im Apostolischen Glaubensbekenntnis zentra15 Die fünf Aspekte lassen sich dabei (mit einer gewissen Unschärfe) dem fünffachen Auftrag der Kirche zuordnen, in der Reihenfolge der hier genannten Unterpunkte: koinonia, martyria, diakonia, leiturgia, paideia (vgl. beispielsweise Bubmann, Amt).

Spiritualität bei Freizeiten

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len Begriff der „Gemeinschaft der Heiligen“ (communio sanctorum) gemeint ist, kann bei christlich geprägten Freizeiten besonders intensiv erlebt werden. Studien zu Jugendfreizeiten bestätigen, dass Jugendliche bei Freizeiten nicht nur neue Freunde finden, sondern dass sie solche Erfahrungen auch mit dem Glauben verbinden. So stimmen bei einer Evaluationsstudie zu Jugendfreizeiten 87 % der über 800 befragten Jugendlichen der Aussage zu: „Ich habe bei dieser Freizeit neue Freunde gefunden.“ 72 % sagen, es habe eine Atmosphäre geherrscht, „in der man sehr offen miteinander reden konnte.“ 91 % meinen: „Die meisten Betreuer/innen waren mir sympathisch“ und 42 % berichten darüber, dass sie „gute tiefergehende Gespräche“ mit den Mitarbeitenden hatten. Unter den Teilnehmenden der kirchlichen Freizeiten melden 50 % zurück, dass „Christsein bei dieser Freizeit erlebbar“ gewesen sei; 26 % sagen am Ende der Freizeit: „Der Glaube an Gott ist mir jetzt wichtiger als vor der Freizeit.“16 In diesen empirischen Daten wird die hohe Beziehungsintensität deutlich, die bei Freizeiten oftmals erlebt wird. Bei christlichen Freizeiten verbindet sich das Gemeinschaftserlebnis mit der Erfahrung eines vom Glauben geprägten Miteinanders. So bietet sich die Chance, sowohl geistlich hervorgehobene Zeiten wie Andachten oder Gottesdienste miteinander zu feiern als auch das Erleben von Ausflügen, Spielen, Erholungsphasen oder Mahlzeiten zu teilen. Oftmals werden Freizeiten als „Gemeinde auf Zeit“ beschrieben. Im Hinblick auf die Dichte des gemeinsamen Erlebens erreichen Freizeiten die Verbundenheit eines geschlossenen Systems wie sie ansonsten nur von Klöstern oder Kommunitäten bekannt ist. Allerdings unterliegen Freizeiten einer klar begrenzten Zeitspanne, der im Empfinden der Teilnehmenden häufig eine Phase der Melancholie (das „Freizeitloch“) folgt. Eine Autorengruppe der evangelischen Jugend nennt in der Aufsatzsammlung „Qualität bei Kinder- und Jugendfreizeiten“ sechs Punkte, die für das evangelische Profil auf Freizeiten charakteristisch seien, in denen die zentrale Bedeutung der Gemeinschaftserfahrung deutlich wird: Kinder und Jugendliche werden bei der Entwicklung des eigenen Glaubens begleitet, finden Gesprächspartner für persönliche Lebensfragen, erleben spirituelle Angebote, beteiligen sich aktiv an der Gestaltung von Gemeinschaft und Spiritualität, erleben den lebensfreundlichen Geist Gottes und machen Erfahrungen gelingenden Glaubens und Lebens.17

16 Ilg, Evaluation, 71–75; vgl. als qualitative Studie: Jugendpfarramt, Ferienfreizeiten. 17 BEJ, Qualität, 11.

716 3.2

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Mitarbeitende als Vorbilder und Seelsorger

Wie empirische Untersuchungen zeigen, kann ein intensiver Betreuungsschlüssel als zentraler Qualitätsindikator von Jugendfreizeiten angesehen werden: Freizeiten, bei denen auf einen Mitarbeitenden nicht mehr als vier Teilnehmende kommen, werden bei einer Vielzahl von Aspekten besonders positiv bewertet.18 Die Mitarbeitenden bei christlichen Freizeiten sehen ihre Hauptaufgabe nicht in der Animation oder Programmgestaltung, vielmehr stehen sie den Teilnehmenden als Gesprächspartner (beispielsweise in Kleingruppenphasen) zur Verfügung. Ihnen kommt oftmals eine Vorbildrolle zu, gerade dann, wenn sie nur wenige Jahre älter sind als die Teilnehmenden und den Jugendlichen damit nahbarer erscheinen als die Generation der Eltern. Durch die intensive Wegbegleitung in einer klar definierten Phase werden Mitarbeitende oftmals als Seelsorger angesprochen. Abseits der gewohnten Umgebung fällt es vielen Jugendlichen leichter als zuhause, über ihre Sorgen und Fragen zu reden. Solche persönlichen Begegnungen gelingen dann besonders gut, wenn sich die Mitarbeitenden auch in den geistlichen Programmangeboten mit ihrer Persönlichkeit, ihrem eigenen Glauben und ihren offenen Fragen einbringen. Eine in der Praxis erprobte Methode, die Verkündigung und persönliche Erfahrungen zusammenbringt, sind Mitarbeiterinterviews, bei denen die Teamer in abendlichen Gesprächsrunden aus ihrem eigenen Leben berichten.19 Die Mitarbeit bei Freizeiten erfolgt zumeist sowohl durch hauptamtliche Kräfte als auch durch Ehrenamtliche. Aufgrund des festgelegten Zeitraums hat ein ehrenamtliches Engagement bei Freizeiten einen Projektcharakter mit definiertem Ende und gewinnt dadurch für viele Ehrenamtliche eine besondere Attraktivität. Oftmals lassen sich jugendliche Nachwuchs-Mitarbeitende leichter gewinnen, wenn sie die Freizeit selbst bereits als Teilnehmende besucht haben. Dies gilt insbesondere für Konfi-Camps. Die besondere Rolle der Freizeitmitarbeitenden verweist zugleich auf die Verantwortung, die mit mehrtägigen Maßnahmen verbunden ist. Immer wieder kommt es bei Freizeiten zu Krisensituationen, beispielsweise durch Unwetter oder die Ausbreitung ansteckender Krankheiten. Freizeitveranstalter sorgen daher in der Regel durch Notfallpläne und ein vorbereitetes Krisenmanagement im Hinblick auf solche Krisen vor. Gefahren drohen allerdings nicht nur durch äußere Einflüsse. Die intensive gemeinsame Zeit weist eine besondere Anfälligkeit für sexuelle oder psychische Übergriffe auf. Neben der durch bundesgesetzliche Regelungen vorgeschriebenen Vorlage eines erweiterten Führungszeugnisses für Betreuungskräfte gehören daher Schulungsmaßnahmen zur 18 Ilg/Dubiski, Reise, 97–107. 19 Vgl. Ilg, Menschsein; vgl. insgesamt zum Thema auch BDKJ, Seelsorge.

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Prävention solcher Missbrauchsfälle sowie entsprechende Beratungsstrukturen zur Schutzstrategie der Kinder- und Jugendarbeit. Wie anfällig Freizeitgruppen auch für psychische Übergriffe sind, zeigt das psychologische Experiment eines Freizeit-Teams des Bezirksamts Kreuzberg. Eine Freizeitgruppe wurde dort mit Düften und Geräuschen gezielt manipuliert, was nach den Berichten der entsprechenden wissenschaftlichen Begleitung erschreckend gut gelang.20 Solche Hinweise verdeutlichen, wie sorgfältig die Schulung und pädagogische Reflexion mit Mitarbeiter-Teams von Freizeiten erfolgen muss.

3.3

Erleben und Erfahren

Ein Grund dafür, dass Freizeiten sich tief in das Gedächtnis der Teilnehmenden eingraben, liegt in der intensiven Erlebnisdichte des gemeinsamen Unterwegsseins. Ob es sich um die Besteigung eines Berggipfels, den ersten Kuss am Rande einer Nachtwanderung oder einen unvergesslichen Abschlussabend beim Pfadfindercamp handelt: Freizeiterfahrene Erwachsene wissen oftmals noch detailliert einzelne Erlebnisse ihrer Fahrten als Jugendliche zu berichten. Bernd-Michael Haese führt in seiner Dissertation neben dem Gemeinschaftserlebnis die Bereiche Naturerlebnis und Körperlichkeit als „Aspekte einer erlebnisorientierten religiösen Sozialisation auf Freizeiten“ aus. Gegenüber dem Erlebnisbegriff werde die Erfahrung in der Systematischen Theologie (z. B. bei Eilert Herms) als „ein ins ‚Bewusstsein‘ gehobenes, in einen umfassenden Deutungs- oder Erfahrungshorizont integriertes ‚gedeutetes‘ Erleben oder Wahrnehmen“ verstanden.21 Haese hält einer solchen tendenziell abwertenden Einordnung des Erlebnisbegriffs entgegen, dass gerade bei Freizeiten „sowohl Erleben als auch Erfahren konstitutiven Charakter haben“ und dabei das Erleben das Spezifikum der Freizeiten darstelle.22 Für die Spiritualität bei Freizeiten gilt es demnach, einerseits die Erlebnisse in ihrem Eigenwert zu würdigen und darauf zu vertrauen, dass sie auch ohne theologische Deutung eine geistliche Kraft entfalten können. Andererseits bieten Freizeiten die Gelegenheit, bestimmte Erlebnisdimensionen reflektierend aufzunehmen und beispielsweise mit biblischen Impulsen zu einer gedeuteten Glaubenserfahrung zu verbinden. Im Vergleich zu vielen anderen kirchlichen Aktivitäten sticht bei Freizeiten die hohe Dichte des gemeinsamen Erlebens hervor, die den vielfach rein kognitiven und innerlichen Charakter sonstiger kirchlicher Angebote zu überschreiten imstande ist. 20 Stenger/Geißlinger, Transformation. 21 Haese, Erleben und erfahren, 190–258, hier 248. Vgl. Herms, Erfahrung. 22 Haese, Erleben und erfahren, 257.

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Eine konkrete Arbeitsform, in der sowohl das Erleben als auch die Reflexion miteinander verbunden werden, liegt in den vielfältigen Formen der Erlebnispädagogik vor. Ihnen ist gemeinsam, dass durch das Erleben bestimmter Situationen beispielsweise Erfahrungen der Überwindung von Angst oder der Kooperation in Gruppen bewusst inszeniert und im Anschluss reflektiert werden. Für den Bereich der Jugendarbeit wurden verschiedene Ansätze entwickelt, Erlebnispädagogik mit Aspekten der Spiritualität zu verbinden und dadurch für Freizeiten fruchtbar zu machen.23 Ein zwar unspektakulärer, aber bedeutsamer Erlebnisbereich liegt in der Vielfalt unterschiedlicher Menschen in der Freizeitgruppe. So wird etwa bei inklusiv gestalteten Freizeiten ein diakonischer Blick dadurch eingeübt, dass Menschen mit und ohne Behinderung ganz selbstverständlich ihren Tagesablauf miteinander gestalten.

3.4

Verkündigung und liturgische Angebote

Wer sich zu einer Freizeit eines christlichen Trägers anmeldet, kann dort von Angeboten mit einer täglichen Bibelarbeit bis zu nahezu „weltanschaulich neutralen“ Gruppenfahrten eine große Palette unterschiedlicher Frömmigkeitsausprägungen erleben – in der Regel, ohne dass dies in den Ausschreibungstexten der Freizeiten klar kommuniziert wird. Da Freizeiten zunehmend über das Internet beworben und gebucht werden, lässt die lokale Bindung an einen Freizeitveranstalter tendenziell nach, so dass dessen geistliche Ausrichtung vielen Teilnehmenden nicht aus vorherigen Begegnungen mit dem Veranstalter bekannt ist. Die sich daraus ergebenden divergierenden Erwartungshaltungen der Teilnehmenden im Blick auf das geistliche Programm führen einerseits zu einer Herausforderung für das Mitarbeiterteam, bieten zugleich aber auch die Chance, dass die spirituelle Ausrichtung in der plural zusammengesetzten Gruppe partizipativ ausgehandelt und die Formen der Verkündigung damit zum Gesprächsgegenstand werden. Eine Evaluation von 41 Freizeiten des Evangelischen Jugendwerks in Württemberg aus dem Jahr 2002 zeigte durch eine Ziele-Befragung der Mitarbeitenden, wie unterschiedlich stark verschiedene Freizeitteams die Verkündigungsziele selbst innerhalb desselben Verbands gewichten. Neben Freizeiten, bei denen die Arbeit mit biblischen Texten oder das Ziel Christsein erlebbar zu machen fast keine Rolle in der Konzeption spielen, gibt es Freizeiten, die solche Ziele ganz oben auf ihre Prioritätenliste setzen. In Abbildung 1 wird jede der untersuchten 23 Vgl. die Buchreihe „Sinn gesucht – Gott erfahren“ 1 bis 3, insb. den 1. Band: Arbeitskreis Erlebnispädagogik, Sinn gesucht sowie das Themenheft: erleben & lernen, Tradition.

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Freizeiten durch einen Punkt markiert. Auf der horizontalen Achse ist die durchschnittliche Ausprägung des vor der Freizeit erfragten Verkündigungsziels im Mitarbeiterteam als Indexwert zwischen den Polen 1 (ganz unwichtig) und 7 (sehr wichtig) abgebildet. In der vertikalen Achse wird der Prozentsatz der Jugendlichen zugeordnet, die nach der jeweiligen Freizeit der Aussage zustimmen, der Glaube sei ihnen wichtiger geworden. Der Zusammenhang zwischen Mitarbeiter-Zielsetzung und Teilnehmer-Rückmeldung wird in der Grafik deutlich: Bei den Freizeiten, auf denen die Mitarbeitenden das Ziel der Verkündigung für besonders wichtig halten, berichten oft mehr als 50 % der Jugendlichen darüber, dass ihnen der Glaube wichtiger geworden sei.24 Dieses empirische Ergebnis verweist auf die große Bedeutung, die einer Klärung der Zielsetzungen in den Mitarbeiterteams zukommt, gerade im Feld der Verkündigung.

Abbildung 1: Zusammenhang von Mitarbeiter-Ziel (Skala 1 = ganz unwichtig; 7 = sehr wichtig) und Teilnehmer-Rückmeldungen beim Aspekt der christlichen Verkündigung

Neben impliziten Formen christlichen Lebens finden sich bei christlichen Freizeiten explizite Angebote der Spiritualität. Klassischerweise gehört dazu der gemeinsame Essensbeginn, beispielsweise mit einem Lied oder Tischgebet. Während der Freizeit werden in der Regel an den Sonntagen sowie an besonderen Tagen Gottesdienste gefeiert. Die Formen weichen dabei von klassischen Gemeindegottesdiensten, aber auch von Jugendgottesdiensten stark ab, weil sie in der Regel die örtlichen Gegebenheiten und das vertraute Miteinander in der Gruppe aufnehmen. Freizeitgottesdienste können auf dem Zeltplatz unter einem Sonnensegel, als Nachtgottesdienst auf einem verschneiten Berggipfel mit Schlitten und Fackelbeleuchtung oder in einer naheliegenden Kirche der Gast-

24 Ilg, Freizeiten auswerten, 71–74. 105. 108–110 (Abbildung: 109). Vgl. dazu auch Ilg, Evaluation, 95. Zum wissenschaftlichen Hintergrund: Ilg/Diehl, Jugendgruppenfahrten.

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region stattfinden. Häufig wird die Vorbereitung und Durchführung von der Freizeitgruppe mitgestaltet, so dass die partizipativen Elemente deutlich stärker als bei anderen Gottesdiensten ausgeprägt sind. Bei vielen christlichen Freizeiten werden auch Tagzeitengebete angeboten, die ansonsten in der Jugendarbeit kaum eine Rolle spielen. Insbesondere ein gemeinsamer Morgenbeginn und ein liturgischer Abendabschluss entwickeln sich häufig zu festen Ritualen, bei denen die Freizeitgruppe zusammenkommt und die Erlebnisse des Tages in einen geistlichen Rahmen stellt. Eine besondere Rolle spielen (nicht nur hier) Lieder, die während der Freizeit immer wieder gesungen werden. Viele Freizeitgruppen verbinden mit „ihrem Lied“ noch nach Jahren die Erinnerung an besondere geistliche Momente in der Freizeitgemeinschaft und lassen beispielsweise ein Freizeitnachtreffen mit dem von der Freizeit bekannten „Abendlob“ ausklingen.

3.5

Bildungsaspekte

Gerade für Jugendliche bieten Freizeiten einen willkommenen Gegenaspekt zur leistungsorientierten Schulwelt. Wenn Bildungsaspekte hier also als Teil der spirituellen Dimension von Freizeiten beschrieben werden, handelt es sich dabei nicht um formale Bildung, die sich nach Bildungsplänen und abprüfbaren Inhalten ausrichtet. Gelernt wird bei Freizeiten dennoch sehr viel, insbesondere im Bereich personaler und sozialer Kompetenzen. Freizeiten bieten durch ihren hohen Anregungsgehalt an neuen Eindrücken einen idealen Rahmen für nonformale und informelle Bildung. Neben den vielfältigen Bildungserlebnissen, die sich nebenbei und durch das Gruppengefüge ergeben, werden bestimmte Bildungsbereiche von den Mitarbeiterteams auch intentional ins Auge gefasst und in konkreten Programmangeboten umgesetzt. Dazu gehören zunächst Angebote der Lebensorientierung im Sinne der „Herzensbildung“. Herausgenommen aus dem Alltag bieten Freizeiten einen Raum dafür, das eigene Leben im Lichte des Glaubens in den Blick zu nehmen und orientierende Anstöße für die Zukunft zu reflektieren. Neben der klassischen Form einer Bibelarbeit mit anschließenden Gesprächen in der Kleingruppe entwickeln sich zunehmend Arbeitsformen, in denen Reflexionsprozesse mit einer Mischung aus Erlebnis und inhaltlichen Impulsen angestoßen werden. Ein Beispiel ist der „Philosophenweg“, ein vom Mitarbeiter-Team vorbereiteter Weg, den Jugendliche alleine oder zu zweit gehen und auf dem unterwegs immer wieder Plakate mit Zitaten wichtiger Philosophen zum Nachdenken anregen. Andere Methoden umfassen Theaterübungen, Fantasiereisen, KleingruppenDialoge und ähnliches. Wichtig ist jeweils, dass die eingesetzte Methodik ins-

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besondere Fragen und Diskussionsimpulse bereitstellt, die Teilnehmenden also zu eigenen Antworten ermutigt werden.25 Ein weiteres bedeutsames Bildungsfeld umfasst den Bereich des interkulturellen Lernens. Insbesondere bei Freizeiten im Ausland sowie internationalen Jugendbegegnungen bietet sich die Chance, die Begegnung mit dem Fremden als einen Bildungsanlass zu nutzen.26 In den gängigen Konzepten zur interkulturellen Begegnung spielt das Thema Spiritualität und Religion zumeist eine untergeordnete Rolle. Dabei böte eine intensive Begegnung mit den theologischen Überzeugungen und religiösen Ausdrucksformen anderer Konfessionen und Religionen nicht nur einen wichtigen Beitrag zur Pluralitätsfähigkeit, sondern auch Impulse für das Nachdenken über eigene Glaubenshaltungen. Bislang gehört es noch nicht zum Standardprogramm einer Jugendbegegnung, zumindest einen religiösen Ort (Kirche, Moschee, Synagoge) der Gastregion zu besuchen. Noch plastischer werden die interreligiösen Erfahrungen, wenn der persönliche Austausch mit Menschen vor Ort hinzutritt. Insbesondere ökumenische Begegnungen mit Gemeinden lassen sich über entsprechende Netzwerke im Gastland einfach arrangieren und können zu einer Horizonterweiterung für die Teilnehmenden führen, bei denen kulturelle und spirituelle Aspekte sich ergänzen. Je nach Konzeption einer Gruppenfahrt lassen sich auch weitere Bildungsaspekte umsetzen, die mit einer geistlichen Dimension verbunden werden können. An Orten wie Verdun oder Auschwitz, aber auch an weniger bekannten historischen Stätten, erschließen geschichtspädagogische Führungen die Bedeutung vergangener Erfahrungen für die Gegenwart. In Hauptstädten oder internationalen Jugendbegegnungsstätten bieten sich Angebote politischer Bildung unmittelbar an. Auch naturpädagogische, musische oder kulturelle Schwerpunktsetzungen bei Freizeiten können mit einer geistlichen Komponente zu einer ganzheitlichen spirituellen Erfahrung verbunden werden.

4.

Wirksame spirituelle Orte gestalten: Die Herausforderung der angemessenen Gestaltung intensiver Freizeiterlebnisse

Wie gezeigt werden konnte, bereiten die Rahmenbedingungen von freier Zeit, Gemeinschaft und Erlebnisintensität bei Freizeiten einen fruchtbaren Boden für die Gestaltung eindrücklicher Erfahrungen. Dies betrifft auch die spirituellen Aspekte, für die in der Praxisliteratur zwar viele Anregungen vorliegen, die aber 25 Eine Sammlung methodischer Bausteine zu Lebensthemen findet sich in Haußmann/Dömland, Warum wohin? 26 Vgl. aej, Mit dem Gesicht zur Welt; für den Bereich interreligiösen Lernens: IJAB/transfer, Toolbox Religion.

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in theologischer Hinsicht kaum konzeptionell bearbeitet sind.27 In Mitarbeiterhilfen und Programmvorschlägen wird zumeist begeistert von der Wirksamkeit geistlicher Erfahrungsräume bei Freizeiten berichtet. Nur selten finden sich jedoch Hinweise darauf, dass mit der Intensität des Erlebens auch die Gefahr verbunden ist, die Anbindung an die Alltagsrealität zu verlieren und sich in spirituelle Höhenflüge zu begeben, die unweigerlich mit späteren Abstürzen verbunden sind. Dietrich Bonhoeffer weist in seinem Buch „Gemeinsames Leben“ auf diese Gefahr hin: „Wo nicht das alltägliche Leben mit allen Ansprüchen an den arbeitenden Menschen in die geistliche Gemeinschaft hineinragt, dort ist besondere Wachsamkeit und Nüchternheit am Platz. Darum breitet sich ja erfahrungsgemäß gerade auf kurzen Freizeiten am allerleichtesten das seelische Moment aus. Nichts ist leichter, als den Rausch der Gemeinschaft in wenigen Tagen gemeinsamen Lebens zu erwecken“.28

Für die Spiritualität bei Freizeiten muss daher in Anlehnung an die Verklärungserfahrung der Jünger (Mk 9,2–10) beides im Blick sein: Das „Bergerlebnis“ der empfundenen Gottesnähe, das sich in dieser besonderen Zeit einzustellen vermag, aber auch der innere Weg zurück in das Tal der Lebensrealität. Freizeiten bedeuten insbesondere für bestehende Gruppen einen (auch geistlichen) Höhepunkt im Jahresverlauf. Umso bedeutsamer wird eine gelingende Verzahnung zwischen Freizeiten und Jugend- bzw. Gemeindearbeit am Heimatort.29 Eine angemessene spirituelle Gestaltung von Freizeiten baut Brücken in den Alltag, die auch nach dem Ende der Gruppenerfahrung eine bleibende geistliche Bedeutung für die Teilnehmenden gewinnen können.

Literatur aej = Arbeitsgemeinschaft der Evangelischen Jugend in Deutschland, Mit dem Gesicht zur Welt. Einblicke in internationale Begegnungsprogramme der Evangelischen Jugend, Hannover 2015. Arbeitskreis Erlebnispädagogik (Hg.), Sinn gesucht – Gott erfahren. Erlebnispädagogik im christlichen Kontext, Stuttgart 2005. BDKJ Ferienwelt, Seelsorge auf Freizeiten und Zeltlagern – ein Handbuch der BDKJ Ferienwelt, Wernau 2009. Becker, Helle/Thimmel, Andreas (Hg.), Die Zugangsstudie zum internationalen Jugendaustausch. Zugänge und Barrieren, Schwalbach/Ts 2019. 27 Vgl. einschlägige Praxisliteratur wie Schnitzler-Forster, Himmel; Hartebrodt-Schwier/ Schwier, Freizeiten kreaktiv; das baugerüst, Auf und davon; Praxis Gemeindepädagogik, Reisen. Auf katholischer Seite: Wort und Antwort, Heilige Tage. 28 Bonhoeffer, Gemeinsames Leben, 29. 29 Vgl. Großer/Schlenker-Gutbrod, Verknüpfen.

Spiritualität bei Freizeiten

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Bonhoeffer, Dietrich, Gemeinsames Leben. in: Müller, Gerhard Ludwig/Schönherr, Albrecht: Dietrich Bonhoeffer Werke. Fünfter Band, München 1940/1987. Bubmann, Peter, Amt, Ämter und Dienste der Kommunikation des Evangeliums – aktuelle Herausforderungen in der Ämterfrage. in: Noller, Annette/Eidt, Ellen/Schmidt, Heinz (Hg.), Diakonat – theologische und sozialwissenschaftliche Perspektiven auf ein kirchliches Amt, Stuttgart 2013, 85–104. BEJ = Bundesarbeitsgemeinschaft Evangelischer Jugendferiendienste e.V. (Hg.), Qualität bei Kinder- und Jugendfreizeiten. Eine Aufsatzsammlung, Hannover 32005. das baugerüst, Auf und davon. Freizeiten und Reisen. Themenheft 2/2011. Nürnberg. Drücker, Ansgar/Fuß, Manfred/Schmitz, Oliver (Hg.), Wegweiser Kinder- und Jugendreisepädagogik. Potenziale – Forschungsergebnisse – Praxiserfahrungen, Schwalbach 2014. erleben & lernen, Zwischen Tradition und Transzendenz. Erlebnispädagogik im christlichen Kontext (Themenheft 6/2018), Augsburg 2018. Friesenhahn, Günter J./Thimmel, Andreas (Hg.), Schlüsseltexte. Engagement und Kompetenz in der internationalen Jugendarbeit, Schwalbach/Ts 2005. Großer, Achim/Schlenker-Gutbrod, Karin, Verknüpfen. Jugend- und Konfirmandenarbeit, Freizeit- und Gruppenarbeit, Aktivgruppen gründen, Stuttgart 2006. Haese, Bernd-Michael, Erleben und erfahren. Freizeiten als Methode kirchlicher Jugendarbeit, Marburg 1994. Haeske, Carsten/Niemelä, Kati, Das finnische Erfolgsgeheimnis. Impulse aus der Konfirmandenarbeit im Land der tausend Seen für die deutsche Jugendarbeit. in: deutsche jugend 58, 2010, 377–384. Hartebrodt-Schwier, Elke/Schwier, Stephan, Freizeiten kreaktiv. Rundum-Paket für Vorbereitung und Durchführung von Kinder- und Jugendfreizeiten, Neukirchen-Vluyn 2003. Haußmann, Annette/Dömland, Dorin (Hg.), Warum wohin? Mit Jugendlichen auf Sinnsuche gehen – 6 Lebensthemen methodisch ausgearbeitet, Stuttgart 2017. Herms, Eilert, Artikel „Erfahrung“, IV. Systematisch-theologisch, in: Theologische Realenzyklopädie (TRE), Band X, Berlin/New York 1982, 128–136. Hübner, Astrid, Freiwilliges Engagement als Lern- und Entwicklungsraum. Eine qualitative empirische Studie im Feld der Stadtranderholungsmaßnahmen, Wiesbaden 2010. IJAB/transfer e.V., Toolbox Religion. Interreligiöse Kompetenz für internationale Jugendbegegnungen und Jugendreisen, Berlin 2009, Online: www.dija.de/toolbox-religi on. Ilg, Wolfgang, Freizeiten auswerten – Perspektiven gewinnen. Grundlagen, Ergebnisse und Anleitung zur Evaluation von Jugendreisen im Evangelischen Jugendwerk in Württemberg. Bielefelder Jugendreiseschriften Bd. 7, Bremen 22005. –, Evaluation von Freizeiten und Jugendreisen. Einführung und Ergebnisse zum bundesweiten Standard-Verfahren, Hannover 2008. –, Menschsein sichtbar machen. Inszenierung von Begegnungen in der kirchlichen Jugendarbeit durch Interviews mit Mitarbeitenden. in: Schlag, Thomas/Simojoki, Henrik (Hg.), Mensch – Religion – Bildung. Religionspädagogik in anthropologischen Spannungsfeldern, Gütersloh 2014, 602–612. –, Jugendfreizeiten als Orte gelebten Glaubens. in: Karcher, Florian/Zimmermann, Germo (Hg.), Handbuch missionarische Jugendarbeit, Neukirchen-Vluyn 2016, 394–406.

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–/ Diehl, Michael, Jugendgruppenfahrten im Spiegel mehrebenenanalytischer Untersuchungen. Erfahrungen mit vernetzter Selbstevaluation in non-formalen Bildungssettings, Zeitschrift für Evaluation 10, 2011, 225–248. –/ Dubiski, Judith, „Wenn einer eine Reise tut“. Evaluationsergebnisse von Jugendfreizeiten und internationalen Jugendbegegnungen, Schwalbach 2015. Jugendpfarramt der Nordkirche, Evangelische Ferienfreizeiten unter der empirischen Lupe. Ein Forschungsprojekt des Landesjugendpfarramtes der Nordkirche, Hamburg 2018. KU Praxis, Abgefahren. Wochenenden und Freizeiten. Themenheft 52 (2008). Gütersloh. Peters, Heike/Otto, Stephanie/Ilg, Wolfgang/Kistner, Günter, Evaluation von Kinderfreizeiten. Wissenschaftliche Grundlagen, Ergebnisse und Anleitung zur eigenen Durchführung, Hannover 2011. Porwol, Bernhard, Qualität im Jugendtourismus – die zentrale Bedeutung der Kundenzufriedenheit; eine empirische Untersuchung, Bielefeld 2001. Praxis Gemeindepädagogik, Themenheft Reisen, Ausgabe 2/2014, Leipzig. Saß, Marcell: Frei-Zeiten mit Konfirmandinnen und Konfirmanden. Praktisch-theologische Perspektiven, Leipzig 2005. Schnitzler-Forster, Jutta, … und plötzlich riecht’s nach Himmel: religiöse Erlebnisse auf Freizeiten und in Gruppen, Ostfildern 1995. Schweitzer, Friedrich/Hardecker, Georg/Maaß, Christoph H./Ilg, Wolfgang/Lißmann, Katja, Jugendliche nach der Konfirmation. Glaube, Kirche und eigenes Engagement – eine Längsschnittstudie. Reihe Konfirmandenarbeit erforschen und gestalten Band 8, Gütersloh 2016. Schweitzer, Friedrich/Maaß, Christoph H./Lißmann, Katja/Hardecker, Georg/Ilg, Wolfgang, Konfirmandenarbeit im Wandel – Neue Herausforderungen und Chancen. Perspektiven aus der Zweiten Bundesweiten Studie. Reihe Konfirmandenarbeit erforschen und gestalten Band 6, Gütersloh 2015. Stenger, Horst/Geißlinger, Hans, Die Transformation sozialer Realität. Ein Beitrag zur empirischen Wissenssoziologie, in: Kölner Zeitschrift für Soziologie und Sozialpsychologie 43, 2, 1991, 247–269. Wort und Antwort, Heilige Tage: Freizeit und Tourismus. Themenheft 3/2016, Ostfildern.

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„Kommt, Kinder, lasst uns gehen…“ Pilgern als Ausdrucksmittel protestantischer Spiritualität „Man muss wie Pilger wandeln, frei, bloß und wahrlich leer; viel sammeln, halten, handeln, macht unsern Gang nur schwer“ (Gerhard Tersteegen, EG 393,4).

1.

Renaissance des Pilgerns?

Pilgern ist angesagt. Nicht nur – und nicht einmal überwiegend – in kirchlichen Kontexten taucht Pilgern seit längerer Zeit als attraktives Thema auf, das Junge wie Alte buchstäblich auf die Beine bringt. Der Büchermarkt produziert eine mittlerweile unübersehbare Fülle von Handreichungen und Erfahrungsberichten von und über Pilgerreisen. Touristikfachleute und Wirtschaftsministerien bemühen sich um den Ausbau von alten und die Entwicklung von neuen Pilgerwegen. Evangelische Landeskirchen und katholische Diözesen setzen das Thema auf ihre Agenda und suchen den Kontakt zu Tourismus- und Wanderverbänden. Eine alte Tradition erlebt ihre Renaissance. Es ist durchaus von einer gewissen Logik, dass nach der Thematisierung von „heiligen Zeiten“ – wie in der Debatte um den Sonntagsschutz – und „heiligen Orten“ – wie in der Konzipierung einer Kirchenraumpädagogik – nun auch die „heiligen Wege“ ins Zentrum des Interesses rücken. Aber handelt es sich wirklich um eine Renaissance? Gegenüber der mittelalterlichen Pilgerpraxis mit ihren konkreten, durchaus pragmatischen Motiven, sind heutige Begründungen zu Pilgerreisen oft deutlich von persönlichen Interessen und Deutungen bestimmt.1 Vieles an subjektiver Sinngebung scheint möglich, das mit der ursprünglichen Pilgerpraxis kaum vereinbar ist – von Motiven einer Wiedergewinnung des verlorenen Verhältnisses zur Natur bis hin zu konstruktivistisch anmutenden Definitionen, bei denen das moderne Bewusstsein aus sich selbst heraus erklärt, was es unter Pilgern verstehen möchte. Pilgern wird auf diese Weise zur Projektionsfläche unterschiedlichster Wünsche und Vorstellungen. Demgegenüber ist es hilfreich, einen Blick auf die historische Pilgerpraxis zu werfen. Der Historiker und Fachmann für den Pilgerweg nach Santiago de Compostela, Klaus Herbers, ist den Motiven mittelalterlicher Pilgerreisender 1 So etwa Jens Gundlach: „Wenn ich sage, ich gehe los und will pilgern, dann ist das schon pilgern“, in: Käßmann, Leib und Seele, 45.

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nachgegangen.2 Er nennt neben Erwartungen von Wundern, insbesondere Heilungen von körperlichen und seelischen Gebrechen, als starkes Motiv den Ablass und die Befreiung von Kirchenbußen und zeitlichen Sündenstrafen. Auch entledigten sich nicht selten die Städte derjenigen Bevölkerungsgruppen, die den sozialen Frieden gefährdeten, indem sie diese auf kirchlich oder weltlich verordnete Buß- oder Strafpilgerfahrten schickten. Neben religiösen Motiven, bei denen die Imitatio Christi eine maßgebliche Rolle spielte, erwähnt Herbers eine Reihe außerreligiöser Motive. Manche Pilgerreise war bedingt durch Fluchtmotive, etwa vor der Pest, durch den Gewinn von Sozialprestige oder ökonomische Interessen wie die Verbindung von Pilgerfahrt und Handelsreise. Schon früh war eine Tendenz zu verzeichnen in Richtung einer „geistlichen Pilgerfahrt“, bei der es weniger auf den real bewältigten Pilgerweg ankam als auf spirituelle Werte. Der Abschluss dieser Entwicklung ist im Ratschlag Martin Luthers zu sehen, der empfahl, lieber nicht nach Compostela zu pilgern, weil man nicht wisse, ob dort „sant Jacob oder ain todter hund oder ein todts roß da ligt, […] las raisen, wer da will, blaib du dahaim“.3 Ein protestantisches Verständnis des Pilgerns wird sich der Komplexität des historischen Pilgerwesens ebenso bewusst sein müssen wie der theologischen Kritik Martin Luthers. Die Aufgabe besteht darin, sich die Aspekte von Kontinuität und Differenz zwischen dem mittelalterlichen und einem zeitgemäßen evangelischen Verständnis des Pilgerns bewusst zu machen.

2.

Die neue Lust am Gehen

Die neue Lust am Pilgern tritt zeitgleich auf mit einer neuen Lust am Gehen. Beides ist Folge einer zunehmenden Virtualisierung unserer Lebenswelten und des damit einhergehenden Erfahrungsverlustes. Nicht nur die Literatur zum Thema Pilgern ist darum beträchtlich, sondern auch die zum Thema Gehen und Wandern.4 Das Internetportal „Wanderbares Deutschland“ präsentiert sich als „Plattform rund um das Wandern in Deutschland“. Kongresse, die über das Internetportal WALK 21 beworben werden, informieren über Trends und Ansätze zur Förderung des Zufußgehens im Alltag. Und selbst der ADAC legt längst schon Wanderkarten für seine Mitglieder auf. 2 Herbers, Weg. 3 Predigt am Jakobstage, WA 10/III, 235. 4 Vgl. dazu exemplarisch Wolfgang Büscher, Berlin – Moskau zu Fuß, Berlin 2003; ders., Deutschland, eine Reise, Berlin 2005, oder auch Roger Willemsen, Deutschlandreise, Frankfurt 2006.

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„Dass alles besser gehen würde, wenn man mehr ginge,“ war schon die Meinung von Johann Gottfried Seume, der die theologische Krise, in die er beim Studium der Theologie in Leipzig geriet, so bewältigte, dass er eine Fußreise von Leipzig nach Syrakus unternahm. Sein Reisebericht aus dem Jahr 1802 „Spaziergang nach Syrakus“ hat ebenfalls eine Neuauflage erfahren.5 Das Zitat von Seume macht deutlich, dass die Wiederentdeckung des Pilgerns, speziell auch im protestantischen Bereich, keineswegs so überraschend ist, wie es manche Äußerungen zu diesem Thema vermuten lassen. Auch hat die neue Lust am Pilgern ihre Wurzeln nicht nur in der Anknüpfung an katholische Pilgerfrömmigkeit. Die Lust am Gehen teilte Johann Gottfried Seume mit den Handwerksburschen des 18. und 19. Jh. wie auch dem Lebensgefühl der deutschen Romantik, wo das Wanderermotiv eine bedeutende Rolle spielte. Und noch die Jugendbewegung des beginnenden 20. Jh. sang bei ihrem Zug in die Natur Wanderlieder wie „Aus grauer Städte Mauern, ziehn wir hinaus ins Feld“ (vgl. „Die Mundorgel“). Allerdings relativiert auch hier der geschichtliche Hintergrund die Wanderidylle. Denn bis weit ins 19. Jh. hinein fehlte dem Wandern jeder Hauch von Romantik. „Viele Berufsgruppen waren aus ökonomischem Zwang auf ständige Fußmärsche von Ort zu Ort angewiesen. Tagelöhner und Kleinhändler, Spielleute und fahrende Künstler mussten sich Kundschaft oder Arbeitgeber erwandern. Gerade die Handwerksburschen waren keineswegs aus Spaß an der Freude auf der Walz, wie manches romantische Volkslied glauben machen will. Ihnen ging es nicht um das Unterwegssein, sondern um das Ankommen. An einem Ort, der Arbeit und Einkommen sicherte.“6

Deutlich ist, dass die bereits im mittelalterlichen Pilgerwesen angelegte Internalisierung der Reise im Protestantismus dominant wird. Die äußere Reise, die bestimmt ist durch das Gegenüber von heiligem Ort und heiligen Gegenständen, zu denen der Fahrensmann sich in ein Verhältnis setzt, wird tendenziell zu einer inneren Reise des Individuums, das dazu nicht unbedingt mehr selbst auf große Fahrt gehen muss. Das nicht nur im protestantischen Raum einflussreiche Erbauungswerk des englischen Predigers John Bunyan „Pilgerreise“ stellt das menschliche Leben in allegorischer Weise dar. Das ganze Leben erscheint als Pilgerreise. Wo das geschieht, wird die reale Pilgerreise sekundär. Es findet eine Biografisierung der Reise statt, wie sie in der heutigen Literatur über das Pilgern weithin verbreitet ist. Dabei besteht die Gefahr, dass dem Glaubenden, dem das extra nos, das VonAußen-Kommen, der Gnadenzuwendung Gottes gilt, ein wortwörtliches Erfahrungsfeld dieses extra nos entzogen wird. Das Reisen, auch das Pilgerreisen, steht 5 Johann Gottfried Seume: Spaziergang nach Syrakus, Frankfurt/Leipzig 2001. 6 Krautscheid, Schritt.

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in der Gefahr, zu einem im Wesentlichen nur noch profanen und selbstbezüglichen Unternehmen zu werden.7 Manfred Josuttis hat darauf hingewiesen, dass dem Protestantismus heilige Zeiten, heilige Räume, heilige Personen, heilige Handlungen in dem Sinne fremd sind, „dass all diese Phänomene durch Weiheakte aus ihrem sozialen Kontext ausgegrenzt werden müssen.“8 Allerdings sei mit dieser Position die faktische Spannung zwischen theologischer These und anthropologischer Realität nicht schon verschwunden. Das Dilemma zwischen dogmatischer Behauptung einerseits und praktischem Verhalten andererseits bleibe bestehen. Was im Blick auf den evangelischen Gottesdienst richtig ist, gilt ebenso für ein evangelisches Verständnis vom Pilgern: „Christlicher Gottesdienst heute kann nicht zurück in die archaische Sphäre heiliger Wirklichkeit, kann sich aber auch nicht auflösen in ein funktionierendes Institut zur politischen, pädagogischen oder therapeutischen Psychohygiene. Gottesdienst findet in der Gegenwart statt an der Grenze zwischen verlorener Sakralität und drohender Profanität, in den Trümmern des Tempels.“9

Auch eine protestantisch reflektierte Pilgerpraxis ist eine solche Gratwanderung an der Grenze von Sakralität und Profanität, von heiligen und unheiligen Wegen. Es stimmt ja, Pilgern vermittelt auch sinnliche Erfahrungen. Es zeigt aber gleichzeitig die Grenze aller sinnlichen Erfahrung auf, indem auf das zu verweisen ist, was jenseits aller Erfahrung liegt. Eine Theologie des Pilgerns hat darum teil an beidem: am Reiz wie an der Grenze der Erfahrung. Pilgern einfach nur als „Wandern plus“ zu definieren, ist eine theologisch ungerechtfertigte Simplifizierung, solange dieses Plus theologisch nicht näher bestimmt wird.10

3.

Pilgern als Gegenwartsphänomen

Es fällt auf, dass das entscheidende Buch zum Pilgerboom keine kirchliche Handschrift trägt, sondern von einem Entertainer und Komiker verfasst wurde, dem man vieles, am allerwenigsten aber einen Beststeller zum Thema Pilgerreise nach Santiago de Compostela zugetraut hätte. Hape Kerkelings Bestseller „Ich bin dann mal weg“ trägt aber nicht nur einen einprägsamen Titel, der mittlerweile zum geflügelten Wort geworden ist. Er macht auf unterhaltsame und doch ernsthafte Weise deutlich, um was es heute bei diesem Thema gehen könnte. Dabei verbinden sich Elemente einer traditionellen Interpretation des Pilgerns 7 8 9 10

Pirner, Unschuld, 42. Josuttis, Weg, 107. A. a. O., 108. Vgl. dazu verschiedene Beiträge in Käßmann, Leib und Seele.

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mit persönlichen Erlebnissen und Urteilen eines säkularen Zeitgenossen von heute. „In unserer nahezu entspiritualisierten westlichen Welt“, analysiert Hape Kerkeling am Ende seines Buches, „mangelt es leider an geeigneten Initiationsritualen, die für jeden Menschen eigentlich überlebenswichtig sind. Der Camino bietet eine echte, fast vergessene Möglichkeit, sich zu stellen. Jeder Mensch sucht nach Halt. Dabei liegt der einzige Halt im Loslassen. Dieser Weg ist hart und wundervoll. Er ist eine Herausforderung und eine Einladung. Er macht dich kaputt und leer. Restlos. Und baut dich wieder auf. Gründlich. Er nimmt dir alle Kraft und gibt sie dir dreifach zurück. Du musst ihn alleine gehen, sonst gibt er sein Geheimnis nicht preis.“11

Die Erfahrung eines biografischen Bruchs ist für Kerkeling das auslösende Moment. Irgendwo hat er gelesen, „dass Menschen sich seit vielen Jahrhunderten auf die Reise zum heiligen Jakob machen, wenn sie, wörtlich und im übertragenen Sinn, keinen anderen Weg mehr gehen können.“12 Wie für viele Pilger steht auch für ihn die existenzielle Krisenerfahrung am Anfang: „Da ich gerade einen Hörsturz und die Entfernung meiner Gallenblase hinter mir habe, zwei Krankheiten, die meiner Einschätzung nach großartig zu einem Komiker passen, ist es für mich allerhöchste Zeit zum Umdenken – Zeit für eine Pilgerreise.“13

Als wesentliches Motiv, das über die Zeiten hinweg den Impuls zum Pilgern darstellt, wird der Bruch mit der Alltagsidentität benannt, der Wunsch nach Verwandlung. Auch in der neuzeitlichen Sinngebung für das Pilgern findet sich dieses Moment immer wieder. Die Suche der Antwort auf die Frage: wer bin ich eigentlich? Die Antwort soll durch das Gehen des Pilgerweges gegeben werden: Wandlung durch Wandeln lautet das Konzept.

4.

Brüche und Aufbrüche

In dem unter Touristikern viel beachteten Buch „Reiselust“ hat der Tourismusforscher Christoph Hennig sich auch dem Thema Pilgerreisen gewidmet. Reisen sind darum so verlockend, weil sich in ihnen die großen kollektiven Träume der Menschheit materialisieren. „Die Bewegung, die Reisen grundlegend charakterisiert“, schreibt Hennig, „ist universell verbreitet und in allen Kulturen nachweisbar: der Impuls, die Ordnungsstrukturen des Alltags zu verlassen und in

11 Kerkeling, Jakobsweg, 342ff. 12 A. a. O., 13. 13 Ebd.

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andere Wirklichkeiten einzutreten“14. Reisen, Ritual und religiöse Erfahrung stehen in einem engen Zusammenhang. Die Verbindung rührt „aus dem Bruch mit dem gewöhnlichen Leben her, der gleichermaßen die Reise wie das spirituelle Erleben kennzeichnet. In beiden Formen wird der Alltag transzendiert und im Licht einer anderen Weltsicht neu interpretiert.“15

Beide, Reisen wie spirituelles Erleben, kennen Übergangsrituale, die einem bestimmten Schema folgen: Nach Aufbruch und Abschied folgt die Phase des Wegs und der Umwandlung, die zuletzt mit der Phase der Wiedereingliederung abgeschlossen wird. An der Gestalt Abrahams, der aufbricht in das verheißene Land, wird der enge Zusammenhang exemplarisch sichtbar. Über das Pilgern schreibt Hennig: „In der Pilgerreise sollen der Bruch mit der Alltagswelt und das Erreichen eines heiligen Zieles eine innere Erneuerung und das ‚Heil‘ bringen. Im Begriff der recreatio, der ‚NeuErschaffung‘, kommt diese Vorstellung klar zum Ausdruck. Die Trennung von der heimischen Umgebung führt zu einer Schwächung der bisherigen Identität; auf dem harten Weg der Fremde wird der Pilger gleichsam ein unbeschriebenes Blatt, bereit für die Begegnung mit dem sacrum, das ihn verwandeln und heilen soll. Wie in den Übergangsriten muss sich auch auf der Pilgerfahrt der Gläubige von der Alltagsumgebung lösen, um bereit zu werden für den verändernden Kontakt mit den übernatürlichen Kräften“.16

Pilger machen sich auf den Weg, um etwas Anderes zu suchen. Sie wollen sich verändern lassen durch das Fremde, das Andere, das Heilige, das ihnen unterwegs oder am Ziel ihres Weges begegnen soll. Ihnen geht es darum, sich verwandeln zu lassen, um verwandelt wieder nach Hause zurückzukommen. Wenigstens dem Anspruch nach steht das am Anfang jeder Pilgerreise. Grundsätzlich gilt nach wie vor, dass der Pilgerreisende aufbricht, weil ihm der Alltag nicht mehr genügt oder zu eng wird. Er bricht auf zu neuen Ufern und tut damit genau das, was etymologisch in dem Wort Reise steckt: to arise, aufbrechen, um den Reiz des Neuen und Anderen zu erfahren. Dass diese religiösen Motive allerdings begleitet oder auch überlagert sein können von sehr weltlichen Gründen, galt schon für die klassischen Pilgerreisen des Mittelalters.17 Das dürfte heute kaum anders sein.

14 15 16 17

Hennig, Reiselust, 73. A. a. O., 79. A. a. O., 80. Herbers, Weg, 29ff.

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5.

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Selbstvergewisserung durch Erfahrung

Zentrales Motiv beim Pilgern ist der religiöse Erfahrungsgewinn. Damit ist der Nerv getroffen, der Kerkelings Buch gerade auch für jüngere Menschen interessant sein lässt. Die Abstraktheit vieler Lebensbezüge in der Ausbildungs- und Berufswelt macht ja auch vor der religiösen Lebenswelt nicht Halt und lässt Sinnfragen neu aufbrechen. „Ich frage mich die ganze Wanderung über, was mich eigentlich so glücklich macht?“, fragt der Pilger Kerkeling an einer Stelle, wo er gerade die vielen Anstrengungen des Weges beschrieben hat, die schweren Beine und die große Hitze des Tages, „nichts macht mich glücklich! Denn ich denke nichts, mich besorgt nichts und eigentlich treibt mich auch nichts besonders an.“18 Es ist diese Kontrasterfahrung der Leere, der absolute Gegenentwurf zur verplanten Alltagswelt, der ein Glücksgefühl erzeugt. Die Mystiker aller Zeiten wussten etwas davon, dass sich in der Erfahrung des Nichts die Begegnung mit dem Göttlichen ankündigt. Angelus Silesius sprach von der „zarten Gottheit“, die ein „Nichts und Übernichts“ sei, die Verneinung des Gewohnten und Gewöhnlichen. Ihr entspricht als menschliche Haltung eine Bewegung, die bemüht ist, sich dieser Erfahrung zu öffnen: „Geh hin, wo du nicht kannst; sieh‘, wo du siehest nicht; Hör, wo nichts schallt und klingt, so bist du, wo Gott spricht.“19 Nicht nur die wandelnden Philosophen der Antike, die Peripatetiker, kannten die lösende Kraft des Gehens. Auch der glaubende Mensch der Gegenwart braucht die Vergewisserung durch Erfahrung. Er findet sie im Akt des Pilgerns. Schon im Alten Testament ist die Wallfahrt Ausdruck religiös motivierten Reisens, eng verknüpft mit dem jüdischen Festkalender. Auch im Neuen Testament wird an diese Tradition angeknüpft – so, wenn die Eltern Jesu mit ihrem zwölfjährigen Sohn zum Tempel nach Jerusalem aufbrechen. Eine der zentralen Ostergeschichten im Neuen Testament ist eine Weggeschichte, die die fundamentale Erfahrung vermittelt, dass Jesus lebt. Die Emmausjünger erleben auf dem Weg die verwandelnde Kraft einer Begegnung, die sich im Nachhinein als Begegnung mit dem auferstanden Christus darstellt (Lk 24,13–34). Schon der biblische Befund belegt: Ein Glaube ohne eine sich sinnlich vermittelnde Glaubenserfahrung bleibt leer und abstrakt. Dabei ist es offensichtlich so, dass man dem Heiligen auf dem Weg leichter begegnet als an Ort und Stelle. Der Weg hat Offenbarungscharakter. Die Schutzlosigkeit und Ausgesetztheit des Wanderers in einem offenen Raum und einer nicht definierten Zeit,

18 Kerkeling, Jakobsweg, 17. 19 Angelus Silesius, Der Himmel ist in dir, Köln 1982, 72.

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sein Status als Fremder und Gast, kann zum Einfallstor der Transzendenz werden.20 Deutlich ist: Wer sich auf Pilgerschaft begibt, kommt den Glaubenserfahrungen der Bibel, die ja im Wesentlichen Erfahrungen eines wandernden Gottesvolkes sind, näher als der religiös fest Verortete. Jesus selbst offenbart sich als wandernder Gottessohn. Ist darum aber schon der Weg das Ziel, wie es eine geläufige Redensart gerne unterstellt? Für manche eher dem Zeitgeist verpflichtete Pilger der Moderne mag es so sein. Der Weg ist das Event. Das Ziel ist eher sekundär. Für den Pilger im klassischen Sinn gilt das sicher nicht. Für ihn trifft zu, was der iro-schottische Missionar Columban im 6. Jh. formulierte: „Das Ende der Straße ist unsere wahre Heimat. Lasst uns nicht die Straße mehr lieben als das Land, zu dem sie führt.“21 Die Mühsale des Weges sind zu ertragen, weil sie im Blick auf die zu erwartende Herrlichkeit des Zieles vorläufig sind. Nach wie vor ist der religiöse Pilger auf der Suche nach dem Heiligen und weiß, dass er in der Immanenz nur Spuren davon entdecken wird. Letztendlich ist und bleibt er „Gast auf Erden“, wie Paul Gerhardt dichtet: „Ich bin ein Gast auf Erden und hab‘ hier keinen Stand; der Himmel soll mir werden, da ist mein Vaterland“ (EG 529,1). Die Heimatlosigkeit des Pilgers in dieser Welt ist aber nicht zu verwechseln mit Ziellosigkeit. Auch eine Pilgerreise nach Santiago de Compostela erfüllt erst dann ihren Sinn, wenn der Pilger das Ziel seiner Reise tatsächlich erreicht. Das schließt nicht aus, dass es in einem geistlichen Sinn für den pilgernden Christen kein wirklich letztes Ziel auf Erden gibt, sondern nur eines, das allen menschlichen Zielen transzendent ist und „im Himmel“ liegt. Irdische Ziele stehen unter dem Vorbehalt, dass der Mensch ein Gast auf Erden ist und erst im Reich Gottes zu seiner Erfüllung kommt. Die Heimatlosigkeit des Christen ist begründet in einer Sicht menschlicher Existenz, wie sie im Wort des Wanderpredigers Jesus zum Ausdruck kommt: Dass die Füchse Gruben und die Vögel unter dem Himmel ihre Nester haben, der Menschensohn jedoch nichts, wohin er sein Haupt legen könne (Lk 9,58). Ein Doppeltes bleibt festzuhalten: Pilgern in theologischem Sinn genügt es nicht, einen Weg zu erkunden, um auf und mit ihm gewisse Erfahrungen zu machen. Erst das Ziel gibt dem Weg seine Attraktivität. Zugleich gilt: jedes irdische Ziel ist letztlich vorläufig. In ihm scheint das letzte Ziel menschlichen Lebens auf, das innerweltlich nicht zu realisieren ist. Der Mensch als Pilger bleibt auf ein letztes Geheimnis hin angelegt. Schnell gelangt man über die phänomenologische Bestimmung des Pilgerns auf das Feld theologischer Auslegung. Sie 20 „Gastfrei zu sein vergesst nicht, denn dadurch haben einige ohne ihr Wissen Engel beherbergt“, (Hebr 13,2). 21 Columban, Instructio VIII., hg. von S. M. Walker, Dublin 21970, 94.

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unterscheidet letztlich das Pilgern von anderen Formen körperlicher Fortbewegung – des Vagabundierens, des Flanierens, des Wanderns –, wenngleich es auch nicht wenige gemeinsame Schnittstellen gibt.

6.

Freiheit und Bindung

Aus heutiger Sicht liegt der Reiz des Pilgerns in einer doppelten Bestimmung von Freiheit und Bindung. In dieser Hinsicht lassen sich folgende Aspekte nennen: – Pilgern realisiert Freiheit und Unabhängigkeit auf dem Feld der Mobilität. Es ist von keinem anderen Verkehrsmittel abhängig als von den eigenen Füßen. Weder Führerschein noch Fahrplan werden benötigt. Der Pilgernde bestimmt Rhythmus und Zeitmaß, in dem er sich bewegt, selbst. Pilgern ist Mobilität nach menschlichem Maß. – Pilgern realisiert persönliche Verantwortung hinsichtlich der gewählten Wegstrecke. Denn auch wenn der Pilgerweg in aller Regel vorgegeben und markiert ist, ist er nie eindeutig. Die mittelalterlichen Pilgerwege verliefen eher als breiter geografischer Streifen entlang der historischen Handelswege denn als eindeutig markierte Wegstrecke im heutigen Sinn. Die Strecke, die gewählt wird, ist also letztlich in die eigene Verantwortung gelegt. Manchmal sind Umwege nötig, weil unvorhergesehene Hindernisse auftauchen. Der Weg ist immer für Überraschungen gut. – Der Pilger bestimmt auch das Maß der gewünschten Sozialität selbst. Es gibt Phasen, wo er vorzieht, alleine zu laufen, weil das Bedürfnis nach Ruhe und Schweigen vorherrscht oder auch keine Begleiter da sind. In anderen Phasen ergibt sich die Gemeinschaft mit anderen Menschen, die auch auf dem Weg sind. In jedem Fall bleibt der Einzelne beim Gehen frei und beweglich – anders als beim Sitzen, wo es ja eine Sitz-„Ordnung“ gibt. – Dennoch weiß sich Pilgern gebunden an die Spuren, die Generationen von Pilgern hinterlassen haben. Der Pilgernde lässt sich auf ein Sinnmuster ein, das nicht willkürlich und subjektiv ist, sondern sich historisch und spirituell bewährt hat. Er wird darüber zum Teil eines größeren, Generationen umfassenden und in einer heiligen Geschichte gründenden Ganzen. – Wer pilgert, bestimmt täglich seine Bedürfnisse neu. Die Aufmerksamkeit konzentriert sich auf das, was für heute gebraucht wird, und stellt die Sorgen um das Morgen zurück. Wer täglich kleinere oder größere Distanzen zurücklegt, geht auch auf Distanz zur Welt des täglichen Bedarfs, der zu Hause das Leben bestimmt. „Wir reisen abgeschieden, mit Wenigem zufrieden; wir brauchen‘s nur zur Not“ (EG 393,4). Der Pilger definiert selbst, was er wirklich braucht, und das ist im Allgemeinen erstaunlich wenig.

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– Pilgernde suchen einen Glauben, der nicht nur gedacht ist, sondern sich mit authentischen Geschichten verbindet. Das Heilige soll erfahrbar werden. Der Sozialwissenschaftler Christoph Melchers spricht vom „Familiär-Werden mit dem Besonderen“.22 Es geht darum, dort zu sein, wo das Außerordentliche stattgefunden hat und die Aura des mit ihm verbundenen Weges und Zieles zu spüren ist. Von der erhofften oder realisierten Kraftübertragung speist sich die Energie für den weiteren Weg. So ist Pilgern beides: eine Weise des Aus-sich-Herausgehens wie eine Weise des Zu-sich-selbst-Findens. Es bildet eine religiöse Erlebensform, die nicht bewegungslos ist und in einem stillen Sich-Versenken besteht. Sie erwartet die Begegnung mit dem Heiligen auch von der eigenen Aktivität. Pilgern ist eine Bewegung, die zu einer Begegnung führt. Zu ihr macht sich der Pilgernde zwar auf, aber er hofft, dass sie ihn über sich hinaus führt. So bedeutet Pilgern Realisierung von Freiheit unter Einwilligung in Bindungen. Es ist der Versuch, den eigenen Glauben zu erden und dem Heiligen näherzukommen.

7.

Anknüpfungspunkte für protestantische Pilgerschaft

Es sind unterschiedliche Akzentuierungen und Ausformungen, an die ein protestantisches Verständnis vom Pilgern heute anknüpfen kann. Sie tauchen auch in der aktuellen einschlägigen Literatur auf und lassen sich so systematisieren:

7.1

Der existenziell-metaphorische Ansatz: Das Leben als Reise

In einer anregenden Skizze hat der leider zu früh verstorbene Praktische Theologe Henning Luther die Metapher des Reisens auf den Erziehungsprozess angewendet. Aufbrüche, Übergänge, Begegnungen, Wegweiser, Rückkehr gibt es hier wie dort. In diesem Zusammenhang stellt Luther eine Verbindung her zwischen dem Reisen im Allgemeinen und dem Pilgern im Besonderen. Reisend mache der Mensch Erfahrungen, die ihn über sich hinausführen. „Reisen heißt Fremdheit erfahren […] Während der Auswanderer vielleicht eine neue Heimat gewinnt, gehört der Reisende nie ganz dazu. Vieles, dem er begegnet, bleibt ihm – auf unterschiedliche Weise – fremd […] Insofern ist jeder Reisende ein Pilger, ein Peregrinus.“23

22 Vgl. Melchers, Tourismus, 78. 23 Luther, Reise.

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Die Weltfremdheit des Pilgers ist Ausdruck der Erfahrung, dass er hier keine bleibende Stadt hat (Hebr 13,14). Die Distanz zur Welt bedeutet allerdings nicht Flucht. Sein Fernweh überspringt die Welt nicht als Jammertal, sondern entzündet sich an ihr, um schließlich eine bislang unbetretene Heimat zu finden. Besonders ist sein Verhältnis zu der Zeit. „Verglichen mit der linearen, messenden, zielgerichteten Zeit erfährt der Reisende etwas wie Zeitlosigkeit. Die Welt breitet sich aus […] Gleichwohl bestimmt die Reise nicht nur die gefüllte Zeit des Augenblicks (‚trunkenes Glück‘) und die zeitlose Gleichzeitigkeit, sondern gerade auch das vorwärts treibende Moment.“24

Luther ist interessiert an den aus der Reise- bzw. Pilgermetapher sich ergebenden biografischen Anknüpfungspunkten, die das Verständnis von Bildungsprozessen ebenso dynamisieren würde wie das Verständnis von Theologie. Dieser Ansatz wird unterstützt durch Überlegungen, die sich aus der Theorie des Rituals ergeben.

7.2

Der liturgisch-ritualtheoretische Ansatz: Pilgern als Kasualie

Wie persönlich und individuell unterschiedlich die Motive für eine Pilgerreise auch sind, die Reise selbst folgt immer einem bestimmten Muster: Bruch mit der Alltagswelt/Aufbruch – Wegerfahrungen/Veränderung der Identität – recreatio/ Wiedereingliederung in den Alltag.25 Der Wunsch nach Verwandlung steht am Anfang der Reise und begleitet sie. Aus den Überlegungen der Ritualtheorie, wie sie Henning Luther im Blick auf das Thema Pilgerschaft ausgeführt hat, ergeben sich Ansätze zu einer Liturgie des Pilgerns, die sich festmacht an den verschiedenen Stationen des Unterwegsseins: Abschied nehmen, Aufbrechen, Unterwegssein, Ankommen. Die verschiedenen Stationen sind Knotenpunkte verdichteter Erfahrung, die sich anbieten zu liturgischer Ausgestaltung. Wer aufbricht, bittet zuvor um den Reisesegen. Die reiche Liturgie des Segnens – von biblischen Segensformen und Segensgeschichten bis zu modernen Segensformulierungen – kann hier ein weites Anwendungsfeld finden. Die Strukturierung des Tages nach Stundengebeten wie das Innehalten auf dem Weg zu kurzer Andacht und Besinnung gehören genauso in diesen Zusammenhang wie die Feier der Mittagsstunde und der mit ihr verbundenen Mahlzeit. Es sind die Zäsuren, die sich aus dem Rhythmus des Laufens ebenso ergeben wie aus der zeitlichen Struktur der Tageszeiten, die für theologische Deutung und liturgische Gestaltung offen sind. 24 A. a. O., 76. 25 Grundlegend dafür Arnold von Gennep, Übergangsriten, Frankfurt 1999.

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Anfang, Mitte und Ende des Weges sind markante Punkte, an denen sich das große Heilsgeschehen in die persönlich zurückgelegte Strecke des Pilgerweges eintragen und so vergegenwärtigen lässt. Auf diese Weise kann Liturgie die Aufmerksamkeit dafür schulen, wie „die große Ewigkeit“ den eigenen Lebensweg berührt.26 Die Behauptung allerdings, protestantisches Pilgern sei eher auf den Weg als auf ein Ziel gerichtet,27 wird man nicht gelten lassen können. Dem widersprechen deutlich anders lautende Befunde im Evangelischen Gesangbuch. Es fällt dabei auf, wie wenig bislang die Liedtexte Gerhard Tersteegens „Kommt, Kinder lasst uns gehen […] zur Ewigkeit zu wandern“ (EG 393,1); „Mein Leben sei ein Wandern zur großen Ewigkeit“ (EG 481,5) und Paul Gerhardts „Ich bin ein Gast auf Erden“, (EG 529,1) mit ihrer Wegmetaphorik Impulse gegeben haben für ein evangelisches Verständnis vom Pilgern.

7.3

Der christologische Ansatz: Augenblicke seiner Gegenwart

Nach dem Zeugnis des Neuen Testaments erschließt sich die gute Nachricht vorrangig im Gehen. Jesus ist der Wanderer, der – anders als Füchse und Vögel – kein warmes Nest sein eigen nennt und nichts hat, wo er sein Haupt hinlegt (vgl. Mt 8,20). Seine Jünger teilen mit ihm diese unbehauste Existenz. Für ein protestantisches Verständnis vom Pilgern ist die Emmausgeschichte aus Lk 24 zentral. Es ist eine klassische Wander- und Weggeschichte: zwei gehen und reden miteinander. Aber obwohl die Beiden gehen, kommen sie nicht weiter, denn „ihre Augen wurden gehalten“. Erst mit dem Fremden, der sich ihnen zugesellt, bekommt ihr Denken und Fragen eine neue Qualität. Die eigenen Erlebnisse werden ab jetzt mit einer neuen und anderen Perspektive konfrontiert. Schließlich ergibt sich am Ende des Tages und am Ende der gemeinsam zurückgelegten Wegstrecke die Situation der Mahlzeit. Erst jetzt, wo nicht nur Fragen und Erfahrungen geteilt werden, sondern auch Brot und Wein, „wurden ihre Augen geöffnet“. Den Emmausjüngern erschließt sich die Botschaft der Auferstehung. Der Weg Jesu, sein Auftrag und seine Auferstehung, teilt sich den Jüngern im Akt des Gehens mit. Am Ende des Weges steht die Feier der Gemeinschaft, die zur Feier seiner Gegenwart wird. Der christologische Aspekt trifft ein Verständnis des Pilgerns, der es befreit vom Gedanken einer unangemessenen Verdienstlichkeit und der über die Mahlfeier einen nachvollziehbaren Zugang zu Person und Auftrag von Jesus Christus schafft.

26 Vgl. Jochen Klepper: „Der du allein der Ewge heißt und Anfang, Ziel und Mitte weißt“, EG 64,6. 27 Wustrack, Pilgern, 69.

„Kommt, Kinder, lasst uns gehen…“

7.4

737

Der schöpfungstheologische Ansatz: Mit allen Sinnen

Das Lob des Schöpfers kommt denen über die Lippen, die auf ihren eigenen Füßen die Schöpfung durchstreifen und ihre Schönheit entdecken: „Wie sind deine Werke so groß und viel! Du hast sie alle weise geordnet und die Erde ist voll deiner Güter“ (Ps 104,24). Die Anwesenheit des Schöpfers in seiner Schöpfung erschließt sich über die Sinne, allerdings nicht in romantischer Naturverklärung, sondern so, dass der Mensch erkennt: der, der „Wolken, Luft und Winden gibt Wege, Lauf und Bahn“ (EG 361,1), ist derselbe wie der, der den Weg jedes Einzelnen begleitet. Der Blick in die Natur ist weit davon entfernt, zu einem Gottesbeweis zu werden. Aber er leitet an zum Gebet, um über den Wegen des Lebens den Weg zu Gott zu finden: „Herr, zeige mir deine Wege und lehre mich deine Steige!“(Ps 25,4). Der schöpfungstheologische Ansatz scheint auf den ersten Blick direkt anschlussfähig zu sein für die Motive der neuen Wanderbewegung. Aber auch hier kommt es darauf an, den theologischen Unterschied von Naturerleben und Schöpfungserfahrung in seiner Bezüglichkeit wie in seiner Unterschiedlichkeit zu beachten.

7.5

Der ekklesiologische Ansatz: Das wandernde Gottesvolk

Dass Kirche das wandernde Gottesvolk sei, ist eine dogmatische Fundamentalaussage, die theologisch richtig, aber praktisch nur selten „erfahren“ wird. Das Unterwegssein durch die Zeiten bedarf darum einer realen Erfahrungsbasis. Die Praxis des Pilgerns für Einzelne wie für Gemeindegruppen ist geeignet, dieses spirituelle Erfahrungsdefizit zu beheben. Vermutlich liegt hier auch der Schlüssel dafür, dass die Angebote der Urlauberseelsorge überproportional gut angenommen werden.28 Menschen, die unterwegs sind, erschließt sich die Botschaft vom wandernden Gottesvolk und dem mitgehenden Gottessohn direkter und leichter als denen, die bodenständig sind. Mit gutem Grund wird im Zukunftspapier der EKD „Kirche der Freiheit“ der kirchlichen Tourismusarbeit ein besonderer Platz eingeräumt.29

28 Vgl. Kirchenamt der EKD (Hg.), Fern der Heimat: Kirche. Urlaubs-Seelsorge im Wandel. Ein Beitrag der EKD zu einer missionarischen Handlungsstrategie, Hannover 2005. 29 Kirchenamt der EKD (Hg.), Kirche der Freiheit. Perspektiven für die Evangelische Kirche im 21. Jh., Hannover 2006, 14ff.

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8. 1.

2.

3.

4.

5.

6.

7.

Klaus Nagorni

Zusammenfassung: Zehn Thesen Hinter der heutigen Pilgerpraxis steht der Wunsch nach körperlicher und spiritueller Erfahrung in einer zunehmend virtueller werdenden Lebenswelt. Eine breitgefächerte Literatur wendet sich dem Phänomen des Pilgerns aus unterschiedlichen Perspektiven zu: kirchenhistorisch, kulturgeschichtlich, religionssoziologisch, meditativ-erbaulich, touristisch. Dabei wird auch deutlich, wie leicht Pilgern zur Projektionsfläche unterschiedlichster Bedürfnisse und Erwartungen wird. Ähnlich wie bei der Frage, ob es im Protestantismus heilige Orte und heilige Zeiten gibt, geht es beim Thema Pilgern um die Frage: Gibt es im Protestantismus heilige Wege? Die Anknüpfungspunkte für ein zeitgemäßes protestantisches Verständnis vom Pilgern können nicht in der mittelalterlichen Pilgerpraxis liegen, sondern sind biblisch-christologisch und reformatorisch zu begründen. Dem Gottesdienst im Alltag der Welt entspricht protestantischerseits eine Pilgerfrömmigkeit, die nicht festgelegt ist auf bestimmte Pilgerrouten, sondern die Gott auf allen Wegen finden kann. Damit verträgt sich der Gedanke, dass es historisch und spirituell besonders erprobte Wege gibt. Um Pilgern qualifiziert theologisch begreifen und gestalten zu können, ist der ritualtheoretische Ansatz hilfreich: Pilgern als Kasualie. Pilgern ist analogiefähig. Im Blick auf den Pilgerweg wird der eigene Lebensweg durchsichtig. Es sind zu unterscheiden: die große Reise – „mein Leben ist ein Wandern“ zur großen Ewigkeit (EG 481,5) – und die vielen kleinen Reisen, in denen sich einüben lässt, was ich brauche, um die große Reise bestehen zu können. Ein bislang nicht gehobener Schatz sind die Pilger- und Weglieder des EG! Pilgern vermittelt Glaubenserfahrungen über Begegnungen: mit sich selbst, mit anderen Menschen, mit der Natur, mit Gott. Es hat teil an den Chancen wie an den Grenzen einer Theologie der Erfahrung. Es erdet den Glauben und führt über alles Irdische hinaus. Pilgern verhilft einerseits zu einer Form präsentischer Existenz: „Sorget nicht um den morgigen Tag“ (Mt 6,34). Pilgern setzt andererseits das befristete menschliche Leben in ein Verhältnis zur Ewigkeit.30 Pilgern erprobt so das Gastsein auf Erden31 und sensibilisiert für andere Menschen, die auch auf dem Weg zu Gott sind. Pilgern als ökumenische Aktivität verbindet die Konfessionen. In protestantischem Verständnis folgt es nicht mehr der Absicht, ein frommes Werk

30 Gerhard Tersteegen: „Mein Leben sei ein Wandern zur großen Ewigkeit“ (EG 481,5). 31 Paul Gerhardt: „Ich bin ein Gast auf Erden“ (EG 529).

„Kommt, Kinder, lasst uns gehen…“

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zu vollbringen, um so dem Heiligen näherzukommen. Es ist Ausdruck der Zweckfreiheit, einer Dialektik von Absichtslosigkeit und Zielgerichtetheit („Und nichts zu finden, das war mein Sinn“, J.W. Goethe). 8. Verschiedene Versuche, die „Reinheit“ des Pilgerns von touristischer Vermarktung abzuheben, sind verständlich, haben aber schon im Mittelalter zu nichts geführt. Pilgern war immer eine komplexe Form religiöser Praxis, die ambivalent und somit hinterfragbar war. Der touristische Anknüpfungspunkt sollte heute nicht von vornherein zurückgewiesen, sondern auf seine Chancen befragt werden. 9. Nicht zu unterschätzen ist in Zeiten wirtschaftlicher Krisen, dass Pilgern unter ökonomischen Gesichtspunkten billiger ist als andere touristische Reiseformen. Es vermittelt so gut wie gratis den Austritt aus dem Alltag und den Eintritt in ein geistliches Lebensmuster. „Man muss wie Pilger wandeln/ frei, bloß und wahrlich leer/viel sammeln, halten, handeln/macht unseren Gang nur schwer“ (EG 393,4). 10. Pilgern löst nicht nur Probleme, es kann auch – wie jede Reise – in neue Krisenerfahrungen hineinführen. Es verschafft Distanz zum Alltag und eine neue Sichtweise auf die alltägliche Routine: „Und sieh, ob ich auf bösem Wege bin, und leite mich auf ewigem Wege“ (Ps 139,24). Der gegenwärtige Pilger-Boom belebt einen alten Gedanken neu: Dass Wandeln und Wandlung zusammengehören. Wer auf Pilgerwegen wandelt, darf die begründete Hoffnung haben, dass sich auch nach innen etwas verwandelt. In dem Wort Lebenswandel sind diese beiden zusammengehörigen Seiten spiritueller Praxis noch zu erkennen. Gegen die römisch-katholische Ablasspredigt behauptete einst Martin Luther, dass das ganze Leben eine Umkehr sei. Pilgern ist eine Möglichkeit, diesem Gedanken konkrete Gestalt zu verleihen. Pilgernd wird der Zusammenhang von Wandel und Wandlung – gut evangelisch – am eigenen Leibe erfahrbar. Das Verhältnis von einer Pilgerreise auf einem konkreten Pilgerweg nach Santiago, Rom oder Jerusalem und dem Verständnis des ganzen Lebens als einer Pilgerreise ist dabei spannungsreich und dialektisch zu begreifen. Das Eine vermag das Andere durchsichtig zu machen. Das Pilgern auf den Wegen des irdischen Lebens kann zur Einübung werden für das „Wandern zur großen Ewigkeit“. Umgekehrt leuchtet das himmlische Ziel dem irdischen Wanderer als Orientierungsmarke für die Gegenwart auf. Dieses Ziel erinnert Menschen daran, seien sie nun auf den alltäglichen oder außeralltäglichen Wegen und Pilgerwegen unterwegs, dass ein Mensch und Christ hier keine bleibende Stadt hat, sondern die zukünftige sucht (Hebr 13,14). Denn schließlich ist das ganze Leben eine Reise.32 32 Siehe dazu: Evangelischer Arbeitskreis Freizeit–Erholung–Tourismus in der EKD (Hg.), Das Leben ist eine Reise. Kirche und Tourismus: Impulse – Modelle – Bausteine, Hannover 2004.

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Literatur Hennig, Christoph, Reiselust. Touristiker, Tourismus und Urlaubskultur, Frankfurt 1997. –, Der Wunsch nach Verwandlung. Mythen des Tourismus, Evangelische Akademie Baden, Herrenalber Forum 29, Karlsruhe 2001. Herbers, Klaus, Jakobsweg. Geschichte und Kultur einer Pilgerfahrt, München 2006. –, Warum macht man sich auf den Weg? in: Pilgerwege. Zur Geschichte und Spiritualität des Reisens, in: Nagorni, Klaus/Ruh, Hans (Hg.), Pilgerwege. Zur Geschichte und Spiritualität des Reisens, Evangelische Akademie Baden, Herrenalber Forum 34, Karlsruhe 2003, 9–40. Josuttis, Manfred, Der Weg in das Leben. Eine Einführung in den Gottesdienst auf verhaltenswissenschaftlicher Grundlage, Gütersloh 2000. Käßmann, Margot (Hg.), Mit Leib und Seele auf dem Weg. Handbuch des Pilgerns in der hannoverschen Landeskirche, Hannover 2007. Kerkeling, Hape, Ich bin dann mal weg. Meine Reise auf dem Jakobsweg, München 2006. Krautscheid, Christiane, Und jeder Schritt des Wanderers ist bedenklich, in: Borris, Sabine, „… ich bin ein Fremdling überall“. Publikationen zum Wanderer-Zyklus, Berlin 1997. Lienau, Detlef, Sich fremd gehen. Warum Menschen pilgern, Ostfildern 2009. –, Das Weite suchen. Pilgern – mit Gott auf dem Weg sein, Gießen 2018. Luther, Henning, Das Leben als Reise, in: Erk, Wolfgang (Hg.), Radius Almanach 1991/92, Stuttgart 19991, 63–77. Melchers, Christoph, Spiritueller Tourismus. Beweggründe – Formen – Pflege touristischer Marken, in: Ministerium für Wirtschaft und Arbeit in Sachsen-Anhalt (Hg.), Heilige Orte, sakrale Räume, Pilgerwege. Möglichkeiten und Grenzen des spirituellen Tourismus. Nagorni, Klaus, Aufbruch und Wandlung. Über den Zusammenhang von Reisen und Religion, Deutsches Pfarrerblatt 7/2000, 357–360. –, Das Buch von der Sehnsucht. Warum wir so gerne reisen, Eschbach 2009. –, Mich trägt die Sehnsucht fort in die weite Ferne, Evangelische Akademie Baden, Herrenalber Forum 55, 2008. Pirner, Manfred L., Auf der Suche nach der Unschuld des Auges. Von inneren und äußeren Reisen, in: Kuhlmann, Helga/Leutzsch, Martin/Schroeter-Wittke, Harald (Hg.), Reisen. Fährten für eine Theologie unterwegs, Interdisziplinäre Paderborner Untersuchungen zur Theologie Bd. 1, Münster 2003, 39–44. Wustrack, Simone, Pilgern – eine alte Tradition in neuer Zeit, in: Cordes, Martin/Wustrack, Simone (Hg.): Pilger – Wege – Räume. Historische, religionspädagogische und kunsttherapeutische Reflexionen, Hannover 2005.

Gerhard Büttner

Spiritualität im Evangelischen Religionsunterricht

1.

Fragestellung

Spontan erwartet man einen Titel, der die evangelische Spiritualität möglichst von der Reformationszeit bis heute programmatisch andeutet. Zwar kann man davon ausgehen, dass das Schulwesen und der damit verbundene Religionsunterricht geprägt war durch Elemente evangelischer Frömmigkeit und Andacht,1 doch wird man fragen müssen, ob diese im aktuellen Religionsunterricht noch identifizierbar sind und ob diese genuin evangelisch sind. Es gibt im Hinblick auf Bibelgebrauch,2 Singen3 und das Auswendiglernen4 von Bibelversen eine Kontinuität von der Reformationszeit bis hin in die siebziger Jahre des letzten Jh. D. h., dass es sinnvoll ist, einen Blick zu werfen auf die Spiritualität der Nachkriegszeit im evangelischen Religionsunterricht. Für die Zeit danach ist jedoch ein eigener Zugriff nötig, weil die Formen von Spiritualität, die jetzt bestimmend werden, zwar im evangelischen Religionsunterricht heimisch geworden sind, ihren Ursprung aber eher in katholischen Kontexten haben bzw. auch in entsprechenden Praktiken anderer Religionen.5 Wichtig sind dabei vor allem solche Formen, die sich zumindest indirekt der italienischen Pädagogin Maria Montessori verdanken. Der Beitrag wird deshalb beginnen mit einem Blick auf das evangelische Erbe, wie es sich im Kontext des Religionsunterrichts der fünfziger und sechziger Jahre des letzten Jh. darstellt. Ausführlich werden dann die diversen Formen derzeit praktizierter Spiritualität im Religionsunterricht thematisiert.

1 „[D]er Begriff der ‚Frömmigkeit‘ [ist] das evangelische Äquivalent zur katholischen Spiritualität“ (Nipkow, Plurale Profile, 39). 2 Reents/Melchior, Schulbibel. 3 Pirner, Musik. 4 Schnepper, Buchstaben. 5 Wegenast, Spiritualität.

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2.

Gerhard Büttner

Die Spiritualität der Evangelischen Unterweisung

Der Religionsunterricht nach dem Zweiten Weltkrieg versuchte an die Formen anzuknüpfen, die sich in den katechetischen Bemühungen der Bekennenden Kirche herausgebildet hatten. Was den Unterrichtsstil angeht, wird man gleichwohl von ausgeprägten Kontinuitäten zur NS-Zeit und z. T. auch zur Weimarer Zeit ausgehen können. Häufig werden die ersten Nachkriegsjahrzehnte durch die Theorieschriften ihrer Protagonisten charakterisiert. Ich werde dagegen versuchen, etwas von der Praxis der Evangelischen Unterweisung zu erschließen.6 Dabei orientiere ich mich in einem ersten Schritt an den Beiträgen, die in der Zeitschrift Evangelische Unterweisung erschienen sind. Sie bilden von den ersten Heften im Jahre 1946 bis zu ihrer Umwandlung in Zeitschrift für Religionspädagogik im Jahre 1970 mit ihren vielen praxisbezogenen Beiträgen eine gute Quelle zur Einsichtnahme in entsprechende Diskurse zum Thema Spiritualität. Einen zweiten Zugang finde ich in der Monografie von Gabriele Kölling. Sie analysiert die Rolle des Gottesdienstes im Religionsunterricht der Grundschule in Baden, wie er sich in den entsprechenden Dokumenten zu Verordnungen und statistischen Daten zeigt. Blickt man ins Register der Evangelischen Unterweisung, so erkennt man, dass jeder Jahrgang (nicht notwendigerweise jedes Einzelheft) eine ganze Reihe von unser Thema betreffenden Rubriken aufweist. Vom Umfang her dominieren die Vorschläge zu den einzelnen biblischen Perikopen, doch auch andere Aspekte werden mit berücksichtigt. Für uns interessant ist die Rubrik Feiergestaltung, die pro Jahrgang etwa fünf Beiträge enthält. Es beginnt 1946 mit Siegfried Wingernings Entwurf eines 14-tägigen Plans für das tägliche Lied und Gebet zu Beginn und Schluß des Unterrichts in der einklassigen evangelischen Volksschule7 und setzt sich fort bis 1956. 1957 verschwindet diese Rubrik und der Charakter der Beiträge in der neuen Rubrik Liturgie und Kunst sind seltener und von anderer Art. Die in dem besagten Jahrzehnt veröffentlichten Artikel lassen sich in zwei Kategorien unterteilen. Da sind einmal die konkreten Hinweise zur Gestaltung von Schulfeiern im Kirchenjahr.8 Dabei dominieren die Vorschläge zur Adventsbzw. Weihnachtszeit und zum Reformationstag. Daneben stehen grundsätzliche Beiträge zur Frage der Situierung gottesdienstlicher Elemente in der Schule. Ich konzentriere meine Darstellung auf einige ausgewählte Beiträge. Interessanterweise finden sich die wichtigsten Artikel Anfang der 1950er-Jahre – z. T. mit Einsichten und Fragestellungen, die bis heute plausibel sind. Es gibt grund6 Büttner, Praxisspuren. 7 Wingerning, Entwurf. 8 Etwa Gudelius, Advent; ders., Vorbereitung, ders., Ostern; ders., Pfingsten; ders., Trinitatiszeit.

Spiritualität im Evangelischen Religionsunterricht

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sätzliche Ausführungen zu den Elementen einer Andacht9 wie Lied, Bibeltext mit möglicher Auslegung, Psalmgebet, Vaterunser, Segen und generelle Überlegungen zur Gebetsform, auch Reflexionen zur Frage, ob man aus anderen Gottesdienstformen (z. B. Stundengebet) Elemente übernehmen solle, wie man eine konfessionell gemischte Situation bewältigen könne10 und wie man mit inhaltlichen Doppelungen zwischen Andacht bzw. Gottesdienst und Unterricht umgehen solle.11 Auch die heute im Kontext des Performativen Religionsunterrichts diskutierte Frage wurde aufgeworfen, inwiefern gottesdienstliche Formen eine notwendige Habitualisierung des christlichen Glaubens fördern könnten.12 Wohl am programmatischsten sind die Überlegungen von Georg Gudelius Warum geben wir unseren Unterrichtsstunden einen ‚liturgischen Rahmen‘ mit der Aussage: „Wir haben es gelernt, auch unseren Unterricht auf die Kirche auszurichten. […] Denn in der Liturgie redet, betet und handelt die Kirche. Wo auch immer eine Schulklasse zu Beginn oder zum Schluß des Unterrichts singend, sprechend, betend liturgisch handelt, vertritt sie“ die ganze Kirche.13 Gudelius betont auch den leiblichen, ganzheitlichen Charakter dieses Tuns. Doch bereits in der Ausgabe von 1968 sieht sich Hugo Gotthard Bloth veranlasst, ein Plädoyer für einen (nach seiner Meinung verloren gehenden) Gottesdienstbezug des Religionsunterrichts zu formulieren.14 Gabriele Kölling hebt hervor, dass in allen Grundschul-Lehrplänen für Baden (1948, 1955, 1962/63) die Orientierung am Thema Gottesdienst eine wichtige Rolle spielt.15 Theoretisch lehnt man sich an Martin Rang an.16 Kölling resümiert: „Der Religionsunterricht insgesamt ist durch seine liturgische Rahmung mit Lied und Gebet gottesdienstlich geprägt. Das Erlernen der Lieder des Evangelischen Kirchengesangbuches […] ist gottesdienstlich motiviert.“17 Schulbücher wie Der gute Hirte enthalten eine explizite Gottesdienstpropädeutik.18 Ursprünglich sind drei Schulgottesdienste vorgesehen (Anfang und Ende des Schuljahres und Reformationsfest). In den 1960er-Jahren wird ministeriell ein wöchentlicher Gottesdienst vorgesehen. Trotz dieser Anstrengungen ergeben sich Schwierigkeiten: „Als ein Problem wird die Aufrechterhaltung von Ruhe und Ordnung während des Gottesdienstes angesprochen. Der Grund für

9 10 11 12 13 14 15 16 17 18

Drobnitzky, Schulandacht. Arndt, Schulandacht. Niemann, Kindergottesdienst. Mumm, Gottesdienst. Gudelius, Unterrichtsstunden, 82f. Bloth, Zugang. Kölling, Grundschule, 48ff. A. a. O., 39f; Rang, Handbuch. Kölling, Grundschule, 52. A. a. O., 55 ff; Erb, Hirte.

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die Störungen wird in der fehlenden gottesdienstlichen Sozialisation vieler Schüler gesehen.“19 Gabriele Kölling berichtet von einer Intensivierung der Gottesdienstorientierung innerhalb des hier angesprochenen Zeitraumes. Doch ein Blick auf die Praxis führt zu einem differenzierteren Blick: „Eine wesentliche Aufgabe des Religionsunterrichtes besteht darin, die Kinder zur Teilnahme am Gottesdienst der Gemeinde […] zu befähigen. […] Die Kinder sollen im Religionsunterricht zu einem selbstverständlichen allsonntäglichen Gottesdienstbesuch erzogen werden, der so selbstverständlich nicht ist. Nur ein kleiner Bruchteil der Gemeindemitglieder besucht den Gottesdienst. […] Insbesondere die Schülergottesdienste führen eine Tatsache vor Augen, die in den Lehrplänen und Schulbüchern völlig ausgeblendet wird: ein Großteil der Schüler ist nicht gottesdienstlich sozialisiert. Auch in dieser Hinsicht geht der Religionsunterricht von Voraussetzungen aus, die nicht der Realität entsprechen.“20

3.

Zwischenbilanz und Weiterführung

Der Blick auf die fünfziger Jahre des letzten Jh. lohnt sich deshalb, weil wir hier der Form kollektiver evangelischer Frömmigkeit begegnen, die in ihrer Idealtypik bis heute eine bestimmende Rolle spielt, im Kontext des Bildungswesens aus heutiger Sicht aber singulär ist. Sie beruht auf einem Schulwesen, in dem die Volksschule zahlen- und bedeutungsmäßig dominiert. Diese umfasste weitaus den größten Anteil eines Schülerjahrgangs. Oft war sie als Konfessionsschule organisiert oder fand in konfessionell geschlossenen Regionen statt. Die Schüler/ innen dieser Schulen waren zum überwiegenden Teil vorpubertäre Kinder. Angesichts des späteren Eintritts der Pubertät wurde diese eher in den Abschlussklassen der achtjährigen Schule virulent, also in einer Situation, in der für viele bereits der Berufseintritt vor Augen stand. Schon in den obigen Ausführungen wird deutlich, dass das geschlossene Programm der Evangelischen Unterweisung in den weiterführenden Schulen so nicht greift. So gesehen könnte man die Ablösung dieses Konzeptes durch den Problemorientierten Religionsunterricht auch als einen Blickwechsel interpretieren – weg von den Kindern, hin zu den Jugendlichen. Die Versuche, den Religionsunterricht, ja das Schulleben überhaupt, in einen gottesdienstlichen Rahmen einzubetten, sind deshalb von bleibender Bedeutung, weil die dort praktizierten Formen (Lied, Bibeltext, Gebet und eventuell Segen) bis heute die bestimmende Art und Weise darstellen, in der 19 Kölling, Grundschule, 67. 20 A. a. O., 69f.

Spiritualität im Evangelischen Religionsunterricht

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innerhalb kirchlicher Institutionen (Veranstaltungen, Gremien, Kreise etc.) kollektiv Frömmigkeit praktiziert wird. Die Andacht spielt in gewisser Weise bis heute eine normative Rolle, weil all das, was an alternativen Formen praktiziert wird, im Lichte dieses Idealtypus betrachtet werden kann. Dies gilt umso mehr, als die beschriebenen Formen auch im Kontext von Schule keinesfalls gänzlich verschwunden sind. Sie können vielmehr nach wie vor als eine schulische Variante evangelischer Frömmigkeit angesehen werden – wenngleich sie heute selbst an evangelischen Schulen in einem pluralistischen Kontext inszeniert werden müssen. Um das Jahr 1970 kam es in der Religionspädagogik (und nicht nur dort) zu einem Paradigmenwechsel.21 Wie oben bereits zu entnehmen, haben sich diese Veränderungen in den 1960er-Jahren vorbereitet. Die Religionspädagogik beschrieb diese Veränderung zunächst als Fortschrittsnarrativ – als Ablösung des Religionsunterrichts von kirchlicher Dominanz und als Weg in die Normalität der Schule. Tatsache ist, dass sich in dieser Zeit Konstellationen herausbildeten, die den Religionsunterricht bis heute bestimmen. Trotz weitergehender gesellschaftlicher Veränderungen kann man die letzten fünfzig Jahre von daher als durch Kontinuität gekennzeichnet ansehen.22 Dies ist erstaunlich angesichts der Tatsache, dass mit der in der Ex-DDR herrschenden Antireligiosität und der Etablierung des organisierten Islam die in den 1970er-Jahren angestoßenen Entwicklungen nochmals starke Irritationen erfuhren. Ich möchte von daher meine Überlegungen einordnen in ein Theoriemodell, das Jörg Stolz u. a. für die ähnlich gelagerte Entwicklung in der Schweiz vorgelegt haben: „Die von uns vorgelegte Theorie sieht den religiösen Wandel als Resultat religiössäkularer und intra-religiöser Konkurrenzverhältnisse auf verschiedenen Ebenen. […] Ferner postulieren wir einen Wechsel des religiösen Konkurrenzregimes in den 1960er Jahren. Hiermit ist gemeint, dass die religiös-säkulare und und intra-religiöse Konkurrenz betreffenden gesellschaftlichen Regeln in dieser Zeit einen tiefgreifenden Richtungswechsel durchgemacht haben. […] Wichtig ist, dass der Konkurrenzbereich sowohl religiöse als auch säkulare Anbieter umfassen kann.“23

Die Autor/innen versuchen, mehrere von ihnen als zu einseitig empfundene Theorieansätze miteinander zu verbinden. An die Stelle traditionsgeprägter, relativ stabiler konfessioneller Kirchen erscheinen jetzt mehrere religiöse und nicht-religiöse Anbieter auf dem Markt. D. h., Religionen wie Islam, Judentum, Hinduismus und Buddhismus treten neben verschiedene Ausprägungen des Christentums. Innerhalb und außerhalb der beiden Großkirchen gibt es zahl21 Bolle/Knauth/Weiße, Hauptströmungen, 221ff; Meyer-Blanck, Geschichte, 202ff; Rickers/ Schröder, 1968. 22 Im Hinblick auf Lehrpläne und Schulbücher: Herrmann, Kursbuch. 23 Stolz u. a., Religion, 30.

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reiche Varianten – nicht zuletzt im freikirchlichen Bereich. Auch viele Varianten etwa der humanistischen Psychologie bieten Heilswege an. Doch – und dies betont die Studie ausdrücklich – um das knappe Budget an Zeit und Engagement konkurriert ein breites Angebot an Konsum, Unterhaltung und Geselligkeit. Gemäß dieses Marktmodells konkurrieren Religionen und weltanschauliche Vereinigungen mit letzteren auf demselben Markt. Dem korrespondieren Individuen als Marktteilnehmer. Ihnen geht es in erster Linie nicht um (eine bestimmte) Religion, sondern um ihre Religiosität. Auf dieser Basis kann jeder, seinem Typ gemäß, auf dem Markt sich das aussuchen, was zu ihm passt. Dabei sind im Prinzip auch alle Kombinationen möglich – d. h. auch Mischungen aus explizit religiösen und eher nicht-religiösen Angeboten. Es liegt nun in der Freiheit der einzelnen Anbieter, wieviel Pluralität sie ihrer Klientel zugestehen, und in deren Bereitschaft, solche Verbindlichkeit zu suchen oder zu meiden. Wir sehen an dieser Stelle, dass sich die Bedeutung des Begriffs Frömmigkeit jetzt völlig verändert. In den Szenarien der Evangelischen Unterweisung ging es immer um die Inszenierung kollektiver Frömmigkeit – in Gemeinschaft. Jetzt geht es darum, wie ich die für mich geeignete Frömmigkeitsform finden kann – möglicherweise in Gestaltungen, die auf den ersten Blick völlig säkular erscheinen. Es ist von daher einleuchtend, dass die Frage nach organisierter Frömmigkeit im Sinne von Spiritualität sich für die Religionspädagogik ganz neu und anders stellt.

4.

Drei Dimensionen der Spiritualität im evangelischen Religionsunterricht

Nehmen wir die theoretischen Einsichten ernst, so werden wir mit einer Pluralität sowohl auf Seiten der Anbieter religiöser bzw. äquivalenter Sinnangebote rechnen, dasselbe gilt aber auch auf Seiten der Rezipienten. Konkret heißt das, dass wir sowohl von unterschiedlichen Varianten von evangelischem Religionsunterricht auszugehen haben24 wie auch von unterschiedlichen Frömmigkeitstypen. Man kann derzeit mit mindestens drei Grundtypen von evangelischem Religionsunterricht rechnen: einmal einem strikten konfessionellen Modell – neben einem katholischen, einem des Faches Ethik und vereinzelt einem muslimischen Angebot. In diversen Bundesländern tritt das Fach sodann gemeinsam mit dem Fach katholischer Religionsunterricht auf und schließlich gibt es verschiedene Varianten eines Religionsunterrichts im Klassenverband. Diese formalen Rahmenbedingungen führen je nach der Zusammensetzung der Gruppe und der 24 Schröder, Religionsunterricht.

Spiritualität im Evangelischen Religionsunterricht

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Ausrichtung der Lehrkraft zu höchst unterschiedlichen Varianten dessen, was unter evangelischem Religionsunterricht firmiert. Karl Ernst Nipkow hat in diesem Zusammenhang eine wichtige Unterscheidung vorgeschlagen, die nach dem gegebenen bzw. nicht gegebenen Einverständnis im Glauben.25 D. h., dass man von zwei Extrempositionen ausgehen kann: Schüler/innen, die willens und bereit sind, im Religionsunterricht auch Elemente evangelischer Frömmigkeitspraxis mitzuvollziehen, und solchen Klassen, in denen die Mehrheit der Schüler/innen religionslos ist oder einer nichtchristlichen Religion angehört. Zwischen diesen beiden Extremen gibt es eine ganze Reihe von Varianten. Hier kommt es dann auf das Geschick und den Takt der Lehrperson an, mit der Klasse auszuhandeln, was für diese erwünscht und praktikabel ist. Man kann in diesem Zusammenhang überlegen, ob es Formen spiritueller Praxis gibt, die nicht konfessionell geprägt sind, z. B. Stilleübungen, Phantasiereisen, meditative Übungen. Doch gerade solche Praktiken werden von manchen Schüler/innen als problematisch empfunden, weil sie diese in Konkurrenz zu ihrem eigenen Glauben sehen. Dennoch führen diese Praktiken auch zu der Entdeckung, dass es offensichtlich anthropologisch gegebene Dimensionen von Transzendenzerleben gibt, die in einem spezifischen Verhältnis zu den religiösen Übungen der einzelnen Religionen stehen – auch zu jenen der evangelischen Frömmigkeitspraxis. Aus dem Gesagten erschließen sich für mich drei Diskursfelder: 1. Die oben skizzierte Form evangelischer Frömmigkeitspraxis in der Schule hat mit der Wende der 1970er-Jahre keineswegs aufgehört weiter zu existieren. Doch hat sie angesichts der gesellschaftlichen Umbrüche Veränderungen durchgemacht bzw. ist sie gerade darin begriffen. 2. Der Blick auf die Psychologie hat verdeutlicht, dass das, was evangelische Frömmigkeitspraxis beschreibt, auch anders perspektiviert werden kann. Diese erweist sich als eine Variante einer umfassender zu denkenden Spiritualität. Die Einsicht schlägt sich auch in unterrichtlicher Praxis nieder. 3. Der erweiterte Blick macht darauf aufmerksam, dass auf der Grundlage pädagogischer Motive eine Anzahl von Praktiken entwickelt wurde, die z. T. wieder in den Kernbereich christlicher Spiritualität hineinführen. So kann man zeigen, dass auf der Grundlage des ursprünglich katholisch konzipierten Programms von Maria Montessori wichtige Impulse für heutige evangelische Spiritualität ausgegangen sind.

25 Nipkow, Bildung, 223ff.

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5.

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Andacht und Gottesdienste

In der Konstellation der 1950er- und 1960er-Jahre sind religiöse Elemente noch Teil des Schullebens. So sind nicht nur Religionsstunden religiös gerahmt, sondern der gesamte Unterricht – etwa durch das tägliche Schulgebet. All dies entfällt aus unterschiedlichen Gründen sukzessive ab den 1970er-Jahren.26 Doch bleiben Elemente dessen, was im Kontext der Evangelischen Unterweisung beschrieben wurde, besonders in den Grundschulen oft noch lange über die Phase des Umbruchs hinaus vorhanden. Es wird nach wie vor im Religionsunterricht gesungen und nicht wenige Kolleg/innen haben für ihren Unterricht passende liturgische Elemente etabliert. Diese reichen von Stilleübungen bis zu TaizéLiedern – nach jeweils individuell angepassten Mustern.27 Ein durchgehender Zug ist dabei, dass das liturgische Programm zunehmend weniger konfessionell geprägt ist. So ist die Praxis, den Unterricht durch gestaltete Mitten oder Bodenbilder zu rahmen bzw. zu begleiten, ursprünglich katholischer Provenienz. Auch die in NRW vorgesehene Kontaktstunde in der Grundschule, die ein kirchliches Angebot im Schulkontext vorsieht, ist stark von der katholischen Praxis mitgeprägt.28 Dies gilt auch für die punktuelle Übernahme von gottesdienstartig gestalteten Formen am Rande des Unterrichts wie die sog. Frühschicht, dem Angebot eines gemeinsamen Gebetes vor Unterrichtsbeginn.29 Die zentrale Rolle in diesem Abschnitt spielen die Schulgottesdienste.30 In einer bikonfessionellen Situation ergeben sich hier mehrere Konstellationen. Klassisch sind die Gottesdienste zum Schuljahresbeginn und -ende, häufig auch Weihnachtsgottesdienste. Dazu können außergewöhnliche Anlässe kommen, wie Jubiläen, aber auch Unglücksfälle u. ä. Eine Variante ist, dass zwei Gottesdienste parallel stattfinden. Oft finden die Gottesdienste aber alternierend in der einen oder anderen Kirche statt. Klassischerweise wurden diese von Pfarrern gehalten. Nur dies konnte katholischerseits garantieren, dass der Gottesdienst als Messfeier stattfand. Inzwischen werden viele Gottesdienste von Lehrer/innen v. a. des Faches Religion vorbereitet und durchgeführt – manchmal auch mit Pfarrer/in. Oft finden die Gottesdienste auch in Schul- statt in Kirchenräumen statt. Vergleicht man aktuelle Vorschläge zu Gestaltung von Schulgottesdiensten, dann fällt auf, dass sie sich an den Ereignissen des (Kirchen-)Jahreslaufs orientieren und diese schüler/innengemäß aufbereiten.31 Die katholische Vorlage enthält oft noch einen Part für die Feier der Messe. Doch zeigt die Praxis, dass katholische 26 27 28 29 30 31

Zur Dokumentation des Übergangs: Rühm-Constantin/Griebel, Unterrichtsbeginn. Dafür gibt es dann auch entsprechende Anregungen, z. B. Rupp/Lauer/Rentmeister, Zeit. Schröder, Kontaktstunde. Z. B. Heminghofen, Frühschichten. Grundlegend: Arnold, Gottesdienste; Dressler, Schulgottesdienst; Pfaff, Schulgottesdienst. Vierling-Ihrig/Zimmermann, Religionsunterricht; Hoffsümmer, Schulgottesdienste.

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und evangelische Entwürfe32 in der Gestalt von Wortgottesdiensten faktisch kaum unterscheidbar und damit auch Ausdruck einer weit verbreiteten ökumenischen Praxis sind. Dabei wird deutlich, dass dieser Status Quo an mindestens zwei Stellen herausgefordert ist. Wie sind religiöse Schulfeiern dort möglich, wo eine größere Minderheit oder sogar die Mehrheit der Kinder einer nichtchristlichen Religion, meist dem Islam, angehört? Wie können solche Feiern aussehen in einer mehrheitlich areligiösen Umgebung? Auf der pragmatischen Ebene gibt es von Seiten der Schulen das Bedürfnis nach einem feierlichen Rahmen für die bekannten Passageereignisse, der traditionellerweise durch die Schulgottesdienste hergestellt wurde. Auf der Grundlage mulitireligiöser Bedingungen haben sich zwei Grundformen als Muster bewährt. In dem einen Modell geht es um eine Konstruktion, in der eine Variante christlichen (z. B. evangelischen) Gottesdienstes in einem Gotteshaus unter Mitwirkung eines muslimischen Vertreters stattfindet. Dabei werden Texte aus beiden Traditionen vorgetragen, ebenso Gebete. Auf christologische oder trinitarische Akzente wird bewusst verzichtet. Im Modell eines Wechsels kann der nächste Gottesdienst nach einem ähnlichen Modell dann im Rahmen einer muslimischen Feier stattfinden. Die Variante dieses Modells belässt es bei Liedern und anlassbezogenen Texten und gegenseitigen Wünschen – verzichtet also auf explizit religiös konnotierte Formen.33 Dass besonders bei der ersten Variante christliche Spiritualität erfahren werden kann, wird man kaum infrage stellen. Wie die einzelnen Schüler/innen diese erleben, wird auch davon abhängen, ob und wie sie diese Feier in einen eigenen religiösen Kontext werden einordnen können. Eine spezifische evangelische Prägung geht von ihr weniger aus. Eine analoge Konstellation ergibt sich v. a. in den östlichen Bundesländern – nun aber in Bezug auf die zahlreichen religionslosen Schüler/innen. Greifen westdeutsche Schulleiter/innen in der Regel gerne auf den Rahmen einer geprägten Schulgottesdienstkultur zurück, so ist eine solche u. U. im Osten nur schwer zu etablieren.34 Im Kontext der zahlreichen Evangelischen Schulen stellt sich für die religionslosen Schüler/innen die Frage nach deren Partizipationsmöglichkeiten. Das gilt besonders dann, wenn die Konfirmation in diesem Kontext vollzogen wird. In dieser Situation wurden spezielle Segensfeiern entwickelt.35 D. h., dass das Setting dieser Feiern explizit kirchlich ist – im Hinblick auf Raum und liturgischen Rahmen. Gleichzeitig wird aber von den Schüler/ innen keinerlei verpflichtende Haltung gegenüber diesem Angebot erwartet. 32 33 34 35

Halverscheid/Lübking, Schulgottesdienst; Weiß, Werkbuch. Ahnke/Rupp, Heterogenität, unter Bezugnahme auf: Mit andern feiern. Saß, Schulanfang, 116ff. Domsgen/Handke, Lebensübergänge.

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Zugesprochen wird ihnen der Segen Gottes, der ja theologisch gesehen nicht auf die Glaubenden beschränkt ist. Die Teilnahme an der Feier wird inhaltlich vorbereitet, so dass die Schüler/innen die Bedeutung der benutzten Symbole kennen. Soweit man dies den entsprechenden Dokumenten entnehmen kann, erleben die Schüler/innen in diesem Gottesdienst gewiss ein Stück evangelischer bzw. christlicher Spiritualität. Diese unterscheidet sich aber notwendigerweise von einer, in der die christliche Gemeinde sich selber als Medium der Frömmigkeit erfährt. Auf einer allgemeineren Ebene werden ähnliche Fragen im Kontext der Diskussion um einen performativen Religionsunterricht aufgeworfen. Wenn Beten und konfessorisches Sprechen für die Teilnehmer/innen am Religionsunterricht erst einmal unbekannt sind, wie kann ich dann mit ihnen kompetent darüber reden? In dieser Situation wurden verschiedene Wege bedacht, in denen die Schüler/innen auf Probe mit diesen Formen in Verbindung kommen können. Eine Möglichkeit besteht darin, die Texte als Literatur zu lesen und sie wie ein Schauspieler zu rezitieren. Ob und wieweit dies die Möglichkeit spiritueller Erfahrungen eröffnet, lässt sich wohl nur im Einzelfall bestimmen.36

6.

Die Psychologie der Spiritualität

Die sog. Empirische Wende der 1970er-Jahre führte u. a. dazu, dass religiöse Prozesse auch in ihrer psychologischen Dimension wahrgenommen wurden – teil kritisch, teils konstruktiv. So rezipierte etwa der evangelische Religionspädagoge Dieter Stoodt gruppenpsychologische Erkenntnisse, um latente religiöse Dimensionen in Unterrichtsprozessen manifest zu machen. Der katholische Kollege Hubertus Halbfas machte hingegen darauf aufmerksam, dass die religiösen Erfahrungen sich in den individuellen und kollektiven Prozessen des Unbewussten zeigen. Damit trat eine Form religiöser Erfahrung ins Blickfeld, die zwar häufig an die kollektive Religion der Kirchen anschließbar ist, z. T. aber auch einer eigenen Logik folgt. Wie die Tradition der christlichen Mystik erfasst das dritte Auge Dimensionen, die die theologische Orthodoxie herausfordern können. Der heute vor allem in der Grundschule weit rezipierte Ansatz der Religionspädagogischen Praxis mit seinen Bodenbildern orientiert sich an tiefenpsychologischen Überlegungen der Analytischen Psychologie C.G. Jungs. Auch dieser kommt ursprünglich aus dem katholischen Raum. Man wird in Halbfas’ Symboldidaktik und der sog. Kett-Methode auf jeden Fall spiritualitätsfördernde Impulse sehen können. 36 Performativer Religionsunterricht; Roose, Performance.

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Im Zuge der Rezeption kognitionspsychologischer Entwicklungsmodelle stellte sich die Frage, ob die höchsten Stufen bei Fritz Oser und James Fowler nicht im Sinne mystischer Dimensionen zu denken sind. So referiert Anton Bucher psychologische Spiritualitätsmodelle wie Ken Wilber und verbindet diese z. T. mit solchen der religiösen Entwicklung.37 Solche Ansätze sind freilich nur sehr bedingt rückbindbar an das, was im Religionsunterricht, dem evangelischen zumal, ins Auge gefasst ist. Eine weitere Linie zeigt sich in der Arbeit von David Hay.38 Unter Aufnahme früherer Studien wie der von Edward Robinson39 postuliert er eine biologisch herzuleitende spirituelle Dimension des Menschen. Als empirische Belege zieht er die Studien der Anglikanerin Rebecca Nye heran, die zeigen konnte, dass auch religiös kaum sozialisierte Kinder spirituelle Erfahrungen machen, die durch ein Gefühl der Verbundenheit (connectedness) gekennzeichnet sind.40 Sie hat diese Befunde später im Kontext des Godly Plays religionspädagogisch umgesetzt. Die Mehrzahl der evangelischen Religionspädagogen hat auf die hier skizzierten Ansätze eher zurückhaltend reagiert – wohl immer noch aufgrund der von Karl Barth geförderten Skepsis gegen jegliche natürliche Theologie. Von daher fällt Karl Ernst Nipkows kritischer Hinweis umso mehr ins Gewicht, wenn er die Nichtbeachtung der angelsächsischen Spiritualitätsdiskurse ausdrücklich moniert und auf die pädagogische Unangemessenheit eines phobischen Umgangs mit natürlicher Theologie hinweist.41 Von daher kann dann ein Unternehmen gewürdigt werden, in dem AnnaKatharina Szagun in einer Langzeitstudie das Heranwachsen von Kindern bzw. Jugendlichen in Ostdeutschland im Hinblick auf deren religiöse Entwicklung dokumentiert.42 Sie sucht dabei nicht nach expliziten Äußerungen, sondern nimmt die idiosynkratischen Produkte ihrer Proband/innen als Dokumente von deren spiritueller Entwicklung. In einer ähnlichen Richtung ist die Studie von Angela Kunze-Beiküfner einzuordnen. In ostdeutschen Kindergärten geht es nach ihr darum, religionssensible Beiträge der Kinder wahrzunehmen und in den Diskurs einzubinden.43 Ähnlich liest sich das Konzept der transzendenzsensiblen Erziehung, wie es Noemi Bravená für Tschechien beschreibt.44 Spiritualität ist nach diesen Vorstellungen weniger eine bestimmte Form christlicher Frömmigkeit als die anthropologische Voraussetzung dafür, dass sich eine bestimmte 37 38 39 40 41 42 43 44

Bucher, Psychologie, 70ff. Hay/Nye, Child. Robinson, Vision. Generell zum angelsächsischen Diskurs zur Spiritualität: Freudenreich, Spiritualität. Nipkow, Kinder. Szagun, Sprache verleihen. Kunze-Beiküfner, Responsivität. Bravená, Nezabývej; dies., Perspektiva.

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konkrete Religion herausbilden kann. Nach der Studie von Rebecca Nye fällt auf, dass die individuelle Spiritualität der Kinder immer wieder auf Sprachformen geprägter Religion zurückgreift – offenbar ist eine geprägte Semantik als Ausdrucksform unverzichtbar, auch wenn sie nur als Fragment verfügbar ist.

7.

In der Spur von Maria Montessori

Viele neuere Ansätze zur Förderung von Spiritualität in der Religionspädagogik führen zurück auf die Klassikerin Maria Montessori (1870–1952).45 Die italienische Ärztin hat im Zuge ihrer praktischen Arbeit mit benachteiligten Kindern die Prinzipien entwickelt, die fürderhin mit ihrem Namen in Verbindung gebracht wurden. Im Zusammenhang des kindlichen Spiels entdeckte sie die Polarisation der Aufmerksamkeit, was später generalisiert als Flow-Effekt46 beschrieben wurde. Kinder entwickeln beim Spielen eine Konzentration, die sie alles andere vergessen lässt. Damit gewinnt deren große Arbeit eine meditative Funktion. Solche Konzentration wird gefördert durch Übungen der Stille.47 Damit sind zwei allgemeinpädagogische Aspekte benannt, deren religionspädagogische Anschlussfähigkeit offensichtlich ist.48 Weiterhin entwickelte Maria Montessori spezifisches Spielmaterial. Es soll den Kindern ermöglichen, durch Beobachten und Probieren bestimmte Mechanismen zu entdecken: Welche Stempel passen in welche Löcher? Wie baue ich aus entsprechenden Bauklötzen einen Turm? Dabei sind die Materialien idealerweise so konstruiert, dass das Kind selber herausfinden kann, ob es die Aufgabe richtig gemacht hat. Das Prinzip lautet: Hilf mir, es selbst zu tun! Explizit religionspädagogisch hat die Pädagogin in ihrer Zeit in Spanien gearbeitet. Sie entwickelte dort miniaturisiertes Material, das es den Kindern ermöglichen soll, die Geschehnisse in der Messe spielerisch zu verstehen.49 Diese Linie wurde von ihrer Schülerin Sofia Cavalletti weiterentwickelt zu einer Religionspädagogik des Guten Hirten, die besonders im angelsächsischen Raum verbreitet ist.50 Montessori selbst hat nach dem Zweiten Weltkrieg diese enge katholische Perspektive hinter sich gelassen und in der Begegnung mit anderen Religionen ein eher weites Konzept einer kosmischen Erziehung entwickelt.51

45 46 47 48 49 50 51

Waldschmidt, Montessori. Csíkszentmihályi, Flow. Berg, Montessori, 168ff; Maschwitz/Maschwitz, Stille. Pütz, Pädagogik. Montessori, Kinder. Cavalletti, Katechese; dies., Potential; dies. u. a., Development. Kortschak-Gummer, Kosmische.

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Auf der Grundlage dieser unterschiedlichen Impulse gab es zahlreiche Neuansätze, besonders in der evangelischen Religionspädagogik. Ein Protagonist ist dabei der evangelische Religionspädagoge Horst Klaus Berg.52 Dieser knüpft an die allgemeinpädagogischen Erkenntnisse von Maria Montessori an. D. h., es interessieren ihn v. a. die Stilleübungen und die Freiarbeit. Er anerkennt damit die besonders intensive Erfahrung, die entsprechende Lernsettings dem Kind ermöglichen. Darüber hinaus geht es ihm darum, Freiarbeitsmaterialien für den Religionsunterricht zu entwickeln.53 Er zeigt, dass die Weiterentwicklung von Freiarbeitsmaterial sich oft auf triviale Muster reduziert, in denen Fakten abgefragt werden. Bergs Idee liegt nun darin, anspruchsvollere Materialien zu erarbeiten, in denen die Schüler/innen auch komplexere theologische Fragen (z. B. nach der Bedeutung Jesu) bedenken sollen. Damit ist das Freiarbeitsmaterial für einen anspruchsvolleren Religionsunterricht nutzbar. Allerdings wird für die Schüler/innen dann das Abgleichen ihrer Antwort mit einer Lösungsvorgabe schwieriger. Die Arbeiten von Sofia Cavalletti – von der sich Berg eher absetzt – sind nicht nur im katholischen Raum erfolgreich, sondern haben ihrerseits wichtige Impulse für andere Ansätze gegeben. Im Vereinigten Königreich hat man – im Anschluss an Cavallettis Materialien für das Atrium – ein Konzept für ein multireligiöses Programm entwickelt: A gift to the child.54 Neben christlichen Artefakten (Madonna von Lourdes) treten solche aus Hinduismus, Islam, Judentum und Sikh-Religion. Es gibt Figürchen und miniaturisierte Kultmaterialien und dazu ein ausgearbeitetes pädagogisches Programm. Eine analoge Adaption finden wir bei dem US-amerikanischen Anglikaner Jerome Berryman.55 Er gibt seinem Programm Godly Play eine starke Bibelakzentuierung und einen liturgischen Aspekt. Es ist erst einmal für die Sonntagsschule und ihre spezifischen Bedingungen konzipiert. D. h., dass die Akteure nicht-professionell sind und ein anderes Zeit- und Raumkonzept vorliegt als in der Schule. Das Ganze ist gerahmt durch einen expliziten Empfang bzw. eine Verabschiedung durch einen Doorman. Die zweite Person erzählt dann eine biblische Geschichte – genau entsprechend der Vorlage und unter Benutzung der entsprechenden Materialien. Dabei sind immer wieder Phasen des Nachfragens vorgesehen (Wonder-Phasen). Nach einem freien Spiel folgt ein liturgischer Abschluss mit Saft und Keksen und Gebet. Das Konzept wurde durch die o.g. Rebecca Nye gefördert.56 In Deutschland wurden die Materialien von Jerome Berryman in die eigene Sprache übertragen und – in Absprache mit Berryman – 52 53 54 55 56

Berg, Montessori; ders., Leben suchen; ders., Freiarbeit. U. a. Berg/Weber, Symbole. Grimmitt, Gift; Deutsche Darstellungen in: Dommel, Religions-Bildung; Meyer, Zeugnisse. Berryman, Godly Play; Pranieß, Godly Play-Konzept. Nye, Godly Play.

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noch erweitert.57 Die Verantwortlichen kamen aus beiden Kirchen. Eine maßgebliche Rolle spielt der evangelische Theologe Martin Steinhäuser. Inzwischen gibt es auch Weiterentwicklungen für Erwachsene und für außerkirchliche Themen.58 Godly Play wird in vielen gemeindepädagogischen Kontexten praktiziert, aber auch in verschiedener Weise für die Schule adaptiert. Das Verfahren ermöglicht eine intensive Begegnung mit der biblischen Botschaft mit einer existenziellen Note. Horst Klaus Berg hat sich explizit gegen die Rezeption von Godly Play ausgesprochen, das in seinen Augen zu biblizistisch sei.59 Immerhin ist interessant, dass mit den Stilleübungen, der freien Arbeit (mit der Möglichkeit des Flow-Phänomens der Polarisation der Aufmerksamkeit) und dem Godly Play wichtige Elemente der Montessoripädagogik eine Bedeutung für die Spiritualität im evangelischen Religionsunterricht erlangt haben. In indirekter Weise gilt das auch für die zunehmende Praxis, themenbezogene Koffer zusammenzustellen, in denen Elemente des eigenen Glaubens oder anderer Religionen anhand von Artefakten besprochen werden (können).60 Dieses Verfahren folgt der Tradition des A gift to the child. Zusammen mit den o.g. Bodenbildern61 begegnen wir hier einem Ensemble, wie es für den Religionsunterricht v. a. der Grundschule typisch geworden ist. In den Klassen der weiterführenden Schulen werden Elemente dieses Repertoires z. T. rezipiert und weiterentwickelt. Dazu praktizieren viele Religionslehrer/innen meditative Formen, mit denen sie selbst in Berührung gekommen sind. Das klassische Setting evangelischer Andachtskultur spielt zwar nach wie vor zumindest als regulative Idee eine Rolle und wird in Teilen praktiziert. Die neueren Elemente entstammen jedoch zu ihrem größten Teil katholischen bzw. internationalen Impulsen.62

8.

Spiritualität als Kompetenz?

Schulen versuchen neuerdings den Lernerfolg am Erwerb von Kompetenzen festzumachen. Dabei stellt sich die Frage, ob Spiritualität auf der messbaren Oberfläche erscheint oder doch eher als eine Art tiefer liegender Habitus.63 In diesem Sinne hat man im Vereinigten Königreich versucht, Spiritualität quasi zu 57 58 59 60 61 62

Bislang 6 Bände, hg. Von Martin Steinhäuser. Deep Talk: Valkonen, Deep Talk. Berg, „Godly Play”. Kunze-Beiküfner, Gotteskoffer. Stögbauer, Bodenbilder. Der Diskurs wird international v. a. in der Zeitschrift International Journal of Children’s Spirituality, 1996ff geführt. 63 Proske, Gedächtnis.

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einem Unterrichtsprinzip zu erheben.64 Sofern es einer Schulkultur gelingt, solche Impulse zu realisieren, kann zweifellos der Religionsunterricht daran partizipieren und davon profitieren. Doch die Frage bleibt, wieweit eine spezifisch christliche bzw. evangelische Spiritualität lehrbar ist.65 Ich möchte die Frage so aufnehmen: Religionsunterricht setzt eine allgemeine Spiritualität in gewisser Weise voraus und trägt idealerweise dazu bei. Dabei wird man in beiden Feldern davon ausgehen können, dass Spiritualität das Ergebnis von Einübung und Praxis ist und die Lernerfolge eher langfristig erzielbar sind. Entsprechende Publikationen deuten darauf hin, dass es hier viele Wege gibt66 und die Ergebnisse eher unverfügbar bleiben67. Wenn man mit einem weiten Kompetenzbegriff an die Frage herangeht, dann kann man sie wohl bejahend beantworten.68

Literatur Quellen Arndt, Margarete, Die Frage der Schulandacht in der Oberschule, EU 4 (1949), 32–34. Arnold, Jochen u. a. (Hg.), Gottesdienste und religiöse Feiern in der Schule, Hannover 2015. Berg, Horst Klaus/Weber, Ulrike, Symbole erleben – Symbole verstehen, Stuttgart 2000. Berryman, Jerome, Godly Play. Das Konzept zum spielerischen Entdecken von Bibel und Glauben, hg. von Martin Steinhäuser, Leipzig 2006. Bloth, Hugo Gotthart, Zugang zum Gottesdienst. Eine didaktische Einführung, EU 23 (1968), 226–230. Cavalletti, Sofia, Das religiöse Potential des Kindes: religiöse Erziehung im Rahmen der Montessori-Pädagogik. Erfahrungen mit Kindern im Alter von drei bis sechs Jahren, Freiburg i. Br./Basel/Wien 1994. –, Die Katechese des Guten Hirten. Ein Abenteuer, JBTh 17 (2002), 291–311. – u. a., The Development Of The Catechesis Of The Good Shepherd – Inside The Atria In Rome, Chicago 2014. Domsgen, Michael/Handke, Emilia (Hg.), Lebensübergänge begleiten. Was sich von religiösen Jugendfeiern lernen lässt, Leipzig 2016. Dressler, Bernhard (Hg.), Schulgottesdienst feiern. Eine Orientierungshilfe der Liturgischen Konferenz, Gütersloh 2012. Drobnitzky, Walter, Schulandacht und Schulgottesdienst, EU 4 (1949), 70–72. Erb, Jörg, Der gute Hirte. Eine Einführung in den christlichen Glauben und das christliche Leben, Kassel 1958. 64 65 66 67 68

Vgl. die Education Reform Act von 1988. Für Deutschland vgl. Loebell/Buck, Spiritualität. Boschki/Woppowa, Spiritualität. Altmeyer, Spiritualität. Dies gilt generell für religiöse Lernprozesse:Schoberth, Glauben-lernen. Büttner, Spiritualität.

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Grimmitt, Michael, u. a., A Gift To The Child. Religious Education In The Primary School. Teachers’ Source Book, Cheltenham (UK) 1991. Gudelius, Georg, Die Vorbereitung auf Ostern in der Evangelischen Unterweisung, EU 8 (1953), 35–37. –, Von Ostern bis Christi Himmelfahrt, EU 8 (1953), 66–69. –, Advent, Weihnachten, Epiphanias im Jahre der Kirche, EU 7 (1952), 186–198; –, Die Trinitatiszeit, EU 8 (1953), 162–164. –, Pfingsten und Trinitatis, EU 8 (1953), 107–109. –, Warum geben wir unseren Unterrichtsstunden einen ‚liturgischen Rahmen‘, EU 9 (1954), 82–84. Halverscheid, Heinrich/Lübking, Hans-Martin (Hg.), Projekt Schulgottesdienst. Modelle zu Schulanlässen und Themen – Kleine Formen – Kollegiumsandachten, Gütersloh 2007. Hay, David/Nye, Rebecca, The Spirit Of The Child, London u. a. ²2011. Heminghofen, Armin, Frühschichten in der Fastenzeit, Freiburg i. Br./Basel/Wien 2011. Hoffsümmer, Willi, Das große Buch der Schulgottesdienste – mit Kindern von sechs bis zwölf Jahren durch das Kirchenjahr, Freiburg i. Br. u. a. 2010. Kunze-Beiküfner, Angela, Der Gotteskoffer – Theologie für Kinder, in: Bucher, Anton A./ Schwarz, Elisabeth E. (Hg.), „Darüber denkt man ja nicht von allein nach“ – Kindertheologie als Theologie für Kinder, JaBuKi 12, Stuttgart 2013, 124–146. Maschwitz, Gerda/Maschwitz, Rüdiger, Gemeinsam Stille entdecken. Übungen für Kinder und Erwachsene, München 1995. Mit anderen feiern – gemeinsam Gottes Nähe suchen. Eine Orientierungshilfe der Liturgischen Konferenz für christliche Gemeinden zur Gestaltung von religiösen Feiern mit Menschen, die keiner christlichen Kirche angehören, Gütersloh 2006. Montessori, Maria, Kinder, die in der Kirche leben. Die religionspädagogischen Schriften, hg. von Helene Helming, Freiburg i. Br. 1964. Mumm, Reinhard, Der Gottesdienst in der christlichen Unterweisung, EU 6 (1951), 75–78. Niemann, Karl, Kindergottesdienst, Evangelische Unterweisung und Schulgottesdienst, EU 5 (1950), 89–91. Rang, Martin, Handbuch für den biblischen Unterricht. Theologische Grundlegung und praktische Handreichung für die christliche Unterweisung der evangelischen Jugend, Bd.1: Grundlegung, Methode, Altes Testament, 1. Halbband, Berlin 1939. Vierling-Ihrig, Heike/Zimmermann, Mirjam, Religionsunterricht mit Schulgottesdiensten, Göttingen 1997. Weiß, Thomas, Werkbuch Schulgottesdienst, Gütersloh 2017. Wingerning, Siegfried, Entwurf eines 14-tägigen Plan für das tägliche Lied und Gebet zu Beginn und Schluß des Unterrichts in der einklassigen evangelischen Volksschule, EU 1 (1946), H2, 2–4.

Forschungsliteratur Ahnke, Stephan/Rupp, Hartmut, Die Konstruktion von Heterogenität in multireligiösen Schulfeiern, in: Religion lernen. Jahrbuch für konstruktivistische Religionsdidaktik 8 (2017), 119–128.

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Altmeyer, Stefan u. a. (Hg.), Christliche Spiritualität lehren, lernen und leben, FS Gottfried Bitter, Göttingen 2006. Berg, Horst Klaus, „Godly Play” – ein freiheitliches religionspädagogisches Konzept? Eine Einladung zur Diskussion. Theo-Web. Zeitschrift für Religionspädagogik 7 (2008), H. 2, 96–106. –, Freiarbeit im Religionsunterricht, Konzepte – Modelle – Praxis, Stuttgart/München 1997. –, Maria Montessori – Mit Kindern das Leben suchen, Antworten auf aktuelle pädagogische Fragen, Freiburg i. Br. 2002. –, Montessori für Religionspädagogen. Glauben erfahren mit Hand, Kopf und Herz, Stuttgart 1994. Bolle, Rainer/Knauth, Thorsten/Weiße, Wolfram (Hg.), Hauptströmungen evangelischer Religionspädagogik im 20. Jahrhundert, Ein Quellen- und Arbeitsbuch, Münster u. a. 2002. Boschki, Reinhold/Woppowa, Jan, Kann man Spiritualität didaktisieren? Bildungstheoretische und beziehungsorientierte Grundlegungen spirituellen Lehrens und Lernen, in: Altmeyer, Stefan u. a. (Hg.), Christliche Spiritualität lehren, lernen und leben, FS Gottfried Bitter, Göttingen 2006, 67–84. Bravená, Noemi, „Nezabývej se jen sám sebou…“ Prˇesah a jeho význam pro socializaci a formování díteˇte jako osobnosti, Prag 2016. –, Perspektiva osobnostneˇ orientovaného pojetí výchovy vkontextu prˇesahu (transcendování) díteˇte, Pedagogika 1/2016, 23–31. Bucher, Anton, Psychologie der Spiritualität, Weinheim/Basel 22014. Büttner, Gerhard, Praxisspuren, in: ders. (Hg.), Die Praxis der Evangelischen Unterweisung. Neue Zugänge zu einem „alten“ Konzept, Jena 2004, 153–167. –, Spiritualität als Kompetenz, entwurf 1/2008, 9–13. Csíkszentmihályi, Mihály, Flow. das Geheimnis des Glücks, Stuttgart 2017. Dommel, Christa, Religions-Bildung im Kindergarten in Deutschland und England. Vergleichende Bildungsforschung für frühkindliche Pädagogik aus religionswissenschaftlicher Perspektive, Frankfurt a. M. 1997. Freudenreich, Delia, Spiritualität von Kindern – was sie ausmacht und wie sie pädagogisch gefördert werden kann. Forschungsbericht über die psychologische und pädagogische Diskussion im anglophonen Raum, Kassel 2011. Herrmann, Hans-Jürgen, Das Kursbuch Religion – ein Bestseller des modernen Religionsunterrichts. Ein Beitrag zur Geschichte der Religionspädagogik seit 1976, Stuttgart/ Braunschweig 2012. International Journal of Children’s Spirituality, 1996ff. Kölling, Gabriele, Gottesdienst in der Grundschule. Eine Untersuchung der Lehrpläne und Schulbücher für den evangelischen Religionsunterricht in der Grundschule in der Evangelischen Landeskirche in Baden von 1945 bis 1995, Halle/Saale 1997. Kortschak-Gummer, Karin, Das Kosmische der ‚Kosmischen Erziehung‘. Eine Grundlage der Bildungskonzeption Maria Montessoris, Würzburg 2005. Kunze-Beiküfner, Angela, Kindertheologisch-sensitive Responsivität pädagogischer Fachkräfte in Kindertagesstätten: eine Untersuchung zur Praxis des Theologisierens in Kindertagesstätten, Leipzig 2017.

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Loebell, Peter/Buck, Peter (Hg.), Spiritualität in Lebensbereichen der Didaktik, Diskussionsbeiträge zur Bedeutung spiritueller Erfahrungen in den Lebenswelten von Kindern und Jugendlichen, Opladen/Berlin/Toronto 2015. Meyer-Blanck, Michael, Kleine Geschichte evangelischer Religionspädagogik. Dargestellt an ihren Klassikern, Gütersloh 2003. Meyer, Karlo, Zeugnisse fremder Religionen im Unterricht. „Weltreligionen“ im deutschen und englischen Religionsunterricht, Neukirchen-Vluyn 1999. Nipkow, Karl Ernst, Kinder und Transzendenz – Spuren natürlicher Religion, in: ders., Gott in Bedrängnis? Zur Zukunftsfähigkeit von Religionsunterricht, Schule und Kirche, Gütersloh 1910, 137–144. –, Plurale Profile spiritueller Erneuerung und Erziehung – vergleichende Beobachtungen aus evangelischer Sicht, in: Simon, Werner (Hg.), meditatio. Beiträge zur Theologie und Religionspädagogik der Spiritualität, FS G. Stachel, Münster 2002, 31–50. –, Bildung in einer pluralen Welt, Bd. 2: Religionspädagogik im Pluralismus, Gütersloh 1998. Nye, Rebecca, Godly Play, systematische Einführung in einen neuen religionsdidaktischen Ansatz, in: CRP 57 (2004), 39–44. Pfaff, Petra, Der Schulgottesdienst als Partizipationsgeschehen. Überlegungen zur leiblichsinnlichen Wahrnehmung im Schulgottesdienst, Leipzig 2012. Pranieß, Martin, Das Godly Play-Konzept. Die Rezeption der Montessori-Pädagogik durch Jerome W. Berryman, Göttingen 2008. Proske, Matthias, Das soziale Gedächtnis des Unterrichts. Eine Antwort auf das Wirkungsproblem der Erziehung? In: Zeitschrift für Pädagogik, 55 (2009), 796–814. Pütz, Tanja, Maria Montessoris Pädagogik als religiöse Erziehung. Polarisation der Aufmerksamkeit und Meditation im Vergleich, Münster 2005. Reents, Christine/Melchior, Christoph, Die Geschichte der Kinder- und Schulbibel – evangelisch – katholisch – jüdisch, Göttingen 2011. Pirner, Manfred, Musik und Religion in der Schule. Historisch-systematische Studien in religions- und musikpädagogischer Perspektive, Göttingen 1999. Religionsunterricht an höheren Schulen 45 (2002), H. 1: Performativer Religionsunterricht. Rickers, Folkert/Schröder, Bernd (Hg-), 1968 und die Religionspädagogik, Neukirchen 2010. Robinson, Edward, The Original Vision: A Study In The Religious Experience Of Childhood, Oxford 1996. Roose, Hanna, Performativer Religionsunterricht zwischen Performance und Performativität, Loccumer Pelikan 3/2006, 110–115. Rühm-Constantin, Emy/Griebel, Marthel, Der Beginn des Schultages. Untersuchung des Lehrer- und Schülerverhaltens beim täglichen Unterrichtsbeginn in der Volksschule, Weinheim 1972. Rupp, Hartmut/Lauer, Marie-Luise/Rentmeister, Karl-Otto (Hg.), Schenk dir Zeit 2, Karlsruhe 2000. Saß, Marcell, Schulanfang und Gottesdienst. Religionspädagogische Studien zur Feierpraxis im Kontext der Einschulung, Leipzig 2010. Schnepper, Arndt, Goldene Buchstaben ins Herz schreiben. Die Rolle des Memorierens in religiösen Bildungsprozessen, Göttingen 2012.

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Schoberth, Ingrid, Glauben-lernen. Grundlegung einer katechetischen Theologie, Stuttgart 1998. Schröder, Bernd (Hg.), Religionsunterricht – wohin? Modelle seiner Organisation und didaktischen Struktur, Neukirchen-Vluyn 2014. –, Evangelische Kontaktstunde an Grundschulen. Modell gelingender Nachbarschaft von Schule und Gemeinde, Göttingen 2003. Stögbauer, Eva, Art. Bodenbilder, Wirelex, https://www.bibelwissenschaft.de/stichwort/ 100135/, abgerufen am 06/12/2017. Stolz, Jörg u. a., Religion und Spiritualität in der Ich-Gesellschaft. Vier Gestalten des (Un-) Glaubens, Zürich 2014. Szagun, Anna-Katherina, Dem Sprachlosen Sprache verleihen. Rostocker Langzeitstudie zu Gottesverständnis und Gottesbeziehung von Kindern, die in mehrheitlich konfessionslosem Kontext aufwachsen, Jena 2006. Valkonen, Tuula, Deep Talk, Helsinki 2014. Waldschmidt, Ingeborg, Maria Montessori. Leben und Werk, München 32010. Wegenast, Klaus, Spiritualität in der Schule? Überlegungen zu einer möglichen Gestalt im Religionsunterricht, in: Simon, Walter (Hg.), meditatio. Beiträge zur Theologie und Religionspädagogik der Spiritualität, FS G. Stachel, Münster 2002, 289–303.

Johannes Rehm

„In Gottes Namen fang ich an …“ Arbeit als Berufung

1.

Arbeit als Ausdruck christlicher Glaubens- und Lebenspraxis

Wo hat evangelische Spiritualität ihren Ort? Wann hat sie ihre Zeit? Auf diese elementaren Fragen evangelischer Glaubenspraxis legen sich klassische Antworten nahe. Der Gottesdienst der versammelten Gemeinde ist der vornehmste Ort evangelischer Spiritualität. Unstrittig dürfte sein, dass zudem die häusliche Andacht im „stillen Kämmerlein“ ein naheliegender Ort dafür war und ist. Allerdings kann Spiritualität nicht auf Kirche und Heim begrenzt werden. Die Mahnung des Paulus, dass das ganze Leben des Christen als Gottesdienst zu gestalten sei, wurde in der Reformation aufgegriffen und prägt seitdem das Glaubensleben evangelischer Christen: „Ich ermahne euch nun, Brüder und Schwestern, durch die Barmherzigkeit Gottes, dass ihr euren Leib hingebt als ein Opfer, das lebendig, heilig und Gott wohlgefällig sei. Das sei euer vernünftiger Gottesdienst“ (Röm 12,1). Folgerichtig sind der Alltag der Welt und so auch der Arbeitsplatz Ort und Zeit evangelischer Spiritualität, da der liturgische Gottesdienst im Alltag der Welt seine Fortsetzung findet. Insofern sind nicht nur Morgen, Mittag und Abend Zeiten des persönlichen Gebets und damit Zeiten evangelischer Spiritualität, sondern auch die Arbeitszeit, die, wie alle Zeit, vom gläubigen Menschen als von Gott geschaffene Zeit wahrzunehmen ist. Diese Haltung, die Arbeit als Gottesdienst zu verstehen, der in, mit und unter der Arbeitszeit stattfindet, prägte durchgehend die evangelische Spiritualität, wovon das EG als klassischer Ausdruck dieser Frömmigkeit ein beredtes Zeugnis ablegt. Arbeit als Gottesdienst ist Teil des reformatorischen Erbes, auch wenn diese Haltung im Wechsel der Zeiten unterschiedlich präsent und lebendig war. Heute stellt sich die Frage, inwieweit sie dem Lebensgefühl der Zeitgenossen noch entspricht und ob diese Haltung unter den Bedingungen von Arbeit 4.01 noch 1 Vgl. Pelikan/Rehm (Hg.), Alltag 4.0.

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gelebt werden kann. Im Gegensatz zu diesem weltzugewandten Verständnis evangelischer Spiritualität stehen andere Formen geistlichen Lebens, die als stärker innerlich angesehen werden können bis hin zu esoterischen Frömmigkeitsformen.2 Im Folgenden soll dem Strang evangelischer Spiritualität nachgegangen werden, der die Arbeit als Ort und Zeit von Spiritualität zu verstehen gelehrt hat. Allerdings ziehe ich im Zusammenhang von Arbeit die Rede von Frömmigkeit dem Gebrauch des Begriffs Spiritualität vor. Die Leiblichkeit einer auf die Arbeit bezogenen Praxis pietatis scheint mir in dem traditionellen Begriff Frömmigkeit besser zum Ausdruck zu kommen. Zudem kann er weniger leicht vergeistigt, ja jenseitig missverstanden werden. Doch bevor ich zu beschreiben versuche, was unter einer evangelischen Frömmigkeit im Rahmen der Berufsarbeit zu verstehen ist, wende ich mich zunächst der grundsätzlichen Frage zu, was denn überhaupt ein frommes christliches Leben sei. Wie kann der christliche Glaube gelebt werden? Diese Frage ist einerseits uralt und stellt sich andererseits immer wieder neu. Was ist eine christliche Lebensform? Von den frühen Christen her gehörte die Arbeit zum christlichen Leben dazu. Klassisch ist die apostolische Mahnung: „Wir ermahnen euch aber, dass ihr darin noch vollkommener werdet, und eure Ehre darein setzt, dass ihr ein stilles Leben führt und das Eure schafft und mit euren eigenen Händen arbeitet, wie wir euch geboten haben, damit ihr ehrbar wandelt vor denen, die draußen sind, und auf niemanden angewiesen seid“ (1Thess 4,10–12).

Ein Christ sorgt selbst durch ehrbare Arbeit für den eigenen Lebensunterhalt und lässt nicht andere für sich arbeiten. Der christliche Glaube findet in einer zupackenden Lebenshaltung seinen Ausdruck. Ein christliches Leben ist ein arbeitsames, tätiges Leben. Durchgehend setzt die biblische Überlieferung die Arbeit als Bestandteil und Ausdruck geschöpflichen Lebens voraus, ohne dass dies einer vertieften Erörterung bedürfte. Unter Arbeit ist daher nicht nur die Erwerbsarbeit im modernen Sprachgebrauch zu verstehen, sondern das Tätigsein des Menschen im umfassenden Sinn. Dieses Arbeiten und Tätigsein des Christenmenschen fand schon immer in der weltlichen Umgebung statt. Durch Arbeit gestalten Christen Welt und Gesellschaft mit. Durch die Art ihres Arbeitens machen sie sich kenntlich. Arbeit und Selbstsorge bilden den selbstverständlichen Ausdruck christlicher Glaubens- und Lebenspraxis. Doch wenn der Arbeitsplatz und die Arbeitszeit Ort und Gelegenheit einer Praxis des Glaubens bilden, dann müssten eigentlich Arbeitnehmende diejenigen Praktiker sein, die hier allererst zu befragen sind, wenn man erkunden will, ob 2 Vgl. z. B. Programm des Spirituellen Zentrums Eckstein der Ev-Luth. Landeskirche Bayerns in Nürnberg mit so unterschiedlichen Angeboten wie Herzensgebet und Bogenschießen. www. spirituelles-zentrum-im-eckstein.de/ (Zugriff: 6.9.17).

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und wie der Glaube in der Arbeit gelebt und praktiziert werden kann. Fachwissenschaftliche Publikationen sind hier lediglich indirekt einschlägig, weil sie häufig Erfahrungen anderer reflektieren und nicht ohne weiteres direkt aus der eigenen praktischen Erfahrung sprechen. Aus diesem Grund besuchte ich als Pfarrer des „Kirchlichen Dienstes in der Arbeitswelt“ (KDA) im Laufe mehrerer Jahre Menschen in Betrieben, die sich aktiv zur evangelischen Kirche bekennen. Ich wollte mehr darüber erfahren, was es für deren Leben bedeutet, ihren Arbeitsalltag aus und in der Perspektive des Glaubens zu bewältigen. Von den Gesprächen, die ich in diesem Zusammenhang führte, möchte ich im Folgenden erzählen.3 Sie fanden allesamt an klassischen Orten menschlicher Arbeit statt: In Betriebsratsbüro, Backstube, Hotel, Fabrikhalle, Lagerraum, Kindergarten, Sozialstation, Werkstatt, Bauhof, Sakristei, Bauernhof und in einer Rettungsleitstelle. Mit dem Fotografen Wolfgang Noack, der diese Besuche bildlich dokumentierte, begab ich mich an die Orte des Arbeitsalltags, wo die von mir besuchten Arbeitnehmenden einen Großteil ihrer Zeit verbringen. Im Gegensatz zum Hausbesuch eines Pfarrers, der sich normalerweise im Wohnzimmer des Besuchten abspielt, fanden die Besuche in einer eher unpersönlichen Arbeitsatmosphäre statt. Die Gespräche wurden von störenden Nebengeräuschen durch Arbeitsvorgänge begleitet. Die besuchten Mitchristen waren mir aus meiner Tätigkeit im Rahmen des KDA bereits mehr oder weniger gut bekannt. Auf diese Weise entstand während eines begleiteten Arbeitstages eine Basis des Vertrauens, die es ermöglichte, auch persönliche Fragen nach der eigenen Glaubenspraxis zu stellen.

2.

Erkundung der Arbeitswelt – ein Praxisbericht

Von mehreren Gesprächspartnern wurde übereinstimmend berichtet, dass das Gebet in ihrem Leben eine bedeutsame Rolle spielt. So wurde mir mehrfach erzählt, dass das erste Gebet des Tages schon gesprochen worden ist, bevor der Arbeitsplatz betreten wird. Dabei ist an ein Morgengebet zu denken, etwa Luthers Morgensegen entsprechend dessen Empfehlung: „Alsdann mit Freuden an dein Werk gegangen und etwa ein Lied gesungen oder was dir deine Andacht eingibt.“4 Wenn nun der Arbeitsweg zurückgelegt und die Arbeitsstätte erreicht ist, stellt sich die Frage: Wie wird aus gewöhnlicher Erwerbsarbeit Arbeit im christlichen Sinne? Was ist der Unterschied von Arbeit und Beruf ? In meinen Gesprächen war ein Einverständnis darüber herauszuhören, dass „christliche“ Arbeit, so wie jeder Gottesdienst, im Namen des dreieinigen Gottes 3 Vgl dazu im Einzelnen Rehm, Arbeitswege. 4 EG, 1441.

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begonnen wird. Seinen klassischen Ausdruck hat diese Arbeitshaltung in dem bekannten Gesangbuchlied von Salomo Liscow aus dem Jahr 1674 gefunden: „In Gottes Namen fang ich an, was mir zu tun gebühret; mit Gott wird alles wohlgetan und glücklich ausgeführet. Was man in Gottes Namen tut, ist allenthalben recht und gut und kann uns auch gedeihen“ (EG 494,1). In der Ausrufung des göttlichen Namens über der alltäglichen Mühe und Plage drückt sich das Angewiesensein des Menschen auf Gottes Segen aus, aber auch die Hoffnung darauf, dass Gott die alltägliche Arbeit segnen und fördern will. Dem Schöpfer sind die Voraussetzungen zu verdanken, dass wir Menschen überhaupt tätig werden können. „Gott ist’s, der das Vermögen schafft, was Gutes zu vollbringen; er gibt uns Segen, Mut und Kraft und lässt das Werk gelingen; ist er mit uns und sein Gedeihn, so muss der Zug gesegnet sein, dass wir die Fülle haben“ (Strophe 2). Der Erfolg und der Ertrag menschlicher Arbeit sind nicht zuerst den menschlichen Bemühungen und der eigenen Tüchtigkeit, sondern der Wirksamkeit des Segens Gottes zuzuschreiben. Die Haltung des Vertrauens auf Gottes Segen wirkt sich auch auf die Motivation und Zielsetzung menschlichen Arbeitens aus, das auf das Reich Gottes hin orientiert ist und auch den bedürftigen Nächsten im Blick hat: „Wer erst nach Gottes Reiche tracht und bleibt auf seinen Wegen, der wird von ihm gar reich gemacht durch seinen milden Segen. Da wird der Fromme froh und satt, dass er von seiner Arbeit hat auch Armen Brot zu geben“ (Strophe 3). Dadurch, dass der Erwerb materieller Güter nicht an erster Stelle der Arbeitsziele steht, ereignet sich die Paradoxie des Glaubens, nämlich das Beschenktwerden durch den Segen Gottes, das sich sehr wohl in dieser Welt als Bedürfnisbefriedigung auswirkt, aber immer auch im Hinblick auf die Stillung der Not Bedürftiger sozialdiakonisch wirksam wird. Über der alltäglichen Arbeit wird der Name Jesu Christi angerufen in der Hoffnung auf gutes Gelingen in dem zum Lebensunterhalt erforderlichen Arbeitsleben: „Nun, Jesus, komm und bleib bei mir. Die Werke meiner Hände befehl ich, liebster Heiland, dir; hilf, dass ich sie vollende zu deines Namens Herrlichkeit, und gib, dass ich zur Abendzeit erwünschten Lohn empfange“ (Strophe 6). Dieses Gesangbuchlied kann als Zusammenfassung evangelischer Frömmigkeit in der Arbeit als Beruf gelesen werden. Der Geist Jesu verhilft auch dazu „den Müßiggang zu meiden“ (EG 494,5). Damit ist ein Verständnis der Arbeitszeit als Gotteszeit angesprochen, das mir in allen Gesprächen begegnete. Arbeitszeit ist mehr und anderes als die lineare chronologische Zeit, die gemessen und bezahlt wird. Arbeitszeit, wie alle Zeit, kommt von Gott her und läuft auf Gottes Reich zu und kann, wenn Gottes Geist wirkt, zum Kairos, zur gesegneten Zeit, werden. Vergleichbares gilt auch für den Arbeitsort, der kein beliebiger und zufälliger Ort ist, sondern der seinen Sitz im Leben im Heilsplan Gottes für diese Welt und jeden einzelnen Menschen hat. In seinem Büro sitzend, erklärte mir Bernhard Dausend aus Neuburg an der Donau,

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der Vorsitzende des Betriebsrats einer Glasfabrik: „Ich bin fest davon überzeugt, dass mich Gott an diesen Arbeitsplatz gesetzt hat, um hier meine Gaben in seinem Sinne einzusetzen.“5 Der Arbeitsplatz, selbst wenn er frei gewählt worden ist, wird als Ort verstanden, an den man von Gott berufen worden ist, um sich einzubringen, seinen Glauben zu leben und seine Pflicht zu tun. Diese Treue zum Ort der Arbeit hat ihre Begründung in der biblischen Tradition. Dabei ist beispielsweise an die Exilserfahrung des Volkes Israel zu denken: „So spricht der Herr Zebaoth, der Gott Israels, zu allen Weggeführten, die ich von Jerusalem nach Babel habe wegführen lassen: Baut Häuser und wohnt darin; pflanzt Gärten und esst ihre Früchte; […] mehrt euch dort, dass ihr nicht weniger werdet. Suchet der Stadt Bestes, dahin ich euch habe wegführen lassen, und betet für sie zum Herrn; denn wenns ihr wohl geht, so gehts auch euch wohl“ (Jer 29,4–7).

Schon immer war der Ort der Bewährung im Glauben ein fremder Ort. Für den Glauben ist der Arbeitsplatz zunächst einmal ein solcher fremder Ort, an dem Nächstenliebe und Barmherzigkeit nicht zur Arbeitsplatzbeschreibung gehören. Trotzdem haben schon immer Christen ihren persönlichen Einsatzort als den Ort ihrer göttlichen Bestimmung verstanden. Der Ort der Arbeit ist kein einsamer Ort. Vielmehr finden wir dort Mitmenschen vor, die im Allgemeinen nicht unsere Verwandten und auch nicht unsere Freunde oder Nachbarn sind. In der Sprache des Arbeitsalltags sprechen wir von Kolleginnen und Kollegen. Wie kommt in der Arbeitswelt die besondere Qualität des Miteinanders von Menschen in der Perspektive des christlichen Glaubens zum Ausdruck? Der Betriebsschlosser und Kirchenvorsteher Franz Ott aus Schlüsselfeld sagt dazu: „Ich arbeite gerne in Gemeinschaft mit Kollegen, gerade auch mit jüngeren. Der kollegiale und menschliche Austausch ist ein Geschenk Gottes. Ich bin bewusst auch am Werktag Christ und nicht nur Sonntags-Christ, d. h. im Alltag, in dem, was ich denke, rede und tue, zeigt sich mein christlicher Glaube.“6 Arbeiten hat zu allen Zeiten Zusammenarbeit bedeutet. In einer globalisierten Wirtschaft ist Zusammenarbeit häufig internationale, interkulturelle und interreligiöse Zusammenarbeit. Der technische Ingenieur Holger Baudisch, der in einem Motorenvertrieb in Nürnberg tätig ist, schätzt gerade diese Herausforderung: „Es ist die Kombination aus Spaß an der Technik und das gemeinsame Arbeiten mit den unterschiedlichsten Menschen. Wichtig ist mir die Internationalität und damit verbunden das Erleben anderer Kulturen. Es verschafft mir Befriedigung, die verschiedenen Bedürfnisse und Anforderungen der Kunden zu erfüllen und den Umgang mit

5 Rehm, Arbeitswege, 17. 6 A. a. O., 41.

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ihnen zu pflegen. Aber es ist auch eine große Herausforderung, technische Verantwortung zu tragen von der Prototypenphase bis zur Serienlieferung.“7

Wenn wir den Spuren einer evangelischen Frömmigkeit der Arbeit als Beruf nachgehen, dann heißt dies, einer Arbeitswelt zu begegnen, die auf die Optimierung aller Prozesse im Interesse von An- und Verkauf ihrer Produkte ausgerichtet ist. Dabei stellen sich Fragen, die nicht ohne weiteres zu beantworten sind: Wie kann in der Begegnung von Verkäufer und Käufer zum Ausdruck kommen, dass beide in Nächstenliebe aneinander gewiesen sind? Sehr oft wird diese Verhältnisbestimmung der Geschöpfe Gottes keine erkennbare Rolle spielen. Aber es gibt auch Erfahrungen gelingender Begegnungen, wie Holger Baudisch berichtet: „Der Glaube an Gott hilft mir, Toleranz zu üben, die Art und Weise des Gegenübers zu respektieren. Durch den Glauben an Gott gelingt es mir oft, den Stress auf Distanz zu halten. Vertrieb heißt Gemeinschaft leben – somit ist es eine von Gott gesegnete Zeit.“8

Es ist ein wertvolles Gut für einen Menschen, über einen Arbeitsplatz zu verfügen, denn dies beinhaltet die Möglichkeit, sich durch bezahlte Erwerbsarbeit seinen Lebensunterhalt zu verdienen. Es ist nicht selbstverständlich und ist nicht jedermann vergönnt, den geeigneten Arbeitsplatz mit einem Anforderungsprofil zu finden, dem man entspricht. Obwohl Arbeit Mühe und Plage ist, haben alle meine Gesprächspartner ihre Dankbarkeit für ihre Arbeitsstelle zum Ausdruck gebracht. Zum kollektiven Gedächtnis gehören auch Erfahrungen von Massenarbeitslosigkeit. Auf diesem Hintergrund spricht das moderne Kirchenlied bis heute vielen aus dem Herzen: „Danke für meine Arbeitsstelle, danke für jedes kleine Glück. Danke für alles Frohe, Helle und für die Musik“ (EG 334,3). Die Liedzeile bezieht sich auf die Alltagserfahrung der Arbeit und nimmt die positiv erlebten Widerfahrnisse als Gelegenheiten der Dankbarkeit gegenüber Gott ernst. Diese Haltung gehört zur Signatur einer evangelischen Frömmigkeit der Arbeit als Beruf. Dankbare Menschen erfahren umgekehrt die Dankbarkeit ihrer Mitmenschen für die Art ihrer Berufsausübung. Die Hotelfachfrau Anita Eberhard übt einen Beruf aus, der sie vielseitig und umfassend in Anspruch nimmt. Sie bringt sehr viel Lebenszeit ein, empfängt aber auch viel Dankbarkeit: „Es sind die vielen unterschiedlichen Menschen, welche unser Haus besuchen, und vor allen Dingen, wenn es die Zeit zulässt, die Geschichten, welche sich hinter den Menschen verbergen. Es fasziniert mich, in ein Gesicht zu blicken, welches Zufriedenheit ausstrahlt und die dahinter erlebte Lebensgeschichte zu kennen. Das motiviert mich, am Ende meines Lebens oder im Alter vielleicht einmal eine ebensolche Ausstrahlung zu besit7 A. a. O., 46. 8 A. a. O., 48.

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zen. Die Erfüllung ist einfach, in strahlende Augen zu schauen, Menschen (Gäste) glücklich zu machen und vor allen Dingen am nächsten Morgen (etwa nach einer Hochzeit) vom Brautpaar oder sogar von der Schwiegermutter vor Glück und Dankbarkeit umarmt zu werden.“9

Der Arbeitsalltag ist eine Zeit existenzieller Erfahrungen. Dazu gehören Erfahrungen gelingenden Lebens und erfüllenden Tätigseins, aber auch Erfahrungen von Ungerechtigkeit und Repression. Arbeitswelt beinhaltet immer auch, dass Kapitalinteressen sich menschlichen Arbeitseifer nutzbar machen. Auf unseren Arbeitswegen, von denen ich hier berichte, sind mein Fotograf Wolfgang Noack und ich Betrieben begegnet, in denen nicht entsprechend dem Tarif bezahlt wird, sondern untertarifliche Entlohnung üblich ist. Aus Mangel an Arbeitsplatz-Alternativen auf dem Lande müssen sich Arbeitnehmende mit ihrer Lage abfinden. Die Arbeitsschutzbestimmungen sind strenger geworden und schützen Arbeitnehmende stärker. Trotzdem wird es in bestimmten Branchen immer körperlich harte Arbeit geben, die die Arbeiter verschleißt und verbraucht. Zu einer evangelischen Frömmigkeit der Arbeit gehört, das Leiden über ungerechte Arbeitsbedingungen bis hin zur Ausbeutung wahrzunehmen und auszusprechen. Die biblische Rede von der Arbeit bildet dabei eine Sprachhilfe, um Klage und Anklage in Worte zu fassen. Franz Ott hat sowohl politisch als auch geistlich recht, wenn er feststellt: „Es geht mir als Christ völlig gegen den Strich, dass so viele Menschen gerade auch in unserem Land im Niedriglohnbereich arbeiten müssen.“10 Die Erfahrung des Volkes Israel beim Exodus war die Erfahrung der Befreiung von ungerechten Arbeitsverhältnissen durch Jahwe. Insofern nimmt die jüdisch-christliche Tradition ihren Ausgang bei einer Erfahrung der Ausbeutung und des Missbrauchs von Arbeitskraft, was nicht übersehen werden sollte, wenn heute von Arbeit in der Perspektive des christlichen Glaubens gesprochen wird: „Und der Herr sprach: Ich habe das Elend meines Volkes in Ägypten gesehen, und ihr Geschrei über ihre Bedränger habe ich gehört; ich habe ihr Leiden erkannt. Und ich bin herniedergefahren, dass ich sie errette aus der Ägypter Hand und sie aus diesem Lande hinaufführe in ein gutes und weites Land, in ein Land, darin Milch und Honig fließt“ (Ex 3,7–8).

Die biblische Erinnerung an den Exodus kann vor einer verharmlosenden Romantisierung der Arbeit bewahren. Die geschichtliche Erfahrung des Volkes Israel darf zwar nicht verallgemeinert werden. Gleichzeitig hält sie aber die immer wiederkehrende Erfahrung fest, dass der Gebrauch von Arbeitskraft zu Ausbeutung führt. 9 A. a. O., 32. 10 A. a. O., 40.

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Wie wirkt sich der Glaube ganz praktisch im Arbeitsalltag von Menschen aus? Die bereits erwähnte Hotelfachfrau Anita Eberhard beschreibt ihre Erfahrung in der Führung eines fränkischen Landgasthofs so: „Mein Glaube ist der Fels meiner Arbeit. Ein Kirchgang am Sonntag – wenn möglich – versprüht gute Laune für den ganzen Tag. Dies schweißt die Familie zusammen. Mein Glaube gab und gibt mir die Sicherheit, an dem Platz zu sein, der für mich richtig ist. Natürlich ist meine Arbeitszeit manchmal ein ‚Beichtstuhl‘. Menschen kommen zu mir und schütten ihr Herz aus. Sie erzählen Erlebtes. Sie sagen, was sie bewegt, ihren Kummer und ihre Freude. Ich bin da für die Gäste. Ich kann zuhören, trösten, Mut machen und manchmal auch helfen, Träume wahr werden zu lassen. In all dem danke ich Gott, dass er mir diese tolle Aufgabe gegeben hat.“11

Der Glaube, so die Erfahrung von Frau Eberhard, vermag Grundvertrauen zu vermitteln und gibt dem Leben eine hilfreiche Struktur. Sie macht darauf aufmerksam, dass in arbeitsweltlichen Zusammenhängen Seelsorge geschieht und Mitmenschen füreinander zu Seelsorgern und Seelsorgerinnen werden. Frömmigkeit strahlt aus und kann anziehend wirken. Weil Arbeit meistens Zusammenarbeit bedeutet, ist Frömmigkeit in der Arbeit immer auch auf das mitmenschliche Umfeld bezogen, auf Menschen, denen wir spürbar zu Nächsten werden können. Von Arbeit sprechen viele, aber für die evangelische Frömmigkeit ist die Rede von der Arbeit als Beruf, der als Berufung verstanden wird, entscheidend. Von mehreren meiner Gesprächspartner wurde dieses Verständnis ins Gespräch gebracht. Besonders nachdrücklich von der Erzieherin Helena Deininger-Obenauf, die ihre persönliche Haltung so ausdrückte: „Ich glaube, ein erzieherischer Beruf ist nicht nur ein Job, sondern eine Berufung, wie alle sozialen Berufe. Ich habe in meiner Arbeit als Erzieherin meine Berufung gefunden. Das tägliche Zusammensein mit vielen Kindern macht mich sehr glücklich.“12

Berufung bedeutet hier, dass ich meine mir vom Schöpfer verliehenen Gaben als Mensch einbringen kann in das Arbeitsleben. So werden sie für andere fruchtbar. Ich tue, was ich tue, nicht nur aus eigenem Antrieb, sondern als von Gott berufener und beauftragter Christ. „Ich wurde in der christlichen Tradition erzogen, aber auch persönlich ist mir mein Glaube sehr wertvoll. Diesen auch an die Kinder, die mir als Erzieherin anvertraut sind, zu vermitteln, ist mir ein großes Anliegen. Da ich in einem evangelischen Kindergarten arbeite, ist dies ein wichtiger Bestandteil der pädagogischen Arbeit. Dafür bin ich sehr dankbar. Obwohl es nicht immer einfach ist, Beruf und Familie unter einen Hut zu bekommen, sehe ich meine Arbeitszeit als eine erfüllte Gotteszeit. Denn zum Glück

11 A. a. O., 33. 12 A. a. O., 53f.

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habe ich eine tolle Familie und gute Freunde, die mich immer unterstützen. Auch dies ist ein Gottessegen und, weiß Gott, nicht selbstverständlich.“13

Die Rede von der Arbeit als Beruf hat eine lange, bis heute andauernde Wirkungsgeschichte. Im Augsburger Bekenntnis von 1530 heißt es: „Die christliche Vollkommenheit besteht darin, dass man Gott ernstlich fürchtet und doch um Christi willen herzliches Vertrauen zu Gott fasst, dass man in aller Trübsal auf seine Hilfe hofft, mit Fleiß gute Werke tut und seinen Beruf ausübt“ (Art. 27, zitiert nach EG 1575, Ausgabe für die Ev.-Luth. Landeskirche in Bayern).

3.

Arbeit als Beruf

Das Verständnis der Arbeit als Beruf findet nach meinen Gesprächserfahrungen in einer verbreiteten tugendethischen Haltung der Wertschätzung ehrlicher Arbeit und eines damit verbundenen Arbeitsfleißes seinen Ausdruck. Johann Heermann hat diese Geisteshaltung einprägsam in Worte gefasst im Lied „O Gott, du frommer Gott“ aus dem Jahr 1630 (EG 495). Nachdem in der ersten Strophe der Dank an den Schöpfer für die Voraussetzungen, nicht zuletzt des „gesunden Leibs“, laut geworden ist, beschreiben die nächsten Strophen, wie Arbeiten im christlichen Sinn geht: „Gib, dass ich tu mit Fleiß, was mir zu tun gebühret, wozu mich dein Befehl in meinem Stande führet. Gib, dass ichs tue bald, zu der Zeit, da ich soll, und wenn ichs tu, so gib, dass es gerate wohl“ (Strophe 2). Nun ist aber Arbeitsfleiß allein noch keine Garantie, dass die Energien in die richtige Richtung gehen, sondern es gilt, am Ort der Arbeit die Gebote Gottes zu befolgen, die nicht zuletzt zu einer Kultur der Wahrhaftigkeit führen: „Hilf, dass ich rede stets, womit ich kann bestehen; lass kein unnützlich Wort aus meinem Munde gehen; und wenn in meinem Amt ich reden soll und muss, so gib den Worten Kraft und Nachdruck ohn Verdruss“ (Strophe 3). Doch trotz bester Absichten gelingt es gerade im Arbeitsleben häufig nicht, mit den Mitmenschen gedeihlich auszukommen. Weil die Arbeitswelt voller Ungerechtigkeiten und Widersprüche steckt, wird mancher erworbene Verdienst zulasten anderer erzielt, selbst wenn dies nicht beabsichtigt ist. Deshalb die Bitte an Gott: „Lass mich mit jedermann in Fried und Freundschaft leben, soweit es christlich ist. Willst du mir etwas geben an Reichtum, Gut und Geld, so gib auch dies dabei, dass von unrechtem Gut nichts untermenget sei“ (Strophe 5). Wie kommen Menschen dazu, ihre Frömmigkeit in der als Berufung verstandenen Arbeit zu leben? Durchgängig wurde in den Gesprächen auf die 13 A. a. O., 57.

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christliche Tradition verwiesen, die meine Gesprächspartner vorrangig in der Familie, aber auch im Religionsunterricht, dem Konfirmandenunterricht oder in der Jugendarbeit kennengelernt hatten. Bei allen spielt die eigene Geschichte mit den grundlegenden Erzählungen und den geprägten Texten der Tradition eine entscheidende Rolle. Auf einem Büchersims im Betriebsratsbüro von Bernhard Dausend stehen Gesangbuch, Losungsbuch und Bibel neben dem Betriebsverfassungsgesetz und anderen Arbeitsrechtssammlungen. Mit besonderem Nachdruck hob der Bäckermeister Thomas Zimmer den Traditionsbezug im Zusammenhang von Arbeit und Glaube hervor: „Aus all diesen Gründen beschließe ich aus voller Überzeugung jede Rede als Präsident der Handwerkskammer mit dem Ausruf: ‚Gott schütze und segne das ehrbare Handwerk!‘ Sehr bewusst pflege ich alte Traditionen: So beginnt jedes Backofenfest bei uns mit einem Gebet und einem Vaterunser. In der gelebten Tradition findet mein Glaube seinen mir entsprechenden Ausdruck.“14

Doch tut sich einer evangelischen Frömmigkeit der Arbeit ein theologisches Problem auf: Auf der einen Seite wird Arbeitseifer tugendethisch wertgeschätzt und auf der anderen Seite auf das segnende Handeln Gottes verwiesen. Wie sind menschliches Arbeiten und Handeln Gottes miteinander zu vermitteln? Ergänzt und vollendet Gott menschliches Arbeiten oder wirkt er unmittelbar selbst? Mit dieser grundlegenden theologischen Fragestellung setzt sich Paul Gerhardt in einem 1653 verfassten Lied dichterisch auseinander: „Ich weiß, mein Gott, dass all mein Tun und Werk in deinem Willen ruhn, von dir kommt Glück und Segen; was du regierst, das geht und steht auf rechten, guten Wegen“ (EG 497,1). Dem Liederdichter ist die Begrenztheit und die Fehlbarkeit seiner menschlichen Einsicht bewusst, deshalb bittet er um das „edle Licht“ und um Gottes Kraft: „Gib mir Verstand aus deiner Höh, auf dass ich ja nicht ruh und steh auf meinem eignen Willen; sei du mein Freund und treuer Rat, was recht ist, zu erfüllen“ (Strophe 5). Das Vertrauen ist ganz auf Gott gerichtet, von ihm erwartet Gerhardt Weisung und Befähigung, Gutes zu bewirken und zu vollbringen. „Ist’s Werk von dir, so hilf zu Glück, ist’s Menschentun, so treib zurück und ändre meine Sinnen. Was du nicht wirkst, das pflegt von selbst in kurzem zu verrinnen. Tritt du zu mir und mache leicht, was mir sonst fast unmöglich deucht, und bring zum guten Ende, was du selbst angefangen hast durch Weisheit deiner Hände“ (Strophen 8f).

Kunstvoll bezieht der Dichter menschliche Arbeit und Gottes Handeln aufeinander. Die Strophen spiegeln die Ehrfurcht und das Vertrauen in das souveräne Handeln Gottes wider. Gott selbst gibt die Richtung für das Arbeiten vor, was die menschlichen Bemühungen keineswegs überflüssig macht. Aber Gott muss seinen Segen dazu geben, wenn die Arbeit gelingen soll. Deutlich spricht der Dichter 14 A. a. O., 24.

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die Anfechtung und die Angst vor dem Scheitern aller Mühen an. „Wer fleißig betet und dir traut, wird alles, davor sonst ihm graut, mit tapferm Mut bezwingen; sein Sorgenstein wird in der Eil in tausend Stücke springen“ (Strophe 11). Gerhardt beschreibt sein Verhältnis zu Gott als das Verhältnis des Kindes zu seinem Vater und bittet ihn zu helfen, seinen „Stand“ zu halten, d. h. sich dieser Verhältnisbestimmung entsprechend zu verhalten. Gott ist dann auch für das Gelingen menschlicher Arbeit zu danken: „Dein soll sein aller Ruhm und Ehr, ich will dein Tun je mehr und mehr aus hocherfreuter Seelen vor deinem Volk und aller Welt, so lang ich leb, erzählen“ (Strophe 14). Der Dank an Gott den Schöpfer für die verliehenen Gaben und das Vertrauen auf Gottes Begleitung auf allen Arbeitswegen war als cantus firmus aus meinen Gesprächen herauszuhören, die ich im Lauf der Jahre geführt und dokumentiert habe. Die Dokumentation erhebt nicht den Anspruch auf Repräsentativität. Vielmehr handelt es sich um ausgewählte Personen, die der evangelischen Kirche hoch verbunden sind. Was ist das „Evangelische“ an diesem Verständnis der Arbeit als Beruf ? Wie kommt im Lobpreis des Schöpferhandeln Gottes die Versöhnung durch Jesus Christus zur Sprache? Der Bezug eines Verständnisses von Arbeit als Beruf zum Schöpfungshandelns Gottes ist ökumenisch sicher unstrittig und nicht spezifisch evangelisch.15 Zu einem evangelischen Verständnis von Arbeit als Beruf erscheint es mir darüber hinaus erforderlich, die Rechtfertigungslehre als Grundkriterium evangelischen Glaubens zur Geltung bringen. „So halten wir nun dafür, dass der Mensch gerecht wird ohne des Gesetzes Werke, allein durch den Glauben“ (Röm 3,28). Mit diesem Vers wird der evangelische Glaube an die Rechtfertigung des Gottlosen traditionell biblisch begründet und belegt.16 Für eine Frömmigkeit der Arbeit im evangelischen Sinn ist dieses Verständnis der Rechtfertigung hoch bedeutsam. Denn es begrenzt und relativiert die Bedeutung menschlicher Arbeit. Der vorrangige Rekurs auf die Arbeit als Auftrag des Schöpfers bringt die Gefahr der Überhöhung von Arbeit mit sich. Von der Rechtfertigung her verändert sich der Stellenwert menschlicher Arbeit: Meine Seligkeit oder mein Gottesverhältnis ist weder von der Art und dem Umfang noch von dem Erfolg meiner Arbeit abhängig. Zudem ist Selbsterlösung durch Arbeit ausgeschlossen. Auch mein Wert und meine Würde sind von meiner Arbeit unabhängig. Durch die Anwendung des Rechtfertigungsglaubens auf den Begriff der Arbeit wird ein gesetzliches Missverständnis vermieden. Nur vom Rechtfertigungsglauben her lässt sich eine Pervertierung evangelischer Frömmigkeit der Arbeit zu einem Laborismus vermeiden, welcher dem Kapitalismus in die Hände arbeitet. Mit meiner Arbeit entspreche ich dem 15 Vgl. Hengsbach, Menschenrecht, 164f. 16 Vgl. Brummer, Erwachsenenkatechismus, 301.

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Auftrag des Schöpfers, aber die Arbeit dient lediglich meinem Lebensunterhalt und dem der Meinen. Sie ist in ihrer Bedeutsamkeit auf dieses irdische Leben begrenzt. Diese heilsame Begrenzung ist in einer Zeit der Entgrenzung der Arbeit insbesondere in zeitlicher Hinsicht besonders aktuell: Arbeit ist wichtig, darf aber niemals absolut verstanden werden. Ein Arbeitsverständnis, welches sich vom versöhnenden und erlösenden Handeln Gottes heilsam begrenzt weiß, erlangt in einer Zeit zunehmender Arbeitsverdichtung eine salutogenetische Bedeutung. Ihre praktische Konkretion kann dieses Verständnis in einer Unterscheidung der Zeiten finden. Als Vikar in einem fränkischen Dorf habe ich vor Jahren gesehen und erlebt, dass Menschen bei ihrer Arbeit auf Feld oder Hof innehielten und die Hände falteten, wenn die Kirchenglocken läuteten. Erst kürzlich bat mich eine Verwaltungsmitarbeiterin, sie während des 12-Uhr-Läutens einer nahen Großstadtkirche nicht mit weltlichen Geschäften zu stören, da es ihr wichtig sei, auf der Höhe des Arbeitstages die Arbeit für eine Weile ruhen zu lassen und zu beten: „Verleih uns Frieden gnädiglich, Herr Gott, zu unsern Zeiten. Es ist doch ja kein andrer nicht, der für uns könnte streiten, denn du, unser Gott, alleine“ (EG 421). Wo jemand eine solche Gebetspraxis am Arbeitsplatz für sich als stimmig erlebt, ist dies eine Stress senkende und den Glauben vertiefende Praxis, die aber nicht zu einem allgemeinen Gesetz oder Verhaltenskodex gemacht werden kann. Die biblische Tradition hat von Anfang an aus gutem Grund den menschlichen Schaffens- und Arbeitsdrang begrenzt. Im ersten Buch Mose wird berichtet, dass Gott selbst arbeitet. Aber es wird im gleichen Atemzug hinzugefügt, dass Gott von seiner Arbeit ruht. „Und so vollendete Gott am siebenten Tage seine Werke, die er machte, und ruhte am siebenten Tage von allen seinen Werken, die er gemacht hatte. Und Gott segnete den siebenten Tag und heiligte ihn, weil er an ihm ruhte von allen seinen Werken, die Gott geschaffen und gemacht hatte“ (Gen 2,2f).

Nachdem von der Ruhe Gottes die Rede war, kommt die menschliche Arbeit in den Blick: „Und Gott der HERR nahm den Menschen und setzte ihn in den Garten Eden, dass er ihn bebaute und bewahrte“ (Gen 2,15). Drastisch wird der Mensch nach dem Sündenfall an seine Arbeit gewiesen. „Im Schweiße deines Angesichts sollst du dein Brot essen, bis du wieder zu Erde werdest, davon du genommen bist“ (Gen 3,19). Die heilsame Verknüpfung und der wechselseitige Bezug von Arbeit und Ruhe kommen im Dekalog zentral und wirkmächtig zum Ausdruck. Von daher ist in der jüdisch-christlichen Perspektive immer zugleich von Arbeit und Sabbat bzw. von Werktag und Sonntag zu sprechen. „Gedenke des Sabbattages, dass du ihn heiligst. Sechs Tage sollst du arbeiten und alle deine Werke tun. Aber am siebenten Tage ist der Sabbat des Herrn, deines Gottes. Da

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sollst du keine Arbeit tun, auch nicht dein Sohn, deine Tochter, dein Knecht, deine Magd, dein Vieh, auch nicht dein Fremdling, der in deiner Stadt lebt. Denn in sechs Tagen hat der Herr Himmel und Erde gemacht und das Meer und alles, was darinnen ist, und ruhte am siebenten Tage. Darum segnete der Herr den Sabbattag und heiligte ihn“ (Ex 20,8–10).

Aus dem Sabbatgebot des Alten Testaments wurde in der evangelischen Frömmigkeit das dritte Gebot der Feiertagsheiligung, das in der Auslegung Martin Luthers im Kleinen Katechismus leider um den sozialethischen Anspruch des Sabbats verkürzt wurde. Bei den Interviews wurde mir eindrücklich von allen Gesprächspartnern die Bedeutsamkeit des Sonntags als Ausdruck ihres Glaubens und Bestandteil ihres Lebens vor Augen geführt. Wenn man denn von einer christlichen Lebenskunst sprechen will, dann besteht diese nicht zuletzt darin, den Feiertag zu heiligen und den Sonntag zu begehen. Über die Bedeutsamkeit des Sonntags besteht auch mit denen offensichtlich Übereinstimmung, die aufgrund ökonomischer Notwendigkeiten sich immer wieder genötigt sehen, am Sonntag zu arbeiten. Dem christlichen Zeitempfinden entspricht es, den Sonntag als den ersten Tag der Woche, den Wochenbeginn und den Tag der Auferstehungsfreude zu feiern. Diese bis heute nachwirkende Haltung evangelischer Frömmigkeit kommt stimmig in dem Gesangbuchlied von Johannes Olearius von 1671 zum Ausdruck: „Gott Lob, der Sonntag kommt herbei, die Woche wird nun wieder neu. Heut hat mein Gott das Licht gemacht, mein Heil hat mir das Leben bracht. Halleluja. Das ist der Tag, da Jesus Christ vom Tod für mich erstanden ist und schenkt mir die Gerechtigkeit, Trost, Leben, Heil und Seligkeit. Halleluja. Das ist der rechte Sonnentag, da man sich nicht gnug freuen mag, da wir mit Gott versöhnet sind, dass nun ein Christ heißt Gottes Kind. Halleluja“ (EG 162,1–3).

Die Thematik des Sonntagsschutzes ist heute ein bedeutsames gesellschaftliches Thema, da die Digitalisierung der Wirtschaft massiv dazu tendiert, den Unterschied der Zeiten einzuebnen und alle Zeit zur Arbeitszeit zu machen. Im Zusammenwirken mit den Gewerkschaften haben die christlichen Kirchen, insbesondere die arbeitsweltlichen Dienste, sich in der „Allianz für den freien Sonntag“ für den Sonntag als ökonomiefreien Tag ausgesprochen. An einem Tag in der Woche soll es weder um Kaufen und Verkaufen noch um Produzieren gehen. Damit wird die biblisch begründete Sabbattradition aufgegriffen und gesellschaftspolitisch angewendet auf die Gegenwart. Das geistliche Anliegen des Sonntags im Sinne einer evangelischen Frömmigkeit der Arbeit als Beruf ist damit allerdings noch nicht hinreichend zur Sprache gebracht. Denn am Sonntag bekomme ich die Zeit geschenkt, um mich als Teil der Schöpfung wahrzunehmen. Ich stimme ein ins Lob des Schöpfers. Ich höre auf das Wort von der Versöhnung und lebe bewusst als Erlöster unter Erlösten. Ich nehme die Menschen, mit denen

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ich mein Leben teile, als Mitgeschöpfe wahr und füge mich ein in den Rhythmus von Gottes Schöpfung.

4.

Arbeit als Mandat Gottes

Bisher war ich bemüht aufzuzeigen, dass eine evangelische Frömmigkeit der Arbeit als Beruf eine heute praktizierte und damit mögliche Form christlichen Glaubenslebens bildet. Diese Lebensform ist in der Glaubensüberlieferung der evangelischen Kirche breit begründet. Die Tradition ist lebendig. Sie verdankt sich der prägenden Kraft reformatorischer Theologie. Die Bedeutsamkeit menschlicher Arbeit brachte Martin Luther wortmächtig zum Ausdruck: „Denn von arbeit stirbet kein Mensch; aber vom ledig unnd müssiggehen kommen die leut umb leib und leben; denn der Mensch ist zur arbeit geboren wie der Vogel zu fligen.“17 Mit dieser hohen Wertschätzung der Arbeit als selbstverständlichem Ausdruck der Geschöpflichkeit des Menschen gibt Luther die durchgehende biblische Haltung wieder: „Dann geht der Mensch hinaus an seine Arbeit und an sein Werk bis an den Abend“ (Ps 104,23). Für den Reformator ist klar, dass Menschen arbeiten, aber auch, dass es Gottes Segens bedürfe, wenn das Werk gelingen soll. „Also soll und mus der mensch auch erbeyten und ettwas thun, Aber doch daneben wissen, das eyn ander sey der yhn neere denn seyne erbeyt, nemlich Göttlicher segen, wiewol es scheynet, alls neere yhn seyne erbeyt, weyl Gott on seyne erbeyt yhm nichts gibt. Gleich wie wol das Vöglin nicht seet noch erndtet, Aber doch müsst es hungers sterben, wo es nicht nach der speyse flöhe und suchte. Das es aber Speyse findet, ist nicht seyner erbyt, sondern Gottes guete. Denn wer hat seyne speyse dahyn gelegt, das es sie findet? On zweyffel Gott alleyne.“18

Die Hochschätzung Martin Luthers für die menschliche Arbeit bezieht sich keineswegs ausschließlich auf das, was wir heute Erwerbsarbeit nennen. Vielmehr ist alles menschliche Tätigsein in Haus und Hof, ob bezahlt oder unbezahlt, mit dem Begriff Arbeit gemeint, also selbstverständlich auch das, was heute Haus-, Familien- und Pflegearbeit genannt wird. Der radikale und fundamentale Umbruch und Neuansatz der Reformation besteht darin, dass nicht mehr in der vita contemplativa, also dem klösterlich-geistlichen Leben, die Erfüllung des Christseins gesehen, sondern der Arbeitsalltag als Ort der Glaubenspraxis verstanden wird. Die vita activa, das tätige Leben, ist der dem Christen zugewiesene Gottesdienst im Alltag der Welt. Mit den Worten Luthers: „das man nichts anders suche, sondern mit frölichem gewissen darinne bleibe und wisse, das durch 17 Predigt am 15. Januar 1525, WA 17 I, 23,38–40. 18 Der 127. Psalm ausgelegt an die Christen zu Riga in Liefland, WA 15, 368,9–16.

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solche werck mehr ausgerichtet sey, denn wenn yemand alle Klöster gestifftet und alle orden gehalten hette, Ob es gleich die aller geringste haus erbeit ist.“19 Menschliche Arbeit ist Beruf, weil sie aus Gottes Berufung heraus geschieht und ein Dienst am Nächsten sein will. Aus den vielfältigen schriftlichen und mündlichen Äußerungen Martin Luthers ergibt sich ein eindrucksvolles Panorama von dem, was lange nach ihm einmal protestantisches Arbeitsethos genannt werden sollte. Doch eine Rückbesinnung auf Luthers Lehre vom Beruf wäre unvollständig und letztlich verfehlt, wenn sie sich darauf beschränken würde, was Luther zu unserem menschlichen Arbeiten sagt. Der Reformator verstand nämlich Gott selbst als Arbeiter, der als Schöpfer, Versöhner und Erlöser in dieser Welt nicht nur irgendwann einmal tätig war, sondern, manchmal unter dem Gegenteil verborgen, gegenwärtig unter uns am Werk ist. So schreibt Luther: „Was ist aber alle unser erbeit auff dem felde, im garten, inn der stad, im hause, im streit, im regiern anders gegen Gott, denn ein solch kinderwerck, dadurch Gott seine gaben zu felde, zu hause und allenthalben geben will? Es sind unsers herrn Gotts larven, darunter will er verborgen sein und alles thun“.20

Das heißt nun nicht, dass Gott in seinem Wirken auf uns Menschen angewiesen wäre, aber sehr wohl, dass er, wo und wann es ihm gefällt, auch durch uns Menschen an unseren Nächsten handelt. Weil Gott die Arbeit hochschätzt, deshalb ist er den arbeitenden Menschen bei ihrer Arbeit nahe. Oder noch einmal mit drastischen Worten Luthers: „Sic Christus stehet bey uns im schlamm, und arbeitt, das Ihm die haut rauchett.“21 Eine konsequente Aufnahme von Luthers Lehre vom Beruf erfolgte im 20. Jh. durch Dietrich Bonhoeffer. Er versteht die Arbeit als Mandat Gottes. „Es geht bei der Arbeit, die im Paradies begründet ist, um ein mitschöpferisches Tun der Menschen. Es wird durch sie eine Welt der Dinge und Werte geschaffen, die zur Verherrlichung und zum Dienst Jesu Christi bestimmt ist. Es ist keine Schöpfung aus dem Nichts wie die Schöpfung Gottes, aber es ist ein Schaffen von Neuem auf Grund der ersten Schöpfung Gottes. Kein Mensch kann sich diesem Mandat entziehen. Denn in dem was der Mensch hier in göttlichem Auftrage arbeitet, entsteht jenes Abbild der himmlischen Welt, das den Menschen, der Jesus Christus erkennt, an jene Welt erinnert.“22

Ganz im Sinne Luthers unterscheidet Bonhoeffer bei seiner Rede von der Arbeit klar zwischen Schöpfer und Geschöpf. Aber wie der Schöpfer, so schafft auch der arbeitende Mensch Neues, um so seiner Gottebenbildlichkeit zu entsprechen. 19 20 21 22

Predigt am 5. Oktober 1529, WA 29, 566,38–567,20. Der 147. Psalm, Lauda Jerusalem, ausgelegt, WA 31 I, 436,7–11. Predigt über den Christusnamen “Emmanuel”, WA 4, 608,32–609,1. Ethik, DBW 6, 57.

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Theologisch weiterführend ist Bonhoeffers Rede vom Mandat der Arbeit dadurch, dass sie zwar schöpfungstheologisch begründet, aber christologisch und eschatologisch entfaltet wird. „Durch das göttliche Mandat der Arbeit soll eine Welt entstehen, die – darum wissend oder nicht – auf Christus wartet, auf Christus ausgerichtet ist, für Christus offen ist, ihm dient und ihn verherrlicht.“23 Bonhoeffer versteht den Menschen als zur Gemeinschaft mit Christus berufen. In diesem Zusammenhang spricht er auch vom Beruf in einem weiten theologischen Sinn. „Allein durch den in Christus vernommenen Ruf der Gnade, die mich in Anspruch nimmt, darf ich als Sklave oder Frei[er], verheiratet oder ehelos vor Gott gerechtfertigt leben. Dieses Leben ist nun von Christus her gesehen mein Beruf, von mir her gesehen meine Verantwortung.“24

Bonhoeffer versteht den Begriff Beruf streng vom Handeln Gottes her, und interpretiert ihn verantwortungsethisch. Die durch die eigene Arbeit, verstanden als Berufung zum Beruf, implizierte Beschränkung und Konzentration menschlicher Wirksamkeit erfährt durch Bonhoeffer eine deutliche Ausweitung. Durch meine Berufung bin ich in umfassendem Sinn in die Verantwortung genommen. Wie wenige andere systematische Theologen war und ist Dietrich Bonhoeffer prägend für die evangelische Kirche als geistliche Gemeinschaft. Für unser Nachdenken über die Arbeit als Berufung im geistlich-theologischen Sinn sind auch Bonhoeffers theologische Reflexionen in seinen Gefängnisbriefen „Widerstand und Ergebung“ wegweisend. „Gott ist mitten in unserem Leben jenseitig.“25 Dieses Gottesverständnis wirkt sich unmittelbar auf ein Verständnis der Arbeit als Ort und Gelegenheit des Glaubens aus. Denn jeder Arbeitsplatz ist eine zutiefst diesseitige Angelegenheit. Bonhoeffer betont für sich selbst, „[…] dass man erst in der vollen Diesseitigkeit des Lebens glauben lernt“.26 Die Gedanken und Erfahrungen Bonhoeffers weisen uns, in Fortführung von Luthers Rede vom Beruf, auf ein geistliches Leben mitten in der Welt der Arbeit hin. „Ich habe in den letzten Jahren mehr und mehr die tiefe Diesseitigkeit des Christentums kennen und verstehen gelernt; nicht ein homo religiosus, sondern ein Mensch schlechthin ist der Christ, wie Jesus – im Unterschied wohl zu Johannes dem Täufer – Mensch war. Nicht die platte und banale Diesseitigkeit der Aufgeklärten, der Betriebsamen, der Bequemen oder der Lasziven, sondern die tiefe Diesseitigkeit, die voller

23 24 25 26

A. a. O., 58. A. a. O., 291. Widerstand und Ergebung, DBW 8, 408. A. a. O., 542.

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Zucht ist, und in der die Erkenntnis des Todes und der Auferstehung immer gegenwärtig ist, meine ich. Ich glaube, dass Luther in dieser Diesseitigkeit gelebt hat.“27

In der Konsequenz heißt das, dass in, mit und unter der Arbeitswelt Kreuz und Auferstehung real gegenwärtig geglaubt und erfahren werden können.

5.

Zukünftige Herausforderungen

Eine Frömmigkeit der Arbeit als Beruf bildet einen selbstverständlichen Ausdruck evangelischer Glaubenstradition. Doch wie lebendig ist diese grundlegende Leitvorstellung von der Arbeit als Beruf in der evangelischen Kirche? Ferner stellt sich die Frage, wie diese und ob diese Haltung unter den Bedingungen einer Arbeitswelt 4.0 an die jüngere Generation weitergegeben und künftig noch gelebt werden kann? Die traditionelle Rede von der Arbeit als Beruf spielte im zeitlichen Umfeld des Reformationsjubiläums 2017 in der evangelischen Kirche wieder eine stärkere Rolle als dies in den Jahren zuvor der Fall gewesen war. So nimmt die Denkschrift des Rates der Evangelischen Kirche in Deutschland „Solidarität und Selbstbestimmung im Wandel der Arbeitswelt“ ausdrücklich auf die „Wiederentdeckung der biblischen Wertschätzung der Arbeit in der Reformationszeit“ Bezug: „Die Reformation stellt die aktive Tätigkeit in der Welt und an der Welt in den Mittelpunkt. Die berufliche Arbeit kann als Gottesdienst im Alltag der Welt gewürdigt werden. Das ist die entscheidende Erkenntnis, die zur Ausbildung der protestantischen Arbeitsethik wie auch zur wirtschaftlichen Dynamik geführt hat. Deswegen ist die Gestaltung der Arbeit ein besonderes Anliegen für eine der Reformation verpflichtete Kirche.“28

In der Denkschrift wird von den Mitgliedern der Kammer für soziale Ordnung als besondere Leistung Martin Luthers in Erinnerung gebracht, dass er den Begriff des Berufs aus dem Ordensleben herausgelöst und auf alles weltliche Tätigsein übertragen hat. „Arbeit bzw. das tätige Leben, die vita activa, gilt nach Luther als Gebot Gottes für alle Menschen, wobei – vor dem Hintergrund der damaligen feudalen Gesellschaftsordnung gedacht – jeder in seinem Stand eine spezifische Aufgabe zu erfüllen hat. Der Beruf wird damit zum konkreten Ort der Verantwortungsübernahme für alle Christen. Jede und jeder hat die geschenkten Gaben, seine Charismen, in der konkreten Gestaltung der eigenen Arbeit am jeweiligen Ort zu entfalten“.29 27 A. a. O., 541. 28 Kirchenamt der EKD, Solidarität, 23; im Original kursiv. 29 A. a. O., 24, im Original kursiv.

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Dieser sehr weit gefasste Begriff vom Beruf vermag alle Tätigkeiten des Menschen zu umfassen, die als Dienst am Mitmenschen angesehen werden können. Ein solches Verständnis vom Beruf grenzt sich folgerichtig ab von einem den familiären und weltlichen Bindungen sich versagenden Mönchsleben. Die Verfasser der Denkschrift weisen darauf hin, dass Luther dabei die mit einer solchen Berufung des Menschen zu einem tätigen Leben verbundenen Herausforderungen und Anfechtungen keineswegs idealisiert oder negiert: „Während das Mönchsleben als selbst gewählte Existenz sich der alltäglichen Sorgen zu entledigen trachtet, wird gerade die pflichtgemäße Berufsarbeit von Luther als das von den Christen zu tragende Kreuz interpretiert, wobei er in besonderer Weise die mit jedem Beruf verbundenen Schwierigkeiten als Beweis dieser Deutung heranzieht. In diesem Sinn bekämpft die mit dem jeweiligen Beruf gegebene Verantwortung das selbstsüchtige Wesen des Menschen.“30

Mit ihrem bekräftigenden und aktualisierenden Rückgriff auf Luthers Verständnis von der Arbeit als Beruf kann sich die Sozialkammer der EKD auf die aktuelle sozialethische Diskussion beziehen. So hat der Bochum Sozialethiker Traugott Jähnichen im „Jahrbuch Sozialer Protestantismus“ darauf hingewiesen, dass Luthers Verständnis vom Beruf auf dem Hintergrund und im Zusammenhang der Drei-Stände-Lehre zu verstehen sei: „Grundlegend für das reformatorische Verständnis ist dabei, dass die Stände der ecclesia, der politia und der oikonomia gleich geachtet sind. Zwischen den drei Ständen besteht keine Hierarchisierung, wie sie für die mittelalterliche Überordnung des geistlichen Lebens typisch war. Stattdessen ist in jedem Stand der Dienst am Nächsten zu realisieren, wobei Luther die konkrete Aufgabe der Einzelnen durch den von ihm pointiert geprägten Begriff des Berufes bestimmt hat. Der Beruf in diesem Sinn bezeichnet den konkreten Ort der Arbeit und zielt die von dem Einzelnen im Gehorsam gegenüber Gott bejahte Einordnung in den jeweiligen Stand nach sich.“31

Die neue Hochschätzung der Arbeit durch die Reformation bedeutete in der Folge eine Nachrangigkeit einer primär kontemplativen Lebenspraxis. Auf diese Konsequenz, die in der evangelischen Tradition zu einer weitverbreiteten Zurückhaltung gegenüber Theorie und Praxis der Spiritualität geführt hat, weist Jähnichen hin: „Seit dieser Aufwertung der vita activa durch die Reformation und durch die theologische Bestimmung der Arbeit als Beruf ist das tätige Leben zum zentralen Ort der Bewährung des christlichen Glaubens geworden. Die Ausrichtung auf die Muße, ein Leben in der Kontemplation oder gar das mönchische Leben, welches nicht weltgestaltend wirkt, werden in diesem Horizont in einer grundsätzlichen Weise delegitimiert. Der christliche Glaube zielt die Strebensausrichtung der Menschen seither nicht mehr 30 A. a. O., 25. 31 Jähnichen, Arbeitsethos, 103.

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von der alltäglichen Wirklichkeit ab, sondern diese wird aufgewertet als ein exemplarisches Begegnungsfeld von Gott und Mensch. In der alltäglichen Berufsarbeit dient der Mensch seinem Nächsten, wie es dem Willen Gottes entspricht.“32

Doch hat sich das Verständnis und der Begriff von Arbeit spätestens mit der Industrialisierung im 19. Jh. grundlegend verändert. Umfasste Arbeit bis dahin vielfältige Tätigkeiten in Haus und Hof, wurde sie in der Neuzeit zunehmend zur bezahlten Erwerbsarbeit. Gleichzeitig wird die Erwerbsarbeit zum entscheidenden Garanten von Lebenssinn: „Erwerbsarbeit und Lebenssinn werden von da an immer enger miteinander verknüpft, ein Leben ohne oder jenseits der Erwerbsarbeit wird von den meisten Menschen als verweigerte Teilhabe und Ausgrenzung negativ erlebt. Vor diesem Hintergrund kommt der Krise der Massenarbeitslosigkeit eine umso größere Dramatik zu […]“.33

Die Industrialisierung hat den Stellenwert der Arbeit insgesamt bleibend verändert und eine umfassende Inanspruchnahme des Menschen durch seine Erwerbsarbeit befördert. Hinzu kam, dass diese Erwerbsarbeit nun in der Spannung von Arbeit und Kapital zu erbringen war. Und selbst wenn man davon ausgeht, dass im 20. Jh. feudale frühkapitalistische Arbeitsverhältnisse nicht zuletzt durch Schutzmechanismen eines auf den arbeitenden Menschen abzielenden Arbeitsrechts überwunden oder zumindest eingedämmt worden sind, ist mit Gerhard Wegner gerade heute im 21. Jh. der politische Anspruch einer Rede von der Arbeit als Beruf weiterhin geltend zu machen. „Wer daran festhält, dass hinter jeder Arbeit eine Berufung steckt, der kann sich mit prekärer, fragmentierter Arbeit oder gar ausbeuterischen Arbeitsbedingungen nicht abfinden. Die Idee vom Beruf eines jeden und einer jeden wird (sozial)politisch.“34 Wer heute wieder von der Arbeit als Beruf spricht, wird sich ferner bewusst sein müssen, dass ein klar konturiertes allgemeines Verständnis von Arbeit nicht so einfach vorausgesetzt werden kann wie zu biblischen Zeiten oder auch in der Reformation.35 Auf die Bedeutung des Kontextes für den reformatorischen Berufsbegriff weist der Berliner Ethiker Torsten Meireis hin: „Zentral ist vielmehr die Einsicht, dass die Konkretion des ‚äußeren Berufes‘ im sozialen Kontext zu finden ist, dessen Determinanten die äußeren Bedarfslagen des Nächsten, die eigenen Fähigkeiten, Interessen und Grenzen und die Möglichkeit der Ausbildung derselben darstellen. Die Tatsache, dass wir diesen Kontext anders konzeptualisieren als zu Zeiten der Reformation, erlaubt und erfordert eine modifizierte Aufnahme der Kerngehalte dieses Konzepts“.36 32 33 34 35 36

A. a. O., 105. A. a. O., 107. Wegner, Vorwort, 10. Vgl. Meireis, Tätigkeit, 24ff. Meireis, Arbeit, 34.

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Arbeit unter den Bedingungen der Digitalisierung findet immer weniger zu fixierten Zeiten, am festgelegten Ort des Betriebs und im sich physisch versammelnden, gleichbleibenden Arbeitsteam statt.37 Gleichzeitig wird aus konkreter Not heraus verstärkt gefragt, wie in einer Zeit der Arbeitsverdichtung, die nicht selten bei Arbeitnehmenden zu Burn-out-Problematiken führt, eine Spiritualität der Arbeit eine salutogenetische Wirkung entfalten kann.38 Doch durch wen soll eine Frömmigkeit der Arbeit vertreten, gelehrt oder gar vorgelebt werden? Ist eine Frömmigkeit der Arbeit überhaupt lernbar in einer Zeit, in der immer weniger Menschen mit dem christlichen Glauben aufgewachsen und mit seiner geistlichen Praxis vertraut sind? Eine Frömmigkeit der Arbeit zu entwickeln, stellt eine zentrale Aufgabe für die evangelische Kirche und ihre Verkündigung insgesamt dar, da sie einen konstitutiven Bestandteil des reformatorischen Glaubens bildet. Dabei sehe ich die arbeitsweltlichen Dienste besonders herausgefordert. Die in den 1950er-Jahren in nahezu allen Landeskirchen etablierten Industrieund Sozialpfarrämter entwickelten insbesondere in den 1970er- und 1980erJahren ein primär oder sogar ausschließlich sozialpolitisch ausgerichtetes Selbstverständnis.39 In den letzten Jahren wurde im Kirchlichen Dienst in der Arbeitswelt (KDA) als evangelischer Entsprechung zur katholischen Betriebsseelsorge eine Missionarische Ethik entwickelt. Als Gegenentwurf zu der früheren Soziologisierung des KDA stellte Roland Pelikan in seiner wegweisenden Dissertation von 2009 fest: „Kirche geht als congregatio sanctorum in diese Welt hinein und repräsentiert in ihrer Nachfolge Jesu Christi eine Missionarische Ethik in der Welt, und eben als ethisch notwendig bestimmt als Handeln von Kirche in der Arbeitswelt.“40 Die ekklesiologische Kehre des KDA führte zu einem veränderten Selbstverständnis: Kirchlicher Dienst in der Arbeitswelt ist Kirche, weil er das Evangelium von Jesus Christus bezeugt – martyria, Gottesdienste feiert – leiturgia, Gemeinschaft eröffnet – koinonia und Dienst am Nächsten übt – diakonia.41 Doch nun stellt sich die aus einem solchen neuen Selbstverständnis folgende Frage: Wie wird die Kirchlichkeit des KDA und seiner Mitarbeitenden gelebt? Wie sieht eine geistliche Umsetzung in eine Frömmigkeit der Arbeit aus? Dies scheinen mir die derzeit anstehenden Fragen und die neuen Herausforderungen für diesen kirchlichen Arbeitsbereich zu sein, die konkret zu beantworten umso vordringlicher ist, als insbesondere bei den Erwachsenenbildungsangeboten 37 Vgl. Pelikan/Rehm, Alltag 4.0. 38 Vgl. von Heyl, Salutogenese; Reisinger, Arbeit; Schendel, „God at Work“; Schneider, Spiritualität. 39 Vgl. Rehm/Pelikan/Büttner, Kirchliches Handeln; vgl. Veller, Theologie. 40 Pelikan, Ethik, 18. 41 Vgl. Rehm, Anwalt; ders., Arbeiterfrage, 229ff.

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geistlicher Gemeinschaften der evangelischen Kirche und bei den Veranstaltungen kirchlicher Ehrenamtsorganisationen, etwa dem Arbeitskreis evangelischer Unternehmer (AEU),42 geistlich ausgerichtete Themenstellungen und biblische Impulse bei Menschen in beruflicher Verantwortung auf zunehmend größeres Interesse stoßen. Dieser weitverbreiteten Suche nach Spiritualität gilt es nicht mit der Haltung einer abgehobenen, vergeistigten Heiligkeit, sondern mit einer lebensnahen Frömmigkeit der Arbeit zu begegnen. Eine evangelische Frömmigkeit der Arbeit kann nur dann an Profil und Tiefgang gewinnen, wenn sie die eigene Bekenntnistradition im ökumenischen Horizont auf dem Hintergrund der gemeinsamen altkirchlichen Tradition auszulegen und zu verstehen lehrt. Der lutherische Dogmatiker Gunther Wenz verweist in diesem Zusammenhang unter Rückgriff auf die lutherischen Bekenntnisschriften auf eine Heiligenlegende: „Vom Hl. Antonius, dem Inbegriff des mönchischen Asketen, dessen Vita dank Athanasius (und Augustin) zum Hagiographietypos wurde, erzählt man, er habe Gott einst um ein Hinweiszeichen gebeten, wie weit er auf dem Wege der Vollkommenheit fortgeschritten sei. ‚Da ward ihm‘, so heißt es, ‚angezeigt […] ein Schuster zu Alexandria, und ward ihm gesagt, dem Handwerksmanne wäre er in Heiligkeit gleich. Bald den andern Tag macht sich Antonius auf, zog gen Alexandria, sprach denselbigen Schuster an, und fraget mit Fleiß, was er für ein heiligen Wandel, Leben und Wesen führet. Da antwortet ihm der Schuster: Ich tu nichts besonderes; denn morgens spreche ich mein Gebet vor die ganze Stadt und arbeite darnach mein Handwerk, warte meines Hauses etc. […] Da verstund Antonius bald, was Gott durch die Offenbarung gemeint hätte. Denn man wird nicht durch dies oder jenes Leben gerecht, sondern allein durch den Glauben an Christum‘.“43

Wenz zieht aus dieser Legende folgende theologische Konsequenz: „Nicht eilige Weltfluchten und vorzeitige Schwebezustände sind Kennzeichen evangelischer Heiligkeit, sondern kreaturverbundene Bodenhaftung und eine Liebe zur Welt, die, weil sie zwischen Schöpfer und Geschöpf zu unterscheiden weiß, die Welt Welt und nichts als Welt sein lässt und – im Glauben von der Sorge ums ewige Heil der eigenen Seele gründlich befreit – zu Fürbitte und tätiger Fürsorge für alle Kreatur bereit und in der Lage ist.“44

Eine evangelische Frömmigkeit der Arbeit vermag auch katholische Spiritualität herauszufordern und anzuregen. Ihrerseits wird sie heute neu lernen von der gemeinsamen altkirchlichen Tradition der Kirchen. Insbesondere kann sie sich anregen lassen von der Weisheit der Mönche, speziell von der nie ausschließlich kontemplativen benediktinischen Tradition, im Blick auf den grundlegenden 42 Lysy, Freiheit. 43 Wenz, MEMORIA, 389. 44 A. a. O., 284.

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wechselseitigen Bezug von Arbeit und Gebet. Es lohnt sich darüber nachzudenken, was es für Männer und Frauen, die ihr Christsein im beruflichen Alltag praktizieren wollen, heute konkret bedeuten könnte in diesem Sinn zu leben: „Müßiggang ist der Seele Feind. Deshalb sollen die Brüder zu bestimmten Zeiten mit Handarbeit, zu bestimmten Stunden mit heiliger Lesung beschäftigt sein […]. Sie sind dann wirklich Mönche, wenn sie wie unsere Väter und die Apostel von ihrer Hände Arbeit leben. Alles aber geschehe der Kleinmütigen wegen maßvoll.“45

Literatur Quellen Bonhoeffer, Dietrich, Ethik, DBW 6, Gütersloh 2015. –, Widerstand und Ergebung, DBW 8, Gütersloh 2015. Brummer, Andreas u. a. (Hg.), Evangelischer Erwachsenenkatechismus, Hannover 82010. . Die Bekenntnisschriften der Evangelisch-Lutherischen Kirche (BSLK), hg. im Gedenkjahr der Augsburgischen Konfession 1930, Göttingen 1976. Kirchenamt der EKD (Hg.), Solidarität und Selbstbestimmung im Wandel der Arbeitswelt. Eine Denkschrift des Rates der Evangelischen Kirche in Deutschland (EKD) zu Arbeit, Sozialpartnerschaften und Gewerkschaften, Gütersloh 2015. Luther, Martin, Werke. Kritische Gesamtausgabe, Weimar 1883ff (WA). Rehm, Johannes, Arbeitswege, Nürnberg 2014. Salzburger Äbtekonferenz (Hg.), Die Regel des heiligen Benedikt, Beuron 2006.

Forschungsliteratur Hengsbach, Friedhelm, Ein Menschenrecht auf Arbeit? Orientierungen christlicher Gesellschaftsethik, in: Rehm, Johannes/Ulrich, Hans G. (Hg.), Menschenrecht auf Arbeit? Sozialethische Perspektiven, Stuttgart 2009, 153–184. von Heyl, Andreas u. a. (Hg.), Salutogenese im Raum der Kirche. Ein Handbuch, Leipzig 2015. Jähnichen, Traugott, „Köstlich“ oder „Beschwer“ – Überlegungen zum protestantischen Arbeitsethos und zur Zukunft der Erwerbsarbeit, in: Bedford-Strohm, Heinrich u. a. (Hg.), Kontinuität und Umbruch im deutschen Wirtschafts- und Sozialmodell, Jahrbuch Sozialer Protestantismus, Bd. 1, Gütersloh 2007, 102–119. Lysy, Peter, Unternehmerische Freiheit und unternehmerische Verantwortung. Fünfzig Jahre Arbeitskreis Evangelischer Unternehmer, in: Traugott Jähnichen u. a. (Hg.), Rechtfertigung – folgenlos? Jahrbuch Sozialer Protestantismus, Bd. 10, Leipzig 2017, 241–246. 45 Salzburger Äbtekonferenz (Hg.), Die Regel des heiligen Benedikt, Beuron 2006, 100f.

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Johannes Rehm

Meireis, Torsten, Tätigkeit und Erfüllung. Protestantische Ethik im Umbruch der Arbeitsgesellschaft, Tübingen 2006. Meireis, Torsten, Arbeit als Beruf – eine protestantische Perspektive, in: Arbeitswelten, Jahrbuch Sozialer Protestantismus, Bd. 5, Heinrich Bedford-Strohm u. a. (Hg.), Gütersloh 2011, 15–41. Pelikan, Roland, Ethik lernen in der Arbeitswelt, Berlin 2009. Pelikan, Roland/Rehm, Johannes (Hg.), Arbeit im Alltag 4.0 – Wie Digitalisierung ethisch zu lernen ist, Münster 2018. Rehm, Johannes/Pelikan, Roland/Büttner, Philip (Hg.), Kirchliches Handeln in der Arbeitswelt. Grundlegung – Grenzüberschreitungen – Gestaltungsfelder, Nürnberg 22009. Rehm, Johannes, Anwalt ethischer Grundsätze in der Arbeitswelt. Zum evangelisch-lutherischen Profil des kda, in: Rehm, Johannes/Pelikan, Roland/Büttner, Philip (Hg.), Kirchliches Handeln in der Arbeitswelt. Grundlegung – Grenzüberschreitungen – Gestaltungsfelder, Nürnberg 22009. –/ Ulrich, Hans G. (Hg.), Menschenrecht auf Arbeit? Sozialethische Perspektiven, Stuttgart 2009. –/ Reihs, Sigrid (Hg.), Kirche und unternehmerisches Handeln. Neue Perspektiven der Dialogarbeit, Stuttgart 2010. – (Hg.), Kirche und Arbeiterfrage. Eine sozialwissenschaftlich-theologische Untersuchung zu Nähe und Distanz zwischen Arbeiterschaft und Evangelischer Kirche, Stuttgart 2017. Reisinger, Ferdinand, Art. Arbeit, in: Schütz, Christian (Hg.), Praktisches Lexikon der Spiritualität, Freiburg 1992, 53ff. Schendel, Gunther, „God at Work“ oder wie die „Workplace spirituality“ von Berufung spricht, in: Füser, Anika/Schendel, Gunther/Schönwitz, Jürgen (Hg.), Beruf und Berufung. Wie aktuell ist das reformatorische Berufsverständnis?, Leipzig 2017, 143–174. Schneider, Jörg, Spiritualität und spirituality in der Welt der Arbeit und der Welt der Gesundheit, in: International Journal of Practical Theology, 16/2012, 124ff. Veller, Reinhard, Theologie der Industrie- und Sozialarbeit, Köln/Bonn 1974. Wegner, Gerhard, Vorwort, in: Füser, Anika u. a. (Hg.), Beruf und Berufung, Leipzig 2017, 9ff. Wenz, Gunther, Memoria Sanctorum. Grundzüge einer evangelischen Lehre von den Heiligen in ökumenischer Absicht, in: ders. Grundfragen ökumenischer Theologie, Bd. 1, Göttingen 1999, 283–310.

Martin Honecker

Denkschriften und Spiritualität

Gibt es zwischen den Denkschriften und dem Phänomen der Spiritualität überhaupt eine Beziehung? Sind dies nicht unvergleichbare Phänomene? Denkschriften sind eine moderne Form der Stellungnahme der EKD zu gesellschaftlichen, politischen und wirtschaftlichen Themen, während Spiritualität das Verhalten eines Menschen oder einer Gemeinschaft von Menschen bezeichnet. Unverkennbar besteht eine Spannung oder vorsichtiger formuliert eine Polarität zwischen beiden. Man kann dies abstrakt und prinzipiell als Polarität anthropologischer Grundgegebenheiten darstellen. Person und Institution, Individuum und Gesellschaft bzw. Kollektiv sind derartige Polaritäten. Man kann dies auch als Spannung zwischen existenzieller Erfahrung und struktureller Ordnung beschreiben. Auch im Kirchenverständnis selbst zeigt sich traditionell eine solche Spannung. Martin Luther spricht von zwei Kirchen, Kirche als innerweltliche Organisation und Kirche als geistliche Gemeinschaft, von ecclesia externa und ecclesia interna bzw. spiritualis.1 Luther hielt sogar das Wort Kirche für ein blindes, undeutliches Wort und bevorzugte die Bezeichnung Christenheit oder christliche Gemeinde.2 Doch ehe auf diese Spannung grundsätzlich zurückzukommen ist, empfiehlt es sich zunächst, die Begriffe Denkschrift und Spiritualität je gesondert für sich zu betrachten.

1.

Denkschriften

1. Denkschriften sind offizielle Veröffentlichungen der Evangelischen Kirche in Deutschland.3 Kirchengemeinden und Landeskirchen erarbeiten und verfassen keine Denkschriften. Manchmal scheint es so, dass die Produktion von Stel1 Von dem Papsttum zu Rom (1520), WA 6, 285–324; vgl. Heckel, Kirche, 11–131. 2 Von den Konziliis und Kirchen (1539), WA 50, 625, 5. 3 Literatur zu den Denkschriften: Kirchenamt, Denkschriften; Habermas, Strukturwandel; Schulze, Dialog; Huber, Öffentlichkeit; Honecker, Denkschriften; ders., Sozialethik, 649–661, Schröer, Denkschriften; Albrecht, Denkschriften.

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Martin Honecker

lungnahmen zu öffentlichen Angelegenheiten, also die Publikation von Denkschriften, in erster Linie dem Beweis der Daseinsberechtigung der EKD dient. Die Herderkorrespondenz beobachtete jüngst eine starke Diskontinuität des Rates der EKD seit 2009 und folgert daraus: „Dies zeigt sich etwa daran, dass sich gegen Ende der Amtszeit eines Rates die ‚Denkschriften‘ und andere Papiere häufen, die in den zurückliegenden Jahren erarbeitet wurden und danach womöglich niemanden mehr interessieren.“4 Es könnte sogar sein, dass das Genus der Denkschriften nur eine Epoche der Geschichte der Evangelischen Kirche in der Nachkriegszeit kennzeichnet. Die EKD hat 1962 die erste Denkschrift veröffentlicht. Von 1962 bis 2015 sind 30 Denkschriften der EKD erschienen. 2. Vorgeschichte. Denkschriften nannte man Eingaben an staatliche Behörden oder auch Abhandlungen einer gelehrten Körperschaft. J.H. Wichern nannte seinen programmatischen Beitrag zur sozialen Frage von 1849 „Die Innere Mission der deutschen evangelischen Kirche. Eine Denkschrift an die deutsche Nation“. Der Centralausschuss der Inneren Mission veröffentlichte 1854 eine Denkschrift zur Sonntagsheiligung. Im 19. Jh. waren wegen des landesherrlichen Kirchenregiments keine Veröffentlichungen der institutionellen Kirchenleitung zu sozialen und wirtschaftlichen Fragen möglich. Auch die an den „Führer und Reichskanzler“ Adolf Hitler gerichtete Eingabe der Deutschen Evangelischen Kirche 1936 trug den Titel „Denkschrift“. Inzwischen werden Memoranden oder Kommissionsberichte außerhalb der evangelischen Kirche kaum noch Denkschriften genannt. Faktisch verweist der Titel „Denkschrift“ inzwischen nur noch auf Erklärungen der EKD gegenüber der Öffentlichkeit. Der Typus Denkschrift entstand nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs und der kriegerischen Katastrophe Deutschlands. Gegen die evangelische Kirche wurde damals der Vorwurf erhoben, sie habe mit ihrer Verkündigung und mit ihrem Verhalten gegenüber dem totalen nationalsozialistischen Staat versagt. Nun wollte man im Verhältnis zu Öffentlichkeit und Staat einen völligen Neuanfang machen.5 Dieser Öffentlichkeitswille der evangelischen Kirche betraf vor allem das Verhältnis zum Staat. Nach 1945 gab es sogar im Staatskirchenrecht eine Zeit lang die These, Kirche und Staat seien gleichberechtigte Größen. Dies entsprach nach 1945 der damaligen klassischen römisch-katholischen Lehre, wonach Kirche und Staat vollkommene Gesellschaften, societates perfectae, sind. Dahinter steht noch die mittelalterliche Lehre vom corpus Christianum, in welchem Papst und Kaiser gemeinsam die Herrschaft ausüben. Darauf berief sich 4 Zenker, evangelische Bischöfe, 17. Schon H. Schröer meinte 1981 zu den Denkschriften: „wenn sich auch inzwischen Abnützungserscheinungen zeigen und eine feste Begriffsbestimmung nicht eingebürgert hat.“, ders., Denkschriften, 494. 5 Stuttgarter Schuldbekenntnis; Greschat, Schuld; Besier/Sauter, Schuld bekennen.

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nach 1945 die Koordinationslehre, wonach Staat und Kirche gleichberechtigte Verhandlungspartner sind. Diese Theorie stößt freilich auf den Anspruch des Staates auf innere Souveränität. Außerdem sind dann andere gesellschaftliche Kräfte, societates, nachgeordnet, wie Ehe und Familie, Wirtschaft, Wissenschaft, soziale und kulturelle Verbände. Die Theorie übersieht ferner, dass es in der Neuzeit neben Kirche und Staat eine dritte unabhängige Größe gibt, nämlich die Gesellschaft, die ihre eigenen Interessen und Ziele verfolgt und sich selbstständig organisiert. Die Koordinationstheorie wurde deshalb abgelöst durch das Modell der Kooperation. Das Verhältnis von Kirche und Staat soll das Verhältnis einer Partnerschaft sein. Im weltanschaulich neutralen Staat gibt es keine Privilegierung einer Kirche oder Weltanschauung. Deshalb vereinbarte man nach 1945 Verträge zwischen Staat und evangelischer Kirche; mit der katholischen Kirche werden Konkordate geschlossen. Die Präambel des Loccumer Vertrags von 1955 wurde zum Vorbild einer „freiheitlichen Ordnung des Verhältnisses von Kirche und Staat“.6 Denn der Vertrag wurde geschlossen „im Bewusstsein der gemeinsamen Verantwortung für den evangelischen Teil der Bevölkerung“ und „in Übereinstimmung über den Öffentlichkeitsauftrag der Kirche und ihrer Eigenständigkeit“. Das Vertragsstaatskirchenrecht enthält keine spezifische Privilegierung der öffentlichen Stellung der Kirche. Es lässt sich damit einfügen in eine Verbändetheorie. Aus der Sicht des Staates ist Kirche ein Verband, über dessen Anliegen man miteinander verhandeln und miteinander sprechen muss. Der Staat kann nicht die Kirche betreffendes Recht ohne Beachtung der Wünsche und Interessen der Kirche setzen. Aus der Perspektive der Kirche, ihrer Innensicht, ist sie kein Zweckverband zur Verwirklichung bestimmter Interessen und Bedürfnisse der Mitglieder, sondern geistliche Gemeinschaft. Der Loccumer Vertrag zielt auf eine Zusammenarbeit von Kirche und Staat und nimmt zugleich eine Kompetenzabgrenzung vor. Von einem spezifischen Öffentlichkeitsauftrag der Kirche kann zwar keine Rede sein. Die Kirche hat aber Anspruch auf öffentliches Gehör, genauso wie andere Gruppen, Verbände und gesellschaftliche Kräfte. Daher ist von einer öffentlichen Verantwortung der Kirche zu reden. In diesen Kontext gehören die Denkschriften als Paradigmen öffentlicher Verantwortung. Unmittelbar nach 1945 haben zunächst kirchliche Gremien wie Synoden und Kirchenleitungen regelmäßig Erklärungen abgegeben, die man zumeist Kundgebungen oder auch „Worte“ nannte. Das Problem solcher spontan verfassten Worte war, dass sie jeweils abgefasst und veröffentlicht wurden aus Anlass von Sitzungen oder Synodaltagungen. Solche Äußerungen erfolgten tagesaktuell. Sie setzten keine gründlichen und sorgfältigen Analysen voraus, sondern wurden ad hoc formuliert. Darum trugen sie appellativen Charakter. Themen der Nach6 Loccumer Vertrag.

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kriegszeit waren die Teilung Deutschlands, die auch die Kirche fundamental betraf, die Sorge um die Erhaltung des Friedens, die wirtschaftliche Lage oder die Entnazifizierung. Die Wirksamkeit dieser öffentlichen Voten und Erklärungen war begrenzt oder lediglich kurzzeitig wirksam. Deshalb suchte man nach einem anderen Typus kirchlicher Erklärungen. Aufgrund solcher Erfahrungen kam es zu Denkschriften. 3. Als Vorbild galten dabei vermutlich die lehramtlichen Stellungnahmen der römisch-katholischen Kirche, vor allem die päpstlichen Enzykliken.7 Enzykliken sind seit langer Zeit öffentliche Erklärungen zu moralischen, sozialen, wirtschaftlichen und politischen Themen und Fragen. Sie beanspruchen nicht wie Dogmen und lehramtliche Äußerungen zu dogmatischen Themen eine überzeitliche Geltung. Oft sind sie kontextbezogen und bewerten manchmal sogar besondere politische Entwicklungen wie den stalinistischen Kommunismus8 und den Nationalsozialismus.9 Strukturell ist das Modell der Denkschriften den Enzykliken vergleichbar. Aber es bestehen gleichwohl gewichtige Unterschiede. Evangelische Kirchen können sich nicht auf eine institutionalisierte lehramtliche Autorität berufen. Die Kirchenleitung hat nicht eine besondere lehramtliche Kompetenz. Das ist eine Folge der Reformation. Man braucht das Lehramt des Papstes nicht zu verteufeln. Aber evangelische Kirche kennt nicht eine dem päpstlichen Lehramt entsprechende Autorität, die nicht nur für kirchliche Lehre, doctrina, sondern auch für die Sittlichkeit, mores, verbindliche Vorschriften erlassen kann. Die zweite Differenz besteht darin, dass die katholische Kirche seit der Enzyklika Rerum novarum von 1891 über eine kirchenamtliche Soziallehre verfügt. Bis 1945 hatte die evangelische Kirche keine Soziallehre oder Sozialethik. Unter dem landesherrlichen Kirchenregiment konnte es keine soziale Theorie der Kirche geben; dafür war der Staat da. Auch im Totalstaat des Dritten Reiches war eine kircheneigene Gesellschafts- und Soziallehre nicht denkbar. Die „Soziallehren der christlichen Kirchen und Gruppen“ (1912) von Ernst Troeltsch enthalten zwar sehr viel historisches Material. Aber Troeltsch hatte bewusst für die Gegenwart auf eine theologisch begründete und systematisch konzipierte Soziallehre verzichtet. Die katholische Tradition hingegen verfügt im Naturrecht über eine Basis für eine Sozialtheorie. Die Auslegung des Naturrechts obliegt dem Lehramt. Über die Probleme und Grenzen des Naturrechts ist hier nicht zu handeln. Ein zeitloses 7 Eine Enzyklika ist ein päpstliches Rundschreiben. Die erste Sozialenzyklika „Rerum novarum“ veröffentlichte Papst Leo XIII. 1891. 8 Enzyklika zum Kommunismus: Divini redemptoris (1937). 9 Enzyklika zum Nationalsozialismus: Mit brennender Sorge (1937).

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metaphysisches Naturrecht verfehlt die geschichtliche Realität. Als ontologisches Prinzip beansprucht, ist das Naturrecht problematisch. Befreiungstheologien und politische Theologien haben daher die naturrechtliche Begründung von Sozialethik und politischer Theorie infrage gestellt. Dessen ungeachtet, erschließt ein naturrechtlicher Ansatz einen Zugang zu natürlichen, allgemeinen Phänomenen und Lebensformen. Außerdem gibt es übergreifende Prinzipien wie Personalität, Solidarität und Subsidiarität, sowie eine Ausrichtung auf das Gemeinwohl. Zudem gibt es eine personalistische und phänomenologische Konzeption von Naturrecht neben einer ontologischen, metaphysischen Grundlegung. Wie immer die Grundlegung des Naturrechts ausgestaltet wird, hat damit die katholische Soziallehre einen Ausgangspunkt. Die evangelische Sozialethik beruft sich hingegen auf das Prinzip des „sola scriptura“, allein die Schrift. Welche Probleme für eine moderne Sozialethik sich aus dem Grundsatz der Schriftgemäßheit ergeben, wird noch zu erörtern sein. Das evangelische Modell der Denkschriften musste folglich eine andere Grundlage erarbeiten. 4. Inzwischen gibt es eine Fülle von Erklärungen der EKD, die summarisch als Denkschriften bezeichnet werden. Sie bewegen sich im Spannungsfeld von Kirche und Gesellschaft, Glaube und moderner Welt. Ob die Veröffentlichungen den Titel „Studie“, „Beitrag“, „Wort“, „Thesenreihe“, „Handreichung“ „Orientierungshilfe“, „Impulspapier“, „Grundlagentext“ tragen, ist sekundär. Das Wort „Denkschrift“ steht insgesamt für Veröffentlichungen der EKD. Zwischen Veröffentlichungen, die ausdrücklich Denkschriften genannt sind, und anderen Bezeichnungen ist keine klare Trennlinie zu ziehen. Denn gemeinsam ist ihnen, dass sie von einer Kommission von Experten und Repräsentanten unterschiedlicher Meinungen erarbeitet werden. Deren Konsens soll das Fundament der Stellungnahme geben. Der Konsens tritt daher an die Stelle des Naturrechts.10 Die Mitglieder der Kommission werden vom Rat der EKD für die Dauer der Amtszeit des Rates berufen. Macht der Rat sich die Ausarbeitung zu eigen, so wird dies durch ein Vorwort bekräftigt. Das sind dann offizielle Dokumente der EKD. Bei den Denkschriften sind zwei Zielrichtungen zu unterscheiden. Sie können einmal innerkirchliche Themen behandeln. Dazu gehören Texte wie „Aufwachsen in schwieriger Zeit. Kinder in Gemeinde und Gesellschaft“ (1995), sowie Äußerungen zum Religionsunterricht, zu Schulen in evangelischer Trägerschaft, zur Erwachsenenbildung wie „Kirche und Bildung“ (2010), und „Kirche und Jugend“ (2010). Auch zur Diakonie und zu Religion und Kultur in evangelischer Perspektive gibt es Stellungnahmen: „Räume der Begegnung“ (2002). Dazu kommen Orientierungshilfen zu Abendmahl, Taufe und Gottesdienst und Studien zum Verhältnis des Christentums zum Judentum und zum Islam. Theolo10 Vgl. Riedner, Kammer.

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gische Themen sind „Rechtfertigung und Freiheit. 500 Jahre Reformation“ (2014) oder der Grundlagentext „Für uns gestorben. Die Bedeutung von Leiden und Sterben Jesu Christi“ (2014). Diese vor allem an innerkirchliche Adressaten gerichteten Texte bleiben hier beiseite. Dagegen wendet sich ein anderer Typus von Denkschriften betont an Gesellschaft und Politik. Lediglich dieser Typus soll im Folgenden betrachtet werden. Thematische Schwerpunkte sind Friede, Menschenrechte, Entwicklungspolitik, soziale Ordnung, Wirtschaft, Ehe und Familie, Bildung und Erziehung, Information und Medien. Es geht also um gesellschaftliche Themen. Mit diesen Denkschriften wendet sich die Kirche an die Öffentlichkeit insgesamt, wobei auch, aber nicht primär, Christen angesprochen werden. Unter dieser Perspektive wird im Folgenden das Phänomen „Denkschrift“ erörtert.11 5. Die erste Denkschrift „Eigentumsbildung in sozialer Verantwortung“ von 1962 befasst sich mit dem Problem der Eigentumsverteilung. Gegenstand war dabei nicht vornehmlich der persönliche Umgang von Christen mit Eigentum, sondern die Eigentumsordnung. Damit wurde deutlich gemacht, dass die EKD auch zu Fragen und Problemen der sozialen, wirtschaftlichen und politischen Ordnung Position beziehen will. Unter dem Aspekt einer strikten Personal- und Individualethik freilich werden Aspekte der Ordnung und Gestaltung von Strukturen weithin aus der Ethik ausgeklammert und der sozialwissenschaftlichen Analyse und politischen Theorie überlassen. Symbolisch dafür steht die Chiffre von der „Eigengesetzlichkeit“ der Politik, Wirtschaft und sozialen Verfassung des Gemeinwesens. Danach griff die Kammer für soziale Ordnung Themen auf wie „Mitbestimmung in der Wirtschaft“ (1968), zu Armut in Deutschland „Gerechte Teilhabe. Befähigung zu Eigenverantwortung und Solidarität“ (2006), mehrfach zur Arbeitslosigkeit, zu „Solidarität und Selbstbestimmung im Wandel der Arbeitswelt“ (2015). Auch die Landwirtschaft war häufiger Thema: „Die Neuordnung der Landwirtschaft in der BRD als gesellschaftliche Aufgabe“ (1965), und „Landwirtschaft im Spannungsfeld zwischen Wachsen und Weichen. Ökologie und Ökonomie, Hunger und Überfluss“ (1984), außerdem zum Klimawandel „Umkehr zum Leben. Nachhaltige Entwicklung im Zeichen des Klimawandels“ (2009). Zur Gesundheitspolitik nahm Stellung „Und unsern kranken Nachbarn auch: Aktuelle Herausforderungen der Gesundheitspolitik“ (2012). Greift man solche aktuellen Herausforderungen auf, so muss man sich freilich bewusst sein, dass diese Probleme und Aufgaben immer umstritten sind. Bereits die Analyse und die Bewertung des Sachstands ist oft strittig. Auch Lösungsvorschläge können recht gegensätzlich ausfallen, je nach Prioritätensetzung, Gewichtung, Perspektive und Interesse. Deshalb können kirchliche Worte oft nur 11 Honecker, Sozialethik, 649–661.

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auf bestehende Probleme hinweisen und Lösungen anmahnen, unter Umständen auf übersehene Gesichtspunkte aufmerksam machen und ein Für und Wider darstellen. Die kirchliche Stellungnahme kann dann bloß ein Diskussionsbeitrag zur öffentlichen Debatte und politischen Aufgabe sein. Kirchen können nämlich nicht anstelle der politisch Verantwortlichen und Zuständigen entscheiden, manchmal nicht einmal präjudizieren. In der Demokratie haben Kirchen kein direktes politisches Mandat. Auch führen politische Entscheidungen, gesetzliche Regelungen und Maßnahmen in einer freiheitlichen, pluralistischen Demokratie zumeist zu Kompromissen. Ein Kompromiss beruht auf der hohen Kunst, zwischen divergierenden Interessen und Überzeugungen für alle oder wenigstens für möglichst viele verträgliche und zumutbare Lösungen zu finden. Denn in der Politik gibt es keine absolute, endgültige Lösung, keine absolute Wahrheit. Das besagt nicht, dass man auf menschlich untragbare Regelungen und Verhältnisse nicht mit Nachdruck aufmerksam machen kann und muss und ein Abstellen von Unrecht und Missständen fordern soll. Am bekanntesten und politisch wirksamsten wurde die Ostdenkschrift „Die Lage der Vertriebenen und das Verhältnis des deutschen Volkes zu seinen östlichen Nachbarn“ (1965). Sie hat für die politische Verständigung dieselbe Bedeutung wie der Briefwechsel zwischen den polnischen und deutschen katholischen Bischöfen zur Aussöhnung zwischen Polen und Deutschen.12 Die kirchlichen Voten spielten eine wichtige Rolle bei der Vorbereitung der Ostpolitik und bei der Anerkennung der Oder-Neiße-Grenze. Die Denkschrift erregte damals heftigen Widerspruch in der Gesellschaft und löste eine entsprechende Kritik von Politikern aus. Die Intention der Denkschrift war eine doppelte: Sie wollte einmal auf die soziale und geistige Lage der Vertriebenen eingehen und zugleich vor Illusionen warnen. Sodann ging es um die Aussöhnung von Deutschen und Polen, die zum Teil in großem Misstrauen und Hass gegeneinanderstanden. Beides waren seelsorgerliche Anliegen, die jedoch von den politischen Implikationen nicht absehen konnten. Die „Ostdenkschrift“ gilt für viele als Vorbild für die öffentliche Wirkung einer Denkschrift und die politische Rolle der Kirche. Dabei wird freilich nicht immer deutlich genug erkannt, worauf die Wirkung der Denkschrift beruht. Sie bezog eben nicht eine prononcierte politische Position, sondern sie legte auf der Argumentationsebene gründliche Abwägungen mithilfe der politischen Vernunft vor und deutete am Ende nur knapp die möglichen Konsequenzen in der Grenzfrage an. Sie wollte gar nicht die Oberschicht tagespolitischer Kontroversen ansprechen, sondern die Tiefenschicht der Überzeugungen und Motivationen. Indem sie offen über ein fundamentales Problem redete, brach sie ein Tabu und ermöglichte wiederum Reden. Darauf beruhte ihre Wirkung. 12 Kerski u. a., Briefwechsel; die Initiative ging von den polnischen Bischöfen aus.

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Als besonders gewichtige Voten sind außerdem zu nennen: Die Friedensdenkschrift „Frieden wahren, fördern und erneuern“ (1981), die in der Nachrüstungsdebatte und angesichts der innerkirchlichen Konfrontation von Pazifisten und Befürwortern militärischer Sicherung im Blick auf die Weltlage sich um Verständigung bemühte. Inzwischen wurde die Friedensdiskussion in Äußerungen der EKD aufgrund der veränderten Weltlage und nach dem Ende des Kalten Kriege mehrfach fortgeschrieben, z. B. „Aus Gottes Frieden leben, für gerechten Frieden sorgen“ (2007). Eine innerkirchliche Ortsbestimmung in der Beurteilung des Staates nimmt die Demokratiedenkschrift „Evangelische Kirche und freiheitliche Demokratie. Der Staat des Grundgesetzes als Angebot und Aufgabe“ von 1985 vor. Die Beurteilung des gegenwärtigen Wirtschaftssystems nahm die Wirtschaftsdenkschrift vor: „Gemeinwohl und Eigennutz. Wirtschaftliches Handeln in Verantwortung für die Zukunft“ (1992), sowie die Denkschrift „Unternehmerisches Handeln in evangelischer Perspektive“ (2008). Allein schon die Auswahl der Themen und Veröffentlichungen markiert die Schwerpunkte dessen, was im Blickfeld der EKD lag und liegt. 6. Zu den Denkschriften zählen inzwischen auch Texte, die gemeinsam mit anderen Kirchen, vor allem der römisch-katholischen Kirche, vorbereitet und veröffentlicht wurden. Ein solcher ökumenischer Text zur Verantwortung für das Leben ist: „Gott ist ein Freund des Lebens“ (1991). Gemeinsame Stellungnahmen verdeutlichen, dass gesellschaftliche Herausforderungen in der Regel nicht eine einzelne Konfession, sondern Christen und Kirchen insgesamt betreffen. Dabei zeigt sich, dass bei vielen Problemen, auf die Antworten gesucht werden, genügend Übereinstimmung vorhanden ist, um sich gemeinsam zu äußern. In der Öffentlichkeit und in der Politik wird die kirchliche Stimme eher wahrgenommen, wenn sie gemeinsam spricht. In vielen gesellschaftlichen Fragen verlaufen zudem die Trennlinien nicht mehr zwischen den Konfessionen, sondern quer zu konfessionellen Grenzen innerhalb einer Kirche. Außerdem fordert auch die ökumenische Gemeinsamkeit zu gemeinsamem Reden und Handeln auf. In sozialethischer Hinsicht paradigmatisch ist das gemeinsame Wort des Rates der EKD und der deutschen Bischofskonferenz „Für eine Zukunft in Solidarität und Gerechtigkeit“ (1997). Bemerkenswert ist bei diesem Text, dass er, anders als die Denkschriften der EKD, in einem zweieinhalbjährigen Konsultationsprozess vorbereitet wurde und dadurch eine intensive Partizipation in Kirche und Öffentlichkeit ermöglichte. Die Basis einer solchen Konsultation war ein Impulspapier 1994. Die einleitende „Hinführung“ im gemeinsamen Wort 1997 gibt Auskunft über die Hauptgedanken des Wortes. Deutlich wird betont, dass ein Wort der Kirchen weder ein alternatives Sachverständigengutachten noch ein Jahreswirtschaftsbericht sei. Vielmehr wird festgestellt: „Die Kirchen wollen nicht selbst Politik machen, sie wollen Politik möglich machen.“ Deshalb lädt das

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Wort zu einem „weitergehenden öffentlichen Gespräch“ ein. Es plädiert inhaltlich für soziale Marktwirtschaft, Sozialstaat und soziale Sicherung und Subsidiarität. Angestrebt wird also nicht ein völlig anderes System als Alternative. Wohl aber bedarf es einer Weiterentwicklung und Korrektur des Bestehenden, also von Reformen. „Die soziale Marktwirtschaft braucht eine strukturelle und moralische Erneuerung.“13 7. Der Überblick über bisherige Themen belegt eine Konzentration auf Fragen des politischen und sozialen Lebens. Themenbereiche wie die wissenschaftlichtechnische Lebenswelt, die Macht der Medien, der Einfluss der Kultur und der Rechtsbereich treten dagegen zurück und bleiben am Rand. Man kann diese Konzentration auf politische und soziale Themen auch als Ausdruck der traditionellen Staatsbezogenheit des Protestantismus interpretieren. Adressat ist zuerst die Politik, danach die Gesellschaft. Die Kontroverse um die Ostdenkschrift führte dazu, dass der Rat der EKD die nicht die Ostdenkschrift verfassende Kammer für soziale Ordnung beauftragte, eine eigene Denkschrift zum Gegenstand Denkschriften vorzulegen. 1970 wurde die Denkschriften-Denkschrift „Aufgaben und Grenzen kirchlicher Äußerungen zu gesellschaftlichen Fragen“ publiziert.14 Sie ist sehr geschickt gegliedert nach den alten rhetorischen Elementen der „inventio“ im Rhetorikunterricht. Der Hexameter lautet: „quis, quid, ubi, quibus auxiliis, quomodo, quando“, also: Wer, was, zu wem, wo, mit welchen Mitteln, auf welche Weise, wann“. Die Kirchen haben das Recht, am öffentlichen Dialog der gesellschaftlichen Kräfte teilzunehmen. „Nicht, dass sich die Kirche in den Dialog einschaltet, bedarf […] also einer Begründung, wohl aber, wie das geschieht und ob die Art und Weise der Rolle der Kirche im demokratischen Gemeinwesen entspricht.“ (Nr. 7). Eingangs wird erörtert, warum sich die Kirche zu politischen und gesellschaftlichen Fragen äußern soll und muss (Nr. 10ff). Sodann werden unterschiedliche und verschieden gewichtige Einwände gegen derartige kirchliche Äußerungen diskutiert (Nr. 18ff). Unter „Wer redet?“ wird betont – zu Recht –, dass solches Reden nicht nur kirchenleitenden Organen wie Kirchenleitungen und Synoden zusteht (Nr. 18ff). Auch wird zwischen der rechtlichen Verbindlichkeit bei Rechtsgeschäften, für die die Kompetenz klar sein muss, unterschieden (Nr. 30). Missverständnisse und Einwände werden abgewehrt (Nr. 40ff). „Zu wem wird gesprochen“ (Nr. 44ff): Im Einzelfall kann es konkrete Adressaten geben, aber prinzipiell ist die Öffentlichkeit insgesamt angesprochen. Eingeräumt wird überdies: „Kirchliche Stellungnahmen decken sich nicht selten mit entsprechenden Argumentationen und auch ethischen Motivationen von 13 Solidarität und Gerechtigkeit, 17. 14 Aufgaben und Grenzen; zitiert wird im Text nach den Nummern, nicht nach Seitenzahl.

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Nichtchristen“ (Nr. 52). Mit der Frage: „Wann soll sich die Kirche äußern?“ ist nach dem rechten Kairos einer öffentlichen Stellungnahme gefragt. „Der Zeitpunkt der Kirche ist vor allem dann gekommen, wenn konkurrierende gesellschaftliche Gruppen zu sachgemäßen Interessenbindungen außerstande sind oder eine Gruppe, vor allem Benachteiligte, ihr Anliegen nicht zu Gehör bringen können“ (Nr. 60). Für das Reden von Kirche gibt es sowohl ein Zu-Früh als auch ein Zu-Spät. „Dass die Kirche einmal zu früh redet, ist wohl bei weitem die geringere Gefahr“ (Nr. 59). Die Frage allerdings, ob sie überhaupt reden soll, wird nicht aufgegriffen. Es folgen „Gesichtspunkte zur Erarbeitung kirchlicher Stellungnahmen“ (Nr. 61ff). Am Ende stehen Hinweise zur Annahme und Auswirkung (Nr. 72–75). Da Denkschriften auf Dialog angelegt sind, ist zu beachten: „In sprachlicher Hinsicht ist zu bedenken, dass die Denkschrift sich auch an Leser wendet, die nicht Hörer der Predigt sind“ (Nr. 75). Auffallend ist, dass das „Quid“, der Inhalt, bei den Stichworten nicht eigens reflektiert wird. An dieser Stelle stehen „Gesichtspunkte zur Erarbeitung kirchlicher Stellungnahmen“ (Nr. 61–71). Die Ausführungen dazu sind karg und disparat. Das ist die Achillesferse der Denkschrift. Offenkundig ist es schwierig anzugeben, was überhaupt Inhalt und Gegenstand von Denkschriften ist oder sein kann. Die Denkschriften-Denkschrift verweist darauf, dass die jeweilige Situation neu zu prüfen sei und dass von Denkschriften nicht ein Grundriss der Ethik mit inhaltlich bestimmten Entscheidungs- und Urteilskriterien zu erwarten sei. Das ist zutreffend. Daher legt sie stattdessen lediglich Arbeitserfahrungen vor. In Denkschriften gehe es um ein Zusammenspiel von Glaubenserkenntnissen und vernunftgemäßem Erfahrungswissen (Nr. 62). „Mitunter zeigt sich bei kirchlichen Äußerungen zu gesellschaftlichen und politischen Fragen, dass die Glaubensaussage verhältnismäßig beziehungslos zur Umschreibung des Sachverhalts und zu dem schließlich gewonnenen Ergebnis bleibt“ (Nr. 64). Deswegen scheint lediglich ein pragmatisches Vorgehen möglich zu sein. Die Entscheidung kann dann „nur im Hin und Her zwischen theologischen und durch Sachanalyse geleiteten Erwägungen gewonnen werden“ (Nr. 64). Eingangs werden Legitimationen für öffentliche Äußerungen der Kirche gegeben: Das ist einmal der „umfassende Verkündigungs- und Sendungsauftrag der Kirche (Nr. 8, 10, 12 u. ö.). Das ist zum anderen der partnerschaftliche Dialog in einer freiheitlichen demokratischen Gesellschaft (Nr. 7). Zwischen beiden Legitimationen bestehen freilich unverkennbare Unterschiede. Der Verkündigungsauftrag ist sachlich bezogen auf Evangelium und Glaube, Heil und Gnade. Die Formel „umfassender Verkündigungsauftrag“ ist allerdings inhaltlich unbestimmt. Verkündigt, proklamiert, werden auch Gesetze, Amtsübertragungen, wichtige Informationen. Die bloß formale Berufung auf einen Verkündigungsauftrag ist unscharf. Mit der Betonung des „umfassend“ könnte man sogar auf eine Allzuständigkeit der Kirche in öffentlichen Angelegenheiten schließen. Das

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wäre aber fragwürdig. Denn Lebensgebiete und Institutionen haben ihre je eigene relative Selbständigkeit. Wirtschaft, Politik, Recht, Wissenschaft und Bildung, auch Religion und Weltanschauung haben zwar keine absolute, aber relative Eigengesetzlichkeit. Kirche gehört in das Lebensgebiet „Religion“. Dadurch ist eine umfassende und übergreifende Zuständigkeit der Kirche beschränkt. Das Wort der Kirche ist Zuspruch des Evangeliums und Einladung zum Glauben. Inzwischen ist man auch weithin von der Basisformel „Verkündigung des Wortes Gottes“ abgekommen und spricht von „Kommunikation des Evangeliums“. Die Beteiligung am Dialog bedarf nachprüfbarer Argumente. Sie setzt auf Verständigung mithilfe der Vernunft. Die Denkschrift gibt zwei Kriterien für die Beurteilung der Kirchlichkeit einer Äußerung an: Schriftgemäßheit und Sachgemäßheit (Nr. 32, 61ff). beide Kriterien sind nicht präzis. Was sachgemäß ist, kann man unterschiedlich bewerten. Sachgemäß kann besagen, was machbar ist, was funktioniert, technisch funktionsgerecht ist. Es kann aber auch besagen, was menschlich zumutbar und verträglich ist. Machbarkeit als Kriterium von sachgemäß legitimiert instrumentelles Handeln. Technisches Handeln ist Potenzial und Inbegriff eines tendenziell universalen Herrschaftswillens. Noch problematischer ist das Kriterium „schriftgemäß“. Was sagt die Bibel zur modernen Welt, zur wissenschaftlichen Zivilisation, beispielsweise zu Biomedizin, zu Kernenergie, Informationstechnologie, globalem Finanzmarkt, Demokratie und anderem mehr? Gemeint sein kann also nicht eine biblizistische Legitimation. Was die Schrift sagt, ist Sache der Schriftauslegung, der Hermeneutik. Hermeneutisch verantwortete Schriftauslegung ist freilich vielfältig und immer wieder kontrovers. Man kann mit der Bibel vieles begründen.15 Schriftgemäßheit garantiert nicht Eindeutigkeit. Als weiteres Kriterium wurde vorgeschlagen „gemeindegemäß“. Gemeint sein kann hier nicht ein Plebiszit der Gemeinden. Vorstellbar ist ein Konsultationsprozess wie bei der Vorbereitung des gemeinsamen Sozial- und Wirtschaftswortes der Kirchen 1997. Mehr als fünfzig Jahre nach der Veröffentlichung der ersten Denkschrift und fast 40 Jahre nach Veröffentlichung der Denkschriften-Denkschrift hat die EKD sich nochmals zum Thema geäußert: „Das rechte Wort zur rechten Zeit“ (2008). Auf Themen und inhaltliche Fragen geht diese Denkschrift nicht ein. Sie urteilt zurückhaltender über Denkschriften und den Öffentlichkeitsauftrag der Kirche. Der gesellschaftliche Kontext und die Struktur der Öffentlichkeit haben sich grundlegend geändert. Das hat auch Auswirkungen auf das Reden der Kirche. Man hat nämlich inzwischen die medialen und kommunikativen Rahmenbedingungen zu beachten. Man hat nicht mehr allein den Inhalt kirchlichen Redens 15 Ein besonders prägnantes Beispiel bietet die Denkschrift „Autonomie und Angewiesenheit“ zu Ehe und Familie.

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zu bedenken, sondern auch die Zeit- und Situationsgemäßheit. Die Wahrnehmung des Redens und der Mitverantwortung der Kirche für das Gemeinwesen ist anders geworden. Empfohlen wird sodann eine Unterscheidung zwischen der seelsorgerlich-praktischen und der sozialethisch-politischen Dimension kirchlicher Äußerungen.16 Nimmt man diesen Vorschlag auf, so hat dies Folgen für die Denkschriftenpraxis. Sie hat klarer zwischen Anrede „nach innen“ und „nach außen“ zu unterscheiden (Nr. 56ff). Im Unterschied zu den ersten Denkschriften und zur Denkschriften-Denkschrift ist außerdem ausdrücklich der Pluralismus der Gesellschaft zu berücksichtigen, der nicht nur fundamentale Differenzen in der weltanschaulich-religiösen Orientierung und Ausrichtung mit sich bringt. Freilich ist Pluralismus nicht mit prinzipiellem Relativismus und Indifferenz gleichzusetzen. Neben dem Faktum des Pluralismus sind die radikalen Veränderungen in der Mediengesellschaft bedeutsam. Dazu gehört die Veränderung der journalistischen Praxis. Personalisierung, Emotionalisierung und Dramatisierung sind Kennzeichen (Nr. 78): „Die Gattung der Denkschriften entstand jedoch in einer völlig anderen Kommunikationslandschaft“ (Nr. 85). Inzwischen geht es in den Medien oft nicht um Sachinformationen, sondern generell um die Verbindung einer Thematik mit einer Person des öffentlichen Lebens. Ferner soll das Publikum emotional beeinflusst werden, und Informationen werden vereinfacht und emotional zugespitzt. Insofern ist es sinnvoll, das Genre der Denkschriften insgesamt auf den Prüfstand zu stellen. Die Denkschriften hatten ihre Funktion in einer bestimmten Gesellschaft, die auf Diskurs und Konsens bedacht, und nicht auf Dramatisierung und Steigerung der Gegensätze angelegt ist. Denkschriften erheben den Anspruch, seriös, argumentativ abgewogen und sachorientiert zu sein. In der biblischen Weisheit heißt es: „Schweigen hat seine Zeit, Reden hat seine Zeit“ (Pred 3,7). Denkschriften sollen eine Sprachkultur pflegen und gegenseitige Achtung und Respekt fördern. Dazu gehört es, auf polemische Rhetorik zu verzichten. Eine Form der öffentlichen Stellungnahme kann sogar „qualifiziertes Schweigen“17 sein. Denkschriften sind inzwischen nur eine Äußerungsform neben anderen. Ausschlaggebend für öffentliches Reden und öffentliche Darstellung von Kirche sind Glaubwürdigkeit, Anleitung zur Urteilsbildung und die Achtung der Meinung anderer. Dazu gehört dann auch die Bereitschaft, nicht vorschnell Antworten zu geben, sondern die Klärung offener Fragen anzustreben. Manches davon gelingt überhaupt, gerade in der Mediengesellschaft, mitunter eher in kleineren Formaten als in schwerfälligen Großorganisationen wie der EKD.

16 Rechtes Wort, Nr. 31ff. 17 Vgl. Dietrich Bonhoeffer, Zur theologischen Begründung der Weltbundarbeit, in: DBW 11, 330.

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8. Zum Schluss ist nochmals grundsätzlich das Verhältnis von Kirche und Öffentlichkeit aufzugreifen. Von Anfang an waren christlicher Glaube und christliche Gemeinde öffentlich. Zu verweisen ist auf die Bergpredigt, wenn Jesus die Jünger mahnt, Licht der Welt zu sein (Mt 5,16). Das Christusbekenntnis ist öffentlich (Mt 10,32; Röm 10,9; 1Tim 6,12). Christen schulden jedermann Rechenschaft (1Petr 3,15). Zu erwähnen ist auch der Missionsbefehl (Mt 28,18–20). Die Reformation spricht im Bekenntnis vom „publice docere“, von öffentlichem Lehren (Confessio Augustana, Art. 14). Nach Luther ist der Gottesdienst öffentliche Reizung, Anreiz zum Glauben und zum Christsein.18 Das Christentum war und ist keine Geheimreligion. Es lebt in der Öffentlichkeit. Zugleich ist nicht alles in der Kirche öffentlich. Das Beichtgeheimnis gilt unverbrüchlich. Das Gebet kann im Kämmerlein geschehen. Traditionell wird folglich zwischen forum externum (äußerer Bereich) und forum internum (innerer Bereich) unterschieden. Öffentlichkeit ist in christlicher Perspektive nicht nur Chance zu Befreiung und Ehrlichkeit. Das christliche Verständnis von Welt ist ambivalent.19 Einerseits ist die Welt Gottes Schöpfung, die Bühne, das Theater, auf dem Gott handelt. Andererseits ist die Welt der Ort der Versuchung durch gottfeindliche Mächte. Dann heißt es: „Die ganze Welt liegt im Argen“ (Joh 13,30; 14,31). Öffentlichkeit als solche ist aus der Perspektive der Bibel zweideutig. Dies unterscheidet christliches Verständnis von Öffentlichkeit von einer aufgeklärten Interpretation. Jürgen Habermas hat epochemachend die These formuliert, Öffentlichkeit sei „Raum“ gelingender Kommunikation.20 Im herrschaftsfreien Diskurs soll sich der Konsens der Bürger als Ausdruck von Wahrheit einstellen. Durch den Diskurs bilden sich Überzeugungen und Verständigung. Voraussetzung und Vorbedingung sei lediglich, dass man sich auf das Apriori der Kommunikationsgemeinschaft überhaupt einlässt. In diesem Horizont entstand die Denkschriftenpraxis. Inzwischen ist unübersehbar geworden, dass es verzerrte Kommunikation und Beeinflussung der Meinungsbildung durch Manipulation und Propaganda gibt. Öffentlichkeit garantiert keineswegs Menschlichkeit, Wahrhaftigkeit und Offenheit. Sie kann auch Misstrauen und Hass durch Hetze und Falschinformation erwecken und befördern. Durch die Massenmedien und das Internet werden solche Möglichkeiten unterstützt. Der Medienkonsument ist der Manipulation und falscher Wahrnehmung der Wirklichkeit ausgesetzt.

18 Deutsche Messe (1526), WA 19, 75. 19 Vgl. Honecker, Orientierung, 115ff.127–132. 20 Habermas, Strukturwandel.

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Auf diesem Hintergrund ist nun das neue Programm einer „öffentlichen Theologie“ zu diskutieren.21 Dieses Programm ist nicht dasselbe wie die überlieferte Darstellung von Glaube und Gemeinde in der Öffentlichkeit. Die neue öffentliche Theologie sucht Anerkennung in der Zivilgesellschaft. Hintergrund ist ein unübersehbarer Relevanzverlust von Kirche und Glaube in der Öffentlichkeit. Kritisch zu fragen ist, ob derzeit ein solches Programm nicht ein rein westliches Programm als Folge der Entkirchlichung und nach der Aufklärung ist. Das wäre dann nahezu dasselbe wie das – gescheiterte – Bemühen um Rechristianisierung und Wiedergewinnung der Ausgetretenen. Das neue Programm ist jedoch ambitionierter. Öffentliche Theologie will mehr. Kirche und Theologie sollen in der Öffentlichkeit wieder verstanden werden. Dazu müssen Aussagen des Glaubens in säkulare Begrifflichkeiten übersetzt werden. Nur dann können Glaube und vor allem Kirche als starke Akteure in der Zivilgesellschaft wahrgenommen werden. Öffentliche Theologie ist somit eine Variante politischer Theologie. Nun ist jede Theologie auf ihre Weise politisch. Zu diskutieren ist aber, ob Theologie einen spezifischen politischen Auftrag hat. Wenn sie das Öffentliche als vorrangigen Auftrag betrachtet, gerät sie in die Gefahr der Politisierung und Moralisierung. Der christliche Glaube wird dann vorrangig unter dem Gesichtspunkt seiner Leistung für Politik und gesellschaftliche Moral bewertet. Die öffentliche Wirkung, die „Werke“ der Kirche, werden dann zum entscheidenden Kriterium. Außerdem ist zu fragen, ob eine Transformation biblischer Sprache und theologischer Aussagen überhaupt gelingen kann. Verlieren dann theologische Gehalte nicht ihre sprachliche Kraft und die theologischen und biblischen Aussagen ihre Zumutung? Damit sei nicht in Frage gestellt, dass biblische Texte und theologische Aussagen der Übersetzung und Interpretation bedürfen. Sie sollen heute vernehmbar werden – „viva vox evangelii“, lebendige Stimme des Evangeliums sein. In einer vollständigen Transformation werden sie unsichtbar und unhörbar. Theologisch zurückzufragen ist zunächst einmal nach dem Grund christlichen Glaubens und nach einem Handeln von Christen und Kirche, welches nicht alles überstrahlen will, nicht „gleißt“.22 Zu bedenken ist ferner die Unterscheidung von Gesetz und Evangelium, von opus hominis und opus dei, von Werk des Menschen und Werk Gottes. Zu unterscheiden ist auch die ethische Forderung an jedermann, die aktives Handeln fordert, von der Passivität des Glaubens, die im Hören zugesprochen wird und Gabe ist, nicht eigene Leistung. Notwendig sind also fundamentale Unterscheidungen. 21 Bedford-Strohm, Öffentliche Theologie; ders., Fromm und politisch; Körtner, Moralisierung, 103–114; Honecker, Orientierung, 129. 22 Sermon von den guten Werken, WA 6, 218f.230.232: Die Werke sollen nicht „gleißen“. Vgl. Honecker, Grund; ders., Unterscheidung, 136ff.

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Die Gefahr lässt sich veranschaulichen an der Debatte um „political correctness“.23 Antisemitismus und Rassismus sind klar zu verwerfen, gegebenenfalls zu bekämpfen. Aber folgt daraus umgekehrt eine ideologische Überhöhung der einzig vertretbaren, womöglich sogar christlichen Position? Diese Gefahr droht tendenziell auch Denkschriften. Das macht sie zum Teil so umständlich, unklar und angreifbar. Vor political correctness, Ideologisierung und Dogmatismus bewahren hingegen deutliche Differenzierungen und Fundamentalunterscheidungen, die zu kritischer Prüfung anleiten und der Versuchung widerstehen, eine absolute, totale Wahrheit zu vertreten und einzufordern.

2.

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1. Das Wort Spiritualität ist im deutschen Protestantismus erst in den 1970erJahren aufgenommen und rezipiert worden.24 Im Französischen war der Begriff spiritualité längst im Gebrauch. Es gibt außerdem eine Enzyklopädie in 15 Bänden „World Spirituality“ (1985–1990). Heute ist das Reden von Spiritualität nahezu ein Modebegriff geworden. Worum es in Spiritualität geht, ist dadurch vielfältig und uneindeutig geworden. Eine einheitliche, allgemein angenommene Definition von Spiritualität gibt es nicht. Dementsprechend vielfältig und unterschiedlich sind Verwendung und Interpretation des Wortes. Im Christentum geht das Wort „spiritualis“ zurück auf Paulus, der vom geistlichen Menschen, dem Pneumatiker, spricht.25 In der Wortgeschichte hat das Wort drei Hauptbedeutungen. Es geht einmal um den religiösen Aspekt von Spiritualität. Der Gegensatz von spiritualis ist dann carnalis, also geistlich oder fleischlich. Paulus versteht unter Fleisch eine gottferne, feindliche Macht und Lebensweise. Fleisch ist nicht das Materielle. Zum anderen benutzt die griechische Philosophie spiritualis, um die Seins- und Erkenntnisweise des Menschen als geistigem Wesen zu kennzeichnen. Dabei wird auf den Gegensatz von materiell und immateriell abgehoben. Spiritualität kann so die Unkörperlichkeit der Seele und damit Vollkommenheit bezeichnen. Seit dem Ende des kirchlichen Altertums (5. bis 8. Jh.) wird schließlich zwischen spiritualia und temporalia 23 Lange, Political correctness. Lange veranschaulicht das Problem am Umgang mit der Flüchtlingsfrage, am christlich-jüdischen Dialog, an der Erörterung des Verhältnisses von Christentum und Judentum, am Stellenwert des AT, an der Bibel in gerechter Sprache und am Genderismus. 24 Literatur zu Spiritualität: Pannenberg, Spiritualität; Barth, Spiritualität; Braun, Säkulare Spiritualität; Berger, biblische Spiritualität; Bucher, Psychologie; Wilber, Integrale Spiritualität; Gebhardt/Engelbrecht, Spiritueller Wanderer; Zimmerling, Evangelische Spiritualität; Wiggermann, Spiritualität; Gräb-Schmidt/Köpf, Spiritualität. 25 1Kor 2,14–3,3.

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unterschieden. Temporalia, zeitliche Güter, sind innerweltliche, irdische Güter. Spiritualia sind die Güter, die das Heil betreffen. Das sind kirchliche Ämter, die Spendung der Sakramente, die Sakramente selbst. Die erste Verwendung bezieht sich auf die Religion, die zweite auf die Philosophie, die dritte auf das Recht. Religiös geht es darum, ein spirituelles, ein geistliches Leben zu führen.26 Das Mittelalter kennt einen affectus spiritualis, einen homo spiritualis, eine intelligentia spiritualis. Soweit die Begriffsgeschichte. 2. Die gegenwärtige Bedeutung von Spiritualität ist gekennzeichnet durch Bedeutungsvielfalt. Sie beschreibt eine Mentalität, eine Einstellung. Spiritualität kann auch Religiosität meinen. Äquivalente sind dann Frömmigkeit oder Lebenspraxis des Glaubens. Die Abgrenzung zu anderen religiösen Verhaltensweisen ist dabei unklar. Was unterscheidet Spiritualität von Mystik, wenn sie Inbegriff einer Lebensführung im Geist ist?27 Auch die Abgrenzung zu Esoterik, New Age, Magie und Heilkunst ist schwierig. Gibt es auch eine spirituelle Heilung neben einer wissenschaftlich begründeten Medizin? Enthält Esoterik nicht auch spirituelle Elemente? Spiritualität ist abhängig vom jeweiligen weltanschaulichen und religiösen Kontext. Sie ist eine anthropologische Grundgegebenheit und bewirkt eine individuelle geistliche und geistige Orientierung und Lebenspraxis. Andere Religionen kennen auch Spiritualität: im Judentum die Mystik der Kabbala, Chassidismus, im Islam den Sufismus, im Buddhismus die Meditation, Yoga, tantrische Technik, im Hinduismus die Meditation und Askese. Eine spirituelle Haltung zeigt sich in Ehrfurcht, Dankbarkeit, Gleichmut, Mitgefühl, Toleranz, Achtsamkeit im Umgang mit der Umwelt, mit anderen, mit sich selbst. Das ist in einem anthropologischen Ansatz zu bedenken. 3. Neben der Spiritualität der Religionen gibt es eine säkulare, untheologische, ja sogar eine atheistische Spiritualität. Solche säkulare Spiritualität identifiziert sich nicht mit einer bestimmten religiösen oder weltanschaulichen Begründung.28 Sie ist eine Spiritualität der Suchenden, von Menschen unterwegs, auf der Wanderschaft. Sie sind auf der Suche nach Orientierung und Sinn. Man kann den spirituellen Wanderer als Idealtypus spätmoderner Sinnsuche beschreiben.29 Eine solche spätmoderne Spiritualität enthält keine klaren religiösen Konturen. Sie ist oft synkretistisch. In ihr artikuliert sich Analoges zur religiösen Sinnsuche. Spiritualität wird dabei begriffen als Wahrheit, die von innen kommt. Es gibt besondere Gestaltungen von Spiritualität wie beispielsweise in der Hospizbe26 27 28 29

Vgl. Brief des Pelagius „ut in spiritualitate proficius“, vgl. HWPh 9, 1417. Gal 5,2: „So ihr im Geist lebt, wandelt im Geist.“ Braun, Säkulare Spiritualität. Gebhardt/Engelbrecht, Spiritueller Wanderer.

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wegung, die Unerklärliches ins eigene Leben zu integrieren bestrebt ist. Unter dieser Perspektive ist eine Psychologie der Spiritualität durchaus berechtigt.30 Inzwischen gibt es eine Inflation von Bindestrich-Spiritualitäten, wie Spiritualität des Pilgerns, des Kampfes, der Befreiung usw. Was ist das Gemeinsame und Verbindende der sehr verschiedenen Erscheinungsformen und Gestalten von Spiritualität? Mit der Wahrnehmung eines anthropologischen Ausgangspunkts ist daher noch nichts gesagt über christliche Spiritualität, gar eine evangelische Spiritualität.31 Auf die Besonderheit wird noch zurückzukommen sein. Häufig wird im Blick auf die Verbreitung von Spiritualität ein spiritueller Osten, beispielsweise Indien, einem materialistischen Westen entgegengesetzt. Diese Entgegensetzung könnte auch auf unterschiedlichen Ausprägungen der Kultur beruhen. 4. Man kann sich fragen, ob „Spiritualität“ nicht eine typisch moderne Erscheinung ist. Zur Erklärung dient dann das Argument, sie enthalte eine individualistische Orientierung. Beide Annahmen – modern und individualistisch – sind als Kriterien unzureichend. In der deutschen Sprache mag das Wort Spiritualität ein Neuankömmling sein. Aber ein Blick zurück in die Kirchengeschichte belegt, dass die Sache eine lange, alte Tradition hat. Sie findet sich in der Alten Kirche bei den Wüstenvätern in Ägypten. Sie prägt auch das Mönchtum im Westen, bei Benedikt von Nursia und Franz von Assisi. In der Benediktinerregel wird Spiritualität kodifiziert. Zu erinnern ist auch an die Exerzitien des Ignatius von Loyola und an den Jesuitenorden. Mystik war immer ein Hort von Spiritualität. Im Pietismus gab es eine Einübung in Spiritualität, vor allem in Herrnhut. Sie ist als solche keine neue Entdeckung, auch wenn die Erscheinungsformen sich wandeln. Spiritualität ist zunächst individuelles Verhalten, aber sie stiftet auch Gemeinschaft und wird in Gemeinschaft praktiziert. Ausdrucksformen von Frömmigkeit konnten und können methodisch eingeübt werden. Der Katholizismus kennt unterschiedliche Frömmigkeitsformen. Eine gemeinsame Ausübung von Frömmigkeit ist oft ein elitäres Phänomen. Allerdings kommt es dennoch vor allem auf die persönliche Aneignung und Einübung an. Daher kann man zwischen Spiritualität und Frömmigkeit unterscheiden. 5. Frömmigkeit und Spiritualität haben große Gemeinsamkeiten. Sie überschneiden sich weithin. Dennoch gilt es zu differenzieren. Das Wort fromm bezeichnet ursprünglich förderlich, nützlich, brauchbar – „es frommt“. Es meint auch tüchtig, rechtschaffen, treu. Nicht nur Menschen können fromm sein, 30 Bucher, Psychologie. 31 Pannenberg, Spiritualität; Barth, Spiritualität; Zimmerling, Evangelische Spiritualität.

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sondern auch Gott.32 Beim Menschen besagt fromm gottesfürchtig. Heute klingen beide Begriffe altertümlich, antiquiert. Das Epitheton „lammfromm“ besagt: fügsam. Die Worte fromm, Frömmigkeit umfassen drei Lebensdimensionen: eine rationale, eine soziale und eine religiöse Dimension. Rational betrachtet ist Frömmigkeit die Ausübung der üblichen Religion. Im Deutschen gibt es das besondere Wort „Weltfrömmigkeit“. Die soziale Dimension bezieht sich auf das übliche Ritual. Die tradierte Frömmigkeit dient dem Zusammenhalt einer Gemeinschaft. In diesem Sinn kann man von Volksfrömmigkeit sprechen. Frömmigkeit beruht weithin auf Gewohnheit und Sitte. Es gibt Traditionen religiöser Praxis, wie das Tischgebet, Beerdigung, Totengedenken, Feste wie Weihnachten oder Totensonntag. Auch Wallfahrten sind Weisen der praktizierten Frömmigkeit. Zudem gibt es eigene spezifische Verhaltensweisen von Amtsträgern wie Priestern, Pfarrern, Mönchen und Nonnen; Religionen kennen besonders „heilige“ Menschen. Unter rationalem und sozialem Aspekt ist der Mitvollzug ausschlaggebend, nicht unbedingt eine innere Beteiligung. Die dritte, die religiöse Dimension bezieht sich auf die fromme Gesinnung. Sie ist dann emotionale Teilnahme und Betroffenheit, und dabei dasselbe wie Spiritualität. Aber hier gilt: „Die Frommen sind unterschiedlich fromm.“33 Man hat eine Mannigfaltigkeit von Frömmigkeitsformen zu respektieren. Martin Luther interpretiert dies so, Frommsein sei nicht Ruhe, sondern Frommwerden. „Es ist nicht das end, es ist aber der weg.“34 Jesus hat sich im Blick auf die Frömmigkeitspraxis gegen eine Veräußerlichung gewandt (das Gebet im Kämmerlein, Mt 6,5–7). Frömmigkeit kann öffentlich sein, sie kennt Regeln. Eine völlig subjektive und nur individuell praktizierte Spiritualität ist in Gefahr, sich in bloße Emotionalität zu verlieren und beliebig zu werden. 6. Spiritualität gründet in der Erfahrung der lebenspendenden Kraft der Innerlichkeit. Sie schafft Identität. Augustin hat diese Erfahrung so beschrieben: „Inquietum est cor nostrum, donec requiescat in te.“ – Unruhig ist unser Herz, bis es Ruhe findet in Dir.35 Katholische Theologen verweisen auf ein desiderium naturale, ein grundmenschliches Verlangen nach Transzendenz. Nach Thomas von Aquin ist der menschliche Geist hingeordnet auf die Anschauung Gottes. Diese Hinordnung des menschlichen Geistes auf Gott bezeichnete Karl Rahner als „übernatürliches Existential“.36 Strikte Offenbarungstheologie wird freilich solche Verortung von Spiritualität im Menschsein grundsätzlich ablehnen. Sie 32 EG 383, 1 „O Gott, du frommer Gott“; Gen 17,1. 33 Greschat/Seitz/Wintzer, Frömmigkeit, 673; vgl. zur Wortgeschichte auch Keller-Hüschemenger/Theissmann, Fromm, Frömmigkeit. 34 Grund und Ursach aller Artikel (1521), WA 7, 337,35. 35 Augustinus, Confessiones I, 1. 36 Rahner, Verhältnis, 9.

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sieht darin die Gefahr religiöser, auch naturreligiöser Fehlformen. In der Tat kann Spiritualität verwildern und synkretistisch werden. Der „verzauberte“ Mensch bedarf dann der Gnade Gottes nicht mehr. Deshalb wird betont: „Theologie ohne Spiritualität wird trocken und hyperkritisch, Spiritualität ohne Theologie wird weich und unkritisch.“37 Gleichwohl ist festzustellen: „Spiritualität schafft religiöse Beheimatung.“38 7. Was der Grund der Beheimatung von Spiritualität im Menschen ist, bleibt zu bedenken. Der Grund liegt in der Verfasstheit des Menschen. Das macht einen Seitenblick sprachlicher Art sinnvoll. Die antike Anthropologie unterscheidet zwischen dem Menschen als geistigem Wesen und seiner physischen Natur. Die lateinische und die griechische Sprache differenzieren zwischen spiritus, pneuma und corpus bzw. soma. Geist ist inzwischen ein umstrittenes Wort. Es umfasst sowohl die geistigen Fähigkeiten als auch das transzendierende Geistliche, Spirituelle. Der Geist, die Lebenskraft des Menschen, ist nicht identisch mit der Vernunft, dem Nus, der Ratio des Menschen. Die Bibel bezeichnet die belebende Kraft, den Lebensatem, auch als Seele.39 Der Mensch als geistiges und seelisches Wesen vom Leib unterschieden. Die deutsche sprachliche Unterscheidung von Körper und Leib ist eine Besonderheit. Das griechische Wort soma, das lateinische corpus, das englische Wort body benennt beides. In der deutschen Sprache ist der Leib der lebendige Körper, welcher der Selbstreferenz fähig ist. Körper ist der Mensch als natürliche, materielle Gegebenheit. Die Unterscheidung nach Leib und Seele ist hier angesprochen. Wird auf die Dimension des Geistigen und Seelischen verzichtet, so wird der Mensch als Körper zu einem bloß materiellen Ding. Der Mensch als Selbst ist ein denkendes und fühlendes Wesen. Problematisch ist auch, den Menschen auf seine Rationalität, auf seine Vernunft zu reduzieren. Der Mensch erlebt seine Erfahrungen. In seiner Geistigkeit erfährt er einen Bezug auf seine Umwelt, auf Mitmenschen, Nächste, auf sich selbst und kann auch eine Erfahrung mit Transzendenz machen. Darauf weist die Rede vom desiderium naturale hin. Bei Erfahrung ist allerdings zwischen innerer, eigener, und äußerer Fremderfahrung zu unterscheiden. Äußere Erfahrung kann Anstoß für eigene Erfahrung sein. Den Unterschied zwischen eigener und fremder Erfahrung kann man darstellen als Unterscheidung von Innenperspektive und Außenperspektive, von subjektivem Erleben und objektiver Betrachtung, Feststellung, mit den neuen Fachwörtern von emisch und etisch. Die eigene Erfahrung, die Innen37 Wiggermann, Spiritualität, 713. 38 Ebd. 39 „Was hülfe es dem Menschen, wenn er die ganze Welt gewönne, und nähme doch Schaden an seiner Seele“, Mt 16,26.

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perspektive, ist der Ort von Spiritualität. Das Widerfahrnis von Geist kann begeistern. Geistliche, spirituelle Erfahrung ist etwas anderes als rationales Kalkül. Eine radikale Verwandlung des Menschen wird nicht nur durch rationale Überlegungen und vernünftige Einsicht bewirkt. In der Bibel sind Herz – und Seele – Symbole für Gefühlsregungen.40 Bei Luther sind Glaube und Herz aufs engste verbunden.41 Das Herz gilt traditionell als Sitz der Seele. Seele ist Wesensmerkmal personalen Daseins, des Vertraut-Seins mit sich selbst. Man fühlt sich dadurch als Ich. Melanchthon sprach vom Affekt als die Herzen bezwingende Kraft. Ein Affekt ist demnach Gesinnung, Gemütsbewegung, Emotion. Für Melanchthon steuern Affekte den Willen: „Quid enim est voluntas, si non affectuum fons. Et cur non pro voluntatis vocabulo cordis nomen usurpamus.“42 Ein Affekt kann nur durch einen anderen Affekt überwunden werden – so Melanchthon.43 Unglaube kann nur durch Glaube, Hass nur durch Liebe überwunden werden. Ich habe statt auf den Affekt, den affectus, auf das psychologisch beschreibbare Phänomen Motivation hingewiesen.44 Motivation meint eine Grundeinstellung, eine Grundhaltung des Menschen. Sie ist nicht dasselbe wie die Auswechselbarkeit beliebiger Motive. Man kann daher Spiritualität als Grundorientierung, als Motivation begreifen. Spiritualität ist Sache des Einzelnen, der Person. Vergleichbar kann man von Sinn- und Wertorientierung des Daseins oder von Glauben reden. Unter religiösem Aspekt lässt sie sich auch als Suche nach dem Heiligen charakterisieren. Solche spirituelle Suche ist nicht theoretisch und nicht propositional, d. h. eine Aussage mit logischem Wirklichkeitsgehalt; sie ist nicht kognitiv und diskursiv. Zwar kann sie sich artikulieren. Spiritualität kann sich durchaus äußern, etwa in einer Gebetshaltung, in sprachlichen Äußerungen. Dann kann man sie beschreiben und erklären. Aber innere Erfahrungen kann man nicht als solche mitteilen und überprüfen, sondern nur in Äußerungen zur Sprache bringen. Damit entzieht sich Spiritualität einer Politisierung und Moralisierung. Sie steht ferner unter dem Aspekt einer Unterscheidung zwischen Verfügungswissen 40 Vgl. Dtn 4,29; 6,5; Mk 12,30par; Mt 5,8; Eph 1,18 – Nur Gott ist des Herzens mächtig, 1Kön 8,39; 1Joh. 3,20 und öfters. 41 Vgl. zum Verhältnis von Glaube und Herz: Luthers Auslegung des 1. Gebots im Großen Katechismus. So auch schon im Sermon von den guten Werken (1520) WA 6,230–232; Psalmvorlesung über Ps 119 (1513/15), WA 4, 356,13–14: „Der Glaube fordert das Herz, nicht den Verstand.“; Vorlesungen über 1. Mose von 1535–45, WA 42, 348,37f: Der Mensch ist „animal rationale habens cor fingens“; vgl. Stolt, Luthers Rhetorik; vgl. Calvin, Institutio I, 5,12. 42 „Denn was ist der Wille, wenn nicht Quelle der Affekte. Und warum gebrauchen wir nicht für das Wort Wille den Begriff Herz“, Melanchthon, Loci communes von 1521, in: ders., Werke 2, 13,19–21. 43 A. a. O., 13,13: „affectus affectu vincitur“ – Affekt wird von Affekt besiegt. 44 Honecker, Orientierung, 42ff.

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und (lebens-)praktischem Orientierungswissen und ist dem Orientierungswissen zuzurechnen. Man mag dann sogar von Alltagsspiritualität sprechen. Die Praxis pietatis ist vielfältig. Letztlich geht es darin um eine transformative Dynamik von Wirklichkeitserfahrung. 8. Wenn von christlicher und evangelischer Spiritualität gesprochen wird, verengt sich die Thematik. Christliche Spiritualität steht im Wirkungs-, Lebens- und Handlungszusammenhang des Glaubens. Der Glaube prägt einen Lebensstil. Er nimmt Gestalt an in einem Ethos des Glaubens (Röm 12,1ff). Christliche Spiritualität wird erfahren und gesteuert durch das Wirken des Heiligen Geistes, nicht durch einen beliebigen Geist. Der Heilige Geist wirkt Glauben. Er schenkt Gaben und Zeichen seines Wirkens. Der Apostel Paulus nennt solche Gaben Charismen (1Kor 12). Der Heilige Geist vergegenwärtigt Gott und das Werk Jesu Christi. Er ist gestaltende Macht. Die Tradition bezeichnet dies als Ethos der Heiligung. Der Geist Gottes, der Geist Jesu Christi, ist ein Geist der Liebe, des Friedens, der Freiheit, der Zuversicht, der Freude. Er unterscheidet sich von anderen Geistern, die ebenfalls Leben beeinflussen können, wie dem Geist des Hasses, der Feindschaft, des Neides, der Sorge und Angst. Gottes Geist macht frei. Christliche Spiritualität teilt mit anderen Formen von Spiritualität die Möglichkeit spiritueller Erfahrbarkeit. Sie unterscheidet sich hingegen von ihnen durch spezifische inhaltliche Aussagen und die Verwurzelung im Glauben. Sie beruft sich auf den Glauben an Gott und auf die Vergegenwärtigung Gottes in Jesus Christus. 9. Ist Spiritualität Werk lebendig machender Kraft des Geistes und beruht sie auf der transformativen Dynamik von Wirklichkeitserfahrung, bleibt zu klären, ob sie nur als synkretistischer Funktionalismus zu deuten ist. Oder bezieht sich Spiritualität auf eine Wirklichkeit, die das innerweltlich Gegebene übersteigt? Lässt sich das Unerklärliche überhaupt ins eigene Leben integrieren ohne eine geistige Haltung, die sich auf Transzendenz hin ausrichtet? Wie man ein solches Transzendentes benennt, ist individuell unterschiedlich. Man kann es Jenseits, Unendlichkeit, das Umgreifende (Karl Jaspers), sogar Universum45 nennen. Gott kann auch als etwas Namenloses erfasst werden. Die theologische Tradition lehrte, dass man Gott nicht definieren kann („Deus definiri nequit“). Das Alte Testament und das Judentum kennen einen Verzicht auf das Wort Gott und ein Verschweigen des Namens Gottes. Sie „heiligen“ den Namen Gottes. Ehrfurcht und Achtsamkeit sind im Umgang mit dem Wort Gott geboten. Christliche Tradition unterscheidet zwischen dem Wort Gott und Gott in Jesus Christus. Philosophisches Denken hat von jeher über Gott nachgedacht. Christliche Spi45 Vgl. Hape Kerkelings Erfahrungen auf dem Jakobsweg, ders., Ich bin dann mal weg, München 2007.

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ritualität und Glaube rufen den Namen Gottes im Gebet an. Er hat sich ihr manifestiert in der Person Jesu Christi und wird durch das Evangelium zugesprochen und mitgeteilt. Gottes Gegenwart wird dadurch zum Widerfahrnis. Er ist und bleibt „Geheimnis der Wirklichkeit“. Christliche Spiritualität fordert deswegen die Unterscheidung zwischen Werk Gottes und Werk des Menschen, zwischen der Passivität des Glaubens und der Aktivität des Handelns der Christen.

Fazit: Evangelischer Glaube zwischen Öffentlichkeitsbezug und Innerlichkeit Will man ein Fazit ziehen, dann steht man vor der Frage, ob ein Vergleich oder gar der Aufweis einer Beziehung von Denkschriften und Spiritualität überhaupt möglich ist. Sind die Perspektiven und Themen nicht zu verschieden, dass das Ergebnis nur die Feststellung des Kontrastes sein kann? In diesem Handbuch der Spiritualität sind Stichworte wie Öffentlichkeit, Sozialethik, Weltverantwortung nicht vorgesehen, ebenso wenig Politik, Recht, Wirtschaft. Auch ein Artikel zu politischer Theologie fehlt. Das sind freilich die Themen, mit welchen sich Denkschriften und öffentliche Theologie befassen. Mit den Denkschriften wendet sich Kirche nämlich an Öffentlichkeit; sie will das Gemeinwohl befördern und aktiv in die Willensbildung eingreifen und damit zum demokratischen Konsens beitragen. Ihr Kontext ist Gesellschaft und Welt. Anders mein Verständnis von Spiritualität. Sie zielt primär auf individuelles, persönliches Verhalten. Ihr geht es um das Verhältnis des Menschen zu sich selbst und seiner gesamten Lebenswelt. Wären die Worte nicht belastet und missverständlich, könnte man von Selbstfindung und Selbstverwirklichung reden. Ein Verlangen nach Verbindendem und Einendem und zugleich eine offene oder verborgene Sehnsucht nach Transzendenz kennzeichnet Spiritualität. Diese allgemeinen Kennzeichen von Spiritualität sind freilich nicht mit einer vom christlichen Glauben gestalteten Spiritualität gleichzusetzen und zu verwechseln. Öffentlichkeit und Innerlichkeit können also nicht auf einen Nenner gebracht werden. Gleichwohl gibt es Gemeinsamkeiten. Denkschriften sind eine Folge des nach 1945 neu entdeckten und formulierten Öffentlichkeitswillens und Öffentlichkeitsanspruchs von Kirche. Sie sind ein modernes Phänomen im Kontext von Demokratie, moderner Gesellschaft, Pluralismus. Auch die Betonung der Spiritualität ist ein modernes Phänomen. Zwar gibt es seit den Anfängen des Christentums eine Praxis des Glaubens und der Gestaltwerdung von Frömmigkeit. Aber moderne bzw. spätmoderne Spiritualität betont Individualität und religiöse und spirituelle Eigengestaltung. Spiritualität wird Sache eigener Wahl. Die

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Weltreligionen machen unterschiedliche Angebote der Spiritualität. Auch die christliche Spiritualität selbst gliedert sich auf in eine evangelische, katholische, orthodoxe, evangelikale, charismatische etc. Spiritualität. Es gibt sogar eine säkulare und atheistische Spiritualität. Spiritualität umfasst inzwischen als Sammelbegriff eine Fülle von Angeboten an Sinnfindung und Lebensorientierung. Man kann Spiritualität als allgemeine Suche nach Sinn und Orientierung aus anthropologischer und psychologischer Perspektive wahrnehmen und interpretieren. Die christlichen Inhalte bilden dabei nur einen Aspekt neben anderen. Denkschriften sind Inbegriff eines Öffentlichkeitswillens und Öffentlichkeitsanspruchs der Kirche, Spiritualität ist „Herzensangelegenheit“ von Menschen. Beide Perspektiven haben daher ihr Recht. In beiden geht es jedoch um den Umgang mit Welt. Der Christ lebt und existiert mit seinem Glauben in der Welt. Daraus folgt eine Spannung von Weltverantwortung bzw. Weltzuwendung und Weltdistanz bzw. Weltabkehr. Das hat seinen Grund in der Ambivalenz von Welt im Urteil des christlichen Glaubens. Sie beinhaltet eine fundamentale theologische Unterscheidung. Man kann sie mit Unterscheidungen wie Diesseits und Jenseits, öffentlich und privat, innerlich und äußerlich kennzeichnen. Keine dieser Unterscheidungen lässt sich durch eine umfassende Einheitsvorstellung aufheben. Welt ist einerseits Gottes gute Schöpfung und andererseits gottfeindliche Macht. Das nötigt Christen zur Unterscheidung verschiedener Weisen des Weltbezugs. Jede Weltorientierung ist immer auch eine Stellungnahme und Ausdruck eines Zeit- und Wirklichkeitsverständnisses. Denkschriften der EKD richten sich an die gesamte Gesellschaft. Dazu ist in unserem Zusammenhang von kirchlichen Stellungnahmen zu innerkirchlichen Themen abzusehen.46 Solche Veröffentlichungen tragen gelegentlich auch den Titel „Denkschrift“. Aber man sollte sie besser als Studie, Stellungnahme, Handreichung bezeichnen. Die folgenden Erwägungen betreffen lediglich Denkschriften zu Streitfragen in Gesellschaft, Politik und Staat. Sie sind nach außen gerichtete Erklärungen und beruhen ursprünglich auf Erfahrungen mit dem totalitären Staat und waren Reaktionen auf die Zeit vor 1945. Man sprach sogar von einem Wächteramt der Kirche. Derartige Voten der evangelischen Kirche sind nur in einer Großorganisation wie der EKD und in einem bestimmten gesellschaftlichen Kontext, einer freiheitlichen Demokratie, möglich. Es ist dies eine spezifische Form der Zuwendung zur Öffentlichkeit. Sie beziehen sich auf gesellschaftliche und soziale Strukturen – früher sprach man von „Ordnungen“ – und auf institutionelle Regelungen. 46 Solche Stellungnahmen betreffen z. B. Christsein, Glaube, Abendmahl, Taufe, Gottesdienst, Diakonie, Bildung. Genannt seien ferner exemplarisch: „Rechtfertigung und Freiheit. 500 Jahre Reformation 2017“ (2014); „‚Für uns gestorben‘. Die Bedeutung von Leiden und Sterben Jesu Christi“ (2015).

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Die Zeit und Situation hat sich seit 1945 grundlegend verändert.47 Nach dem Kriegsende gab es die Illusion einer Rechristianisierung Deutschlands. Die Kirchen erfuhren deshalb eine Hochschätzung in Gesellschaft und Politik. Kirchliche Voten wurden erwartet und gehört. Ab den 1960er- und 1970er-Jahren kam es zu einem Aufbruch und Abbruch kirchlicher Autorität in der Moderne. Traditionsabbruch und Transformationen führten zu einem Bedeutungsverlust christlicher Äußerungen. Außerdem wurde die Annahme einer homogenen Gesellschaft fraglich und brüchig. Die Gesellschaft wurde pluralistisch und multireligiös. In Ostdeutschland trat die Tendenz zu einer entchristlichten Gesellschaft zutage. Die Pluralisierung von Gesellschaft und Politik brachte zum Vorschein, dass politische und gesellschaftliche Entscheidungen nur relativ sind. Willensbildung und Entscheidungsfindung in einer Demokratie beruhen auf einem Ausgleich unterschiedlicher Interessen und sind lediglich als Kompromiss möglich. Kirchliche Voten stellen im politischen Prozess nur eine Meinung neben und unter anderen dar. Auch hat die Kirche kein eigenes soziales und gesellschaftliches Programm. Das schließt nicht aus, dass Kirche offensichtliches Unrecht anspricht. Aber sie ist nicht akzeptierte Lehrmeisterin und Problemlöserin der Gesellschaft, die Stabilität und Werteorientierung garantiert. Verschärfend hinzu kommt der Wandel in der Mediengesellschaft. Differenzierte Äußerungen finden kaum noch Gehör und Beachtung. Komplexe Sachverhalte werden auf handliche Schlagworte reduziert. Meinungsbildung geschieht immer wieder durch Personalisierung und Skandalisierung. Die abwägend und analytisch argumentierenden Denkschriften scheinen ihre Zeit gehabt zu haben. Die Form kirchlicher Äußerungen in Gestalt von Denkschriften ist abhängig vom Zeitgeist und vom Kontext gesellschaftlicher Rahmenbedingungen. Das hat im Zeitbewusstsein zu einem Umschlag geführt. Das Zeitalter der Denkschriften war getragen von der Überzeugung, man könne Gesellschaft gestalten. Es herrschte eine Grundstimmung von Fortschritt, Optimierung und Verbesserung. Inzwischen geht es eher um eine Verringerung von Not als um eine Verbesserung von Zuständen. An die Stelle der Gestaltungszuversicht tritt Ernüchterung, wenn nicht Enttäuschung. Ein neuer Realismus breitet sich aus. An die Stelle von Hoffnung treten Sorge und Furcht. Das bestimmt auch Erwartungen an Kirche und christlichen Glauben. Man kann dies an zwei Worten aus den Evangelien verdeutlichen. Jesus wehrte die Forderung ab, in einer Erbsache zu entscheiden: „Wer hat mich zum Richter oder Schlichter über auch gesetzt?“ (Lk 12,14). Und er mahnt: „Was hülfe es dem Menschen, wenn er die ganze Welt gewönne und nähme doch Schaden an seiner Seele“ (Mt 16,26). Damit stellt sich 47 Vgl. Thomas Großbölting, Der verlorene Himmel. Glaube in Deutschland seit 1945, Göttingen 2013. Die Arbeit behandelt vornehmlich die Entwicklung in der deutschen katholischen Kirche, trifft aber ebenso für die evangelischen Kirchen zu.

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die Frage, was Vorrang bei kirchlichem Reden und Handeln haben soll: die Positionierung in politischen und gesellschaftlichen Angelegenheiten oder spirituelle Anleitung und Seelsorge. Es folgt eine Hinwendung zur Spiritualität. Das ist aber keine „spirituelle Revolution“.48 Auch bedient sich die Sinnsuche oft neureligiöser Formen. Aber die Orientierung verlagert sich auf persönliche Selbstfindung und Selbstvergewisserung. Es geht um persönliche Identitätsfindung, die manchmal Transzendenz wiederentdeckt. Derartige Selbstsorge orientiert sich nicht an Kollektiven und Institutionen. Identität wird gelebt und erfahren in konkreten, überschaubaren Gemeinschaften, wo sie Halt findet. Ziel solcher Spiritualität ist auch nicht eine neue Ethik im Sinne einer Ausrichtung an normativer Verhaltenssteuerung, sondern Selbstfindung. Die Gewichtsverlagerung von Ausrichtung auf die Öffentlichkeit hin zur Spiritualität ist weithin veranlasst durch Wandlungen von Zeitgeist und Kontext. Dabei kann man innere Erfahrungen von Menschen von außen her schwer beurteilen und bewerten. Feststellbar ist allenfalls das Verhalten in überschaubaren Gemeinschaften und persönlichem Erleben. Sowohl der Öffentlichkeitsbezug wie auch spirituelle Wendungen nach innen hin zum Subjekt haben ihren Ort des Handelns in der Welt bzw. in einer leibseelischen Erfahrung von Glaube und Spiritualität. Die Gefahr einer ausschließlichen Orientierung an Gesellschaft und Öffentlichkeit besteht in einer Verweltlichung, Selbstsäkularisierung. Umgekehrt ist die Gefahr und Versuchung einer isolierten individualistischen Spiritualität Weltflucht und Rückzug in die Innerlichkeit. Über solcher Abkehr vom Weltlichen werden dann wichtige Aufgaben von Christen und Kirche versäumt und verfehlt. Deswegen sind beide Perspektiven notwendig und müssen sich ergänzen. In ihnen manifestiert sich eine grundlegende Spannung des christlichen Verständnisses von Welt und der Stellung des Christen in der Welt und zur Welt. So ist einerseits ein Kontrast zwischen beiden wahrzunehmen und zu bedenken und zugleich an der Notwendigkeit und Komplementarität beider Perspektiven festzuhalten. Solche Einsicht in die Komplementarität kann zu einer nüchternen Wahrnehmung der jeweils heute gestellten Aufgaben führen und zu einer Haltung und Lebensweise, die durch ihre spirituelle Verankerung beide Perspektiven gelten lässt und ihnen gerecht zu werden sucht.

48 A. a. O., 191f.

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Literatur Quellen Calvin, Johannes, Unterricht in der christlichen Religion, Nach der letzten Ausgabe von 1559 übersetzt und bearbeitet von Otto Weber. Neu hg. von Matthias Freudenberg, Neukirchen-Vluyn 22009. [Institutio] Greschat, Martin (Hg.), Die Schuld der Kirche. Dokumente und Reflexionen zur Stuttgarter Schulderklärung vom 18./19. Oktober 1945, München 1982. Kirchenamt der EKD (Hg.), Die Denkschriften der Evangelischen Kirche in Deutschland, 4 Bände, Gütersloh 1978–1993. –, Zwischen Autonomie und Angewiesenheit. Familie als verlässliche Gemeinschaft stärken, Eine Orientierungshilfe des Rates der Evangelischen Kirche in Deutschland, Gütersloh 2013. Loccumer Vertrag, Kirchenvertrag des Landes Niedersachsen mit den dort beheimateten ev. Kirchen, 1955. Luther, Martin, Werke. Kritische Gesamtausgabe, Weimar 1883ff (WA). Melanchthon, Loci communes von 1521, in: ders., Werke II, Gütersloh 1952/53. Papst Pius XI, Enzyklika Divini redemptoris [19. 3. 1937], in: Guibert, Joseph de/Haering, Stephan, Dokumente des Lehramtes zum geistlichen Leben, Freiburg i. Br./Basel/Wien 2012, 583. –, Enzyklika Mit brennender Sorge, [14. 3. 1937], http://w2.vatican.va/content/pius-xi/de/ encyclicals/documents/hf_p-xi_enc_14031937_mit-brennender-sorge.html, abgerufen am 01. 08. 2018. Papst Leo XIII., Enzyklika Rerum novarum [15. 5. 1891], in: ders., Die sozialen Enzykliken, eingeleitet von Johannes Binkowski, Villingen 1963. Rat der Evangelischen Kirche in Deutschland/Deutsche Bischofskonferenz (Hg.), Für eine Zukunft in Solidarität und Gerechtigkeit, Hannover 1997. Rat der Evangelischen Kirche in Deutschland (Hg.), Aufgaben und Grenzen kirchlicher Äußerungen zu gesellschaftlichen Fragen. Eine Denkschrift der Kammer für soziale Ordnung der Evangelischen Kirche in Deutschland, Gütersloh 1970. –, Das rechte Wort zur rechten Zeit, Eine Denkschrift des Rates der Evangelischen Kirche in Deutschland, Gütersloh 2008.

Forschungsliteratur Albrecht, Christian, Art. Denkschriften, in: RGG4, Bd. 2, Tübingen 1999, 664–666. Barth, Hans Martin, Spiritualität, Göttingen 1993. Bedford-Strohm, Heinrich, Öffentliche Theologie in der Zivilgesellschaft, in: Höhne, Florian/van Oorschot, Frederike (Hg.), Grundtexte öffentlicher Theologie, Leipzig 2015, 211–226. –, Fromm und politisch. Warum die evangelische Theologie eine öffentliche Theologie braucht, in: Zeitzeichen 7 (2016), 8–11.

Denkschriften und Spiritualität

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Johannes Bilz, Rüdiger Sachau

Das Politische und das Fromme Evangelische Akademien und Spiritualität1

1.

Vorbemerkungen

Spiritualität als Ausdrucksform Evangelischer Akademiearbeit ist bisher nirgends systematisch untersucht worden. Dennoch lassen sich Elemente einer Praxis der Spiritualität in den Veranstaltungen und Programmen der Evangelischen Akademien in Deutschland erkennen. Diese Spiritualität ist weltlich durchdrungen, thematisch geprägt und von der Ausrichtung auf das Gemeinwohl, die Gesellschaft und die globale Verantwortungsperspektive bestimmt. So interessieren sich Evangelische Akademien heute weniger für den Einzelnen oder die Einzelne in ihrer individuellen Entwicklung, als vielmehr für die Personen in ihrer Bereitschaft und Fähigkeit, Verantwortung für das Ganze zu übernehmen. Darum sehen sich die Evangelischen Akademien auch weniger als Institutionen der Erwachsenenbildung, die Menschen zu einem bestimmten Handeln befähigen wollen, sondern als Orte des Diskurses und des Streits um die Wahrheit. In dieser Ausrichtung ist die Sehnsucht gefasst, dass das Politische und das Fromme nicht auseinanderfallen. Trotz der konzeptionellen Distanz gegenüber einer Förderung persönlicher Spiritualität lassen sich in den Akademien vielfältige spirituelle Praktiken beobachten, sichtbar in Kapellen, Andachten und religiösen Gesten, die den Tagungsverlauf strukturieren. Außerdem gibt es eine reiche Tradition der Reflektion von Spiritualität bis hin zu ihrer praktischen Erprobung und Einübung. Hier sind Grenzen des Diskursiven erreicht. Dort, wo Spiritualität als Thema in den Evangelischen Akademien verhandelt wird, geschieht es in dem größeren Kontext einer auf Verantwortungsübernahme für diese Welt ausgerichteten Arbeit. 1 Unter Mitarbeit von Arngard Uta Engelmann (Evangelische Akademie Baden), Sabine Federmann (Evangelische Akademie Villigst), Frank Vogelsang (Evangelische Akademie im Rheinland) und Karl Waldeck (Evangelische Akademie Hofgeismar).

Das Politische und das Fromme

811

Schließlich ist noch das Selbstverständnis der Akademien zu beachten, die sich selber als Gestalt von Kirche verstehen. Evangelische Akademien sind Kirche am anderen Ort, eine Kirche, deren Grenzen nicht durch die Parochie, sondern das Thema bestimmt ist. In den Grenzen des Themas kommt es zu Formen der Gemeinschaftsbildung und zum gemeinsamen geistlichen Leben, sei es auf Zeit, sei es durch überörtliche Vernetzungen.

2.

Evangelische Akademien als Orte der Begegnung zwischen Kirche und Welt

Die Idee der Evangelischen Akademie ist eine der Verständigung und bestenfalls der Versöhnung. Im Gespräch, in der Begegnung, auch im fruchtbaren Streit sollen Gegensätze überwunden und Brücken gebaut werden. Unter dem Dach der Kirche findet eine Art der Gesellschaftsseelsorge durch Diskursivität statt. In der Denkschrift des Rates der Evangelischen Kirche in Deutschland von 1963 ist sowohl von der „missionarischen“ als auch der „gesellschaftsdiakonischen Arbeit“ der Evangelischen Akademien die Rede.2 „Die Akademie versteht sich als Stätte der Begegnung zwischen Kirche und Welt, als Brücke zwischen beiden. Von hier aus entdeckt sie dann ihre Möglichkeit zur Überwindung von anderen Gegensätzen im politischen, wirtschaftlichen und sozialen Leben der Gegenwart […].“3

Das Brückenkonzept einer fruchtbaren Begegnung zwischen Kirche und Welt wurzelte, wie Eberhard Müller, Gründer der ersten Akademie in Bad Boll, beschrieb, in der Krisensituation nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges und der nationalsozialistischen Diktatur: Die Akademien „entstanden aus den geistigen Erschütterungen nach dem 2. Weltkrieg. Sie erwuchsen aus den Überlegungen von Männern, die sich fragten, welchen Beitrag die einzelnen Christen und die ganze Kirche zur geistigen Erneuerung unseres Volkes und zu einer neuen inneren Ordnung der Gesellschaft leisten könnten.“4

Evangelische Akademien und der Deutsche Evangelische Kirchentag wurden die „bedeutendsten institutionellen Neuansätze nach 1945 der evangelischen Kirchen in Deutschland“,5 wie Traugott Jähnichen ausführt. Dabei lagen wesentliche Elemente in der Überschreitung des Denkens in Parochien und der Bestreitung 2 3 4 5

Denkschrift, 112. Bolewski, Akademien, 18. Müller, Auftrag, 9. Jähnichen, Kirchentage, 127.

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Johannes Bilz, Rüdiger Sachau

von deren Monopolanspruch, wie der ehemalige Direktor der Badischen Akademie, Michael Nüchtern, beschreibt.6 Wie sehr der Gründungsanspruch der Akademiearbeit spirituell determiniert war, kann man an der ersten Akademietagung sehen. Es war nicht eine Konferenz, sondern „14 Tage der Besinnung“,7 zu denen der EKD-Ratsvorsitzende und württembergische Landesbischof Theophil Wurm nach Bad Boll einlud. Der Einladung zu dieser ersten Akademietagung im Nachkriegsdeutschland, beginnend am 29. September 1945, folgten 160 Juristen, Ökonomen und Theologen. Mit dem Ziel, das Gespräch zwischen Kirche und Welt zu führen, entstanden in den folgenden Jahren in ganz Deutschland Orte, an denen die Kirche ihre Überzeugungen erfolgreich in die Gestaltung der Gesellschaft einbringen konnte.8 Aus den Anfängen der Nachkriegszeit entstand ein flächendeckendes Netz von Akademien. Diese werden in der Regel von den jeweiligen Landeskirchen als unselbstständige Werke unterhalten, in zwei Fällen als eingetragener Verein. Eine weitere Ausnahme bildet die Evangelische Akademie zu Berlin, die 1999 von der Evangelischen Kirche in Berlin und Brandenburg und der Evangelischen Kirche in Deutschland gemeinsam als Hauptstadtakademie in Form einer GmbH gegründet wurde. Die Akademien organisierten sich 1947 in der in Echzell/Oberhessen gegründeten Arbeitsgemeinschaft Evangelischer Akademien, der sogenannte „Leiterkreis“ wurde 1991 in den gemeinsamen Dachverband „Evangelische Akademien in Deutschland e.V.“ (EAD) umgewandelt, in dem die Evangelischen Akademien aller Landeskirchen in Ost- und West-Deutschland versammelt sind. In den 17 Evangelischen Akademien organisieren derzeit rund 140 interdisziplinär ausgebildete Studienleiterinnen und Studienleiter Veranstaltungen zu unterschiedlichsten Themengebieten von Medizinethik über politische Partizipation hin zu theologischen Fragestellungen. Die Mitwirkung hochkarätiger Experten und Entscheider aus der Praxis garantiert das hohe Niveau der Veranstaltungen. Mit ihrem vielfältigen Angebot erreichen die Akademien in ca. 2.000 Veranstaltungen pro Jahr mehr als 100.000 Teilnehmerinnen und Teilnehmer. Sie sind damit wichtige Akteure der Zivilgesellschaft in Deutschland und haben sich in ihrer Geschichte viel Vertrauen in Politik, Wirtschaft, Wissenschaft und von zahlreichen Nichtregierungsorganisationen erworben, die oft als Partner bei den Angeboten mitwirken.

6 Nüchtern, Kirche, 71. 7 Hübner, Akademien, 22. 8 Hierzu die Untersuchung von Treidel, Akademien.

Das Politische und das Fromme

3.

813

Diskurs und Spiritualität – Zeichen evangelischer Existenz

Die antagonistische Beschreibung von Kirche und Welt ist unzureichend. So wie Gott in die Welt gekommen ist, ist auch die Kirche ein Teil der Welt und nicht ihr Gegenüber. Allerdings sollte die Kirche und auch die Evangelische Akademie als ein Teil Welt erkennbar sein, der von der Botschaft der Rechtfertigung lebt. Erst daraus ergibt sich der Anspruch ethischer Urteilskraft und orientierender Unterscheidungen. Aus der Erfahrung der umfassenden Befreiung durch Gott erwächst die Kraft, die einzelnen Teilnehmerinnen und Teilnehmer persönlich und politisch zu befähigen, gesellschaftliche Verantwortung zu übernehmen. Es geht nicht um Moralisierung, sondern um „Zeit für Empowerment“ wie es Ende der 1990er-Jahre hieß.9 Dorothee Sölle, eine wichtige Begleiterin der Akademien in der zweiten Hälfte des 20. Jh., hat immer wieder nach der Verbindung zwischen Frömmigkeit und Engagement, von Politik und Spiritualität gefragt: „Wie können wir die Einheit von Spiritualität und Solidarität leben?“10 Sie arbeitete sich an den Vorwürfen der Religionskritik ab und versuchte die mystische Religion als Energiequelle des politischen Engagements zu erschließen, wie Peter Zimmerling zusammenfasst: „Eine mystische Erfahrung, die nicht die Augen für das Unrecht in der Welt öffnet, die kein Widerstandspotential freisetzt, ist für Sölle eine fromme Illusion.“11 An Sölles Theologie und ihrer Rezeption lassen sich die theologischen Grundprobleme der Arbeit in den Evangelischen Akademien nachvollziehen. Die Akademien sollen sich mit den brennenden Fragen der Zeit befassen, aber dies soll im Lichte des Evangeliums geschehen. Wie lässt sich das Verhältnis von „politisch“ und „spirituell“ angemessen fassen, ohne dass die beiden Seiten auseinanderfallen oder die eine Seite die andere verdrängt? Sölle sucht die Einheit in ihrem Konzept von Mystik als Widerstand. Ihr war alles an einem spirituell verstärkten Blick auf die Welt gelegen: „Vielmehr geht es darum, die Welt mit anderen Augen, nämlich den Augen Gottes, zu sehen.“12 Die Evangelischen Akademien haben ihr Selbstverständnis in den vergangenen Jahrzehnten weniger von der Spiritualität, als vom Diskurs her bestimmt.13 Innerhalb des kirchlichen Gesamtsystems übernehmen sie, so Fulbert Steffensky, die Aufgabe, „die Institution der schärferen Fragen nach der Gerechtigkeit“ zu sein.14 9 10 11 12 13 14

Memorandum, 20. Sölle, Hinreise, 76. Zimmerling, Widerstand, 152. A. a. O., 147. Diskurskultur. Steffensky, Chancen, 99.

814

4.

Johannes Bilz, Rüdiger Sachau

Orte der Freiheit – Akademien als Lernorte gelebter protestantischer Spiritualität

„Akademien versetzen die Teilnehmer ihrer Veranstaltungen in eine außeralltägliche Raum-Zeit-Welt.“15 Es ist ein Raum der Freiheit im Denken, ein sozialer Raum der Begegnung mit anderen Menschen, ein geistlicher Raum, weil es die Evangelische Kirche ist, die hier unter eines ihrer Dächer einlädt. „Die Kernidee in der Entwicklung der Evangelischen Akademien lässt sich von heute aus gesehen am prägnantesten mit dem Begriff des ‚Dritten Ortes‘ fassen – eines Ortes der Vermittlung […], des konstruktiven Gesprächs […] und des zivilgesellschaftlichen Diskussionsforums bezogen auf christliche Fundamente.“16

An diesem Ort werden verschiedene Größen aufeinander bezogen und miteinander in Beziehung gebracht: Kirche und Welt, Zivilgesellschaft und Glaubensgemeinschaft, ethisch-moralische Bildung und gelebte Spiritualität. Im Laufe ihrer Geschichte haben die Evangelischen Akademien in der Bearbeitung ihrer Themen in der Regel ihren Schwerpunkt auf die ethischen Fragestellungen und gesellschaftlichen Herausforderungen gelegt und weniger auf die Spiritualität. „Als Institutionen sind die Akademien ein Teil der säkularen Wirkungsgeschichte des deutschen Protestantismus und seiner volkskirchlichen Tradition.“17 Das bedeutet aber nicht, dass die geistlichen Dimensionen völlig verdrängt wurden. „Vielleicht liegt gerade in der Verbindung diskursiven und konziliaren Lernens die Chance, die ganze Rationalität wiederzugewinnen, in der auch Glaube, Liebe, Hoffnung ihren Platz haben“, versucht der ehemalige Akademiedirektor Fritz Erich Anhelm in den auslaufenden großen Diskussionen der endachtziger Jahre des 20. Jh. die gesellschaftspolitischen Diskurse wieder neu mit Formen gelebter Spiritualität im Akademiealltag zusammenzudenken. Er mahnt daher für die Akademiearbeit an: „Die Teilnehmer an den Tagungen sollten davon ausgehen dürfen, dass die Liturgie, der sie in den Akademien begegnen, nicht über sie hinweg geht oder sie vereinnahmt. […] Deshalb tun die Akademien gut daran, Formen gemeinschaftlichen Lebens, Bildung christlicher Identität und neue methodische Zugänge zu Bibel und Gottesdienst zu erproben und in ihre Gesamtkonzeption einzubeziehen.“18

Dieser Aufgabe der Verbindung muss sich Akademiearbeit immer wieder aufs Neue stellen, um ihre Spezifik nicht aufzugeben. Für dieses Konzept führt 15 16 17 18

Kellner, Akademien, 66. Ebd. A. a. O., 67. Anhelm, Lernen, 88f.

Das Politische und das Fromme

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Hansfried Kellner theologische Gründe an, die er mit der Praxis belegt, indem er einen Akademiedirektor zu Wort kommen lässt: „In der Transzendierung säkularer Selbsterlösungsvorstellungen öffnet sich das Fenster zu Gott, wird Religiöses als vorausliegendes, orientierendes Bezugssystem menschlichen Handelns sichtbar. Die tägliche Morgenandacht symbolisiert praktisch das Angebot kirchlicher Akademien, sich auf die Dimension von überlieferten Glaubenserfahrungen einzulassen.“19

Dazu helfen Formen der Gemeinschaft, Andachten und Gottesdienste, Kapellen und spirituelle Räume.

4.1

Gemeinschaft auf Zeit – die „Akademiegemeinde“ (Frank Vogelsang)

Zur christlichen Existenz gehört die Gemeinschaft mit anderen glaubenden Menschen. Das Evangelium muss von anderen Menschen zugesprochen werden, keiner kann es aus sich selbst schöpfen. Deshalb spielte die Gemeinschaft in der christlichen Tradition immer eine zentrale Rolle. Eine verdichtete Beschreibung gibt Apg 2,42: „Sie blieben aber beständig in der Lehre der Apostel und in der Gemeinschaft und im Brotbrechen und im Gebet.“ Doch die Formen der Gemeinschaft wandeln sich. In der Akademiearbeit bilden sich in Tagungsandachten und in besonderen Veranstaltungsformaten zu Pfingsten oder zum Jahreswechsel Gemeinschaften auf Zeit. Oft suchen Menschen diese Angebote immer wieder auf, sie stellen für sie so etwas wie eine spirituelle Heimat dar. Neu ist, dass die Bildung von Gemeinschaften auch durch die Neuen Medien unterstützt werden kann. Die digitalen Angebote der Akademien erreichen zum einen ganz neue Kreise, die so auf die kirchliche Arbeit aufmerksam werden, zum anderen die schon Verbundenen, die auf diese Weise die Kommunikation jenseits von Tagungen aufrechterhalten können. Es ist absehbar, dass diese Erweiterung in der Zukunft noch mehr Gewicht erhalten wird. Gerade die themenorientierte, diskursive Arbeit der Akademie kann durch die digitalen Medien Verstärkung erfahren. Kommunikation ist ein zentrales Element jeder Gemeinschaft und die Neuen Medien bieten hierzu vielfältige neue Wege. Blogs und Social Media werden zu Orten des streitbaren Meinungsaustausches. Sie eröffnen vor allem die Chance, mit Menschen in Kontakt zu treten, die man sonst nicht so leicht erreichen könnte. Gerade jüngere Menschen sind es gewohnt, ihre Kontakte über die Sozialen Medien zu pflegen. Allerdings kann eine Gemeinschaft im eigentlichen Sinne nur entstehen, wenn neben den digitalen Medien auch die direkte zwischenmenschliche Kommunikation zustande kommt. Entscheidend 19 Kellner, Akademien, 69.

816

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ist die Mischung und dass Aktivitäten offline und online aufeinander bezogen sind. Beides trägt zur Stärkung bestehender Gemeinschaften bei und kann zudem zur Bildung überraschend neuer Formen der Vergemeinschaftung führen.

4.2

Andachten und ihr „Publikum“

„Kirche ist, wo Menschen in Christi Namen zusammenkommen, darum ist die Evangelische Akademie Kirche im ursprünglichen Sinn.“20 Der sichtbarste symbolische Ort dieser Gemeinschaft ist die Andacht oder der Gottesdienst. Das gilt auch für die Akademiegemeinde und ihre Rituale. Im Tagesablauf der meisten Akademietagungen ist die Andacht am Morgen fester Bestandteil der Konzeption. Ob vor dem Frühstück um acht Uhr oder danach um neun wird entweder durch örtliche Tradition oder durch die verantwortliche Studienleitung entschieden. Oft sind die Andachten inhaltlich konvergent zum Tagungsthema und bieten innerhalb des Tagungsgeschehens eine weitere Perspektive an. Niemand wird zur Teilnahme genötigt, alle sind eingeladen. Je nach Tagungspublikum spannen sich die Erwartungen zwischen Fremdheit und Beheimatung. „Müssen wir hier beten?“ – diese Frage wird zunehmend durch neugierig distanziertes Interesse ersetzt. Das Singen von alten oder neuen Gesangbuchliedern ist stark von der jeweiligen Zusammensetzung der Andachtsgemeinde abhängig, die selten an zwei Tagen gleich ist.

4.3

Akademiekapellen als Identitätsorte

Andachtsräume sind ein wichtiges Ausdrucksmerkmal gelebter Spiritualität im Arbeitsalltag Evangelischer Akademien. Kaum eine Akademie kommt ohne eigene Räume der Spiritualität aus. Von der traditionellen Schlosskapelle in Tutzing bis zum Neubau in Villigst sehen wir unterschiedliche Konzeptionen und Realisierungen. Ausgehend vom Konzept des „Dritten Ortes“ kann ein Ortswechsel vom Vortragssaal und Seminarraum in Kapelle und Kirche auch „innere“ Räume eröffnen durch gottesdienstliche Feier, kirchenmusikalische Klänge und das geistliche Wort.

20 Sachau, Bibel, 18.

Das Politische und das Fromme

817

4.3.1 Vom Weinkeller zur Kapelle – Evangelische Akademie Hofgeismar (Karl Waldeck) Andachten und thematisch an den Veranstaltungen orientierte Gottesdienste sind zentrale Bestandteile der Tagungen der Evangelischen Akademie Hofgeismar. Heute wichtiger Standort der Evangelischen Kirche von KurhessenWaldeck – Tagungsort der Landessynode, Evangelisches Studienseminar als Ort der theologischen Aus-und Fortbildung, Evangelische Akademie als Ort des Diskurses − hatte das im 18. Jh. angelegte Gelände am Gesundbrunnen ursprünglich einen rein säkularen Charakter als barocke Bäderarchitektur und fürstlicher Rückzugsort. Sakralgebäude und -räume wurden erst nachträglich errichtet oder entstanden durch Umnutzung ursprünglich profaner Räume − eine konzeptionelle und gestalterische Herausforderung. Ein typisches Beispiel hierfür ist die Kapelle im Schlösschen Schönburg, die von der Evangelischen Akademie regelmäßig genutzt wird. Im Jahr 1947 gegründet, bezog die Akademie 1952 den Standort Hofgeismar. Ihr Sitz und Tagungsort wurde das Schlösschen Schönburg. Als Ort für Andachten wurde der ehemalige kurfürstliche Weinkeller im Untergeschoss umgenutzt und umgebaut. Heute ist dieser Raum unmittelbar als Kapelle zu erkennen: durch Altar, Prinzipalstücke, künstlerische Gestaltung; eine Orgel wurde eingebaut. Es bedurfte freilich mehrerer Jahrzehnte, bis eine schlüssige Gestaltung gefunden wurde. Die jetzige Lösung, 2001 entstanden, wird von der Gestaltung des Altarraums durch den Künstler Tobias Kammerer (*1968) geprägt: eine Kreuzesdarstellung, in der Glas, Purpur, Farbigkeit, Strenge und Leichtigkeit, Transparenz und Gegenständlichkeit eine eindrückliche Synthese eingehen.21 4.3.2 Eine Kirche als Tagungsort – das Beispiel Berlin Die Evangelische Akademie zu Berlin hat ihren Tagungsort in der Französischen Friedrichstadtkirche in der Mitte der Bundeshauptstadt. Auf dem Gendarmenmarkt bildet die Französische Kirche mit dem angebauten Französischem Dom und dem am anderen Platzende liegenden Deutschen Dom sowie dem von Schinkel entworfenen Schauspielhaus22 in der Mitte ein historisches Ensemble.

21 Zu Tobias Kammerers Gestaltung der Kapelle: Evangelische Akademie Hofgeismar (Hg.), Kunstgeschichten, Hofgeismar 2001. 22 Das Schauspielhaus ist eines der Hauptwerke des Architekten Karl Friedrich Schinkel. Es wurde 1821 als Königliches Schauspielhaus eröffnet, nach Rekonstruktion und Umbauten 1984 wieder eröffnet, erhielt es, der veränderten Nutzung entsprechend, 1994 den Namen Konzerthaus Berlin.

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Die Französische Friedrichstadtkirche ist nicht nur Tagungszentrum der Akademie, sondern auch Heimat der Französischen Kirche zu Berlin, einer Reformierten Personalgemeinde, die innerhalb der Landeskirche einen eigenständigen Status hat und auf die aus Frankreich vertriebenen protestantischen Hugenotten zurückgeht, die nach dem Potsdamer Toleranzedikt von 1685 nach Berlin kamen. Außerdem gibt es eine Ortsgemeinde der Landeskirche und eine Nutzung durch den Bevollmächtigten des Rates der EKD. So kann man quer zum historischen Ensemble der drei dominanten Gebäude darin auch ein kirchliches Ensemble „Evangelisch am Gendarmenmarkt“ sehen. Der Haupttagungsraum der Akademie ist Kirchraum, Verkündigungsraum und Konzertraum zugleich. Hier finden Gottesdienste, Kasualien, Konzerte und Veranstaltungen der Evangelischen Akademie sowie der Evangelischen Kirche in Deutschland statt und interpretieren sich wechselseitig. „Ein klarer Raum für klare Worte und klaren Klang“ stellen die Beteiligten ihre unterschiedlichen Beiträge unter ein gemeinsames Motto. Tägliche Orgelandachten locken zur Mittagszeit Menschen, darunter viele Touristen, vom Markt in die Kirche. Anders als in rein säkularen Räumen bekommen Tagungen zu gesellschaftspolitischen Themen in einer lebendigen Kirche einen anderen „Subtext“. Kanzel und Orgel sind immer präsent, den Akademiegästen steht jederzeit vor Augen, dass sie hier in einer Kirche mit spiritueller Tradition und theologischer Botschaft sind.

4.3.3 Dom bei Nacht – das Beispiel Meißen Die Evangelische Akademie Meißen bezog 1992 ihren neuen Standort in einer achthundert Jahre alten Klosteranlage direkt hinter dem Dom- und Burgberg der alten Bischofs- und Residenzstadt. Es liegen keine fünf Gehminuten zwischen Klosterhof und dem gotischen Dom hoch über der Elbe. Traditionell ist das Amt des Akademiedirektors mit dem des Dompredigers verbunden, da der Dom keine eigene Parochie hat. Die Teilnehmer der Akademietagungen bilden neben Touristen und Einheimischen die Domgemeinde auf Zeit. Das drückt sich besonders darin aus, dass bei Wochenendtagungen der Domgottesdienst um zwölf Uhr am Sonntagmittag als Tagungsabschluss gemeinsam gefeiert wird. Der durch die Dombauhütte des Naumburger Meisters ab 1250 gestaltete Raum spricht durch seine Architektur auch ohne Worte. Besonders eindrücklich lässt sich der spirituelle Ort bei einer nächtlichen Dombegehung erleben. Mit sparsamen Mitteln, Musik und wenigen Worten erschließt sich der Raum, erzeugt einen emotionalen Eindruck, lädt ein zum Stummwerden, zum Gebet. Entlastet nach intensiver Diskursarbeit des Tages, gehen Menschen angerührt in die Nacht hinaus.

Das Politische und das Fromme

4.4

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Kunst – Stücke

4.4.1 Akademie als „Kunst – Ort“ „Kunst hat die Aufgabe heilig zu machen“, postulierte der Dresdener Künstler Horst Weber23 bei der Einweihung von ihm gestalteter Glasfenster Anfang der 1990er-Jahre. Posthum zeigte die Evangelische Akademie Meißen 2008 eine kleine Werkschau seiner expressionistischen Bilder zu den Evangelien und zu gesellschaftskritischen Themen besonders aus der Zeit der ausgehenden DDR im Kreuzgang des Klosterhofes. Der klösterliche Ort, die farbintensiven Bilder und die Interaktion mit den Betrachtenden lassen die eigenwillige Kunst während einer Tagung von Gründonnerstag bis Ostersonntag zum Erlebnis werden. In kleinen Texten legen die Teilnehmer ihre oft tiefgehenden Eindrücke nieder. Dieses Geschehen von Sein im Raum, Interaktion und Kreativität erschließt eine Form von Aneignung, die spirituelle Züge trägt. Auch wenn allein der Glaube an den Gekreuzigten und Auferstandenen Heil ermöglicht, schließt Kunst in all ihren Ausdrucksformen Transzendentes auf. Diesem Aspekt neben ihrer gesellschaftskritischen Herausforderung und ästhetischen Anmutung tragen viele Akademien nicht nur durch die künstlerische Ausgestaltung der Räume, sondern auch in der bewussten Planung und Ausrichtung von Ausstellungen, Künstlergesprächen und Künstlerworkshops Rechnung. Eine beachtliche Anzahl von Tagungen zu bildender Kunst und Literatur, Film und Theater werden jährlich angeboten. Einige Akademien haben für diese Arbeit fachlich spezialisierte Studienbereiche eingerichtet, die Mehrtagesveranstaltungen, Podiumsdiskussionen, Lesungen, Vernissagen, Kunstfahrten u. a.m. organisieren, professionell begleiten und durch eigene Vortragstätigkeit und Veröffentlichungen bereichern und entwickeln.

4.4.2 Musik – Ermöglichung spiritueller Erfahrung Seit Anbeginn der evangelischen Akademiearbeit gehört Musik in all ihren Erscheinungs- und Beteiligungsformen zum festen Bestandteil des Programms. Der ausgehend von unterschiedlichen Standpunkten inszenierte Diskurs zu Kirche und Gesellschaft und die dafür gebildete „Gemeinschaft auf Zeit“ erhalten durch die Musik einen weiteren gemeinsamen Bezugsrahmen. „Es gehört zum Wunder der Musik, dass weltanschauliche und persönliche Differenzen durch gemeinsames Musizieren in einen veränderten, ja in einen gemeinsamen 23 Kirchlicher Kunstdienst Dresden (Hg.), Horst Weber: Jesus, Brot, Wein, Gerechtigkeit, Solidarität: Atonale Bilder für Violine und Orgel, Ausstellungskatalog, Dresden 1997.

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Horizont rücken. Wer musizieren gelernt hat, für den ist Gemeinschaft kein Fremdwort“,24 beschreibt das EKD-Papier „Kirche klingt“ diese Erfahrung. Die Einsicht aus der kirchenmusikalischen Arbeit, dass für viele Menschen, ob sie konfessionell gebunden sind oder nicht, die Musik „zum primären Medium von Glauben und Spiritualität geworden“25 ist, belegen auch viele Akademieveranstaltungen. Daher wird die „verantwortliche Gestaltung musikalischer Stimmungen“26 zur Aufgabe der Akademiearbeit, um über die Musik der Spiritualität am „Dritten Ort“ Raum zu geben, denn „Musik weckt auch religiöse Gefühle: Vertrauen und Angst, Staunen und Erschrecken, ekstatische Entzückung und Höllensturz, Dank und Sehnsucht.“27 Ganz selbstverständlich werden bei den liturgisch geprägten Modulen der Akademieveranstaltungen wie Andachten und Gottesdiensten Choräle aus dem Evangelischen Gesangbuch oder Lieder aus Kirchentagsheften gesungen. Bei mehrtätigen Akademieveranstaltungen werden im Abendprogramm oft Konzerte zu Gehör gebracht. Sie sind eine „Unterbrechung im Tagungsgeschehen“, für die eine ästhetische Gestaltwerdung im verstehenden Nachvollzug der Musik im Vordergrund steht, zugleich aber auch in der „Begegnung mit religiöser Kultur der eigenen religiösen Expressivität und Deutungskompetenz“28 Raum zu geben. Die Programme der Akademien weisen eine Vielzahl von Veranstaltungen aus, die Werke und Komponisten behandeln. Zum ästhetischen Erlebnis, das immer auch eine religiöse Sinndeutung offenlässt, wird es, wenn der Besuch von Aufführungen der erarbeiteten Werke eingebunden ist. Besonders tritt dieser Aspekt in Tagungen mit Reflektion auf die großen Werke der Kirchenmusik hervor. „Am intensivsten entwickelt sich die musikalische Erfahrung für die, die Musik selbst gestalten.“29 Zum ästhetischen Genuss und der religiösen Dimension tritt, wie beschrieben, eine intensive Gemeinschaft auf Zeit. Akademieangebote ermöglichen dies durch Chorwochen bspw. in der Evangelischen Akademie Meißen, zu denen sich ein Ad hoc-Chor mit Sängern aus dem gesamten Bundesgebiet und dem deutschsprachigem Ausland zusammenfindet. Zunächst erfolgt ein intensives Proben und Erschließen der Werke unter fachkundiger Anleitung. Das erarbeitete Repertoire wird dann in mehreren Konzerten in umliegenden Kirchengemeinden und im Dom zu Meißen zur Aufführung gebracht. Ähnliche Angebote finden sich in den anderen Akademien, so die 24 25 26 27 28 29

Evangelische Kirche in Deutschland, Kirche klingt, 8. Bubmann, Musik und Spiritualität, 250. A. a. O., 253. Ebd. Ebd. Ebd.

Das Politische und das Fromme

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„Bachkantate zum Mitsingen“ der Evangelischen Akademie Hofgeismar und das „Kantatenwochenende“ der Evangelischen Akademie Baden. Hohe Teilnehmendenzahlen weisen auf einen Bedarf an Angeboten dieser Art.

4.5

Ökumenisches Oikosnet und interreligiöse Begegnungen

Evangelische Akademie ist Begegnung mit dem anderen. Mit anderen Menschen, mit Gott als dem ganz anderen und auch mit anderen Glaubensweisen. Die Unterschiede können klein sein oder sehr groß – sie sind Teil einer fruchtbaren Spannung, die den Diskurs zwischen interessierter Neugierde und engagierter Wahrheitssuche antreibt. Früh haben sich die Akademien aktiv an der internationalen Ökumene beteiligt. 1955 gründeten der Direktor der schwedischen Sigtunastiftung und der Direktor der Akademie Bad Boll die „Ecumenical Association of Academies and Laity Centers in Europe“, das heutige „Oikosnet Europe“, ein Netzwerk von mehr als 40 Akademien und Laienzentren. Hier stoßen reformatorische, orthodoxe und römisch-katholische Tradition aufeinander, manchmal irritierend, oft bereichernd.30 So unterschiedlich die Mitgliedszentren und Akademien auch sein mögen, sie vereint die Überzeugung, dass ihnen als kirchenbezogene Institutionen ein verantwortlicher Beitrag zur Entwicklung der Gesellschaft und zu einem friedlichen Zusammenleben der Menschen aufgetragen ist. Neben dem Blick in die ökumenische Weite ist die Beschäftigung mit unterschiedlichen Religionen ein zentrales Thema der Evangelischen Akademien geworden. Zuerst ist die Wahrnehmung des Judentums zu nennen. In den Akademien wurden unter anderem die Erklärungen zur Erneuerung der christlichjüdischen Beziehungen und zur Judenmission vorbereitet und immer wieder diskutiert. Begegnungen und gemeinsame Projekte mit Vertretern des Judentums wurden in Zusammenarbeit mit den „Gesellschaften für christlich-jüdische Zusammenarbeit“31 und der „AG Christen und Juden beim Deutschen Evange-

30 www.oikosnet.eu; www.evangelische-akademien.de/projekt/europa-als-thema-der-evangeli schen-akademien, abgerufen am 17. 09. 2018. 31 Die über 80 Gesellschaften für christlich-jüdische Zusammenarbeit und ihr Dachverband, der Deutsche Koordinierungsrat der Gesellschaften für christlich-jüdische Zusammenarbeit (www.deutscher-koordinierungsrat.de), entstanden in Deutschland nach Nationalsozialismus und Holocaust, setzen sich für die Aussöhnung zwischen jüdischen und nichtjüdischen Menschen in Deutschland, Verständigung zwischen Christen und Juden und ein friedliches Zusammenleben von Völkern und Religionen sowie gegen Antisemitismus und Rechtsradikalismus ein.

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lischen Kirchentag“32 stark vorangebracht. Neben dem Dialog laden Akademien zur gemeinsamen Lesung und Aneignung der biblischen Texte ein. Die Frage, wie weit der Dialog mit anderen Religionen auch in eine gemeinsame spirituelle Praxis führen kann, stellt sich besonders in den Begegnungen mit Angehörigen des Islam und des Buddhismus. Ist das Religiöse nur Thema von Vergleich, Zeugnis und Auseinandersetzung, oder kann es auch zu gemeinsamen Gebeten oder Meditationen kommen? Angesichts der theologischen Unsicherheiten auf diesem Gebiet liegt es nahe, die Akademien als Experimentalräume interreligiöser Spiritualität im Rahmen des Verantwortbaren zu nutzen.

5.

Spiritualität als Thema in evangelischen Akademien

In den Evangelischen Akademien ist Spiritualität ein Element der Tagungspraxis. Zugleich wird Spiritualität als eigenes Thema in das Programm aufgenommen und auf vielfältige Weise in Tagungen, Seminaren und Vorträgen behandelt. Theoretische Auseinandersetzung und praktische Übungen bilden die beiden Brennpunkte, wenn Spiritualität zum Thema von Tagungen und Veranstaltungen in Evangelischen Akademien wird. Die Wege, die dabei gegangen werden, sind sehr unterschiedlich. Oft sind es einzelne Personen, die eine „Tradition“ in einer Akademie begründet haben. Auch Distanz und Nähe zu den gesellschaftlichen Fragestellungen sind breit gestreut.

5.1

Der Loccumer Arbeitskreis für Meditation und das Loccumer Brevier

Die Evangelische Akademie Loccum war früh ein Anlaufort für Menschen, die sich spirituell weiterentwickeln wollten. So entstand der Loccumer Arbeitskreis für Meditation (LAM). Der LAM ist unabhängig, pflegt aber eine besondere Beziehung zur Evangelischen Akademie Loccum. Arbeitskreis und Akademie teilen das gemeinsame Verständnis, dass eine Beziehung zu Gott und verantwortliches Handeln in der Welt zusammengehören. Der LAM gab als Frucht seiner langjährigen Praxiserfahrungen erstmalig 1992 das „Loccumer Brevier“ heraus33 – eine Sammlung geistlicher Texte, die im Kontext der Akademiearbeit entstanden ist und bereits mehrere Auflagen erfahren hat.34 32 www.ag-juden-christen.de. Sitz der Geschäftsstelle war die Evangelische Akademie in Arnoldshain, seit 2017 die Evangelische Akademie zu Berlin. 33 Sachau/Emme, Loccumer Brevier, 476. 34 Verstehen durch Stille – Loccumer Brevier I, Hannover 52011; Wirken aus Stille – Loccumer Brevier II, Hannover 2013.

Das Politische und das Fromme

5.2

823

Sonderprogramm Villigst (Sabine Federmann)

Neben dem Hauptprogramm „Diskurse und Dispute“ unterhält die Evangelische Akademie Villigst seit 2003 das Spartenprogramm „Spiritualität und Kreativität“. Der aus der Milieuforschung gewonnenen Einsicht, dass mit kirchlichen Angeboten, auch denen der Akademie, nur bestimmte Milieus erreicht und nur bestimmte religiöse Fragen und Bedürfnisse thematisiert und bearbeitet werden, folgte die Erkenntnis, dass es religiöse Fragen, Bedürfnisse und Anliegen von Menschen gibt, die sich keineswegs als areligiös verstehen, nur weil sie weit entfernt von der verfassten Kirche sind. Aus der Grundannahme heraus, dass individuelle religiöse Entwicklung und Innerlichkeit in direktem Zusammenhang zu gesellschaftlichem Engagement und öffentlicher Wirksamkeit stehen, wurden seit den 1990er-Jahren unterschiedliche Tagungen zur Mystik, zur religiösen Kunst und Literatur, aber auch Seminare zu Meditation und Körperwahrnehmung entwickelt. Der Sammelbegriff „Spiritualität“ war hochumstritten, lag aber wegen seiner inhaltlichen Offenheit nahe und entsprach in gewisser Weise dem Zeitgeist. Mit dem Diskursgedanken hat die Akademie diese Veranstaltungen in Zusammenhang gebracht, indem die These aufgestellt wurde, dass zur Auseinandersetzung und zum engagierten Einsatz in dieser Welt Kraft und Mut gehören, für die es Orte braucht, an denen diese gewonnen werden können. Auch innerkirchlich gab es Auseinandersetzungen um die spirituellen Veranstaltungen. Es ging der Akademie darum, die Frage „was ist eigentlich evangelisch“ aus ihrem eher traditionellklerikalen Bezugsrahmen herauszulösen und anstelle dessen die Vielfalt menschlicher Zugangswege zu eröffnen. 2003 entstand die Idee eines eigenen Spartenprogramms „Spiritualität und Kreativität“. Erreicht werden Menschen, die am Rand der Kirche stehen oder aus ihr ausgetreten sind, nicht aber diejenigen, die sich völlig von Religion getrennt haben.

5.3

Spiritualität in der Akademiearbeit Baden (Arngard Uta Engelmann)

In der Evangelischen Akademie Baden ist der Bezug zum geistlichen Leben konstitutiv für das Selbstverständnis. Er wird unter anderem erfahrbar in den täglichen und regelmäßigen Andachten sowie thematischen Gottesdiensten bei Akademieveranstaltungen. Der Brückenschlag zwischen Vertretern von Gesellschaft und Kirche ist auch dadurch institutionalisiert, dass alle Studienleitungen ordinierte Pfarrer und Pfarrerinnen sind.

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Johannes Bilz, Rüdiger Sachau

Die generell für die Spiritualität von Akademiearbeit beschriebenen expliziten und impliziten Formen geistlichen Lebens stehen u. a. im Kontext von „Kampf und Kontemplation“ (Roger Schutz): Versöhnung von Gegensätzen im Gebet bei Veranstaltungen, Kraft durch geistliche Praxis für den leidenschaftlichen Diskurs. Spiritualität ist Quelle für die Moderation und das gemeinsame thematische Ringen widerstreitender, oft einander unbekannter Teilnehmer und Diskursparteien. In die Evangelische Akademie in Baden ist die landeskirchliche Fachstelle für „Geistliches Leben“ implementiert. Es ist die Aufgabe der Fachstelle, „Angebote im Bereich Spiritualität und Meditation innerhalb der Evangelischen Landeskirche in Baden zu bündeln und zu fördern sowie über die Akademie eigene Veranstaltungen anzubieten“.35 Durch diese Angebote wird der Diskurs politischer Themen von Elementen geistlichen Lebens und aus der Spiritualität durchdrungen und in diese integriert.36 Beispielhaft für die gegenseitige Ergänzung von Diskurs und Spiritualität sei hier die Beteiligung an ganz konkreten landespolitischen Debatten genannt, etwa über den Nationalpark Nordschwarzwald. Zusätzlich zur Moderation des Diskurses, der Erstellung von Gutachten sowie der Mitarbeit in Gremien werden auch spirituelle Begleitung in Gestalt von Veranstaltungen vor Ort, Vorträgen und Pilgerwegen angeboten. Ebenso entwickelt die Studienleitung des Kirchlichen Dienstes auf dem Land eine Verschränkung von Diskursveranstaltungen mit geistlichen Vollzügen in der Praxis. Dies geschieht etwa durch die Erarbeitung von Gottesdienstentwürfen für Hof- bzw. Betriebsübergaben an die nächste Generation, auch für nichtfamiliäre Hof- und Betriebsübergaben (Erprobung, Durchführung, seelsorgliche Begleitung und diskursive Bearbeitung). Darüber hinaus gibt es auch Tandemveranstaltungen der Bereiche Weltanschauung sowie Wirtschaft und Arbeitswelt/ Kirchlicher Dienst in der Arbeitswelt (KDA) mit dem Bereich „Geistliches Leben“. Für die globalen Herausforderungen versucht die Akademiearbeit in Baden als eine wesentliche Säule für ein Gelingen der „Großen Transformation“ neben dem Diskurs die spirituelle Transformation hervorzuheben. In diesen Zusammenhang gehört auch die „Pilgrimage of Justice and Peace“ des ÖRK, deren spirituelle Impulse wiederum die Akademiearbeit zu Nachhaltigkeit und alternativen Wirtschaftsformen durchwurzeln und hier weiterentwickelt werden. Anfang 2018 wurde die Projektstelle zum Thema „Pilgrimage of Justice and 35 www.ekiba.de/html/content/fachstelle_geistliches_leben.html, abgerufen am 17. 09. 2018. 36 Der Bad Herrenalber Akademiepreis wurde 2014 an Peter Zimmerling verliehen, um sein Eintreten für eine christliche Existenz zwischen kritischer Ratio und gelebter Mystik zu würdigen.

Das Politische und das Fromme

825

Peace/Große Transformation“ eingerichtet, die u. a. das Aufeinanderbezogensein von Diskurs, gesellschaftspolitischer Gestaltung und geistlichem Leben betont.

6.

Das Politische und das Fromme – eine Verhältnisbestimmung

Auch wenn die Evangelischen Akademien ihren Schwerpunkt in der diskursiven Bearbeitung gesellschaftlicher Themen haben, mangelt es nicht an erfahrbarer und gelebter Religion. Sei es in vielfältigen Formen der spirituellen Praxis, sei es im Zeugnis persönlicher Frömmigkeit durch Teilnehmende und Studienleitungen, sei es als thematischer Impuls, durch den das Sachthema eine neue Dimension der Betrachtung erfährt. In der Geschichte der Evangelischen Akademien seit ihrer Gründungsphase gab es immer wieder „Wellen der Spiritualität“ im Alltag der Akademiearbeit. Zuerst im Besinnen auf die Katastrophe der NS-Diktatur und ihrer Verbrechen, die Entsetzen, Demut, Schuldverarbeitung und Umkehr auch als geistliche Dimension erforderlich machte. Dann immer wieder durch Impulse von außen. Sei es durch die Theologie von Martin Luther King jr. und der lateinamerikanischen Befreiungstheologen, sei es durch die Auseinandersetzung mit dem Krieg in Vietnam und mit dem Apartheid-Regime in Südafrika. In den Akademien kamen sich politisches Engagement und Spiritualität immer nahe und konnten durchaus zu Formen einer politischen Frömmigkeit führen, für die eine Persönlichkeit wie Dorothee Sölle exemplarisch steht. Impulse der feministischen Theologie und aus dem Konziliaren Prozess für Frieden, Gerechtigkeit und Bewahrung der Schöpfung wurden in den Akademien nicht als politische Forderungen, sondern als geistliche Herausforderungen vielfach und kreativ aufgenommen. Was heißt es, individuell ein Leben zu führen, das aus der Erfahrung der Rechtfertigung auch praktische Konsequenzen für die persönliche Lebensführung zieht? Diese Frage vieler Teilnehmerinnen und Teilnehmer ist in den Akademien immer auch als eine gesellschaftspolitische Frage verstanden worden: Was müssen wir als christliche Kirchen tun, damit schon in dieser Welt die Liebe Gottes zu allen Menschen sichtbar wird? Wo verlangt die Nachfolge Jesu verbindliche Konsequenzen des Einzelnen, der Kirche und der Gesellschaft? „Die Spiritualität an den Evangelischen Akademien ist wie eine Tiefendimension in allen Themen und Sachfragen, diese Arbeitsweise wird vielleicht mehr in der Gesellschaft als in der Kirche geschätzt. Aber wenn Menschen aus Politik und Gesellschaft, aus

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Johannes Bilz, Rüdiger Sachau

Wirtschaft und Forschung dieses bei uns entdecken, dann haben wir doch alles gut gemacht.“37

Evangelische Akademien zeigen in ihrer Diskurspraxis, dass eine Trennung von geistlicher und weltlicher Fragestellung nicht möglich ist. Das Fromme ist politisch, wenn es wirksam werden will, und das Politische wird durch Frömmigkeit anders erfahrbar und vertieft, wenn es an einer Akademie verhandelt wird, die sich als evangelisch versteht.

Literatur Quellen Der Dienst der Evangelischen Akademien im Rahmen der kirchlichen Gesamtaufgabe. Denkschrift des Rates der Evangelischen Kirche in Deutschland, Hannover 1963; unveränderter Nachdruck in: Der Auftrag Evangelischer Akademien. Ein Memorandum, hg. vom Leiterkreis der Evangelischen Akademien in Deutschland, Bad Boll 1979, 109– 123. Diskurskultur. Ein Positionspapier der Evangelischen Akademien in Deutschland, Berlin 2012. Evangelische Kirche in Deutschland (Hg.), Kirche klingt. Ein Beitrag der Ständigen Konferenz für Kirchenmusik in der Evangelischen Kirche in Deutschland zur Bedeutung der Kirchenmusik in Kirche und Gesellschaft, EKD Texte 99, Hannover 2008. Protestantisch – Weltoffen – Streitbar. 50 Jahre Evangelische Akademien in Deutschland. Memorandum der Mitgliederversammlung der Evangelischen Akademien in Deutschland (Beschlossen 28.–30. April 1997 in der Evangelischen Akademie Oldenburg), in: Grubauer, Franz/Lenz, Wolfgang (Hg.), Protestantisch – Weltoffen – Streitbar. Fünfzehn Zeitzeichen anläßlich des 50jährigen Jubiläums der Evangelischen Akademie in Deutschland, Bad Boll 1999, 7–22.

Forschungsliteratur Anhelm, Fritz Erich, Art. Akademien, Kirchliche, in: Evangelisches Soziallexikon, Stuttgart 2001, 25–30. –, Diskursives und konziliares Lernen. Politische Grenzerfahrungen, Volkskirche und Evangelische Akademien, Frankfurt a.M. 1988. Bolewski, Hans, Die Evangelischen Akademien – Begriff und Wirklichkeit, in: Haehnle, Werner/Rieger, Paul/Weißgerber, Hans (Hg.), Evangelische Akademien in der Bundesrepublik Deutschland, München 1966, 17–30.

37 Sachau, Zukunft.

Das Politische und das Fromme

827

Bubmann, Peter, Musik und Spiritualität, in: Zimmerling, Peter (Hg.): Handbuch Evangelischer Spiritualität, Bd. 2: Theologie, Göttingen 2018, 249–266. Hübner, Jörg, Art. Akademien, kirchliche, in: Evangelisches Soziallexikon, 9. überarb. Auflage, Stuttgart 2016, 22–26. Jähnichen, Traugott. Kirchentage und Akademien. Der Protestantismus auf dem Weg der Institutionalisierung der Dauerreflexion? In: ders./Friedrich, Norbert (Hg.), Gesellschaftspolitische Neuorientierungen des Protestantismus in der Nachkriegszeit. Bochumer Forum zur Geschichte des sozialen Protestantismus, Bd. 3, Münster 2002, 127– 144. Kellner, Hansfried (Hg.), Evangelische Akademien, zivilgesellschaftliche Diskurse und kulturelle Globalisierung, Frankfurt a.M. 2004. Müller, Eberhard, Der Auftrag der Evangelischen Akademien, in: Haehnle, Werner/Rieger, Paul/Weißgerber, Hans (Hg.), Evangelische Akademien in der Bundesrepublik Deutschland, München 1966, 9–16. Nüchtern, Michael, Kirche bei Gelegenheit. Kasualien – Akademiearbeit – Erwachsenenbildung. Praktische Theologie heute, Bd. 4, Stuttgart 1991. Sachau, Rüdiger, Bei uns ist viel mehr Bibel drin, als Sie vermuten. Interview mit Karsten Huhn, in: idea Spektrum Heft 26 (2018), 16–18. –, Zukunft der Akademien in Deutschland: Kooperation statt Konkurrenz. www.evangeli sche-akademien.de/publikation/zur-zukunft-der-evangelischen-akademien-indeutschland, abgerufen am 17. 09. 2018. –/ Emme, Hartmut, Unterschiedliche Wege geistlicher Erfahrungen. Loccumer Brevier, in: Lutherische Monatshefte 31. (1992), 476. Sölle, Dorothee, Die Hinreise. Zur religiösen Erfahrung. Texte und Überlegungen, Stuttgart 7 1983. Steffensky, Fulbert, Die Chancen des Evangeliums. Vortrag zum vierzigjährigen Jubiläum der Ev. Akademie Hofgeismar, in: ders., Wo der Glaube wohnen kann, Stuttgart 1989, 91–105. Treidel, Rolf Jürgen, Evangelische Akademien im Nachkriegsdeutschland. Gesellschaftspolitisches Engagement in kirchlicher Öffentlichkeitsverantwortung, Konfession und Gesellschaft. Beiträge zur Zeitgeschichte, Bd. 22, Stuttgart 2001. Zimmerling, Peter, „Mystik ist Widerstand“. Dorothee Sölles Appell zur Überwindung gesellschaftlichen Unrechts, in: Max, Wolfgang/Zahlauer, Arno (Hg.), Das Leben meistern. Inspirierende Vorbilder christlicher Spiritualität, Herrenalber Forum, Bd. 75, Karlsruhe 2014, 142–160.

Michael Herbst

Welche Bedeutung hat Evangelisation für die Praxis evangelischer Spiritualität?

1.

Die EKD-Studie „Evangelische Spiritualität“ (1979)

Die Kombination der Begriffe Evangelisation bzw. Zeugnis und evangelische Spiritualität mag zunächst überraschen. In den meisten wissenschaftlichen Veröffentlichungen, die sich mit Fragen evangelischer Spiritualität befassen, gibt es keinerlei Bezüge zu Fragen der Evangelisation.1 Das gilt auch sonst im Raum evangelischer Theologie, wie Rebecca Giselbrecht feststellt: Wort und Sache „fall on deaf ears or enrage well-educated minds“.2 Und umgekehrt ist die evangelische Spiritualität selten ein Thema in Texten über Evangelisation.3 Dennoch ist die Verbindung der beiden Themen nicht völlig ungewöhnlich. Ein markantes Beispiel ist die kleine, aber nachhaltig rezipierte EKD-Studie „Evangelische Spiritualität“ aus dem Jahr 1979.4 Sie gehört in die Zeit der Neuentdeckung spiritueller Fragestellungen im Raum evangelischer Theologie und Kirche nach der 5. Vollversammlung des Ökumenischen Rates der Kirchen 1975 in Nairobi. Die Sehnsucht nach einer neuen Spiritualität, die unser Planen, Denken und Handeln durchdringt, fand auch in Deutschland ihren Widerhall. Die EKD setzte eine Arbeitsgruppe unter der Leitung von Horst Reller ein. Diese verfasste die kleine Denkschrift, die der Rat der EKD dann den Landeskirchen übergab. In dieser schmalen Studie ist an entscheidender Stelle sowohl von evangelischer Spiritualität als auch von Evangelisation die Rede. Zunächst geschieht dies mit dem Hinweis, dass es neben einer liturgischen, meditativen 1 Das gilt beispielsweise für das ausführliche Kompendium zum Thema Spiritualität der Praktischen Theologin Corinna Dahlgrün. Vgl. Dahlgrün, Spiritualität. 2 Giselbrecht, Evangelism, 304. Peter Zimmerling gehört zu denen, die diesen Zusammenhang immer wieder sehen. So resümiert Zimmerling in seiner Darstellung von Nikolaus Ludwig Graf von Zinzendorf, vom Grafen sei zu lernen, „dass das missionarische und evangelistische Engagement einen integralen Bestandteil evangelischer Spiritualität darstellt“ (S. Zimmerling, Spiritualität, 108). 3 Das gilt etwa für die umfangreiche Arbeit von Martin Werth zur Theologie der Evangelisation (vgl. Werth, Theologie). 4 Vgl. zum Folgenden: Kirchenkanzlei der EKD (Hg.), Spiritualität.

Welche Bedeutung hat Evangelisation für die Praxis evangelischer Spiritualität?

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und einer emanzipatorisch-politischen Spiritualität auch eine bibelorientierte, evangelistische Spiritualität gebe.5 So könnte man folgern, dass das Evangelistische (nur) eine spezifische Sonderform neben anderen Strängen christlicher Spiritualität darstelle. Doch die EKD-Studie geht weiter. Sie stellt fest, dass in der evangelischen Kirche ein Traditionsabbruch größeren Ausmaßes festzustellen sei. Die Folgen sind äußerst ernst: „In den Gemeinden lebt eine weithin gestaltlose defensive Kirchlichkeit und ein gefährlich unausdrückliches Christentum.“6 Dabei wird doch betont, dass eine der Kernfragen evangelischer Spiritualität die „personale Aneignung der Heilsbotschaft“7 sei. Ja, „wer von Spiritualität redet, spricht den Menschen unter dem Aspekt seiner Gottesbedürftigkeit an.“8 Darum sei dies für die Kirche eine wesentliche Aufgabe: „das Hineinführen von Menschen in eine glaubensmäßige Lebensgestaltung.“9 In den praktischen Schlussfolgerungen führt dies zu einer Ausweitung der Perspektive. Ist zunächst das Evangelistische das Spezifikum einer bestimmten Ausprägung christlicher Spiritualität, so wird es jetzt zu den fünf Aspekten einer spirituellen Erneuerung gezählt, die der Kirche als ganzer empfohlen, wenn nicht sogar als dringlich ans Herz gelegt werden: „Evangelisation mit Priorität fördern.“10 Man könne zwar nicht mehr so wie früher evangelisieren, aber es sei dennoch erforderlich, ohne dass der „eschatologische Ernst“ verschwiegen werde, Gesetz und Evangelium auch evangelistisch zu verkünden, Christus als Retter zu predigen, so dass Menschen am Ende sagen: „Ich nehme Jesus Christus als Herrn und Erlöser in mein Leben auf.“11 Damit wird – mit kirchenamtlicher Unterstützung – eine enge Verknüpfung von evangelistischem Zeugnis und evangelischer Spiritualität behauptet. Gleichwohl wurde diese Verknüpfung keineswegs in den folgenden Jahren in der theologischen Reflexion weiter beachtet, auch wenn die EKD-Studie insgesamt immer wieder in Erinnerung gerufen wurde.12 Den Gründen für diese partielle Nichtbeachtung kann hier nicht weiter nachgegangen werden. Hier soll stattdessen den Gründen für die gerade behauptete Verknüpfung Raum gegeben werden. Konkreter wird es um die Bedeutung von Evangelisation als werbendem Glaubenszeugnis für die evangelische Spiritualität gehen, und zwar als Quelle, Weg und Ziel einer vitalen Spiritualität. Zuvor aber ist zu klären, was wir unter dem Begriff Evangelisation zu verstehen haben. 5 6 7 8 9 10 11 12

Vgl. a.a.O, 13. Ebd. A. a. O., 11. A. a. O., 26. A. a. O., 33. A. a. O., 52f. A. a. O., 53. So etwa bei Ruhbach, Spiritualität.

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2.

Was ist Evangelisation?

2.1

Versuche einer Definition

Lexikalisch knapp hebt Lyle W. Dorset auf den Charakter der Evangelisation als Erstverkündigung ab. Es gehe um „das Verkündigen der ‚frohen Botschaft‘ an noch Außenstehende“.13 Die Adressaten wären dann das Spezifische. Es sind in der Regel Menschen, von denen die Kirche aus unterschiedlichen Gründen annimmt, dass ihnen das Evangelium noch nicht mit ausreichender Klarheit zu Gehör gebracht wurde. Andere heben eher auf die erhoffte Wirkung ab. Matthias Clausen etwa spricht vom erstmals oder neu gefundenen Glauben bzw. von der Bekehrung eines Menschen und nennt diese die „erhoffte Resonanz“ von Evangelisation.14 An anderer Stelle überführt er diesen Gedanken in eine beschreibbare Intention der Akteure, also derer, die evangelisieren: Wer evangelisiert, will überzeugen (allerdings nicht überreden, manipulieren oder bezwingen). Ziel der Evangelisation ist „die Umkehr zu Gott, zu Christus, weg von allen gottfernen Mächten hin zu dem, der selbst die Wahrheit ist.“15 Prägnant betonte auch die 4. Vollversammlung des Ökumenischen Rates der Kirchen in Uppsala 1968 das Wesen der Evangelisation: Es gelte „dem Menschen Gelegenheit [zu] geben, Christus zu antworten“.16 Wieder andere heben hervor, dass das Evangelium, wenn es evangelistisch bezeugt wird, in elementarer Gestalt verkündigt werde. Die Kernfrage lautet dann: Was muss ein Mensch eigentlich wissen und verstanden haben, um ein begründetes Ja zum christlichen Glauben sprechen zu können? Was muss ich ihm vermitteln, wenn er nur wenige oder gar keine Vorkenntnisse mitbringt? Und wie kann ich ihm einen Zugang zeigen, der ihm hilft, einen Anfang im Glauben zu machen?17 Manfred Seitz führt viele dieser Aspekte in seiner Definition zusammen: So „verstehen wir unter Evangelisation eine elementare Weise der Verkündigung und Gemeindearbeit, durch die in einfacher Bezeugung Gemeindeglieder, Entfremdete und Fernstehende in verbindliche Christusgemeinschaft berufen und zum Zeugnis befähigt werden“.18

13 14 15 16 17 18

Dorsett, Evangelisation, 1702. Clausen, Evangelisation, 2f.34. Clausen, Horizont, 189. Zitiert bei Blaser, Evangelisation, 1708. Vgl. z. B. Herbst, Emmaus-Projekt, 13–16. Seitz, Erneuerung, 43.

Welche Bedeutung hat Evangelisation für die Praxis evangelischer Spiritualität?

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Das Besondere an diesem Zugang ist zum einen, dass Seitz von Verkündigung und Gemeindearbeit spricht – damit wird von einer Engführung auf einen bestimmten Predigttypus abgesehen und der Blick auf viele mögliche Formate geweitet, wenn sie denn in verbindliche Christusgemeinschaft rufen. Zum anderen sind sehr verschiedene Menschen im Blick. Seitz hat keine schlichte Gegenüberstellung von denen hier drinnen und jenen dort draußen im Blick. Diese wie jene brauchen unter Umständen den Ruf in verbindliche Christusgemeinschaft.19 Wir würden heute Konfessionslose, Religionslose und Andersgläubige ergänzen, immerhin gut vierzig Prozent der Bevölkerung in Deutschland. Und schließlich geht sein Blick über den Anfang im Glauben hinaus: Die verbindliche Christusgemeinschaft ist auf Dauer angelegt und führt den Einzelnen weiter zum eigenen Glaubenszeugnis. Ähnlich sieht es auch der Autor eines der Standardwerke zum Thema Evangelisation, William J. Abraham („The Logic of Evangelism“). Seine viel zitierte Definition hat ebenfalls mehr im Sinn als nur eine Konversion: „We can best improve our thinking on evangelism by conceiving it as that set of intentional activities which is governed by the goal of initiating people into the kingdom of God for the first time.“20 Etwas später präzisiert der methodistische Theologe, was er mit initiating meint: „To initiate someone into the kingdom of God is to admit that person into the eschatological rule of God through appropriate instruction, experiences, rites, and forms.“21 Ein Mensch wird also qua Evangelisation initiiert, und zwar in den Einflussbereich des kommenden Gottesreiches. Dies geschieht auf der irdischen Seite durch mancherlei Unterweisung, auch durch Rituale und Erfahrungen, die einem Menschen möglich gemacht werden. Sehr ähnlich sieht der Ansatz bei Scott Sunquist aus: „Evangelism is, at heart, introducing Jesus to others and inviting them to become partakers in his kingdom.“22 Wenn ein Konvertit sein Leben entsprechend neu einrichtet, dann können wir sagen, dass er eine spirituelle Lebensform begonnen hat. Jens Martin Sautter bringt es knapp und klar auf den Punkt: „Evangelisation kann man verstehen als eine Einführung in christliche Spiritualität.“23

19 Vgl. auch die Greifswalder Konversionsstudie: Zimmermann/Schröder (Hg.), Erwachsene, 69–82. 20 Abraham, Evangelism, 95. 21 A. a. O., 96. 22 Sunquist, Mission, 312. Auch der anglikanische Theologe und Bischof von Kensington, Graham Tomlin, formuliert es so: „Evangelism, the verbal invitation to bring a person’s own life under the rule of God, must lie at the heart of the Church’s existence“ (S. Tomlin, Church, 62). 23 Sautter, Spiritualität, 283.

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Differentialdiagnostik der Evangelisation

Da sich Begriff und Sache der Evangelisation keiner großen Beliebtheit erfreuen,24 müssen einige wenige Klärungen hinzugefügt werden. Besonders intensiv haben sich David J. Bosch25, Martin Werth26 und Matthias Clausen27 mit den anstehenden Fragen beschäftigt. • Evangelisation hat biblische Wurzeln: Das von Gott geschenkte Heil soll verbal verkündigt und durch das Leben beglaubigt werden, sodass es zu einer bestimmten Resonanz kommt, nämlich zum lebendigen und mündigen Glauben.28 • Der gegenwärtige Gebrauch des Wortes ist aber erst im 19. Jh. aufgekommen. Innere Mission und Volksmission reagieren auf die zunehmende Entkirchlichung der Menschen mit einer intensivierten evangelistischen Bemühung.29 Seither gab es mehrfach starke Impulse in der gesamten Ökumene,30 die eine gemeinsame Intention teilen: „Evangelisation meint […] die missionarische Verkündigung, primär die Wortverkündigung, mit dem Ziel, Menschen zum Glauben an das Evangelium von Jesus Christus zu rufen.“31 Auch für den deutschen Kontext können wir heute feststellen: „In short, evangelism is back at centre stage.“32 • Über das Verhältnis von Mission und Evangelisation wurde seither kräftig gestritten.33 Mehrheitlich wird aber heute Mission als der übergeordnete und umfassendere Begriff verstanden. Dabei wird im Gefolge der Weltmissionskonferenz von Willingen 1952 die missio Dei als Ausdruck des Wesens Gottes verstanden, der sich selbst für die Welt hingibt.34 Das bedeutet aber, „dass nicht die Kirche eine Mission ‚hat‘, sondern dass vielmehr umgekehrt die Mission 24 25 26 27 28 29 30

31 32 33 34

Vgl. Noort/Avtzi/Paas (Hg.), News, xviii. Vgl. Bosch, Mission, 480–494: „Mission als Evangelisation“. Vgl. Werth, Theologie. Vgl. Clausen, Evangelisation, 6–55. Vgl. A. a. O., 6–9. Vgl. Bärend, Blick. Eine besondere Rolle spielen dabei (nur in Auswahl): die päpstliche Ermahnung „Evangelii nuntiandi“ (1975), die ökumenische Erklärung des ÖRK „Mission und Evangelisation“ (1982), der Lausanner Kongress für Weltevangelisation (1974) und seine Nachfolgekonferenzen (1989 und 2010) sowie in Deutschland die Leipziger EKD-Synode 1999 (vgl. Bosch, Mission, 480f; Clausen, Evangelisation, 15–17). Im Zusammenhang mit den Folgen, die man aus der Rehabilitation von Mission und Evangelisation nach „Leipzig“ ableitete, entstand auch das Institut zur Erforschung von Evangelisation und Gemeindeentwicklung der Universität Greifswald (vgl. Herbst/Ohlemacher/Zimmermann (Hg.), Perspektiven). Clausen, Evangelisation, 11. Noort/Avtzi/Paas (Hg.), News, xxi. Vgl. die präzise Zusammenfassung der verschiedenen Konzepte bei Clausen, Evangelisation, 11–15; Bosch, Mission, 480–484. Vgl. z. B. Richebächer, Missio, 143–162.

Welche Bedeutung hat Evangelisation für die Praxis evangelischer Spiritualität?



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Christi sich ihre Kirche schafft. Nicht von der Kirche her ist die Mission, sondern von der Mission her ist die Kirche zu verstehen.“35 In Gottes befreiende, versöhnende und erneuernde Bewegung auf die Welt zu wird die Gemeinde Jesu mit ihrer Mission einbezogen. „Wie mich der Vater gesandt hat, so sende ich euch“, sagt dementsprechend der Auferstandene (Joh 20,21). Mission umfasst dann den gesamten Auftrag der gesamten Kirche für alle Welt, also auch Diakonie, Seelsorge, prophetisches Zeugnis oder Bildungsarbeit. Evangelisation ist ebenfalls etwas, das unter dem Dach der missio Dei geschieht. Jürgen Moltmann formuliert darum präzise: „Mission umfasst alle Tätigkeiten, die der Befreiung des Menschen aus seiner Knechtschaft in der Gegenwart des kommenden Gottes dienen, von der ökonomischen Not bis zur Gottverlassenheit. Evangelisation ist Mission, aber Mission ist nicht nur Evangelisation.“36 Dass dem Ruf aus der „Gottverlassenheit“ eine besondere Dringlichkeit zuerkannt wird, kann etwa David J. Bosch deutlich machen, wenn er in dieser integrierten Ganzheit der Mission von der Evangelisation als dem „Herz- oder Kernstück der Mission der Kirche“37 spricht. Dieser Zu- und Unterordnung der Evangelisation unter die missio Dei sollen jedoch nach weitgehendem theologischem Konsens keine Engführungen folgen: Evangelisation ist nicht nur ein bestimmter, traditionell mit einem Zelt oder einer großen Halle und einem langen Vortrag assoziierter Veranstaltungstyp – vielmehr ist jede Form des Zeugnisses, das Menschen zum Glauben an Jesus Christus ruft, als evangelistisch zu qualifizieren. Vom Kontext her ist je neu zu bestimmen, welche Veranstaltung oder Begegnung am besten geeignet ist, das Evangelium werbend zu kommunizieren.38 So kann neben klassischen Formaten auch der sonntägliche (traditionelle oder alternative) Gottesdienst, eine Kasualhandlung, ein Glaubenskurs oder auch ein gastfreundlicher Hauskreis evangelistisch intendiert sein oder doch eine evangelistische Dimension haben. Das hat damit zu tun, dass Evangelisation nicht nur kontingent in besonderen Veranstaltungen, sondern auch permanent im Leben der Gemeinde stattfinden soll.39 Dem entspricht, dass nicht nur Evangelistinnen und Evangelisten evangelisieren, sondern jeder Christ je nach Charisma als ein „werbender Wahrheitszeuge“40 in seiner Lebenswelt an diesem Dienst beteiligt ist. Harvey C. Kwiyani spricht von „evangelisthood of all

Moltmann, Kirche, 23. A. a. O., 24. Bosch, Mission, 484. Vgl. Amt für missionarische Dienste (Hg.), Menschen; Herbst, Contextualization, 126–134; Bosch, Mission, 490f. 39 Vgl. Werth, Theologie, 299–304. 40 Seitz, Erneuerung, 41.

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believers“.41 Und so sehr es bei der Evangelisation auf das Ausrufen des Namens Jesu Christi ankommt, so wenig ist Evangelisation von dem Tat- und Lebenszeugnis der ganzen Gemeinde zu lösen.42 Dieses Zeugnis soll als Bitte ausgestaltet sein und ohne Einsatz manipulativer Praktiken auskommen. In einer sich immer mehr säkularisierenden Kultur erleben sich Christen als Minderheit, deren Zeugnis keinen a priori gegebenen Anspruch auf Gehör, Vertrauen oder gar Annahme haben kann. Stefan Paas u. a. machen aber mit guten Gründen darauf aufmerksam, dass dies keineswegs als Nachteil verstanden werden muss: „This may be the time to learn all over again what ‚witnessing‘ means: not to talk from a position of power, but from a position of weakness that is joyfully embraced.“43 Hier ist vielleicht die Konvergenz nach heftigen Auseinandersetzungen in den 1960er-Jahren am stärksten: Verstand man damals unter Umständen in der Ökumenischen Bewegung unter Evangelisation weniger die Traktate als die Traktoren,44 also vor allem ein soziales und politisches Handeln, so konnte man in der evangelikalen Bewegung eine Reduktion auf das reine Wortzeugnis wahrnehmen. Sowohl die Lausanner Bewegung, vor allem auf dem dritten Kongress für Weltevangelisation in Kapstadt 2010,45 als auch die Ökumenische Bewegung, zuletzt bei der zehnten Vollversammlung des ÖRK in Busan/Korea 2013, konvergieren heute (mit Differenzen in den Nuancen) bei einem integrativen Verständnis von Evangelisation, das dem Ruf zum Glauben an Jesus Christus ebenso Raum gibt wie den anderen Aspekten der missio Dei. So wird etwa in Busan („Together Towards Life. Mission and Evangelism in Changing Landscapes“) formuliert: „Evangelisation schließt die verschiedenen Dimensionen der Mission zwar nicht aus, doch ihr Schwerpunkt liegt auf der ausdrücklichen und absichtsvollen Bezeugung des Evangeliums, und dazu gehört ‚die Einladung zur persönlichen Umkehr zu einem neuen Leben in Christus und zur Nachfolge‘“.46 Aber auch das Verständnis dieser persönlichen Umkehr zu einem neuen Leben hat sich verändert und geweitet. Dahinter steht die Einsicht, die auch durch die Greifswalder Konversionsstudie47 empirisch unterlegt ist, dass Menschen seltener vor Damaskus spontan, sofort, sozusagen von einem Moment zum anderen zum Glauben finden, sondern häufiger auf Wegen nach Emmaus Kwiyani, Work, 58–60. Vgl. Bosch, Mission, 493f. Noort/Avtzi/Paas (Hg.), News, xviii. Vgl. Hollenweger, Evangelisation, 49–73. Vgl. Winterhoff/Herbst/Harder (Hg.), Lausanne. Evangelisches Missionswerk in Deutschland (Hg.), Christus, 482. Vgl. Zimmermann/Schröder (Hg.), Erwachsene, 69–82; früher schon mit ähnlichem Ergebnis: Finney, Faith.

Welche Bedeutung hat Evangelisation für die Praxis evangelischer Spiritualität?



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unterwegs sind, die zeitweilig über lange Wegstrecken und viele Umwege zur Gewissheit des persönlichen Glaubens führen.48 Dass belonging vor believing kommt, haben vor allem die Protagonisten einer mission-shaped church in England49 immer wieder erkannt und betont. Michael Moynagh sieht hier grundlegende Verschiebungen: Menschen erleben demnach heutzutage weniger häufig einen „point at which“ Konversion „occured“ als einen längeren „process“ oder sogar einen langen, vielleicht lebenslangen „pathway“.50 Die Predigt ist eine prominente Variante des evangelistischen Zeugnisses.51 Als evangelistische Predigt will sie (mit Luther gesprochen) den Gästen die Schüssel vorsetzen,52 damit sie Geschmack an dem finden, was das Evangelium für sie bedeuten kann. Darum wird sie besondere Rücksicht auf die Bedingungen des Verstehens beim Gast nehmen. Sie wird wegweisend sein, indem sie auf Jesus verweist und von Zugängen zum Glauben an ihn berichten. Dabei hofft sie (s. o.) auf die Resonanz des Glaubens. Die evangelistische Predigt beginnt oft bei Themen, die für die erhofften Hörer relevant sein könnten, um diese dann aus der Sicht der Bibel zu beleuchten. Dabei geht es eher um elementare Bezüge zum Glauben. Diejenigen, die predigen, illustrieren das, was sie bezeugen, gerne auch durch ihr eigenes Leben. Sie setzen verschiedene sprachliche Mittel ein, häufig (verschiedene Formen von) Erzählungen, aber auch Humor, apologetische Passagen, die Hindernisse für den Glauben bearbeiten, mit alltagsnaher Rhetorik, die die typische Sprache Kanaans nach Möglichkeit meidet. Sie predigen den Indikativ des Evangeliums, den Imperativ der Umkehr (ohne Drängen und im Wissen um den unfreien Willen des Menschen,53 der durch Gottes Anruf erweckt werden muss) und auch die Aussicht auf ein zum Guten transformiertes Leben in der Nachfolge Jesu.54 Sie rufen zum Glauben und in die Gemeinschaft der Glaubenden, ohne die der Glaube nicht erhalten werden, reifen und wachsen kann.55 Und: Sie sind in der Regel bedeutend leiser und zurückhaltender als ihre Vorgänger in den 1950erbis 1980er-Jahren. Unter dem Strich ist die gesamte Rede eine Bitte: „Lasst euch versöhnen mit Gott“ (2Kor 5,20).56

Vgl. Clausen, Evangelisation, 23. Vgl. auch ausführlicher Finney, Gemeinde, 27–31. Vgl. Herbst (Hg.), Mission. Zitat und alle Begriffe: Moynagh, Church, 337f. Vgl. zum Folgenden die Darstellung der evangelistischen Predigt bei Herbst, Notwendigkeit, 109–124. Vgl. Rolf, Predigen, 32–49. Vgl. Iwand, Lehre, 13–30. Vgl. Bosch, Mission, 485. Vgl. Herbst, Gemeindeaufbau, 373–390. Vgl. zusätzlich Clausen, Evangelisation, 24–34.

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Will man die Konvergenzen der verschiedenen theologischen Traditionen und die zunehmende Komplexität in der Beschreibung von Wesen und Auftrag der Evangelisation komprimieren, so bietet sich die Definition von David J. Bosch an: Er will „Evangelisation als die Dimension und das Handeln in der Kirche zusammenfassen, die durch Wort und Tat und im Licht der jeweiligen Bedingungen und Kontexte für jede Person und jede Gemeinschaft an jedem Ort eine Möglichkeit anbietet, direkt zu einer radikalen Neuorientierung ihres Lebens herausgefordert zu werden. Einer Neuorientierung, die solche Dinge beinhaltet wie die Befreiung aus der Knechtschaft durch die Welt und ihre Mächte; die Annahme Christi als Retter und Herr; die Möglichkeit, ein lebendiges Mitglied seiner Gemeinschaft, der Kirche zu werden; an seinem Dienst der Versöhnung, des Friedens und der Gerechtigkeit auf der Erde beteiligt zu werden; und der Bindung an Gottes Zweck, alle Dinge unter die Herrschaft Christi zu bringen“.57

Wenn nun das alles auch als „Einführung in christliche Spiritualität“ firmieren kann, dann stellen sich für das weitere Vorgehen einige Fragen: Gibt es also so etwas wie eine spirituelle Weise des Evangelisierens oder umgekehrt eine evangelistische Spiritualität? Die Frage, die diesem Beitrag seinen Titel gibt, lässt sich ja in beide Richtungen stellen: Spirituelles Evangelisieren oder evangelistische Spiritualität können in den Blick geraten.

3.

Spirituelles Evangelisieren – Evangelistische Spiritualität

Im Folgenden soll der Versuch unternommen werden, zu zeigen, wie christliche Spiritualität nach außen drängt, sich gerade in dieser Bewegung bewährt und als vital erweist und somit das christliche Zeugnis einschließt, und wie christliche Evangelisation eine bestimmte geistliche Haltung einschließt und sich gerade so bewährt und als vital erweist. Ebenso wird deutlich werden, wie sich christliche Spiritualität nicht sich selbst verdankt, sondern einem evangelistischen Zeugnis, und wie darum unser evangelistisches Zeugnis auf christliche Spiritualität zielt. Diese Drehungen und Wendungen in der Zuordnung lassen sich auch in drei aufeinanderfolgenden Schritten abbilden:

57 Bosch, Mission, 494. Bei der Übersetzung von being committed to God’s purpose of playing all things under the rule of Christ als Gottes Zweck […] wäre zu überlegen, ob hier nicht eher von Gottes Absicht oder Plan die Rede sein sollte (vgl. Bosch, Shifts, 420).

Welche Bedeutung hat Evangelisation für die Praxis evangelischer Spiritualität?

3.1

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Die Quelle

Einen Zugang zu dieser Verknüpfung von Evangelisation und Spiritualität hat Johannes Berthold eröffnet. Er versteht Spiritualität mit Hans Urs von Balthasar als „subjektive Seite des Dogmas“.58 Aus Begriffen soll Ergriffenheit werden. Berthold sieht das Wesen christlicher Spiritualität in der Liebe zu Gott, zur Welt und zum anderen Menschen. Spiritualität ist ein Beziehungswort: „Sie lebt aus einer persönlichen Liebesbeziehung zu Gott, die alles Denken, Wollen und Handeln bestimmen und so zu einem aus dieser Liebe gestalteten Lebensstil führen möchte.“59 In dieser Liebesbeziehung sieht auch die Kapstadt-Verpflichtung (2010) den Ursprung des evangelistischen Zeugnisses. Sie identifiziert durchgängig den Glauben mit der Liebe. Dabei schließt sie dezidiert an die missio Dei an: „Die Mission Gottes für die Welt entspringt aus Gottes Liebe.“60 Darum bekennen die evangelistisch motivierten Christen: „Wir lieben den lebendigen Gott […] über allem anderen [sic] […] mit Leidenschaft für seine Ehre […] als den Vater, der die Welt so sehr liebte, dass er seinen einzigen Sohn für unsere Rettung hingab […,] als den Vater, dessen Wesen wir widerspiegeln und dessen Fürsorge wir vertrauen.“61 Ähnlich wird auch die Liebe zu Gott dem Sohn und Gott dem Heiligen Geist bekannt.62 Diese Liebe fließt über in die Liebe zur Welt: „Wir teilen Gottes Leidenschaft für seine Welt. Wir lieben alles, was er geschaffen hat, […] die Welt der Völker und Kulturen […], die Armen und Leidenden der Welt […], unseren Nächsten wie uns selbst.“63 Solche Liebe wird konkret in der Liebe zum Evangelium als gute Nachricht. „Wir lieben die Geschichte, die das Evangelium erzählt“,64 aber auch die „Gewissheit, die das Evangelium bringt“65 und die „Veränderung, die das Evangelium hervorbringt.“66 Aus dieser Liebe heraus erwächst ein integrales Missionsverständnis, das einladendes Zeugnis ebenso umfasst wie barmherzige Fürsorge für die Bedürftigen. Wesentlich ist dabei die Einsicht, dass die Liebe auch die Art und Weise des Zeugnisses formatiert. So muss vom Respekt gegenüber Menschen anderer Glaubensrichtungen die Rede sein (denen gleichwohl die Einladung zum Glauben an Jesus Christus auszu-

58 Balthasar, Spiritualität, 314. 59 Berthold, Aspekte, 146. 60 Die vollständige Kapstadt-Verpflichtung findet sich in deutscher Übersetzung bei Winterhoff/Herbst/Harder (Hg.), Lausanne, 224–286, Zitat 229. 61 A. a. O., 231–233. 62 Vgl. a. a. O., 233–237. 63 A. a. O., 239–242. 64 A. a. O., 243. 65 A. a. O., 244. 66 Ebd.

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richten ist), jeder Zwang abgelehnt werden, die Religionsfreiheit geachtet und das Leiden als möglicher Ausgang angenommen werden.67 Christliche Spiritualität wird so zur Quelle des Zeugnisses in dieser Liebesbeziehung.68 In der anglikanischen Bewegung der fresh expressions of church69 finden wir ähnliche Überlegungen, wenn Susan Hope über mission-shaped spirituality schreibt: „This is a spirituality that burns – with love for God, with love for the world.“70 Eine solche Spiritualität wiederum nennt die anglikanische Theologin „a ‚spirituality for mission‘, a spirituality that will engender and support mission – an apostolic spirituality.“71 So können wir als erstes festhalten: Christliche Spiritualität als „wahrnehmbare Gestalt des Glaubens“ oder wahrnehmbarer „Ausdruck einer in Christus wurzelnden vertrauensvollen Hingabe an Gott“72 ist die Quelle des evangelistischen Zeugnisses. Als Quelle kann sie nicht anders, als sich in das Land zu ergießen. Sie kann nicht bei sich bleiben, sondern bringt das Zeugnis des Glaubens hervor: „Wir können’s ja nicht lassen, von dem zu reden, was wir gesehen und gehört haben“ (Apg 4,20). Die Erfahrung, mit dem Geist Gottes begabt worden zu sein, führt nicht zu frommer Selbstgenügsamkeit, sondern ruft bereits in der Pfingsterzählung mannigfaltige Zeugnisse hervor: „Sie wurden alle erfüllt von dem Heiligen Geist und fingen an zu predigen in andern Sprachen, wie der Geist ihnen gab auszusprechen“ (Apg 2,4). Die öffentliche Rede des Petrus fügt sich (nur) in diesen größeren Zeugnis-Zusammenhang ein. Peter Zimmerling versteht evangelische Spiritualität zum einen als Konzentration (auf Jesus Christus, die Bibel usw.), zum anderen als Grenzüberschreitung in Richtung auf die Lebenswelten,73 eben auch durch das Zeugnis von Christus. Entspringt das evangelistische Zeugnis aber einer solchen Quelle, dann wird es auch durch diese Quelle in seiner Flussrichtung bestimmt. Um bei der Metapher zu bleiben: Bestimmte Wege werden sich dann öffnen, andere aber verschließen. Darum geht es im zweiten Abschnitt:

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A. a. O., 262–268. Vgl. auch Walldorf, Neu-Evangelisierung, 339–341. Vgl. grundlegend Pompe/Todjeras/Witt (Hg.), Kirche. Hope, Spirituality, 22. A. a. O., 3. Dabei betont Susan Hope die jeweiligen Wechselwirkungen: Aus dem geistlichen Leben erwächst das Zeugnis des Glaubens, aber ebenso stärkt das Zeugnis des Glaubens die eigene Glaubensgewissheit (vgl. a. a. O., 6f). 72 Beide Bestimmungen finden sich bei Sautter, Spiritualität, 50. 73 Vgl. Zimmerling, Spiritualität, 284.

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3.2

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Der Weg

Besonders in den vielfältigen Überlegungen, die in Großbritannien zur missionarischen Neuausrichtung der Kirche angestellt wurden, tritt immer wieder der geistliche Charakter des missionarischen Neuaufbruchs hervor. Die Besonderheit der missionarischen Bemühungen ist die andauernde Betonung ihres spirituellen Wesens. Spiritualität formt und fördert die Evangelisation und Evangelisation bildet und stärkt die Spiritualität. Dies soll an drei Beispielen verdeutlicht werden:

3.2.1 Michael Moynagh In seinem Standardwerk Church for every Context unterscheidet Michael Moynagh zwei verschiedene missionarische Strategien für komplizierte und komplexe Kontexte.74 Die eine setzt eher traditionell an und startet in einem missionarischen Kontext, in dem eine attraktive Veranstaltung, z. B. ein alternativer Gottesdienst, angeboten wird, in der Hoffnung, dass sich die Menschen dorthin einladen lassen. Diese Strategie hält Moynagh keineswegs für grundsätzlich falsch, aber er schätzt ihre Reichweite über die Menschen hinaus, die noch eine gewisse Bindung an die Kirche haben, als eher beschränkt ein. Darum stellt er eine zweite Strategie in den Vordergrund: die serving-first-journey. Und diese zweite Strategie entpuppt sich als ein spirituell formatierter Zugang zum evangelistischen Zeugnis der Kirche. „In this model, the starting point for a new church is not a worshipping congregation, preceded by preparation, but loving and serving others, preceded by listening.“75 Dieses listening ist ein spirituell formatierter Zugang, der zugleich in zwei Richtungen hört: Es soll auf Gott ebenso wie auf den Kontext, seine Verhältnisse und Beziehungen wie auf die einzelnen Menschen, die hier leben, ausgerichtet sein. Betend durch das eigene Viertel zu gehen und die Frage zu bewegen, was von dem, was da zu sehen, hören, riechen oder fühlen ist, wohl Gottes Herz in diesem Viertel bewegt, vielleicht sogar zerbricht, ist eine mögliche Umsetzung, in der sich die beschriebene Haltung äußert. „The journey starts with listening to God and to the people the founding community feels called to serve, which is an act of love in itself. The community begins to build loving relationships and engage in acts of service, as Jesus did.“76 Wer so vorgeht, wird seinen Lebensschwerpunkt in den Kontext verlegen, in dem diese Reise stattfinden soll. Er wird den Beziehungen und dem 74 Vgl. zu diesem Abschnitt insgesamt: Moynagh, Church, 197–221, besonders aber zur ersten Strategie 206–208 und zur zweiten Strategie 208–214. 75 A. a. O., 208. 76 Ebd.

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gemeinsamen Dienst für das Gemeinwesen einen eigenen unbedingten Wert zusprechen. Zugleich wird er nicht verschweigen, was er glaubt. Er wird sich als disciple kenntlich machen (z. B. indem er erzählt, dass er für jemanden betet) und auch andere in discipleship einführen. So wird sein evangelistisches Zeugnis in die geistliche Reise integriert. Bestimmte Veranstaltungen (z. B. Kurse zum Glauben) oder geeignete Orte (z. B. ein eigenes Café oder ein Second-Hand-Shop) können das persönliche Zeugnis unterstützen. So entstehen allmählich auch Glaubensgemeinschaften, aber als autochthone Bildungen im jeweiligen Kontext. Ob und – wenn ja – welche Events hilfreich sind, welche Form ein Gottesdienst annimmt, welche Veranstaltungen regelmäßig stattfinden, wie Leitung aussieht und wo oder wie oft man sich trifft, entscheidet sich erst im Zusammenspiel mit den Menschen vor Ort und in der spezifischen Variante christlicher Spiritualität, die aus diesem missionarischen Kontext erwächst oder sich in ihm als angemessen erweist. So wird Spiritualität zum besonderen Weg des evangelistischen Zeugnisses. 3.2.2 Susan Hope Ähnlich wird der Weg des evangelistischen Zeugnisses von Susan Hope beschrieben. Sie nimmt ihren Ausgangspunkt in einer spirituellen Selbstvergewisserung: Wer in der missio Dei mittut, soll wissen, dass er von Gott bedingungslos geliebt wird: „The place of belonging with God […] is the place from which all mission proceeds.“77 Wir nannten das die Quelle. Weiter heißt es dann: „Knowing oneself to be greatly beloved is thus one of the keys – possibly the key – to joyful, effective and resilient mission.“78 Die anglikanische Theologin markiert daraufhin bestimmte spirituell verstandene Schritte auf dem Weg einer apostolischen Spiritualität: • Als erstes geht es um einen Sehakt (Mt 9,36): Sehen ist entscheidend.79 In der Nachfolge Jesu werden Menschen nicht übersehen, sondern wahrgenommen, und zwar mit Mitgefühl und Zuneigung. Ähnlich wie Moynagh bringt sie die Wahrnehmung der Menschen mit dem Hören auf Gott zusammen: „The task of an apostolic spirituality, then, includes the recovery of sight. It involves the spiritual discipline, the hard work, of maintaining a kind of double focus – on God and on those to whom God sends us.“80 Ausführlich beschreibt sie die Blindheit gegenüber Menschen, die in unserer Umgebung leben können. Es ist

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Hope, Spirituality, 17. Ebd. Hervorhebung im Original. Vgl. a. a. O., 22–34. A. a. O., 28.

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geradezu ein Akt der Umkehr, dem Heiligen Geist zu folgen, wenn er uns Menschen zeigt, ihr Leiden, das Zerbrochene und Suchende. Als zweites empfiehlt sie, mit leichtem Gepäck zu reisen (Lk 9,3).81 So wird einerseits das Angewiesensein auf Gott neu erlebt, andererseits der Kontakt zu Menschen erleichtert. Wir wissen, dass wir mit leeren Händen kommen. Wir wissen noch nicht, wie wir das Evangelium hier kommunizieren können. Wir lassen unser „ecclesiastical baggage“82 zu Hause (z. B. unsere vertrauten Liturgien und Lieder). Und wir lassen uns ein auf eine tiefe und aufrichtige Gemeinschaft mit den Menschen, zu denen wir gesandt sind. Dabei lautet die spirituelle Frage, die das Gebet bestimmt: „What’s needed here?“83 Als nächstes spricht sie über den gemeinsamen Dienst, da Jesus immer seine Jünger zu zweit ausgesandt habe (Lk 10,1).84 Die Beziehungen sind das Entscheidende. Menschen werden davon angezogen, möchten dazugehören (belonging) und lernen gerade da glauben (believing): „I want to be one of you.“85 Ist eine solche Gemeinschaft ein sicherer Ort, an dem auch die Nöte des eigenen Lebens sichtbar werden können, so nähern sich Menschen allmählich dem Zentrum des Glaubens. Besonders wichtig erscheint der vierte Schritt, der sich mit dem Gebet der Zeugen beschäftigt (Lk 11,9).86 „Prayer is the crunch issue for mission.“87 Ähnlich wie bei dem leichten Gepäck geht es auch hier um die gesunde Abhängigkeit von Gott im evangelistischen Zeugnis. Gerade in schwierigen Situationen, komplizierten Begegnungen oder im Scheitern unserer Bemühungen, lernen wir uns mehr und mehr an Gott zu halten und auf ihn zu verlassen. Diese Abhängigkeit ist auch aus einem anderen Grund wichtig: Am Ende ist es der Heilige Geist als apostolischer Geist, der Glauben und Erneuerung schafft. Ohne ihn werden wir nichts bewirken: „There can be no truly apostolic spirituality without an experience of the Holy Spirit, living and active among us, for the spirit is himself apostolic – the one who is sent.“88 Im fünften und sechsten Schritt geht es schließlich (und jetzt erst) um die Botschaft (Mt 10,7)89 und um den Dienst der Heilung (Mt 10,8).90 Die Botschaft dreht sich im Kern um die zentrale Einsicht, dass Jesus auferstanden ist und lebt. Von da aus ergibt sich alles andere, was zu bezeugen ist. Zu diesem Vgl. a. a. O., 35–49. A. a. O., 43. A. a. O., 47. Vgl. a. a. O., 50–60. A. a. O., 55. Vgl. a. a. O., 61–73. A. a. O., 61. A. a. O., 69. Vgl. a. a. O., 74–82. Vgl. a. a. O., 83–95.

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Glauben rufen wir, wenn wir evangelistisch bezeugen, was unser Leben trägt. Susan Hope betont dabei das persönliche Zeugnis, das in einer Kultur, die gegenüber abstrakten Wahrheitsansprüchen skeptisch eingestellt ist, doch Gehör finden kann. Der Abschnitt über Heilung thematisiert in unterschiedlicher Weise, das unser evangelistisches Zeugnis auch mit dem Kampf gegen alle Variationen von Krankheit zusammenhängt (leiblich, seelisch, in Beziehungen), ohne für jeden Fall eine vollständige Heilung zu erwarten. Aber noch einmal wird der Zusammenhang mit einer vitalen Spiritualität sichtbar: „Missionary engagement therefore needs to draw on a particularly robust spirituality, which can take on the powers, whether social or supernatural.“91

3.2.3 Kurse zum Glauben92 Wir kommen dem Zusammenhang von evangelistischem Zeugnis und Spiritualität noch ein Stück näher, wenn wir sehen, wie bestimmte Gestaltungsweisen des evangelistischen Zeugnisses direkt an Gestaltungsweisen christlicher Spiritualität andocken. So gibt es seit langem die Einladung zu einem gemeinsamen Bibellesen von Christen und suchenden Menschen im Kontext der christlichen Studierendenarbeit.93 Oder es gibt Hinweise, dass Menschen den Glauben erkunden, indem sie Angebote zum Beten wahrnehmen und selbst anfangen, in der Stille zu beten.94 Hier soll auf einen anderen Weg verwiesen werden: Bereits 2005 hat Jens Martin Sautter in seiner Greifswalder Dissertation die Arbeit mit Kursen zum Glauben als Spiritualität lernen beschrieben.95 Dabei ist es wichtig zu unterscheiden:96 Spiritualität als „wahrnehmbare Gestalt des Glaubens“ kann ich lernen und üben, den Glauben als daseinsbestimmendes Vertrauen und als Gabe des Geistes nicht. Einen Zusammenhang gibt es nur durch die Verheißung, dass mir Glauben geschenkt wird, wenn ich mich dort einfinde, wo der Geist am liebsten durch äußere Mittel (Wort und Sakrament) Glauben wirkt. Das Wort soll ja nicht leer zurückkommen (nach Jes 55,11). Außerdem wird sich das daseinsbestimmende Vertrauen im Verhalten äußern und verleiblichen, sonst bestimmt es nicht das Dasein (im Anschluss an W. Härle97).

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A. a. O., 92. Vgl. auch Zimmerling, Spiritualität, 280–283. Vgl. ausführlich dazu Moldenhauer, Theologie. Vgl. Zimmermann/Schröder (Hg.), Erwachsene, 140–147. Vgl. Sautter, Spiritualität. Vgl. a. a. O., 61–64. Vgl. Härle, Dogmatik, 64.

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Sautter versteht darum unter Spiritualität den „Bedingungsraum für die Entstehung und Erhaltung des Glaubens, d. h. sie führt auf den Glauben hin. Sie ist aber zugleich der Ausdruck, die Gestaltwerdung des Glaubens, d. h. sie kommt vom Glauben her.“98 Kurse zum Glauben befassen sich mit vier Feldern christlicher Spiritualität: mit Lehre, Gemeinde, Alltag und Liturgie.99 Und die meisten bieten obendrein eine „Inszenierung einer Antwort“ an, also Symbolhandlungen, in denen der Mensch, dem der Glaube geschenkt wurde, eine eigene wahrnehmbare Antwort auf dieses Geschenk gibt, z. B. durch ein Gebet, ein Bekenntnis, die Teilnahme an einer Tauferinnerung oder den Gang zum Abendmahl.100 Wer an einem solchen Kurs wie z. B. Alpha oder Emmaus101 teilnimmt, erlebt nicht nur die Weitergabe von Informationen, er wird auch eingeladen, sich probehalber und auf Zeit in den Feldern christlicher Spiritualität zu bewegen, also z. B. biblische Texte zu betrachten, zu beten, Gemeinschaft zu erleben, Lieder zu singen, einen Segensspruch zu hören. Er wird gleichsam in einen „Lebensstil“ eingeführt.102 Ist Evangelisation die Initiation in ein Leben mit Gott, so wird dieses Leben provisorisch schon einmal bewohnt. Fragt jemand, was das Christsein ausmacht, lautet die Antwort: „Kommt und seht!“ (Joh 1,39). „Die Teilnehmerinnen und Teilnehmer eines Kurses sind Gäste. Sie leben für eine bestimmte Zeit im Haus des Glaubens. Während manche der Gäste froh sind, nach ihrem Besuch wieder nach Hause zurückkehren zu können, beschließen andere, sich in diesem Haus fest einzurichten.“103

3.3

Das Ziel

Wenn sich Menschen im Haus des Glaubens einrichten, dann wird deutlich: Das Ziel evangelistischen Zeugnisses ist dieses Leben im Haus des Glaubens, das sich wiederum verleiblicht, also spirituell darstellt. Jetzt geht es um die Gestaltwerdung vom Glauben her. Der entscheidende Beitrag der Evangelisation zum Thema Spiritualität ist es, zu verdeutlichen: Christliche Spiritualität ist nicht einfach das Gegebene. Es braucht Anfänge und dann Einübungen. Evangelisa-

98 Sautter, Spiritualität, 62 (Hervorhebung im Original). 99 Vgl. a. a. O., 64–78. 100 Vgl. a. a. O., 107f. Peter Zimmerling spricht von „neuen Entscheidungsriten“ (S. Zimmerling, Spiritualität, 38). 101 Vgl. als Übersicht über die wichtigsten Kurse: Arbeitsgemeinschaft Missionarische Dienste (Hg.), Bildungsangebote. 102 Vgl. Sautter, Spiritualität, 282. 103 A. a. O., 288.

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tion tut ihren Dienst genau an dieser Nahtstelle: wo es um den Beginn geht, die erstmaligen oder wiederholten Anfänge in einem Leben mit Gott. Unsicherheit wie Zuversicht an dieser Nahtstelle bringt schließlich noch einmal Jens Martin Sautter auf den Punkt: „Die Gestaltung eines reformatorisch geprägten spirituellen Lernzusammenhangs kann nicht die Entstehung von Glauben garantieren, man darf aber glauben und darauf hoffen, dass Menschen in diesem Zusammenhang das Reden Gottes vernehmen und zum Glauben finden.“104 Wie passen evangelische Spiritualität und Evangelisation zusammen? Die EKD-Studie hatte uns nahegelegt, diesem Zusammenhang nachzugehen. Dabei wurde die wechselseitige Einwirkung von Evangelisation auf Spiritualität sichtbar. Eines braucht das andere, eines befruchtet das andere.

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Michael Herbst

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Friedemann Walldorf

Transparenz und Transformation Historische und gegenwärtige Aspekte evangelischer Missionsspiritualität

Während der Begriff der Spiritualität in den letzten Jahrzehnten zunehmend an Beliebtheit gewonnen hat,1 stößt das Konzept christlicher Mission bei vielen Zeitgenossen eher auf Skepsis – oft verbunden mit Assoziationen von Kulturimperialismus oder fanatischer religiöser Rechthaberei.2 Andererseits finden sich in Kirche und Theologie seit Jahren wichtige Neuansätze, die sich selbstkritisch mit der Geschichte und Praxis christlicher Mission auseinandersetzen und die Bedeutung des christlichen Zeugnisses für hoffnungsvolle Lebensgestaltung und versöhnliches gesellschaftliches und globales Zusammenleben deutlich machen.3 Eine wichtige Rolle spielt dabei die Wiederentdeckung christlicher Spiritualität als Quelle und wesentlicher Ausdruck christlicher Mission. Was dies in evangelischer Perspektive bedeutet, soll im Folgenden, ausgehend vom Verständnis missionarischer Spiritualität bei Martin Luther, in historischen und gegenwärtigen Zusammenhängen näher beleuchtet werden. Dabei wird ein Verständnis von Mission als transparenter und transformativer Praxis evangelischer Spiritualität in einer verletzlichen Welt entfaltet und reflektiert.

1 Knoblauch, Soziologie, 123 nennt Spiritualität den „Leitbegriff in der modernen Gegenwartsreligion“ und versteht sie als Transzendenzerfahrung in meist kritischer Distanz zu institutioneller und dogmatischer Religion. 2 Die zeitgenössische Wahrnehmung lässt sich in Erweiterung der Beobachtungen von Knoblauch, Soziologie, vielleicht so formulieren: Spiritualität ja, Religion nein, Mission erst recht nicht. 3 Im evangelischen Bereich einflussreich wurde u. a. Theo Sundermeiers Konzept der Zusammengehörigkeit von Konvivenz, Dialog und Zeugnis (vgl. Sundermeier, Mission). Ausführlich zu den Neuansätzen christlicher Missionstheologie im 20. Jh. vgl. Bosch, Wandel; Balz, Anfang; Walldorf, Migration, 70–150; Wrogemann, Missionstheologien.

848

Friedemann Walldorf

1.

Mission und evangelische Spiritualität in historischer Perspektive

1.1

Missionarische Spiritualität bei Martin Luther

Bei Martin Luther bilden Theologie, Frömmigkeit und Mission eine komplexe Einheit: „so gibt es bei ihm in der Tat keine isolierte Theologie […] der Heidenmission, […] weil seine gesamte Theologie die missionarische Dimension bereits in sich trägt“.4 Das Zentrum Luthers missionarischer Frömmigkeit liegt in der Erfahrung und Weitergabe der Liebe Gottes in Christus sola gratia, wie er dies seinen Zuhörern in Wittenberg einmal so vor Augen stellt: „dann got ist ein glüender backofen foller liebe, der da reichet von der erden biß an den hymmel.“5 Diese Liebe sollten die Wittenberger Christen nicht nur für sich selbst empfangen, sondern auch an andere weitergeben und „in die liebe wider außgiessen“.6 Mission beginnt als Mission Gottes selbst7 mit Gottes gnädiger Zuwendung zur Welt und zum Sünder und setzt sich fort in Nächstenliebe und im Zeugnis der ordinierten Prediger und aller Christen: „Wenn er [sc. der Christ] ist an dem ort, da keyn Christen sind, da darff er keyns anders beruffs denn das er eyn Christen ist ynnwendig von gott beruffen und gesalbet. Do ist er schuldig, den yrrenden heyden odder unchristen tzu predigen und tzu leren das Euangelion aus pflicht bruderlicher Liebe, ob yhn schon keyn mensch datzu berufft.“8

Den neutestamentlichen Missionsauftrag sah Luther zwar grundlegend auf die Apostel bezogen,9 dennoch verstand er ihn zugleich als Verheißung und Beschreibung eines dynamischen weltmissionarischen Prozesses, der „noch nit volbracht und außgericht ist“10 und an dem auch die Kirche der Reformation Anteil hat. 4 Gensichen, Missionsgeschichte, T 6; ausführlich zum Missionsgedanken bei Luther vgl. Wetter, Luther. 5 Ein Sermon am Sonnabendt (15. März 1522) (WA 10 III, 56,2–3). 6 „Ir wolt von got all sein gut im sacrament nemen und wollent sie nit in die liebe wider außgiessen“ (a. a. O., 57,7–9). 7 Vgl. das neuere Verständnis der missio Dei, das im Anschluss an die Weltmissionskonferenz in Willingen 1952 die Missionstheologie des 20. Jh. maßgeblich prägte (vgl. Vicedom, Missio; Bosch, Wandel, 456–461). 8 „Das eyn Christliche versamlung odder gemeyne recht und macht habe […]“ (1523) (WA 11, 412,16–20). 9 In einer Auslegung zu Ps 82,4 (1530) hielt Luther fest: „Das aber die Apostel auch zu erst ynn frembde heuser giengen und predigten, des hatten sie befelh und waren dazu verordnet […]. Aber darnach hat niemand mehr solchen gemeinen Apostolischen befehl […]“ (WA 31 I, 210,38–211,4). 10 Sermon am Auffahrttage (29. Mai 1522), WA 10 III, 139,25. Den fortdauernden Sendungsauftrag Christi nach Mk 16,15 deutet Luther hier mit der Metapher einer durch einen

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Luthers Überzeugung von der Dynamik des Evangeliums als Wirksamkeit der souveränen Gnade Gottes verlieh seiner Missionsspiritualität angesichts äußerer und innerer Widerstände eine vertrauensvolle Gelassenheit,11 befreite aber gleichzeitig zum aktiven missionarischen Handeln. Als folgenreichste Ausprägung reformatorischer Missionsspiritualität kann Luthers Bibelübersetzung – auch als Modell für spätere weltmissionarische Praxis (siehe 1.2.) – verstanden werden.12 Auch die von Luther und anderen Dichtern verfassten Lieder dienten nach seiner Absicht dazu, in Kirche, Haus und Gesellschaft das „heylige Evangelion, so itzt von Gottes gnaden widder auff gangen ist, zu treyben und ynn schwanck zu bringen“.13 Zentrales missionarisches Mittel war die deutschsprachige Messe, die Luther als „öffentliche reytzung zum glauben und zum Christenthum“ verstand.14 In krassem Widerspruch zu einer an Gottes Gnade und Menschenfreundlichkeit ausgerichteten Missionsspiritualität standen jedoch vor allem Luthers spätere religionspolitische Äußerungen gegen die Juden.15 Doch trotz dieser dunklen Seite gelang es Luther insgesamt, wesentliche Aspekte neutestamentlicher, vor allem paulinischer, Missionsspiritualität,16 wiederzugewinnen: 1. das Evangelium von der Gnade Gottes in Christus als missionarische dynamis theou (Röm 1,16), 2. das christliche Leben im Alltag als eigentlicher Ort der Mission, als Sichtbarmachung und Bewährung des Evangeliums: „Wandelt nur würdig des Evangeliums Christi“ (Phil 1,27) und „scheint als Lichter in der Welt, als Gottes Kinder […] dadurch dass ihr festhaltet am Wort des Lebens“ (Phil 2,15f), und 3. die Verkündigung des Evangeliums als univer-

11 12 13 14 15

16

Steinwurf ins Wasser ausgelösten Wellenbewegung bis an die fernsten Ufer: „Es ist eben umb dise botschafft oder predyge, als wenn man ain stain ins wasser würfft: der macht bulgen [Wellen] und kreyß und strymen umbsich, und die bulgen walchen sy ye mer fürt und fürt, aine treibt die ander, biß das sy an das ufer kommen: wie wol es miten inn still wirt, noch ruwent die bulgen nit, sonder farent für sich. Also geedt es auch mit der predyg zu: sy ist durch die Apostel angefangen und geedt ymmerdar fürt und wirt durch die prediger weiter getriben hin und her in die welt, veryagt und verfolget, doch ymmer weytter denen die sy zuvor nit gehört haben“ (a. a. O., 140,1–9). Bekanntermaßen pries Luther den Lauf des Evangeliums, während er „wittenbergisch bier mit meynem Philipo und Amßdorff getruncken hab […]. Ich hab nichts getahn, das wort hatt es alles gehandelt und außgericht.“ (WA 10 IIII, 18,16–19,3). Vgl. Zimmerling, Spiritualität, 58–61; Kasdorf, Bible. Die Vorrede des Wittenberger Gesangbuches von 1524, WA 35, 474,13–14. Deudsche Messe und ordnung Gottis diensts (1526), WA 19, 75,1–2. Während Luther sich 1523 in der Schrift „Daß Jesus Christus ein geborner Jude sei“ (WA 11, 314–336) für eine freundliche, wenn auch bekehrungsorientierte Begegnung mit den Juden eingesetzt hatte, forderte er in seiner späteren, massiv polemischen Schrift „Von den Juden und ihren Lügen“ (1543), WA 53, 412–552, mit hässlichen Worten ihre gewaltsame Vertreibung. Zum historischen Kontext und der problematischen biblischen Hermeneutik Luthers in dieser Schrift vgl. Stolle, Israel, 348–356, sowie Kaufmann, Judenschriften, 90–131; Beyer, Luther. Vgl. O‘Brien, Gospel, 50–76.86–90.

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saler priesterlicher Dienst, wie Paulus schrieb: „ich [bin] ein Diener Christi Jesu unter den Heiden […], der mit dem Evangelium Gottes wie ein Priester dient, auf dass die Heiden ein Opfer werden, das Gott wohlgefällig ist, geheiligt durch den Heiligen Geist“ (Röm 15,16). Eine ausgeprägte weltmissionarische Umsetzung dieser zuletzt genannten Perspektive fand jedoch erst im Pietismus und den von ihm inspirierten Erweckungsbewegungen des 18. und 19. Jh. statt.

1.2

Missionsgesellschaften als Globalisierung evangelischer Spiritualität

Die Missionsgesellschaften des Pietismus und der Erweckungsbewegungen stellen eine bahnbrechend neue Sozialstruktur evangelischer Spiritualität dar. Impulse aus der katholischen Ordensmission aufgreifend, entwickelten sie sich in mehreren Phasen17 in einem ökumenischen, übernationalen und transatlantischen Kontext, eng verbunden mit anderen neuen Formen evangelischer Spiritualität, vor allem den sogenannten concerts for prayer, wöchentlichen und konfessionsübergreifenden Gebetsversammlungen für die Erweckung der Christenheit und die weltweite Ausbreitung des Reiches Gottes.18

1.2.1 Von der pietistischen Mission zur Glaubensmission In seiner Himmelfahrtspredigt von 1677 stellte der pietistische Theologe Philipp Jakob Spener fest, die Kirche sei beauftragt, „die ehre ihres bräutigams zu befördern und also seinen nahmen auch unter die Heiden zu tragen. Sie muß die gränze des reichs ihres bräutigams nicht auß eigener schuld enger einspannen lassen.“19 Er schlug vor „feine, gottselige und fähige junge Leute, die zu dem studiren tüchtig sind, absonderlich zu den frembden sprachen und nöthigen studiis anzuführen, und sie eine gewisse zeit in der frembde zu unterhalten, daß sie alle gelegenheit suchten, mit den unglaubigen umbzugehen, und mit unterricht, sonderlich aber mit heiligem wandel einige zu gewinnen, also auch gottselige bücher, sonderlich das Neue Testament in frembden 17 Fiedler, Vertrauen, 12–35, unterscheidet drei historische Typen und Phasen von Missionsgesellschaften: die vorklassischen (Pietismus) und die klassischen (Erweckungsbewegung) Missionen sowie die nachklassischen Glaubensmissionen (Heiligungsbewegung, Neupietismus). 18 Die Idee und Praxis ging 1744 von presbyterianischen Christen in Schottland aus und wurde durch den amerikanischen Erweckungsprediger Jonathan Edwards in seinem Buch A Humble Attempt To Promote Explicit Agreement And Visible Union Among God’s People [1747] weit verbreitet (vgl. Beaver, Concert). 19 Predigt auf das Fest der Himmelfahrt Christi (1677), in: Spener, Deß thätigen Christenthums Nothwendigkeit, 888–927, dort: 908.

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sprachen drucken zu lassen […]. Was den Papisten müglich ist, muss auch uns müglich sein.“20

Erste praktische Umsetzungen erfolgten in der von August Hermann Francke ab 1706 organisierten Dänisch-Halleschen Mission an der Südostküste Indiens sowie in den von Nikolaus Graf von Zinzendorf geprägten Missionen der Herrnhuter Brüder-Unität (ab 1732 in der Karibik).21 Mindestens ebenso einflussreich wie Speners Himmelfahrtspredigt war die – allerdings mehr als 100 Jahre spätere – Programmschrift des englischen Baptisten William Carey (1792) „Eine Untersuchung über die Verpflichtung der Christen, Mittel einzusetzen für die Bekehrung der Heiden“.22 Auf dem Hintergrund neuer bürgerlicher und religiöser Freiheiten, die Carey als Auswirkungen der oben erwähnten concerts for prayer sah,23 plädierte er für die Gründung einer Missionsgesellschaft als nächsten Schritt: „Suppose a company of serious Christians, ministers and private persons, were to form themselves into a society, and make a number of rules respecting the regulation of the plan, and the persons who are to be employed as missionaries.“24 Berufen werden sollten nur Männer, „whose hearts are in the work“. Ausgeschlossen bleiben sollten Abenteurer, „going more for the sake of […] temporal gain […], than of preaching to the poor Indians“.25 Die aus Careys Aufruf noch im gleichen Jahr hervorgegangene Baptist Missionary Society (1792) wurde schnell zum Vorbild ähnlicher Missionsvereine in ganz Europa, u. a. der konfessionsübergreifenden Basler Mission (1815) in der Schweiz und der Rheinischen Mission (1828) in Deutschland sowie – etwas später – konfessioneller (evangelisch-lutherischer) Missionsgesellschaften wie der Leipziger (1836/1848), der Hermannsburger und der Neuendettelsauer Mission (beide 1849).26 Mit der Gründung der China-Inland-Mission (1865) durch den englischen Arzt Hudson Taylor setzte eine weitere Welle von Gründungen ein, die sogenannten Glaubensmissionen als Ausdruck der Spiritualität des Neupietismus

20 A. a. O., 911. Ausdrücklich erkennt Spener den Einfluss der katholischen Weltmission an: „Die Papisten gehen uns hierinnen also vor […]: Daß wir uns solches exempels nicht anders als mit scham erinnern können […].“ (a. a. O., 909). Auch den Begriff „Mission“ als terminus technicus für die Glaubensweitergabe übernahmen die Pietisten aus der jesuitischen Ordensspiritualität (vgl. Kasdorf, Gedanken, 16–17). 21 Vgl. Zimmerling, Pioniere; ders. Spiritualität, 105–109. 22 Carey, Enquiry. 23 „A glorious door is opened, and is likely to be opened wider and wider, by the spread of civil and religious liberty“ (a. a. O., 79). 24 A. a. O., 82. 25 A. a. O., 83. 26 Vgl. Grundmann, Missionsgesellschaft, 1311; Gensichen, Missionsgeschichte, T 31–39.

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und der Heiligungsbewegung.27 Neu waren hier u. a. die geringe Betonung institutioneller und konfessioneller Aspekte zugunsten einer möglichst raschen flächendeckenden Evangelisationspredigt, das Erreichen der bisher vernachlässigten Inlandsgebiete, die radikale Anpassung an äußere Formen lokaler Kultur, die Anstellung von Frauen sowie der Verzicht der Missionare und Missionarinnen auf ein festes Gehalt.28 1.2.2 Die Missionsgesellschaft als Globalisierung evangelischer Spiritualität Als neue Sozialstruktur evangelischer Spiritualität trugen die Missionsgesellschaften, als Pendent zu den katholischen Missionsorden, entscheidend zur weltweiten Übersetzung und Globalisierung evangelischer Spiritualität bei.29 Gleichzeitig förderten sie neue, global orientierte Ausprägungen evangelischer Spiritualität in der Heimat. Dazu gehörte das neue Berufsbild des Missionars (neben dem des Pfarrers), das Missionsfest als evangelische Pilgerstätte,30 das Missionsgebet,31 das Missionsopfer (Naturalien oder Geld) und die Lektüre der Missionszeitschriften zur geistlichen Erbauung.32 Im Zentrum des Berufsbildes des evangelischen Missionars stand das Verständnis einer inneren geistlichen Berufung. So nahm Bartholomäus Ziegenbalg, der erste Missionar der DänischHalleschen Mission, den „Ruf aus Kopenhagen“ erst an, als er sich der „Berufung durch die ‚vocatio interna‘, das innere Zeugnis des Geistes, gewiß war“.33 Das Vertrauen auf göttliche Versorgung statt auf kirchliche oder staatliche Finanzstrukturen, besonders ausgeprägt in den Glaubensmissionen, näherte den Missionarsberuf dem „Ideal urchristlicher Armut“34 und sowie dem des katholischen Mönchs an.35 Die folgenreichste Wirkung der Missionsgesellschaften war jedoch fraglos die weltweite Ausbreitung evangelischer Spiritualität.36 Eine zentrale Rolle spielte dabei – in Übereinstimmung mit dem sola scriptura der Reformation – die 27 Vgl. Fiedler, Vertrauen, 35–102; in Deutschland u. a. die Allianz-Mission (1889) und die Liebenzeller Mission (1899), vgl. a. a. O., 35f. 28 Vgl. Austin, Millions; Fiedler, Vertrauen, 66–70. 29 Vgl. Walls, Ursprung; Rezepkowski, Missionsgesellschaft, 289–292. 30 Vgl. Missionsfest-Pilger. 31 Gensichen, Glaube, 240, spricht im Anschluss an Rahners Konzept des Gebetsapostolats von der „Sendung zum Gebet für das Heil der Welt“. 32 Vgl. Walls, Ursprung 57–59; Austin, Millions, 203. 33 Zimmerling, Pioniere, 18. 34 Feldtkeller, Pietismus. 35 Vgl. Rezepkowski, Missionsgesellschaften, 290. 36 Während Anfang des 19. Jh. das evangelische Christentum in Asien und Afrika noch kaum Fuß gefasst hatte, befindet sich gegenwärtig die statistische globale Mehrheit protestantischer Christen außerhalb Europas und Nordamerikas (32 % Afrika, 20 % Asien, 13 % Lateinamerika, Stand: 2010) (vgl. Atlas, 90).

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Übersetzung der Bibel in eine Vielzahl lokaler Sprachen in Asien, Afrika und Lateinamerika.37 Dies wurde zum Ausgangspunkt der Entwicklung zahlreicher eigenständiger Inkulturationen und Dialekte evangelischer Spiritualität in selbstständigen Kirchen in außereuropäischen Kontexten.38 Was Mission angesichts dieser grundlegend neuen Situation bedeuten konnte, wurde in der globalen Missionstheologie des 20. Jh. zunehmend als Ausrichtung auf eine neue missionarische Spiritualität verstanden.

2.

Missionarische Spiritualität in der neueren missionstheologischen Diskussion

2.1

Die spirituelle Wende in der ökumenischen Missionstheologie

Zunächst ist bemerkenswert, dass die Rezeption und Diskussion des Konzepts der Spiritualität in der evangelischen Theologie vorwiegend über die ökumenische Missionstheologie erfolgte.39 Die Weltmissionskonferenz des Ökumenischen Rates der Kirchen (ÖRK) in Bangkok 1972/1973 fokussierte erstmals einen weit gefassten Begriff menschlicher Spiritualität als Kontext christlicher Mission. Der indische Theologe M.M. Thomas, Vorsitzender des Zentralkomitees, formulierte: „Menschliche Spiritualität ist der Weg, auf dem der Mensch in seiner Freiheit, sich selbst zu transzendieren, nach letzten sinnvollen und geheiligten Strukturen sucht, innerhalb derer er sich selbst erfüllen und verwirklichen kann.“40 In diesem Kontext sah er die „Mission der Kirche [darin], daß sie […] Jesus Christus als Quelle, Richter und Versöhner der menschlichen Spiritualität […] bezeugt.“41 Damit leitete Bangkok eine spirituelle Wende in der ökumenischen Missionstheologie ein. Ohne das in den 1960er-Jahren im Vordergrund stehende sozialpolitische Engagement preiszugeben, bezog man nun stärker die geistliche

37 Sanneh, Translating, spricht von der „translatability“ des christlichen Glaubens, ein Vorgang, der auch in den Kulturwissenschaften Aufmerksamkeit findet: die einheimischen Empfänger werden „nicht mehr nur als passive Empfänger europäischer Transferangebote betrachtet […], sondern ausdrücklich als aktive Mitgestalter des Übersetzungsprozesses“ (BachmannMedick, Cultural Turns, 265). 38 Vgl. Sanneh, Translating; vgl. exemplarisch die Überlegungen zum Pietismus in China bei Lehmann, China. 39 Vgl. EKD, Spiritualität, 9; Lienemann/Barth, Spiritualität, 98; Zimmerling, Spiritualität, 15– 16. 40 Thomas, in: Potter, Heil, 33. 41 A. a. O., 35.

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Dimension des Missionsauftrags ein.42 Vor allem die orthodoxen Kirchen im ÖRK hatten gemahnt, dass Mission sich nicht im gesellschaftspolitischen Einsatz erschöpfen dürfe, sondern Hoffnung vermittelt, die jenseits des „gegenwärtigen Lebens liegt, etwas, das endgültig ist und immerwährende Freude bringt“.43 Auf diesem Hintergrund prägte die Vollversammlung des ÖRK in Nairobi 1975 den Begriff einer „Spiritualität für den Kampf“ (spirituality for combat)44 als Verbindung einer vertieften gottesdienstlichen Erfahrung mit dem missionarischen Einsatz gegen Rassismus, Armut und Ungerechtigkeit. Wieder war es M.M. Thomas, der unter Verweis auf das Vorbild der Gemeinschaft von Taizé formulierte: es gehe um das „Streben nach einer Heiligkeit im Handeln, die Kampf und Meditation vereint. Die Wiederentdeckung von Bibel und Liturgie ist hier von ausschlaggebender Bedeutung.“45 Weitere wichtige Impulse vermittelte die Lausanner Konferenz für Weltevangelisation 1974, die den evangelistischen, pneumatologischen und ganzheitlich-kontextuellen Charakter der Weltmission hervorhob: „[wir] freuen […] uns daran, daß das Evangelium, selbst wenn es in irdenen Gefäßen gefaßt ist, ein kostbarer Schatz ist. Erneut übernehmen wir die Aufgabe, diesen Schatz durch die Kraft des Heiligen Geistes bekanntzumachen“ (§1).46 „Der Heilige Geist ist ein missionarischer Geist. Evangelisation soll deshalb aus der geisterfüllten Gemeinde wie von selbst erwachsen“ (§14). Dabei wirkt der Heilige Geist als Übersetzer der biblischen Narrative in die globale Vielfalt menschlicher Erfahrung: „Der Heilige Geist […] erleuchtet Sein Volk in allen Kulturen. So erkennen die Gläubigen Seine Wahrheit immer neu. Der Heilige Geist enthüllt der ganzen Gemeinde mehr und mehr die vielfältige Weisheit Gottes“ (§2). Die Botschaft der Vollversammlung des ÖRK von Nairobi fasste diese unterschiedlichen Impulse einer Neuausrichtung so zusammen: „Wir sehnen uns nach einer neuen Spiritualität, die unser Planen, Denken und Handeln durchdringt.“47 Dies gab auch in den evangelischen Kirchen Deutschlands Anlass, die Frage nach Spiritualität und Mission zu bedenken. Die EKD-Studie „Evangelische Spiritualität“ (1979) spiegelt die spirituelle Wende der Missionstheologie, indem sie ein vorwiegend politisches Missionsverständnis kritisch befragt: „Kommt es [in der Weltmission] auf die ruhige und geduldige Überzeugungsarbeit mit dem Wort der Verkündigung nicht mehr an? Gilt es nur noch, an der ‚Änderung der 42 Vgl. Cashmore/Puls, Spirituality, 950: „By the 1970s many of those engaged in the struggles for social justice were disillusioned, and there was a hunger for more spiritual nourishment and undergirding.“ 43 Zit. Barth, Spiritualität, 99. 44 A. a. O., 98. 45 Thomas in: Krüger/Müller-Römheld, Nairobi, 250. 46 Aus der Lausanner Verpflichtung (1974) in: Wietzke, Mission, 1–11. 47 Zit. EKD, Spiritualität, 9; vgl. Krüger/Müller-Römheld, Nairobi, 1.

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Strukturen‘ mitzuhelfen?“ Demgegenüber verweist die Studie auf die Transformationskraft missionarischer Spiritualität: „Christliche Spiritualität wurzelt in einem weiteren und tieferen Lebens- und Erfahrungshorizont […]. Menschen, die eine geistliche Verwurzelung haben, werden aber immer das Zusammenleben so gestalten helfen, daß dabei mehr Brüderlichkeit, mehr Anteilgeben, mehr Ausgleich und mehr Versöhnung verwirklicht wird.“48

Auch für den missionarischen Auftrag im eigenen Umfeld wird die Bedeutung der Spiritualität hervorgehoben: die „gesellschaftliche Präsenz“ der Kirche bleibe „bedeutungslos, wenn in ihr nicht zugleich Spiritualität verwirklicht wird“.49 Die größten „missionarischen Chancen“ in einer technikmüden und neureligiös interessierten Gegenwart lägen „in einer Kombination von spiritueller Grundorientierung und einem gesellschaftlichen Engagement“.50 Evangelisation wird als Aspekt „spiritueller Erneuerung“ verstanden und soll „mit Priorität“ gefördert werden.51 Sie könne „nicht einfach wie früher betrieben werden“, habe aber „längst neue Zugänge gefunden“, wobei „ein durch gemeinsames Leben motivierter Einstieg in die Bibel“52 als zentral betrachtet wird.

2.2

Auf dem Weg zu einer transformativen Spiritualität

Für die Gegenwart hat das Konzept der „missionarischen Spiritualität als Inbegriff der […] Mission“53 zunehmend an Bedeutung gewonnen. Gottesdienst, Liturgie und Lobpreis (Doxologie), auch in Aufnahme orthodoxer, katholischer und pfingstlich-charismatischer Impulse,54 werden als wesentliche Formen christlicher Mission in globalen Kontexten verstanden. Der ehemalige Indienmissionar und Ökumeniker Lesslie Newbigin rückte vor allem die westliche Kultur als Missionskontext in den Fokus. Mission im postchristlichen Westen sei nicht „Produkt irgendeines menschlichen Heroismus“, sondern „spontanes Überfließen einer lobpreisenden Gemeinschaft“. Man könne von Pfingstlern und Orthodoxen lernen, dass das Leben „seine Mitte im Lobpreis [hat], der

48 49 50 51

EKD, Spiritualität, 48–49. A. a. O., 15. A. a. O., Spiritualität, 16. Hier klingt die Betonung der Lausanner Verpflichtung an: „Bei der Sendung der Gemeinde zum hingebungsvollen Dienst steht Evangelisation an erster Stelle“ (§6). 52 EKD, Spiritualität, 52. 53 Kim, Spiritualität, 1598. 54 Vgl. Spindler/Lenoble-Bart, Spiritualités; Wrogemann, Glanz, 193ff.

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wörtlich ‚außerhalb dieser Welt‘ ist und gerade deshalb zu dieser Welt sprechen kann“.55 Diese spirituellen und doxologischen Impulse wurden besonders auf der Weltmissionskonferenz von Athen (2005) und der Vollversammlung des ÖRK in Busan (Korea, 2013) aufgenommen – als Teil des ökumenischen Einsatzes für Gerechtigkeit, Heilung, Versöhnung, Evangelisation und Bewahrung der Schöpfung.56 In diesem Sinne beschreibt die neue Missionserklärung des ÖRK Gemeinsam für das Leben (Together Towards Life, 2012) eine grundlegend pneumatologische Sicht der Mission als transformative Spiritualität: „Leben im Heiligen Geist ist das Wesen der Mission, der eigentliche Grund, warum wir tun, was wir tun, und wie wir unser Leben leben. Diese Spiritualität verleiht unserem Leben eine tiefe Bedeutung und treibt uns zum Handeln an. Sie ist eine heilige Gabe des Schöpfers, die Energie, die uns Kraft gibt, für das Leben einzutreten und es zu schützen. Missionarische Spiritualität hat eine dynamische Transformationskraft, die durch das geistliche Engagement von Menschen in der Lage ist, die Welt durch die Gnade Gottes zu verwandeln. Wie können wir zu einer Mission zurückfinden, die als transformative Spiritualität wirksam wird und für das Leben eintritt?“ (§ 3).57

Auf besondere Resonanz, auch im evangelischen Raum,58 ist das 2013 veröffentlichte Missionsschreiben von Papst Franziskus Evangelii Gaudium gestoßen. Im Mittelpunkt steht hier die Freude über das Evangelium, „die persönliche Begegnung mit der rettenden Liebe Jesu“ (Evangelii Gaudium 264)59 als Kraftquelle eines engagierten und ganzheitlichen Lebensstils der Liebe: „Der wahre Missionar, der niemals aufhört, Jünger zu sein, weiß, dass Jesus mit ihm geht, mit ihm spricht, mit ihm atmet, mit ihm arbeitet. Er spürt, dass der lebendige Jesus inmitten der missionarischen Arbeit bei ihm ist“ (Evangelii Gaudium 266). Einen bemerkenswerten ökumenischen Konsens repräsentiert der Prozess MissionRespekt, der katholische, evangelisch-landeskirchliche und freikirchliche Missionswerke in Deutschland auf der Basis des Papiers „Christliches Zeugnis in einer multireligiösen Welt“ zusammenbringt.60 Das Papier wurde 2011 auf internationaler Ebene gemeinsam von ÖRK, Päpstlichem Rat für den Interreligiösen Dialog (PRID) und World Evangelical Alliance (WEA) herausgegeben. Im 55 Newbigin, Griechen, 132. vgl. Walldorf, Neuevangelisierung 339–341. Eine praktisch-missiologische Dimension dieser Einsicht stellt die soziale und evangelistische Bedeutung populärer christlicher Lobpreismusik in globalen Kontexten dar (vgl. Tan, Lobpreismusik, 241). Die gezielte Förderung ethnischer Lobpreismusik (ethnodoxology) hat sich in den letzten Jahren zu einem neuen Schwerpunkt weltmissionarischen Engagements entwickelt (vgl. Krabill, Worship; Grüter/Schubert, Klangwandel, 89–108). 56 Vgl. Wrogemann, Missionstheologien 160–169. 57 Hervorhebung von F.W. Die Erklärung ist abgedruckt in Biehl/Dehn, Mission, 116–156. 58 Vgl. International Review of Mission 104, 2015 (Heft 2); Biehl/Vellguth, Zeugnis, 63.73.83. 59 Abgedruckt als Verlautbarung des Apostolischen Stuhls, Nr. 194, Bonn 2013. 60 Zum Prozess MissionRespekt vgl. EMW/missio, Respekt sowie Biehl/Vellguth, Zeugnis.

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Zentrum von Papier und Prozess steht die Überzeugung, dass das einladende christliche Zeugnis auch in der interreligiösen Begegnung ein unverzichtbarer Ausdruck christlicher Spiritualität ist und gerade deshalb jede missionarische Praxis von den „Prinzipien des Evangeliums“ und „uneingeschränktem Respekt vor und Liebe zu allen Menschen“ geprägt sein muss.61

3.

Mission als Praxis evangelischer Spiritualität: Perspektiven und Ausprägungen

Wenn man evangelische Spiritualität als den „äußere Gestalt gewinnenden gelebten Glauben“62 und Mission als Zeugnis der christlichen Hoffnung in der Welt versteht,63 dann ist deutlich, dass evangelische Spiritualität vom Grundsatz her missionarische Spiritualität ist. In diesem Sinn formulierte Martin Luther: „Euangelion […] heyst auff deutsch, gute botschafft, gute meher, gutte newzeytung, gutt geschrey, davon man singet, saget und frolich ist.“64 Von evangelischer Spiritualität, die aus Freude am Evangelium zu missionarischer Spiritualität wird, ist denn auch nicht zuerst in konfessioneller, sondern in biblischer und ökumenischer Perspektive zu reden.65 Doch auch das Umgekehrte gilt: missionarische Spiritualität muss sich als evangelische Spiritualität am Evangelium messen lassen und die befreiende Gnade und Menschenfreundlichkeit Gottes widerspiegeln. Wie ist nun das Verhältnis von Mission und evangelischer Spiritualität zu verstehen? Grundlegend gilt: 1. In evangelischer Perspektive sind sowohl Mission als auch Spiritualität Echo und Antwort auf die bedingungslose Liebe Gottes in Jesus Christus. Sie sind nicht Bedingung, sondern Ausdruck dieser Liebe. Das sola gratia der missio Dei bleibt der geistlichen und missionarischen Praxis vorgeordnet. 2. Spiritualität und Mission lassen sich nicht scharf voneinander abgrenzen, sondern sind theologisch und in der Praxis ineinander verschränkt. Mission ist eine wesentliche Dimension evangelischer Spiritualität, und Spiritualität macht den Grundcharakter von Mission aus.66 3. Mission und Spiritualität lassen sich nicht in eine überall gültige kausal-lineare Reihenfolge bringen, sondern bilden eine Art Spirale: Mission eröffnet Räume, in denen Glaube ent61 ÖRK/PRID/WEA, Zeugnis, Präambel. 62 Zimmerling, Spiritualität, 16, im Anschluss an die EKD-Studie „Evangelische Spiritualität“ (1979). 63 Vgl. ÖRK/PRID/WEA, Zeugnis, Präambel und Grundlagen 1. 64 Vorrede (1522), WA DB 6, 2–10, dort: 2, 23–25. 65 Vgl. Evangelii Gaudium 1: „Die Freude des Evangeliums erfüllt das Herz und das gesamte Leben derer, die Jesus begegnen.“ 66 Vgl. Smith, Spirituality.

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stehen kann und neue geistliche Erfahrungen gemacht werden können; Glaube und geistliche Erfahrungen wiederum bilden Ausgangspunkt, Motiv und Quelle für neues oder weiter reichendes missionarisches Engagement. Wie Mission als Praxis evangelischer Spiritualität in der Gegenwart aussehen kann, soll abschließend in fünf Perspektiven und Ausprägungen reflektiert werden.

3.1

Mission als transparente Spiritualität

Angesichts des engen Zusammenlebens unterschiedlichster religiöser und säkularer Lebenskonzepte in einer pluralistischen Gesellschaft sowie angesichts der Überflutung der Menschen mit medialer (Des-)Information wird evangelische Spiritualität als Quelle christlicher Mission zugleich ihre wesentliche Form: Mission als stille oder expressive Freude am Evangelium, als erkennbare Christusnachfolge im Alltag und als überfließender Lobpreis.67 Wichtige Grundlagen dafür haben sowohl das Verständnis von Mission als Teilnahme an der Missio Dei als auch der Begriff von Mission als Kirche-mit-Anderen (Sundermeier) in der Zusammengehörigkeit von Konvivenz, Dialog und Zeugnis gelegt.68 Der evangelische Theologe und ehemalige Benediktiner Fulbert Steffensky hat den Zusammenhang von Spiritualität und Mission treffend als das „Gesicht zeigen“69 der Kirche bezeichnet: „Wenn ich etwas liebe und wenn ich an etwas glaube, dann liegt es im Wesen dieser Liebe, dass sie öffentlich zeigt, was sie liebt. Eine sich verbergende Liebe ist auf die Dauer keine Liebe. Man gibt sich selber ein Gesicht, man identifiziert sich selber und erfährt, wer man ist, indem man zeigt, wer man ist und woran man glaubt.“70

Im Kontext religiös pluralistischer Gesellschaften wird christliche Spiritualität, dort wo sie transparent gelebt wird, per se zur missionarischen Spiritualität. Die Formen und Farben einer solchen transparenten evangelischen Spiritualität sind so vielfältig wie die Kirchen, Gemeinschaften und Menschen, die sie leben. Wesentlich ist, dass sie das Evangelium, die gnädige Zuwendung Gottes in Christus zu jedem Menschen, deutlich erkennen lassen. Das Konzept der Transparenz knüpft sowohl an der öffentlichen Sichtbarkeit des Lobpreises der ersten Christen in Jerusalem („Sie waren täglich beieinander, […] lobten Gott und hatten Gnade bei dem ganzen Volk“, Apg 2,46f) als auch am Verständnis von 67 Vgl. Newbigin, Griechen, 132. Wrogemann, Glanz, 39, beschreibt „Mission als ein Geschehen des Lobpreises Gottes, der Doxologie“ (vgl. ebd. 193–235 sowie Biehl/Vellguth, Zeugnis, 152– 164). 68 Vgl. Sundermeier, Konvivenz; ders., Mission; Bosch, Wandel, 432–455. 69 Steffensky, Schwarzbrotspiritualität, 53. 70 A. a. O., 69.

Transparenz und Transformation

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„Evangelium“ als öffentlicher Verkündigung bei Paulus und Luther an (siehe Abschnitt 1.1.). Transparente Spiritualität bedeutet heute vor allem die persönliche und gemeinsame Bewährung und Erkennbarkeit der christlichen Hoffnung im Alltag. Dazu gehören Taufe und Abendmahl als sakramentaler Ausdruck der Liebe Gottes, christliche Gemeinschaft als respektvolle Gemeinschaft, einladende Gottesdienste, Gebet, Liturgie und Lobpreis, Formen des persönlichen, gemeinsamen oder öffentlichen Lesens der Bibel,71 Glaubenskurse, geistliche Konzerte, Tisch- und Tagzeitengebete, Pilgerwege und das bewusste Begehen von Sonn- und Feiertagen als grundständige Formen missionaler evangelischer Spiritualität.72 Nicht nur die gesellschaftliche Skepsis gegenüber ideologischer Religiosität, auch fehlgeleitete Versuche, durch fragwürdige theologische Klischees zur Mission zu bewegen, machen die Bedeutung einer von Gottes Gnade befreiten evangelischen Spiritualität, die durch ihre Transparenz zu missionarischer Spiritualität wird, umso deutlicher.

3.2

Mission als Spiritualität des Weges

Missionarische Spiritualität ist unterwegs zum Anderen, als eine Spiritualität des Reisens, eine „Spiritualität des Weges“ (Bosch) 73 und der neuen Räume. Besonders deutlich zeigen dies die Missionsreisen des Apostels Paulus und die Weltmission der katholischen Orden oder des Pietismus. Auf andere Weise setzten die iro-schottischen Mönche dies in ihrer geistlichen Wanderschaft (peregrinatio) durch Europa um, wobei die Weitergabe des christlichen Glaubens hier eher nebenbei, aber nicht weniger effektiv geschah. Das Ziel christlicher Mission bleibt das Weitertragen des Evangeliums in neue Räume, dorthin, wo es nicht (mehr) bekannt ist oder verstanden wird. Dies ist heute zunehmend weniger geografisch als kulturell, sozial oder biografisch zu verstehen. Die Hindernisse, die Menschen von der Erfahrung der Liebe Gottes trennen, können auch mitten in Kirchen und christlichen Gemeinden liegen. Mission als Spiritualität des Weges versteht sich „als Antwort auf den Ruf Gottes und die Gebrochenheit und Entfremdung der Welt“.74 Auch dies kann in vielen Formen geschehen: durch seelsorgerliche und therapeutische Angebote, durch neue Formen der Aussendung und ganzheitlichen Evangelisation in evangelikalen Missionsgesellschaften,75 durch ökumenische Partnerschaften in 71 72 73 74 75

Vgl. Dumke/Frey, Bibellesen; Vellguth, Geburtsstunde. Vgl. Helland/Hjalmarson, Missional. Vgl. Bosch, Spirituality. Smith, Spirituality, 904, übersetzt von F. W. Vgl. die Homepage der Arbeitsgemeinschaft Evangelikaler Missionen (AEM), www.aem.de oder die Homepage der Deutschen Missionsgemeinschaft (DMG), www.dmgint.de.

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kirchlichen Missionswerken,76 durch narrative Evangelisation (storytelling) in oral cultures oder unter digital natives,77 durch Bildungs-, Umwelt- und Versöhnungsarbeit, die Gründung neuer christlicher Gemeinden in subkulturellen oder multikulturellen Milieus,78 durch missionarisch aktive Migrationskirchen,79 durch diakonische und humanitäre Projekte (Flüchtlingshilfe), durch den versöhnlichen Dialog und die friedensfördernde Zusammenarbeit mit Menschen anderer Religionen in einem multireligiösen Stadtviertel.80

3.3

Mission als Spiritualität des Neuanfangs/Freiraums

Missionarische Spiritualität will nicht belehren oder bekehren, sondern helfen, Freiräume zu öffnen, in denen Menschen den christlichen Glauben neu oder erstmals für sich entdecken können. Doch Mission ist nicht absichtslos, sie wünscht, „dass auch der Fremde schön finde, was wir lieben und woran wir glauben“,81 sie wünscht, dass neuer Glaube entsteht, Menschen anderen und keines (bestimmten) Glaubens Jesus Christus als Grund ihres Lebens erfahren und Vertrauen üben. Ob und wie dies geschieht, ist für christliche Mission nicht verfügbar. Gerade in dieser Erfahrung, aber auch in der Erfahrung, dass das Evangelium vom Anderen auf seine ganz eigene Weise verstanden, entdeckt und aufgenommen werden kann, vielleicht anders als der Mitteilende es beabsichtigt hat, zeigt sich in besonderer Weise der pneumatologische Charakter von Mission als Wirken des Heiligen Geistes, der das eine Evangelium in eine Vielfalt neuer Sprachen und Ausdruckformen übersetzt (Apg 2,6–13).

76 Vgl. die Homepage des Evangelischen Missionswerks (EMW) in Hamburg, www.emw-d.de oder die Homepage der Vereinten Evangelischen Mission (VEM), www.vemission.org. 77 Vgl. Tan, Mission, 191ff. 78 Ein Beispiel dafür ist das interkulturelle Gemeindeprojekt eines mennonitischen deutschamerikanischen Missionsteams in einem Ladenlokal in Berlin-Wedding: „Das Ladenlokal, welches geistlicher und natürlicher Lebensmittelpunkt ist, haben sie gemeinsam mit Einwohnern ihrer Straße renoviert. […] In dieses Lokal ‚laden wir unsere Freunde aus unterschiedlichen Kulturen ein, um zusammen Gemeinschaft zu erleben und Gott zu begegnen‘“, Schönbeck, Gemeinde, 46. 79 Vgl. Währisch-Oblau, Migrationskirchen, sowie die theologische Interpretation einer „Mission von den Rändern“ in der neuen ÖRK-Missionserklärung (vgl. Biehl/Dehn, Mission, 30– 41). 80 Vgl. das Projekt Witnessing Dialogue in Rotterdam, in dem missionarische Christen und überzeugte Muslime gemeinsam zum Dialog einladen, sich gegenseitig ihren Glauben bezeugen und sich gemeinsam für das friedliche Zusammenleben im Stadtviertel einsetzen (vgl. EMW/missio, Respekt 2014, 27–29). Zur Geschichte der missionarischen Begegnung zwischen Christen und Muslimen in Deutschland vgl. Walldorf, Migration. 81 Steffensky, Schwarzbrot, 69.

Transparenz und Transformation

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Dazu gehört auch ein Verständnis von Mission, das bleibende religiöse Differenzen aushält und den Dialog als „Chance eines sich immer weiter vertiefenden Gesprächs und des gemeinsamen Lernens“ sieht.82 Nur in einer solchen Spiritualität des Freiraums liegt auch die Chance eines Neuanfangs und der Umkehr für alle Beteiligten – ein Vorgang, der nach Lk 15,7 Festfreude im Himmel auslöst. Neuanfang und Umkehr sind genuiner Teil evangelischer Missionsspiritualität. Sie sind weder spirituell noch missionarisch machbar, sondern bleiben das Geheimnis der Begegnung zwischen Gott und Mensch – theologisch als Geschenk Gottes sola gratia und anthropologisch als selbstbestimmte Antwort und Aneignung durch den Menschen.83 Mit Recht betont das bereits erwähnte ökumenische Papier „Christliches Zeugnis in einer multireligiösen Welt“ (2011): „Christen/innen bekräftigen, dass es zwar ihre Verantwortung ist, von Christus Zeugnis abzulegen, dass die Bekehrung dabei jedoch letztendlich das Werk des Heiligen Geistes ist […]. Sie wissen, dass der Geist weht, wo er will, auf eine Art und Weise, über die kein Mensch verfügen kann.“84

3.4

Mission als translationale Spiritualität

Sowohl im biografischen als auch im globalen und interkulturellen Kontext zeigt sich evangelische Missionsspiritualität – ausgehend vom sola scriptura mit Christus als Mitte der Schrift – als translationale (übersetzbare und übersetzungsgeprägte) Spiritualität.85 Evangelische Mission (hier auch, aber nicht nur in konfessionellem Sinn) als Expression und globale und personale Extension86 des evangelischen Glaubens stößt neue Formen und Entwicklungen evangelischer Glaubenspraxis in neuen Kontexten an: das christliche Leben im Geist findet neue Ausdrucksformen (Inkulturation) und führt gleichzeitig zur Globalisierung und zur kulturellen Pluralisierung evangelischer Spiritualität. Wie wir gesehen haben, kann die Bibelübersetzung als grundlegendes Modell für diesen Prozess dienen. Dabei interagieren (nach Andrew Walls)87 zwei Prinzipien: 1. Das Inkarnationsprinzip (incarnational principle) macht auf schöpfungstheologischer Basis deutlich, dass der neue Glaube in Sprache, Denken und Formen der lokalen Kultur zum Ausdruck kommt und Wurzeln schlägt. 2. Das Pilgerschaftsprinzip 82 83 84 85

EKiR, Weggemeinschaft, 17. Vgl. Walldorf, Migration, 399ff.471–472. ÖRK/PRID/WEA, Zeugnis (Grundlagen 7). Zum „translational turn“ vgl. Bachmann-Medick, Turns, 239–284 sowie Walldorf, Turn, 21– 22. 86 Smith, Spirituality. 87 Walls, Liberator 7–9.

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(pilgrim principle) hingegen zeigt, dass das Evangelium nie völlig in einer bestimmten menschlichen Kultur aufgeht, mit ihr identisch ist oder sich von ihr gefangen nehmen lässt; es bleibt vielmehr kritischer und erneuernder Faktor aller Kulturen auf der Basis des universalen biblischen Textes, des ökumenischen Gesprächs der weltweiten Kirche(n) und des in Christus verheißenen, kommenden Reiches Gottes. Evangelische Spiritualität als translationale Spiritualität nimmt die kreative Spannung zwischen diesen Prinzipien ernst und bemüht sich um interkulturelles Lernen sowie interdisziplinäres und polyzentrisches Denken.88 Die theologische Basis dafür ist die trinitarische Spiritualität, wie sie beispielsweise in der biblischen Begegnung Jesu mit der Samaritanerin am Jakobsbrunnen (Joh 4) zum Ausdruck kommt, und die deutlich macht, dass die Anbetung des Vaters und das Vertrauen auf den Sohn nicht auf bestimmte kulturelle oder geografische Orte begrenzt ist, sondern „im Geist und in der Wahrheit“ Grenzen überwindet und neue Perspektiven schafft.89

3.5

Mission als dialogische Spiritualität

Missionarische Spiritualität bedeutet schließlich auch andere, nichtchristliche oder pluralistische, Spiritualitäten wahrzunehmen, Differenzen auszuhalten und die friedliche Konvivenz und das Gespräch mit Menschen mit anderen Glaubenserfahrungen zu fördern. Säkulare Spiritualitäten können pneumatologisch und schöpfungstheologisch begriffen werden als Ausdruck der Sehnsucht nach authentischen Lebens- und Transzendenzerfahrungen. Angesichts islamistischer terroristischer Bedrohungen wächst die Skepsis gegenüber fanatischer ideologischer Religiosität, gleichzeitig nimmt die Sehnsucht nach Sicherheit, Zugehörigkeit und Hoffnung zu, was sich auch in einer verstärkten religiös-kulturellen Identitätssuche niederschlägt. Auch die nichtchristlichen religiösen Traditionen in Deutschland vermitteln eine Vielfalt spiritueller Ausprägungen, die ähnliche menschliche Sehnsüchte widerspiegeln wie säkulare Spiritualitäten. Hier bieten sich viele Chancen für eine dialogische evangelische Missionsspiritualität, das Gespräch mit Menschen anderer religiöser Prägung zu pflegen und sich gemeinsam mit ihnen für ein gutes Miteinander im gesellschaftlichen Kontext einzusetzen. Dies ist keineswegs gleichbedeutend mit fragloser Zustimmung, wohlmeinender Vereinnahmung oder undifferenzierter Gleichsetzung religiöser Glau88 Bereits im Neuen Testament zeigt sich eine polyzentrische Missionsspiritualität, die nicht nur von Jerusalem, sondern auch von Antiochien (Syrien), Ephesus oder Philippi her denkt (vgl. Ott, Encountering, 27–28). 89 Vgl. Tan, Mission, 140ff.

Transparenz und Transformation

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bensinhalte. Doch die theologische Überzeugung, dass mir im Anderen ein Mensch im Ebenbild Gottes begegnet und der Geist Gottes Wege des Verstehens eröffnet, bietet die Grundlage für eine respektvolle, lernbereite Begegnung, ohne die eigene Glaubensgewissheit zu verleugnen.90 Ein zentrales Kriterium der interreligiösen Unterscheidung der Geister bleibt dabei die Liebe (1Kor 13), konkretisiert in der gegenseitigen ausnahmslosen Anerkennung der Menschenwürde. Als eine an der theologia crucis orientierte Spiritualität hat evangelische Missionsspiritualität zutiefst Anteil an einer zerbrechlichen, verwundbaren Welt und weist zugleich in der Hoffnung der Auferstehung darüber hinaus. Transparenz und Ehrlichkeit im Blick auf eigene Fragen und Zweifel können zu einer Brücke des Vertrauens, auch für andere werden: „ich glaube, hilf meinem Unglauben“ (Mk 9, 24). Im Kontext der vielfältigen Spiritualitäten der Gegenwart wird eine solche dialogische und transparente Missionsspiritualität zu einem widerstandsfähigen Zeichen und einem einladenden Vorgeschmack der versöhnten Gemeinschaft mit Christus und der kommenden Versöhnung im Reich Gottes.

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Hans-Jürgen Kutzner

„Das Bild sie sollen lassen stahn“ Erwägungen zum Anteil Bildender Kunst an evangelischer Spiritualität

Das, was wir sehend wahrnehmen, bestimmt unser Denken und Empfinden zu ganz wesentlichen Teilen. Ich erinnere mich noch an jenes Bild, auch wenn es jetzt gut sechzig Jahre her sein mag. Mein Großvater sitzt in der Zimmerecke, auf den Knien die Familienbibel. Ganz vorn schlägt er sie auf: „Am Anfang schuf Gott Himmel und Erde“, und in feierlichem Ton trägt er die Schöpfungsgeschichte vor. Der Enkel, vielleicht sechs oder sieben Jahre alt, soll mit der Botschaft bekannt gemacht werden. Der Wortlaut beeindruckt mich, ansonsten sind mir meine damaligen Konnotationen nicht mehr verfügbar. Später jedoch, die Familie hat das Zimmer verlassen, schaue ich mir das dicke schwarze Buch mit dem kostbaren Goldschnitt genauer an. Neben dem, was der Großvater soeben verlesen hat, ganzseitig das Bild des Schöpfers, wie Julius Schnorr von Carolsfeld es gestaltet hat. Ich betrachte das Bild lange. Der beeindruckend lange Bart, das rätselvolle, geradezu physisch präsente Schweigen, die geschlossenen Augen. Die Güte, die aus diesem Antlitz strahlt. Die Wolken, die die Figur umgeben; die Strahlen, die von ihr ausgehen. Noch heute assoziiere ich dieses Bild vom Schöpfer, wenn ich Sonnenstrahlen hinter Wolken hervorbrechen sehe. Ich blätterte weiter, entdeckte immer mehr Bilder, konnte mich nicht satt sehen an ihnen. Sie prägten sich mir ein.1 Spiritualität, in diesem Fall: Spiritualität durch Bilder, das ist zunächst einmal eine subjektive Kategorie. Prägung durch Gesehenes, zu Sehendes. Die imaginative Dimension des Glaubens speist sich – auch – aus solcherlei visuellen Impressionen. Aus Visualisiertem wird Imaginiertes; es bestimmt unsere Vorstellungswelt mit. In den folgenden Darlegungen will ich versuchen, diesem Gedanken Raum zu geben: Es wird in kriteriologischer Hinsicht vornehmlich um Rezeptionsästhetik gehen, nicht so sehr um (kunst-)wissenschaftliche Fragestellungen. Am Anfang steht die individuelle Wahrnehmung von Bildern; sie beeinflusst das Erschließen von öffentlicher Kunst einschließlich deren kirchli1 Vgl. zur Entstehung der „Bilder zur Bibel“ Schnorr von Carolsfeld, Briefe; Hollein/Steinle, Nazarener, 64f.147–150.272–274.

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cher Spielart ebenso wie von gottesdienstlichen Raumgefügen. Im Blick auf die Kunstgeschichte meint dies: „Bild“ bedeutet nicht länger „Kultbild“, zumindest nicht primär. Ein solcher Paradigmenwechsel bezeichnet in signifikanter Weise eine neuartige spezifische Form der Bedeutung von Bildern für den Glauben. Im Folgenden werde ich versuchen, anhand einiger weniger ausgewählter Beispiele in historischer Folge exemplarische und für die jeweilige Epoche zeittypische Kunst-Produzenten und deren „Leit-Bilder“ daraufhin zu befragen, ob und inwieweit sie einerseits exemplarisch-paradigmatisch als Ausdruck ihres Zeitabschnittes gelten, andererseits auch die im Wandel begriffenen Vorstellungen zur Spiritualität beeinflusst haben. Mehr als einige „Leitfossilien“ für die evangelische Kunstwahrnehmung zu benennen und die Prozesse, die eventuell von dieser Wahrnehmung ihren Weg in spirituelle Gefilde genommen haben, wird sich nicht gewinnen lassen. Immerhin: Der Versuch, den Bildern die Rolle eines eigenständigen Dialogpartners und Impulsgebers zuzuerkennen, geschieht in Anlehnung an Navid Kermanis Anverwandlung christlicher Glaubensinhalte über das Medium des Sich-Konfrontieren-Lassens mit Bildern.2 Kermani, der in der bilderfeindlichen Umgebung des Calvinismus groß wurde und über den Sufismus Zugang zu seinen schiitischen Wurzeln sucht, befragt im römischkatholischen Umfeld Kölns Glaubensinhalte des Christentums konsequent über das Medium Bild,3 wobei er bemerkt, das Denken an oder über einen beliebigen Gegenstand geschehe im menschlichen Bewusstsein per se als eine Art „EinBildung“.4 Das Mystische eines solchen Ansatzes sehe ich in der Einschätzung einer gewissen Nähe der Rezeption von Kunst zur Ästhetik des Religiösen.5 Um die Erörterungen für den ökumenischen Diskurs anschlussfähig zu halten, werde ich zunächst kurz auf die für spätere Zeiten relevanten bildtheologischen Vorgaben des Horos des Zweiten Nizänischen Konzils von 787 eingehen. Das letzte der sieben Ökumenischen Konzilien spricht vom Bild (eikon) als einem Medium neben dem Wort, welches geeignet ist, Glaubensinhalte für die Gläubigen zu „exegesieren“.6 Gemeint ist also ein Vorgehen, das auf einen bestimmten Sachverhalt hinweist, um ihn gleichzeitig zu erklären. Beide Aspekte sind im deutschen Äquivalent „Deuten“ enthalten. Deuten lassen sich alle 2 3 4 5

Kermani, Staunen, 291f u.ö. A. a. O., 267. A. a. O., 54f. Vgl. u. a. Grözinger, Albrecht, Praktische Theologie als Kunst, Gütersloh 1995, und Stollberg, Dietrich, Religion als Kunst, Leipzig 2014. Grundsätzlich: Die Auswahl der zur Sprache kommenden Künstler besagt nicht, dass ihre speziellen künstlerischen Hervorbringungen unbedingt im kollektiven Unbewussten des Protestantismus so und nicht anders vorkämen. Cranach, Rembrandt, Runge, Schnorr und Barlach repräsentieren vielmehr jeder für sich Übergänge, die das Werden eines „Inneren Bildkanons“ protestantischer Wahrnehmung und Spiritualität verstehbarer zu machen imstande sind. 6 Vgl. zum folgenden Abschnitt Kutzner, Liturgie, 161–165.

„Das Bild sie sollen lassen stahn“

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„Überlieferungen, ob geschrieben oder nicht“ mit Hilfe der „Darstellung der Ikonen“,7 die sich ausdrücklich nicht allein auf die in klassischer Technik gemalten byzantinischen Andachtsbilder beziehen, sondern auch auf musivische oder aus anderweitigen Materialien erstellte Bilder.8 Der weitere Verlauf des Textes erweitert das Begriffsfeld „Ikone“ um Kreuze, Vasa sacra, Reliquien, Textilien und Klostergebäude.9 Für die trilaterale Ökumene wäre dies insofern relevant, als eine theologische Neubewertung des Themas „Kunst“ Gesprächsebenen zu eröffnen imstande wäre, die neben dem dogmatischen Diskurs auch einen solchen der Spiritualität ermöglichen.10 Wird der Kunst seitens der Theologie zugestanden, einen genuinen, autonomen Beitrag zur Geschichte menschlicher Spiritualität zu leisten, könnte dies sowohl den kultischen, den frömmigkeitlichen als auch den pädagogischen Gebrauch von Kunst einbeziehen. Es soll in den folgenden Abschnitten der Versuch unternommen werden, Künstler zu Wort kommen zu lassen, die anerkanntermaßen Bildwelten evangelischer Spiritualität mitgeformt, beeinflusst, profiliert und qualitativ verändert haben. Bei der Auswahl spielen also im Wesentlichen Kriterien der Repräsentativität und der Erkennbarkeit einer eigenen Wirkungsgeschichte die entscheidende Rolle. Ich gehe davon aus, dass die hier zu nennenden Künstler in ihrer Arbeit bewusst oder unbewusst die Sehgewohnheiten, Präferenzen und Koordinaten ihrer Zeit und darüber hinaus beeinflusst haben.

1.

Vom Pathos des Neuaufbruchs: Lucas Cranach der Ältere (1472–1553) und Lucas Cranach der Jüngere (1515–1586)

Ein Zeitgenosse und Freund Luthers ist Lucas Cranach d. Ä. gewesen; die Familien waren einander auch privat eng verbunden, was in gegenseitiger Trauzeugen- und Patenschaft seinen Ausdruck fand.11 Sein stattliches Anwesen, das neben seiner Werkstatt auch eine Apotheke und einen Schankbetrieb umfasste, war und ist eines der bedeutendsten Bauwerke in Wittenberg. Die beeindruckende Anzahl der hinterlassenen Werke verdankt sich sowohl seiner langen Lebenszeit mit einer ununterbrochenen Schaffenskraft als auch dem Umstand, dass er zahlreiche Gehilfen in seiner Werkstatt beschäftigen konnte. Hinzu kam die Erfindung des Buchdrucks, die sich Cranachs Werkstatt zunutze machte. Die 7 8 9 10 11

Dumeige/Bacht, Konzilien, 294f. Ebd. Abgedruckt im Textband Mansi, Sacrorum Conciliorum, tom. 13, Sp. 397. Vgl. die Rede vom „Ökumenismus des Schönen“ bei Zibawi, Kunst des Orients, 7. Vgl. Thöne, Lucas Cranach der Ältere.

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Kirche war nicht länger alleinige Auftraggeberin, z. B. entstanden repräsentative Porträts für Fürsten, erotische Szenen aus Mythologie und Geschichte für Bürger, daneben Heiligenbildnisse für Kirchengemeinden. Im Unterschied zum Gesamtwerk Cranachs bleibt der Anteil eindeutig als solcher identifizierbarer „Reformations-Altäre“ überschaubar. Das verwundert indes nicht; setzte die reformatorische Bewegung um Luther und Melanchthon doch erst zu einer Zeit ein, als Cranach längst für einen arrivierten Maler und einen respektierten Bürger12 galt. Überdies dauerte es geraume Zeit, bis die Landesfürsten anlässlich der Neugründung eigener „lutherischer“ Kirchen entsprechend gestaltete Altarwerke in Auftrag gaben. Diese Werke gehören den späteren Phasen im Schaffen Cranachs an. In vielen Fällen vollendete sein Sohn, Lucas Cranach d.J., was der Vater begonnen hatte.

Lucas Cranach d.J. (1515–1586), „Christus am Kreuz“, 1555.

Beim Altar der Weimarer Stadtkirche (vollendet 1555) haben wir es mit dem elaborierten Beispiel eines reformatorischen Altarwerkes zu tun. Luther ist zum Zeitpunkt der Entstehung bereits neun Jahre tot. Die viel erörterte Frage, ob Lucas Cranach d.Ä. selbst, der 1553 verstorben war, noch an der Ausführung des Altares beteiligt gewesen sei, kann in diesem Zusammenhang unbeantwortet bleiben. Es dürfte aber außer Frage stehen, dass dieses von seinem Sohn vollendete Werk so etwas wie die Summe aller Beschäftigung mit und Betroffenheit 12 Cranach (bereits seit 1505 in Wittenberg) gehörte über viele Jahre hinweg dem Rat der Stadt Wittenberg an und wurde auch mehrmals zum Bürgermeister gewählt.

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von Luthers und Melanchthons Reformation darstellt. Die Haupttafel zeigt, fast die gesamte Höhe des Bildraumes einnehmend, den Gekreuzigten. Zu seinen Füßen unter dem Kreuz steht das Lamm, das gleichzeitig als Attribut Johannes des Täufers zur rechten Personengruppe überleitet, die – von links nach rechts gesehen – aus Johannes, Lucas Cranach d.Ä. und Martin Luther besteht. Johannes, sich zu den hinter ihm Stehenden umwendend, verweist mit der Rechten auf den am Kreuz hängenden Jesus, während seine Linke, ebenfalls im klassischen Segensgestus, auf das Lamm zeigt. Cranach hat die aneinander gelegten Hände betend erhoben, während Luther mit seiner rechten Hand auf die aufgeschlagene Bibel in seiner Linken verweist. In der linken Bildhälfte besiegt der Auferstandene mit einer Lanze Tod und Teufel, symbolisch als Gerippe und groteskes Mischwesen (es umfasst mit seiner Tatze das linke Bein Christi) dargestellt. Hinter ihm erkennt man den Eingang zur leeren Grabhöhle; der Felsen ist mit Gras und Gesträuch bewachsen. Ein starker diagonaler Zug von links oben bis zur Mitte unten, akzentuiert durch die Siegeslanzen Christi und des Lammes, verstärkt durch den Abhang des Grabhügels, bestimmt den Aufbau der linken Hälfte. Im Mittelgrund findet sich etwa in Höhe der Füße des Gekreuzigten folgende Szene: Adam flieht mit entsetztem Gesicht vor den ihn verfolgenden Gestalten Tod und Teufel; rechts daneben verweist Mose, vor einer Menschengruppe stehend, mit ähnlicher Geste auf die Gesetzestafeln wie Martin Luther im Vordergrund auf die Bibel. Während der ferner liegende Hintergrund links des Kreuzes, also im Kompartiment zwischen dem Gekreuzigten und dem Auferstandenen, bis auf die Verfolgung Adams keine szenischen Darstellungen enthält, ballt sich zu Häupten der rechten Dreiergruppe das Geschehen. Wir erkennen Mose, der zum Schutz gegen die Schlangenplage die eherne Schlange (kein Kultbild!) errichtet hat, deren Anblick den Hebräern das Leben rettet (vgl. Num 21,6–9). Das Zeltlager der Exodus-Gruppe, abgebildet vor einer Felslandschaft, bildet den Horizont zum rechten Bildrand hin. Zwischen dem Kreuz und dieser Szene schließlich findet sich – anscheinend direkt auf der Horizontlinie angesiedelt – die weihnachtliche Szene der Hirtenverkündigung (Lk 2,8–20). Der Verkündigungsengel schwebt „vom Himmel hoch“ auf die Hirten zu; als einzige Figur scheint er, nicht der Sphäre des Erdenschweren zugehörig, dem Haupt des Gekreuzigten näher zu kommen als alle anderen Personen. Bei näherem Hinsehen fallen im Hauptbild einige Motive auf, die sicherlich schon vor Cranach existiert haben, dennoch aber bemerkenswert sind. Da wäre zunächst das aufgebauschte Lendentuch Jesu, das für das in seiner Person präsente Wehen des Heiligen Geistes steht. Bis auf die um Jesu Füße herum gruppierte Szene der Jagd Adams durch Tod und Teufel im Angesicht der Bedeutung des mosaischen Gesetzes lassen sich alle anderen Zitate konkreten biblischen Texten zuordnen. Eine weitere Ausnahme bildet die höchst ungewöhnliche Komposition der stark präsenten Dreiergruppe unter dem Kreuz. Der auf

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Christus und das Lamm deutende Johannes der Täufer tritt als gleichsam heroldische Figur auf, die den Triumph des Evangeliums über das Verderben, welches die Folge einer alleinigen Gewiesenheit des Menschen auf das Gesetz ohne Evangelium ist, in die Gegenwart hinein zu verkündigen heißt. Für die Gegenwart des zeitgenössischen Betrachters stehen Luther und Cranach (Vater), an deren Aussehen sich so wenige Jahre nach ihrem Tod noch jedermann gut erinnern konnte. Luther, der Mann des Wortes, verweist auf die biblischen Texte 1Joh 1,7 und Hebr 4,16: Das Herzutreten zur Quelle des Heils, zum Blut des Herrn, bedeutet das Eintreten in das Licht des Heils, in die Sphäre der Rechtfertigung. Und was tut Cranach, der Mann des Bildes? Er betet den Gekreuzigten an, nichts weiter. Sein Blick wendet sich aus dem Bild heraus dem Betrachter zu, dem Beter der Gegenwart. Der dünne, aber unübersehbare Blutstrahl aus der Seitenwunde des Mannes am Kreuz trifft ihn, Lucas Cranach, den Vater des Malers. Ist es Zufall, dass sowohl über seinem als auch über Luthers Kopf die die Hebräer bedrohenden Schlangen vor der einen, der ehernen, fliehen? Gerechtfertigt sind sie beide. Wie können sie es weitergeben an die Gläubigen, die vor diesem Altarwerk beten? Das reine Weiß des Lendentuches weht, aufgebauscht durch die Ruach Elohim, zu Häupten aller drei Dargestellten. Der biblische Täufer, der größte aller Propheten, verkündigt den, der nach ihm kommt, als das Lamm Gottes. Wie diese Botschaft zu verstehen sei, das kann Luther in biblischen Verweisen predigen. Und Cranach kann es in seinen Bildern ebenfalls predigen! Er ist es, auf dessen Haupt der „Blutstrahl der Gnade“ trifft! Mit dieser Hervorhebung der Person seines Vaters mag Cranach d.J. ein Doppeltes klarzumachen beabsichtigt haben: Erstens kannst du, Beter oder Beterin, so „erlöst aussehen“ wie mein in Gott vollendeter Vater, den das Blut Christ rechtfertigt, und zweitens darfst du dem trauen und ver-trauen, was die Botschaft der Reformatoren ausmacht und was hier anschaulich ins Bild gesetzt ist. Vater Cranach kann mit Fug und Recht als Reformator gelten, der, gleichberechtigt neben Martin Luther stehend, mit Johannes dem Täufer Jesus Christus anbetet. Fassen wir zusammen: Die Glaubenswelt des Evangeliums, paulinisch gelesen und im Licht der Rechtfertigungslehre gedeutet, eröffnet sich für die Gläubigen von allem Anfang an im Medium des Bildes, das die Kriterien des Nicaenum II erfüllt und – indem es „zur Ehre der Altäre erhoben“ ist – weniger ist als ein Anbetungsobjekt, gleichzeitig aber mehr als bloße Illustration biblischer Geschichten. Indem es in legitimer Weise das ausdrückt, was den Glauben der Reformatoren ausmacht, fällt ihm eine verkündigende Aufgabe zu, und Kerygma geht bekanntlich über die Sphäre des rein Pädagogischen hinaus. Im Auge der allerersten Rezipienten formen sich in aller Freiheit die neu entdeckten Glaubensinhalte des Evangeliums als mit visuellen Mitteln „gepredigte Bilder“.

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2.

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Von der Verbürgerlichung biblischer Bildwelten: Rembrandt Harmenszoon van Rijn (1606–1669)

In den (nördlichen) Niederlanden des folgenden Jahrhunderts begegnet uns eine ganz andere Welt als in den kleinbürgerlich-ständischen Residenzstädtchen Wittenberg und Weimar der Cranachs. Amsterdam zählt schon damals ca. 175 000 Einwohner (viertgrößte Metropole Europas) und gilt als eine der reichsten Städte der Welt. Nach der Unabhängigkeit von den Habsburgern in der Utrechter Union, die 1581 die „Sieben Vereinigten Provinzen“ als eigene Republik ausgerufen hatte, ist für die oligarchisch verwalteten, nur locker verbundenen Provinzen der Weg zu einer globalen See- und Handelsmacht frei.13 Nachdem Philipp II. von Spanien den Calvinismus zur Ketzerei erklärt hatte, vollziehen die Niederlande eine radikale Gegenbewegung. Die Calvinisten bestimmen nicht nur das religiöse Leben. Das Innere der Kirchen fällt weitestgehend dem Bildersturm zum Opfer. An die Stelle von Adel und Klerus als Auftraggeber und Mäzene der Künste treten wohlhabende Kaufleute. Fast aus dem Nichts steigt das kleine Land zur Weltmacht auf, entsteht eine einzigartige Kunstproduktion auf dem Gebiet der malerischen und grafischen Kunst. Fast aus dem Nichts erblüht das „Goldene Zeitalter“ des Miniaturstaates am Rande Europas.14 Das Feld der Bildenden Kunst wird dominiert vom Geschmack der neuen Auftraggeber und ist beherrscht von ganz neuen Sujets: Landschaften, Stillleben, Genreszenen aus Wirtshäusern, Bordellen oder Wechselstuben. Bezeichnend für den Einfluss des Calvinismus: ein beliebtes Thema stellen die Abbildungen völlig leergeräumter Kircheninnenräume dar. Repräsentative Auftragswerke verlangen zudem Einzel- und Gruppenporträts, wobei die letzteren, für größere Versammlungsräume etwa der zahlreichen Gilden bestimmt, beträchtliches Ausmaß erlangen können. Ansonsten sind die Räume, für welche diese Bilder entstehen, die Wohnzimmer der neuen Oberschicht. Dementsprechend ändert sich die durchschnittliche Bildgröße. Das Bild muss wohnraumkompatibel sein. Und damit gehen zwei weitere Neuerungen einher: Fortan spielen die Rahmen und ihre oftmals prunkvoll-opulente Gestaltung eine wichtige Rolle. Hinzu kommt, dass ein ganz anderes Gewicht als in allen vorausgegangenen Epochen auf die Peinture gelegt wird, auf das „Wie“ des Malens. Der Betrachter ist unversehens quasi neben den Produzenten getreten. Er kann aus unmittelbarer Nähe die Handschrift des Malers nachvollziehen. Diese Voraussetzungen hat es in den Zeiten von Wand- oder Altarbildern so nie gegeben. Künstlerische Virtuosität wird aus denkbar geringer Entfernung überprüfbar. Die Hände können Schwung

13 Vgl. Huizinga, Kultur; Driessen, Geschichte. 14 Freist, Jahrhundert.

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und Masse des Pinselauftrages tastend nachvollziehen. „Rezeption“ gewinnt damit eine haptische, eine ganz neue, selbst kreative Dimension.15 Quer zu aller Spezialisierung, wie sie alle seine malenden Zeitgenossen in den Niederlanden betrieben, darunter auch die bedeutendsten wie Frans Hals und Jan Vermeer, verfügte Rembrandt über ein schier unerschöpfliches Repertoire an Themen. Neben seinen Gemälden spielten bei ihm sowohl Handzeichnungen als auch Radierungen als gleichwertige Ausdrucksmittel eine Rolle. Zeit seines Lebens war er dem „chiaroscuro“ verpflichtet, der Hell-Dunkel-Darstellungsweise des Michelangelo Caravaggio, die in die Niederlande besonders durch Rembrandts Lehrer Pieter Lastman vermittelt worden war.

Rembrandt Harmenszoon van Rijn (1606–1669), „Paulus im Gefängnis“, 1627.

Die Bandbreite biblischer Themen beider Testamente bei Rembrandt ist beträchtlich. Werfen wir einen Blick auf das frühe Ölgemälde „Paulus im Gefängnis“, das Rembrandt bereits im Alter von 21 Jahren auf Holz malte.16 Wir blicken in das Innere eines engen Raumes, der bis auf einen markant geformten Lichtschein hinter dem Kopf der zentralen Figur im Dunkeln zu liegen scheint. Eine Art Liege, bedeckt mit Tüchern, steht vor einer Wand, darauf sitzt – ganzfigurig und im Halbprofil dargestellt, sich dem linken Bildrand zuwendend – ein sichtlich alter Mann in gebeugter Haltung. Die hohe Stirn ist von Falten zerfurcht, 15 Besonders eindrucksvoll lässt sich diese Beobachtung nachvollziehen in der Nahsicht auf von Frans Hals geschaffene Porträts. 16 Jochen Teuffel verbindet diese Darstellung mit einer Predigt Hans Joachim Iwands über Gal 2,16–21, vgl. jochenteuffel.wordpress.com/category/predigten, abgerufen am 26. 09. 2018.

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wie der auffallend lange Bart erscheinen auch die Haare grau bis weiß. Seine Augen scheinen ins Leere zu blicken; den Ausdruck des Gesichtes könnte man als traurig, bekümmert und melancholisch beschreiben. Die rechte Hand verschließt den Mund, während die linke, einen Schreibstift haltend, auf einem dickleibigen aufgeschlagenen Buch ruht, auf dem ein Zettel liegt, der bei näherem Hinsehen die Aufschrift „Rembrandt fecit“ aufweist. Noch mehrere Bücher stapeln sich neben der Gestalt des Alten, auch lehnt ein Schwert an seinem Sitz. Ein langer, fahl-graublauer Mantel umhüllt fast seine ganze Figur und bedeckt noch Teile des Sitzes. Unter dem Mantel lugen die Ärmel einer bräunlichen Jacke und darin die weißlichen Manschetten eines Hemdes hervor. Während der linke Fuß in einer anscheinend ledernen, abgewetzten Sandale steckt,17 dient deren rechtes Pendant dem nackten Fuß des Mannes als Unterlage. Die Bücher deuten fast so etwas wie ein „Bild im Bild“ an, eine Art Stillleben. Mit der Abbildung eines Schwertes übernimmt Rembrandt aus der klassischen Apostel-Ikonografie das Instrument des späteren Martyriums des Dargestellten. Der Intimität der abgebildeten Szene entspricht mit einiger Sicherheit die Intimität im Haus des Auftraggebers.

3.

Vom Ende der christlichen Kunst oder Die Erfindung der Moderne: Philipp Otto Runge (1777–1810)

Den jungen Revolutionär, dem wir nun begegnen werden, hat die offizielle Kunstwissenschaft in seiner Bedeutung für die Geschichte der europäischen Malerei erst relativ spät entdeckt, einer breiteren Öffentlichkeit ist sein Name bis heute weitgehend unbekannt geblieben. Und doch markiert er mit seinem Werk eine entscheidende Wendung, nach der in der Kunst nichts mehr so war wie vorher; besonders über evangelische Ästhetik in ihrer Relevanz für eine neuzeitliche Spiritualität müssten wir heute ganz anders reden, hätte es ihn nicht gegeben. Philipp Otto Runge, äußerlich ein unauffälliger, ordentlicher junger Mann, mit dem breiten pommerschen Dialekt seiner Heimat groß geworden, wurde in eine große, streng protestantische bürgerliche Familie hineingeboren in einer Zeit, da seine Heimatstadt Wolgast zum Königreich Schweden gehörte.18 Er wurde früh gefördert durch den kunstsinnigen Pastor Ludwig Gotthard Kosegarten, studierte (neben dem angebotenen dortigen Pflichtprogramm stets mit selbstgestellten Übungsaufgaben wie der Vervollkommnung in der Pflanzendarstellung befasst) an den Kunstakademien in Kopenhagen und Dresden, zog später mit seiner Frau Pauline nach Hamburg in die Nähe seines ältesten Bru17 Interessanterweise findet sich dieses Detail im zehn Jahre später entstandenen Bild „Susanna im Bade“ ebenso wie in späteren Werken wieder. 18 Vgl. zu diesem Kapitel: Schneede, Runge; Bertsch/Fleckner, Kosmos Runge.

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ders, des Kaufmanns Daniel Runge. Fast sein ganzes nicht sehr umfangreiches Werk ist heute in der Hamburger Kunsthalle zu sehen. Die Eckdaten sind schnell berichtet. Aber was macht seine Einzigartigkeit aus? Runge ahnte vieles von dem voraus, das erst spätere Generationen wesentlich auszuformulieren in der Lage waren. Ich nenne nur Richard Wagner mit seinem „Gesamtkunstwerk“, Wassili Kandinski mit seinem Begriff des „Geistigen in der Kunst“ oder Joseph Beuys in seinen Gedanken zur „Sozialen Plastik“. Als der Erfinder der Moderne sah Runge, auf die Frühromantiker Tieck und Wackenroder aufbauend, am Ende sogar die abstrakte, also ungegenständliche Kunst voraus. Die Neue Kunst verlange nach immer neuen Formen, und schon in seinem eigenen materialen Potenzial sei vieles so sehr auf Versinnbildlichung, auf Konturierung geistiger Inhalte hin angelegt, dass auch ein völlig neues Formenrepertoire vorstellbar sei, das den bisherigen Code auf der ganzen Linie werde transzendieren können. „Wir werden‘s nicht erleben, daß es geschieht, es kommt aber gewiß“, so schreibt Runge ein Jahr vor seinem Tod an einen Freund.19 Auf jeden Fall steht für den Künstler fest: Religion ist nicht länger durch das bloße Abbilden biblischer Themen vermittelbar, sondern es ist Aufgabe des Künstlers, Gottes Wort an den Menschen in der und durch die Natur nachzuzeichnen.20 Der Akt der Kunstproduktion ist dem Schöpfungsakt gleichzusetzen.21 Das bedeutet: Der Kunst kommt die Aufgabe zu, kosmische Zusammenhänge aus der Natur den Menschen zu verdeutlichen. Die religiöse Dimension dieses Umsetzungsprozesses besteht wesentlich im Zusammenschauen naturwissenschaftlich erfassbarer und diese transzendierende Faktoren. Im Hintergrund stehen dabei naturmystische Gedanken Jakob Böhmes, aber auch Runges Beobachtung, dass sein eigenes Annähern an nicht selbstevidente Wahrheiten konstitutiv etwas zu tun habe mit der Liebe zu seiner Frau.22 Neben seinen Scherenschnitten und Grisaille-Darstellungen, die jeweils puristisch als Teile seines Werkes für sich lesbar sind, verband Runge in seinen Landschaften, Bildnissen und einigen wenigen biblischen Szenen „Ruhe auf der Flucht“, 1805/ 06, „Petrus auf dem Meer“, 1806/07, diese unterschiedlichen Genres miteinander, wobei sie in zunehmendem Maße nicht nur seiner Farbtheorie, sondern auch einer Konzentration auf Kinder- und Blütendarstellungen – und hier sind wiederum das Neugeborene und die Lilie hervorzuheben – als Bedeutungsträger Rechnung trugen. In der Verbindung aller dieser Elemente war es sein Bestreben, Undarstellbares eher einer Darstellung anzunähern als durch bloße Illustratio-

19 20 21 22

Zit. nach Schneede, Runge, 182. Stubbe, Runge, 13. Dallmann, Bewundernd, 100. Stubbe, Runge , 12f.

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nen: „Ich höre und fühle den lebendigen Odem Gottes, der die Welt hält und trägt, in dem alles lebt und würkt: Hier ist das Höchste, was wir ahnen – Gott!“23

Philipp Otto Runge (1777–1810), „Der Kleine Morgen“, 1809.

In seinem Grafikzyklus „Die Zeiten“ so wie den beiden in Öl ausgeführten Versionen des „Morgen“ wird erahnbar, was Runge gemeint haben könnte, wenn er von den Aufgaben der kommenden Kunst sprach. Losgelöst vom ökonomischen und gesellschaftlichen Koordinatensystem, wirkt der Künstler der Zukunft gerade in diesen Systemen und übernimmt das prophetische ebenso wie das priesterliche Amt der Weltdeutung für ein postchristliches Zeitalter. Es kommt darauf an, Gottes „Odem“ nachzuspüren. Die sich öffnenden Lilien und die die verschiedenen Stadien von Helligkeit und Dunkelheit durchlebenden puttenähnlichen Kindergestalten wären als Ausdrucksmittel künftiger Zeiten auch durch stärkere Symbole ersetzbar, wenn es die Aufgabe zu erfüllen gelte, zu Wissendes, zu Fühlendes und zu Erahnendes näherungsweise zu visualisieren.24 In der bekanntesten Darstellung dieses Zyklus, dessen einzigem vollständig erhaltenen Gemälde „Der Kleine Morgen“ von 1809, blicken wir auf einen Rahmen, der als eigenständiges Werk das Geschehen des eigentlichen Bildes kommentiert, begleitet und erklärt. Von der Nacht bis zum hellen Morgen versinnbildlichen Lilien und kleine Kinder das Wachstum des Lichtes. Der obere Bereich des 23 Zit. nach a. a. O., 14. 24 Vgl. Hohl, Runge.

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Rahmens und derjenige des inneren Bildes entsprechen einander: Geflügelte Säuglingsköpfe, im Rahmenbereich in die Strahlen der Morgensonne eingezeichnet, korrespondieren schwärzlichen Pendants in der linken und rechten oberen Ecke des Hauptbildes. Dieses zeigt einen lichtumfluteten Frauenakt, der, eine helle Lilienblüte emporhaltend, von einer Reihe teils geflügelter, teils flügelloser ebenfalls nackter Kindergestalten umschwebt wird. Ganz oben in diesem streng symmetrisch aufgebauten Bild schweben noch einmal drei geflügelte Köpfe unterhalb des Sternes der Dämmerung. Während sich dies Geschehen in einer Sphäre abspielt, die sowohl mit „sky“ als auch mit „heaven“ zu bezeichnen wäre, blicken wir im unteren Teil des Mittelbildes in eine weite Auenlandschaft, in deren Vordergrund zwei deutlich weniger ätherisch dargestellte kindliche Wesen einem auf der Wiese liegenden Neugeborenen huldigen. Von diesem Kind geht ein goldener Schimmer aus, der sich dann oben in der weiblichen Gestalt fortsetzt. Die Sphären erscheinen ineinander verwoben, aufeinander bezogen, sich gegenseitig ergänzend. Es ist der „Odem“, der Atem Gottes, der diese Sphären durchweht. Was hier dargestellt ist, ist Atmosphäre! Runges vielfältiger Verweis-, Assoziations- und Deutungsapparat bleibt stets vieldeutig. Allein die Hauptgestalten lassen mehrere Konnotationen zu. Das Kind: Jesus in der Krippe, der kleine Mose im Korb am Nil, der erwachende Tag, das Kosmische Kind eines neuen Zeitalters; die Frau: Aurora, Venus, Eva, Maria, das apokalyptische Weib. Diese Vieldeutigkeit ist gewollt; sie deutet an, dass Runge bei allem In-sichRuhen, das dieses Bild ausstrahlt, nur den Augenblick eines ewigen Prozesses andeuten will.

4.

Von der Romantik zur Volkskultur: Julius Veit Hans Schnorr von Carolsfeld (1794–1872)

Einiges von dem, was Runge visionär für die ferne Zukunft in Hinsicht einer immer stärkeren Identifizierung von Kunst und Leben vorausgesehen hatte, suchte im weiteren Verlauf des 19. Jh. eine Gruppe zu verwirklichen, die sich erstmals in der Kunstgeschichte als eine Art „kollektives Subjekt“ der Kunstproduktion verstand und die Stilisierung des eigenen Künstlertums bis hin zur Selbstinszenierung und totalen Identifikation zwischen Rolle und Eigenexistenz trieb: die Nazarener. Viele der Künstler um Johann Friedrich Overbeck (1789– 1869) kleideten sich (nach ihrem Verständnis) „altdeutsch“, nahmen eine Art Ordensnamen an, übersiedelten in ein leerstehendes Kloster in Rom und wählten gemeinsam einen Stil aus, in dem sie fortan zu arbeiten sich verpflichteten,

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nämlich den der Renaissance.25 Unter der Vorstellung einer kulturellen Synthese „Italia und Germania“ (so der Titel eines Bildes von Overbeck) sahen sie sich dazu berufen, als „Lukasbrüder“ die Einheit von Kunst und Religion, wie man sie in der Renaissance am stärksten verwirklicht glaubte, in der eigenen Zeit mit Leben zu füllen.

Julius Veit Hans Schnorr von Carolsfeld (1794–1872), „Der erste Schöpfungstag“, 1860.

Während die meisten Gruppenmitglieder, von Hause aus eher der protestantischen Tradition zuzurechnen, zum römischen Katholizismus konvertierten, lehnte Schnorr von Carolsfeld, auch innerhalb der Vereinigung ein Einzelgänger, diesen Schritt für sich ab und blieb bewusst seinem evangelisch-lutherischen Bekenntnis treu.26 Als sein Lebenswerk – er hat es selbst so bezeichnet – müssen 240 in Holz geschnittene „Bilder zur Bibel“ genannt werden, die in ihrer volkstümlichen Wirkmächtigkeit kaum zu überschätzen sind. Der Maler bekennt sich zu einer (volks-)pädagogischen Absicht hinter seinem Werk: „Ich bin überzeugt, daß die bildenden Künste […] die Mittel haben, Anteil zu nehmen an der Erziehung und Bildung des Menschen.“27 Schnorr sucht in seinen bildnerischen Werken eine „Weltsprache“ zu formulieren, „allen zugänglich, die Augen haben.“ Er sieht in dieser universalen Eigenschaft Parallelen zur Musik, gleichzeitig betont er immer wieder die erzieherische Notwendigkeit, im Kind den „KunstSpracherwerb“ zu entwickeln. Eine solche pädagogisch-didaktische Ausrichtung 25 Vgl. Hollein/Steinle, Nazarener. 26 Vgl. Rauch, Europas Malerei; Resemann, Zeichnungen. 27 Dieses und die folgenden Zitate stammen aus der eingangs erwähnten Familienbibel, Leipzig o. J. (wohl nach der Revision von 1912), in der sie unter dem Titel „Betrachtungen über den Beruf und die Mittel der bildenden Künste, Anteil zu nehmen an der Erziehung und Bildung des Menschen, nebst einer Erklärung über die Auffassungs= und Behandlungsweise der Bibel in Bildern. (Gekürzt.)“ unter die Vorreden (ohne Seitenzählung) aufgenommen sind. Der Originaltext Schnorrs trägt die Jahresangabe 1860.

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seines Schaffens stellt den Künstler vor die Aufgabe, mit der Kunst „das Lehren und Predigen“ zu „unterstützen, indem sie das Gemüt durch ihre eigentümlichen Auslegungsmittel anregt und stimmt“. Dennoch hält es Schnorr von Carolsfeld für hervorhebenswert, dass weit über den pädagogischen Gebrauch hinaus Bildender Kunst ein Mehrwert innewohne, „was sie ganz allein vermag“, nämlich: „sie sei die Mithaushalterin der in der Leiblichkeit niedergelegten göttlichen Geheimnisse. Hier ist die Werkstatt, wo sie an der Vollbereitung des menschlichen Wesens arbeitet.“ Schnorr von Carolsfeld wird nicht müde zu betonen, dass er sein Werk als ein „Volksbuch“ verstehe, geeignet, „der Jugend sittliche und religiöse Bildung“ zu vermitteln. Gleichzeitig nimmt er hinsichtlich der Aufgabe des Künstlers in Anspruch, innerhalb der Kirche zwar als „ancilla Domini“ zu fungieren, hierin aber eben einen ganz und gar eigenen, unverwechselbaren und so von keinem anderen Medium leistbaren Beitrag mit spezifischem Profil leisten zu können. Seine Bilderbibel hat, in vielen Auflagen erschienen, ungleich mehr Verbreitung gefunden als etwa die Illustrationen von Gustave Doré oder auch der Bilderzyklus der Zürcher Bibel von Hans Holbein d.J. Sie steht in der Tradition Luthers und der beiden Cranachs. Es war gerade diesem Werk vorbehalten, in der Epoche des werdenden zweiten deutschen Kaiserreiches ein echtes Volksbuch zu werden. Von der Zäsur, die das Jahr 1918 bedeutete, wird im folgenden Abschnitt zu reden sein. Die Kontinuität, die sich dem Wirken des nazarenischen Künstlers verdankt, besteht jenseits dieser Zäsur in zweierlei: Zum einen ist es nicht zuletzt seiner Bilderbibel zu verdanken, dass immer noch ein beträchtliches Terrain der deutschsprachigen Volksfrömmigkeit durch das 19. Jh. geprägt ist. Zum anderen wären die neuzeitlichen illustrierten Bibelausgaben für Kinder oder Jugendliche ohne die Initialzündung eines Schnorr von Carolsfeld schwerlich denkbar.

5.

Vom expressionistischen Neuaufbruch zwischen den Zeiten: Ernst Heinrich Barlach (1870–1938)

Das Jahr 1918 bedeutete für den überwiegend deutschnational eingestellten deutschen Protestantismus die Urkatastrophe der Gegenwart schlechthin. Das Zeitalter des seit der Reformation herrschenden Summepiskopats, der landesherrlichen Oberhoheit über das Kirchenwesen, war vorüber. Theologische Entwürfe wie die Dialektische Theologie, neue Sozialformen, wie sie in der christlich orientierten Jugendbewegung praktiziert wurden, der Expressionismus, die frömmigkeitliche Neuorientierung der Liturgischen Bewegung, nicht zuletzt der Bruch mit dem Kulturprotestantismus, wie ihn Karl Barth und seine Freunde für die Theologie vollzogen hatten, nun auch von Otto Bartning mit seiner Neu-

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konzeption kirchlichen Bauens formuliert: all dies waren Versuche, jenseits des als total empfundenen Zusammenbruches der vergangenen Epoche einen Neuansatz zu finden. Der norddeutsche Pfarrerssohn Ernst Barlach bekam von verschiedenen Institutionen Aufträge für repräsentative Plastiken.28 Etliche seiner Kriegsdenkmäler wurden später von den Nationalsozialisten als „entartet“ gebrandmarkt, auch zahlreiche andere Werke aus öffentlichen Räumen entfernt. Sein 1934 formuliertes Treuebekenntnis zum „Führer“ änderte an dieser Klassifizierung seiner Kunst nichts. Nach seinem Tod ein Jahr vor Ausbruch des Zweiten Weltkrieges waren es immerhin Heinrich Mann und Bertold Brecht, die in ihren Nachrufen Barlach als von tiefem Humanismus geprägten Menschen würdigten. In seinen frühen grafischen Werken noch vom Jugendstil beeinflusst, entwickelte Barlach spätestens nach einer Russlandreise einen ganz eigenen Typus der dicht mit Kleidung umhüllten menschlichen Gestalt, wobei die Körperformen weitgehend nicht unter den Kleidern rekonstruierbar sind. Die Figuren erscheinen nahezu durchweg in gedrungener, kompakter Gestalt. Bewegungen werden stilisiert angedeutet und, sofern das Thema es nahelegt, auch überzeichnet. Falten der Gewänder erscheinen ebenso allenfalls angedeutet und sind auf wenige kräftige Linien reduziert. Die barlachtypische Gestaltung der Köpfe und ihrer Gesichter erweckt denn auch eher den Eindruck von Typen als von Individuen. Unter den Bedingungen des Expressionismus – übrigens des einzigen Stils, der in Deutschland entwickelt wurde und trotz dieses genuin „deutschen“ Charakters von den Nazis durchgängig abgelehnt wurde – erscheinen Barlachs Gestalten, handelt es sich um bildhauerische oder um grafische Arbeiten, von einem Zug zum Allgemeingültigen beseelt, wie sie jeweils mit den Mitteln ihrer Zeit sowohl Runge als auch Schnorr angestrebt hatten. Barlachs künstlerische Handschrift lässt bis heute seine Kunst wiedererkennbar und unverwechselbar erscheinen. Der Mensch und Künstler Barlach, ein Mensch des 20. Jh. vor dem Hintergrund der Brüche dieses saeculums, weiß um die inzwischen errungene Autonomie der Kunst und setzt sich von dieser Position aus mit den Sinnfragen der eigenen Existenz auseinander, was natürlich auch im Dialog mit der christlichen Tradition geschieht. Unter allen bedeutenden Schaffenden dieses Jh. gebührt Ernst Barlach mit Sicherheit ein hervorgehobener Platz. Allenfalls Joseph Beuys könnte einen ähnlichen Rang beanspruchen. Neben dem Güstrower „Engel“, dem „Fries der Lauschenden“ an St. Katharinen zu Lübeck und dem Crucifixus der Marburger St.-Elisabeth-Kirche zählt „Das Wiedersehen“, eine 1926 ca. einen Meter hohe, aus Nussbaumholz gearbeitete Doppelplastik (heute im Ernst-Barlach-Haus Hamburg), zu den bis heute populärsten Werken des Meisters. Eine von der Gürtellinie an aufwärts nach vorn 28 Vgl. zum Folgenden: Bresgott/Thieme, Melodien; Jansen, Barlach.

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Ernst Heinrich Barlach (1870–1938), „Das Wiedersehen“, 1926.

wie eingeknickt wirkende männliche Figur umfasst mit beiden Händen die Schultern einer vor ihr stehenden, ebenfalls männlichen Figur. Die Blicke, bei beiden aus weit geöffneten Augen, scheinen bei dem Aufrechten ins Weite zu wandern, während der Gebeugte sein Gegenüber hilfesuchend anzuflehen scheint. Beide Figuren sind in lange hemdartige Gewänder gekleidet, wobei dasjenige der aufrechten Figur weite Ärmel und einen angedeuteten Faltenwurf aufweist. Beide Personen sind barfuß abgebildet. Der Stehende scheint den Eingeknickten zu stützen; er hält den Körper des Anderen mit beiden Händen unterhalb der Achseln fest umfangen. Assoziationen an ikonografisch verwandte Darstellungen aus der Kunstgeschichte stellen sich ein, etwa „Jesus hält den sinkenden Petrus“ (Schnorr von Carolsfeld) oder „Der verlorene Sohn und sein Vater“ (Rembrandt) oder auch die verbreiteten „Johannesminne“-Darstellungen aus dem späten Mittelalter. Wie bei den oben genannten Beispielen sind die Deutungsmöglichkeiten ambivalent. Der zusätzliche Titel „Christus und Thomas“, der auf Joh 20 anspielt, lässt auch folgende Interpretation zu: Im Zweifler, der der Wirklichkeit der Auferstehung nicht trauen kann, darf sich der Gegenwartsmensch wiedererkennen und – so die Botschaft des Künstlers – Zuflucht zum Auferstandenen selbst als dem Verkündigten nehmen. Wohlgemerkt: Diese Botschaft weist ausschließlich einladende Züge auf. Hier haben wir es weder mit

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einem Kultbild noch mit belehrender Traktatkunst zu tun. Für den Wahrheitsgehalt seines Angebots vermag einzig und allein der ebenfalls sich als ein Suchender verstehende Künstler selbst einzustehen. Gegen jede Form der eindeutigen Festlegung seines Werkes und seiner Absichten hat Barlach sich gewehrt: „Man versucht mich weltanschaulich zu rubrizieren, sagt, daß ich ein Gottsucher bin. Aber […] was ist das eigentlich? Ich würde es geradezu als Arroganz bezeichnen, wenn ein Anderer das von sich behauptete. […] Ich begehre […] nichts anderes, als schlecht und recht Künstler zu sein. Es ist mein Glaube, daß dasjenige, was nicht durch das Wort auszudrücken ist, durch die Form in den Besitz eines Anderen übergehen kann. Immer wieder kreist meine Lust und mein Schaffensdrang um die Probleme des Lebenssinns und der anderen großen Berge im geistlichen Bereiche […] – aber predigen, Lösungen präsentieren […], das darf sich in meine Kunst nicht einschleichen.“29

6.

Versuch eines Resümees: Evangelische Ästhetik und evangelische Bilder-Frömmigkeit zwischen Bildersturm und Bilderdienst

Wir haben versucht, die wichtigsten Impulsgeber aus dem Feld der Kunst während der Epoche, die mit der Reformation anhob, auf ihre mögliche Wirkung auf heutige Vorstellungen hin zu befragen. Ich möchte diese exemplarischen Ansätze verstehen als kommentierend-interpretierende Entfaltung des Luther-Wortes zum Thema „Bilderdienst und Bilderverbot“, wobei ich diese Ansätze ihrerseits zu lesen versuche im Referenzrahmen des entsprechenden Horos von Nicaea II. Wenn die ikonoklastischen Zeitgenossen Luthers, wie Andreas Bodenstein von Karlstadt (ca. 1480–1541), das Volk meinten zur Zerstörung von Kunstwerken in den Kirchen (einschließlich der Orgeln!) auffordern zu müssen, geschah dies weniger aus der Befürchtung heraus, damit werde dem Dienst heidnischer Götzen Tür und Tor geöffnet, sondern vielmehr aus Sorge um den „rechten Gebrauch“ von Bildern.30 Karlstadt war der Meinung, die Menschen seiner Zeit seien weitgehend außerstande, den Verführungen zum falschen Gebrauch, also zur puren Idolatrie, zu widerstehen. Er berief sich auf Bibelstellen wie Jes 44 oder 1Kor 8. Aus Texten wie diesen folgerten Karlstadt und seine Gesinnungsgenossen, zum Schutz der Schwachen sei es geboten, alle Ärgernisse und Versuchungen von ihnen fernzuhalten.31 In Wittenberg wie in vielen anderen Gegenden des Reiches waren die Folgen verheerend; die unwiederbringlichen Verluste an 29 Barlach im Gespräch mit Georg Cretor in Kopenhagen 1932, zit. nach Jackson Groves, Barlach, 104. 30 Vgl. zu Karlstadt: Fast, Flügel, 251–269. 31 Nebenbei bemerkt: Diese Furcht ging bei Karlstadt so weit, dass er im Gegensatz zu Luther die Messe ohne besondere kultische Gewänder feierte.

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wichtigen Kulturgütern nahmen mancherorts ähnliche Züge an wie gegen Ende des 18. Jh. während der Französischen Revolution. 1522 sah sich Luther genötigt, in seinen „Invokavitpredigten“ dem Wüten ein Ende zu bereiten. In den Linien von Nicaea II erkannte er den Erzeugnissen der Kunst eine die Frömmigkeit fördernde dienende Funktion zu.32 Zwischen richtigem oder falschem, würdigem oder unwürdigem Gebrauch der Bilder könne der Mensch ohnehin nicht unterscheiden. Einzig die irrige Annahme, durch Stiftung von Bildern bei Gott Verdienst zu erwerben, sei zu verwerfen.33 Indem der Argumentation das Grundsätzliche und Unmittelbare, ja Heilsentscheidende, mit dem Karlstadt und die Bilderstürmer das Thema behandelt hatten, entzogen wurde, geriet im lutherischen Bereich fortan die Bedeutung von Bildern im Besonderen und von Kunst im Allgemeinen in jenen erlaubten, zunächst einmal theologisch-dogmatisch gesehen neutralen Bereich, für den sich der aus der griechischen Stoa stammende Begriff der „mittleren Dinge“, der Adiaphora, eingebürgert hatte. Sofern Luther die Gefahr, in kirchlich-christlichem Umfeld entstandene und gebrauchte Kunstwerke könnten versehentlich als heidnische Götzenbilder angebetet werden, als nicht gegeben ansah, kann der Gebrauch im Kontext der Frömmigkeitsausübung nicht ethisch verwerflich sein. Kunstgebrauch gilt fortan als wertneutral. Auf dieser Basis arbeiteten alle der Reformation Luthers und Melanchthons verpflichteten Künstler.34 Man kann aus dieser Position Luthers schlussfolgern, letztendlich sei ihm ein gesonderter Diskurs über Kunst gleichgültig und keiner theologischen Reflexion wert gewesen. Die Betrachtung ihrer Wirkungsgeschichte, wie sie exemplarisch in den großen Entwürfen begegnet ist, lässt dagegen durchaus die These zu, dass auch eine Funktion von Kunst als Stichwortgeberin einer eigenen geprägten Spiritualität im Horizont von Luthers Ansatz beheimatet werden kann. In den Sommermonaten des Jahres 2017 führte ich in etlichen Gemeinden der Hannoverschen Landeskirche Befragungen über die Einstellungen von Gemeindegliedern zum Thema „Kunst“ durch.35 Dieses Unterfangen kann in keiner Weise für repräsentativ gelten, vermag aber als Momentaufnahme einige in32 33 34 35

Scribner, Bilder und Bildersturm, 11. Luther, Von den guten Werken 1520; Invokavit-Predigten 1522. Vgl. dazu: Sternberg, Luther und die Folgen für die Kunst, 12. Teilgenommen haben ca. 80 Personen, wobei ich versuchte, Land-, Klein- und Großstadtgemeinden etwa die gleiche Repräsentanz zuzugestehen. Die Altersgruppen (in Zwanzigerschritten ab 20 gerechnet) waren in den Beantwortungen sehr unterschiedlich vertreten: Während die 20- bis 40-Jähringen nur einen Anteil von unter 5 % ausmachten und auch die 40- bis 60-Jährigen nur zu ca. 11 % ausgefüllte Bögen zurückgaben, haben die 60- bis 80Jährigen (und darüber) den Löwenanteil der Antwortenden gestellt. Menschen mit Hauptschulabschluss kamen nicht, mit Mittlerer Reife um die 22 Prozent unter den Antwortenden vor, Abiturienten und Teilnehmer mit Hochschulabschluss bildeten dagegen den Hauptanteil.

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struktive Eindrücke abzubilden. Viele Kenntnisse scheinen selbst bei betont kirchentreuen Befragten nicht mehr selbstverständlich zu sein, dafür – und dies nun in gut lutherischer Freiheit – ist eine beträchtliche Unbefangenheit zu beobachten, was das „ikonografische Material“ evangelischer Spiritualität anbelangt. Auf die Frage, ob im weitesten Sinne „Kunst“ ihre eigenen Glaubensvorstellungen beeinflusse oder beeinflusst habe, antworteten immerhin 18 % mit „Ja“ ohne jede weitere Spezifizierung. 47 % gaben an, sich ganz allgemein für Bildende Kunst zu interessieren, wobei davon knapp die Hälfte hervorhob, speziell von Werken der Architektur bewegt zu werden. Während 9 % angaben, statt von Bildender Kunst von Musik beeinflusst zu sein, nannten 6 % schriftstellerische Werke. Auf der Mitte zwischen diesem Wert und der Nennung „Bildende Kunst“ gaben 15 % an, „Glaubensbilder“ aus Bibeln, Lieder- oder Gebetbüchern, auch missionarischen Traktaten zu generieren. 5 % schließlich antworteten mit einem lapidaren „Nein“. Ich fragte nach der Art der Bilder, auch konkrete Einzelwerke durften genannt werden. Es überrascht der hohe Anteil der Nennungen von Bildwerken des eigenen heimatlichen Kirchenraumes. 48 % nannten plastische Werke (spezifiziert von gut der Hälfte der diesbezüglichen Voten als Kreuz- und Krippendarstellungen), 31 % Glasfenster. Hinzu kamen noch einmal Tafel- oder Altarbilder mit Abendmahls- oder Engeldarstellungen; diese Nennungen schlugen mit 5 % zu Buche. Weitere 6 % schließlich gaben die Bilder ihrer Kinderbibel an, wobei als Künstler bei einigen explizit Kees de Kort genannt wurde. Zum Schluss fragte ich noch nach persönlichen Lieblingskünstlern. Von den „Alten Meistern“ zeigten sich 39 % beeindruckt, wobei Michelangelo und Dürer mit jeweils etwa einem Drittel dieser Stimmen vertreten waren; das restliche Drittel entfiel auf eine Vielzahl von Einzelnennungen. Unter den Künstlern der Moderne, auf die insgesamt 55 % entfielen, wurde Ernst Barlach mit Abstand am häufigsten genannt, gefolgt von Marc Chagall und Franz Marc. Auch hier folgte wieder eine Fülle einzelner Namen. Eine Sondergruppe in diesem Zusammenhang bildeten Voten über Künstler, mit denen die Befragten persönlichen Kontakt pflegen (etwa ein Sechstel). 6 % nannten Werke der Ikonenkunst. Es zeigte sich: Auch im 21. Jh. gibt es durchaus so etwas wie eine bildinspirierte evangelische Spiritualität. Sie findet in großer materialer Vielfalt, ökumenischer Offenheit und echt evangelischer Freiheit statt. Und: Spiritualität ereignet sich nicht ohne visuelle Impulse, ohne deshalb von solchen abhängig zu sein. Diese Beobachtung nimmt das in der Befragung Erhobene hinein in die Traditionslinien des Horos von Nicaea II ebenso wie in Luthers Position gegen den Bildersturm.

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Paul Geck

Vom Werden und vom Sein Evangelische Spiritualität und Belletristik am Beispiel Dietrich Bonhoeffers

1.

Bewahrung vor dem eindimensionalen Blick

In Arno Geigers Roman „Es geht uns gut“ erbt der Mittdreißiger Philipp das Haus seiner Großeltern in einem großbürgerlichen Wiener Viertel. Wir lernen Philipp bei seiner ersten Hausbegehung als Villenbesitzer kennen, seine gemischten Gefühle und den Widerwillen, den er mit seiner Familie und seiner Geschichte verbindet. Beim Durchstreifen der verstaubten Räume steigen widerstreitende Emotionen in ihm auf, Erinnerungen, Enttäuschungen, sogar Hass. Als er in den Garten hinaustritt, entdeckt Philipp an jeder Seite des Grundstücks einen vom Wetter abgenutzten Stuhl. Bitter vermerkt er diesen Beleg spießbürgerlicher Missgunst: Was waren seine Großeltern für Menschen, die aus dem schamlosen Bespähen der Nachbarn eine Routine gemacht hatten. Knapp sechzig Seiten später – in einem weiteren Handlungsstrang, der etwa zwanzig Jahre zuvor spielt – verrät eine kurze Szene den tatsächlichen Zweck dieser Stühle: Die Bienenkönigin hat mit ihrem Schwarm das Nest im Garten der Großeltern verlassen und fliegt über die Mauer auf das angrenzende Grundstück. Philipps Großmutter, eine Hobbyimkerin, steigt auf einen der Stühle, um zu verfolgen, an welcher Stelle sich der Bienenschwarm sammelt. Mit der Hilfe des Nachbarn gelingt es ihr, die Bienenkönigin wieder einzufangen, sodass der Schwarm von selbst in den Bienenstock zurückkehrt. Solche Szenen sind Perlen der Literatur. Ohne dass der Autor das verfehlte Urteil des Protagonisten auch nur andeutet, sagen drei Stühle mehr über Philipp als tausend Worte – und über den Leser, der sich Philipps Wertung stillschweigend zu Eigen gemacht hat. Ertappt. Der österreichische Schriftsteller Geiger, der für den Roman 2001 mit dem Deutschen Buchpreis ausgezeichnet wurde, ist ein Meister dieser Art des Erzählens. Seine Figuren werden zu Identifikationsfiguren, gerade weil sie sich irren, sich verfehlen, an ihre Grenzen kommen, aber darin nicht ihr alleiniger Sinn besteht. Sie sollen nicht die Rolle des Unsympa-

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thischen, moralisch Zweifelhaften spielen, sie sollen überhaupt keinen „Charakter“ darstellen. Kein Mensch ist eine Schablone, und so sind auch Geigers Figuren nicht abgeschlossen, sondern befinden sich „im Übergang“.1 Sie sind „Graue“, keine „Hundertprozentigen“, weit entfernt von Perfektion. Geiger lehnt Figuren ab, die immer auf der richtigen Seite stehen: „Wir finden sie in Liebesromanen, in denen man sofort weiß, mit wem man es zu tun hat, und in Romanen über das Dritte Reich, in denen man sofort weiß, mit wem man es zu tun hat, Schafe und Böcke aufs strengste geschieden, zum tausendsten Mal über allem die eine und einzige Frage: Was habe ich mit den Tätern zu tun? Natürlich nichts! Abbild einer künstlichen Ordnung, die es vorzieht, den Menschen in seiner Vieldeutigkeit zu übersehen.“2 Dagegen sei es die Aufgabe der Kunst, Menschen vor dem „eindimensionalen Blick“ zu bewahren. Die Ideologie der Perfektion, deren glatte Norm Gesellschaft und Unterhaltungsmedien zeichnet, befördert nicht, sondern entzieht das Leben. „Alles, was perfekt ist, lebt nicht, ist Ergebnis statt Ereignis, ist Zustand statt Vorgang. ‚Perfection has no children‘, heißt es im Englischen […]. Denn das Perfekte ist Endpunkt, ist abgeschlossen, und das Abgeschlossene steht dem Lebendigen entgegen. Alles Lebendige ist in Bewegung, pulsiert, ist mit Schwächen versehen. ‚Ich tauge etwas durch das, was mir fehlt‘, schreibt Paul Valéry. Meine Figuren taugen etwas durch das, was ihnen fehlt.“3

2.

Bonhoeffer und die Belletristik

Wer die Briefe Dietrich Bonhoeffers aus dem Gefängnis liest, die unter dem Namen „Widerstand und Ergebung“ bekannt wurden, wer davor nur die Formeln des „religionslosen Christentums“ und der „Mündigkeit der Welt“ kannte, der ist überrascht, wie viel größer und vielfältiger der Kosmos Bonhoeffers war, der sich dem Leser eröffnet. Bonhoeffer, der in der „Nachfolge“ und dem „Gemeinsamen Leben“ so streng und beherrscht erscheint, ist ein Mann voller Interessen, voller Einfühlungsvermögen und Kreativität. Keinesfalls schreibt Bonhoeffer nur über Theologie: Wenn er nicht von Erlebnissen im Gefängnis berichtet, Erinnerungen und Gedanken mitteilt oder seine Angehörigen tröstet, dann schreibt er über Kunst – über Musik und Malerei –, und vor allem über Literatur. Bonhoeffer ist ein ausdauernder Leser, die Leseliste, die sich rekonstruieren lässt, ist umfangreich. Sie besteht etwa zur Hälfte aus zeitgenössischen theologischen und philosophischen Veröffentlichungen und zur anderen Hälfte 1 Geiger, Unwiderlegbar. 2 Ebd. 3 Ebd.

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aus Belletristik. Bonhoeffer liest Romane von Theodor Fontane, Gottfried Keller, Jeremias Gotthelf und Adalbert Stifter, er lebt mit seiner Lektüre, wie er schreibt, „ganz im 19. Jahrhundert“.4 Dabei lässt er sich von den beiden Kriterien „Einfachheit und Klarheit“ in Sprache und Inhalt leiten.5 Eine solche Qualität hat für ihn z. B. Stifters Roman „Witiko“, von dem er ganz begeistert ist: „Die letzten 10 Tage stehen für mich ganz unter dem Eindruck des ‚Witiko‘ […] Mit seinen 1000 Seiten, die man nicht überfliegen kann, wird er wohl heute nicht allzu vielen Menschen zugänglich sein […]. Für mich gehört er zu den schönsten Büchern, die ich überhaupt kenne; dabei versetzt er einen in der Reinheit der Sprache und der Gestalten in ein ganz seltenes und eigenartiges Glücksgefühl.“6

Bonhoeffer liebt die „Reinheit“, aber nicht die Naivität. Er erwartet von Literatur, dass sie die Vielfältigkeit des Lebens wahrnimmt und nicht vereinfacht. Was er unter Vereinfachung versteht, wird deutlich, wenn er von seinen Mitgefangenen aus dem Gefängnisalltag berichtet: „wenn Flieger kommen, sind sie nur Angst, wenn es was Gutes zu essen gibt, sind sie nur Gier; wenn ihnen ein Wunsch fehlschlägt, sind sie nur verzweifelt; wenn etwas gelingt, sehen sie nichts anderes mehr.“7 So gingen sie „an der Fülle des Lebens und an der Ganzheit einer eigenen Existenz“ vorbei.8 Dagegen sei es dem Christen aufgegeben, mit den Weinenden zu weinen und sich zugleich mit den Fröhlichen zu freuen (Röm 12,15). In keiner Situation soll das Leben „in eine einzige Dimension zurückgedrängt“ werden, sondern „mehrdimensional, polyphon“ bleiben. Bonhoeffer erkennt in der paulinischen Empfehlung das, was auch Bildung und Erziehung im Menschen bewirken sollen: Es geht darum, sich nicht von einer Situation und einem Zustand vereinnahmen zu lassen, sondern stets die verschiedenen Bereiche des Lebens „unter einen Nenner“ zu bringen. „Bei den meisten Menschen gehen diese Dinge ja wohl einfach unverbunden nebeneinander her. Für den Christen und für den ‚Gebildeten‘ ist das unmöglich, er läßt sich weder aufspalten noch zerreißen; der gemeinsame Nenner muß [sich] sowohl gedanklich wie in der persönlich einheitlichen Lebenshaltung finden lassen. Wer sich von den Ereignissen und Fragen zerreißen läßt, hat die Probe für Gegenwart und Zukunft nicht bestanden.“9 Es ist die Literatur, die Bonhoeffer für diesen Gedankengang Inspiration und Illustration gewährt. Denn Stifters Witiko soll im Roman zu dieser Lebenshaltung erzogen werden: 4 5 6 7 8 9

Bonhoeffer, Widerstand, Brief vom 24.7.43, 117. A. a. O., Brief vom 15.5.43, 71. A. a. O., Brief vom 9.11.43, 182. A. a. O., Brief vom 29.5.44, 453. Ebd. A. a. O., Brief vom 29. und 30.1. 44, 303.

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„Bei dem jungen Witiko heißt [es] einmal, er ziehe in die Welt, ‚um das Ganze zu tun‘; es geht also um den ἄνθρωπος τέλειος […] Witiko ‚tut das Ganze‘, indem er sich im wirklichen Leben zurechtzufinden sucht und dabei immer auf den Rat der Erfahrenen hört, also indem er selbst ein Glied des ‚Ganzen‘ ist. Man wird nicht für sich allein ein ‚Ganzer‘, sondern nur mit anderen zusammen.“10

Dieses Beispiel steht im Lichte von Bonhoeffers Aussage an anderer Stelle, er lerne „aus diesen Sachen [der Belletristik; P.G.] oft mehr über die ‚Ethik‘ als aus Lehrbüchern“.11 Die nonchalante Verbindung eines literarischen und eines biblischen Gedankens (das τέλειος ist auf Mt 5,48 bezogen: „Ihr sollt ganz (τέλειος) sein, wie euer Vater im Himmel ‚ganz‘ ist“) verdeutlicht, wie für Bonhoeffer im Verlauf der Briefe jede Differenz zwischen „Humanum und Christianum“ zurücktritt.12 „Christsein heißt nicht in einer bestimmten Weise religiös sein, […] sondern es heißt Menschsein.“13 Eindrücklich ist dieser Gedanke im vielleicht bewegendsten Brief Bonhoeffers ausgedrückt: Am 21. Juli 1944, nachdem er vom Scheitern des Hitler-Attentats am Vortag erfahren hat, schreibt er an seinen Freund Eberhard Bethge Zeilen, die wie ein kleines Testament wirken – ohne dass er auf das Attentat eingehen kann, ohne Dramatik und in vollendeter Schlichtheit. Er schreibt dort davon, wie man „glauben lernt“: „Ich dachte, ich könnte glauben lernen, indem ich selbst so etwas wie ein heiliges Leben zu führen versuchte. […] Später erfuhr ich und ich erfahre es bis zur Stunde, daß man erst in der vollen Diesseitigkeit des Lebens glauben lernt. Wenn man völlig darauf verzichtet hat, aus sich selbst etwas zu machen – sei es einen Heiligen oder einen bekehrten Sünder oder einen Kirchenmann […], einen Gerechten oder einen Ungerechten, einen Kranken oder einen Gesunden […], – dann wirft man sich Gott ganz in die Arme, dann nimmt man nicht mehr die eigenen Leiden, sondern das Leiden Gottes in der Welt ernst, dann wacht man mit Christus in Gethsemane, und ich denke, das ist Glaube, das ist μετάνοια; und so wird man ein Mensch, ein Christ.“14

Die beiden Gedanken der „Ganzheitlichkeit“ und der „Diesseitigkeit des Lebens“ sind miteinander verknüpft. Wer in der „Diesseitigkeit des Lebens“ lebt, der zieht sich nicht zurück in die Welt der Fantasie, in den Traum einer besseren Welt, des Himmels, der Ewigkeit, oder in die Zuflucht der Einsamkeit, die an der Welt verzweifelt. Sondern er lernt die „Polyphonie des Lebens“ in all ihren Facetten zu erkennen: Diese musiktheoretische Metapher entwickelt Bonhoeffer mit Verweis auf J.S. Bachs „Kunst der Fuge“. Dort wird das Fugenthema, der „cantus firmus“, mit zahlreichen Variationen, den „Kontrapunkten“, stets neu gestaltet. Leben geschieht nach Bonhoeffer in dieser Polyphonie. Es gehört beides dazu: Einheit 10 11 12 13 14

A. a. O., Brief vom 29. und 30.1. 44, 303f. A. a. O., Brief vom 3.8.43, 127. Henkys, Lernen, 113. Bonhoeffer, Widerstand, Brief vom 18.7.4, 535. A. a. O., Brief vom 21.7.44, 542.

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und Vielfalt. Nur wer verschiedene Ereignisse, Gefühle und Anforderungen in sich vereinen kann, ohne vom Einzelnen vollkommen vereinnahmt zu werden, der nimmt das Leben in seiner Fülle wahr. Zu der Fülle des Lebens gehören die Schönheit, die Freude, der Genuss und die Zärtlichkeit, aber auch die Trauer und das Leid, die Schmerzen und die Tränen. Und so wird die Aufgabe des „Gebildeten“, sich nicht hin- und herreißen zu lassen und Ruhe und Ausgewogenheit zu bewahren, zur Teilhabe am „Sein Christi“. Denn erst derjenige, der die Gegenwart ganz bewusst erlebt, der wahrnimmt und sich in keine Teilexistenz zurückzieht, wird empfänglich für das Leid der Anderen. Erst durch die Ganzheitlichkeit der eigenen Existenz wird das „Für-andere-Dasein“ ermöglicht. Bonhoeffer selbst hat nach dem Zeugnis seiner Briefe und seiner Zeitgenossen in dieser Diesseitigkeit gelebt. So urteilt Eberhard Bethge über das Geheimnis von Bonhoeffers Weg und Werk, es sei auf einen „theologischen und biografischen Prozeß immer neuer Umkehr von intellektuellen, psychischen und faktischen Fluchtwegen“ und auf die „fruchtbare Fähigkeit zur Präsenz, die Treue zu Opfern der Zeit statt der Treue zu Prinzipien“ gegründet gewesen.15

3.

Warum wir lesen sollten

Das Bild der Polyphonie und der Vielfältigkeit des Lebens findet Bonhoeffer in der Kunst. Sie ist es, die den Blick dafür öffnet, dass das Leben weder unverbundene Vieldeutigkeit noch uniforme Einheit ist. „Kunst bewahrt den Menschen nicht vor dem Chaos“, schreibt Arno Geiger, „sondern vor der Ordnung.“16 Denn jede Ordnung, die das tatsächliche Leben nicht wahrnimmt, beruht auf Zwang; sie muss diejenigen Elemente ausschließen, die nicht ins Bild passen. Das Problem des Kitsches, der künstlichen Ordnung und trennscharfen Einteilung, ist es gerade, dass darin „ein tieferes Verständnis für das Leben abhandenkommt. Und wo ein tieferes Verständnis für das Leben abhanden kommt, sind Menschen für das Unerwartete nicht mehr gerüstet und können Unzulänglichkeiten immer weniger akzeptieren.“17 Was für eine geistliche Einsicht! Warum sollten wir Romane lesen? Weil sie uns ein tieferes Verständnis für das Leben schenken. Sie eröffnen uns einen Blick dafür, dass die Einteilung in Schwarz und Weiß, Gut und Böse, hilfreich und schädlich gar nicht so leicht ist, dass wir uns irren, dass unser Blick getrübt ist. Sie lehren uns verstehen, dass Schönheit und Zufriedenheit nur dort zu finden sind, wo wir uns nicht abwenden, uns nicht zurückziehen. Sie entzaubern den Schein 15 Bethge, Vorwort, 7. 16 Geiger, Unwiderlegbar. 17 Ebd.

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der Perfektion, der mit der Angst gemeinsam hat, dass sie nicht Teil der realen Welt sind, sondern allein in den Bereich der Fantasie gehören. Diesseits der Ewigkeit gehören das Scheitern, das Trauern und das Leid in all seinen Schattierungen zu unserem Leben; wer versucht, sie in einen kleinen Winkel hinauszudrängen, zahlt dafür einen hohen Preis: Er verpasst das Leben an sich, das zu seiner Fülle immer die Tiefe braucht – die Tiefe des Leids genauso wie die Tiefe der Freude, der Erkenntnis und des Jubels. Romane können Augen öffnen, so wie der Auferstandene den EmmausJüngern die Augen öffnet (Lk 24,13–35). Er gesellt sich zu ihnen in ihrer Niedergeschlagenheit, er geht mit ihnen, hört ihnen zu, legt ihnen die Schrift aus. Er begegnet ihnen am harten Boden der Tatsachen: „Wir aber hofften, er sei es, der Israel erlösen werde“, so erzählen sie ihm ihre Geschichte von Jesus von Nazareth. Und als er mit ihnen das Brot bricht, erkennen sie ihn. Sie erkennen ihn als den Gekreuzigten, dessen Wunden auch den Auferstehungsleib zeichnen. Sie erkennen, dass er gerade so, wie er sich ihnen gezeigt hat, Israel erlösen wird. Er, der Begleiter auf der einsamen Straße, der Tröster in der Mutlosigkeit, das offene Ohr und die gebende Hand. „Da wurden ihre Augen geöffnet, und sie erkannten ihn.“ In der Diesseitigkeit dieser Welt, im alltäglichen Gehen und Stehen sollen unsere Augen geöffnet werden – um Christus zu erkennen, um durch ihn den Nächsten zu erkennen. Romane sind Sehschulen, sie hinterfragen unsere verkrusteten Kategorien, weiten den Blick und das Herz. In Geigers neuestem Roman „Unter der Drachenwand“ (2018) fällt der Satz „Ruhig wird das Herz erst, wenn wir geworden sind, was wir sein sollen.“18 Werden, was wir sein sollen, verwandelt werden in das Bild Christi (2Kor 3,18), das ist Ereignis, nicht Ergebnis, ist Vorgang und nicht Zustand. Wie alles Lebendige ist es in Bewegung, pulsiert, und ist gleichzeitig mit Schwächen versehen. „Perfection has no children“, dem gegenüber steht die Hoffnung, dass gerade die Schwäche, die Verletzung und das Scheitern zum Ort der Heilung und der Fruchtbarkeit werden: „Lass dir an meiner Gnade genügen, denn meine Kraft vollendet sich in der Schwachheit“ (2Kor 12,9).

Literatur Eberhard Bethge, Vorwort, in: ders., Bekennen und Widerstehen. Aufsätze, Reden, Gespräche, München 1984, 7–10.

18 Geiger, Unter der Drachenwand, 367.

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Bonhoeffer, Dietrich, Widerstand und Ergebung. Briefe und Aufzeichnungen aus der Haft, hg. von Christian Gremmels, Eberhard Bethge und Renate Bethge in Zusammenarbeit mit Ilse Tödt, DBW, Bd. 9, Gütersloh 1998. Geiger, Arno, Es geht uns gut. Roman, München/Wien 2005. –, Unter der Drachenwand. Roman, München 2018. –, Unwiderlegbar ist die Gestalt. Wo‘s am unbequemsten ist, da hat die Kunst ihren Platz. Rede zur Verleihung des Joseph-Breitbach-Preises 2018, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung (2018), Nr. 227, 20. Henkys, Jürgen, Was heißt bei Dietrich Bonhoeffer „lernen“? Eine Längsschnittstudie, in: Schmitz, Florian/Tietz, Christiane (Hg.), Dietrich Bonhoeffers Christentum. Festschrift für Christian Gremmels, Gütersloh 2011, 91–113.

Christian Grethlein

Die Bedeutung von Medien (Presse, Radio, Film, Fernsehen, Internet/soziale Medien, Künstliche Intelligenz) für die christliche Lebensform

1.

Einführung

Die Medienthematik ist zentral für jede Kommunikation mit oder hinsichtlich Transzendentem, und damit auch für die Kommunikation des Evangeliums.1 Denn „Gott“ als wesentlicher Ausdruck von Transzendenz ist nicht direkt sinnlicher Kontaktaufnahme zugänglich. Der Kontakt zu und mit ihm bedarf einer auf die Sinne bezogenen Vermittlung. Damit liegt eine Herausforderung vor, deren Bearbeitung die ganze Christentumsgeschichte durchzieht. Exemplarisch sind hier zum einen die immer wieder begegnenden Auseinandersetzungen um die Bedeutung von Bildern für die spirituelle Praxis zu nennen. Bilderverehrung,2 wie bis heute eindrucksvoll im Umgang orthodoxer Christen mit Ikonen gepflegt, steht schroffer Ablehnung von Bildern entgegen, wie sie z. B. in den kahlen Wänden reformierter Kirchengebäude entgegentritt, aber auch in nur ornamental bzw. kaligrafisch ausgestalteten Moscheen begegnet. Insgesamt setzte sich nicht zuletzt aus katechetischen Gründen im Christentum weitgehend die Verwendung von Bildern durch, also von Medien zur Veranschaulichung der Beziehung Gott – Mensch. Zum anderen erscheint beim Beten und Segnen die Grenze zwischen vertrauensvoller Hinwendung zu Gott und in den Bereich der Magie fallenden menschlichen Versuchen, Gottes Willen zu eigenen Gunsten zu manipulieren, fließend. Beim Segnen tritt dies im Oszillieren zwischen optativischer Formulierung und gestischer Performanz zutage.3 Eine besondere Brisanz erhält die Medien-Thematik für die Kommunikation des Evangeliums durch die seit dem Beginn des 20. Jh. zu beobachtende stürmische Medien-Entwicklung.4 Sie ist eng mit technischen Fortschritten verbunden und folgt damit einem instrumentellen Weltzugang. Zu den bereits in 1 2 3 4

Zu diesem Leitbegriff heutiger Praktischer Theologie Domsgen/Schröder, Kommunikation. Vgl. exemplarisch Lange, Bild, und Poscharsky, Ikonen. Friedrichs, Magie. S. zum Überblick Faulstich, Mediengeschichte.

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Christian Grethlein

den Vorläufern der Zeitungen für die Ausbreitung der Reformation wichtigen Flugblätter treten in schneller Reihenfolge Film, Radio, Fernsehen und seit etwa fünfundzwanzig Jahren verschiedene Formen der Internet-Kommunikation. Sie erfreuen sich großer Verbreitung. Mitunter kommt auch ihr Potenzial für die spirituelle Praxis in den Blick, was aber im Einzelnen durchaus kontrovers diskutiert wird. Die Weite des Spiritualitätsbegriffs5 erlaubt, auch die noch vor uns liegenden Veränderungen und Herausforderungen zu avisieren. Grundsätzlich geht es dabei um die Lebensform, die die einzelnen Kommunikationen und sonstigen Vollzüge prägt, konkret: die christliche Lebensform.6 Sie erhält ihren grundlegenden Impuls vom Auftreten, Wirken und Geschick Jesu her, eben dem Evangelium, und orientiert im jeweiligen Kontext neu. Im Folgenden gebe ich – exemplarisch veranschaulicht – einige Hinweise zur Kommunikation des Evangeliums im Kontext der raschen gegenwärtigen Medienentwicklung. Dabei begegnen recht unterschiedliche Ausrichtungen. Sie reichen von allgemeiner Unterstützung der öffentlichen Urteilsbildung durch kirchliche Presseagenturen bis hin zu Impulsen für die persönliche Begegnung mit Gott beim Beten im Internet. Viele dieser Erscheinungsformen sind eng miteinander verknüpft, ohne dass ich darauf im Einzelnen jedes Mal hinweisen kann. Dies ist nicht zuletzt darin begründet, dass neue Medien in der Regel zu den bestehenden hinzutreten und, wenn überhaupt, Ablösungen lange Zeiträume umfassen.

2.

Presse

Schon im 19. Jh. bildete sich ein differenziertes christliches Pressewesen aus. Voraussetzung dafür war ein entsprechendes Verlagswesen. Das galt bereits für die Verbreitung der Bibel z. B. durch die von Carl Hildebrand v. Canstein in Halle initiierte Bibelanstalt.7 Den größten Erfolg wies im deutschsprachigen Raum der 1835 von Carl Bertelsmann gegründete Verlag in Gütersloh auf. Den Kontext hierfür gab die Minden-Ravensburger Erweckungsbewegung ab.8 Dabei zeigt sich ein auch in der weiteren Medienentwicklung häufig begegnender Grundzug, nämlich dass freie christliche Zusammenschlüsse schneller auf mediale Veränderungen reagieren als Kirchenämter.

5 6 7 8

Grethlein, Theologie, 178–181. Hierzu ausführlicher Grethlein, Christsein. Meurer, Bibelgesellschaften, 1448f. Rosenstock, Presse, 120.

Die Bedeutung von Medien für die christliche Lebensform

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Im Einzelnen entwickelten sich zwei verschiedene Richtungen im thematisch christlich orientierten Pressewesen. Auf der einen Seite erschienen Blätter mit geringer Auflage, die sich an ein theologisch interessiertes Publikum richteten, wie etwa die rationalistisch orientierte „Allgemeine Kirchenzeitung“ (1822 begründet) oder die positionell dem entgegengesetzte lutherisch konfessionalistische „Evangelische Kirchenzeitung“ (1827). Auf der anderen Seite entstand die sog. Kirchengebietspresse mit großer Verbreitung. Wesentlich initiiert durch einen Impuls Johann Hinrich Wicherns9 kam es zu zahlreichen Gründungen. Parallel dazu – und durchaus in Konkurrenz – standen entsprechende publizistische Aktivitäten der römisch-katholischen Kirche, die u. a. sogar eigene Tageszeitungen unterhielt.10 Vielleicht noch wichtiger war – im Rahmen des Programms „Innere Mission“ – die Entstehung von Pressevereinen. 1892 wurde als erster der „Evangelisch-Soziale Preßverband für die Provinz Sachsen“ gegründet. Ihm folgten bis 1910 in den meisten Teilen Deutschlands entsprechende Vereine.11 Nach deren erster Satzung verfolgten sie folgende Aufgaben: „auf dem Gebiet der Presse erstens die durch alle Stände verbreitete Gottentfremdung und Unsittlichkeit zu bekämpfen, zweitens die durch die Sozialdemokratie verführten oder gefährdeten Volkskreise für evangelische Kirche, Vaterlandsliebe und soziale Ordnung wieder zu gewinnen und drittens das Interesse aller Stände für soziale Reformen zu erwecken“.12

Deutlich tritt hier eine – aus heutiger Sicht problematische – politisch und moralisch begründete Kulturkritik zutage. Direkt wird die weltanschauliche Konkurrenz der Sozialdemokratie angesprochen. Doch auch hier hielt sich die verfasste Kirche lange zurück. Eine wichtige Etappe markiert dann die Gründung des „Evangelischen Presseverbandes für Deutschland“ (EPD) 1910. In dessen Statuten hieß es in § 2 zu Zweck und Aufgabe der Vereinigung: „a) Bedienung der gesamten Presse, in erster Linie der politischen Tagespresse und der belletristischen Zeitschriften; b) Zentrale Berichterstattung, Bearbeitung zentraler Fragen; c) Herausgabe von Mitteilungen für Pressarbeiter und Beschaffung einer Übersicht über die gesamte evangelische Pressarbeit Deutschlands (Jahrbuch); d) Auskunftserteilung in Preßsachen (Inserate usw.); e) Ausbildung von Pressarbeitern; f) Zusammenarbeiten mit den Berufsorganisationen der Redakteure und Verleger.“13 9 10 11 12 13

A. a. O., 36–45. Gertz, 43. Rosenstock, Presse, 53. Zitiert a. a. O., 46. Zitiert a. a. O., 54f.

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Hier dominiert ein pragmatisches Interesse, bei dem die Kooperation mit der allgemeinen Presse und deren Unterstützung im Mittelpunkt stehen. In gewissem Sinn begegnet dabei das Programm einer „Kirche für andere“. Das blieb bis in die Gegenwart so. Evangelische Presse und das diesbezügliche Agenturwesen stellen seitdem Formen kirchlicher Arbeit dar. 1947 erhielt der bis heute bestehende „Evangelische Pressedienst“ (epd) eine Lizenz14 und versorgt seitdem die allgemeine Presse mit kirchlichen Nachrichten. 1970 gründeten evangelikale Kreise mit „idea“ eine Art Gegenagentur, die eine explizit „missionarische“ Zielsetzung verfolgt. Auf dem Gebiet der sog. Kirchengebietspresse, also bei regionalen Sonntagszeitungen und Gemeindeblättern, kam es in den letzten Jahren zu manchen Veränderungen. Technische Innovationen, aber auch finanzielle Zwänge erforderten diese ebenso wie die stetig zurückgehenden Auflagen. Noch problematischer entwickelte sich die Lage der überregionalen Zeitungen. Die 1948 entstandene Wochenzeitung „Sonntagsblatt“, später „Deutsches Allgemeines Sonntagsblatt“ bzw. „Das Sonntagsblatt“, sowie „Christ und Welt“ mussten – trotz Fusion von letzterem Blatt mit dem katholischen „Rheinischen Merkur“ – ihr Erscheinen einstellen. Eine neue EKD-Strategie zeigt sich im Magazin „Chrismon“, das großen überregionalen Blättern beigelegt wird und so einen breiten Zugang zu einem eher gebildeten Publikum in Deutschland bietet. Doch auch hier zeichnet sich durch das veränderte Nutzungsverhalten in der jüngeren Generation, die Tageszeitungen kaum mehr liest, eine deutliche Grenze ab. Kirchliche bzw. christliche Presse teilt das Schicksal der übrigen Printmedien, die im Kontext des Internets an Bedeutung verlieren. Auch in theologischer Perspektive sind die Grenzen der gedruckten Presse unübersehbar. Die Kommunikation des Evangeliums, zu der in gewissem Maß Wiederholen und Einüben gehören, entzieht sich ihr in grundlegender Hinsicht. Niklas Luhmann macht auf den zeit- und nachrichtentheoretischen Grund hierfür aufmerksam: „Die wohl wichtigste Besonderheit des Codes Information/Nichtinformation liegt in dessen Verhältnis zur Zeit. Informationen lassen sich nicht wiederholen; sie werden, sobald sie Ereignisse werden, zur Nichtinformation. Eine Nachricht, die ein zweites Mal gebracht wird, behält zwar ihren Sinn, verliert aber ihren Informationswert.“15

Jochen Hörisch folgert daraus: „Ebendarum liebt das Informationssystem mit geradezu fetischistischer Inbrunst Institutionen, die unablässig Neues produ-

14 Auf katholischer Seite besteht dazu parallel die „Katholische Nachrichten Agentur“ (KNA). 15 Luhmann, Realität, 41.

Die Bedeutung von Medien für die christliche Lebensform

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zieren – etwa die Bundesliga oder die Börse.“16 Die Kirchen bzw. christliche Gemeinschaften und die christliche Lebensform gehören dazu in der Regel nicht.

3.

Film

Ende des 19. Jh. entstanden – in Folge und im Kontext sonstiger Beschleunigungen wie der Eisenbahn und Neuerungen wie der technischen Nutzung elektrischen Stroms – die ersten Filme. Hier begegnet ein für die weitere Medienentwicklung interessanter Effekt. Große Wirklichkeitsnähe und sinnliche Täuschung koinzidieren. Denn zum einen setzt sich der Film aus Einzelbildern zusammen; zum anderen werden diese aber bei entsprechend schneller Bilderfolge vom menschlichen Rezipienten miteinander verbunden und als fortlaufende Handlungssequenzen erlebt. Durch die Unterlegung der Bilder mit Ton und durch deren Farbe gewann der Film endgültig seine attraktive Form. Er zog und zieht viele Menschen im Kino in seinen Bann und avancierte im Lauf des 20. Jh. „zur dominanten kulturellen Ausdrucksform“.17 So konstatiert Erwin Panofsky schon für die vierziger Jahre des 20. Jh. in den USA: „Ob man darüber erfreut ist oder nicht: der Film bestimmt stärker als jeder andere Einzelfaktor die Meinungen, den Geschmack, die Sprache, die Kleidung, das Benehmen, ja sogar die äußere Erscheinung eines Publikums, das mehr als 60 Prozent der Erdbevölkerung ausmacht.“18

Nicht zuletzt im Bereich der Kirchen wurde diese Entwicklung scharf kritisiert, insofern in Filmen „Schund und Schmutz“ erkannt wurden, die der kirchlichen Moral entgegenstanden. Allerdings wurden gelegentlich auch biblische Stoffe und christliche Themen verfilmt. Doch zeigte sich hier nur ein Erfolg, wenn zugleich das Interesse der großen Menge nach Unterhaltung befriedigt wurde. Erst zu Beginn des 21. Jh. kam die religiöse Dimension des Films verstärkt in der theologischen Reflexion in den Blick. So charakterisierte Jörg Herrmann das Kino als „Sinnmaschine“. Dies begründete er u. a. mit der Beobachtung, dass die meisten Filme die Themen Liebe, Natur und Erhabenheit und damit die „intensivsten Primärerfahrungen“ ins Zentrum rücken, „die zugleich zunehmend aus dem lebensweltlichen Erfahrungsraum verschwinden“.19 Allerdings erscheint fraglich, ob die um sich greifende Rede von der „Medienreligion“ sinnvoll ist, vor allem, wenn man die Mehrzahl der Rezipienten im Blick hat. Doch ist auf jeden 16 17 18 19

Hörisch, Sinn, 172. Herrmann, Sinnmaschine, 78. Zitiert ebd. A. a. O., 237.

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Fall die Fülle der Zitate von und Bezüge zu christlichen Traditionen in vielen Filmen erstaunlich20 und kann bei religiös Ansprechbaren entsprechende Resonanzen und Reflexionen auslösen.

4.

Radio

Bereits kurz nach Sendebeginn des ersten Radioprogramms in Deutschland (1923) wurde – 1924 – eine sog. religiöse Morgenfeier ausgestrahlt. Dies fand interessanterweise in Verantwortung des Intendanten, nicht in kirchlichem Auftrag statt. Doch dürfte die in den folgenden Jahren schnell voranschreitende Produktion auch kirchlicher Sendungen – trotz grundsätzlicher Kritik an kirchlicher Öffentlichkeitsarbeit in den Medien ebenso durch Wilhelm Stapel wie durch Karl Barth21 – einen sachlichen Grund haben. Martin Hein erinnert daran: „‚Der Glaube‘, so resümiert Paulus, ‚kommt aus dem Hören‘ (Römer 10,17), und Luther übersetzt, um den performativen Aspekt stark zu machen, ganz konkret. ‚Der Glaube kommt aus der Predigt.‘ Glaube ist medial vermittelt, Verkündigung ist Glaube stiftende Rede von Gott. Reden und Hören sind zwei Seiten einer Medaille.“22

Allerdings fiel es den Pfarrern schwer, etwa bei den Morgenfeiern den rechten Ton zu treffen. So wies der kirchlich aufgeschlossene Intendant des Bayerischen Rundfunks, Kurt v. Boeckmann, mit diesbezüglichen kritischen Bemerkungen auf ein grundlegendes Problem kirchlichen Engagements in neuen Medien hin: Bei den Morgenfeiern handele es sich „vielfach um religiös-dogmatische Ansprachen mit gelegentlicher Polemik gegen kirchenfeindliche Tendenzen oder bestimmte Eigenschaften der Gegenwart. Es fehlt das allgemein erhebende Moment, es fehlt der Appell an den Geist, es ist meist nur ein Appell an eine als vorhanden angenommene kirchliche Haltung der Hörerschaft.“23

Offenkundig fiel es den Theologen schwer, sich aus dem Kontext der binnenkirchlichen Kommunikation zu lösen und damit unvertraute Menschen zu interessieren. Dazu wies der Radio-Mann auf zwei wichtige Charakteristika der Kommunikation durch das Medium Radio hin: Diese sei eine „private Rezeptionssituation“ in einem „Unterhaltungsmedium“.24 Mit Beidem benannte er strittige Punkte. Traditionell wollte Kirche „Gemeinschaft“ fördern und setzte „Ernst“ der lockeren Unterhaltung entgegen. Dazu war die Konkurrenzsituation im Radio für die Kirchenmänner ungewohnt. Konnten die Zuhörenden doch bei 20 21 22 23 24

S. die Beispiele in Laube, Himmel. S. einschlägige Zitate bei Grethlein, Theologie, 445. Hein, Theologie, 191. Zitiert nach Schieder, Rede, 124. A. a. O., 125.

Die Bedeutung von Medien für die christliche Lebensform

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Langeweile oder Ärger jederzeit ab- oder umschalten. Im Radio wurde die – auch sonst zunehmende – Marktsituation kirchlicher Arbeit offenkundig, die an die Stelle jahrhundertelanger obrigkeitlicher Privilegierung trat. Von daher erklärt sich wohl, dass vor allem Christen in Ländern, in denen die Kirche(n) keine Bevorzugung genoss(en), den Hörfunk als Chance für die Kommunikation des Evangeliums aufgriffen.25 Dafür spricht auch, dass sich die katholische Weltkirche stets den neuen medialen Entwicklungen gegenüber aufgeschlossener zeigte als die deutschen evangelischen Landeskirchen mit ihrer engen, bis in die eigene Struktur reichenden Verbundenheit mit dem Staat. Inzwischen hat sich die Radiolandschaft auch in Deutschland vielfältig verändert: „Das Radio hat sich ausdifferenziert, ist klein- und kleinstteilig geworden bis hin zum Bürger- und Veranstaltungsradio; Spartensender bedienen jede noch so kleine Nische von Hörgewohnheiten und Musikgeschmack. Radio im Internet hat eigene Formen von interaktiver Programmgestaltung entwickelt, die den Tonträgermarkt in Nöte bringen und sich mit den sozialen Netzwerken zu verbinden beginnen. Es hat den Tagesbeginn und den Tagesverlauf besetzt, dient als ‚Kompagnon‘, als primäre, immer noch besonders schnelle Informationsquelle und vor allem als Unterhaltungsmedium – bis hin zur ‚Klangtapete‘, die das Radio zum Teil des Interieurs macht.“26

In dieser Situation eröffnet der Zugang über das Konzept „Unterhaltung“ eine neue Perspektive für die Kommunikation des Evangeliums. Matthias Bernstorf gibt einen knappen, aber präzisen Überblick über entsprechende Diskurse: „Zusammenfassend ist festzustellen, dass Unterhaltung sprachgeschichtlich nicht nur als publizistisches Genre zu verstehen ist, sondern als rezeptionsästhetisches Phänomen, das mit vielschichtigen Gratifikationszielen in Verbindung gebracht wird, zum Beispiel mit dem Aspekt des Angenehmen, Nützlichen und Lehrreichen (Jacob und Wilhelm Grimm), mit der Funktion des seelischen und materiellen Unterhalts sowie des Amüsements (Schroeter-Wittke), mit der ins Nachdenken führenden Kommunikation über die existentiellen Fragen des Menschseins (Josuttis), mit Ablenkung und Zeitvertreib, Interaktion, Förderung der persönlichen Identität, Bildung und Information (Reinhardt und Engelhardt) und dem Aspekt des schöpferischen Spiels, das auf angenehme und vergnügliche Weise den Sinn des früheren, gegenwärtigen und zukünftigen menschlichen Daseins im Licht des Reiches Gottes reflektiert (Auer).“27

Demnach kann also das primär auf Unterhaltung zielende Medium Radio durchaus Impulse für die Kommunikation des Evangeliums geben, insofern diese von den Zuhörenden als relevant für ihr Leben empfunden werden. Tatsächlich zeigt Bernstorf anhand der Analyse eines Jugendsenders – N-Joy-Radio 25 S. Biemer, Rundfunksender. 26 Hein, Theologie, 192f. 27 Bernstorf, Ernst, 48.

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– auf, welches Potenzial sich hier für eine „unterhaltsame Kommunikation des Evangeliums“ eröffnet. Für die Gestaltung ergibt sich ein klares Anforderungsprofil: Die Beiträge sollen „kurz, in Glaubensfragen informativ, leicht verständlich und mit guter Musik kombiniert sein“.28 Inhaltlich „sollen [sie] ins Nachdenken führen und aktuelle Bezüge zur Lebenswirklichkeit junger Leute herstellen“.29 Dabei erinnert Bernstorf zum einen an „die für das Ohr verfassten, beiläufig gesprochenen und in die konjunktivische Welt des Reiches Gottes einführenden Gleichnisse Jesu“,30 die nicht zuletzt durch ihre Kürze heutigen Rundfunkformaten ähneln. Zum anderen tritt in seiner Befragung von Jugendlichen die Bedeutung eines „Medienverbunds“ hervor. Gehörtes im Radio, in personaler Kommunikation mit Peers Erlebtes und Besprochenes, aber auch telefonisch mit dem Moderator einer Sendung Ausgetauschtes verstärken sich gegenseitig und regen an. Von daher gilt es grundsätzlich, die Fixierung auf je ein Medium zu überwinden, sondern dieses in einem größeren Verbund mit anderen personalen und apersonalen Medien zu betrachten.

5.

Fernsehen

In der Verbreitung ähnlich, aber über den Gehörsinn hinaus noch den Gesichtssinn umfassend, entwickelte sich das Fernsehen seit den sechziger Jahren des 20. Jh. zum „Leitmedium“,31 das es bis heute – abgesehen von der Gruppe jüngerer „digital residents“ bzw. „natives“ – geblieben ist. Dessen besondere Struktur und damit gegebene inhaltliche Prägung fasste Luhmann treffend zusammen: „Die am Roman gewonnene Form der erzählenden Unterhaltung ist heute nicht mehr alleinherrschend. Mindestens seit der Ausbreitung des Fernsehens hat sich eine zweite Form danebengesetzt, nämlich die Gattung der höchstpersönlichen Erfahrungsberichte. Personen werden, im Bild sichtbar, vorgeführt und ausgefragt, oft im Interesse an intimsten Details ihres Privatlebens. […] Anscheinend liegt das Interesse an solchen Sendungen darin, eine glaubwürdige, aber nicht konsenspflichtige Realität vorgeführt zu bekommen. Obwohl in derselben Welt lebend (es gibt keine andere), wird der Zuschauer keinen Konsenszumutungen ausgesetzt. Ihm steht es frei, zuzustimmen oder abzulehnen.“32

Die Einführung von privaten Fernsehsendern und die mit der daraus entstandenen Vielzahl gegebenen Konkurrenzsituation verstärken diese Tendenz. Kul28 29 30 31 32

A. a. O., 219. Ebd. A. a. O., 145. S. Faulstich, Mediengeschichte, 257–326. Luhmann, Realität, 111f.

Die Bedeutung von Medien für die christliche Lebensform

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tursoziologisch entwickelte Armin Nassehi von daher seine These vom „Fernsehformat“ im Wirklichkeitszugang: „Womöglich wird das Fernsehen bis heute unterschätzt – denn es scheint nicht nur Bilder zu vermitteln, sondern vor allem unterschiedliche Bilder. Fernsehformate gewöhnen an Inkonsistenzen. Sie zeigen Unterschiedliches – und machen doch alles miteinander kommensurabel.“33

Dies führt zu einer erheblichen Veränderung im Verhältnis der Menschen zur Kirche und damit zum Verständnis des Christseins: „Es scheinen nicht mehr die kirchlichen Institutionen zu sein, an denen sich die Religiosität gerade von Hochreligiösen abarbeitet, sondern die authentische Präsentierbarkeit des eigenen Lebens, das sich den Konsistenzzumutungen konfessioneller Praxis unmerklich, aber deutlich entzieht.“34

Doch nahmen die Kirchenvertreter – und Theologen – diese Veränderungen lange nicht zur Kenntnis. Ähnlich wie beim Radio stritten sie darum, ob und in welcher Form Kirche im Fernsehen auftreten bzw. begegnen sollte.35 1954 erfolgte die erste Ausstrahlung des „Wort zum Sonntag“, bis heute die einzige religiöse Sendung in der prime time.36 Anfangs wurden so Einschaltquoten von bis zu 50 % erreicht, was sich aber schnell im Zuge der zunehmenden Programmvielfalt reduzierte. Erhebliche Probleme warf die Frage eines sog. Fernsehgottesdienstes auf. Hier wurde die Konkurrenz zu den Sonntagsgottesdiensten in den Kirchengebäuden gefürchtet, deren Besuch den Kirchenvertretern – auch abgesehen von der in der römisch-katholischen Kirche bis heute geltenden Sonntagspflicht – stets unzureichend erschien. Dazu trat auf katholischer Seite von der Zentralstellung der Eucharistie in der Messe her das Bedenken, durch eine Fernsehübertragung werde die Kulthandlung profaniert und das Arcanum, das Geheimnis, verletzt. Auch sei eine volle „Participatio“ nicht möglich.37 Auf evangelischer Seite wurde von der Zentralstellung des Wortes her die kritische Frage gestellt, ob eine Bildübertragung nicht eher vom Entscheidenden ablenke.38 Von daher bot sich – gleichsam als Kompromiss – die Form des Vespergottesdienstes an. Auffällig ist, dass bei diesen grundsätzlichen Überlegungen die eventuellen Zuschauer/innen nur, wenn überhaupt, eine zweitrangige Rolle spielten. Eindeutig dominierte eine aus der bisherigen Kirchenlogik und Dogmatik entwickelte Sicht. Kommunikativ unterbestimmte Begriffe wie Kult oder Verkündi33 34 35 36 37

Nassehi, Kommunikation, 188. Ebd. S. zum Einzelnen Gilles, Auge, 69–126. Gertz, Echt aufgeschlossen, 88. S. die Zusammenstellung entsprechender Argumente bei Sanders, Gottesdienstübertragungen, 933. 38 A. a. O., 934.

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gung dominierten die Diskussion. Allein für Kranke, Behinderte und Alte, die nicht den Weg in das Kirchengebäude zurücklegen konnten, schien die Übertragung eines Sonntagsgottesdienstes gerechtfertigt, wie er seit 1986 im ZDF stattfindet. Inzwischen hat sich diese Form etabliert und ihre Zielgruppe wird eher vom Medium her verstanden: „Der Fernseher (als Fernsehgerät) ist weder evangelisch noch katholisch, und der Fernseher (als Zuschauer) im Vollzug der medialen Teilhabe an der Liturgie nicht vorrangig als Protestant oder Katholik interessiert, sondern am überzeugenden Inhalt, an optisch-ästhetischer Präsentation, an glaubwürdigen, sympathischen, unverkrampften Vermittlern, ja Glaubenszeugen.“39

Empirische Umfragen bestätigen dies. Sie ergeben, dass der Fernsehgottesdienst so etwas wie eine „mediale agora“, einen medialen Marktplatz, konstituiert.40 Tatsächlich kommt es bei vielen an ihnen Teilnehmenden zur Herausbildung eines eigenen Gemeinschaftsempfindens: „Aus den zahlreichen Rückmeldungen der Zuschauer via Telefon, Brief und E-Mail lässt sich schließen, dass viele Menschen sich persönlich angesprochen, auch aufgehoben und in das medial vermittelte gottesdienstliche Geschehen integriert fühlen. Dass die räumlich-physische Dimension der Gemeinschaftserfahrung fehlt, wird in den wenigsten Fällen als belastend wahrgenommen.“41

Charlotte Magin und Helmut Schwier folgern daraus „eine communio medialis, eine vermittelte Teilhabe, die eine geistliche Beheimatung ermöglicht und von vielen Zuschauern als ausreichend empfunden wird“.42 Kirchentheoretisch erinnern sie – in der Regel wird der Fernsehgottesdienst im Wohnzimmer verfolgt bzw. wohl besser: gefeiert – an die altkirchliche Institution der Hauskirche. Dazu tritt, dass in der Regel die am Fernsehgottesdienst Teilnehmenden über langjährige anderweite Gottesdiensterfahrungen verfügen, sich also auch hier personale und apersonale Kommunikationen überlagern. An manchen WinterSonntagen übertrifft die Zahl der am Fernsehgottesdienst Partizipierenden die Zahl derer, die deutschlandweit in einem evangelischen Kirchengebäude feiern.

39 S. die Zusammenfassung entsprechender Stellungnahmen evangelischer Verantwortlicher a. a. O., 937. 40 Magin/Schwier, Kanzel, 59. 41 A. a. O., 27. 42 Ebd.

Die Bedeutung von Medien für die christliche Lebensform

6.

905

Internet

Das Internet, eine elektronisch gesteuerte Kommunikations-Plattform, integriert zum einen zunehmend die bisher behandelten Medien und ermöglicht zum anderen darüber hinaus neue Kommunikationen, denen jetzt die Aufmerksamkeit gelten soll. Dabei kommt es zur Verbindung bisher – eher – getrennter Bereiche: „Ästhetik, Wirklichkeitskonstruktion, Kommunikation, ihre Verlaufsprozesse sowie die Technik selbst stehen sich mit Blick auf das Internet nicht mehr als voneinander unabhängig gegenüber, sondern sind untrennbar miteinander verwoben. Die Szenarien der persönlichen wie der sozialen Identität schlechthin sind darin unentwirrbar mit den neuen Technologien des Bildes und der audiovisuellen Kommunikation verknüpft: Es entwickeln sich durch das Internet erstmalig mögliche interaktive kommunikative Prozesse, neue Formen von sozialen Größen im Sinne von Bezügen und Zusammengehörigkeiten, von Vergemeinschaftungs- und Vergesellschaftungsformen.“43

Im Gegensatz zu dem bisher Behandelten scheint das kommunikative Potenzial des Internets noch nicht ausgeschöpft. Schon jetzt können die durch es ermöglichten Formen der Kommunikation des Evangeliums nur exemplarisch und in mehreren Schritten skizziert werden. Zuerst konzentriere ich mich auf herkömmliche – auch – liturgische Formen, genauer eine neu entstehende Form der Gebetspraxis, sodann auf die Feier von Gottesdiensten im Internet. Im nächsten Abschnitt untersuche ich Aufbrüche in der Internet-Kommunikation zwischen Web-Sites, Blogs und Social Communities. Auf eher noch zukünftige Entwicklungen macht schließlich ein Blick auf Kommunikationen durch Künstliche Intelligenz und mit ihr aufmerksam.

6.1

Beten und Gottesdienst Feiern

Anna-Katharina Lienau kam bei der Analyse von Internet-Sites, die sich auf das Beten beziehen – konkret: www.gebetsanliegen.de sowie www.kirche-in-not.de – einer interessanten neuen Profilierung des Betens auf die Spur. In einem OnlineInterview schilderte eine Beterin ihre diesbezüglichen Erfahrungen mit der Internet-Kommunikation:44 „Als wir plötzlich vor einem nie geglaubten Problem standen, bin ich zuerst in die Kirche und habe Gott angefleht, was können wir tun. Hilfe mir bitten und beten. Plötzlich kam es mir in den Kopf nach derartigen Internetseiten zu suchen. Ich habe einige amerikanische gefunden und meine Anliegen sofort dort vor Gott gebracht, wenn 43 Böntert, Gottesdienste, 18. 44 Die medientypischen Verschreibungen sind beibehalten.

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man so will. Ich war mir sicher, diese Menschen, wer auch immer, werden uns helfen; sie werden auch für uns beten und gleichzeitig brach für mich eine Tür offen, wo ich auch begann für die Anliegen anderer Menschen zu beten. Es war gerade so, als ob ich geleitet wurde, diese Schritte zu gehen. Die Anonymität ist eine Chance für so viele Menschen. […] ja, es gibt so viele Menschen in Not; viele trauen sich nicht damit zu Bekannten oder zur Familie zu gehen und zu bitten, dass man für sie betet. Aber sie wissen, hier im Internet Gebet kümmern sich Menschen, die werden mein Gebet vor Gott tragen.“45

Mehreres verdient hier Interesse: Die Beterin wendet sich nach vergeblichen Versuchen in der Kirche dem Medium ihres Alltags zu, dem Internet, und klickt Gebets-Sites an. Hier vermischen sich die in traditioneller Spiritualität getrennte privat-persönliche und die öffentliche Ebene des Betens. Die Beterin kommuniziert im Netz zugleich mit Gott und anderen Menschen. Lienau entdeckt dabei einen neuen Ansatz beim Umgang mit einem Grundproblem jeden Betens, nämlich dem der Gebetserhörung: „Indem der Beter sich beim Beten im Internet zugleich an Gott und andere Menschen wendet, kann von einer zeitlich verschobenen Gebetserhörung als Kategorie der Selbsthilfe oder Seelsorge gesprochen werden, in der die Anteilnahme der anderen Nutzer über die noch nicht erfolgte Gebetserhörung hinwegtrösten kann.“46

Voraussetzung hierfür ist die Anonymität des Mediums. Dies entspricht dem – bereits in Nassehis These vom Fernsehformat angeklungenen – Umgang in der Gegenwart. Uwe Sander benennt präzise das dabei gegebene Ineinander von Anonymität und Nähe: „Mit der Metapher der mediatisierten Kommunikation erhalten […] die anonymen und distanten Verhältnisse von zusammenlebenden Menschen in modernen Gesellschaften einen speziellen Status sozialer ‚Bindung‘, allein schon deswegen, weil von den Menschen in diesen Gesellschaften dieses Muster der Interaktion faktisch genutzt wird, um sich miteinander in Beziehung zu setzen.“47

Schließlich tritt in der Interview-Äußerung die Destruktion von Institutionalisierungen und Hierarchien im Netz hervor. Menschen kommen – weit voneinander entfernt und zugleich ganz nah durch ein Anliegen verbunden – miteinander in Kontakt. Die Beterin bekommt beim Surfen auf der Website Einblick in das Leben anderer Menschen, was schon in gewissen Lebenslagen ein Trost sein kann, um nicht in der eigenen Trauer steckenzubleiben. Dabei gehen bisher getrennte Rollen, wie die von Seelsorger und Seelsorgerin und Seelsorge Empfangenden ineinander über. In der genannten Gebetspraxis kommt eine Seelsorge ohne direkte physische Präsenz, zeitliche Synchronizität und mit radikaler 45 Zitiert in Lienau, Gebete, 335. 46 A. a. O., 311. 47 Sander, Bindung, 12.

Die Bedeutung von Medien für die christliche Lebensform

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Reduktion der Kommunikationskanäle zutage. Bisher übliche Organisationsformen oder Rollen treten zurück. Christoph Morgenthaler bezeichnet dies in poimenischer Perspektive als „virtuelle Dekonstruktion von ‚Seelsorge‘.“48 Ähnliches, wenn auch anders akzentuiert, lässt sich bei Gottesdiensten im Internet beobachten. Denn auch hier ermöglicht das Medium eine höhere aktive Partizipation als in herkömmlichen gottesdienstlichen Versammlungen. So bringen z. B. die zeitgleich miteinander durch den Screen Verbundenen jeweils eigene Fürbitten ins gemeinsame Fürbittengebet ein und/oder äußern Gedanken zur Predigt, die in ihr gleich aufgenommen werden können. Liturgietheologisch bestimmt Stefan Böntert den Charakter eines solchen Internet-Gottesdienstes unter Rückgriff auf herkömmliche Kategorien: „Eine (liturgische) Versammlung auf der Ebene des Internet ist nicht als eine Verfälschung oder ein Verlust des theologischen Paradigmas der Liturgie zu brandmarken, sondern stellt innerhalb des theologischen und anthropologisch-philosophischen Koordinatensystems der Liturgie eine Fortschreibung und Ergänzung des heilsgeschichtlichen Dialoges zwischen Gott und Mensch im Modus der erweiterten Symbole dar. Diese Erweiterung ist deshalb legitim und notwendig, weil Gottes wirkmächtiges und gemeinschaftsstiftendes Handeln sich an die genuin symbolische Struktur der menschlichen Konstitution bindet, die ihrerseits in ihrer Konkretisierung Veränderungen stets mit einschließt.“49

Eine Zuspitzung erfährt diese Bestimmung durch die Frage nach einer OnlineKommunikation. Bisher scheinen hier noch die abwehrenden Stimmen zu überwiegen. Doch ist die Frage des anglikanischen, in der Fresh-ExpressionsBewegung engagierten Theologen Michael Moynagh zumindest bedenkenswert: „If the presence of the Spirit makes the sacrament effective, is there a need for worshippers to be physically in the same place? Can the Spirit not be powerfully at work through Communion even though the community is scattered? […] As the ‚net generation‘ matures and other generations immersed in the Internet follow behind, we should not assume that online Communion will be a rare event.“50

Dieses Argument gewinnt an Gewicht, wenn man bedenkt, dass einer OnlineCommunion in der Regel viele Mahlfeiern in einer herkömmlichen Kirchengemeinde vorausgingen. Auch bei dieser spirituellen Praxis dürften zumindest bei jüngeren Menschen face-to-face- und Internet-Kommunikation zunehmend ineinander übergehen.

48 Morgenthaler, Seelsorge, 359. 49 Böntert, Gottesdienste, 220. 50 Moynagh, Church, 377; s. auch Krückeberg, Auswirkungen, 228f.

908 6.2

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Social Communities

Wahrscheinlich ist die enorme Zunahme der Kommunikationen in den Social Media nur zu verstehen, wenn ihr sozialer Kontext beachtet wird: „Nach Jahrzehnten der Enttraditionalisierung und damit der Auflösung sozialer Beziehungen sowie der sogenannten Freisetzung des Individuums aus traditionellen Bindungen eröffnen Social Media Gelegenheiten, den Bedürfnissen nach sozialen Kontakten in ‚neuerer‘, selbstbestimmterer Zeit und Raum überwindender, computergestützter Form nachzugehen.“51

Dabei verändern sich aber die bisher üblichen Kommunikationsverhältnisse grundlegend. Das Verhältnis von Sender und Empfänger kehrt sich geradezu um. Bisher waren bestimmte Positionen, Machtbefugnisse o.Ä. Voraussetzung dafür, als Sender etwa von Vorschriften, einer Predigt usw. aufzutreten, die dann von den Empfängern aufzunehmen waren. In den Social Communities entscheiden dagegen die Empfänger darüber, ob eine Botschaft aufgenommen – oder ungelesen gelöscht – wird, wobei die Entscheidung dafür großenteils Algorithmen übertragen ist, die ihre Schlüsse aus dem bisherigen Nutzungsverhalten schließen. Zugleich kann grundsätzlich jeder als Sender auftreten und agieren, wenn er auch Empfänger findet. In dieser Kommunikationssituation verlieren Institutionen und formale Autoritäten rapide an Bedeutung, eben auch die verfassten Kirchen oder ordinierte (bzw. geweihte) Amtsinhaber. Gerade bei Fragen der Daseins- und Wertorientierung ersetzt der Kommunikationsmodus der Authentizität den der Autorität.52 Dem entspricht die Logik der Social Communities: „Der Dreh- und Angelpunkt dieser Dynamik ist die Verlagerung der […] Filterlogik weg von Inhalten hin zu Personen. So abonniert man bei Plattformen wie Facebook oder Twitter nicht bestimmte Themen (‚alles über Fußball‘), sondern Menschen. Soziale Medien bauen, wie der Name schon sagt, wesentlich auf Beziehungen auf.“53

Damit eröffnen sich weitreichende Perspektiven für Menschen, die keine besondere Funktion haben, eben auch für Christen ohne ein kirchliches Amt. Sie gewinnen Interesse, wenn sie neue, als hilfreich empfundene Perspektiven zu auch andere interessierenden Fragen äußern, eben: das Evangelium kommunizieren. Die am Anfang des Christentums bestehende Egalität der mit Christus Verbundenen, die schnell durch den Aufbau einer Ämterhierarchie domestiziert wurde, kommt hier in neuem Kontext wieder zum Vorschein. Die Bloggerin Antje Schrupp resümiert: 51 Nord, Social Media, 11f. 52 S. Nassehi, Kommunikation, 188–190. 53 Schrupp, Inside, 437.

Die Bedeutung von Medien für die christliche Lebensform

909

„Genau in dieser kleinteiligen Kommunikation, in dieser Mischung aus Banalem und Grundsätzlichem, wie es für soziale Medien typisch ist, in all diesen Alltagsgesprächen des Internet bieten sich unendlich viele Gelegenheiten, die gute Botschaft des Christentums zur Sprache zu bringen, im konkreten persönlichen Austausch, angedockt an Themen und Ereignisse, die Menschen beschäftigen, und ausgestattet mit der Autorität persönlicher Glaubwürdigkeit, die einzelne Christinnen und Christen bei ihren Bekannten und Kontakten genießen.“54

6.3

Künstliche Intelligenz

Einen gleichsam ersten Blick in die Zukunft gewähren die zunehmenden Erfahrungen mit der Kommunikation zwischen Menschen und Künstlicher Intelligenz, meist als Roboter konfiguriert. Sie finden auch Eingang in den kirchlichen Bereich. Das sei exemplarisch an dem von der Evangelischen Kirche in Hessen und Nassau auf der Wittenberger Weltausstellung 2017 präsentierten Segensroboter BlessU-2 gezeigt: „BlessU-2 ist ein 1,8 Meter großer humanoider Roboter. Augen und Augenbrauen sind beweglich, sein Mund ist ein kleiner Bildschirm – so kann er ein wenig Mimik darstellen. Er hat bewegliche Arme und Hände, um segnen zu können: In jeder Hand ist eine Lampe angebracht, was die optische Wirkung des Segens verstärkt, wenn er die Hände öffnet. […] Bedient wird der Roboter über einen Touchscreen, der in den Torso eingelassen ist. Darüber kann sich der Segensuchende seinen Segen zusammenstellen. So kann er wählen, ob er sich von einer weiblichen oder einer männlichen Stimme segnen lassen möchte und welchem Zweck der Segen dienen soll, etwa zur Ermutigung. Der Roboter wählt dann einen passenden Bibelspruch aus und spendet den Segen […]. Wer möchte, kann sich den Segen anschließend ausdrucken lassen.“55

Schon die Tatsache, dass sich viele Menschen in Wittenberg durch den zugesprochenen, auf Wunsch auch schriftlich übermittelten (biblischen) Segen anrühren ließen, verbietet eine vorschnelle Zurückweisung. Wichtig war wohl in diesem Zusammenhang – wie bei jeder Mediennutzung – das räumliche und soziale Setting. So war der Segensroboter neben der Lichtkirche platziert und es standen Menschen zum Gespräch über das Erfahrene bereit. Insgesamt erinnert die Installation an die Segensvergessenheit, die in den (deutschen) evangelischen Kirchen weit verbreitet ist. Die Reduktion des Segens auf die Praxis des Pfarrers und der Pfarrerin im Gottesdienst ist problematisch. Historisch und auch biblisch begegnet das Segnen als im Bereich der Familie verankert (s. z. B. Gen 27). In der kirchlichen Erläuterung des Wittenberger Segens-Parcours wird theolo54 A. a. O., 438. 55 So die Kurzbeschreibung bei Golem.de (Abruf 15. 07. 2017).

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gisch herausgestellt: „Der Segen entspringt allein dem Handeln Gottes.“56 Zugleich weist der Text zu Recht aber auf „eine zwischenmenschliche, interpersonale Dimension“ des Segnens hin. Kommunikationstheoretisch unterbestimmt ist allerdings, wenn in der Erläuterung behauptet wird: „Der Zuspruch des Segens wird nicht nur personal, sondern auch medial vermittelt.“ Denn kommunikationstheoretisch fungieren auch Personen als Medien, die sog. Menschmedien. Tatsächlich muss jeder Segen medial kommuniziert werden, insofern sich Gott als Spender des Segens einem direkten Zugriff entzieht. Allerdings ist damit nicht unbedingt die Notwendigkeit zur Face-to-face-Kommunikation verbunden. So wie es mediengeschichtlich zu Transformationen von Menschmedien zu skripturalen Medien kam – wie z. B. beim Brief –, gibt es auch im Zeitalter digitalisierter Kommunikation entsprechende Übergänge. Am bekanntesten ist dabei im Bereich des Segnens der sog. apostolische Segen „Urbi et orbi“, den der Papst traditionell – und mittlerweile elektronisch in alle Welt übertragen – zum Amtsantritt, an Ostern, Weihnachten und beim Jahreswechsel kommuniziert. Theologisch ist schließlich daran zu erinnern, dass sich Gottes Segen – jedenfalls nach biblischen Erzählungen – keineswegs nur auf Menschen bezieht, sondern mit der Schöpfung – und dem siebten Tag – einen weiten Segensraum eröffnet. Von daher geht von BlessU-2 theologisch ein doppelter Impuls für spirituelles Leben aus. Er erinnert die reformatorischen Kirchen an den lange verschütteten bzw. pfarramtlich domestizierten Reichtum des Segnens als einer zwischenmenschlichen Kommunikationsform, die zu Gott hin öffnet. Im Zusammenhang mit der ekklesiologischen Bedeutung der multilokalen Mehrgenerationenfamilie bedarf es vor allem neuer religionspädagogischer Aufmerksamkeit, um die allgemeinen Priester benediktionell handlungsfähig zu machen. Zum zweiten dürfte unter den gegenwärtigen Bedingungen religiöser Kommunikation in der Regel der Kontakt zwischen Menschen konstitutiv sein. Allerdings muss dieser nicht notwendig face-to-face erfolgen, wie vertraute Frömmigkeitsformen – Bibellese, Losungen oder auch Rundfunkandachten und Fernsehgottesdienste – zeigen. Auch ein Segens-Roboter kann sich – in einem entsprechenden sozialen Setting – hier einreihen. Seine androide Gestaltung ist dabei ambivalent. Sie kann als Ersatz für Menschen missbraucht werden; zugleich kann sie aber – bei in naher Zukunft wachsendem Einsatz von Robotern – die konkrete Kommunikation erleichtern.

56 Eine offenkundige Verschreibung der im Internet über die Homepage der hessen-nassauischen Kirche zugänglichen „Erläuterungen zum Segens-Parcours der EKHN auf der Weltausstellung in Wittenberg“ (Abruf 15. 07. 2017) wurde von mir korrigiert.

Die Bedeutung von Medien für die christliche Lebensform

7.

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Zusammenfassung und Ausblick

Kommunikation des Evangeliums als die wesentliche Äußerung christlicher Lebensform vollzieht sich in der Spannung zwischen dem Grundimpuls, der vom Auftreten, Wirken und Geschick Jesu ausgeht, und dem jeweiligen Kontext. Dieser wird durch die jeweils zur Verfügung stehenden Medien geprägt. Dabei ergaben sich bei der Skizze neuerer Medien und ihrer Wirkungen auf die Kommunikation einige wichtige Veränderungen: Die Bedeutung der Institutionen, und damit auch der verfassten Kirche, tritt zurück. Dafür gewinnen Einzelpersonen und die Beziehung zu ihnen an Gewicht. Auch die konfessionellen Differenzen verlieren an Bedeutung bzw. geraten aus dem Blick. Vor allem im Internet bilden sich neue Sozialitäten und spirituelle Formen bzw. werden traditionelle Gestaltungen grundlegend verändert. Die Rollen von Sender und Empfänger gehen fluide ineinander über, frühere Unterscheidungen oder gar Trennungen werden überwunden. Dabei gewinnt die dem Grundimpuls Jesu inhärente Egalität aller Menschen einen Aufschwung. Insgesamt steigt so die Verantwortung der Einzelnen für ihre Lebensgestaltung, und damit auch für ihr spirituelles Leben und – hiermit eng verbunden – für die Unterstützung anderer hierbei. Vielleicht die größte Gefährdung spiritueller Vollzüge durch die neuen Medien ist die Lebensform, die Karl-Heinz Geißler anschaulich als Simultant beschrieb: „– Simultanten bemühen sich immerzu und überall, mehrere Aufgaben gleichzeitig zu erledigen. […] – Erreichbar sind sie – in den allermeisten Fällen elektronisch – jederzeit und an jedem Ort. Sie bevorzugen für sich und ihre Geräte den Zeitmodus des Stand-by und den des On-demand. – Zu Hause sind Simultanten im Unterwegs des ort- und zeitlosen Netzes. Dort kennen sie sich besser aus als in ihrem Stadtteil. – Sie vermeiden verbindliche und langfristige Festlegungen, wo immer es möglich ist. Sie kennen weder feste noch regelmäßige Arbeitszeiten. Flexibilität ist ihr ein und alles“.57

Denn der Kontakt zum Transzendenten bzw. christlich formuliert: die Kommunikation des Evangeliums in ihren unterschiedlichen Modi und Formen erfordert Zeit, Ruhe und Konzentration. So dürfte ein Gebet kaum möglich sein, wenn der/die Betende gleichzeitig seine/ihre Emails checkt, eine Praline probiert und versucht, sich die Haare zu ordnen o. ä. Von daher verdienen Bemühungen

57 Geißler, Zeit, 189.

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um einen „Internet-Sabbath“,58 also die zeitweilige Unterbrechung der permanenten Erreichbarkeit im Netz, Unterstützung. Nur in Phasen der Ruhe kann die Resonanz entstehen, die für spirituelles Leben diesseits und jenseits neuer Medien grundlegend ist.

Literatur Bernstorf, Matthias, Ernst und Leichtigkeit. Wege zu einer unterhaltsamen Kommunikation des Evangeliums, Studien zur Christlichen Publizistik 13, Erlangen 2007. Biemer, Hansjörg, Christliche Rundfunksender weltweit. Rundfunkarbeit im Klima der Konkurrenz, CThM 22, Stuttgart 1994. Böntert, Stefan, Gottesdienst im Internet. Perspektiven eines Dialogs zwischen Internet und Liturgie, Stuttgart 2005. Domsgen, Michael/Schröder, Bernd (Hg.), Kommunikation des Evangeliums. Leitbegriff der Praktischen Theologie, APrTh 57, Leipzig 2014. Faulstich, Werner, Die Mediengeschichte des 20. Jahrhunderts, München 2012. Friedrichs, Lutz, Magie als expressives Handeln, in: Ders., Kasualpraxis in der Spätmoderne. Studien zu einer Praktischen Theologie der Übergänge, APrTh 37, Leipzig 2008, 57–68. Geißler, Karlheinz, Alles hat seine Zeit, nur ich hab keine. Wege in eine neue Zeitkultur, München 2014. Gertz, Roland, Echt aufgeschlossen. Eine Untersuchung über Mitgliederzeitschriften in der Evangelischen Kirche in Deutschland, Studien zur Christlichen Publizistik 6, Erlangen 2001. Gilles, Beate, Durch das Auge der Kamera. Eine liturgie-theologische Untersuchung zur Übertragung von Gottesdiensten im Fernsehen, Ästhetik – Theologie – Liturgik 6, Münster 2000. Grethlein, Christian, Christsein als attraktive Lebensform. Eine Studie zur Grundlegung der Praktischen Theologie, ThLZ.F 33, Leipzig 2018. –, Kirchentheorie. Kommunikation des Evangeliums im Kontext, Berlin 2018. –, Kommunikation des Evangeliums in der Mediengesellschaft, ThLZ.F 10, Leipzig 2003. –, Praktische Theologie, Berlin ²2016. Hein, Martin, Kleine Theologie des Radios: Der Glaube kommt aus dem Hören, in: Holzer, Norbert/Ory, Stephan/Engel, Winfried (Hg.), Evolution der Medien – Das Ringen um Kontinuität, Schriftenreihe des Instituts für Europäisches Menschenrecht (EMR) 43, Baden-Baden 2013, 191–198. Herrmann, Jörg, Sinnmaschine Kino. Sinndeutung und Religion im populären Film, PThK 4, Gütersloh 2001. Hörisch, Jochen, Der Sinn und die Sinne. Eine Geschichte der Medien, Frankfurt a.M. 2001. Krückeberg, Siegfried, Mögliche Auswirkungen der Kommunikation des Evangeliums in der Medienwelt auf die Kirchentheorie, in: Weyel, Birgit/Bubmann, Peter (Hg.), Kir58 S. Powers, BlackBerry, 227.

Die Bedeutung von Medien für die christliche Lebensform

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chentheorie. Praktisch-theologische Perspektiven auf die Kirche, VWGTh 41, Leipzig 2014, 223–231. Lange, Günter, Bild und Wort. Die katechetischen Funktionen des Bildes in der griechischen Theologie des sechsten bis neunten Jahrhunderts, Paderborn ²1999. Laube, Martin (Hg.), Himmel – Hölle – Hollywood. Religiöse Valenzen im Film der Gegenwart, Symbol – Mythos – Medien, Münster 2002. Lienau, Anna-Katharina, Gebete im Internet. Eine praktisch-theologische Untersuchung, Studien zur Christlichen Publizistik 17, Erlangen 2009. Luhmann, Niklas, Die Realität der Massenmedien, Opladen 1996. Magin, Charlotte/Schwier, Helmut, Kanzel, Kreuz und Kamera. Impulse für Gottesdienst und Predigt, Beiträge zu Liturgie und Spiritualität 12, Leipzig 2005. Meurer, Siegfried, Bibelgesellschaften I. Geschichte und Aufgaben, in: RGG, Bd. 1 41998, 1448–1454. Morgenthaler, Christoph, Seelsorge, Lehrbuch Praktische Theologie Bd. 3, Gütersloh 2009. Moynagh, Michael, Church for Every Context. An Introduction to Theology and Practice, London 2012. Nassehi, Armin, Religiöse Kommunikation: Religionssoziologische Konsequenzen einer qualitativen Untersuchung, in: Bertelsmann Stiftung (Hg.), Woran glaubt die Welt? Analysen und Kommentare zum Religionsmonitor 2008, Gütersloh 2009, 169–203. Nord, Ilona, Social Media als Gegenstand praktisch-theologischer Reflexion, in: Dies./ Luthe, Swantje (Hg.), Social Media, christliche Religiosität und Kirche. Studien zur Praktischen Theologie mit religionspädagogischem Schwerpunkt, POPKULT 14, Jena 2014, 11–25. Poscharsky, Peter, Ikonen sind nicht einfach Bilder (1982), in: Ders., Gestalteter Glaube. Gesammelte Aufsätze aus der Christlichen Archäologie und Kunstgeschichte, hg. v. Raschzok, Klaus, Leipzig 2014, 70–79. Powers, William, Hamlet’s BlackBerry. A Practical Philosophy for Building a Good Life in the Digital Age, New York 2010. Sander, Uwe, Die Bindung der Unverbindlichkeit. Mediatisierte Kommunikation in modernen Gesellschaften, Frankfurt 1998. Sanders, Wilm, Gottesdienstübertragungen im Rundfunk – Hörfunk und Fernsehen, in: Schmidt-Lauber, Hans-Christoph/Meyer-Blanck, Michael/Bieritz, Karl-Heinz (Hg.), Handbuch der Liturgik, Göttingen ³2003, 929–939. Schieder, Rolf, Religiöse Rede im Radio, in: Preul, Reiner/Schmidt-Rost, Reinhard (Hg.), Kirche und Medien, VWGTh 16, Gütersloh 2000, 122–135. Schrupp, Antje, Inside – aus der Perspektive einer Bloggerin und evangelischen Publizistin. Erfahrungen, Analysen, Konzepte für die Zukunft, in: Nord, Ilona/Luthe, Swantje (Hg.), Social Media, 431–440.

Autorinnen und Autoren

Pfarrer Johannes Bilz, geboren 1962, bis 2018 Direktor der Evangelischen Akademie Meißen und Domprediger am Dom zu Meißen. Seine Arbeitsschwerpunkte liegen auf der Bearbeitung von Themen zwischen Kirche und Gesellschaft und der Gestaltung des gesellschaftspolitischen Diskurses, der Projektorientierten Gemeindeentwicklung, der theologischen Weiterbildung von Ehrenamtlichen, der kirchenpädagogischen Arbeit, der lutherischen Ökumene und sozialpolitischen Fragestellungen. Veröffentlichungen u. a.: Gemeindeentwicklungstraining, Göttingen 2008. Dr. theol. Sabine Bobert, geboren 1964, ist Professorin für Praktische Theologie an der Christian-Albrechts-Universität zu Kiel. Ihre Forschungsschwerpunkte sind christliche Mystik und Postmoderne Spiritualität; wichtigste Veröffentlichungen: Jesusgebet und neue Mystik 2010, Mystik und Coaching 2011. KMD Dr. rer. nat; Dr. h.c. Christfried Brödel, geboren 1947 in Elsterberg/Vogtland, war von 1992–2013 Professor für Chorleitung und Rektor der Hochschule für Kirchenmusik Dresden. 1994 Ehrenpromotion der Musikakademie ClujNapoca, 2001 Bundesverdienstkreuz, seit 2013 Ordentliches Mitglied der Sächsischen Akademie der Künste, seit 2015 Vorsitzender der Neuen Bachgesellschaft e.V. Dr. paed. Gerhard Büttner, geboren 1948, ist Professor i.R. für Religionspädagogik am Institut für Ev. Theologie der TU Dortmund. Seine Forschungsschwerpunkte: Religionspädagogik und Entwicklungspsychologie, Kindertheologie, Konstruktivistische Religionsdidaktik, Didaktik und Methodik des RU. Veröffentlichungen u. a. (mit V.-J. Dieterich) Entwicklungspsychologie in der Religionspädagogik, Göttingen ²2016. Cornelia Coenen-Marx, geboren 1952, Inhaberin der Agentur Seele und Sorge (www.seele-und-sorge.de) ist Pastorin und Publizistin. Sie war in unterschied-

Autorinnen und Autoren

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lichen Leitungsfunktionen von Kirche und Diakonie tätig, zuletzt von 2004–2015 als Oberkirchenrätin der EKD Geschäftsführerin der Kammer für Soziale Ordnung sowie u. a. der EKD-Kommission für die Orientierungshilfe „Zwischen Autonomie und Angewiesenheit“ (2013). Veröffentlichungen u. a. Aufbrüche in Umbrüchen. Christsein und Kirche in der Transformation, Göttingen 2013. Dr. theol. Corinna Dahlgrün, geboren 1957, ist Professorin für Praktische Theologie an der Friedrich-Schiller-Universität Jena. Ihre Forschungsschwerpunkte sind Spiritualität, Liturgik und Hymnologie (Neue Musik), Homiletik, Seelsorge. Veröffentlichungen u. a.: Christliche Spiritualität, Berlin 22018. Dr. theol. Alexander Deeg, geb. 1972, ist Professor für Praktische Theologie an der Theologischen Fakultät der Universität Leipzig und leitet das dort angesiedelte Liturgiewissenschaftliche Institut der VELKD. 2018 wurde er zum Präsidenten der „Societas Homiletica“ gewählt. Die Forschungsschwerpunkte liegen in den Bereichen Homiletik, Liturgik, biblische Hermeneutik sowie christlich-jüdischer Dialog. Veröffentlichungen u. a.: (mit Andreas Schüle) Die neuen alttestamentlichen Perikopentexte. Exegetische und homiletisch-liturgische Zugänge, Leipzig 2018. Pfr. i.R. Andreas Ebert, geboren 1952, evangelischer Theologe, Meditationslehrer und Autor. Schwerpunkte: Biografiearbeit, Enneagramm, Kontemplation (Herzensgebet), internationale Referententätigkeit. Veröffentlichungen: (mit Richard Rohr) Das Enneagramm – die neun Gesichter der Seele; (mit Peter Musto) Praxis des Herzensgebets; Schwarzes Feuer – Weißes Feuer: Mein Glaubensbekenntnis. Dr. theol. Holger Eschmann, geboren 1957, ist Professor für Praktische Theologie mit den Schwerpunkten Homiletik, Liturgik, Seelsorge, Kybernetik und Spiritual Care, sowie Prorektor an der Theologischen Hochschule der Evangelisch-methodistischen Kirche in Reutlingen. Veröffentlichungen u. a.: (mit Achim Härtner) Predigen lernen. Ein Lehrbuch für die Praxis, Göttingen/Darmstadt 22008. Dr. theol. Kristian Fechtner, geboren 1961, ist Professor für Praktische Theologie an der Johannes-Gutenberg-Universität Mainz und dort auch Universitätsprediger. Seine Forschungsschwerpunkte sind Liturgik, Kasualien und Kirchentheorie sowie gelebte Religion im Kontext der Spätmoderne. Veröffentlichungen u. a.: Diskretes Christentum, Gütersloh 2015; Genau genommen (Predigten), Stuttgart 2017.

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Autorinnen und Autoren

Paul Geck, geboren 1991, war bis zu seinem Ersten Theologischen Examen wissenschaftliche Hilfskraft am Institut für Praktische Theologie der Theologischen Fakultät Leipzig. Dr. theol. Christof Gestrich, geboren 1940, verstorben am 3. Dezember 2018, war Professor für Systematische Theologie, zuletzt an der Humboldt-Universität zu Berlin. Seine Forschungsschwerpunkte waren Hermeneutik und Religionsphilosophie, sowie christliche Dogmatik in Geschichte und Gegenwart. Er war in verschiedenen medizinischen Ethik-Komitees tätig. Viele Jahre Tätigkeit auch als Pfarrer. Wichtigste Veröffentlichung u. a.: Die Wiederkehr des Glanzes in der Welt. Die christliche Lehre von der Sünde und ihrer Vergebung in gegenwärtiger Verantwortung, Tübingen 21995. Dr. theol. Astrid Giebel, geboren 1963, ist Diplomdiakoniewissenschaftlerin, Pastorin und Theologin im Vorstandsbüro der Diakonie Deutschland – Evangelischer Bundesverband. Veröffentlichungen u. a.: Geistesgegenwärtig pflegen Bd. 1 und 2 (2012/2013), Geistesgegenwärtig begleiten (2014), Geistesgegenwärtig beraten (2015), Geistesgegenwärtig behandeln (2016). Dr. theol. Christian Grethlein, geboren 1954, ist Professor für Praktische Theologie an der Universität Münster und Pfarrer der Evang.-Luth. Kirche von Bayern. Wichtigste Veröffentlichung: Praktische Theologie, Berlin ²2016. Dr. theol. Götz Häuser (M.Theol. Durham), geboren 1963, ist Pfarrer der evangelischen Landeskirche in Baden und Gemeindepfarrer in Bühl. Sein besonderes Interesse gilt der Verbindung von Theologie und Gemeindepraxis. Die 2004 erschienene Dissertation „Einfach vom Glauben reden“ (22010) und weitere Veröffentlichungen widmen sich dem Phänomen der Glaubenskurse und der Frage, wie diese Erwachsenen zur Begegnung mit dem christlichen Glauben und zur Reflexion und Vertiefung helfen. Dr. theol. Michael Herbst, geboren 1955, ist Professor für Praktische Theologie und Direktor des Instituts zur Erforschung von Evangelisation und Gemeindeentwicklung der Ernst-Moritz-Arndt-Universität Greifswald. Veröffentlichungen u. a.: Beziehungsweise, Grundlagen und Praxisfelder evangelischer Seelsorge, Neukirchen-Vluyn 22013; Wir predigen nicht uns selbst (mit Matthias Schneider), Ein Arbeitsbuch für Predigt und Gottesdienst, Neukirchen-Vluyn 62017. Dr. theol. Martin Honecker, geboren 1934 in Ulm. Von 1969 bis zur Emeritierung 1999 Professor für Systematische Theologie und Sozialethik an der Evangelischtheologischen Fakultät in Bonn. Forschungsschwerpunkte: Sozialethik, Grund-

Autorinnen und Autoren

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legung der Ethik, Politische Ethik, Fundamentaltheologie, Evangelisches Kirchenrecht. Herausgeber des Evangelischen Soziallexikons (Stuttgart 2001) und des evangelischen Staatslexikons (Stuttgart 2006). Veröffentlichungen u. a.: Einführung in die theologische Ethik (Berlin 1990), Grundriß der Sozialethik (Berlin 1995). OKR Karl Ludwig Ihmels, geboren 1958 in Leipzig, war Studieninspektor, Gemeindepfarrer und Landesjugendpfarrer und leitet mittlerweile das Referat für Aus- und Fortbildungsfragen der Ev.-Luth. Landeskirche Sachsens. Dr. rer. nat. Wolfgang Ilg, geboren 1973, ist evangelischer Pfarrer, Diplom-Psychologe und Professor für Jugendarbeit/Gemeindepädagogik an der Ev. Hochschule Ludwigsburg. Veröffentlichungen u. a.: „Konfirmandenarbeit in Deutschland“ (2009), „Jugend zählt“ (2014), „Wenn einer eine Reise tut“ (2015). Dr. theol. Manfred Kießig, geboren 1940, Pfarrer i.R., war zuletzt Spiritual der Communität Christusbruderschaft Selbitz. Seine thematischen Schwerpunkte sind Spiritualität, Kommunitäten, Geistliche Begleitung, Liturgik. Veröffentlichungen u. a.: Johann Wilhelm Friedrich Höfling – Leben und Werk, Gütersloh 1991; Evangelischer Erwachsenenkatechismus (Hg.), Gütersloh 82010. Dr. theol. Konrad Klek, geboren 1960, ist Professor für Kirchenmusik und Universitätsmusikdirektor in Erlangen. Neben Hymnologie – Klek ist Präsident der Paul-Gerhardt-Gesellschaft –, Liturgie- und Kirchenmusikgeschichte sind seine künstlerischen und wissenschaftlichen Schwerpunkte Joh. Seb. Bach und die deutsche Kirchenmusik des 19. Jahrhunderts. Veröffentlichungen u. a.: „Dein ist allein die Ehre“. J.S. Bachs geistliche Kantaten erklärt, 3 Bde., Leipzig 2015–2017. Dr. theol. Ralph Kunz, geboren 1964, ist Professor für Praktische Theologie an der Universität Zürich. Seine Forschungsschwerpunkte sind Poimenik, Homiletik, Liturgik und Gemeindeaufbau; Gottesdienstformen, Religionsgerontologie, Community Care und Demenz; Veröffentlichungen u. a.: Seelsorge elementar, Göttingen 2016. Dr. agr. oec. Andreas Kusch, geboren 1959, Spiritual, Berater und Dozent für christliche Entwicklungszusammenarbeit sowie Lagerist. Seine inhaltlichen Schwerpunkte sind Spiritualität, bes. geistliche Übungen, Partizipation und Gremienspiritualität; ganzheitliche Theologie, bes. in christlichen Entwicklungsprojekten; Projektplanung in der Entwicklungszusammenarbeit. Veröffentlichungen u. a.: Entscheiden im Hören auf Gott. 45 Methoden für das Arbeiten und Planen in der Gemeinde, Göttingen 2017.

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Autorinnen und Autoren

Pfarrer Dr. theol. Hans-Jürgen Kutzner, geboren 1951, ist Theologe und Kunstwissenschaftler, Gemeindepfarrer, Bildender Künstler und Lehrbeauftragter für Religionspädagogik an der Ev. Fachhochschule Hannover und für Architekturtheorie und Raumästhetik an der HBK Braunschweig. Veröffentlichungen u. a.: Liturgie als Performance? Überlegungen zu einer künstlerischen Annäherung, Münster 2008. Dr. theol. h.c. Christian Lehnert, geboren 1969 in Dresden, Lyriker, Librettist und Essayist. Er ist Wissenschaftlicher Geschäftsführer des Liturgiewissenschaftlichen Instituts der VELKD an der Universität Leipzig. Für seine Arbeit als Lyriker wurde er mehrfach ausgezeichnet, u. a. mit dem Hölty-Preis der Stadt Hannover für sein bisheriges lyrisches Gesamtwerk (2012) und dem Eichendorff-Literaturpreis (2016). Seine Bücher erscheinen im Suhrkamp-Verlag, zuletzt der Gedichtband „Cherubinischer Staub“ und „Der Gott in einer Nuß. Fliegende Blätter von Kult und Gebet.“ Dr. theol. Dietrich Meyer, geboren 1937 in Oberschlesien, leitete von 1976–2000 das Archiv der Evangelischen Kirche im Rheinland. Forschungsschwerpunkte: Pietismus, neuere Kirchengeschichte Schlesiens und des Rheinlands. Wichtigste Veröffentlichungen: Der Christozentrismus des späten Zinzendorf (1973); Zinzendorf und die Herrnhuter Brüdergemeine (22009). Dr. theol. Roger Mielke M.A., geboren 1964, ist Pfarrer der Ev. Kirche im Rheinland, von 2012 bis 2018 Oberkirchenrat im Kirchenamt der EKD in Hannover, dort zuständig für Fragen der Öffentlichen Verantwortung der Kirche, u. a. politische Ethik und Friedensethik, seit 2019 Militärdekan am Zentrum Innere Führung der Bundeswehr in Koblenz; Veröffentlichungen u. a.: Eschatologische Öffentlichkeit, Göttingen 2012. Pfarrer Klaus Nagorni, geboren 1948, Studium der Theologie und der Erziehungswissenschaft. Nach Stationen als Studentenpfarrer und Auslandspfarrer Akademiedirektor an der Evangelischen Akademie Baden in Bad Herrenalb. Leiter des Arbeitskreises „Freizeit, Erholung und Tourismus“ bei der EKD. Publikationen: Das Buch von der Sehnsucht. Warum wir so gerne verreisen (2009); Verweile doch, du hast ja Zeit (2011); Geborgen wunderbar (2012). Pfarrer Gaston Nogrady M.A., geboren 1964, ist seit 1995 Pfarrer der Ev.-Luth. Landeskirche Sachsens. Veröffentlichungen: Die Taufe und der Teufel, in: Lutherische Beiträge Nr. 1/2011, 3–33; Der Gottesdienst im Altenheim – ein Weg ins Leben, Saarbrücken 2014.

Autorinnen und Autoren

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Dr. theol. Karl-Heinrich Ostmeyer, geboren 1967, ist Professor für evangelische Theologie mit dem Schwerpunkt Neues Testament an der Technischen Universität Dortmund. Veröffentlichungen u. a.: Kommunikation mit Gott und Christus. Sprache und Theologie des Gebetes im Neuen Testament (WUNT 197), Tübingen 2006. Prof. Dr. theol. Thomas Popp, geboren 1966, ist Privatdozent für Neues Testament an der Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg und Ausbildungsleiter der Rummelsberger Diakone und Diakoninnen und Studiengangsleiter Diakonik an der Evangelischen Hochschule Nürnberg. Dr. theol. Markus Printz, geboren 1958, ist Professor für Praktische Theologie und Pfarrer der Badischen Landeskirche in Hilsbach-Weiler. Seine Forschungsschwerpunkte sind Gemeindepädagogik und Gemeindekybernetik. Veröffentlichungen u. a.: Grundlinien einer bibelorientierten Gemeindepädagogik, Wuppertal/Zürich 1996. Dr. theol. Wolfgang Ratzmann, geboren 1947, war Professor für Praktische Theologie an der Universität Leipzig bis 2010 und hier seit 1993 zugleich Leiter des Liturgiewissenschaftlichen Instituts der VELKD. Seine Forschungsschwerpunkte sind Liturgiewissenschaft, Gemeindeaufbau und Gemeindepädagogik. Veröffentlichungen u. a.: „Gott ist gegenwärtig“. Aufsätze zum Gottesdienst, Leipzig 2010. Dr. theol. Johannes Rehm, geboren 1957, ist Leiter des Kirchlichen Dienstes in der Arbeitswelt der Ev.-Luth. Kirche in Bayern und apl. Professor für Praktische Theologie an der Friedrich-Alexander-Universität Erlangen-Nürnberg. Veröffentlichungen u. a.: Kirche und Arbeiterfrage. Eine sozialwissenschaftlich-theologische Untersuchung zu Nähe und Distanz zwischen Arbeiterschaft und Evangelischer Kirche, Stuttgart 2017. Dr. theol. Traugott Roser, geboren 1964 in Pappenheim, ist seit 2013 Professor für Praktische Theologie an der Westfälischen Wilhelms-Universität Münster. Seine Arbeits- und Forschungsschwerpunkte sind u. a. Seelsorge, Palliative Care und Hospizarbeit, Alter, Sexualität und Trauer, Religion und Populärkultur, Lebensformen in theologischer Perspektive. Veröffentlichungen u. a.: Spiritual Care, Stuttgart 2017. Dr. theol. Rüdiger Sachau, geboren 1957, ist seit 2006 Direktor der Evangelischen Akademie zu Berlin. Er wurde mit einer praktisch-theologischen Untersuchung über „Westliche Reinkarnationsvorstellungen“ in Marburg promoviert und hat

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Autorinnen und Autoren

sich in Publikationen u. a. mit Fragen der Religions- und Kirchenentwicklung sowie der Ethik in Medizin und Gesundheitswesen beschäftigt. Dr. theol. Markus Schmidt, geboren 1986, wissenschaftlicher Mitarbeiter am Institut für Praktische Theologie der Theologischen Fakultät Leipzig, Pfarrer im Ehrenamt der Ev.-Luth. Landeskirche Sachsens; Forschungsschwerpunkte in Liturgiewissenschaft, spiritueller und ökumenischer Theologie, Weltanschauungsfragen; veröff. u. a.: Charismatische Spiritualität und Seelsorge. Der Volksmissionskreis Sachsen bis 1990, Göttingen 2017; zusammen mit Johannes Berthold (Hg.): Geistliche Gemeinschaften in Sachsen. Kommunitäten, Gemeinschaften und Netzwerke stellen sich vor, Berlin 22016. Dr. theol. Harald Schroeter-Wittke, geboren 1961 in Duisburg; seit 2001 Universitätsprofessor für Didaktik der Ev. Religionslehre mit Kirchengeschichte am Institut für Ev. Theologie der Fakultät für Kulturwissenschaften der Universität Paderborn, Musiker, Mitglied im Präsidium des Deutschen Ev. Kirchentags; Forschungsschwerpunkte: Performative Religionspädagogik, Kirchentag, Popkultur und Religion, Musik und Theologie; wichtigste Publikationen: Kirchentag als vor-läufige Kirche (1993), Unterhaltung (2000), Musik als Theologie (2010). Írisz Sipos MA, geboren 1968 in Pécs/Ungarn, ist Literaturwissenschaftlerin und Mitglied der ökumenischen Familienkommunität Offensive Junger Christen – OJC e.V. in Reichelsheim/Odw. Sie ist Teil des Koordinationsteams und im theologischen Arbeitskreis des Treffens Geistlicher Gemeinschaften (TGG) in der Evangelischen Kirche. Holger Treutmann, geboren 1963, war Pfarrer in Chemnitz, Pfarrer an der Dresdner Frauenkirche und Mitglied der Geschäftsführung der Stiftung Frauenkirche Dresden und ist derzeit als Senderbeauftragter der Ev. Kirchen beim MDR für Verkündigungssendungen in Radio und Fernsehen zuständig. Veröffentlichungen in „Predigtstudien“, Hamburg 2008ff und Homiletische Monatshefte, Göttingen 2005–2017; sein Interesse gilt der Verkündigung im säkularen Raum und spirituellen Aspekten religiöser Pädagogik. Dr. theol. Friedemann Walldorf, geboren 1964, ist Professor für Missionswissenschaft und Interkulturelle Theologie an der Freien Theologischen Hochschule in Gießen. Veröffentlichungen u. a.: Migration und interreligiöses Zeugnis in Deutschland. Die missionarische Begegnung zwischen Christen und Muslimen in den 1950er- bis 1970er-Jahren als transkultureller Prozess, Stuttgart 2016.

Autorinnen und Autoren

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Michael Wolf, geboren 1976, ist Pfarrer und Referent im Amt für Gemeindedienst in der Ev.-Luth. Kirche in Bayern für Hauskreisarbeit, missionarische Projekte und fresh expressions of church. Dr. theol. Henning Wrogemann, geboren 1964, Professor für Religionswissenschaft und Interkulturelle Theologie an der Kirchlichen Hochschule Wuppertal/ Bethel. Seine Forschungsschwerpunkte sind interkulturelle und interreligiöse Hermeneutik, Mission und Dialog, Gegenwartsfragen im Islam. Veröffentlichungen u. a.: Lehrbuch Interkulturelle Theologie, Band 1–3, Gütersloh 2012– 2015; Muslime und Christen in der Zivilgesellschaft, Leipzig 2016. Dr. theol. Jürgen Ziemer, geboren 1937, war bis zu seiner Emeritierung Professor für Praktische Theologie an der Universität Leipzig, davor am Theologischen Seminar/Kirchliche Hochschule Leipzig. Seine Arbeitsschwerpunkte lagen auf dem Gebiet von Pastoralpsychologie und Seelsorge, Diakonie und Gemeindeaufbau. Veröffentlichung u. a.: Seelsorgelehre, Göttingen 42015. Dr. theol. Peter Zimmerling, geboren 1958, ist Professor für Praktische Theologie an der Universität Leipzig. Seine Forschungsschwerpunkte sind Poimenik, Homiletik und Gemeindeaufbau; Leben und Werk Dietrich Bonhoeffers; Pietismusforschung, bes. Nikolaus Ludwig Graf von Zinzendorf; theologische Frauenforschung; Spiritualität und evangelische Mystik; Luther als Praktischer Theologe. Veröffentlichungen u. a.: Evangelische Mystik, Göttingen 2015; Charismatische Bewegungen, Göttingen 22018; Beichte – Gottes vergessenes Angebot, Gießen 32018.

Personenregister

Abraham, William J.: 831 Adorno, Theodor W.: 343 Affeld, Burghard: 125 Almaas A.H. (A. Hameed Ali): 569 Althaus, Paul: 25, 580 Altvater Johannes: 599 Angelus Silesius: 494, 731 Antonius: 522, 780 Asmussen, Hans: 381, 549, 551, 696 Augustinus: 445 Bach, Johann Sebastian: 36f, 342, 348–350, 891 Bach, Ulrich: 648 Baier, Karl: 497 Balck, Friedrich: 639 Balthasar, Hans Urs von: 533, 837 Barlach, Ernst Heinrich: 880–883, 885f Barth, Hans-Martin: 462 Barth, Karl: 24f, 216, 221, 409, 430, 455, 468, 550, 751, 880, 900 Baudisch, Holger: 764f Bauer, Karl-Adolf: 215 Bayer, Oswald: 253, 584 Beck, Ulrich: 30 Benedikt von Nursia: 139, 144f, 799 Bengel, Johann Albrecht: 458 Berg, Horst Klaus: 753f Berger, Klaus: 455, 466 Bernstorf, Matthias: 901f Berryman, Jerome: 753 Bertelsmann, Carl: 896 Berth, Hendrik: 639 Bezzel, Ernst: 552

Bloth, Hugo Gotthard: 743 Blumhardt, Johann Christoph: 458, 575 Boeckmann, Kurt von: 900 Bohren, Rudolf: 263f, 470, 518 Bonhoeffer, Dietrich: 8, 27, 75, 102, 109, 138, 141f, 201, 288, 331, 438, 440f, 472– 474, 489, 498–502, 508, 548, 551, 677, 696, 722, 774f, 889–892 Böntert, Stefan: 907 Borasio, Gian Domenico: 618 Bosch, David J. : 833, 836, 859 Bravená, Noemi: 751 Breemen, Piet van: 655 Bretschneider, Harald: 165 Brunner, Peter: 585 Buber, Martin: 670 Buchman, Frank: 477–480, 484 Bunyan, John: 727 Calvin, Johannes: 379, 547, 583, Canstein, Carl Hildebrand von: 896 Carey, William: 851 Carolsfeld, Julius Veit Hans Schnorr von: 867, 878–880, 882 Cavalletti, Sofia: 752f Chan, Francis: 226 Cioran, Emile Michel: 350 Clausen, Matthias: 830 Clinton, Bill: 541 Columban von Iona: 732 Cortright, Brant: 511–513 Cranach, Lucas d. Ä u. d. J.: 219, 221, 869f, 871f Crüger, Johann: 323f

Personenregister

Dahlgrün, Corinna: 205, 552 David, Christian: 491 Dehn, Günter: 263 Delbrêl, Madeleine: 445 Dietzfelbinger, Hermann: 86 Distler, Hugo: 343 Dorset, Lyle W.: 830 Dostojewski, Fjodor: 530 Dreyer, Martin: 90, 93 Ebach, Jürgen: 280, Ebeling, Gerhard: 216 Ebeling, Johann Georg: 324, 328, 331 Eberhard, Anita: 765, 767 Eliade, Mircea: 380 Engelmann, Arngard Uta: 823 Erb, Jörg: 321, Erikson, Erik H.: 364 Esser, Thilo: 666f, 670 Evagrius Ponticus: 499, 506, 562–564, 573 Failing, Wolf-Eckart: 376 Falk, Dieter: 338 Federmann, Sabine: 823 Feldtkeller, Andreas: 264 Fontane, Theodor: 890 Foucault, Michel: 380 Fowler, James: 751 Francke, August Hermann: 458, 851 Frankl, Viktor E.: 523 Frick, Eckhard: 627, 630, 639 Geiger, Arno: 888f, 892, 893 Gennep, Arnold van: 261 Gerhardt, Paul: 45, 324, 335, 732, 769, 770 Gersdorf, Henriette Sophie von: 482 Gill, Theo: 488 Giselbrecht, Rebecca: 828 Gotthelf, Jeremias: 890 Gottsched, Johann Christoph: 387 Gräb, Wilhelm: 212, 265 Graham, Billy: 91f Graupner, Tobias: 640 Greiner, Dorothea: 281, 288f Grethlein, Christian: 264 Guigo II: 496f, 500

923 Gumble, Nicky: 698 Gurdjieff, Georges Iwanowitsch: 562–565 Haberer, Tilman: 309 Habermas, Jürgen: 386f, 795 Haese, Bernd-Michael: 709, 717 Hammelsbeck, Oskar: 696 Harms, Silke: 688 Hartl, Johannes: 226, 679 Hay, David: 751 Heermann, Johann: 768 Hein, Martin: 900 Hennig, Christoph: 729f Herbers, Klaus: 725f Herchet, Jörg: 355 Herwartz, Christian: 605 Hippolyt von Rom: 298, 313 Hirsch, Maielies: 491 Hitler, Adolf: 784 Hofacker, Ludwig: 226 Hofacker, Wilhelm: 226 Hofmann, Beate: 643, 645 Hofmann, Horst-Klaus und Irmela: 75, 93 Holbein d.J., Hans: 880 Hollenweger, Walter J.: 309, 315 Hope, Susan: 838, 840, 842 Hörisch, Jochen: 898 Huber, Wolfgang: 7f, 28, 137, 590 Hundertmark, Peter: 611 Ichazo, Oscar: 563–565 Ignatius von Loyola: 601f, 604f, 666, 799 Ihlenfeld, Kurt: 218 Jäckh, Eugen: 492 Jähnichen, Traugott: 777 811 James, William: 507 Jaspers, Karl: 803 Jenkins, Barry: 243 Jens, Walter: 212 Jetter, Werner: 401, 407f, 410f Joas, Hans: 7 Johne, Karin: 444 Josuttis, Manfred: 728, 901, 284f, 380–383, 456, 526

924 Jung, Carl Gustav: 241 Justin der Märtyrer: 195 Kammerer, Tobias: 817 Kant, Immanuel: 329 Kellehaer, Allan: 617 Keller, Gottfried: 890 Kellner, Hansfried: 815 Kelter, Gerd: 591 Kérenyi, Karl: 362 Kerkeling, Hape: 728f, 731 Kessler, Andreas: 236 Kierkegaard, Sören: 24, 409, 455, 608f King jr., Martin Luther: 825 Kircher, Athanasius: 564 Klein, Constantin: 638 Klepper, Jochen: 223, 486, 489 Kohli-Reichenbach, Claudia: 236 Kölling, Gabriele: 742–744 Kopfermann, Wolfram: 90, 698 Kosegarten, Ludwig Gotthard: 875 Krause, Burkhard: 698 Kreyssig, Lothar: 87 Kröll, Wolfgang: 639 Kunz, Claudia: 508f Kunze-Beiküfner, Angela: 751 Kwiyani, Harvey C.: 833 Laubach, Frank C.: 445 Lean, Garth: 478 Leeuw, Gerardus van der: 413 Levin, Christoph: 488 Lienau, Anna-Katharina: 905f Liscow, Salomo: 763 Llull, Ramon: 563f Löhe, Wilhelm: 200, 307, 548 Lorenzer, Alfred: 380 Lotz, Walter: 306 Luhmann, Niklas: 898, 902 Luther, Henning: 734f Luther, Martin: 26–28, 33, 36, 39, 65, 78, 80, 103f, 135f, 185–188, 192f, 206, 208–211, 213, 218f, 221f, 224f, 227f, 243, 245, 254f, 257, 283, 301, 305, 322f, 335, 351, 379, 385, 409, 429, 436, 443, 460, 463, 476, 485, 495–500, 506, 528, 538, 544–547,

Personenregister

551, 572f, 577–583, 585–588, 590, 600f, 606, 660, 667, 687f, 693, 696, 739, 773f, 776f, 783, 795, 800, 802, 835, 847–849, 857, 859, 870–872, 884, 900 Madame Guyon: 443 Magin, Charlotte: 904 Maitri, Sandra: 569 Mann, Thomas: 246, 697 Maslow, Abraham: 496, 501, 506, 511 Matthes, Joachim: 260 Meireis, Torsten: 778 Meiser, Hans: 119 Meister Eckart: 495 Melanchthon, Philipp: 222, 471, 498, 533, 802, 870f, 884 Melchers, Christoph: 734 Mensching, Gustav: 507 Meyer-Blanck, Michael: 286, 401 Meyfart, Johann Matthäus: 459 Mezger, Manfred: 263 Micheelsen, Hans Friedrich: 343 Milbradt, Jörg: 355 Mohler, Dan: 226 Montessori, Maria: 741, 747, 752f Morgenroth, Matthias: 33f Moynagh, Michael: 835, 839f, 907 Mühlen, Heribert: 698 Müller, Alfred Dedo: 260 Müller, Christoph: 241 Nassehi, Armin: 903, 906, 930 Nauer, Doris: 631 Nave-Herz, Rosemarie: 262 Neander, Joachim: 327 Neumark, Georg: 414 Nicol, Martin: 216f, 497 Nicolai, Philipp: 326–329 Nietzsche, Friedrich: 349 Nye, Rebecca: 751–753 Olearius, Johannes: 772 Oser, Fritz: 751 Ott, Franz: 764, 766 Ouspensky, Piotr D.: 562 Overbeck, Johann Friedrich: 878f

925

Personenregister

Pacino, Al: 243 Painadath, Sebastian: 494, 513 Pannenberg, Wolfhart: 253 Panofsky, Erwin: 899 Papst Benedikt XVI.: 534 Papst Franziskus: 678, 856 Papst Paul VI.: 491 Pelikan, Roland: 779 Peng-Keller, Simon: 620 Pepping, Ernst: 343 Petrich, Hermann: 330 Platzer, Johann: 639 Pohl-Patalong, Uta: 282 Pollack, Detlef: 166 Pythagoras: 562f Rahner, Karl: 800 Rang, Martin: 743 Raschzok, Klaus: 380–383 Rau, Gerhard 34f Reda, Siegfried: 343 Reichel, Walter Siegfried: 486 Reller, Horst: 828 Rembrandt, Harmenszoon van Rijn: 873– 875, 882 Renz, Monika: 625 Riethmüller, Otto: 77, 93 Rietschel, Georg: 260, 583 Robinson, Edward: 751 Rogers, Carl R.: 523 Röhring, Klaus: 343f Roloff, Jürgen: 110 Rosa, Hartmut: 222, 227, 659 Rosenau, Hartmut: 277 Roser, Traugott: 616, 621, 627, 629, 631, 639 Ruhbach, Gerhard: 677f Runge, Daniel: 876 Runge, Philipp Otto: 875, 877f, 881 Rupp, Hartmut: 376 Sander, Uwe: 906 Sauter, Gerhard: 56 Scharfenberg, Joachim: 551f Schaupp, Walter: 639 Schibilsky, Michael: 643, 645 Schleiermacher, Friedrich D.E.: 54, 186f

Schlink, Edmund: 469, 589 Schmitz, Hermann: 380 Schniewind, Julius: 677 Schröer, Henning: 643, 645 Schrupp, Antje: 908 Schulze, Gerhard: 23, 532 Schütz, Paul: 531 Schutz, Roger: 74, 93, 139, 824 Schwarzenberger, Valentin: 388 Schwier, Helmut: 904 Seiler, Georg Friedrich: 583f Seume, Johann Gottfried: 727 Söding, Thomas: 110 Sölle, Dorothee: 236, 813, 825 Spener, Philipp Jakob: 850f, 610, 677 Spurgeon, Charles Haddon: 226 Steffensky, Fulbert: 348, 380, 410, 491, 622, 813, 858 Steinhäuser, Martin: 754 Steinmann, Ralph Marc: 638 Stifter, Adalbert: 890 Stoodt, Dieter: 750 Stuhlmacher, Peter: 253 Sundermeier, Theo: 264, 858 Sunquist, Scott: 831 Szagun, Katharina: 751 Taylor, Charles: 401 Taylor, Hudson: 851 Teresa von Avila: 502, 611 Tersteegen, Gerhard: 440, 446, 470, 725 Thadden-Trieglaff, Reinold von: 116–118, 125 Thielicke, Helmut: 697 Thomas, Madathilparampil M.: 853f Thurneysen, Eduard: 520, 526, 551, 587f Tillich, Paul: 238 Trillhaas, Wolfgang: 212 Troeltsch, Ernst: 786 Turner, Victor: 261f Ulrich, Heinrich-Hermann: 697 Valéry, Paul: 889 Vogel, Hans-Jochen: 489 Vogel, Heinrich: 696

926 Vogelsang, Frank: 815 Volp, Rainer: 380, 382 Wagener-Esser, Meike: 666f, 670 Wagner-Rau, Ulrike: 265, 281–284 Waldeck, Karl: 817 Walter, Johann: 322 Walti, Christian: 215, 403 Weber, Christel: 227 Weber, Joachim: 639 Wenz, Gunther: 780 Werth, Martin: 832 Westermann, Claus: 278f Weyer-Menkhoff, Stephan: 359 White, Todd: 226

Personenregister

Wichern, Johann Hinrich: 784, 897 Wilber, Ken: 751 Wingerning, Siegfried: 742 Winkler, Eberhard: 233, 265 Wright, Henry: 477 Zarnack, Hulda: 93 Zender, Hans: 350 Zimmer, Thomas: 769 Zimmerling, Peter: 64, 101, 137, 232, 437, 489, 575, 588, 607, 678, 813, 838 Zink, Jörg: 399, 437, 439 Zinzendorf, Nikolaus Ludwig Graf von: 136, 458, 481–488, 491, 534, 677, 851