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German Pages [145] Year 2020
John-Stewart Gordon
Ethik als Methode
VERLAG KARL ALBER
https://doi.org/10.5771/9783495820759
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B
John-Stewart Gordon Ethik als Methode
VERLAG KARL ALBER
A
https://doi.org/10.5771/9783495820759 .
https://doi.org/10.5771/9783495820759 .
John-Stewart Gordon
Ethik als Methode
Verlag Karl Alber Freiburg / München
https://doi.org/10.5771/9783495820759 .
John-Stewart Gordon Ethics as a Method The idea that all ethical problems can be resolved with only one moral principle – be that Kant’s Categorical Imperative or the utilitarian principle of maximising utility – is not only fundamentally misguided, but also incapable of doing justice to the complexity of moral reality. The present book shows the foundations of »ethics as a method« and thereby stems itself substantially against traditional ethical theory. The suggested ethical method allows one to discuss and resolve moral issues in the grey area between the claims of universalism and particularism. Only a moral expert is capable to understand the complex relations of holistic moral reality in an appropriate way and to find a proper solution for every ethical problem. Whereas ethical theories so far have only been approximate evaluations of certain parts of moral reality, the moral expert now appears as a person who takes into view the entirety of moral reality. The complexity of a difficult moral problem can only be appreciated appropriately when we employ a pluralistic ethical method.
The Author John-Stewart Gordon is full professor of philosophy, head of the Research Cluster for Applied Ethics (RCAE), senior researcher at the Faculty of Law and principal investigator of the EU-funded research project »Integration Study on Future Law, Ethics, and Smart Technologies« (2017–2021) at Vytautas Magnus University in Kaunas, Lithuania. He spent extended research stays at the universities of Queen’s, Oxford, Toronto, Maynooth, and Tallinn.
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John-Stewart Gordon Ethik als Methode Die Vorstellung, dass sich alle ethischen Probleme mit nur einem Moralprinzip – sei es Kants Kategorischer Imperativ oder das utilitaristische Nutzenprinzip etc. auflösen lassen, ist nicht nur grundsätzlich fehlgeleitet, sondern kann niemals der Komplexität der moralischen Wirklichkeit gerecht werden. Die vorliegende Schrift zeigt die Grundzüge einer »Ethik als Methode« auf und stellt sich damit gegen einen erheblichen Teil der Tradition in der Ethik. Die vorgeschlagene ethische Methode erlaubt es, moralische Probleme zwischen den Ansprüchen von Universalismus einerseits und Partikularismus andererseits zu diskutieren und erfolgreich aufzulösen. Denn allein der moralische Experte ist in der Lage, die komplexen Zusammenhänge der ganzheitlichen moralischen Wirklichkeit angemessen zu verstehen und für jedes ethische Problem die ihm eigentümliche Lösung zu finden. Waren die ethischen Theorien im Grunde genommen nur Näherungswerte bestimmter Teile der moralischen Wirklichkeit, erscheint nunmehr der moralische Experte als eine Person, die das Ganze der moralischen Wirklichkeit in den Blick nimmt. Die Komplexität eines schwierigen moralischen Problems kann nur mittels einer pluralistischen ethischen Methode angemessen gewürdigt werden.
Der Autor John-Stewart Gordon ist Professor für Philosophie, Leiter des Forschungsclusters für Angewandte Ethik (RCAE), Seniorforscher an der Fakultät für Rechtswissenschaten und leitender Wissenschaftler des von der EU geförderten Forschungsprojekts »Integration Study on Future Law, Ethics, and Smart Technologies« (2017–2021) an der Vytautas Magnus University in Kaunas, Litauen. Er verbrachte längere Forschungsaufenthalte an den Universitäten von Queen’s, Oxford, Toronto, Maynooth und Tallinn.
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Gefördert von der Hermann und Marianne Straniak Stiftung.
Originalausgabe © VERLAG KARL ALBER in der Verlag Herder GmbH, Freiburg / München 2019 Alle Rechte vorbehalten www.verlag-alber.de Satz und PDF-E-Book: SatzWeise, Bad Wünnenberg Herstellung: CPI books GmbH, Leck Printed in Germany ISBN (Buch) 978-3-495-48882-9 ISBN (PDF-E-Book) 978-3-495-82075-9
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Günther Patzig (1926–2018) zum Gedenk
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Inhalt
Vorwort
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Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1.1. Das Grundproblem . . . . . . . . . . . . . . . . . 1.2. Zentrale Aspekte der Moral . . . . . . . . . . . . . 1.3. Aristoteles und Brody – Wegbereiter einer Ethik als Methode . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1.4. Ethik als Methode im Kontext der praxisorientierten Ethik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1.5. Vorgehensweise . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
13 13 14
2.
Rationalität als Ursprung von Moral . . . . . . 2.1. Vorbemerkung . . . . . . . . . . . . . 2.2. Das Gedankenexperiment der drei Welten 2.3. Rationalität als Quelle von Moral . . . . 2.4. Der Pluralismus-Einwand . . . . . . . . 2.5. Empfehlungen für eine ethische Methode
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26 26 27 30 34 38
3.
Objektivität in der Ethik und moralische Urteile . . . . 3.1. Ayn Rand’s Ethischer Objektivismus . . . . . . 3.2. Was sind moralische Urteile? . . . . . . . . . . 3.3. Moralischer Intuitionismus . . . . . . . . . . . 3.4. Über die Phänomenologie moralischer Fälle – Eine Kategorisierung . . . . . . . . . . . . . . 3.5. Moralische Urteile zwischen Universalismus und Partikularismus . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.6. Empfehlungen für eine ethische Methode . . . .
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39 40 44 47
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56 57
1.
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16 20 24
9 https://doi.org/10.5771/9783495820759 .
Inhalt
4.
Klugheit als Ethische Richtschnur . . . . . . . . . . . 4.1. Der Begriff der Klugheit bei Aristoteles (EN VI) 4.2. Die Billigkeit bei Aristoteles (EN V) . . . . . . 4.3. Gadamers hermeneutische Methode und der Aristotelische Klugheitsbegriff . . . . . . . . . 4.4. Empfehlungen für eine ethische Methode . . . .
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5.
Der Moralische Experte . . . . . . . . . . . 5.1. Über die Komplexität der Moral . . . . 5.2. Die Praktisch Kluge Person . . . . . . . 5.3. Ethische Methode vs. Ethische Theorien 5.4. Einwände . . . . . . . . . . . . . . . .
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116 116 118 126 130
6.
Schlussbetrachtung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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7.
Bibliographie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
137
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62 62 87
. . 98 . . 112
Vorwort
Die vorliegende Arbeit ist das Ergebnis einer mehrjährigen Suche nach einer Antwort auf die Frage, was die Natur des moralischen Denkens ist. Gleichwohl ich nicht die gesamten letzten Jahre ausschließlich zu diesem Thema gearbeitet habe, so konnte ich jedoch hier und da die wesentlichen Fragen und Probleme für meine Fragestellung in Etappen angehen, die nunmehr in dieser Grundlegung zusammengeführt worden sind. Die Arbeit setzt sich kritisch mit der allgemeinen (und weitläufig akzeptierten) These auseinander, dass man nahezu alle moralischen Probleme mit nur einem oder wenigen moralischen Prinzipien und Regeln lösen kann. Diese Annahme ist nicht nur philosophisch gesehen unangemessen, sondern einfachhin falsch. Das moralische Universum ist zu komplex, als dass man alle Probleme z. B. mit nur einem Masterprinzip lösen könnte. Vielmehr braucht es eine flexible ethische Methode, die im Rekurs auf die praktische Klugheit unsere moralischen Probleme löst. Das vorliegende Werk ist der Versuch, die Grundlagen für eine solche Methode zu benennen und detaillierter auszuführen. Grundsätzlich geht es mir darum, einen neuerlichen Diskurs bezüglich der Natur des moralischen Denkens anzustoßen, da wir uns nicht bereits am Ende, sondern immer noch am Anfang einer moralischen Reise befinden. Mit Blick auf das 5. Kapitel der vorliegenden Arbeit möchte ich insbesondere der Hermann und Marianne Straniak Stiftung danken, die es mir mit ihrer Finanzierung (einschließlich der Übernahme der Druckkosten) ermöglicht hat, in 2017 und 2018 drei ausgedehnte Forschungsaufenthalte am Oxford Uehiro Centre for Practical Ethics der Universität Oxford (2017), dem Centre for Ethics an der Universität Toronto (2018) und am Institut An Foras Feasa der Universität Maynooth (2018) zu unternehmen. Einen Teil der Ergebnisse konnte ich für die Abfassung des 5. Kapitels nutzen. Die Gespräche mit den Kolleginnen und Kollegen an den drei genannten Universitäten haben mich insgesamt in dem Glauben bestärkt, dass ich auf dem richtigen 11 https://doi.org/10.5771/9783495820759 .
Vorwort
Weg bin. Mein besonderer Dank gilt Roger Crisp, Jeff McMahan, John Broome, Julian Savulescu, Markus Dubber, Vincent Shen, Atsushi Moriya, Thomas Hurka und Susan Schreibman. Ferner danke ich den vielen Kolleginnen und Kollegen sowie den Studierenden, die sich bei meinen Vorträgen zum Thema zu Wort gemeldet haben (wenn ich jemanden vergessen haben sollte, dann möge man mir dies verzeihen). Ich möchte mich ebenfalls ganz herzlich bei Petr Frantik bedanken, der wesentliche Teile der Grundlegung in unterschiedlichen Fassungen gelesen und diese mit mir in den letzten Jahren eingehend diskutiert hat. Last not least möchte ich Lukas Trabert (Verlag Karl Alber) danken, der nicht nur meine Arbeit herausgibt, sondern stets sehr geduldig gewesen ist. Vytautas Magnus University, Kaunas
John-Stewart Gordon
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1. Einleitung 1.1. Das Grundproblem 13 1.2. Zentrale Aspekte der Moral 14 1.3. Aristoteles und Brody – Wegbereiter einer Ethik als Methode 1.4. Ethik als Methode im Kontext der praxisorientierten Ethik 20 1.5. Vorgehensweise 24
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1.1. Das Grundproblem Die traditionelle Vorstellung, dass man die moralischen Probleme des menschlichen Lebens mit einem monistischen Moralprinzip im Sinne Kants (der kategorische Imperativ) oder der Utilitaristen (das Nutzenprinzip) erfolgreich aufzulösen vermag, erscheint vor dem Hintergrund der moralischen Komplexität des menschlichen Lebens nicht nur unangemessen, sondern auch vermessen zu sein. Jede Engführung einer ethischen Theorie auf einen zentralen Aspekt der Moral, der dann im weiteren Verlauf auf alle moralischen Probleme bestimmend angewendet werden soll, beinhaltet bereits von Anfang an den Samen des Scheiterns. 1 Dies bedeutet jedoch nicht, dass die bisherigen Ethiken zur Gänze verfehlt wären und man aus ihnen gar nichts lernen könnte; im Gegenteil, die traditionellen Ethiken wie die Tugendethik, Kants Pflichtethik oder der (klassische) Utilitarismus weisen alle auf einen wesentlichen und richtigen Aspekt der Moral hin, der im Rahmen einer bestimmten Anwendung angemessen und hoch 1 Eine kurze Erklärung zur Verwendungsweise der Begriffe Moral und Ethik erscheint angebracht zu sein: Unter Moral versteht man üblicherweise, dass die Interessen anderer berücksichtigt werden müssen. Hier ist die Rede vom moralischen Müssen zentral. Unter Ethik kann man das Nachdenken über Fragen des guten Lebens verstehen d. h. hier werden individuelle Vorstellungen des je eigenen guten Lebens relevant, wobei das Streben nach individuell als wertvoll angesehene Projekte im Mittelpunkt stehen. Ob man Ethik als rein objektivistisch, rein subjektivistisch oder als eine Mischung aus beiden Formen ansehen sollte, ist für die Einteilung von Moral und Ethik unwichtig. Grundsätzlich bleibt jedoch zu konstatieren, dass Fragen der Moral immer ein Teilgebiet von Fragen der Ethik sein sollten, so dass moralische Aussagen immer als eine Teilklasse von ethischen Aussagen verstanden werden (vgl. Bernard Williams 1985).
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Einleitung
relevant ist. Der entscheidende und zugleich tragische Fehler besteht jedoch darin, dass die Autoren den zentralen Aspekt ihrer Ethiken verabsolutieren und meinen, dass dieser dann auf alle moralischen Fälle in gleicher Weise angewendet werden könnte. Eine solche Vorstellung von Moral ist schlechthin falsch und führt bekanntlich zu fundamentalen Problemen im Bereich der praxisorientierten Ethik (bekannte Beispiele sind schnell zur Hand: Kants Lügenbeispiel und das Problem der Rechte von Minderheiten im Kontext einer nutzenorientierten konsequentialistischen Ethik). Die kritische Literatur dazu ist Legion. In der vorliegenden Untersuchung geht es nicht darum, jede einzelne Moraltheorie in den Blick zu nehmen und das Für und Wider erschöpfend zu diskutieren (dies wäre hier auch gar nicht machbar); vielmehr soll ein radikaler Versuch unternommen werden, eine ethische Methode – in Anlehnung an die Aristotelische Klugheitslehre – zu entwickeln, die dann unter den wesentlichen Aspekten der Moral (s. u.), jeweils den richtigen Aspekt für die jeweilige Situation als bestimmend auswählt. Dabei setzt man sich jedoch der nicht unberechtigten Kritik aus, dass die Auswahl selbst beliebig sein könnte und der Verweis auf die praktisch kluge Person bei Aristoteles nichts austrägt, da der aristotelische Klugheitsbegriff viel zu unspezifisch sei, um die erfolgreiche Lösung eines Problems zu gewährleisten. Dieser Einwand muss ernst genommen werden und wir werden im Folgenden darauf zurückkommen und diesen diskutieren (vgl. 4. und 5. Kapitel). Grundsätzlich liegt jedoch der Vorteil einer pluralistisch orientierten und kontextsensitiven ethischen Methode auf der Hand: Zum einen soll damit gewährleistet werden, dass eine echte Handlungsorientierung mit Blick auf die Anwendbarkeit auf konkrete Fälle gegeben ist (dies ist bei den genannten traditionellen Ethiken häufig nicht der Fall) und zum anderen geht es uns ebenfalls um die solide Begründung einer solchen Position. Beide Kriterien sind für eine erfolgreiche und plausible Ethik notwendig und damit unerlässlich.
1.2. Zentrale Aspekte der Moral Die ethische Methode ist pluralistisch. Der jeweilige Aspekt der Moral, der in einer konkreten Situation bestimmend ist, wird aus einem Pool von unterschiedlichen moralischen Aspekten ausgewählt, die in der Tradition als wesentlich und als zentral bestimmt worden sind. Es 14 https://doi.org/10.5771/9783495820759 .
Zentrale Aspekte der Moral
stellt sich zunächst aber die Frage, welche Aspekte genau relevant sind. Folgende offene und an bisherige wichtige Ethiken orientierte Liste dient uns als Startpunkt: • • • • • • •
Tugenden, Charakter, praktische Klugheit (Aristotelische Tugendethik) Respekt vor Personen, Würdebegriff, Universalisierungsprinzip (Kants Pflichtethik) Fundamentale und nicht einschränkbare Rechte (naturrechtliche Positionen wie die von John Locke) Nutzen & Folgen (Mills Utilitarismus) Menschliche/personale Beziehungen & Fürsorge (Ethik der Fürsorge, Feministische Ethik, Disability Studies) Verantwortung auch für nicht-menschliche Lebewesen und die Umwelt (vgl. Hans Jonas’ Verantwortungsethik). Kontextsensitivität (kasuistische Positionen)
Auf welche Weise die ethische Methode jeweilige Aspekte auswählt, wird insbesondere Gegenstand des vierten und fünften Kapitels sein. An dieser Stelle soll jedoch kurz auf zwei Probleme aufmerksam gemacht werden, mit der sich die ethische Methode zwangsläufig bei der Auswahl konfrontiert sieht. Zum einen muss geklärt werden, auf welche Weise man die zentralen Aspekte der Moral in einer jeweiligen Situation angemessen in Anlehnung und Abgrenzung zueinander gewichtet (Gewichtungsproblem der Aspekte) und zum anderen muss die Frage geklärt werden, ob das Phänomen der Unterschiedlichkeit von Meinungen im Bereich der Moral oberflächlich oder tiefgreifend ist (Problem des moralischen Dissenses). Die vorliegende Untersuchung wird aufzeigen, dass das Gewichtungsproblem im Rahmen einer weiter modifizierten, aristotelischen Klugheitslehre in Kombination mit den beiden aus der Bioethik bekannten Methoden der Spezifizierung und des Abwägens (vgl. Richardson 1990, Beauchamp und Childress 2009) erfolgreich gemeistert werden kann. Dabei versteht man unter Spezifizierung die Reduzierung der Unbestimmtheit der abstrakten, universellen, moralischen Normen durch empirische Daten, wobei es durchaus unterschiedliche Spezifizierungen geben kann. Bei der Abwägung geht es um das relative Gewicht und die Stärke moralischer Normen; es geht also um das Abwägen von Gründen für die Wahl einer bestimmten Norm (vgl. hierzu Gordon et al. 2011). Mit Blick auf die Frage, ob es in einem fundamentalen Sinne tiefgrei15 https://doi.org/10.5771/9783495820759 .
Einleitung
fende und damit unauflösbare, moralische Konflikte im Kernbereich der Moral geben kann, wird die Position vertreten, dass dies unmöglich ist, ohne dabei auf ein monistisches Moralprinzip rekurrieren zu müssen, das von Anfang an – nämlich aus systemimmanenten Gründen – keine konfligierenden moralischen Urteile aufkommen lässt.
1.3. Aristoteles und Brody – Wegbereiter einer Ethik als Methode Bekanntlich weist Aristoteles in seinem ethischen Hauptwerk Nikomachische Ethik (EN I, 1) darauf hin, dass es unangemessen wäre, von einem Redner strenge Beweise zu verlangen (genauso, wie von einem Mathematiker Plausibilitätsargumente) und dass man bei allen Erörterungen nicht denselben Grad an Genauigkeit verlangen dürfe. Sein Rat geht dahin, dass es bei Ausführungen hinreicht, wenn ihre Klarheit und Bestimmtheit dem vorliegenden Sachverhalt angemessen sind. Ein weiterer wichtiger Aspekt in diesem Kontext klingt im fünften Buch über Gerechtigkeit der Nikomachischen Ethik (EN V, 14) an, wenn Aristoteles im Kapitel über Billigkeit folgendes zu bedenken gibt: »Dies ist also das Wesen des Billigen, eine Berichtigung des Gesetzes zu sein, insofern dieses wegen seiner Allgemeinheit eine Lücke aufweist. Das ist auch der Grund, warum nicht alles durch das Gesetz geregelt ist: dass es Dinge gibt, über die man keine Gesetze aufstellen kann, sodass ein [besonderer] Beschluss (psêphisma) nötig ist. Denn wo die Sache unbestimmt ist, ist auch der Maßstab (kanôn) unbestimmt, wie der bleierne Maßstab, der beim Hausbau auf Lesbos verwendet wird. Der Maßstab passt sich nämlich der Gestalt des Steins an und ist nicht starr, und so passt sich auch der Beschluss den Sachverhalten an.« (Aristoteles EN V, 14 1137b27–32)
Beide Textstellen sind erhellend und zeigen auf bedeutsame Weise, dass es im Bereich der Ethik keine strengen Beweise geben kann, sondern wir darauf zurückgeworfen sind, uns mit Plausibilitätsargumenten – also im Rahmen eines rationalen Diskurses – zufrieden zu geben (ohne sich jedoch der Beliebigkeit auszuliefern). Es gibt also, so kann man Aristoteles an diesen Stellen ausdeuten, nur die Möglichkeit – aufgrund der Unbestimmtheit der Sache – einen veränderlichen Beurteilungsmaßstab zu wählen. 2 Diesen Maßstab nennen wir ethische 2
Auch wenn sich Aristoteles in der oben zitierten Passage auf den Nomos bezieht
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Aristoteles und Brody – Wegbereiter einer Ethik als Methode
Methode. Zweifelsohne ist damit nicht gesagt, dass das Ergebnis ein Resultat der Beliebigkeit ist. Vielmehr sagen wir, dass es im Bereich der Ethik unmöglich ist, auf monistische Moralprinzipien in Verbindung mit der deduktiven Methode zu vertrauen und zu glauben, dass dann das moralische Urteil gewiss ist (zur Frage der Anwendung ethischer Theorien im Kontext der praxisorientierten Ethik vgl. Bayertz 1991). Das moralische Leben ist viel zu komplex, als dass es möglich wäre, alle moralischen Probleme mit nur einem Masterprinzip, das sich auf einen zentralen Aspekt der Moral beschränkt, aufzulösen. Vielmehr erfordert die Komplexität des moralischen Lebens selbst eine komplexere Lösung. Aristoteles ist freilich kein Vertreter einer pluralistisch orientierten Ethik als Methode, wie sie in der vorliegenden Untersuchung angestrebt wird. Für ihn ist, so die bekannte Neo-Aristotelikerin Martha Nussbaum, die Orientierung an den ethisch-politischen Tugenden in der Polis zentral. Diese Aussage müssen wir jedoch ein Stück weit einschränken und etwas differenzierter betrachten (vgl. auch EN X, 6–9). Die Aristotelische Tugendethik – in der die Glückseligkeit angestrebt wird und das eu prattein sowie das eu zen im Vordergrund stehen – kennt im Grunde genommen vier unterschiedliche Bewertungsstrategien: Erstens, den intrinsischen Wert der ethischpolitischen Tugenden (charakterzentrierte Position); zweitens, die Idee der praktischen Klugheit in EN VI (exemplifiziert am Beispiel der praktisch klugen Person, die nach Aristoteles bekanntlich alles richtig beurteilt und in allem das wahrhaft Gute herausfindet und gleichsam die Regel und das Maß ist, vgl. EN III, 6); drittens, die Idee der theoretischen Vernunft als oberstes Ziel des guten Lebens (Weisheit als oberstes Ziel) und viertens, eine handlungsorientierte Position, die deontologische Einschränkungen – Mord, Ehebruch und Diebstahl werden als an sich schlecht charakterisiert (EN II, 6) – beinhaltet (Gordon 2013). Aristoteles betont bereits im zweiten Buch, dass die Tugendhaftigkeit einer Handlung genau dann vorliegt, wenn drei wesentliche Punkte gegeben sind: Erstens, der Handelnde muss über die Umstände der Handlung gut informiert sein (es darf also und damit auf das positive Gesetz einer Polis, erscheint es mir dennoch plausibel, ihn dahingehend zu interpretieren, dass seine Überlegungen auch auf den Bereich der Ethik Anwendung finden könnten. Diese Lesart wird durch die erste Textstelle gestützt. Die Unbestimmtheit eines Sachverhalts aufgrund der Allgemeinheit des Gesetzes – so hören wir Aristoteles sagen – kann nur durch Flexibilität und Kontextsensitivität angemessen in den Blick genommen werden (vgl. Gordon 2007).
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Einleitung
keine zufällige Handlung sein); zweitens, die Handlung basiert auf einer wohlüberlegten Entscheidung und wird um ihretwillen getan und drittens, die Handlung wird ohne Zögern ausgeführt, was einen festen und stabilen tugendhaften Charakter voraussetzt (EN II, 3). Die Aristotelische Tugendethik ist vielschichtig und komplex. Für die Idee der Entwicklung einer ethischen Methode sind jedoch zwei Dinge besonders relevant: Zum einen der zentrale Aspekt der Tugenden und zum anderen die bei Aristoteles eher oberflächlich diskutierte Idee der praktischen Klugheit in Verbindung mit der praktisch klugen Person (EN VI). Die praktisch kluge Person nennen wir einen moralischen Experten (vgl. Kapitel 5). Während man Aristoteles durchaus als Wegbereiter für eine ethische Methode ansehen kann (vgl. hierzu auch die Arbeiten von Gadamer), hat der bekannte Philosoph und Medizinethiker Baruch Brody in seinem Werk Life and Death Decision Making (1988) eine pluralistische ethische Position entwickelt, die man zweifelsohne als Vorläufer einer Ethik als Methode verstehen kann (insbesondere Kapitel 1–4). Seine Theorie – »the model of conflicting appeals« – basiert ebenfalls auf der Annahme, dass das moralische Leben der Menschen zu komplex ist, um alle moralischen Probleme mit nur einem zentralen Aspekt im Rahmen einer monistischen Ethik wie Kants Pflichtethik oder Benthams und Mills Utilitarismus zu lösen. Er schlägt vor, dass wir die zentralen moralischen Aspekte der Ethiken – Folgen, Rechte, Respekt vor Personen, Tugenden sowie Kosteneffizienz und Gerechtigkeit – kombinieren und auf ihrer Grundlage moralische Probleme lösen. 3 Dazu bemerkt Brody Folgendes: »I think we need a new way of looking at moral theories that have been advocated in the past. We need to recognise that each has emphasised a particular moral appeal whose legitimacy is unquestionable. We also need to recognise that each failed because it has recognised only one of the many legitimate moral appeals. Rather than seeing the history of moral philosophy as a history of competing theories among which we must choose, we ought to view it as a series of attempts to articulate different moral appeals, all of which will have to be combined to frame an adequate moral theory for helping us deal with difficult cases […] we should regard each of these »The moral theory advocated in this book is not an abstract moral theory, a theory whose mode of application is unclear. It takes from each of the traditional abstract moral theories a component which needs to be combined with components of other theories in a way that produces a type of model for decision making that can be applied to difficult cases.« (Brody 1988: 8)
3
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Aristoteles und Brody – Wegbereiter einer Ethik als Methode
theories as correct in advocating a moral appeal whose use is certainly legitimate but limited« (Brody 1988: 9–10)
Der ontologische und erkenntnistheoretische Unterbau seiner ethischen Methode fußt nach Brody auf einer objektivistischen Vorstellung von Moral, wobei erkenntnistheoretisch gesehen die moralischen Urteile durch eine bestimmte Version des moralischen Intuitionismus als richtig oder falsch bestimmt werden. Die moralischen Intuitionen sind jedoch in seiner Theorie – im Gegensatz zu den traditionellen Intuitionisten – weder zweifelsfrei noch gewiss. Vielmehr sind die Intuitionen bei Brody auf allen Ebenen im Bereich von Handlungen, sozialen Arrangements und Individuen etc. vorläufig und revisionsoffen (vgl. Brody 1979, 1988). Um herauszufinden, auf welche Weise man die moralischen Aspekte in einer Situation gewichtet, schlägt Brody vor, dass wir einen sogenannten »judgment approach« wählen (vgl. auch das 5. Kapitel). Darunter versteht er Folgendes: Zunächst sollen alle moralischen Aspekte mit Blick auf den vorliegenden Fall identifiziert und im Anschluss daran jeweils ihre Bedeutung gewichtet werden. Zum Schluss wird der gesamte Sachverhalt evaluiert und es folgt daraufhin das Urteil. 4 Brodys ethische Methode bildet einen ausgezeichneten Startpunkt für unsere eigene Position, die wir im Folgenden entwickeln wollen. An dieser Stelle sei bereits darauf hingewiesen, dass wir ebenfalls von der metaethischen Position ausgehen, dass die Moral objektivistisch ist und moralische Intuitionen erkenntnistheoretisch eine zentrale Stellung einnehmen, die dann im Rahmen einer Klugheitslehre Anwendung finden und einen Erkenntniszugang zu moralischen Wahrheiten gewährleisten sollen. Grundsätzlich bleibt jedoch zu konstatieren, dass sich Brody mit seiner Moraltheorie (zur Gänze) auf das Arzt-Patienten-Verhältnis im Kontext der Medizinethik bezieht. Unsere Position hingegen kann sich somit als eine Weiterentwicklung verstehen, da sie weithin über den spezifischen Bereich des Arzt-Patienten-Verhältnisses hinausgeht und den Anspruch erhebt,
4 »Having identified the various moral appeals that back the various proposed actions and having ascribed to them a significance in light of the theory we have developed, we are not in a position to use a common metric to derive a conclusion of what is the appropriate action. This final process, rather than being a weighing process, is a process of judgment. We look at the various appeals and their significance, and then we judge what we ought to do.« (Brody 1988: 77)
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Einleitung
eine allgemeine ethische Methode zu sein, die für alle Bereiche der Ethik relevant ist.
1.4. Ethik als Methode im Kontext der praxisorientierten Ethik Die angewandte Ethik oder – wie wir treffender sagen wollen – die praxisorientierte Ethik ist kein wissenschaftliches Neuland, sondern hat eine lange Tradition, die bis in die Antike zurückreicht. Nach einer langen Durststrecke, in der die Begründungsfragen der Moral im Vordergrund standen und die Anwendungsfragen stark vernachlässigt bzw. nur marginal thematisiert wurden, hat es in den letzten Jahrzehnten eine echte Wiederbelebung von praxisorientierten Fragen gegeben (vgl. hierzu auch Bayertz 1991: 8, Thurnherr 1998: 96f.). Die Gründe dafür sind schnell ausgemacht: Zum einen hat es im 20. Jahrhundert einen rasanten Fortschritt von Wissenschaft und Technik gegeben (vgl. hierzu Das Prinzip Verantwortung von Hans Jonas), der zu einer allgemeinen Erhöhung des Lebensstandards führte, wodurch die Lebensbedingungen der Menschen erheblich verbessert wurden. Zum anderen kam es zu unerwünschten Folgeerscheinungen wie die Verschmutzung der Gewässer und der Luft, die Rodung der tropischen Regenwälder, Massentierhaltung, globale Erwärmung und atomare Verschmutzung (Tschernobyl 1986, Fukushima 2011) etc. Zusätzlich sorgten bestimmte technische Innovationen wie die Gentechnik dafür, dass sich in der breiten Öffentlichkeit – zumindest in vielen Ländern in Europa – Widerstand gegen z. B. genmanipulierte Nahrungsmittel formierte, was als Ausdruck einer öffentlichen Besorgnis gewertet werden kann. Mit anderen Worten: Ganz spezifische moralische Probleme, die aus einer konkreten Situation entsprangen, wie z. B. genmanipulierte Nahrung, sorgten dafür, dass sich in weiten Teilen der Bevölkerung starke Bedenken und Ängste um die Zukunft des Menschen bildeten (Engels 1999: 270f.). Darüber hinaus stellte man in vielen technologisierten Ländern fest, dass sich aufgrund der neuartigen Probleme in den bestehenden Rechtssystemen eine Vielzahl von Lücken und Grauzonen herausgebildet hatten, die die Furcht vor einem ethischen Vakuum beförderten (vgl. die Diskussionen in den USA und Deutschland zu Themen wie Abtreibung und Sterbehilfe in den letzten Jahrzehnten). Ein weiterer Punkt betrifft die veränderte Geisteshaltung der Menschen. 20 https://doi.org/10.5771/9783495820759 .
Ethik als Methode im Kontext der praxisorientierten Ethik
Hier bleibt zu konstatieren, dass sich bei den Menschen eine Abkehr vom autoritären hin zu einem autonomen Gewissen vollzogen hat. Wir nennen dies Individualismus. Urs Thurnherr hat ganz recht, wenn er betont, dass »je mehr Menschen […] über moralische Belange autonom nachzudenken und zu entscheiden beginnen, desto mehr Konjunktur […] die angewandte Ethik [erfahren wird]« (Thurnherr 1998: 99). Die Folgen dieser schwierigen und komplexen Lage waren tiefgreifend. Zum einen wurde der Ruf nach einer moralischen Orientierungshilfe laut, um dem ethischen Vakuum zu entfliehen (vgl. hierzu auch Engels 2001: 364). Zum anderen wurde deutlich, dass die aktuellen – und tatsächlich neuartigen – moralischen Probleme nicht mehr im Rahmen der tradierten Moral gelöst werden konnten, so dass nach einer neuen und »integren Instanz« verlangt wurde. Diese Instanz wurde angewandte Ethik genannt (Pieper und Thurnherr 1998: 7). 5 Die sich daraus ergebenden Ziele einer praxisorientierten Ethik, die unserer Ansicht nach am besten durch eine ethische Methode erreicht werden können, sollen im Folgenden kurz genannt werden (vgl. hierzu auch Gordon 2012): • •
• •
•
Praxisbezug: Hinwendung zu konkreten Problemen. Interdisziplinarität: Die praxisorientierte Ethik versucht moralische Probleme im Rekurs auf ethische Überlegungen und naturwissenschaftliche Erkenntnisse (Technik, Medizin etc.) zu lösen. Orientierungsfunktion: Die praxisorientierte Ethik will den Menschen eine ethische Orientierung bieten. Aufklärungsfunktion: Die praxisorientierte Ethik macht auf viele neuartige und ethisch problematische Fälle (Gentechnik, Klonen, Mensch-Tier-Hybride etc.) aufmerksam, wodurch das Problembewusstsein der Menschen gefördert wird. Strukturierungsfunktion: Die praxisorientierte Ethik arbeitet wichtige Argumente durch eine kritische Prüfung von Aussagen in Diskursen und Debatten heraus.
Thurnherr bringt es auf den Punkt, wenn er schreibt: »Die angewandte Ethik soll und kann das betreffende moralische Vakuum ausfüllen, sie tritt heute gewissermaßen als Ersatz an die Stelle der traditionellen Moral.« (Thurnherr 1998: 97)
5
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Einleitung
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Revisionsfähigkeit: Die praxisorientierte Ethik will durch die wechselseitige Einflussnahme von praxisorientierter Ethik und allgemeiner Ethik einen ethischen Fortschritt bewirken.
Die traditionelle Sichtweise der praxisorientierten Ethik kann man wie folgt verdeutlichen: Ein ethisches Prinzip, das z. B. selbstevident ist oder aus den logischen Merkmalen der Moralsprache abgeleitet wurde (vgl. Richard Hare 1952), führt in Kombination mit empirischen Daten in Anwendungsfragen zu konkreten normativen Kriterien des richtigen und falschen Handelns (hierzu Nida-Rümelin 1996: 57). Dies bedeutet jedoch, dass die praxisorientierte Ethik lediglich eine bloße Anwendung normativer Theorien – bzw. ethischer Prinzipien – auf Einzelfälle ist. Problematisch daran ist, dass hierbei das deduktive Modell der Rechtfertigung vorausgesetzt wird, das von einem bestimmten Konzept von Rationalität ausgeht und zwangsläufig dazu führt, dass es zu einer Abwertung des Anwendungsproblems kommt, wenn die neuzeitliche Prinzipienethik mit dem deduktiven Modell von Rationalität kombiniert wird (vgl. Bayertz 1991: 10–13). Im Detail geht es um die Vorstellung, dass eine ethische Theorie, das Prinzip (oder die Prinzipien) begründet, das wiederum seinerseits die moralischen Regeln begründet, aus welche man dann schlussendlich logisch das moralische Urteil in einer konkreten Situation ableiten können soll. Einer solchen Konzeption im Kontext der praxisorientierten Ethik ist mit Recht im 20. Jahrhundert widersprochen worden. Vier Bedenken gegen die traditionelle Sichtweise sind zentral: (1.) Elizabeth Anscombe (1958) und Alasdair MacIntyre (1981) haben darauf hingewiesen, dass es fraglich sei, ob Prinzipien überhaupt universelle Geltung haben, so dass die Idee der Anwendung jener Prinzipien auf Einzelfälle von vornherein zum Scheitern verurteilt ist. (2.) Hans-Georg Gadamer hat in seinem bedeutenden hermeneutischen Werk Wahrheit und Methode deutlich gemacht, dass die Anwendung einer Norm auch produktive Elemente enthält und es somit nicht eine simple Anwendung im Sinne des deduktiven Modells der Rechtfertigung geben könne (Gadamer 1975: 298). (3.) in The Abuse of Casuistry. A History of Moral Reasoning (1988) haben die international bekannten Autoren Albert R. Jonsen und Stephen E. Toulmin eine kasuistische Methode entwickelt, die sich an das Aristotelische Modell der Klugheitslehre anlehnt, und dafür argumentiert, dass generelle Prinzipien ungeeignet seien, wenn man zu befriedigenden Lösungen in Einzelfällen kommen möchte, da die Prinzipien im 22 https://doi.org/10.5771/9783495820759 .
Ethik als Methode im Kontext der praxisorientierten Ethik
Allgemeinen abstrakt und unfruchtbar sind. (4.) Julian Nida-Rümelin hat in seinem herausgegebenen Werk Angewandte Ethik. Die Bereichsethiken und ihre theoretische Fundierung (1996) einen wichtigen Punkt herausgestellt und deutlich gemacht, dass die traditionelle Methode der praxisorientierten Ethik unangemessen sei, wenn die ethische Urteilsfähigkeit darauf beruht, dass jene, erstens, zentrale Bestandteile unseres moralischen Überzeugungssystems rekonstruiert und systematisiert und, zweitens, auf diese Weise Kriterien entwickelt, die in bestimmten Situationen – in denen ein moralisches Urteil nicht eindeutig ist – Orientierung geben sollen. Nach NidaRümelin gibt es kein leicht rekonstruierbares System normativer Kriterien, so dass die Anwendungsdimension der Ethik einen neuen Status bekommt (Nida-Rümelin 1996: 60). Die oben genannten Bedenken sind zentral und bestätigen uns darin, dass das moralische Leben aufgrund seiner Komplexität nicht durch eine einfache Anwendung von universellen Prinzipien angemessen bestimmt werden kann. In seinem Beitrag Theoretische und Angewandte Ethik. Paradigmen, Begründungen, Bereiche (1996: 2–85) stellt Nida-Rümelin seine eigene Position bezüglich der praxisorientierten Ethik dar, die sich an moralischen Intuitionen bzw. Überzeugungen orientiert. Seiner Ansicht nach bilden die moralischen Überzeugungen das Material aus dem das Gesamt der moralischen Urteilsfähigkeit entwickelt wird, wobei er darauf hinweist, dass die moralischen Überzeugungen weder unantastbar noch revisionsresistent sind (damit will er den Fehler der klassischen moralischen Intuitionisten vermeiden). Den moralischen Überzeugungen werden dann in einem unterschiedlichen Grad Gewicht beigemessen, wobei das relative Gewicht danach bestimmt wird, welche moralischen Überzeugungen die Menschen bereit sind im Konfliktfall aufzugeben. Im Anschluss daran kommt es zur Systematisierung der moralischen Überzeugungen – d. h. es kommt zur Subsumtion moralischer Überzeugungen unter allgemeinere –, was eine Reduktion der Vielfalt von Beurteilungskriterien, moralischen Begriffen sowie Regeln und Werten zur Folge hat. Im Ergebnis hält Nida-Rümelin zwei zentrale Punkte fest: Zum einen betont er, dass es Ethik ohne Anwendung nicht geben kann, da sich die ethische Theorie in ihren Anwendungen bewährt. Zum anderen folgert er, dass die allgemeine Ethik und die praxisorientierte Ethik nicht zwei getrennte Bereiche darstellen, sondern vielmehr als ein Kontinuum anzusehen sind, wobei die Begründungsrelationen nicht 23 https://doi.org/10.5771/9783495820759 .
Einleitung
von der Theorie zur Praxis oder umgekehrt verlaufen, sondern sich nach dem Gewissheitsgefälle unserer moralischen Überzeugungen richten. So konstatiert er: »Es gibt moralische Überzeugungen von hoher Allgemeinheit, die wir nicht aufzugeben bereit sind, ebenso wie es konkrete Verhaltensweisen gibt, die wir als unmoralisch charakterisiert sehen wollen.« (Nida-Rümelin 1996: 61). Die Position von Nida-Rümelin ist unseres Erachtens nach plausibler als die traditionelle Sichtweise der praxisorientierten Ethik. Dennoch erscheint es angemessen, einen gewichtigen Einwand gegen Nida-Rümelins Position zu formulieren: Die Probleme von morgen und übermorgen können vermutlich nicht mit einer reinen Rekonstruktion und Systematisierung von alten moralischen Überzeugungen gemeistert werden. Daher könnte man mit Dieter Birnbacher zu Recht einwenden, dass der Wandel moralischer Überzeugungen, der dafür notwendig wäre, zugleich die Möglichkeit der Orientierungsfunktion unterminieren würde (Birnbacher 1993: 59). Die oben genannten Schwierigkeiten im Rahmen der traditionellen Sichtweise der praxisorientierten Ethik und Nida-Rümelins Position machen einmal mehr deutlich, dass eine angemessene Lösung moralischer Probleme im Kontext der praxisorientierten Ethik einzig in Anlehnung an eine flexible und kontextsensitive ethische Methode – die sowohl ontologisch als auch erkenntnistheoretisch plausibel fundiert ist – erfolgen kann. Dieser Aufgabe wollen wir uns im Folgenden widmen.
1.5. Vorgehensweise Im zweiten Kapitel soll ein neues Argument – genauer gesagt, ein Gedankenexperiment – vorgestellt werden, das den moralischen Realismus als plausibel erweisen soll. Danach wird das zentrale Argument gegen mögliche Einwände verteidigt und als ontologischen Rahmen für eine Ethik als Methode fruchtbar gemacht. Das dritte Kapitel widmet sich der Ontologie und Erkenntnistheorie der Moral und beschreibt moralische Urteile als Hybride, die sowohl universell als auch partikularistisch auszudeuten sind. Im vierten Kapitel wird vor dem Hintergrund der vorherigen Kapitel das Modell der Klugheitslehre von Aristoteles in den Blick genommen und aktualisiert, d. h. für die Moderne fruchtbar gemacht und vor dem Hintergrund von Gadamer weiter als ethische Methode ausgebaut. Das fünfte Ka24 https://doi.org/10.5771/9783495820759 .
Vorgehensweise
pitel ist für das allgemeine Verständnis unserer Position essentiell, da hier die entwickelte Methode im Rekurs auf den moralischen Experten weiter vertieft wird. Das Buch schließt dann im sechsten Kapitel mit einem kurzen Fazit ab.
25 https://doi.org/10.5771/9783495820759 .
2. Rationalität als Ursprung von Moral 2.1. 2.2. 2.3. 2.4. 2.5.
Vorbemerkung 26 Das Gedankenexperiment der drei Welten Rationalität als Quelle von Moral 30 Der Pluralismus-Einwand 34 Empfehlungen für eine ethische Methode
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38
2.1. Vorbemerkung Was ist die Quelle von Moral? Ist Moral – was auch immer sie im Detail bedeuten mag – etwas, das unabhängig vom Menschen existiert und vielleicht aus der Natur selbst (vgl. die antiken Stoiker, Cicero) oder Gott (z. B. Christentum) abgeleitet werden kann? Oder ist die Moral etwas, das durch einen Gesellschaftsvertrag zwischen rationalen Personen in die Welt gebracht wird (Hobbes 1996, Rousseau 1995, Rawls 1971, Gauthier 1986, Stemmer 2000); oder aber liegt der Ursprung der Moral schlicht in der je eigenen Tradition (Walzer 1983)? Diese fundamentalen Fragen betreffen die ontologische Natur der Moral und beziehen sich auf ihren Ursprung. Bekanntlich unterscheiden wir in der Ethik – genauer gesagt in der Metaethik – mit Blick auf die Ontologie der Moral grob zwei unterschiedliche Positionen: Zum einen gibt es den moralischen Realismus (es gibt moralische Tatsachen, die unabhängig vom Menschen existieren) und zum anderen gibt es den moralischen Antirealismus (die Moral hängt vom Menschen ab), der sich weiter in einen Relativismus und Subjektivismus ausdifferenziert. Während die moralischen Antirealisten im Laufe des 20. Jahrhunderts die Ethik bestimmten (befeuert durch die Kritik von Ayer 1936 und Mackie 1977), melden sich seit einigen Jahren die moralischen Realisten zurück, wodurch eine Revitalisierung dieser Position in Gang gesetzt worden ist und sich der moralische Realismus einer stärker werdenden Beliebtheit erfreut (vgl. hierzu aus dem deutschsprachigen Kontext die Arbeiten von Schaber 1997, Halbig 2007 und Ernst 2009). In diesem Kapitel ist es freilich nicht möglich, das Gesamt der Diskussion aufzugreifen und erschöpfend zu diskutieren, vielmehr soll in diesem Kapitel ein neues Gedankenexperiment diskutiert werden, mit dem wir den Anspruch erheben, nachzuweisen, dass Moral 26 https://doi.org/10.5771/9783495820759 .
Das Gedankenexperiment der drei Welten
nicht nur eng mit Rationalität verbunden ist, sondern vielmehr darin gründet und tief in die Strukturen von Rationalität eingebettet ist. Die These lautet, dass es Moral ohne Rationalität notwendigerweise nicht geben kann, da es rationale Lebewesen braucht, um der Moral gewahr zu werden. 6
2.2. Das Gedankenexperiment der drei Welten 7 Im Folgenden soll dazu eingeladen werden, einem Gedankenexperiment zu folgen, das drei unterschiedliche Welten beschreibt, und uns helfen soll, die ontologische Frage nach dem Ursprung der Moral besser zu verstehen. Das Gedankenexperiment gibt uns die Möglichkeit, die entscheidenden Unterschiede und Gemeinsamkeiten von Moral im Zusammenhang mit Rationalität im Kontext von drei unterschiedlichen Szenarien zu prüfen. (A.) Eine Welt ohne Rationalität Man stelle sich eine Welt vor, in der es keine rationalen Lebewesen – einschließlich rationaler Tiere – gibt. Die Lebewesen in dieser Welt sind unfähig, auf eine Weise zu denken, von der man auch nur im Entferntesten behaupten könnte, dass dies als Ausdruck von Rationalität zu verstehen wäre. Es gibt also keine Möglichkeiten, die Lebewesen in dieser Welt auch nur annähernd für ihr Verhalten in irgendeiner Form verantwortlich zu machen. Alles Verhalten ist instinktorientiert. Es gibt kein einziges Lebewesen in dieser Welt, das Formen des Denkens aufweist, die zu einer rationalen Handlung führen könnten. Gibt es in einer solchen Welt Moral?
6 Nach unserer Auffassung heißt das jedoch nicht, dass nicht-rationale Lebewesen aus dem Schutzbereich der Moral exkludiert werden. Im Gegenteil, wir gehen sogar davon aus, dass es unter Umständen auch direkte Pflichten gegenüber nicht-rationalen Lebewesen geben kann. 7 Dieses Gedankenexperiment habe ich entwickelt und auf der internationalen Konferenz »Pluralism and Conflict. Distributive Justice Beyond Rawls and Consensus« an der Fatih Universität in der Türkei in 2013 vorgestellt.
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Rationalität als Ursprung von Moral
(B.)
Eine Welt mit Rationalität
Man stelle sich nun eine zweite Welt vor, ähnlich der unsrigen, die aus rationalen Lebewesen und teilweise rationalen Tieren besteht. Die meisten rationalen Lebewesen sind in der Lage, wohlinformierte und vernünftige Entscheidungen zu treffen. Grundsätzlich wissen die rationalen Lebewesen, wie sie sich gegenüber den Mitgliedern der eigenen Spezies verhalten sollen, gegenüber den Tieren und sogar der Natur gegenüber. Hin und wieder verhalten sich jedoch die rationalen Lebewesen gemäß ihren Instinkten, aber für gewöhnlich handeln sie gemäß ihrer Vernunft und ihren Gefühlen z. B. Mitgefühl und Fürsorge. Gibt es in einer solchen Welt Moral?
(C.)
Eine Welt mit einer rationalen Person
Man stelle sich nun eine dritte Welt vor, die eine Kombination aus den ersten beiden Welten ist. In dieser Welt – vielleicht aufgrund einer Epidemie – gibt es keine rationalen Lebewesen außer einer einzigen rationalen Person und keine rationalen Tiere. Die eine (überlebende) Person ist in der Lage, wohlinformierte und vernünftige Entscheidungen zu treffen. Von Zeit zu Zeit kommt es jedoch vor, dass die Person, ihre nicht-rationalen Mitmenschen und einige nicht-rationale Tiere aus Freude jagt und zu Tode zu foltert. Gibt es in einer solchen Welt Moral? Mit Blick auf die erste Welt scheint es gerechtfertigt zu sein, für die These zu argumentieren, dass es in dieser Welt keine Moral gibt – was man auch immer darunter verstehen mag – da es in dieser Welt keine rationalen Lebewesen und keine rationalen Tiere gibt, die entsprechend handeln oder über ihre Handlungen in irgend einer bedeutsamen Weise nachdenken könnten. Man kann diesen Lebewesen einfach keine Verantwortlichkeit für ihr Verhalten zuschreiben. Von einem externen Standpunkt aus hat es keinen Sinn, in einer solchen Welt von moralisch richtigen oder falschen Handlungen zu sprechen. Die Lebewesen in dieser Welt sind unfähig, z. B. soziale Verträge zu schließen oder sich an Traditionen zu orientieren, die Moral hervorbringen könnten. Nehmen wir einmal an, dass es in der ersten Welt entweder einen Gott oder eine vernünftige Natur gibt (was auch immer das im Detail heißen mag). Würde sich dann an der Tatsache, dass es zuvor 28 https://doi.org/10.5771/9783495820759 .
Das Gedankenexperiment der drei Welten
keine Moral in dieser Welt gab, etwas verändern? 8 Gesetzt den Fall also, dass Gott oder eine vernünftige Natur in dieser Welt existieren, könnte man dann annehmen, dass es so etwas wie Moral in dieser Welt gäbe? In der Tat scheint es vor diesem Hintergrund nicht unangemessen zu sein, davon auszugehen, dass es so etwas wie Moral gibt, welche von Gott oder der vernünftigen Natur in die Welt gebracht worden ist oder durch sie instantiiert wird. Zwei kritische Punkte müssen jedoch einschränkend bedacht werden: Zum einen bleibt dabei offen, ob die Moral direkt durch Gott oder die Natur in die Welt gebracht wird (als Quelle der Moral) oder ob sich die Moral erst dadurch offenbart, dass Gott und die Natur aufgrund ihrer Vernunftfähigkeit und damit verbundenen Einsicht in die Rationalität indirekt die Moral in die Welt bringen (d. h. als Adressaten von Moral). 9 Zum anderen bleibt zu konstatieren, dass, selbst wenn es so etwas wie Moral in dieser Welt gäbe (ob nun direkt oder indirekt von Gott oder der Natur in die Welt gebracht oder instantiiert), es für die nicht-rationalen Lebewesen unmöglich wäre, entsprechend gemäß der Moral zu handeln, da dies notwendigerweise Rationalität voraussetzt. Mit Blick auf die zweite Welt kann man davon ausgehen, dass es in einer solchen Welt Moral gibt. In der zweiten Welt gibt es rationale Lebewesen, die fähig sind, wohlinformierte und vernünftige Entscheidungen zu treffen. Z. B. ist es möglich, das Töten einer anderen Person oder Diebstahl in dieser Welt als etwas moralisch Falsches zu bestimmen. Zwei Gründe sind hierbei zentral: Zum einen wissen die rationalen Lebewesen, dass man solche Handlungen nicht tun darf, und zum anderen wissen sie ebenfalls, dass man für solche Handlungen von der moralischen Gemeinschaft zur Rechenschaft gezogen wird. In der zweiten Welt bleibt es jedoch – aufgrund der nicht weiter detaillierten Beschreibung – zunächst einmal offen, was genau die Quelle der Moral ist. Empirisch gesehen könnte es durchaus sein, dass die rationalen Lebewesen einen Gesellschaftsvertrag geschlossen haben und diesen als ihre Quelle von Moral ansehen, ohne sich auf einen metaphysisch aufgeladenen Rationalitätsbegriff beziehen zu
An dieser Stelle lassen wir einmal die schwierige Begründungsfrage der Existenz Gottes oder der einer rationalen Natur außer Acht. 9 Dies ist etwa mit der alten Platonischen Frage im Euthyphron vergleichbar, ob das Gute gut ist, weil Gott es so will, oder aber weil es unabhängig von Gott gut ist und er es aus diesen Gründen will. 8
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Rationalität als Ursprung von Moral
müssen. In diesem Sinne setzt die Idee des Gesellschaftsvertrags zwar Rationalität voraus, doch hierbei handelt es sich um den Begriff der Zweckrationalität in Kombination mit einem allgemeinen Verständnis davon, worin überhaupt der Sinn und Zweck eines Gesellschaftsvertrags besteht. Die dritte Welt stellt einen interessanten Fall dar. Man ist dazu geneigt anzunehmen, dass ein rationales Lebewesen, das seine nichtrationalen Mitmenschen und Tiere aus Spaß foltert, etwas tut, dass nicht nur höchst unmoralisch ist, sondern zudem auch als ungerecht bestimmt werden kann, da die Person das Leben der anderen nicht nur vorzeitig, sondern auch qualvoll beendet. Doch warum ist dies der Fall? Wie wir mit Blick auf den ersten Fall gesehen haben, ist die Bezugnahme auf Gott oder die Natur als Standard von Moral grundsätzlich schwer – oder sogar unmöglich – zu begründen. Es bleibt zu konstatieren, dass die erste und dritte Welt – bis auf die Existenz eines rationalen Lebewesens – die gleichen empirischen Eigenschaften teilen. Im Unterschied zur zweiten Welt kann man jedoch nicht (oder nicht mehr) auf einen Gesellschaftsvertrag oder die Tradition als Quelle von Moral verweisen, da es lediglich ein rationales Lebewesen gibt. Jedoch ist es vor dem Hintergrund einer externen Perspektive nicht unplausibel, die Handlungen dieser Person als unmoralisch und ungerecht zu bestimmen, da man argumentieren könnte, dass die Rationalität selbst als Quelle der Moral fungiert. Im Folgenden wird dieser Gedanke weiter ausgeführt und stärker plausibel gemacht.
2.3. Rationalität als Quelle von Moral Das obige Gedankenexperiment der drei Welten hat ergeben, dass Moral etwas mit Rationalität zu tun hat oder sogar in Rationalität gründet und tief in die Strukturen jener eingebettet ist. Mit anderen Worten, wenn keine Rationalität vorliegt, wird es – ontologisch gesprochen – auch keine Moral geben. Nur rationale Lebewesen sind grundsätzlich in der Lage dazu, wahrzunehmen und zu erkennen, welches die grundlegenden Normen der Moral sind. Im Allgemeinen kann man festhalten, dass sich die normativen Ansprüche von Rationalität in Lebewesen manifestieren, die in der Lage sind, zu denken, Entscheidungen zu treffen und intentional zu handeln. Dies liegt daran, dass nur rationale Lebewesen die Warum-Frage in moralischen 30 https://doi.org/10.5771/9783495820759 .
Rationalität als Quelle von Moral
Angelegenheiten stellen können, da der allgemeine Akt »Gründe zu geben« notwendigerweise Rationalität voraussetzt (im Kontext des beobachtbaren moralanalogen Verhaltens von Tieren sprechen wir jedoch von einer Proto-Moral). Einfach ausgedrückt, Moral ist in die Natur von Rationalität eingebettet, aber – so glauben wir – nicht auf rationale Lebewesen beschränkt. Was heißt das genau? Im Unterschied zu vielen moralischen Vertragstheoretikern und Anhängern einer klassischen Kantischen Position nehmen wir hingegen an, dass es in der Tat direkte Pflichten gegenüber empfindungsfähigen Tieren (und der Natur) geben könnte und dass diese in den normativen Ansprüchen von Rationalität selbst gründeten. In diesem Sinne erscheint es plausibel anzunehmen, dass eine vollständig rationale Person (= die praktisch kluge Person) nicht-rationale, aber empfindungsfähige Lebewesen bei einer moralischen Entscheidung direkt berücksichtigen würde. Wie weit die Berücksichtigung im Einzelfall geht, muss in der jeweiligen Situation bestimmt werden, da es einfachhin keine guten Gründe gibt, nicht-rationale Lebewesen per se auf eine moralisch gesehen unangemessene oder falsche Weise zu behandeln (z. B. Tiere aus Spaß zu jagen oder sie zu Tode zu foltern). Die Tatsache, dass sich z. B. Menschen in einer stärkeren Machtposition gegenüber Tieren befinden, bedeutet nicht, dass wir uns gegenüber empfindungsfähigen Tieren verhalten können, wie wir wollen (vgl. Massentierhaltung und qualvolle Tiertransporte). Dies wäre ein naturalistischer Fehlschluss. Fraglich ist aber, wie weit man diese Argumentation auf der Grundlage der inneren Logik ausdehnen kann. Sind Menschen demnach notwendigerweise auch dazu verpflichtet, keine empfindungsfähigen Tiere als Nahrungsquelle zu gebrauchen? Solche und ähnliche Fragen stünden dann im Mittelpunkt einer solchen Untersuchung, die wir hier jedoch nicht weiter verfolgen werden. Eine behutsame Anlehnung an Aristoteles mag uns zur Hilfe gereichen, um etwas mehr über das Wesen von Rationalität und den Ursprung von Moral zu erfahren. Im zehnten Kapitel des fünften Buches der Nikomachischen Ethik macht Aristoteles eine bedeutsame und weithin bekannte Unterscheidung bezüglich zweier Teile der politischen Gerechtigkeit. So schreibt er: »Das Gerechte im politischen Sinn ist teils von Natur aus gegeben (physikos), teils durch das Recht gesetzt (nomikos). Von Natur aus gerecht ist, was überall mit gleicher Kraft (dynamis) gilt und nicht davon abhängt, was die Menschen für richtig halten oder nicht« (Aristoteles EN V, 10 1134b18–21).
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Rationalität als Ursprung von Moral
Grundsätzlich sei hier angemerkt, dass Aristoteles im Allgemeinen zwei Bedeutungen von Gerechtigkeit unterscheidet: Zum einen kennt Aristoteles die besondere Gerechtigkeit, die eine Tugend unter den anderen Tugenden ist – diese Explikation war ja gerade das große Verdienst des Griechen –, und zum anderen versteht Aristoteles unter Gerechtigkeit das Gesamt der Moral bzw. die ganze Moral (Gordon 2007). Die eben zitierte Passage verdeutlicht, dass es einerseits einen universellen Kern von Gerechtigkeit bzw. der ganzen Moral gibt und andererseits unterschiedliche, positivierte Partikularmoralen, die an jeweilige Stadtstaaten rückgebunden sind. Ob es nun tatsächlich eine Art natürliche Gerechtigkeit bzw. universelle Moral gibt, die unabhängig vom Menschen existiert, oder ob Gerechtigkeit als solche – d. h. die Moral als Ganzes – immer an die Menschen rückgebunden ist, ist eine schwierige Frage. Nach Aristoteles ist »[klar,] was von dem, was anders sein kann, das von Natur aus Gerechte ist, und was vielmehr gesetzt ist und auf Übereinkunft (synthêkê) beruht« (Aristoteles EN V, 10 1134b30–33). An dieser Stelle mag man sich zwar in Erinnerung rufen, was Aristoteles im sechsten Kapitel des zweiten Buches betont, nämlich, dass es Handlungen wie Mord, Ehebruch und Diebstahl gibt, die immer moralisch verwerflich sind und somit als Handlungen gelten können, die von Natur aus ungerecht d. h. unmoralisch sind (Aristoteles EN II, 6 1107a8–15). Daraus folgt jedoch, dass wir es bei dieser Konzeption mit einer deontologischen Einschränkung (»deontological constraint«) zu tun haben, was uns grundsätzlich bei einer tugendethischen Position überraschen sollte. In der Einleitung hatten wir ja bereits kurz darauf hingewiesen, dass die Idee der billigen bzw. fairen Person (epieikês) hier weiterhelfen könnte, um herauszufinden, auf welche Weise man moralische Normen aus den präskriptiven Ansprüchen der Rationalität gewinnen könnte. In diesem Sinne beschreibt Aristoteles die faire Person als Exemplifizierung der praktischen Vernunft und Moral, da er annimmt, dass die faire Person in der Lage ist, die Lücke – die aufgrund der Allgemeinheit des Gesetzes bei der Rechtsanwendung auf den konkreten Fall entstanden ist – unter Rückgriff auf den Begriff der Fairness (epieikeia) zu schließen (vgl. Aristoteles EN V, 14). Unsere zugrundeliegende Vermutung ist, dass, wenn wir in der Lage sind, zu verstehen, wie die faire Person (bzw. der moralische Experte) die Korrektur des Gesetzes vornimmt, wir dann gleichzeitig erkennen können, wie man moralische Normen aus dem Rationali32 https://doi.org/10.5771/9783495820759 .
Rationalität als Quelle von Moral
tätsbegriff ableiten kann. Dies wäre dann der Kern einer ethischen Methode, welche wir in dieser Untersuchung weiter explizieren wollen (vgl. 4. Kapitel). An dieser Stelle erscheint es jedoch erforderlich zu sein, etwas mehr über den natürlichen Teil der politischen Gerechtigkeit zu erfahren, der überall dieselbe Gültigkeit hat, und an dem sich die faire Person bei der Korrektur des Gesetzes orientiert. Man könnte argumentieren, dass Cicero eine ähnliche Position in seinem Werk Über den Staat beschreibt, wenn er sagt, dass die Gerechtigkeit (also Moral) darin besteht, im Einklang mit der Natur zu handeln. Für ihn ist das natürliche Gesetz (=Naturgesetz) das richtige Denken in Übereinstimmung mit der Natur, welches universell, unveränderlich und ewig ist. Die Verbindung zwischen der menschlichen Natur und dem Denken (bzw. der Rationalität) ist insofern zentral, als dass damit betont wird, dass Menschen ihre wahre Natur nur dann realisieren können, wenn sie in Übereinstimmung mit dem Naturgesetz leben. Die Frage, was Gerechtigkeit (bzw. Moral) ist und warum diese gut ist, wird gleichzeitig vor diesem Hintergrund beantwortet. Cicero liefert uns eine modifizierte naturalistische Version des Arguments, wenn er davon ausgeht, dass Gott der Autor, Verkünder und Richter des Naturgesetzes ist. Damit macht sich Cicero – zumindest aus heutiger Perspektive – angreifbar, da eine erfolgreiche Lösung des Rechtfertigungsproblems der Existenz Gottes aus (säkularer) philosophischer Sicht fragwürdig erscheint. Die vergeblichen Versuche, Gottes Existenz als real auszuweisen, sind Legion. Ohne Zweifel ist Rationalität notwendigerweise ein Teil der Natur, es sei denn, dass sie mit Gott verbunden und damit Teil der »Supernatur« wird. Die zugrundeliegende Frage ist jedoch die, ob die Natur – symbolisch gesprochen – die Personifizierung von Rationalität ist oder sie – metaphysisch gesprochen – eine Art Seiendes darstellt, das über eine vollkommene Rationalität verfügt und damit als Standard für andere rationale Lebewesen gilt. Nehmen wir einmal an, dass wir die These akzeptieren, dass die Natur mit Rationalität ausgestattet ist, dann bestünde die genuine Aufgabe darin, die Existenz und Prüfbarkeit der echten moralischen Ordnung – unabhängig von der Existenz Gottes – zu bestimmen. Aber selbst wenn wir die Natur – die unabhängig von Gott existiert – als ein Symbol für Rationalität ausweisen, erscheint es unmöglich, irgendwelche bedeutungsvollen normativen Aussagen aus ihr abzuleiten. Ontologisch gesehen ist die Natur opak, wodurch jede Möglichkeit des Aufweisens von Rationalität unterminiert wird; der Versuch, bedeutungsvolle normative 33 https://doi.org/10.5771/9783495820759 .
Rationalität als Ursprung von Moral
Aussagen aus der Natur abzuleiten, wäre gleichbedeutend mit dem Versuch, das Unhintergehbare zu umgehen. Folglich müssen wir konstatieren, dass man die Frage, auf welche Weise man den natürlichen Teil von Gerechtigkeit bestimmt, nicht mit Bezug auf das Wesen der Natur – weder symbolisch noch metaphysisch – beantworten kann. Auf der anderen Seite greift die Annahme, dass jede Form von Gerechtigkeit bzw. Moral auf Menschen beruht, zu kurz, da man immer die Frage stellen kann, ob dasjenige, worauf sich die Menschen vertraglich geeinigt haben, auch wirklich gerecht bzw. moralisch richtig ist. Ein Beispiel: Ein politisches System, das systematisch Frauen aufgrund ihres Geschlechts diskriminiert, ist ungerecht und moralisch falsch, vollkommen unabhängig davon, ob die meisten Menschen in dieser Gesellschaft darin übereinstimmen oder nicht. Dies eröffnet uns die Möglichkeit, über Moral als etwas tief in Rationalität Eingebettetes nachzudenken, als etwas, das nicht in der Natur, Tradition oder Religion fundiert ist.
2.4. Der Pluralismus-Einwand Nicht wenige Philosophen und Ethiker sowie die meisten Anthropologen (wie Ruth Benedict) behaupten hingegen, dass die Moral aufs Engste mit den jeweiligen – ganz unterschiedlichen – Kulturen verwoben ist (kultureller Relativismus) und argumentieren dafür, dass die Moral grundsätzlich sowohl relativ als auch abhängig vom Menschen ist (normativer moralischer Relativismus). Wenn der moralische Relativismus 10 in seinen unterschiedlichen Ausprägungen richtig ist, dann könnte man ebenfalls ohne Einschränkung mit Recht behaupten, dass die folgenden Aussagen – zumindest für eine staatliche oder kulturelle Gemeinschaft – moralisch richtig und angemessen sind: Für gewöhnlich werden drei unterschiedliche Formen des moralischen Relativismus unterschieden: Kultureller Relativismus (Kultur und Moral sind relativ zu den jeweiligen Gesellschaften), metaethischer Relativismus (extreme Version: moralische Aussagen sind weder objektiv wahr noch falsch; moderate Version: es gibt einen kleinen Kern von objektiv wahren und falschen moralischen Aussagen, darüber hinaus sind alle anderen moralischen Aussagen weder moralisch wahr noch falsch) und normativer moralischer Relativismus (eine Handlung ist moralisch verpflichtend, wenn sie von der Gesellschaft als solche vorgeschrieben ist). Für einen guten Einstieg in die moderne Diskussion ist Carson und Moser (2001) zu empfehlen.
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Der Pluralismus-Einwand
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Das Kastensystem in Indien ist gerecht. Das Apartheidssystem in Südafrika war gerecht. Der Völkermord an den Juden im Nationalsozialismus war gerecht. Die Exklusion der Sinti und Roma im Bildungssystem in Ungarn ist gerecht. Die weibliche Genitalverstümmelung ist moralisch richtig. Die Institution der Sklaverei ist gerecht. Die soziale Exklusion von Menschen mit Behinderung war gerecht. (…)
Diese Liste ließe sich noch beliebig weiter fortführen. Vor diesem Hintergrund erscheint die These des normativen moralischen Relativismus wenig plausibel, moralisch unangemessen sowie gefährlich zu sein. Ein echter moralischer Relativist müsste aus der inneren Logik seiner Position heraus die obigen Aussagen zumindest für eine Gruppe von Menschen bzw. einer (staatlichen) Gemeinschaft – in der solche Aussagen moralisch legitimiert sind – als moralisch richtig ausweisen. Moralische Relativisten verweisen häufig darauf, dass die Quelle der Moral in der Tradition, sozialen Übereinkünften oder Machtverhältnissen etc. liegt und somit besser legitimiert ist, als die Vorstellung, dass es unabhängig vom Menschen universelle moralische Tatsachen gibt (extremer metaethischer Relativismus). Ruth Macklin bringt das Problem des moralischen Relativismus auf den Punkt, wenn sie in ihrem Buch Against Relativism. Cultural Diversity and the Search for Ethical Universals in Medicine (1999) folgendes schreibt: »A long-standing debate surrounds the question whether ethics are relative to time and place. One side argues that there is no obvious source of a universal morality and that ethical rightness and wrongness are products of their cultural and historical setting. Opponents claim that even if a universal set of ethical norms has not yet been articulated or agreed upon, ethical relativism is a pernicious doctrine that must be rejected. The first group replies that the search for universal ethical precepts is a quest for the Holy Grail. The second group responds with the telling charge: If ethics were relative to time, place, and culture, then what the Nazis did was »right« for them, and there is no basis for moral criticism by anyone outside the Nazi society.« (Macklin 1999: 4)
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Rationalität als Ursprung von Moral
Der Common Sense sagt uns, dass etwas mit einer Person nicht stimmt, wenn sie glaubt, dass z. B. die Vernichtung bzw. der Versuch der Vernichtung der europäischen Juden im Nationalsozialismus moralisch gesehen rechtens gewesen ist. Offenkundig würden wir es dann bei der Person mit einer extremen ideologischen Verblendung – und Missachtung menschlichen Lebens – zu tun haben, die ihrerseits gegen Rationalität immunisiert ist. Das Nennen von guten Gründen und das Abwägen dieser ist Teil der Aufgabe von Rationalität. Eine rationale Person, die nicht durch religiösen Extremismus, einer zweifelhaften Tradition, oder idiosynkratische Verblendung indoktriniert wurde, würde ohne jeden Zweifel die obigen Aussagen ablehnen, da diese mit einer wohlverstandenen Form von Rationalität bzw. praktischer Klugheit unvereinbar sind. An dieser Stelle ist es ratsam, den Begriff von Rationalität als praktische Klugheit etwas stärker in den Blick zu nehmen und gegen eine mögliche (unangemessene) Verwendungsweise abzugrenzen (im 4. Kapitel werden wir dann den Begriff von Rationalität inhaltlich stärker ausdifferenzieren). Im dreizehnten Kapitel des sechsten Buches über Die Vernunfttugenden der Nikomachischen Ethik grenzt Aristoteles den Begriff der Klugheit (phronêsis) gegenüber den der Geschicklichkeit (deinotês) mit folgenden Worten ab: »Es gibt ja ein Vermögen, das man »Geschicklichkeit« (deinotês) nennt. Dieses ist so geartet, dass es zu tun und zu erreichen vermag, was zum festgesetzten Zielpunkt führt. Wenn nun der Zielpunkt werthaft (kalos) ist, ist es lobenswert, wenn aber schlecht, handelt es sich um Verschlagenheit (panourgia). Deswegen nennen wir sowohl die Klugen als auch die Verschlagenen geschickt. Nun ist die Klugheit nicht identisch mit dieser Fähigkeit, existiert jedoch nicht ohne sie.« (Aristoteles EN VI, 13 1144a23–29)
Pierre Aubenque hat in seiner Untersuchung Der Begriff der Klugheit bei Aristoteles (2007) mit Recht zwei wesentliche Unterschiede dabei herausgestellt: Zum einen betont Aubenque, dass sich der Begriff Klugheit nicht auf ein Teilziel richtet, sondern als ein Vermögen darauf ausgerichtet ist, »zu erkennen, »was das menschliche Leben gut und glücklich […] macht« (VI, 5, 1140a26–28), mit anderen Worten: die Mittel, die geeignet sind, das Glück zu erreichen.« (Aubenque 2007: 189). Zum anderen weist er darauf hin, dass »die Klugheit nur in Begleitung der moralischen Tugend auftritt (VI, 3, 1144a27–36)« und wählt dafür eine treffende Formulierung, nämlich: »Die Klugheit
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Der Pluralismus-Einwand
ist eine tugendhafte Geschicklichkeit, sie ist die Geschicklichkeit des Tugendhaften.« (Aubenque 2007: 189). In Anlehnung an Aristoteles verstehen wir somit unter Rationalität bzw. praktischer Klugheit nicht eine neutrale Zweckrationalität, wie sie etwa durch den Begriff der Geschicklichkeit anklingt, sondern eine Rationalität, die immer schon auf das normativ Gute ausgelegt ist. Zwangsläufig stellt sich dann die Frage, welche Konzeption des Guten wir unserem Rationalitätsbegriff denn zu Grunde legen wollen und ob diese offen für eine Vielzahl anderer Vorstellungen des Guten ist. Dies ist eine berechtigte Frage, greift aber mit Blick auf unseren Punkt zu kurz. Das Ziel besteht nicht darin, eine partikulare Vorstellung des Guten zu entwickeln, die dann den Rationalitätsbegriff engführt. Vielmehr wird davon ausgegangen, dass unser Begriff des Guten die genuine Grundlage (also den Kern) aller berechtigten normativen Ansprüche bildet, die sich aus dem Rationalitätsbegriff herleiten lassen. 11 Demnach ist der moralische Relativismus insofern zurückzuweisen, als dass er bestimmte Konzeptionen des Guten – die sich z. B. in den oben genannten Aussagen ausdrücken – als legitim ausweist, die den normativen Kern eines wohlverstandenen Rationalitätsbegriffs klar unterminieren. Es ist bereits deutlich geworden, dass wir den moralischen Relativismus – zumindest in seiner kruden Form – ablehnen. Es könnte jedoch vorgebracht werden, dass eine ethische Methode mit einer bestimmten Form des moralischen Relativismus kompatibel gemacht werden kann. Dabei geht es um die moderate metaethische Version des Relativismus, die zwei Aspekte in den Vordergrund stellt: Zum einen wird angenommen, dass es einen kleinen universellen Kern von objektiv wahren und falschen Aussagen gibt, und zum anderen wird dafür argumentiert, dass alle anderen moralischen Aussagen weder objektiv wahr noch falsch sind. Damit gäbe es eine Möglichkeit, die Objektivität der Moral – zumindest im Kernbereich moralischer Aussagen – zu verteidigen. Auf den ersten Blick erscheint diese spezifische Variante des Relativismus gerade vor dem Hintergrund der empirischen Belege für die Annahme eines kulturellen Relativismus vielversprechend zu sein. Auf den zweiten Blick bleibt jedoch zu konstatieren, dass nicht nur ein kleiner und universeller Kern moralischer Aussagen objektiv richtig oder falsch sein kann, sondern geDies ist in etwa mit dem Anspruch von Wittgensteins Regeln der Argumentation für einen rationalen Diskurs vergleichbar.
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Rationalität als Ursprung von Moral
rade im Rahmen einer Ethik als Methode dafür argumentiert werden kann, dass hier ein echter interkultureller und objektivistischer Dialog in der Moral möglich ist.
2.5. Empfehlungen für eine ethische Methode Das Gedankenexperiment der drei Welten hat gezeigt, dass Moral in Rationalität gründet und somit etwas ist, dass weder durch die Menschen (mittels eines Gesellschaftsvertrags), die Religion (Gott) oder eine vernünftige Natur in die Welt gebracht worden ist. Es wurde bereits darauf hingewiesen, dass unser Begriff von Rationalität nicht durch eine neutrale Zweckrationalität zu erklären ist, sondern genuine normative Vorstellungen enthält. Diese normativen Vorstellungen unterminieren aufgrund des objektiven und universellen Charakters jedwede Form des moralischen Relativismus. 12 An dieser Stelle soll lediglich der Gedanke vorbereitet werden, dass partikulare moralische Aussagen bzw. Urteile objektiv fundiert sein und durch eine ethische Methode Anwendung finden können. In diesem Sinne kann man die Ethik als Methode als zentralen Dreh- und Angelpunkt zwischen einer objektiven Vorstellung von Moral und unterschiedlichen Partikularmoralen verstehen, die ein Höchstmass an Kontextsensitivität mit Blick auf das moralische Räsonieren abverlangen. Mit anderen Worten: Praktisch kluge Personen – so der Anspruch – werden in derselben Situation dasselbe moralische Urteil fällen (vgl. 4. und 5. Kapitel). Die ethische Methode muss also vermeiden, dass sie in das Fahrwasser des Relativismus gerät, und darf sich nicht dem Vorwurf der Beliebigkeit aussetzen lassen. Im Gegenteil, da die Moral tief in den Rationalitätsbegriff eingebettet ist, besteht die Hoffnung, dass sich der objektive Charakter der genuinen normativen Vorstellungen auf die ethische Methode überträgt. Wie das möglich ist, wird in den nächsten beiden Kapiteln ausgeführt.
Auf welche Weise der Universalismus und Partikularismus in moralischen Urteilen zusammen gedacht werden kann, wird im nächsten Kapitel gezeigt.
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3. Objektivität in der Ethik und moralische Urteile 3.1. 3.2. 3.3. 3.4.
Ayn Rand’s Ethischer Objektivismus 40 Was sind moralische Urteile? 44 Moralischer Intuitionismus 47 Über die Phänomenologie moralischer Fälle – Eine Kategorisierung 52 3.5. Moralische Urteile zwischen Universalismus und Partikularismus 56 3.6. Empfehlungen für eine ethische Methode 57
Im letzten Kapitel haben wir dafür argumentiert, dass es keine Moral ohne Rationalität gibt, sondern Moral tief in Rationalität eingebettet ist. Der Rationalitätsbegriff – so haben wir ausgeführt – enthält bereits normative Strukturen, die einer jeden Vorstellung davon, was das Gute ist, vorgeordnet ist. Die eher allgemein gehaltenen Überlegungen dazu sollen nun weiter vertieft werden. Dazu wird zunächst auf die objektivistische Konzeption der Ethik von Ayn Rand 13 – einer bekannten und einflussreichen russisch-amerikanischen Philosophin und Literatin des 20. Jahrhunderts – eingegangen und im Anschluss daran wird unsere eigene Position entwickelt. Rands Konzeption deckt sich in unterschiedlichen Punkten mit der hier vorgeschlagenen und ist somit als Startpunkt für die weitere Vertiefung gut geeignet.
Obwohl Ayn Rand als eine Ikone der amerikanischen Literatur des 20. Jahrhunderts gefeiert wird, bleibt zu konstatieren, dass ihr akademischer Einfluss in der Philosophie eher gering ist. Auch wenn sich mehr und mehr Kollegen in den letzten Jahrzehnten mit Rand und insbesondere ihrer Ethik beschäftigt haben (z. B. Tara Smith 2007), gilt ihr philosophisches Werk insgesamt als schwer verständlich und teils inkohärent. An dieser Stelle sind wir jedoch nicht daran interessiert, Rand gegen ihre Kritiker in Schutz zu nehmen. Vielmehr hat uns ihre objektivistische Ethik einige philosophisch wertvolle Denkanstöße gegeben, die wir im Folgenden weiterentwickeln wollen.
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Objektivität in der Ethik und moralische Urteile
3.1. Ayn Rands Ethischer Objektivismus Ayn Rand führt ihre objektivistische Konzeption von Ethik in ihren beiden philosophischen Werken The Virtue of Selfishness. A New Concept of Egoism (1964 14) und Introduction to Objectivist Epistemology (1990) aus. 15 Nach Rand ist Ethik: »[…] not a mystic fantasy – nor a social convention – nor a dispensable, subjective luxury, to be switched or discarded in any emergency. Ethics is an objective, metaphysical necessity of man’s survival – not by the grace of the supernatural nor of your neighbors nor of your whims, but by the grace of reality and the nature of life […] The standard of value of the Objectivist ethics – the standard by which one judges what is good or evil – is man’s life, or: that which is required for man’s survival qua man. Since reason is man’s basic means of survival, that which is proper to the life of a rational being is the good; that which negates, opposes or destroys it is the evil.« (Rand 1964: 24–25)
In deutlichen Worten formuliert Rand, dass Ethik eine metaphysische Notwendigkeit des menschlichen Überlebens darstellt und somit nicht auf sozialer Konvention (Vertrag), subjektiven Überzeugungen (Subjektivismus) oder mystischen 16 Phantasien (Religion) fußt, sondern der Wirklichkeit selbst und der Natur des menschlichen Lebens – die Rand als den Wertmaßstab der objektiven Ethik begreift – geschuldet ist. Das menschliche Überleben wird im Rekurs auf seine Fähigkeit zu denken gesichert. Es gibt also nach Rand eine unabhängige Realität – auch im Bereich der Ethik und Moral –, die wir objektiv im Rekurs auf Tatsachen und durch das Denken erschliessen können. Mit objektiv meint Rand: »neither revealed nor invented, but as produced by man’s consciousness in accordance with the facts of reality, as mental integrations of factual data computed by man – as the products of a cognitive method of classification whose processes must be performed by man, but whose content is dictated by reality.« (Rand 1990: 54).
Das Buch hat Rand zusammen mit Nathaniel Branden herausgegeben und stellt einen Sammelband von wichtigen Aufsätzen und Vorträgen der beiden Autoren dar. Für uns ist der erste Beitrag The Objectivist Ethics (erstmals 1961 erschienen) zentral. 15 Für eine detaillierte Beschreibung ihrer Position vgl. auch den lesenswerten Aufsatz von Machan (2008: 100–125). 16 Damit meint Rand »any claim to some nonsensory, nonrational, nondefinable, supernatural source of knowledge« (Rand 1964: 28–29). 14
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Ayn Rands Ethischer Objektivismus
Machan interpretiert diese Passage mit Recht dahingehend, dass die Realität für Rand – ontologisch gesprochen – unabhängig vom Menschen ist, wobei sie im Bereich der Ethik eine personen-relative Objektivität annimmt, bei der es zentral ist, dass die Realität die Natur des Menschen und den Aspekt, worin das gute menschliche Leben für uns besteht, einbezieht (vgl. auch Machan 2008: 103). 17 Für Rand ist das menschliche Leben qua menschliches Leben immer schon normativ geprägt, da die Menschen versuchen, ihre universelle menschliche Natur zu verwirklichen und ein gutes menschliches Leben zu leben 18 (vgl. 1964: 14–18). In diesem Sinne hat Machan ganz recht, wenn er Folgendes dazu schreibt: »In the Randian sense of objective morality, the principles of ethics emerge and are true because they further the goal one has acknowledged one has in life, something fundamental that the agent has decided (at the moment conceptualisation has commenced): namely, to embark on living a human life.« (Machan 2008: 119)
Rands Ethik setzt nach Machan zwei Aspekte voraus (Machan 2008: 120): Zum einen Willensfreiheit und zum anderen das Denken (ohne welches die Menschen nicht in der Lage wären, die ethischen Richtlinien und Tugenden, die für das menschliche Verhalten bestimmend sind, zu erfassen). Hierzu zählen nach Rand vor allem die drei Kardinalwerte Vernunft (reason), Intentionalität (purpose) und Selbstachtung (self-esteem) sowie ihre korrespondierenden Tugenden Rationalität (rationality), Ergiebigkeit (productiveness) und Stolz (pride), die zusammengenommen das Mittel für und die Realisierung des finalen Ziels – das eigene menschliche Leben – sind (Rand 1964: 27). 19 Ferner Die Natur des Menschen wird durch Erfahrung und Reflexion über die menschliche Natur – was es heisst, ein menschliches Leben zu führen – bestimmt (vgl. Machan 2008: 121). 18 Deutlich in Anlehnung an neo-Aristotelische naturalistische Überlegungen der Natur des Menschen wie sie z. B. auch bei Martha Nussbaum in Therapy of Desire (1994) und Philippa Foot in Natural Goodness (2001) anzutreffen sind. 19 »Productive work is the central purpose of a rational man’s life, the central value that integrates and determines the hierarchy of all his other values. Reason is the source, the precondition of his productive work – pride is the result.« (Rand 1964: 27). Rationalität bedeutet für Rand die Anerkennung und Annahme der Vernunft als einzige Quelle von Wissen (1964: 28), Ergiebigkeit ist in Rand’s Worten »not the degree of a man’s ability nor the scale of his work that is ethically here, but the fullest and most purposeful use of his mind« (1964: 29) und unter Stolz versteht sie »moral ambitiousness« im Sinne der Selbstverwirklichung des Menschen als tugendhafte Person, die es Wert ist erhalten zu bleiben (1964: 29). 17
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Objektivität in der Ethik und moralische Urteile
ist für Rand Individualität wesentlich, insofern die eigene Glückseligkeit das höchste moralische Ziel darstellt und jede Person rational egoistisch ist. Was ist damit gemeint? Sie schreibt: »The basic social principle of the Objectivist ethics is that just as life is an end in itself, so every living human being is an end in himself, not the means to the ends or the welfare of others – and, therefore, that man must live for his own sake, neither sacrificing himself to others nor sacrificing others to himself. To live for his own sake means that the achievement of his own happiness is man’s highest moral purpose.« (Rand 1964: 30) und »The Objectivist ethics proudly advocates and upholds rational selfishness – which means: the values required for man’s survival qua man – which means: the values required for human survival […]« (Rand 1964: 34)
An dieser Stelle verweist Rand darauf, dass sich Menschen weder selbst noch andere instrumentalisieren dürfen, sondern sich selbst als Ziel an sich verstehen müssen und um ihrer selbst willen leben sollen (d. h. um ihrer eigenen Glückseligkeit willen). Rationales Eigeninteresse bestimmt die Natur des Menschen und sein Überleben. Ethische Prinzipien und Werte etc. existieren nach Rand nicht unabhängig vom Menschen, wie es der moralische Realismus fordert, sondern sie nimmt an, dass diese an die Denkfähigkeit des Menschen (oder vergleichbarer Wesen) rückgebunden sind (vgl. unser 3-Welten-Gedankenexperiment). Machan bemerkt dazu Folgendes: »[…] without human beings or some beings very much like them, there would be no principles of ethics or virtues. For Rand, ethics emerges with human (or possibly some very similar) life only. Once we have human beings living their lives, ethics does apply to them, and this is knowable by us as an objective fact. Nonetheless, there is something conditional about this type of objectivity, namely, the fact that human life is a free option to each individual.« (Machan 2008: 124)
Die objektivistische Konzeption von Rand – die freilich nur in groben Zügen nachgezeichnet worden ist – gibt uns dennoch einige wichtige Punkte an die Hand, die teilweise mit unseren Überlegungen übereinstimmen und uns dazu einladen, unsere Position weiter zu verfeinern. Rand argumentiert dafür, dass es unabhängig vom Menschen bzw. einer rationalen Lebensform keine Moral geben kann. Daraus kann man schließen, dass Moral notwendigerweise das Gewahrwerden von Moral im Denken voraussetzt. Dies setzt wiederum voraus, dass es so etwas wie »das Denken« gibt, mit dessen Hilfe wir die ethischen Richtlinien – die das menschliche Handeln anleiten – ob42 https://doi.org/10.5771/9783495820759 .
Ayn Rands Ethischer Objektivismus
jektiv erkennen können. Wir gehen jedoch – in Kontrastierung zu Rand – davon aus, dass es eine nur-rationale Moral ohne Instantiierung im Menschen oder anderen rationalen Lebewesen gibt; es aber aufgrund unserer anthropologischen Beschränktheit logisch unmöglich ist, mit Gewissheit zu bestimmen, welches die normativen Grundlagen einer solchen reinen praktischen Vernunft wären (s. u.). In Anlehnung an Rand – die diesen Aspekt nur am Rande thematisiert hat – könnte man dafür argumentieren, dass die Natur des Menschen zwar für die Beantwortung der Frage nach dem guten menschlichen Leben und damit auch für die spezifische Version ethischer Richtlinien für den Menschen zentral ist, es aber durchaus problematisch ist, wenn es sich bei den rationalen Lebewesen um eine andere Spezies handeln würde. In diesem Fall müsste man dann zunächst die Natur der jeweiligen Spezies bestimmen, um daraufhin die spezifischen ethischen Richtlinien für diese bestimmte Spezies herausarbeiten zu können. Wir sind also mit einem zweistufigen System konfrontiert: Dabei wird von der Vorstellung ausgegangen, dass die je eigene Verfasstheit der Natur einer rationalen Spezies als wichtiges Fundament für Normativität anzusehen ist, und in Kombination mit dem Denken ethische Richtlinien objektiv erkannt werden können. Bevor es weitergeht, ist es jedoch wichtig noch einmal auf den Punkt zurückzukommen, warum wir im Gegensatz zu Rand glauben, dass es auch dort Moral gibt, wo keine rationalen Lebewesen existieren. Diese Position verpflichtet sich dem moralischen Realismus und nimmt an, dass es unabhängig vom Menschen (oder anderen rationalen Lebewesen) moralische Tatsachen gibt, die in die Struktur von Rationalität eingeschrieben sind. Wenn es also eine mögliche Welt ohne Rationalität gäbe, dann gäbe es folglich auch keine moralischen Tatsachen, da diese notwendigerweise in die normative Tiefenstruktur des Denkens selbst eingelassen sind. Die entscheidende Frage ist dann, wie man sich vorstellen kann, dass es ein Denken ohne denkendes Subjekt geben könnte. Ohne Zweifel befinden wir uns hier in den Tiefen einer Ontologie des Seins vom Denken als ein denkendes Denken, das nicht instantiiert ist. Hierbei haben wir es mit einem reinen Denken zu tun, das ist, ohne instantiiert zu sein. Mit den Werkzeugen der analytischen Philosophie lässt sich dies nur schwer erfassen, so dass man – um diesen zentralen Gedanken würdigen zu können – eine vollständige Seinsmetaphysik des Denkens entfalten müsste. Für unsere Zwecke würde dies jedoch zu weit führen und uns vom Kurs 43 https://doi.org/10.5771/9783495820759 .
Objektivität in der Ethik und moralische Urteile
abbringen. In der vorliegenden Untersuchung geht es im Folgenden nicht darum, eine Seinsmetaphysik des reinen Denkens oder eine Ethik für nur-rationale Lebewesen zu entwickeln, sondern darum, eine ethische Methode zu beschreiben, die darauf verpflichtet ist, sowohl der Natur des Menschen gerecht zu werden als auch die Idee einer praktisch klugen Person – die sich im Denken orientiert – in den Mittelpunkt zu stellen.
3.2. Was sind moralische Urteile? Die folgenden Ausführungen zum Begriff des moralischen Urteils orientieren sich an einer Herangehensweise, die sich am Common Sense anlehnt und den Anspruch erhebt, von den Phänomenen ausgehend, die unterschiedlichen Bedeutungsweisen zu verstehen und zu klären. Nehmen wir folgendes Beispiel an, das den Hintergrund für unsere folgende Analyse moralischer Urteile bildet: Ein Vater findet Gefallen daran, hin und wieder seine Zigaretten auf dem Körper seiner 3-jährigen Tochter namens Hanna auszudrücken. Das moralische Urteil lautet hier: Der Vater verhält sich unmoralisch und grausam; er sollte für das Foltern seiner Tochter bestraft werden. In der metaethischen Tradition werden moralische Urteile im Allgemeinen gemäß ihrer sprachlichen Bedeutung bzw. ihrer Semantik voneinander unterschieden. Es gibt zumindest drei unterschiedliche Hauptvarianten: Den Deskriptivismus (normative Urteile haben eine rein beschreibende Funktion, die den Sachverhalt darstellen), den Emotivismus (normative Urteile haben eine rein emotive Funktion, bei der der Gefühlsausdruck des Sprechers im Vordergrund steht und Gefühle im Adressaten geweckt werden sollen) und den Präskriptivismus (normative Urteile haben eine rein präskriptive Funktion und sollen das Verhalten des Adressaten durch Richtlinien steuern). Freilich können die Hauptvarianten in ihrer formalen Ausprägung (von extrem bis moderat) variieren und teilweise die anderen Bedeutungselemente – allerdings nur unvollkommen – integrieren. Die extremen Varianten werden z. B. im Emotivismus von Alfred J. Ayer (1936) und im Präskriptivismus von Richard M. Hare (1952) vertreten, die beide annehmen, dass moralische Urteile eine rein sprachpragmatische Funktion haben und von Natur aus nicht – wie deskriptive Urteile – wahrheitsfunktional sind. Zum Beispiel: Im Kontext des (extremen) Emotivismus wäre das 44 https://doi.org/10.5771/9783495820759 .
Was sind moralische Urteile?
moralische Urteil mit Blick auf das Beispiel von Hanna dahingehend auszudeuten, dass diejenige Person, die das moralische Urteil fällt – der Vater verhält sich unmoralisch und grausam; er sollte für das Foltern seiner Tochter bestraft werden – lediglich ihre eigene individuelle emotive Haltung zum Ausdruck bringt, die keinen Anspruch auf Universalität hätte und die nur an die Gefühle des Vaters appelliert, sich anders zu verhalten. Wir lehnen eine solche Verkürzung der Bedeutung sprachlicher Äußerungen mit Blick auf die Natur moralischer Urteile ab, da sie der Komplexität des moralischen Lebens nicht gerecht wird. Moralische Urteile sind offenkundig Urteile, die sowohl deskriptiv als auch emotiv und präskriptiv sind, um die Komplexität der Moral angemessen beschreiben zu können. Wir nennen dies die Multifunktionalität der sprachlichen Bedeutung moralischer Urteile. Das Beispiel von Hanna zeigt deutlich, dass es einfach nicht sinnvoll und angemessen ist, hier eine Engführung vorzunehmen. Eine angemessene semantische Beschreibung mit Blick auf den Fall von Hanna würde demnach drei Aspekte einschließen: (1.) Es wird im moralischen Urteil ein wahrheitsfähiger moralischer Sachverhalt beschrieben (deskriptive Funktion); (2.) der Sprecher drückt im Urteil sein Gefühl bezüglich der Behandlung von Hanna aus und will die Gefühle, wie z. B. Mitleid, beim Vater ansprechen (emotive Funktion) und (3.) es erscheint geboten, das Verhalten des Vaters zu steuern (präskriptive Funktion). Moralische Urteile werden gewöhnlich durch zwei weitere Aspekte charakterisiert: Zum einen wird angenommen, dass moralische Urteile sprachliche Äußerungen sind 20 und moralische Überzeugungen darstellen. Zum anderen wird die Frage nach dem Status moralischer Überzeugungen stärker in den Blick genommen. Erstens: Grundsätzlich kann man zwischen zwei unterschiedlichen Positionen – eine enge und eine weite Bedeutung – bezüglich der Wahrheitsfunktionalität sprachlicher Ausdrücke unterscheiden: Die enge Bedeutung lehnt sich an Wahrheitstheorien an und die weite Bedeutung bezieht sich auf die Diskursfähigkeit sprachlicher Ausdrücke (d. h. das Abwägen von Argumenten ist hier zentral), wie es bei der Ethik als Methode wesentlich ist. Zweitens: Moralische Überzeugungen sind das, was man als mentale Zustände von moralischen Urteilen bezeichnen kann. Dies ist unproblematisch. Problematisch ist hingegen die 20 vgl. die Multifunktionalität moralischer Urteile und die Frage ihrer Wahrheitsfunktionalität.
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Objektivität in der Ethik und moralische Urteile
traditionelle Vorstellung, dass es sich bei moralischen Urteilen entweder um wahrheitsfunktionale Glaubenszustände oder um nichtwahrheitsfunktionale Pro-Einstellungen bzw. Wünsche handelt. Die zentrale Frage ist also, welche Form, d. h. »direction of fit«, moralische Überzeugungen haben? Mit Blick auf die erste Position (Glaubenszustände) wird argumentiert, dass die Welt die jeweiligen moralischen Überzeugungen wahr oder falsch macht, wobei es aber noch eine spezielle Motivation braucht, um die Ausführung der Handlung zu initiieren (Externalismus). Die entscheidende Frage ist hierbei, ob es noch irgendwelche zusätzlichen Motive gibt, nach einer als richtig angesehenen moralischen Überzeugung zu handeln (Warum soll ich also moralisch sein?). Im Verlauf der Geschichte der Ethik wurde hier z. B. auf prudentielle Gründe verwiesen (vgl. die Vertragstheoretiker). Mit Blick auf die zweite Position (Pro-Einstellungen) wird argumentiert, dass die Befürwortung oder Ablehnung eines moralischen Sachverhalts nicht wahrheitsfunktional ist, sondern der je eigene Wunsch im Vordergrund steht, dass die Welt sich den eigenen moralischen Überzeugungen anpassen möge (Wie sollte also die Welt in meinen Augen beschaffen sein?). Bei dieser Position braucht es kein weiteres Motiv für die Ausführung der Handlung, da hier die Rechtfertigung und Motivation zusammenfallen (Internalismus). Die Literatur zu diesem Thema ist Legion. Die Multifunktionalität moralischer Urteile und die Annahme der Komplexität des moralischen Lebens unterminieren diese bisher als fundamental angenommene Unterscheidung bezüglich der Form moralischer Überzeugungen. Moralische Urteile sind also weder reine Glaubenszustände noch reine Pro-Einstellungen. Moralische Urteile sind beides. Wir nennen dies die Hybridität moralischer Urteile. Das Beispiel von Hanna mag dies einmal mehr verdeutlichen: Jede Person, die gelernt hat, was Grausamkeit ist, erkennt Fälle von Grausamkeit, wenn sie vorliegen. Die moralische Überzeugung, dass der Vater sich unmoralisch und grausam verhält sowie für das Foltern seiner Tochter bestraft werden sollte, wird ohne Zweifel durch die Welt – genauer gesagt durch die normative Struktur im Rationalitätsbegriff – wahrheitsfunktional bestimmt (d. h. moralische Urteile als Glaubenszustand). Gleichzeitig ist es aber ebenfalls richtig davon auszugehen, dass diejenigen, die das Urteil fällen, auch wollen, dass sich die Welt nach ihren moralischen Überzeugungen richtet, nämlich, dass der Vater davon ablässt, Hanna weiter zu misshandeln, und er 46 https://doi.org/10.5771/9783495820759 .
Moralischer Intuitionismus
für seine grausamen Taten zur Verantwortung gezogen wird (d. h. moralische Urteile als Pro-Einstellungen). Es wäre jedoch unplausibel und moralisch unangemessen, wenn man im Rahmen der externalistischen Position auch noch ein zusätzliches Handlungsmotiv dafür verlangte, wenn bereits mit Blick auf die Welt festgestellt wurde, dass das Foltern der Tochter moralisch falsch ist. Dies wäre ein klassischer Fall für »One thought too many!«. Im Kontext einer internalistischen Position hingegen würde die Wahrheitsfunktionalität des moralischen Urteils mit Blick auf den Vater zu einer rein sprachpragmatischen Funktion degradiert und damit moralisch gesehen im Rahmen einer Common Sense Position unverständlich bleiben. Das grausame Foltern der Tochter ist moralisch falsch und hängt nicht von einer wie auch immer gearteten (sprachpragmatischen) Pro-Einstellung von Personen ab. Die oben explizierte Idee der Multifunktionalität und Hybridität moralischer Urteile wird in den folgenden Teilen des Kapitels weiter ausgeführt und plausibel gemacht. Vor allem wird dafür argumentiert werden, dass ein Teil der moralischen Urteile im Sinne eines moralischen Realismus zu verstehen sind. Diesbezüglich wird gezeigt, dass moralische Intuitionen angemessen sind, um die moralischen Tatsachen erkenntnistheoretisch einzuholen. D. h. wir werden in klaren Fällen einen metaethischen Intuitionismus im Rahmen eines nicht-reduktionistischen Kognitivismus vertreten (vgl. 3.4. Tabelle 1). Was dies genau im Einzelnen heißt, wird im Folgenden schrittweise expliziert.
3.3. Moralischer Intuitionismus Im vorherigen Abschnitt ist uns an zwei Stellen ein allgemeines und tiefverwurzeltes methodisches Problem in der Ethik und Moralphilosophie begegnet, das man nur durch eine radikale Lösung abschütteln kann. Dabei geht es um künstlich geschaffene Unterscheidungen, die – einmal gefällt – den Gang aller nachfolgenden Argumentationen bestimmen und wie ein künstlich geschaffenes Korsett keinen Freiraum mehr für Entwicklung bieten. Dies ist umso problematischer, wenn es sich bei den Unterscheidungen um Klassifizierungen handelt, die den komplexen Phänomenen nicht mehr gerecht werden können. Wir nennen dies die Künstlichkeit moralischer Unterscheidungen in der Ethik. Damit sind freilich nicht alle künstlich geschaf47 https://doi.org/10.5771/9783495820759 .
Objektivität in der Ethik und moralische Urteile
fenen Unterscheidungen gemeint, sondern nur diejenigen, die man nicht mit der Komplexität der moralischen Phänomene in Einklang bringen kann (vgl. hierzu die Multifunktionalität und Hybridität moralischer Urteile). Das Problem der Künstlichkeit wird sich ebenfalls in den nun folgenden Abschnitten stärker bemerkbar machen und wir werden nicht müßig werden, das Problem wieder und wieder an der Wurzel zu packen und eine angemessenere Beschreibung der komplexen moralischen Phänomene zu liefern. Weiter oben haben wir gesagt, dass wir bei klaren Fällen einen metaethischen Intuitionismus im Rahmen eines nicht-reduktionistischen Kognitivismus vertreten werden. Damit ist Folgendes gemeint: Der Kognitivismus besagt, dass es moralische Wahrheiten gibt, die wir Menschen prinzipiell erkennen können. Diesbezüglich gibt es bekanntlich zwei Hauptvarianten – den reduktionistischen und den nicht-reduktionistischen Kognitivismus –, die einander gegenüberstehen. Bei der reduktionistischen Variante kann man die moralischen Wahrheiten entweder mittels der Vernunft (metaphysische Variante) oder im Rekurs auf die Erfahrung (naturalistische Variante) bestimmen. Beide Varianten sind in der Vergangenheit scharf kritisiert worden (für eine gute Übersicht vgl. Birnbacher 2003). Der nicht-reduktionistische Kognitivismus wird durch einen metaethischen Intuitionismus – entweder in seiner klassischen oder nichtklassischen Form – bestimmt, wobei angenommen wird, dass der moralische Sachverhalt nicht als natürlicher oder metaphysischer Sachverhalt besteht, sondern als ein genuin präskriptiver Sachverhalt zu verstehen ist. Das bedeutet, dass auch ein (nicht-reduzierbares) präskriptives Urteil wahrheitsfunktional ist (wie wir bereits gesehen haben). Die Wahrheit und Falschheit moralischer Urteile wird dann im Rekurs auf die moralischen Intuitionen als Erkenntnisquelle bestimmt. Wie man sich dies genau vorzustellen hat, wird im folgenden untersucht 21 und für die ethische Methode fruchtbar gemacht. Der ethische Intuitionismus fußt auf drei grundlegenden Annahmen (vgl. Birnbacher 2003: 382–383): 1. 2.
Der ethische Realismus: Moralische Wahrheiten existieren. Der ethische Kognitivismus: Die Wahrheit und Falschheit moralischer Urteile ist der menschlichen Erkenntnis zugänglich.
vgl. auch die vorzügliche Untersuchung Ethical Intuitions and Emotions. A Philosophical Study von Sabine Roeser (2002).
21
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Moralischer Intuitionismus
3.
Spezifische These des Intuitionismus: Der Erkenntniszugang zu moralischen Wahrheiten ist nicht von empirischer oder begrifflicher, sondern von anschaulicher und unmittelbarer Art, bei er es keine logische Ableitung gibt.
Die Tradition unterscheidet darüber hinaus zum einen die Art der moralischen Wahrheit, die intuitiv erfasst wird, und zum anderen den Vorgang der Intuition. Mit Blick auf den ersten Punkt sind zumindest drei Versionen voneinander unterschieden worden: (1.) Moralische Intuitionen beziehen sich auf konkrete Handlungen (Prichard 1949); (2.) moralische Intuitionen beziehen sich auf Prinzipien mittlerer Ebene z. B. Gerechtigkeitsprinzipien wie das Vergeltungsprinzip oder das Gleichverteilungsprinzip (Ross 1930, Scheler 1966) 22 und (3.) moralische Intuitionen können die höchsten Prinzipien erfassen wie z. B. das Nutzenprinzip bei Henry Sidgwick (1874). Mit Blick auf den zweiten Punkt werden ebenfalls drei Positionen voneinander unterschieden: (a.) Intuition als Vernunfteinsicht, ohne wesentliche Beteiligung von Gefühlen. Dabei wird das intuitive Erfassen analog zur unmittelbaren und nicht auf Ableitung beruhenden Erkenntnis elementarer analytischer Wahrheiten – wie in der Logik und Mathematik – konzipiert (Reid 1983). (B.) Intuition als Sinneswahrnehmung, bei der der moralische Sinn eine Erkenntnis von subjektunabhängigen moralischen Sachverhalten und damit die Möglichkeit von intersubjektiv verbindlichen moralischen Urteilen erlauben soll, wobei auch rationale Momente beteiligt sind (Shaftesbury 1990). (C.) Intuition als Gefühl, wobei z. B. nach Max Scheler (1966) dem menschlichen Fühlen eine Reihe von moralischen und nicht-moralischen Werten vorgegeben ist, deren objektive Rangunterschiede gefühlsmäßig durch ein »vorziehen« erfasst werden können: Entweder durch einen bewussten Abwägungsprozess oder instinktiv im Sinne eines »›enthusiastischen‹ Sichdahingebens an den höheren Wert« (Scheler 1966: 107). Diese knappe Übersicht ist freilich keine erschöpfende Darstellung, sondern soll lediglich verdeutlichen, wo wir uns im Folgenden systematisch mit unserer ethischen Methode bewegen. Obwohl wir ebenfalls den ethischen Intuitionismus für richtig halten, scheint die Befinden sich mittlere Prinzipien in Konflikt, braucht es zusätzlich Gewichtungsintuitionen (Scheler 1966) oder Einzelfallintuitionen (Ross 1930), um den Konflikt aufzulösen.
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Objektivität in der Ethik und moralische Urteile
künstliche Aufspaltung des Intuitionismus in unterschiedliche Theorien den moralischen Phänomenen nicht gerecht zu werden. Die beiden Hauptargumente sind zum einen die Künstlichkeit und zum anderen die Komplexität moralischer Urteile. Die Ethik als Methode versteht unter moralischen Intuitionen – sowohl auf der Ebene des Vorgangs der Intuition als auch auf der Ebene der Art der moralischen Wahrheit – nicht, dass diese von vornherein einer spezifischen theoriegemäßen Einschränkung unterliegen, sondern sich je nach Phänomen offen gestalten müssen. Wir nennen dies die systematische Offenheit moralischer Intuitionen. Es liegt auf der Hand, dass dies eine radikale Abkehr vom Bisherigen darstellt, doch es ist unsere feste Überzeugung, dass es der Komplexität der moralischen Phänomene besser gerecht wird. Auf welche Weise sich die moralischen Intuitionen – vor dem Hintergrund ihrer systematischen Offenheit – in der konkreten Anwendung auf Fälle beschreiben lassen, werden die nächsten Abschnitte zeigen. An dieser Stelle sollen zwei Einwände diskutiert und entkräftet werden, die dem ethischen Intuitionismus gefährlich werden können: Zum einen das Problem der Wandelbarkeit moralischer Intuitionen und zum anderen das Problem der intersubjektiven Vergleichbarkeit moralischer Intuitionen mit Blick auf moralische Phänomene. Der klassische Einwand gegen jede Form des ethischen Intuitionismus bezieht sich auf die Wandelbarkeit moralischer Intuitionen beim Menschen. So ist von unterschiedlichen Seiten gegen den Intuitionismus vorgebracht worden, dass die Wandelbarkeit von moralischen Intuitionen die Gültigkeit des Intuitionismus unterminiert, wenn die als evident und revisionsresistenten moralischen Intuitionen sich als durchaus relativ und variabel herausstellen würden. Auf den ersten Blick mag dieser Einwand berechtigt sein, doch auf den zweiten tiefergehenden Blick stellt sich heraus, dass hier eine Verwechslung vorliegt, die darauf basiert, dass moralische Intuitionen (bzw. Überzeugungen) als basal angenommen worden sind, die nicht basal waren. Die Grundkonstellation sieht so aus, dass die Intuitionen einen direkten epistemischen Zugang zu basalen moralischen Wahrheiten liefern sollen, die dann als Fundament die anderen nicht-basalen moralischen Überzeugungen rechtfertigen. Wann liegt also eine basale moralische Überzeugung vor? Die Tatsache, dass Frauen in der Geschichte der Menschheit ungleich behandelt wurden, und die Tatsache, dass die Institution der Sklaverei viele Jahrhunderte als moralisch richtig angesehen wurde, zeigt doch, so der Einwand, dass sich 50 https://doi.org/10.5771/9783495820759 .
Moralischer Intuitionismus
die basalen moralischen Intuitionen der Menschen verändern können. Man hat also früher etwas als moralisch richtig angesehen, was heutzutage jedoch von der Mehrheit als moralisch falsch bewertet wird. Die Ungleichheit der Frauen und die Rechtmäßigkeit der Institution von Sklaverei waren tatsächlich Ausdruck moralischer Überzeugungen, die man als unumstößlich angesehen hatte. Doch es bleibt zu konstatieren, dass diese moralischen Intuitionen bzw. Überzeugungen auf der Grundlage eines fundamentalen ethischen Vorurteils gefällt wurden und eben nicht in einem gleichberechtigten Diskurs einer vorurteilsfreien moralischen Bewertung entstanden sind. In diesem Sinne ist eine basale moralische Intuition nur echt, wenn zweifelsfrei ausgeschlossen werden kann, dass keine Vorurteile involviert waren. Wir nennen dies die Vorurteilsfreiheit moralischer Intuitionen. Kommen wir auf das oben diskutierte Beispiel von Hanna zurück. Das gelegentliche Ausdrücken von Zigaretten auf dem Körper seiner 3-jährigen Tochter Hanna wurde als unmoralisch und grausam gewertet. Dieses moralische Urteil – so könnte man argumentieren – ist evident und revisionsresistent und unterliegt keiner moralischen Wandelbarkeit. Die moralische Schlechtigkeit und Grausamkeit des Vaters ist unmittelbar und zweifelsfrei gegeben. Wandeln wir nun das Beispiel dahingehend ab und sagen, dass es sich bei dem 3-jährigen Mädchen um eine Sklavin handelt, die hin und wieder Opfer ihres Herrn wird und er auf ihrem Körper Zigaretten ausdrückt. Man möchte sich eigentlich keine Person vorstellen wollen, die die Meinung vertritt, dass ein solches Verhalten rechtmäßig und moralisch neutral (oder richtig) ist. Und dies damit begründet wird, dass die Person die starke moralische Intuition der Rechtmäßigkeit der Institution von Sklaverei hat und somit – da dies das Konzept der Sklaverei beinhaltet – auch alles mit dem Sklaven/der Sklavin tun kann, was sie nur will. Das abgewandelte Beispiel der Sklavin zeigt, dass die Wandelbarkeit der moralischen Intuitionen in diesem Fall kein Fall von Relativität ist, sondern eher als ein Fall von moralischer Blindheit eines moralischen Monsters gewertet werden muss. Dagegen kann jedoch eingewendet werden, dass es doch viele andere Fälle gibt, bei denen wir nicht annehmen würden, dass es sich bei den Personen um moralische Monster handelte. So könnte vorgebracht werden, dass die Ungleichbehandlung von Homosexuellen und die Hexenverbrennung als Beispiel dienen mögen. Heutzutage – so könnte argumentiert werden – werden Homosexuelle von der 51 https://doi.org/10.5771/9783495820759 .
Objektivität in der Ethik und moralische Urteile
Mehrheit im Großen und Ganzen anerkannt und es gibt ebenfalls keine religiös motivierten Hexenverbrennungen mehr. Unser Gegenargument lautet, dass die moralischen Überzeugungen der damaligen Menschen ebenfalls auf Vorurteilen beruhten und damit ein hohes Maß an moralischer Blindheit und Grausamkeit vorlag. Eine echte basale moralische Intuition – so werden wir im nächsten Kapitel ausführen – setzt voraus, dass es sich bei der moralischen Intuition um die moralische Intuition einer praktisch klugen Person (bzw. eines moralischen Experten) handelt, bei der es keine Wandelbarkeit bezüglich basaler moralischer Überzeugungen gibt. Die Wandelbarkeit idiosynkratischer Intuitionen moralischer Monster oder der moralisch blinden Masse sind nicht unser Thema. Der zweite Einwand bezieht sich auf das Problem der intersubjektiven Vergleichbarkeit moralischer Intuitionen, da angenommen wird, dass unterschiedliche Menschen unterschiedliche Intuitionen mit Blick auf denselben moralischen Sachverhalt haben können. Argumentationslogisch schließt sich dieses Argument an die Diskussion des vorherigen Falls an. Während dort von der Wandelbarkeit moralischer Überzeugungen der Menschen in der Geschichte gehandelt wurde, also der zeitliche Aspekt im Mittelpunkt stand, geht es in diesem Fall um die unterschiedlichen Intuitionen von verschiedenen Personen im selben Zeitverlauf. Es bleibt jedoch zu konstatieren, dass es nicht um den moralischen Dissens von Personen gehen kann, die nicht als praktisch klug bezeichnet werden können, sondern einzig um die zentrale Frage, auf welche Weise die praktisch kluge Person Zugang zu den moralischen Tatsachen hat. In diesem Sinne ist die praktisch kluge Person unser Standard, nach dem wir die moralischen Sachverhalte beurteilen wollen, wobei sich eine solche Person mittels der Klugheit orientiert und das moralisch Richtige und Falsche erkennt und weiß, was zu tun ist (dazu später mehr).
3.4. Über die Phänomenologie moralischer Fälle – Versuch einer Kategorisierung Es gibt moralische Sachverhalte (wie z. B. der Fall von Hanna), deren intuitive moralische Beurteilung schnell und eindeutig erfolgt, ohne dabei Rekurs auf die beiden Methoden der Spezifizierung von Normen und des Abwägens von Gründen zu nehmen. Darüber hinaus gibt es aber auch teils sehr komplexe Fälle im Graubereich der Moral 52 https://doi.org/10.5771/9783495820759 .
Über die Phänomenologie moralischer Fälle – Versuch einer Kategorisierung
(Abtreibung, Sterbehilfe etc.), die eine genaue Kenntnis der Situation voraussetzen (Kontextsensitivität), wobei sich die am Diskurs beteiligten Personen mit unterschiedlichen moralischen Intuitionen konfrontiert sehen. Solche moralischen Überlegungsprozesse können viel Zeit in Anspruch nehmen und erfordern einen wachen und vorurteilsfreien Geist, der die moralische Komplexität zu durchdringen vermag. Letztlich gibt es moralische Fälle, die zusätzlich im Rekurs auf die Kultur, Tradition oder Religion etc. bestimmt werden müssen, damit eine angemessene moralische Bewertung erfolgen kann. Hier ist eine gründliche und vor allem genaue empirische Kenntnis der Sachlage vonnöten. Diese moralischen Urteile sind weder rein partikularistisch noch rein universell, sondern erfordern die Zusammenarbeit beider Formen; wir haben es hier also mit einem gemischten Urteil zu tun (vgl. insbesondere den nächsten Abschnitt). Der Diskurs aller moralischen Sachverhalte wird von einem wichtigen Punkt, der häufig unerwähnt bleibt, überlagert. Dabei handelt es sich um den Abstraktionsgrad eines moralischen Falls. Was ist damit genau gemeint? Damit meinen wir, dass ein moralisches Problem hinreichend genau bestimmt sein muss, um eine angemessene Beurteilung möglich machen zu können. Zum Beispiel: Das allgemeine moralische Urteil, dass Abtreibung oder Sterbehilfe grundsätzlich moralisch falsch (oder richtig) ist, ist unplausibel und kann daher wenig überzeugen. Die irrige Vorstellung, dass das allgemeine Urteil sämtlichen Fällen von z. B. Abtreibung gerecht wird, entbehrt jeder Plausibilität und führt in vielen Fällen zu einem extremen moralischen Unrecht. So kommt es hin und wieder vor (insbesondere in einigen südamerikanischen Ländern und auch Irland, die stark von der Katholischen Kirche dominiert sind), dass teils sehr junge Mädchen, die vergewaltigt worden sind, vom Staat gesetzlich dazu verpflichtet sind, keine Abtreibung vorzunehmen, da Abtreibungen aufgrund der Heiligkeit allen menschlichen Lebens als moralisch falsch angesehen werden. Die rechtliche Positivierung dieser religiös motivierten Doktrin wird dann über alle anderen Belange gestellt. Nicht nur, dass dadurch das Leben der jungen und ungewollt schwanger gewordenen Mädchen gefährdet wird (immerhin stellt die Geburt eine enorme Belastung für die körperliche Konstitution dar), sondern auch der massive Eingriff des Staates in die körperliche Integrität und das Privatleben der Person ist moralisch gesehen ungerechtfertigt (hier wird die Person Mittel zum Zweck). Die moralische Beurteilung von Abtreibung in ganz unterschiedlichen Fällen kann eben nicht 53 https://doi.org/10.5771/9783495820759 .
Objektivität in der Ethik und moralische Urteile
durch ein allgemeines und stringentes positives Gesetz angemessen vertreten werden. Die folgende selbsterklärende Tabelle enthält eine Kategorisierung einiger Fälle, die auf der Grundlage ihrer unterschiedlichen phänomenalen Struktur systematisch geordnet worden sind, um nochmals deutlich zu machen, dass moralische Beurteilungen komplex sind und nicht durch eine ethische Theorie mit einem Masterprinzip bzw. einem zentralen Aspekt von Moral angemessen eingeholt werden können. Tabelle 1: Über die Phänomenologie moralischer Fälle Kriterien
Klare Fälle
Graubereich
Einfach
Beispiele
Mord, Vergewaltigung, Foltern von Menschen und Tieren aus Freude, Sklaverei, moralische Gleichheit zwischen den Geschlechtern, Rassismus, Beleidigungen, Ehebruch, Terrorismus/Fanatismus
Abtreibung, Sterbehilfe, Kinderarbeit, weibliche Beschneidung, Diebstahl
Regeln der Etikette
Moralische Intuitionen
Basal & evident
Nicht-basal
Nicht-basal
Zeitspanne für die Entscheidung
Schnell
Langsam
Langsam
Quelle
unmittelbarer Zugang zu moralischen Tatsachen
Überlegungsprozess
Überlegungsprozess
Spezifikationen & Abwägung möglich
Nein
Ja
Ja
Beides
Partikularistisch
Universell oder Universell partikularistisch Kultureller, traditioneller und religiöser Einfluss
Nein
Ja
Ja
Veränderung möglich?
Nein
Ja
Ja
Gibt es entschuldbare Ausnahmen?
Nein
Ja
Ja
54 https://doi.org/10.5771/9783495820759 .
Über die Phänomenologie moralischer Fälle – Versuch einer Kategorisierung Kriterien
Klare Fälle
Graubereich
Einfach
Gefühl bei Übertritt
Abscheu & Ekel
Empörung
Empörung
Geltung
Absolut
Relativ
Relativ
Zwei zusätzliche Bemerkungen zur Tabelle sind angebracht: Zum einen geht es bei der moralischen Beurteilung der Fälle nicht um irgendwelche Mehrheitsmeinungen der Menschen, sondern um die Expertenmeinung moralisch seriöser Personen, die aufgrund ihrer tiefen Kenntnisse um die Ethik und vieljähriger Erfahrung ausgebildet sind, komplexe moralische Probleme zu lösen. Die Annahme, dass moralische Sachverhalte auch von Laien angemessen gelöst werden können, ist wenig überzeugend, wenn es z. B. darum geht, komplexe moralische Probleme – die fundierte Kenntnisse im Bereich der Ethik (und teils anderen Fachdisziplinen voraussetzen) – zu lösen. Moralisches Räsonieren ist wie das Fliegen von komplizierten Flugmaschinen: Laien fliegen nicht und sollten es auch nicht tun. Das heißt nicht, dass nur die moralischen Experten bzw. praktisch klugen Personen aufgefordert sind, über die Ethik nachzudenken und entsprechend moralisch zu handeln. Es bedeutet lediglich, dass es aufgrund der moralischen Komplexität des menschlichen Lebens eine Fülle und Vielzahl von Faktoren gibt, die berücksichtigt werden müssen, um eine angemessene Lösung für schwierige Probleme im Bereich der Moral zu finden. Die zweite Bemerkung bezieht sich auf den Graubereich der Moral: Grundsätzlich ist es hierbei möglich, dass die moralischen Sachverhalte auf eine Weise spezifiziert werden können, dass der spezifizierte Fall zu einem klaren Fall wird und damit eindeutig moralisch bestimmbar ist. Ein Beispiel soll dies verdeutlichen: Diebstahl wird gemeinhin und mit Recht als moralisch falsch gewertet. Es gibt jedoch Fälle, die so speziell sind – wie z. B. der Diebstahl von Nahrung, um den Hungertod zu entgehen –, dass sie dann zu einem klaren Fall werden können. Diese klaren Fälle sind dann eindeutig moralisch bestimmbar und können entweder als moralisch richtig oder falsch bewertet werden. Bei einigen spezifizierten Fällen kann es jedoch vorkommen, dass es zwar eine angemessene Lösung für diese Situation gibt, die aber den moralisch handelnden Akteur unvermeidbar mit einem Gefühl des moralischen Makels zurücklässt. Solche Situationen sind zwar selten, kommen aber dennoch lebenspraktisch vor. 55 https://doi.org/10.5771/9783495820759 .
Objektivität in der Ethik und moralische Urteile
3.5. Moralische Urteile zwischen Universalismus und Partikularismus Traditioneller Weise nehmen die Vertreter der deontologischen (vgl. Kant) und der konsequentialistischen Ethik (im Sinne eines Utilitarismus) an, dass moralische Urteile grundsätzlich universell sind. Anhänger der tugendethischen Position sind – je nach theoretischer Ausarbeitung ihrer Ethik – entweder davon überzeugt, dass moralische Urteile universalistisch (Nussbaum 1993) oder aber als partikularistisch (MacIntyre 1981) auszudeuten sind. Die Kasuisten wie Albert Jonsen und Stephen Toulmin (1988) oder Jonathan Dancy (2004) gehen grundsätzlich davon aus, dass moralische Urteile partikularistisch sind. Einige Vertragstheoretiker sowie die Anhänger einer Prinzipienethik mittlerer Reichweite, wie sie z. B. von Tom Beauchamp and James Childress (2009) vertreten wird, sind der Ansicht, dass moralische Urteile sowohl universalistisch als auch partikularistisch sein können. Die obige Tabelle macht deutlich, dass die beiden Extreme bezüglich der Natur moralischer Urteile – d. h. entweder rein universalistisch oder rein partikularistisch – nicht überzeugen können und die bisherigen Ethiken aufgrund der Künstlichkeit und der Komplexität die moralische Wirklichkeit aus systematischen Gründen ihrer Theorie nicht angemessen abbilden können, sondern jeweils nur einen Teilbereich der Moral richtig beleuchten. Daher plädieren wir dafür, dass moralische Urteile nicht nur als universalistisch, sondern auch als partikularistisch zu beschreiben sind. Dies nennen wir Doppelnatur moralischer Urteile. Was ist damit genau gemeint? Es gibt zumindest zwei Lesarten: Zum einen könnte man davon ausgehen, dass es zwei unterschiedliche Klassen von moralischen Urteilen gibt, die entweder rein universalistisch oder rein partikularistisch sind und in einer vereinheitlichten Theorie moralischer Urteile zusammengefasst werden. Zum anderen könnte man aber ebenfalls dafür argumentieren, dass es nur eine Klasse von moralischen Urteilen gibt, die zwei Bestandteile hat – einen universalistischen und einen partikularistischen – und deren Teile graduell variieren können. Bei klaren Fällen liegt dann der universalistische Anteil bei 100% und der partikularistische bei 0%; bei den sogenannten einfachen Fällen ist es umgekehrt und im Graubereich der Moral variieren die Anteile (wobei die Gleichverteilung nur eine unter vielen verschiedenen Möglichkeiten ist). Dies würde dann auch besser erklären, auf welche Weise sich das 56 https://doi.org/10.5771/9783495820759 .
Empfehlungen für eine ethische Methode
moralische Urteil mit Blick auf einen spezifizierten Fall aus dem Graubereich verändern kann, ohne dass man sich hierbei ontologische Schwierigkeiten einhandelt. Die Phänomenologie der moralischen Fälle (vgl. Tabelle 1) sowie die Künstlichkeit und Komplexität deuten darauf hin, dass wir von der Doppelnatur moralischer Urteile ausgehen können. Dies ist eine komplexe Position, die jedoch nicht einfacher gefasst werden kann, da sie ansonsten nicht der komplexen Natur der Moral gerecht würde. Es gibt keine Einfachheit in der Komplexität. Moralische Urteile werden durch empirische Daten unterschiedlicher Natur (z. B. Kultur, Religion, Tradition etc.) angereichert und verändern dadurch ihren reinen universellen Charakter, was durch die Doppelnatur moralischer Urteile in der Lebenspraxis bestätigt wird. Je stärker also der Einfluß solcher empirischen Daten ist, desto stärker ist auch der partikularistische Anteil am moralischen Urteil. 23 Je weniger die unterschiedlichen empirischen Daten für die moralische Beurteilung eines Falles von Belang sind, desto höher ist die Wahrscheinlichkeit, dass der vorliegende moralische Sachverhalt universalistisch ist (z. B. Vergewaltigung). Es macht keinen moralischen Unterschied, ob die Vergewaltigung einer Person in Deutschland, Kanada oder in Japan stattfindet. Empirische Unterschiede bezüglich der Tradition, Kultur oder Religion spielen in diesem Fall für die moralische Beurteilung des Sachverhalts keine Rolle. Eine Vergewaltigung ist immer als moralisch falsch anzusehen und somit ist das moralische Urteil in diesem Fall rein universalistisch. Wer dies anders sieht, ist entweder moralisch blind oder ein moralisches Monster.
3.6. Empfehlungen für eine ethische Methode Mit dem vorliegenden Kapitel konnten wir eine Reihe wichtiger Erkenntnisse für eine kontextsensitive und pluralistische Methode gewinnen. Diesbezüglich sollen die wichtigsten Impulse nochmals kurz genannt werden:
vgl. auch Tom Beauchamp und James Childress, die in ihrer Prinzipienethik von unterschiedlichen Partikularmoralen und einer gemeinsamen Common Morality – der universalistischen Moral – ausgehen (Beauchamp und Childress 2009, Gordon 2011a, 2011b).
23
57 https://doi.org/10.5771/9783495820759 .
Objektivität in der Ethik und moralische Urteile
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Multifunktionalität moralischer Urteile: Moralische Urteile sind deskriptiv, emotiv und präskriptiv. Sie können nicht auf einen oder zwei Aspekte reduziert werden. Hybridität moralischer Urteile: Moralische Urteile sind sowohl Glaubenszustände als auch Pro-Einstellungen. Sie können nicht auf einen Aspekt reduziert werden. Künstlichkeit moralischer Urteile: Ein künstlich geschaffenes Korsett von traditionellen Klassifizierungen verhindert oftmals, dass die Komplexität der Phänomene vor dem Hintergrund eines moralischen Fortschritts noch angemessen beschrieben werden können. Systematische Offenheit moralischer Intuitionen: Moralische Intuitionen unterliegen keiner theoriegemäßen Beschränkung bezüglich des Vorgangs der Intuition oder der Art der moralischen Wahrheit. Vorurteilsfreiheit basaler moralischer Intuitionen: Eine basale moralische Intuition ist dann echt, wenn sie sich aus einem vorurteilsfreien Diskurs ergibt. Abstraktionsgrad eines moralischen Falls: Ein moralisches Problem muss hinreichend genau bestimmt werden, um eine angemessene Beurteilung zu ermöglichen. Doppelnatur moralischer Urteile: Moralische Urteile sind weder rein universalistisch noch rein partikularistisch, sondern stellen eine Mischung aus beiden Formen dar.
Die beiden Hauptargumente, die bei der Gewinnung der obigen Erkenntnisse eine wichtige Rolle gespielt haben, sind zum einen die Künstlichkeit theoriegeleiteter Unterscheidungen und zum anderen das lebenspraktische und basale Phänomen der Komplexität der Moral. Einfache Lösungen im Kontext des moralischen Lebens werden dem komplexen Phänomen der Moral einfach nicht gerecht und es braucht daher ebenfalls eine nicht weniger komplexe Beschreibung. Die Vorstellung, dass man in der Lage sein soll, die Komplexität des moralischen Lebens mit nur einem Aspekt der Moral abzudecken – wie es z. B. die Kantianer oder die Utilitaristen fordern – ist nicht nur der Sache nach unangemessen, sondern offenbart geradezu ein falsches Verständnis moralischen Denkens (vgl. hier auch Brody 1988). Das Geschäft der praktisch klugen Person ist im hohen Maße anspruchsvoll und erfordert nicht nur eine angemessene Expertise, sondern auch eine langjährige Erfahrung und Augenmaß. Offensichtlich 58 https://doi.org/10.5771/9783495820759 .
Empfehlungen für eine ethische Methode
gibt es unterschiedliche, ganz basale moralische Sachverhalte, die ebenfalls von Laien richtig eingeschätzt werden können. Wer über die moralische Richtigkeit oder Falschheit einer Vergewaltigung erst einen längeren moralischen Diskurs führen muss, um festzustellen, dass dies ein Fall von moralischer Falschheit ist, der ist offenkundig moralisch blind (auch wenn sein Urteil insgesamt richtig ist). Die moralische Falschheit einer Vergewaltigung scheint bereits im Begriff auf und bedarf keines weiteren Diskurses. Im Graubereich der Moral liegt der Fall anders. Hier braucht es die moralische Urteilsfähigkeit der praktisch klugen Person, die aufgrund ihrer besonderen moralischen Verfasstheit in der Lage ist, die unterschiedlichen Facetten des Falls zu bestimmen, richtig zu evaluieren und ein der Situation angemessenes moralisches Urteil zu fällen. Die einfache Anwendung eines Masterprinzips auf einen Fall – in Kombination mit der deduktiven Methode – erscheint im Bereich der praxisorientierten Ethik eher grobschlächtig und unangemessen zu sein, um zu kontextsensitiven moralischen Urteilen zu kommen. Die praktisch kluge Person ist ein Skalpell und kein Fleischerbeil. Das Herauspräparieren eines moralischen Urteils bedarf der richtigen Ausrüstung. Aufgrund der Verschiebung des Fokus von Fragen der Begründung von Moral hin zu Fragen der praxisorientierten Ethik im 20. Jahrhundert (vgl. das 1. Kapitel) und der zugrundeliegenden These, dass eine Theorie sich neben ihrer Begründung auch in ihrer Anwendung beweisen muss, kam es zu unterschiedlichen Weiterentwicklungen der klassischen Ethiken. Bekannte Beispiele sind zum einen die Modifizierung der Kantischen Ethik durch die Neo-Kantianerin Christine Korsgaard in The Sources of Normativity (1996) und die vorzügliche Arbeit Kant and Applied Ethics. The Uses and Limits of Kant’s Practical Philosophy (2011) von Matthew C. Altman 24. Zum anderen die Erweiterung der tugendethischen Position durch die Neo-Aristotelikerin Martha Nussbaum mit ihrer Revitalisierung der Aristotelischen Ethik im Kontext ihres Ansatzes der Fähigkeiten (1998, 2006, 2011), den sie zunächst zusammen mit Amartya Sen – der bekanntlich als eigentlicher Begründer gilt – entwickelt hat (vgl. dazu Gordon 2007).
Altman entwickelt keine eigene Neo-Kantianische Theorie, sondern zeigt in einer gelungenen Untersuchung auf, wo die Möglichkeiten und Grenzen einer an Kant orientierten Position im Bereich der praxisorientierten Ethik liegen.
24
59 https://doi.org/10.5771/9783495820759 .
Objektivität in der Ethik und moralische Urteile
Wie sind solche Tendenzen oder Modifizierungen vor dem Hintergrund der praxisorientierten Ethik zu bewerten? Grundsätzlich gibt es zumindest zwei Hauptpunkte anzumerken: Zum einen zeigt das Bedürfnis der Weiterentwicklung klassischer Positionen an, dass es einen Bedarf gibt, die traditionellen Theorien den modernen Erfordernissen anzupassen und sie für den Anwendungsbereich fruchtbar bzw. fruchtbarer zu machen. Dies ist zunächst positiv zu bewerten. Daraus folgt jedoch zweierlei: Einerseits kommt es nicht selten zu einer Verfälschung oder Verwässerung der klassischen Positionen, wobei man sich dann durchaus fragen kann, wieviel Kant oder Aristoteles noch in den modifizierten Theorien steckt und man daher aus systemimmanenten Gründen in Frage stellen könnte, ob es noch sinnvoll ist, von einer Kantischen oder Aristotelischen Position zu sprechen (die kritische Literatur dazu ist Legion). Andererseits wirft dies die wichtige Frage auf, ob man nicht grundsätzlich neu ansetzen muss, wenn festgestellt wird, dass die klassischen Positionen nicht mehr haltbar sind, da sie keine Handlungsorientierung mehr mit Blick auf die neuen Entwicklungen bieten können. Zum anderen bleibt zu konstatieren, dass die Unfähigkeit jener Theorien, echte Handlungsorientierung im Bereich des moralischen Lebens zu geben, etwas mit der Komplexität des moralischen Lebens selbst zu tun hat, wobei zusätzlich betont werden muss, dass eine Theorie, die eben nur einen zentralen Aspekt der Moral kennt, von vornherein verfehlt ist (was durch die zunehmende Komplexität neuer moralischer Sachverhalte belegt wird). Greifen wir zum Schluss nochmals das auf, womit wir das Kapitel begonnen haben, nämlich der objektivistischen Ethik von Rand, die uns zumindest zwei wichtige Impulse für unsere ethische Methode geliefert hat: Zum einen ist es wichtig festzuhalten, dass eine Ethik anthropologisch rückgebunden sein sollte und damit die Natur des Menschen fest in den Blick zu nehmen hat, wenn sie nicht abgehoben sein will. Auch wenn wir diesbezüglich von der menschlichen Moral reden, heißt dies nicht, dass darüber hinaus keine moralischen Pflichten gegenüber nicht-menschlichen Lebewesen oder der nichtmenschlichen Natur insgesamt existieren. Vielmehr geht es darum, die spezifischen Besonderheiten des menschlichen Lebens nicht aus den Augen zu verlieren. Die Entwicklung einer Seinsmetaphysik des Denkens haben wir mit dem Verweis auf die anthropologische Beschränktheit des Menschen als logisch unmöglich bestimmt. Wir können nicht mit Gewissheit sagen, was es heißt, ein nur-rationales 60 https://doi.org/10.5771/9783495820759 .
Empfehlungen für eine ethische Methode
Lebewesen zu sein, und welche moralischen Forderungen sich daraus ergeben könnten. Es gibt keinen Zugang, das denkende Denken in seinem reinen Denken aus Sicht des Menschen zu begreifen. Zum anderen haben wir gesehen, dass Rand eine modifizierte realistische Position vertritt, bei der die Objektivität der Moral einerseits von der Wirklichkeit abhängt und anderseits durch die menschliche rationale Natur bestimmt wird. Dies ist deswegen ein wichtiger Punkt, weil wir ebenfalls annehmen, dass Menschen – aufgrund der Teilhabe am Denken – normative Strukturen, die im Rationalitätsbegriff eingebettet sind, erkennen können (intuitiv erfassend und im Diskurs freilegend). Auf welche Weise dies genau zu verstehen ist, wird sich im nächsten Kapitel zeigen.
61 https://doi.org/10.5771/9783495820759 .
4. Klugheit als ethische Richtschnur 4.1. Der Begriff der Klugheit bei Aristoteles (EN VI) 4.2. Die Billigkeit bei Aristoteles (EN V) 87 4.3. Gadamers hermeneutische Methode und der Aristotelische Klugheitsbegriff 98 4.4. Empfehlungen für eine ethische Methode 112
62
Dieses Kapitel ist das zentrale Kapitel des Buches und greift zum einen den Argumentationsstrang der gesamten Untersuchung auf und gibt zum anderen den bereits vorgetragenen Argumenten eine Grundlage. Darüber hinaus wird das Herzstück unserer ethischen Methode – der Begriff der Klugheit – anhand von Aristoteles eingeführt und vor dem Hintergrund unterschiedlicher Kontexte weiter bestimmt. Hierzu zählt vor allem Gadamers hermeneutische Interpretation der Klugheit. Im 5. Kapitel werden die Ergebnisse im Rahmen der Frage, auf welche Weise die praktisch kluge Person bzw. der moralische Experte (moralisch) urteilt, weiter ausgedeutet.
4.1. Der Begriff der Klugheit bei Aristoteles (EN VI) Im vorliegenden Abschnitt wird keine erschöpfende Diskussion des gesamten sechsten Buches Über die Vernunfttugenden der Nikomachischen Ethik des Aristoteles vorgelegt, sondern es wird vielmehr darauf fokussiert, den Begriff der Klugheit im Kontext des moralischen Handelns herauszuarbeiten. Dabei werden nicht alle Aspekte der Klugheit in den Blick genommen, sondern nur solche, die für unser Vorhaben – die Entwicklung einer ethischen Methode in Anlehnung an den Klugheitsbegriff – relevant sind. Für eine umfassende Darstellung des Klugheitsbegriffs bei Aristoteles verweisen wir jedoch neben den gängigen Kommentaren wie Wolf (2002), Rowe und Broadie (2002), Gauthier und Jolif (1970), Dirlmeier (1956), Joachim (1951) und Stewart (1892), auf die lesenswerten Beiträge von Reeve (2013), Hoffmann (2010: insbesondere das 6. und 7. Kapitel), Russell (2009), Natali (2001), Elm (1996), Ebert (1995), Dunne (1993), Broadie (1991: 4. Kapitel), Aubenque (2007), Dahl (1984), EngbergPedersen (1983), Schuchman (1977) und Cooper (1975). Darüber 62 https://doi.org/10.5771/9783495820759 .
Der Begriff der Klugheit bei Aristoteles (EN VI)
hinaus gibt es natürlich noch eine Vielzahl von weiteren guten Untersuchungen, die sich entweder einem Teilaspekt widmen oder aber den Klugheitsbegriff in seiner Anwendung – z. B. im bioethischen Kontext – beleuchten. Die Literatur dazu ist Legion und kann hier nicht weiter in den Blick genommen werden. Beginnen wir mit einer knappen Übersicht bezüglich der Übersetzungsvorschläge des griechischen Ausdrucks phronêsis, die man in der Literatur dazu finden kann und die – je nach Vorschlag – einen unterschiedlichen Interpretationsrahmen eröffnen: Tabelle 2: Übersetzungsvorschläge von Phronêsis 25 Klugheit/ Prudence
Sittliche Einsicht
Practical Wisdom
Wisdom/ Sagesse
Thought Practical Intelligence
Wolf (2002), Gigon (1972), Rolfes (1911), Rackham (1926), Stewart (1892)
Jaeger (1923), Dirlmeier (1956), EngbergPedersen (1983)
Barnes (1982), Burnet (1900), Ross (1923), Hardie (1968)
Kenny (1978, 1979, 1992), Gauthier/Jolif (1970)
Grant (1885)
Russell (2009), Cooper (1975)
Wir verwenden den Begriff Klugheit, da er »offener« ist und unterschiedliche Interpretationen zuläßt; somit also keine Engführung wie im Fall von »sittlicher Einsicht« oder »Weisheit« gegeben ist. Die kritische Beschreibung der für uns relevanten Aspekte ist chronologisch angelegt, wobei im Anschluss daran die unterschiedlichen Ergebnisse in einer Würdigung zusammengeführt werden.
4.1.1. Abschnitte EN VI, 1–2 Aristoteles beginnt mit der Feststellung, dass es ein Kriterium (horos) zur Bestimmung der mittleren Disposition gibt, die der richtigen Überlegung (logos orthos) entspricht (EN 1138b18–25). Aristoteles muss also herausfinden, worin die richtige Überlegung besteht und was die Kriterien ihrer Richtigkeit sind (Abschnitt EN VI, 1). Bevor er dies jedoch angeht (vgl. EN VI, 10), expliziert Aristoteles im zweiten Abschnitt, auf welche Weise der tugendhafte Charakter und das Denken mit Blick auf das gute Handeln verbunden sind. Nach Aris25
vgl. auch Wolf 2002: 266 und Ebert 1995: 172.
63 https://doi.org/10.5771/9783495820759 .
Klugheit als ethische Richtschnur
toteles liegt der Ursprung einer Handlung im Vorsatz (prohairesis), wobei sich der Vorsatz ausschliesslich auf das Zukünftige und Mögliche bezieht und nicht auf Vergangenes. Der Vorsatz ist wiederum durch das Streben, das auf das gute Handeln (eupraxia) gerichtet ist, und die Überlegung, die auf einen jeweiligen Zweck gerichtet ist, bedingt. Aristoteles ist damit in der Lage, den Vorsatz als strebendes Denken oder denkendes Streben (orexis bouleutikê) zu beschreiben. In diesem Sinne ist »die charakterliche Tugend eine sich in Vorsätzen äußernde Disposition (hexis prohairetikê)«. Das Streben und die Überlegung fußen jedoch wiederum auf einem Fundament mit drei Teilen: Der intuitiven Vernunft (nous), dem diskursiven Denken (dianoia) und der Charakterdisposition (hexis êthikê). Erst das Zusammenspiel von Denken und tugendhaftem Charakter gewährleistet das gute Handeln (eupraxia). Aristoteles betont, dass ohne die Setzung des Zwecks im Sinne des guten Handelns, das (reine) Denken nichts bewegt, sondern nur das zweckorientierte – d. h. praktische – Denken motivieren kann (Abschnitt EN VI, 2). Mit Blick auf unsere ethische Methode bleibt zu konstatieren, dass eine angemessene moralische Entscheidung auf einer richtigen Überlegung – was auch immer dies im Augenblick genau heißen mag – basiert und im Rahmen der eupraxia genauer bestimmt werden muss. Die Bezugnahme auf das gute Handeln verweist auf die Glückseligkeit (eudaimonia) als letzten Zweck menschlichen Handelns, wobei Aristoteles deutlich macht, dass dies ein Zusammenspiel von Denken und tugendhaftem Charakter voraussetzt. Welche Rolle die intuitive Vernunft, die eigentlich (nur) die Axiome der Wissenschaften erfasst, dabei spielt, bleibt hier zunächst offen. Klar ist jedoch, dass wir uns nach Aristoteles im Bereich des vernunfthabenden Seelenteils (logon echon) befinden, der sich dadurch auszeichnet, dass der überlegende Teil (logistikos) sich auf Dinge bezieht, die veränderbar sind und anders sein können (im Gegensatz zum wissenschaftlichen Teil des logon echon). Hier, so Aristoteles, haben wir es mit dem Überlegen (bouleuesthai) und Nachdenken (logizesthai) zu tun, wobei er – mit den Worten von Hoffmann – die Klugheit »als gute Ausübung von praktischer Wahrheit« auffasst (Hoffmann 2010: 114– 119).
64 https://doi.org/10.5771/9783495820759 .
Der Begriff der Klugheit bei Aristoteles (EN VI)
4.1.2. Abschnitte EN VI, 3–7 Im dritten Abschnitt weist Aristoteles darauf hin, dass die Klugheit (phronêsis) eine von fünf Vernunfttugenden ist, mit denen die Seele auf die Wahrheit zielt; die anderen sind: Herstellungswissen (technê), Wissenschaft (epistêmê), Weisheit (sophia) und intuitives Denken (nous). Hiermit wird deutlich, dass es sich bei der Klugheit nicht um ein Vermögen (dynamis), sondern um eine Disposition (hexis) handelt. Dies ist insofern relevant, als dass das Aufsuchen der Wahrheit nicht im Rekurs auf eine Fähigkeit, sondern mit Verweis auf eine feste Disposition bestimmt wird (Abschnitt EN VI, 3). Bevor Aristoteles die Klugheit diskutiert, stellt er heraus, dass sich das Herstellen (poiêsis) und Handeln (praxis) zwar gemeinsam auf Dinge beziehen, die anders sein können, beide Dispositionen jedoch verschieden sind (in EN VI, 5 wird er sagen, dass das Herstellen und Handeln »unterschiedlichen Gattungen« angehört). Die weiteren Ausführungen zum Begriff des Herstellungswissens können in unserer Beschreibung ausgeblendet werden (Abschnitt EN VI, 4). Im fünften Abschnitt gibt Aristoteles weitere Informationen zum Begriff der Klugheit. Gleich zu Beginn kommt er auf den Punkt, wenn er Folgendes deutlich macht: »Was die Klugheit (phronêsis) ist, können wir erfassen, indem wir schauen, welche Menschen wir klug (phronimos) nennen. Es gilt als Kennzeichen eines klugen Menschen, dass er gut zu überlegen (bouleuesthai) vermag über das für ihn Gute und Zuträgliche, und zwar nicht in einer besonderen Hinsicht, zum Beispiel darüber, was seiner Gesundheit oder seiner Kraft zuträglich ist, sondern darüber, was überhaupt dem guten Leben (pros to eu zên holôs) zuträglich ist. […] So wird allgemein der Kluge derjenige sein, der gut im Überlegen ist (bouleutikos).« (Aristoteles EN VI, 5 1140a24–31)
Um den Begriff von Klugheit näher zu bestimmen, wählt Aristoteles an dieser Stelle nicht den direkten, sondern einen indirekten Weg für die Begriffserklärung, der über die Beschreibung von klugen Personen verläuft. Ein Grund dafür könnte sein, dass ein solches Vorgehen einfacher ist, zumal die Klugheit von Aristoteles in EN VI, 3 als Disposition (hexis) eingeführt worden ist. Zwei Bestimmungen einer praktisch klugen Person sind hier wesentlich: Die kluge Person kann gut überlegen (vgl. EN VI, 2) erstens mit Blick auf das für die Person Gute und Zuträgliche und zweitens mit Blick auf das Gute und Zuträgliche hinsichtlich des guten Lebens im Ganzen. Der Bereich, der für die Überlegung in Frage kommt, so Aristoteles, muss dahin65 https://doi.org/10.5771/9783495820759 .
Klugheit als ethische Richtschnur
gehend näher bestimmt werden, dass die Überlegung auf den Bereich der veränderlichen und möglichen Dinge eingeschränkt wird (hier in Abgrenzung zur Wissenschaft). Dies ist nicht weiter problematisch. Im weiteren Verlauf betont Aristoteles zunächst, dass die Klugheit »eine mit Überlegung (meta logou) verbundene wahre Disposition des Handelns ist, die sich auf das bezieht, was für den Menschen gut oder schlecht ist« und dann nochmals etwas später, dass »die Klugheit notwendigerweise eine mit Überlegung verbundene wahre Disposition des Handelns in Bezug auf die menschlichen Güter« sei. Dasjenige also, was für die Menschen gut oder schlecht ist, wird in der zweiten Variante durch »die menschlichen Güter« näher ausgeführt. Im Allgemeinen versteht Aristoteles darunter dreierlei: (1.) Äußere Güter (z. B. Wohlstand, Freunde, guter sozialer Hintergrund, tugendhafte Kinder und Ehre); (2.) innere Güter des Körpers (z. B. Gesundheit, Schönheit, Stärke und athletische Fähigkeiten); und (3.) innere Güter der Seele (d. h. die ethischen Tugenden). In diesem Sinne kann man die zweite Variante als eine Spezifizierung der ersten Bestimmung lesen. Am Schluss des Abschnitts greift Aristoteles das auf, was er in EN VI, 2 noch unbestimmt gelassen hat, nämlich, dass die Klugheit die Gutheit des überlegenden Seelenteils 26 des logon echons ist und fügt hinzu, dass die Klugheit mehr ist als »eine mit Überlegung verbundene Disposition«, da sie nicht wie andere Dispositionen »in Vergessenheit geraten kann«. Es bleibt (zunächst) unklar, was genau damit gemeint ist. Zwei weitere Aspekte sind noch erwähnenswert: Zum einen grenzt Aristoteles den Begriff des Handelns weiter gegen den Begriff des Herstellens ab, indem er darauf hinweist, dass beim Handeln das gute Handeln (eupraxia) selbst das Ziel ist (beim Herstellen besteht das Ziel nicht im Prozess des Herstellens, sondern im Hergestellten). Zum anderen argumentiert Aristoteles dafür, dass in Fällen, wo die Ursprünge der Handlung – d. h. ihr Zweck und Grund – durch Lust oder Unlust »verdorben« sind, dadurch gleichzeitig der Ursprung unkenntlich gemacht würde. Es ist also, nach Aristoteles, nicht mehr möglich zu erkennen, »dass man zu diesem Zweck oder aus diesem Grund alles wählen und tun soll«. Wenn man also, so könnte man Während Aristoteles diesen Teil in EN VI, 2 noch mit »logistikos« bestimmt, wählt er in EN VI, 5 den Begriff »doxastikon« (d. h. meinenden Teil). Beide Begriffe sind nicht genau deckungsgleich. Für die Gesamtinterpretation kann man jedoch die nichtwesentlichen Unterschiede vernachlässigen.
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Der Begriff der Klugheit bei Aristoteles (EN VI)
Aristoteles verstehen, den richtigen Kurs gemäß der Glückseligkeit verliert, ist man notwendigerweise – moralisch gesehen – orientierungslos und dann nicht mehr in der Lage, sein Handeln entsprechend auszurichten bzw. die Ursprünge der guten Handlung (eupraxia) zu bestimmen (Abschnitt EN VI, 5). Die nächsten beiden Abschnitte geben mit Blick auf den Klugheitsbegriff nicht viel her; Aristoteles versucht in EN VI, 6 mittels eines Ausschlussverfahrens zu klären, welche Vernunfttugend, die Axiome der Wissenschaften erfassen kann. Für ihn ist es im Ergebnis die intuitive Vernunft (Abschnitt VI, 6). In EN VI, 7 gibt es nur eine Textstelle, die für unsere Zwecke relevant ist; hier betont Aristoteles – nochmals in Anlehnung an den Beginn von EN VI, 5 –, dass diejenigen Lebewesen als klug gelten, die ihre eigenen Angelegenheiten gut bedenken. Hierzu zählt er erstaunlicherweise auch einige Tiere, die sich durch das »Vermögen der Vorsorge« auszeichnen. Es ist offenkundig, dass Aristoteles an dieser Stelle einen weniger anspruchsvollen Begriff von Klugheit verwendet und diesen sehr weit fasst (Abschnitt VI, 7). Die Abschnitte EN VI, 3 bis 7 machen deutlich, dass die Klugheit zum einen als eine Vernunfttugend eingeführt und zum anderen als Disposition der klugen Person verstanden wird. Die kluge Person zeichnet sich dadurch aus, dass sie ein Experte im Überlegen bezüglich der veränderlichen und möglichen Dinge ist, die die menschlichen Güter (und nicht nur der ethischen Tugenden) betreffen (vgl. auch EN VI, 8). Hier, so Aristoteles, hat die kluge Person einerseits das eigene Gute fest im Blick und orientiert sich andererseits an das Gute des menschlichen Lebens insgesamt. Dies ist ein wichtiges Ergebnis, da hiermit offensichtlich wird, dass sich die Klugheit nicht nur auf den Bereich der Ethik bezieht, wie die Übersetzung von Klugheit mit »sittlicher Einsicht« nahelegt, sondern alle praktischen Dinge des Menschen in den Blick nimmt. Wenn wir also wissen wollen, was die kluge Person auszeichnet, dann muss man den Begriff der guten Überlegung (bouleutikos) untersuchen, was Aristoteles auch später in EN VI, 10 unternimmt.
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Klugheit als ethische Richtschnur
4.1.3. Abschnitte EN VI, 8–9 Zwei wichtige Punkte sind für eine ethische Methode in EN VI, 8 zentral. Nachdem Aristoteles zu Beginn des Abschnitts nochmals darauf hinweist, dass sich die kluge Person dadurch auszeichnet, dass sie gut zu überlegen weiß, identifiziert er nun den Wohlberatenen mit der klugen Person, wenn er Folgendes ausführt: »Der Wohlberatene (euboulos) allgemein aber ist derjenige, der entsprechend der Überlegung (logismos) auf das für den Menschen beste der durch Handeln erreichbaren Güter abzielt.« (Aristoteles EN VI, 8 1141b12–14)
Dazu später mehr (vgl. EN VI, 10). Der zweite wichtige Punkt wird von Aristoteles in der Passage EN VI, 8 1141b14–23 entfaltet und betrifft das, was die Forschung als Aristotelischen Beitrag zum praktischen Syllogismus 27 in der Ethik diskutiert. Aristoteles betont zunächst, dass sich die Klugheit sowohl auf das Allgemeine als auch auf das Einzelne beziehen muss, da sie es ja mit Handlungen zu tun hat. Er macht jedoch im Folgenden eine Einschränkung und argumentiert, dass es in bestimmten Fällen möglich ist, dass diejenigen, die zwar über Erfahrung verfügen, jedoch kein Wissen des Allgemeinen haben, im Vorteil sind und besser handeln als diejenigen, die nur über das Wissen des Allgemeinen verfügen, aber keine Kenntnisse bezüglich des Einzelnen haben. Er illustriert dies an dem bekannten Geflügelfleisch-Beispiel: »Wenn jemand nämlich weiß, dass leichtes Fleisch gut verdaulich und gesund ist, aber nicht weiß, welches Fleisch leicht ist, wird er keine Gesundheit bewirken; vielmehr wird das derjenige können, der weiß, dass Geflügelfleisch leicht und gesund ist.« (Aristoteles EN VI, 8 1141b18–21) 27 Es gibt zumindest zwei weitere Stellen, die alternative Formulierungen des praktischen Syllogismus darstellen: Im 5. Abschnitt des VI. Buches der Nikomachischen Ethik schreibt Aristoteles: »Die eine Meinung ist allgemein, die andere hat mit dem Einzelnen zu tun, für das bereits die Wahrnehmung (aisthêsis) zuständig ist. Wenn nun aus beiden Sätzen einer wird, dann muss die Seele im einen Fall [bei der theoretischen Erkenntnis] notwendigerweise die Schlussfolgerung bejahen und im Fall von Prämissen, die ein Tun betreffen, sofort handeln.« (EN VII, 5 1147a25–28) und in seiner Schrift De anima III, 11 konstatiert er: »Da die eine Annahme und Überlegung allgemein ist, die andere auf das Einzelne geht – denn die eine sagt aus, daß ein solcher Mensch solches tun muß, die andere aber, daß dieses hier von solcher Art ist, und ich ein solcher Mensch bin –, so bewegt nunmehr diese zweite Meinung, nicht die allgemeine; oder beide, aber die eine ruht mehr in sich, die andere nicht.« (De anima III, 11 434a16–21; Übersetzung zit. nach Höffe 2009: 199).
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Der Begriff der Klugheit bei Aristoteles (EN VI)
Daraus lassen sich zwei unterschiedliche praktische Syllogismen 28 herleiten: Person 1: Hat allgemeines Wissen aber keine Kenntnis vom Einzelnen P1: Leichtes Fleisch ist gut verdaulich und gesund. P2: Es ist unbekannt, welches Fleisch leicht ist. K: Das Ziel, durch den Verzehr leichten Fleisches Gesundheit zu bewirken, wird verfehlt. Person 2: Ist erfahren aber ohne allgemeines Wissen P1: Geflügelfleisch ist leicht und gesund. P2: Dies ist Geflügelfleisch. K1: Der Verzehr des Geflügelfleisches bewirkt Gesundheit. K2: Die These, das alles leichte Fleisch gut verdaulich und gesund ist, kann aufgrund des fehlenden allgemeinen Wissens nicht (bzw. nicht klar und deutlich genug) erkannt werden. Es lassen sich zumindest zwei Dinge festhalten: Zum einen bleibt zu konstatieren, dass es immer am besten ist, wenn eine Person sowohl über allgemeines Wissen verfügt, als auch Erfahrung mit Blick auf das Einzelne hat. Zum anderen kann es in bestimmten Fällen sein, dass die Klugheit sich nur auf Erfahrungswissen stützen kann, ohne jedoch auf ein allgemeines Wissen rekurrieren zu können. Unstrittig dabei ist, dass in beiden Fällen P1 ein allgemeiner Satz ist, wobei klar sein sollte, dass der Grad der Allgemeinheit im zweiten Fall spezifischer ist als im ersten. Darin liegt jedoch der wesentliche Unterschied. Es ist viel über die Bedeutung und Funktion dieser Stelle mit Blick auf die ethische Dimension gestritten worden. Während das eine Lager dafür argumentiert, dass die praktisch kluge Person im Allgemeinen in ihren Entscheidungen gemäß dem sogenannten praktischen Syllogismus verfährt bzw. dieser für die Überlegung und das Handeln besonders relevant ist (Allan 1955, Cooper 1975: 1. Kap., für einen gelungenen Überblick über die unterschiedlichen Lesarten vgl. Corcilius 2008), bezweifeln die Kontrahenten den Wert des praktischen Syllogismus für die Entscheidungsfindung (Annas 1993: 91– 94 und Hardie 1980: 244). Letztere Position erscheint uns vor dem Hintergrund der wenig systematisch ausgearbeiteten Stelle im Aris28
vgl. auch die solide Darstellung bei Hoffmann (2010: 138–144).
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Klugheit als ethische Richtschnur
totelischen Corpus die angemessenere Interpretation zu sein, obwohl wir dies weiter unten in der Diskussion nochmals aufgreifen wollen und dann etwas relativieren werden. Der Abschnitt schließt mit einigen Überlegungen zum Verhältnis von Klugheit und politischem Wissen, was für unsere Zwecke jedoch weniger bedeutsam ist (Abschnitt EN VI, 8). Der nächste Abschnitt enthält drei wichtige Ergänzungen: (1.) Aristoteles betont, dass junge Menschen aufgrund ihres Alters nicht in der Lage sind, klug zu sein, da dies notwendigerweise voraussetzt, dass Erfahrung gegeben sein muss, die sich aber erst mit dem Alter einstellt. Das Einzelne, worauf sich die Klugheit bezieht, wird einem durch die Erfahrung (empeiria) vermittelt. In diesem Kontext verweist Aristoteles auf den Unterschied zwischen Weisheit und Klugheit, wobei junge Menschen z. B. im Bereich der Mathematik weise – jedoch nicht klug – sein können. (2.) Es wird auf zwei mögliche epistemische Fehlerquellen bei der Überlegung mit Blick auf einen praktischen Syllogismus hingewiesen; während sich der eine Fehler auf das Allgemeine beziehen kann, betrifft der andere Fehler das Einzelne. 29 Dies ist soweit unstrittig, vervollständigt aber die Aristotelischen Überlegungen. (3.) Aristoteles weist auf einen interessanten und schwer verständlichen Punkt hin, der uns noch bis ans Ende des Kapitels in unterschiedlichen Kontexten beschäftigen wird. Dabei geht es darum, dass sich die Klugheit auf das Letzte (eschaton) – also dasjenige, was als »Gegenstand des Handelns« angesehen werden kann – bezieht und dieses vermittels der Wahrnehmung (aisthêsis) erkannt wird. Mit Wahrnehmung meint Aristoteles an dieser Stelle jedoch keine sinnliche Wahrnehmung, sondern eine Wahrnehmung, die vergleichbar damit ist, »wie wir wahrnehmen, dass das Letzte in der mathematischen Analyse das Dreieck ist« (EN VI, 9 1142a27–29). Wolf merkt dazu kommentierend an, dass es sich bei dieser Form der Wahrnehmung, um »eine Art Strukturwahrnehmung oder Gestaltwahrnehmung [handeln muss], die sich auf der untersten Ebene nicht mehr diskursiv formulieren lässt« und man einfachhin »sieht, wie etwas in einen Erklärungszusammenhang passt« (Wolf 2006: 371, Anmerkung 26). Wir stimmen mit dieser Erläuterung von Wolf überein und glauben, dass es sich hierbei in 29 Die beiden anderen Formen einer möglichen Fehlerquelle sind zum einen der charakterliche Fehler (vgl. EN VI, 5) und zum anderen der logische Fehler, der bei einem Syllogismus ebenfalls vorkommen kann.
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Der Begriff der Klugheit bei Aristoteles (EN VI)
der Tat um eine Form von Intuitionismus handelt, die sich auf der ganz konkreten Ebene von Handlungen abspielt (Abschnitt EN VI, 9). Im Folgenden sollen zwei Punkte näher beleuchtet werden: Zum einen der praktische Syllogismus und zum anderen die nicht-sinnliche Wahrnehmung (aisthêsis) im Bereich des Letzten. Erstens: Das Geflügelfleisch-Beispiel des praktischen Syllogismus in EN VI, 8 zeigt, dass es Aristoteles zunächst um die Darstellung einer Entscheidungshilfe im Bereich des praktischen Räsonierens insgesamt geht und nicht in erster Linie um die Explikation eines methodischen Allheilmittels im Bereich der Ethik. Wenn letzteres der Fall wäre, würde es doch einigermaßen merkwürdig anmuten, dass Aristoteles keine ethischen Beispiele im Zusammenhang mit den Formulierungen des praktischen Syllogismus wählt. Gewiss, dies schließt nicht zwingend aus, dass es nicht auch anders sein kann, doch zumindest sollte man diesbezüglich etwas zurückhaltender sein. Hinzu kommt, dass die Annahme, Aristoteles würde seine Ethik im Rahmen einer (einfachen) Deduktion mittels eines Regelfall-Syllogismus entfalten, wenig überzeugend ist. Dies sollte jedem – selbst bei einer nur oberflächlichen Lektüre der Nikomachischen Ethik – klar geworden sein. Aristoteles ist kein Vertreter einer deduktiv vorgehenden Prinzipienethik. Doch wie könnte man die Funktion und Bedeutung des praktischen Syllogismus so stark wie nur möglich machen? Wenn Aristoteles betont, dass die Klugheit sowohl das Allgemeine als auch das Einzelne im Blick hat, und dies im Kontext eines praktischen Syllogismus fruchtbar gemacht werden soll, dann könnte man zunächst bestimmen, wie das Allgemeine (bzw. die ersten Prämissen) im Kontext der Ethik genau aussieht. Glücklicherweise kann uns Aristoteles darauf eine erste Antwort geben. Er führt nämlich insgesamt 13 ethische Tugenden in der Nikomachischen Ethik aus, denen er jeweils einen bestimmten Handlungsbereich zuweist. Daher könnte es durchaus möglich sein, aus den Tugenden sehr allgemeine Bestimmungen für einen Handlungsbereich abzuleiten, die man dann in einen praktischen Syllogismus einpflegen könnte. Gewiss, Tugenden können sich mit Blick auf die jeweilige Zeit und den jeweiligen Ort verändern und unterliegen somit einem natürlichen Wandel (vgl. die Tugend der Tapferkeit im Wandel der griechischen Entwicklungsgeschichte), doch das Anwendungsprinzip bleibt gleich. Im Folgenden soll der Versuch unternommen werden, allgemeine Bestimmungen aus dem Handlungsbereich der Tugenden mit Blick auf das allge-
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Klugheit als ethische Richtschnur
meine Ziel des Menschen – nämlich gut zu leben (eu zên) und gut zu handeln (eu prattein) – zu entwickeln. Tabelle 3: Tugenden und Allgemeine Prämissen 30 Handlungsbereich
Mangel
Tugend
Übermass
Allg. Prämisse
Furcht & Mut
Feigheit
Tapferkeit
Tollkühnheit
Weiche nicht zurück.
Lust & Unlust
Empfindungslosigkeit
Mäßigkeit
Unmäßigkeit
Übertreibe es nicht.
Geben/Nehmen von Geld/Besitz im Kleinen
Geiz
Freigebigkeit
Verschwendung
Sei nicht knauserig, sondern gib, was Du kannst.
Geben/Nehmen von Geld/Besitz im Großen
Kleinlichkeit
Großzügigkeit
Geschmacklosigkeit & Protzerei
Gib entsprechend Deines Wohlstands.
Ehre/Ehrlosigkeit Kleinmütigkeit im Großen
Stolz
Eitelkeit
Verstecke Dich nicht hinter Deinen Leistungen, aber prahle damit nicht.
Ehre/Ehrlosigkeit Ehrgeizlosigkeit im Kleinen
Ohne Namen
Ehrgeiz
Sei motiviert in Deinen Angelegenheiten voranzukommen.
Zorn
Unerzürnbarkeit
Sanftmut
Jähzorn
Halte Deine Wut im Gleichgewicht.
das Wahre
geheuchelte Bescheidenheit
Wahrhaftigkeit
Angeberei
Prahle nicht, aber sei auch nicht zurückhaltend.
das Angenehme in der Vergnügung
Ungehobeltheit
Umgänglichkeit
Possenreißerei
Sei ein guter Gesellschafter.
Freundlichkeit
Beliebtheitssucht Verhalte Dich an& Schmeichelei deren gegenüber angemessen.
das übrige Ange- mürrisches nehme im Leben Wesen
vgl. Wolf 2006: 357–358. Die Tabelle von Wolf wurde für unsere Zwecke umgestaltet und durch die Spalte »Allg. Prämisse« ergänzt.
30
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Der Begriff der Klugheit bei Aristoteles (EN VI) Handlungsbereich
Mangel
Tugend
Übermass
Allg. Prämisse
Scham
Schamlosigkeit
Schamhaftigkeit
Schüchternheit
Vertrete Deine Interessen mit Augenmass.
Lust & Unlust in Schadenfreude Bezug auf das, was unseren Nächsten zustößt
berechtigte Entrüstung
Missgunst
Sei mitfühlend und nicht taub für die Geschicke anderer Menschen.
im Politischen
Gerechtigkeit
Ungerechtigkeit
Gleiches Gleichen, Ungleiches Ungleichen.
Ungerechtigkeit
Die in der Tabelle angeführten sehr knappen und allgemeinen Bestimmungen, die wir aus den Tugenden abgeleitet haben, müssen freilich noch weiter spezifiziert und an die jeweilige Situation angepasst werden, damit sie einigermaßen erfolgreich eingesetzt werden können. Ein Beispiel im Kontext der Tugend der Tapferkeit soll dies verdeutlichen: P1: Weiche (in der Schlacht) nicht zurück (allgemeine Prämisse). P2: Hektor befindet sich in der Schlachtreihe in der vordersten Linie (Tatsache im Einzelnen). P3: Wenn Hektor zurückweicht, dann könnte die Schlacht verloren gehen (Wahrscheinlichkeitsannahme). P4: Hektor will die Schlacht gewinnen (Tatsache im Einzelnen). K: Da Hektor die Schlacht nicht verlieren will, bleibt er in der vordersten Linie und weicht nicht zurück. Der praktische Syllogismus zeigt an, dass Hektor sich unter der Annahme der Richtigkeit der obigen Prämissen dann tugendhaft bzw. moralisch richtig verhält, wenn er in der Schlachtreihe bleibt und nicht zurückweicht. Die vorliegende Beschreibung muss jedoch noch weiter verfeinert werden. Aristoteles macht in EN VII, 5 auf einen wichtigen Punkt aufmerksam und führt an, dass das Allgemeine weiter differenziert werden muss, »[d]enn das eine bezieht sich auf den Handelnden, das andere auf die Sache. Zum Beispiel: »Jedem Menschen ist das Trockene zuträglich« und »Ich bin ein Mensch« oder »So Beschaffenes ist trocken«« (EN VII, 5 1147a4–7). Mit Blick auf unser Beispiel könnte man dann wie folgt verfahren: Die Prämisse P1 muss 73 https://doi.org/10.5771/9783495820759 .
Klugheit als ethische Richtschnur
nun weiter ausdifferenziert bzw. kontextualisiert werden, so dass sich für P1 – Weiche (in der Schlacht) nicht zurück. – Folgendes ergibt: Mit Blick auf den Handelnden: P* Hektor ist Soldat und hat geschworen, seine Polis im Kriegsfall zu verteidigen. Mit Blick auf die Sache: P** Es herrscht Krieg. Insgesamt sollte jedoch klar sein, dass die ethischen Tugenden stets auf das höchste Ziel – die Glückseligkeit – ausgerichtet sind und damit den Menschen eine Handlungsorientierung geben. Wenn also der praktische Syllogismus auf diese Weise fruchtbar gemacht werden kann, was einiges an Könnerschaft verlangt, dann ist es möglich, in bestimmten Fällen den Regelfall-Syllogismus auch im Bereich der Ethik anzuwenden. Unser Beispiel war bewusst einfach gehalten, zeigt jedoch auf welche Weise man vorgehen kann, um die Rolle des praktischen Syllogismus in einer tugendethischen Position zu stärken. Der zweite Punkt betrifft die Aristotelische Annahme, dass wir mit der nicht-sinnlichen Wahrnehmung in der Lage sind, das Letzte intuitiv zu erkennen (EN VI, 9). Über diese Stelle und die Frage, wie man sich denn vorstellen können soll, dass man genauso wie beim Erfassen der Axiome durch die intuitive Vernunft im Bereich von Handlungen ebenfalls in der Lage sein soll, die letzten Dinge – ohne Bezugnahme auf diskursives Denken – zu erkennen, ist trefflich gestritten worden. Mit Wolf hatten wir bereits darauf hingewiesen, dass es sich dabei um eine Art von Strukturwahrnehmung handeln muss, die uns sehen lässt, wie der Erklärungszusammenhang in einer moralisch angemessenen Weise aufzufassen ist. Wir haben es also mit einer Form des moralischen Intuitionismus zu tun. Der bekannte moralische Partikularist John McDowell – der sich auf David Wiggins (1980) stützt – hat in unterschiedlichen Beiträgen (1979, 1996) dafür argumentiert, dass es sich bei der Aristotelischen aisthêsis um eine moralische Sensitivität handelt, die das am meisten »hervorstechende« Merkmal (bzw. Handlungsgrund) in einer Situation erfasst und gleichzeitig andere – weniger bedeutsame – Merkmale zum Schweigen (»silencing«) bringt, so dass diese erst gar nicht zur Geltung kommen könnten (Hoffmann 2010: 152). Martha Nussbaum (1990) und Nancy Sherman (1997) sehen dies anders und betonen die Inklusivi74 https://doi.org/10.5771/9783495820759 .
Der Begriff der Klugheit bei Aristoteles (EN VI)
tät der Aristotelischen aisthêsis, die emotionale, kreative und intellektuelle Bestandteile enthalten würde (Nussbaum 1990: 80) und sich eben nicht auf einen Aspekt reduzieren ließe. 31 Egal für welche Seite man sich letztendlich entscheidet, es scheint offenkundig der Fall zu sein, dass Aristoteles davon ausgeht, dass die praktisch kluge Person – aufgrund ihrer moralischen Verfasstheit – in der Lage ist, zu erkennen, was das moralisch Richtige in bestimmten Situationen ist, ohne auf diskursives Denken zurückzugreifen. Er geht keinesfalls davon aus, dass dies bei allen Situationen der Fall ist; Aristoteles behauptet also nicht, dass alle Situationen von der Art sind, dass man nicht zu überlegen braucht, was man tun sollte und was das moralisch Richtige in einer Situation ist. Wir haben im vorherigen Kapitel dafür argumentiert, dass es die sogenannten klaren Fälle im Bereich der Moral sind, die ebenfalls ohne Bezugnahme auf das Abwägen von Gründen etc. vermittels einer basalen moralischen Intuition als moralisch richtig oder falsch bewertet werden können (vgl. Kapitel 3.4. Tabelle 1). In diesem Sinne gibt es bei Aristoteles – zumindest an dieser Stelle – eine vergleichbare Situation. Die in diesem Zusammenhang von vielen Autoren des Partikularismus verwendete Sehens-Metaphorik trifft es auf den Punkt. Die praktisch kluge Person sieht förmlich, dass das Ausdrücken der Zigaretten auf Hannas Körper moralisch falsch ist, ohne dabei auf das Abwägen von Gründen zu rekurrieren. Wer, so könnte man sagen, erst einen längeren Diskurs darüber anstellt, ob denn das Ausdrücken der Zigaretten auf Hannas Körper moralisch falsch oder richtig ist, der ist entweder moralisch blind oder ein moralisches Monster.
4.1.4. Abschnitte EN VI, 10–12 Aristoteles wies bereits mehrfach darauf hin, dass sich die Klugheit weiter durch den Begriff der Wohlberatenheit (euboulia) bestimmen lässt, da die praktisch kluge Person gut zu überlegen weiß: Zum einen mit Blick auf das Gute für die eigene Person und zum anderen mit Blick auf das Gute hinsichtlich des guten Lebens insgesamt. In Abschnitt EN VI, 10 untersucht Aristoteles nun den in diesem Zusammenhang so wichtigen Begriff der Wohlberatenheit. Nachdem Aris31
vgl. auch die ausführliche Darstellung bei Hoffmann (2010: 148–160).
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Klugheit als ethische Richtschnur
toteles deutlich macht, dass die Wohlberatenheit die Gutheit des Überlegens und das Überlegen (bouleuesthai) eine Art von Suchen (zêtein) ist, bestimmt er mittels eines Ausschlussverfahrens, was die Wohlberatenheit näherhin ist. Sie ist kein Wissen (epistêmê), da man nicht nach dem sucht, was man weiß; sie ist keine Meinung (doxa), da die Meinung eine Behauptung (phasis) ist und die Wohlberatenheit noch eine Suche darstellt; sie ist kein geschicktes Erraten (eustochia), da das Erraten ohne Begründung und schnell erfolgt, die wohlberatene Person aber lange überlegt und schnell handelt; und sie ist kein Scharfsinn (anchinoia), da der Scharfsinn eine Variante des Erratens ist. Damit bleibt nach Aristoteles nur noch die Annahme übrig, dass sie eine Art von Richtigkeit (orthotês) ist, und – da die Wohlberatenheit nach Aristoteles nicht ohne Begründung auskommt – es sich dann bei ihr um die Richtigkeit des Denkens (dianoia) handeln muss. Um nun herauszufinden, was eigentlich die Richtigkeit der Überlegung ausmacht, bestimmt Aristoteles im Folgenden, was man unter Überlegung (boulê) versteht und worauf diese sich bezieht. Seiner Ansicht nach müssen drei Punkte mit Blick auf die Richtigkeit im Sinne des Nützlichen erfüllt sein: (1.) Sie lässt den Menschen etwas Gutes erreichen; (2.) das Gute darf nicht zufällig erreicht worden sein (d. h. die richtige Art und Weise ist wichtig); und (3.) der zeitliche Aspekt ist ebenfalls relevant. Letzteres bleibt an dieser Stelle unterbestimmt, da Aristoteles einräumt, dass Personen entweder das Richtige erreichen, indem sie lange oder schnell überlegen. Abschließend konstatiert Aristoteles, dass man auf zwei Weisen gut überlegen kann: Zum einen mit Blick auf das Ziel an sich und zum anderen hinsichtlich des Mittels, um ein bestimmtes Ziel zu erreichen. Mit anderen Worten: Die Wohlberatenheit ist dafür verantwortlich, die Glückseligkeit als oberstes Ziel einerseits richtig zu bestimmen und anderseits die richtigen Mittel für Ziele auszuwählen. Er schließt mit den Worten: »Wenn nun wohlberaten zu sein Kennzeichen der Klugen ist, dann wird die Wohlberatenheit die Richtigkeit im Sinne dessen sein, was förderlich für das Ziel ist, welches die Klugheit wahr erfasst.« (EN VI, 10 1142b31–33). Dies scheint ein Rückschritt gegenüber der vorherigen Überlegung zu sein, da die Wohlberatenheit nicht nur für die richtige Auswahl der Mittel sorgt, sondern auch für die richtige Bestimmung der Glückseligkeit relevant ist. Die Formulierung »was förderlich für das Ziel ist, welches die Klugheit wahr erfasst« schließt jedoch nicht mit Gewissheit aus, dass die Klugheit nicht auch das Ziel der Glückseligkeit wahr erfassen 76 https://doi.org/10.5771/9783495820759 .
Der Begriff der Klugheit bei Aristoteles (EN VI)
könnte. Wenn daher die Klugheit ebenfalls für die Bestimmung von Glückseligkeit wesentlich ist, dann kann sie keine reine instrumentelle Zweckrationalität sein (Abschnitt EN VI, 10). Die nächsten beiden Abschnitte diskutieren den Begriff Verständigkeit (synhesis) und die These, dass sich alle Tugenden des Denkens – Einsicht, Verständigkeit, Klugheit und intuitive Vernunft – auf das Letzte beziehen und somit handlungsrelevant sind. Für unsere Zwecke kann man folgende Aspekte in EN VI, 11 hervorheben: Aristoteles betont, dass Verständigkeit und Klugheit dieselben Gegenstände im Blick haben, wobei beide nicht dasselbe sind, »[d]enn die Klugheit gibt Anweisungen (epitaktikê) – ihr Ziel ist, zu sagen, was man tun soll oder nicht –, die Verständigkeit hingegen ist nur urteilend (kritikê)« (EN VI, 11 1143a8–10). Dies ist ein zentraler Punkt, da er deutlich macht, dass die Klugheit präskriptiv ist und vorschreibt, was die praktisch kluge Person tun soll. Im Gegensatz dazu ist Verständigkeit eine Disposition vermittels derer die Menschen richtig beurteilen können, »was ein anderer über Dinge sagt, die Gegenstand der Klugheit sind« (EN VI, 11 1143a14–15). Ein weiteres Kennzeichen der klugen Person ist die Fähigkeit (Einsicht=gnômê), »das richtige Urteil über das Billige (epieikes)« zu haben und somit in bestimmten Fällen Nachsicht (syngnômê) üben zu können. Drei zentrale Punkte sind Gegenstand des 12. Abschnitts: Erstens, Aristoteles betont, dass die Gemeinsamkeit der Tugenden des Denkens darin besteht, dass sie sich alle auf das Letzte (eschaton) bzw. das Einzelne (to kath’ hekaston) beziehen und die kluge Person jeweils über diese Dispositionen verfügt. In diesem Sinne kann Aristoteles dann auch treffend behaupten, dass »die Angemessenheit des Urteils, wo es um das Verhältnis zum anderen Menschen geht, […] allen guten Menschen gemeinsam [ist]« (EN VI, 12 1143a31–32). Der zweite Punkt soll – aufgrund seiner Wichtigkeit – in seiner Gänze zitiert werden: »Auch die intuitive Vernunft (nous) bezieht sich auf das Letzte in beiden Richtungen; denn sowohl die obersten Begriffe wie die letzten [untersten] Dinge sind Gegenstand des intuitiven Denkens und nicht der Begründung. Dasjenige intuitive Denken, das mit Beweisen operiert, betrifft die ersten und unveränderlichen Begriffe, dasjenige aber das im Bereich des Handelns operiert, bezieht sich auf das Letzte und Mögliche, das heißt auf die zweite Prämisse. Denn dies ist der Ausgangspunkt (archê) für den Zweck, da man von den Einzelfällen zum Allgemeinen (katholou) gelangt. Diese muss man
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Klugheit als ethische Richtschnur
also durch Wahrnehmung (aisthêsis) erfassen, und diese Wahrnehmung ist intuitives Denken.« (EN VI, 12 1143a35–1143b5)
Diese Passage ist in hohem Maße bedeutsam und aufschlussreich. Zum einen erweitert sie unser Verständnis mit Blick auf den Begriff intuitive Vernunft, die von Aristoteles bereits in EN VI, 6 als Instanz eingeführt worden war und die Aufgabe hatte, die Axiome der Wissenschaften intuitiv – also ohne Bezugnahme auf diskursives Denken – zu erfassen. Zum anderen haben wir in EN VI, 9 gesehen, dass die Klugheit das Letzte vermittels der Wahrnehmung (aisthêsis) intuitiv erfasst und dabei ebenfalls nicht auf eine Begründung rekurriert. Die obige Passage macht nun deutlich, dass es die intuitive Vernunft selbst ist, die die kluge Person in die Lage versetzt, das Letzte intuitiv zu erfassen. Mit anderen Worten: Die intuitive Vernunft erfasst nicht nur die Axiome der Wissenschaften (im Bereich der Theorie), sondern auch das Letzte im Kontext von Handlungen (im Bereich der Praxis). Drittens, aufgrund der Naturgegebenheit der Dispositionen – Einsicht, Verstehen und intuitive Vernunft –, die den Lebensaltern folgen, konstatiert Aristoteles, dass »man unbewiesene Aussagen und Meinungen der Erfahrenen und Älteren oder der Klugen ebenso beachten [muss] wie Beweise. Denn weil sie ein durch Erfahrung [geschärftes] Auge haben, sehen sie richtig« (EN VI, 12 1143b11–14). Dies verdeutlicht zweierlei: Zum einen kommt es an dieser Stelle zu einer erheblichen Aufwertung des erfahrungsbasierten Wissens im Kontext des Handelns, das im Grunde beinahe auf die gleiche Stufe mit dem theoretischen Wissen der Wissenschaften gestellt wird. Zum anderen wird betont, dass die Richtigkeit des Urteils durch Erfahrung sichergestellt ist. Die praktisch kluge Person ist also in der Lage, zu wahren und richtigen Urteilen zu gelangen. Die drei Abschnitte (EN VI, 10–12) konnten einiges zum besseren Verständnis bezüglich des Aristotelischen Klugheitsbegriffs beitragen. Vermittels der Wohlberatenheit, die die Richtigkeit des Denkens darstellt, ist die praktisch kluge Person in der Lage, sowohl das höchste Ziel – die Glückseligkeit – zu ermitteln, als auch die richtigen Mittel zur Erlangung bestimmter Zwecke zu bestimmen. Die Präskriptivität der Klugheit wurde in Abgrenzung zur Verständigkeit herausgestellt. Abschließend wurde nochmals deutlich gemacht, dass die kluge Person alle Tugenden des Denkens in sich vereinigt und in der Lage ist, durch die spezifische Wahrnehmungsleistung der intui78 https://doi.org/10.5771/9783495820759 .
Der Begriff der Klugheit bei Aristoteles (EN VI)
tiven Vernunft das Letzte intuitiv zu erfassen. Die Aufwertung des erfahrungsbasierten Wissens bildet den Höhepunkt und zeigt an, dass es für die praktisch kluge Person tatsächlich möglich ist, zu wahren und richtigen Urteilen im praxisorientierten Bereich zu kommen. Freilich hat Aristoteles noch nicht gezeigt, auf welche Weise die aisthêsis funktioniert, doch dies wollen wir in den nachfolgenden Abschnitten (4.2–4.4) vor dem Hintergrund weiterer Stimmen vertiefen und im Allgemeinen zeigen, wie es für die kluge Person möglich ist, bei bestimmten moralischen Sachverhalten intuitiv zu sehen, was getan werden soll oder gemieden werden muss. Bei anderen moralischen Fragen – so wie es Aristoteles ebenfalls deutlich gemacht hat – bedarf es einer langen Überlegung und viel Erfahrung, um ein angemessenes 32 Urteil zu fällen (vgl. unsere Rede vom Graubereich der Moral).
4.1.5. Abschnitt EN VI, 13 Dieser Abschnitt untersucht das Verhältnis von Klugheit und Weisheit sowie von Klugheit und charakterlicher Gutheit. Obwohl dieser Abschnitt viele interessante Punkte beinhaltet, beschränken wir uns jedoch auf unsere spezifische Fragestellung und wollen wissen, welche Bestandteile – die Aristoteles diskutiert – für unser Vorhaben der Entwicklung einer ethischen Methode relevant sind. Zu Beginn des Abschnitts erfahren wir Folgendes: »Die Klugheit befasst sich mit den Dingen, die gerecht, werthaft (kalos) und gut für den Menschen sind, das heißt mit eben denen, deren Ausführung Sache des guten Menschen ist. Wir werden aber durch das Wissen dieser Dinge nicht besser zu ihrer Ausführung geeignet sein, wenn doch die Tugenden Dispositionen sind.« (EN VI, 13 1143b21–25)
Die Klugheit ist nach Aristoteles also keine Geschicklichkeit (deinotês), sondern bereits auf Ziele gerichtet, die als gerecht und werthaft angesehen werden. Dies ist eine wichtige Feststellung, die dadurch noch erhärtet wird, dass es sich bei der Anwendung von Klugheit nicht um ein Wissen handelt, das von jeder beliebigen Person nutzbar gemacht werden kann (dann wäre die Klugheit bloß eine Geschicklichkeit). Es geht vielmehr um ein Wissen, das sich in den Tugenden
»Denn die Angemessenheit des Urteils, wo es um das Verhältnis zum anderen Menschen geht, ist allen guten Menschen gemeinsam.« (EN VI, 12 1143a31–32)
32
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Klugheit als ethische Richtschnur
manifestiert, die als feste Dispositionen im guten Menschen verankert sind. Aristoteles wird später sagen, dass man nicht »gut sein kann ohne die Klugheit noch klug ohne die Tugend des Charakters« (EN VI, 13 1144a28–29). Die Weisheit ist nach Aristoteles ein Teil der ganzen Tugend und macht die Menschen dadurch, dass sie sie besitzen und ausüben, glücklich, wobei dieses vermittels der Klugheit und charakterlichen Tugend erreicht wird (EN VI, 13). Ferner weist Aristoteles nochmals darauf hin, dass »die Tugend des Charakters […] den Zielpunkt (skopos) richtig [macht], die Klugheit aber das, was zum Ziel führt (ta pros tauton)« (EN VI, 13 1144a7–9). Diesbezüglich haben wir bereits betont, dass die Klugheit nicht als eine reine instrumentelle Zweckrationalität anzusehen ist, gleichwohl Aristoteles an einigen wenigen Stellen den Eindruck vermittelt, dass er eine solche Position vertritt. Im Anschluss an die Diskussion bezüglich des Unterschieds zwischen Klugheit und Geschicklichkeit macht Aristoteles deutlich, dass der Ausgangspunkt (archê) sich nur dem guten Menschen zeigt, da die Schlechtigkeit die moralische Urteilsfähigkeit des Menschen untergräbt (vgl. auch EN VI, 5), und es somit offensichtlich ist, dass es »unmöglich ist, klug zu sein, wenn man nicht gut ist« (EN VI, 13 1144a36–1144b1). Dies ist eine sehr anspruchsvolle Theorie, da sie voraussetzt, dass nur die praktisch kluge Person, die einen festen tugendhaften Charakter aufweist, im vollen Sinne moralisch richtig urteilen kann (EN VI, 13 1144b26–28). Während z. B. der Utilitarismus bekanntlich zwischen einer moralisch richtigen Handlung und dem tugendhaften Charakter einer Person unterscheidet, ist dies im Rahmen der Aristotelischen Tugendethik nicht möglich. Die Klugheit ist also bereits normativ aufgeladen und auf das Gute hin ausgerichtet. Die nächsten beiden Punkte sollen nur kurz Erwähnung finden, da sie keine direkte Bedeutung für unsere Fragestellung haben, jedoch für die Aristotelische These der Einheit der Tugenden – d. h. mit der Klugheit sind alle Tugenden zugleich vorhanden – wichtig sind. Zunächst unterscheidet Aristoteles zwischen natürlichen Tugenden (physikê aretê), die die Menschen von Geburt an haben, und den Tugenden im eigentlichen Sinn, die durch die Klugheit bestimmt werden. Daraufhin korrigiert er die Sokratische Annahme, dass alle Tugenden Arten der Klugheit und Arten des Wissens sind (EN VI, 13). Zum einen können Tugenden nicht alle Arten der Klugheit sein, da die natürlichen Tugenden nach Aristoteles ohne Klugheit definiert 80 https://doi.org/10.5771/9783495820759 .
Der Begriff der Klugheit bei Aristoteles (EN VI)
werden, und zum anderen sind sie keine Arten des Wissens, sondern »mit Überlegung verbunden«. Abschließend konstatiert Aristoteles, dass die Richtigkeit des Vorsatzes (prohairesis) nicht ohne Klugheit und die Gutheit des Charakters auskommt, sondern beides notwendigerweise vorausgesetzt werden muss. Die Klugheit ist dafür verantwortlich, dass die Weisheit (sophia) entsteht (Abschnitt EN VI, 13). Im Folgenden sollen zwei Punkte näher untersucht werden: Zum einen soll der Frage nachgegangen werden, auf welche Weise die Klugheit, die ja im Bereich der Handlungen verortet worden ist (praktische Vernunft), die Weisheit, die im Bereich des theoretischen Wissens angesiedelt ist (theoretische Vernunft), entstehen lassen soll. Zum anderen erscheint es notwendig, nochmals den wichtigen Punkt verständlich zu machen, warum nach Aristoteles eine moralisch gute Handlung notwendigerweise eine moralisch gute Person voraussetzt (vgl. den Unterschied zwischen Legalität und Moralität). Erstens: Der Begriff der Glückseligkeit in der Nikomachischen Ethik ist alles andere als eindeutig bestimmt. Grundsätzlich kann man konstatieren, dass Aristoteles zwei unterschiedliche Formen von Glückseligkeit kennt – ein Leben gemäß der theoretischen Vernunft und ein Leben gemäß der ethisch-politischen Tugenden (vgl. Gordon 2007). Das Leben gemäß der theoretischen Vernunft – also die Beschäftigung mit den unveränderlichen und ewigen Wahrheiten – ist nach Aristoteles dasjenige menschliche Leben, das am meisten Glückseligkeit verspricht (vgl. EN X, 6–9). Um allerdings als Philosoph in einer menschlichen Gemeinschaft leben zu können, braucht es notwendigerweise auch die Klugheit, wenn man kein Leben als Einsiedler führen möchte. Damit könnte Aristoteles behaupten, dass der Weise – selbst wenn er sich nur den theoretischen Dingen verpflichtet sieht – ebenfalls in praktischen Dingen klug sein muss, da er nur so in der Lage ist, sich entsprechend (angemessen) in einer Gemeinschaft zu verhalten. Dies gäbe ihm dann die Möglichkeit, sich um seine theoretischen Studien zu kümmern d. h. die Klugheit würde dann die Weisheit entstehen lassen und somit »Anweisungen nicht ihr, sondern ihretwegen« (EN VI, 13 1145a9) geben, um dabei zu helfen glückselig zu werden. Zweitens: Der Unterschied zwischen antiken tugendethischen Positionen und modernen Ethiken besteht unter anderem darin, dass es zu einer Aufspaltung bezüglich der Tugendhaftigkeit des Charakters und der moralischen Beurteilung der Handlung bzw. Folgen einer 81 https://doi.org/10.5771/9783495820759 .
Klugheit als ethische Richtschnur
Handlung gekommen ist. Mit anderen Worten: Die moralische Richtigkeit einer Handlung wird nicht mehr mit Blick auf das Gutsein des Charakters bestimmt. In diesem Sinne kann auch eine moralisch schlechte Person eine moralisch richtige Handlung tun. Dies ist im Allgemeinen ein undenkbarer Gedanke in der Antike und für Aristoteles im Besonderen. Für ihn gibt es eben einen deutlichen Unterschied zwischen der Legalität und der Moralität einer Handlung (EN VI, 13). Fraglich ist nun, wie wir im Rahmen einer ethischen Methode damit umgehen wollen. Auf der einen Seite erscheint die Voraussetzung des Habens eines tugendhaften Charakters für die Richtigkeit des moralischen Räsonierens doch recht anspruchsvoll zu sein, auf der anderen Seite kann man durchaus mit Recht der Auffassung sein, dass Klugheit eben keine reine instrumentelle Strategie ist, sondern handlungsrelevantes Wissen voraussetzt, dass nur im Rahmen der Gutheit eines Charakters gegeben ist. Dies mag durch eine weitere Überlegung gestützt werden: Das Motivationsproblem lässt sich einzig durch die Gutheit des Charakters überzeugend auflösen. Diejenigen Personen, die im Bereich der praxisorientierten Ethik zu angemessenen Lösungen kommen wollen, können sich nicht nur auf die Geschicklichkeit verlassen, sondern müssten dann zusätzlich nach einem weiteren Grund Ausschau halten, warum sie sich entsprechend moralisch verhalten sollten. Im Rahmen einer tugendethischen Position ist dieser Grund – jene Motivation, angemessen zu handeln – bereits in die Grundstruktur bzw. in die Natur des guten Menschen eingelassen. Eine praktisch kluge Person zu fragen, warum sie sich in dieser Situation moralisch verhalten will, würde keinen Sinn haben.
4.1.6. Würdigung Die obige Darstellung hat einmal mehr deutlich gemacht, dass eine moralisch gute Handlung notwendigerweise eine feste tugendhafte Disposition im Handelnden voraussetzt. Dies ist wiederum ohne den Rückgriff auf die praktische Klugheit, die es mit Handlungen zu tun hat, nicht möglich. Dabei geht es nicht um beliebige Handlungen, sondern um solche, die zum einen den Nutzen des Handelnden selbst betreffen und zum anderen das gute Leben an sich im Blick haben. Grundsätzlich geht Aristoteles davon aus, dass die praktische Klugheit im diskursiven Denken aufscheint und somit unauflösbar mit 82 https://doi.org/10.5771/9783495820759 .
Der Begriff der Klugheit bei Aristoteles (EN VI)
dem rationalen Abwägen von Gründen (prohairesis) verbunden ist, sodass viele Autoren davon ausgegangen sind, dass die Klugheit nicht ohne Überlegung auskommen könnte. Diese Lesart wird durch etliche Stellen im Aristotelischen Werk gestützt. Abgesehen davon gibt es jedoch eine zweite und auf den ersten Blick abweichende Position (EN VI, 9), die davon ausgeht, dass es so etwas wie eine nicht-sinnliche Wahrnehmung gibt, mit der die praktisch kluge Person in der Lage ist, das Letzte intuitiv zu erfassen. Ob wir dies nun als moralische Sensitivität oder Strukturwahrnehmung bezeichnen wollen, es ist klar, dass das moralisch Richtige damit in einigen Fällen ohne den Rückgriff auf diskursives Denken – also rationale Überlegung – bestimmt wird. Wenn also eine tugendhafte Handlung nach Aristoteles immer durch die Klugheit bestimmt wird und die Klugheit stets bei der Entscheidungsfindung auf das Abwägen von Gründen rekurriert, wie kann es dann eine tugendhafte Handlung geben, die allein durch den Nous intuitiv erfasst wird und die ohne diskursives Denken auskommt? Die moralische Richtigkeit der tugendhaften Handlung wird also unmittelbar eingesehen. Wie kann man sich dies genau vorstellen, ohne dass es zu einem Konflikt zwischen beiden Lesarten kommt? Aristoteles führt dies nicht weiter aus, sondern lässt uns diesbezüglich im Dunkeln, obwohl er uns einen knappen Hinweis dazu gibt, den er jedoch nicht weiter systematisch mit Blick auf seine ethische Position ausbaut. In EN VI, 13 1144a29–31 betont Aristoteles, dass die Klugheit das Auge der Seele sei und die praktisch kluge Person jemand ist, der aufgrund seiner Erfahrung in der Lage ist, eine Situation moralisch richtig zu erfassen (vgl. EN VI, 12 1143b11–14). Dies ist ein erster Hinweis mit Blick auf das nicht-sinnliche und nicht-diskursive unmittelbare Gewahrwerden einer moralisch richtigen Handlung. In ihrem lesenswerten Beitrag Phronêsis in Aristotle: Reconciling Deliberation with Spontaneity (2015) geht Bronwyn Finnigan unter anderem der Frage nach, auf welche Weise man den Widerspruch zwischen der nicht-sinnlichen Wahrnehmung einerseits und dem diskursiven Denken andererseits im Kontext der moralischen Entscheidungsfindung auflösen kann. Sie diskutiert einen vielversprechenden Ansatz, den sie im Rahmen ihres causal skill model of phronêsis ausführt. Sie geht von folgender Annahme aus:
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Klugheit als ethische Richtschnur
»Virtuous actions are enabled by phronêsis and can be performed without deliberation but only insofar as deliberative choice is a necessary cognitive event in their causal history.« (Finnigan 2015: 685)
Diesen Gedanken baut Finnigan weiter aus, indem sie sich dabei auf die Arbeiten von Christine Korsgaard und Michael Bratman beruft. Mit Blick auf Korsgaard übernimmt sie zwei wesentliche Aspekte, die Korsgaard im Kontext ihrer endorsement theory of moral agency beschreibt: Erstens geht Korsgaard davon aus, dass das reflektierende Befürworten erforderlich ist, um die Motive und Neigungen in moralische Motive oder Gründe, die eine normative Kraft entfalten, zu transformieren (Korsgaard 1996). Zweitens versteht Korsgaard (2006, 2008, 2009) nun das reflektierende Befürworten nicht mehr als die Moral selbst, sondern als eine notwendige kausale Vorbedingung einer moralischen Handlung, bei der ein kognitives Ereignis nicht notwendigerweise zum Handlungszeitpunkt stattfinden muss (Finnigan 2015: 689). Beide Punkte, so Finnigan, sind mit ihrem Ansatz kompatibel. 33 Mit Blick auf Bratman übernimmt sie sein Planmodell von Handlungen (1987, 2007) – das davon ausgeht, dass Pläne propositionale Einstellungen sind, die vor einer Überlegung feststehen und als Filter fungieren, um relevante Aspekte zu bestimmen, ohne jeweils nochmals auf den Plan Bezug zu nehmen 34 – und überträgt es auf den ethischen Bereich (Finnigan 2015: 689). Die Überlegungen beider Autoren führt Finnigan auf plausible Weise zusammen und konstatiert: »In a similar way we might contend that the deliberative choice qua reflective endorsement of certain aspects of one’s ethical outlook (i. e. particular values, commitments and conceptions of virtue) functions to frame, filter or constrain what counts as a relevant possibility for action. All that would be required for action is a capacity to perceive the particular features of situations that are relevant with respect to aspects of this outlook without needing to think about those values each and every time one acts appropriately with respect to them.« (Finnigan 2015: 690) »This seems consistent with the causal version of the skill model of phronêsis that we are considering and, thus, with the excellence and fallible thesis.« (Finnigan 2015: 689) 34 »Plans, according to Bratman, are propositional attitudes that are settled in advance of deliberation and function to frame or filter what counts as a relevant consideration without the plan, itself, featuring within this process. It could be argued that the ethical outlook chosen or endorsed as the result of reflective thought functions in a similar way.« (Finnigan 2015: 689) 33
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Der Begriff der Klugheit bei Aristoteles (EN VI)
Die spezifische Fähigkeit der praktisch klugen Person – nicht des moralischen Laien – in bestimmten Fällen intuitiv zu erfassen, was das moralisch Richtige ist, ohne nochmals eigens in einer bestimmten Situation auf das Abwägen von Gründen Bezug zu nehmen, ist genau dann möglich, wenn sich die Person bereits zu einem früheren Zeitpunkt mit solchen oder hinreichend ähnlichen Situationen aktiv auseinandergesetzt hat. Die praktisch kluge Person muss dann nicht mehr jedes Mal mit dem Abwägen von Gründen von vorne anfangen, wenn sie mit einer moralischen Situation konfrontiert wird, über die sie bereits nachgedacht hat. Sie erkennt dann intuitiv, was die moralisch richtige Handlung ist. Aristoteles muss diesen Aspekt ebenfalls erkannt haben, da er deutlich macht, dass die Erfahrung eine wesentliche Eigenschaft der klugen Person ist. Daher betont Aristoteles auch, dass der phronimos unter anderem deswegen richtig urteilt, weil ihm die Erfahrung das richtige Auge verliehen hat (EN VI, 12 1143b11–14). Wir können die spezifische Qualität des intuitiven Erfassens des moralisch Richtigen der praktisch klugen Person am besten mit einem herausragenden Schachspieler, etwa einem Schachgroßmeister, vergleichen. Aufgrund der vielen Jahre des harten Trainings und Tausender gespielter Schachpartien, die teils intensiv vor- und nachbereitet wurden, hat sich eine stabile und verlässliche Intuition im Schachspieler ausgebildet, die weit über das normale Maß des normalen Schachspielers hinausragt und den Großmeister befähigt, in vielen Fällen intuitiv zu erkennen, was der richtige Zug in der jeweiligen Situation ist. Um diesen Zustand zu erreichen, ist jedoch langjährige Erfahrung notwendig. Es bleibt allerdings zu konstatieren, dass nicht jeder Schachspieler die Voraussetzungen dazu hat, um auch ein Schachgroßmeister zu werden. Selbst wenn ein Schachspieler viele Tausende Partien gespielt hat, auf einen großen Erfahrungsschatz zurückgreifen kann und sich wirklich aktiv darum bemüht hat, das Wesen des Schachspiels zu ergründen, kommt offenkundig noch etwas hinzu, das einen großartigen Schachspieler zu einem wirklichen Großmeister werden lässt. Mit einer moralisch seriösen Person verhält es sich ähnlich. Der Aristotelische phronimos kann aufgrund seiner langjährigen Erfahrung in vielen Fällen ebenfalls intuitiv erkennen, was die moralisch richtige Handlung ist. Seine Intuition basiert auf einem stabilen tugendhaften Charakter, der sich über viele Jahre hinweg ausgebildet hat und sich erst vor dem Hintergrund des diskursiven Denkens ent85 https://doi.org/10.5771/9783495820759 .
Klugheit als ethische Richtschnur
falten konnte. Das gelegentliche Ausdrücken von Zigaretten auf dem Körper der 3-Jährigen Hanna ist unmoralisch und grausam. Der phronimos wäre kein phronimos, wenn er zunächst das Für und Wider des Ausdrückens von Zigaretten auf Hanna diskutieren und sorgsam die Gründe abwiegen würde. Aufgrund seiner moralischen Erfahrung erkennt der phronimos intuitiv – ohne Überlegung –, dass der Vater unmoralisch und grausam handelt. Damit behaupten wir jedoch nicht, dass der phronimos, als er noch nicht die praktisch kluge Person war, sich notwendigerweise vorher Gedanken über solche oder ähnliche Fälle gemacht haben muss, um dann später intuitiv erkennen zu können, dass solche Handlungen unmoralisch sind (wie es die Analogie zum Schachspiel nahelegen könnte). Vielmehr sagen wir, dass die praktisch kluge Person aufgrund ihrer langjährigen Erfahrung mit moralischen Dingen insgesamt eine Grundlage erworben hat, die es ihr ermöglicht, solche Fälle auch ohne Bezugnahme auf das Abwägen von Gründen intuitiv zu erfassen. Dies setzt jedoch nach Aristoteles zwingend voraus, dass die Gemeinschaft oder der Staat die richtigen Gesetze (Nomos) hat. Nur wenn die richtigen Voraussetzungen für die Eudaimonia gegeben sind, sind Menschen in der Lage, sich zu praktisch klugen Personen d. h. moralischen Experten zu entfalten. Dass dies ein schwieriges Unterfangen ist, räumt Aristoteles freimütig ein und nimmt an, dass es vermutlich nicht viele phronimoi – die immer das moralisch Richtige tun – geben wird. Die Existenz der beiden oben dargestellten unterschiedlichen Entscheidungsweisen – diskursives Denken und intuitives Erfassen – zeigt sich ebenfalls in unserer Einteilung über die Phänomenologie moralischer Fälle (vgl. Kapitel 3.4.). Wir gehen davon aus, dass die sogenannten klaren Fälle auf dieselbe Weise intuitiv erfasst werden können, wie bei Aristoteles, die Fälle im Graubereich der Moral und die einfachen Fälle aber notwendigerweise diskursives Denken und somit das Abwägen von Gründen zwingend voraussetzen. Auf welche Weise jedoch der phronimos Entscheidungen trifft, wird im 5. Kapitel weiter vertieft.
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Die Billigkeit bei Aristoteles (EN V, 14)
4.2. Die Billigkeit bei Aristoteles (EN V, 14) 35 In diesem Abschnitt geht es in erster Linie nicht darum, eine allgemeine Untersuchung mit Blick auf den Begriff der Billigkeit bei Aristoteles anzustrengen, sondern einen zentralen und für uns relevanten Aspekt in diesem Kontext herauszugreifen, der für unsere spezifische Fragestellung wesentlich ist. Doch worum geht es genau? Bekanntlich nimmt Aristoteles an, dass die Epieikeia bzw. Billigkeit eine Verbesserung des bestehenden positiven Rechts ist. 36 Zum einen kommt es in einigen Fällen, so Aristoteles, aufgrund der Allgemeinheit sowie der gewollten und ungewollten Lückenhaftigkeit des Gesetzes unausweichlich zu Anwendungsproblemen, die dann aufgelöst werden müssen. Zum anderen betont Aristoteles, dass die Billigkeit ebenfalls eine Disposition ist. Die billige Person wird dann als nachsichtig und wohlwollend charakterisiert, die auch zum Nachteil ihrer selbst auf eine pedantische Auslegung des Rechts verzichtet (vgl. Gordon 2007: 225–243). Textbelege 37 und systematische Überlegungen bei Aristoteles verdeutlichen, dass die praktisch kluge Person (ho phronimos) synonym mit der billigen bzw. fairen Person (ho epieikês) und der moralisch perfekten Person (ho spoudaios) verstanden wird (vgl. Horn 2006: 142–143, Hoffmann 2010: 108, FN 53). Wenn wir also wissen, auf welche Weise die billige Person bei Anwendungsproblemen urteilt, dann sind wir besser in der Lage zu verstehen, wie die praktisch kluge Person moralische Urteile fällt. In diesem Sinne hat Hoffmann ganz recht, wenn sie folgende Beziehung herstellt: 35 Einige wichtige Beiträge zum Begriff der Billigkeit sind: Kuypers (1937: 289–301), Salomon (1937: 68–76), Trude (1955: 115–137), McDowell (1979: 331–350), Wiggins (1980: 221–240, 1997: 52–66), v. Leyden (1985), Brunschwig (1996: 115–155), Abizadeh (2002: 267–296), Horn (2006: 142–166), Gordon (2007: 225–243) und Hoffmann (2010: 102–110). 36 vgl. Trude (1955), der die Epieikeia als »ein methodisches Hilfsmittel« (129) bezeichnet, das eine »Verbesserung des Gesetzes« (124) bzw. eine »Verbesserung und Ergänzung des menschlichen Rechts« (129) ist; oder Kuypers (1937), der in der Epieikeia »das technische Korrektionsmittel« (291) sieht, wobei er das Vermögen einer fairen Person, »das Gefühl für die Einzigartigkeit des Falles« zu haben und »die Unanwendbarkeit des allgemeinen Gesetzes [einzusehen] und dementsprechend [zu urteilen]« (294), als »das natürliche Rechtsgefühl« bezeichnet, das Kuypers allerdings vom Naturrecht unterschieden wissen will (294, 297); oder Fritz (1980), der betont, dass »das formulierte Recht« aufgrund der allgemeinen Struktur hin und wieder »in der Praxis einer Zurechtrückung ([epanorthôma])« bedarf (267). Diese Fußnote ist übernommen worden aus Gordon (2007: 232, FN 12). 37 vgl. EN IX, 4 1166a10–23; EN IX, 8 1168a33–35 und EN IX, 8 1169a15–18.
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Klugheit als ethische Richtschnur
»[…] die epieikeia [ist] von großer Bedeutung, da ihrem Kontext Näheres über das Verhältnis von Regeln und Ausnahmen zu entnehmen ist. Schließlich geht es dort (auch) um das Problem der Allgemeinheit von Gesetzen und deren Anwendung bei schwierigen Einzelfällen. Diese strukturelle Ähnlichkeit zum Problem der allgemeinen Geltung von moralischen Prinzipien im Verhältnis zu partikularen Situationen ist auch der Grund, warum Partikularisten die epieikeia als ein Indiz für ihre Position anführen.« (Hoffmann 2010: 102)
Hoffmann weist jedoch noch auf einen weiteren wichtigen Punkt hin, der sich gerade im Kontext der Frage stellt, auf welche Weise grundsätzlich moralische Probleme gelöst werden sollten. Dabei handelt es sich um die sogenannte Partikularismus-Generalismus-Debatte in der zeitgenössischen Moral. Partikularisten wie David Wiggins (1980) und John McDowell (1979) gehen mit Berufung auf Aristoteles – und insbesondere seinen Überlegungen zur Analogie der »lesbischen Regel« bezüglich der flexiblen Anpassung an situationsabhängige Gegebenheiten im Kontext der Moral 38 – davon aus, dass die moralischen Prinzipien aufgrund ihrer Allgemeinheit nicht in der Lage sind, angemessene und kontextsensitive Urteile im Einzelfall zu gewährleisten. Aristoteles vertritt ihrer Meinung nach eine partikularistische Ethik und wird aus diesen Gründen auch als wichtiger Gewährsmann herangezogen. Horn (2006) und Hoffmann (2010) sehen dies kritisch und argumentieren dafür, dass Aristoteles eher davon ausgeht, dass die gesetzlichen Vorschriften im Allgemeinen zutreffen und es somit keine Einzelfalllösungen braucht, sondern die Verbesserung des Rechts durch die Billigkeit lediglich bei strittigen oder neuartigen Fällen Anwendung findet. 39 In diesem Kontext könnte man dann entweder von einem Semi-Partikularismus sprechen, wenn man das Partikulare stärker in den Vordergrund stellen möchte, oder aber von einem Semi-Generalismus, wenn man das Allgemeine und die Bedeutung von moralischen Regeln stärker betonen will.
Die klassische Stelle bei Aristoteles lautet: »Dies ist also das Wesen des Billigen, eine Berichtigung des Gesetzes zu sein, insofern dieses wegen seiner Allgemeinheit eine Lücke aufweist […] Denn wo die Sache unbestimmt ist, ist auch der Maßstab (kanôn) unbestimmt, wie der bleierne Maßstab, der beim Hausbau auf Lesbos verwendet wird. Der Maßstab passt sich nämlich der Gestalt des Steins an und ist nicht starr, und so passt sich auch der Beschluss den Sachverhalten an.« (EN V, 14 1137b26– 32) 39 vgl. Horn: »My claim will be that what Aristotle maintains is a kind of contextsensitive universalism, not a contextualism with universalist additions« (2006: 158). 38
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Die Billigkeit bei Aristoteles (EN V, 14)
Die Partikularismus-Generalismus Debatte ist eine wichtige Kontroverse, die viel zum besseren Verständnis mit Blick auf das Anwendungsproblem der Moral zu Tage gefördert hat und auch für unser grundsätzliches Anliegen relevant ist. An dieser Stelle steht jedoch eine andere Frage im Mittelpunkt, die unsere Beachtung finden muss; nämlich, auf welche Weise die billige Person Probleme bei der Rechtsanwendung auflöst, um besser zu verstehen, wie die praktisch kluge Person in analogen Situationen moralisch urteilt. Die These, dass die Epieikeia das positive Recht in Anlehnung an das natürliche Gerechte bzw. Naturrecht korrigiert, ist z. B. von Trude (1955: 115–137) und von v. Leyden (1985: 96) vertreten worden. Während dies von Salomon (1937) und Horn (2006) vehement bestritten wird, nimmt Kuypers (1937) in Anlehnung an die Aristotelische Rhetorik eine moderate Position ein und argumentiert dafür, dass es eine teilweise Ähnlichkeit der Billigkeit mit dem Naturrecht gibt. Im Folgenden soll zunächst die ältere Debatte vorgestellt werden; danach werden wir unsere eigene Position in kritischer Auseinandersetzung mit Horn entfalten. (A.) Das Verhältnis von Billigkeit und Naturrecht I. 40 Aristoteles – bzw. der Autor der Magna Moralia (MM) – bezeichnet das besondere Erkenntnisvermögen in den MM mit eugnômosunê, während Aristoteles in der EN VI, 11 den Ausdruck gnômê verwendet. Die Formen sungnômê und gnômê sind nach Aristoteles identisch (EN VI, 11 1143a21–23). So definiert er in EN VI, 11 1143a20 die gnômê als die richtige Beurteilung »des Fairen«, wobei nur dann richtig geurteilt wird, wenn man mit Hilfe der gnômê nach der Wahrheit urteilt (EN VI, 11 1143a24). Vgl. dazu auch Trude (1955: 126). In diesem Sinne kann man mit Trude sagen, dass es die Aufgabe des Erkenntnisvermögens ist »bei fehlerhaftem menschlichen Recht im einzelnen Fall die Wahrheit, das wahre Recht zu finden« (126). Ferner konstatiert er: »Die [gnômê] läßt sich daher zusammenfassend etwa definieren als das Erkenntnisvermögen für die Billigkeit, das gekennzeichnet ist einerseits durch eine besonders tiefe Einsicht in den Einzelfall, also durch die Fähigkeit zur Dieser Abschnitt ist mit kleinen Veränderungen aus meiner Arbeit über den Aristotelischen Gerechtigkeitsbegriff entnommen worden (Gordon 2007: 231 FN 10; 233– 234 FN 16 und 234–235 FN 18).
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Klugheit als ethische Richtschnur
scharfblickenden, einsichtigen Unterscheidung der Besonderheiten des tatsächlichen einzelnen Falls, wie andererseits durch die Verbindung mit der Wahrheit.« (Trude 1955: 127).
Die gnômê, so Trude, sieht nicht »auf Begriffe des menschlichen Rechts«, sondern guckt auf »die gesamte Wirklichkeit des sich im Einzelnen abspielenden menschlichen Lebens« (127). Trude nimmt also an, dass es eine enge Verbindung zwischen der gnômê und damit der Epieikeia und dem natürlichen Gerechten bei Aristoteles gibt (vgl. Trude 1955: 128f.). Dies wird z. B. von Salomon (1937: 71f.) und Kuypers (1937: 293f.) mit Bezug auf EN V, 14 bestritten. Trude hat jedoch nicht Unrecht, wenn er sagt, dass Aristoteles »ganz modern zwischen dem Wortlaut ([logos]) und dem Sinn ([dianoia]) des Gesetzgebers [unterscheidet], wobei der letztere maßgeblich sein soll« (128) und verweist dabei auf Rhet. I, 13 1374b12f. Trude versucht, eine inhaltliche Bestimmung der Epieikeia vorzunehmen, die sich an der Gleichheit der besonderen Gerechtigkeit orientiert, und schreibt: »Für sie [die Epieikeia, Anm. des Autors] gelten ebenfalls die der Verwendung der Gleichheit zugrundeliegenden methodischen Grundsätze der Normativität, der Teleologie und der Unterscheidung und Vergleichung der Lebenssachverhalte. Dies wird auch dadurch bestätigt, daß die Billigkeit und ihr Erkenntnisvermögen entsprechend diesen Grundsätzen vom wahren natürlichen Recht ausgehend das durch das menschliche Recht mangelhaft Geregelte im einzelnen Fall suchen.« (Trude 1955: 130, vgl. zum Begriff Normativität auch 134f.).
Salomon betont mehrfach und mit eindringlichen Worten, dass es in die Irre führt, »wenn man sagt, die Billigkeit bei Aristoteles sei nichts anderes als die Berichtigung des gesetzlichen Rechts durch das natürliche Recht« (1937: 71f.). Und fährt weiter fort: »Wo nur steht das denn bei Aristoteles? Für eine solche Deutung, aber auch für eine solche – man muß es aussprechen – Herabwürdigung des [nomos] fehlt jede Berechtigung. Die [epieikeia] führt zum [nomos] hin und nicht vom [nomos] weg. […] In Wahrheit liegen die Dinge so, daß das [phûsikon dikaion] so wenig wie das [epieikês] irgend etwas am [nomos] in Frage stellen; also auch nicht das, was den [nomos] formt, nämlich die [isotês].« (Salomon 1937: 72).
Trude ist jedoch anderer Ansicht und kritisiert Salomons Sichtweise scharf. Gemäß Trude besteht »nach der eindeutigen Begriffserklärung und nach den vielen Beispielen des A., welche dies teilweise ausdrück90 https://doi.org/10.5771/9783495820759 .
Die Billigkeit bei Aristoteles (EN V, 14)
lich sagen« kein Zweifel daran, »daß die Billigkeit aber zum [nomos], insoweit er fehlerhaft und zwar teilweise sogar notwendig fehlerhaft ist, in Widerspruch tritt und mit dem wahren, natürlichen Recht verbunden ist« (1955: 129f. FN 640, hier 130, FN 640). Aristoteles hat damit, so Trude, die »Kontroverse über die Berichtigung und den Wert der Billigkeit« (129) gelöst, indem er konstatiert, dass die Aufgabe der Epieikeia darin besteht, das fehlerhafte menschliche – und damit notwendig unvollkommene – Recht zu verbessern und zu ergänzen. Aristoteles hebt somit zum einen den von Platon angenommenen Widerspruch zwischen der Epieikeia zur Gerechtigkeit und zum natürlichen Recht auf und zum anderen bleibt der charakteristische Gegensatz von Epieikeia zum positiven menschlichen Recht erhalten, so Trude (129). Beide Autoren haben auf eine gewisse Art und Weise recht und unrecht zugleich. Kuypers weist darauf hin, dass die Stelle in der EN (V, 14) mit Blick auf den Begriff Epieikeia zwar »berühmt« ist, doch die Überlegungen in der Rhetorik »am stärksten auf die späteren Zeiten bis auf die neuzeitliche Naturrechtsdoktrin eingewirkt [haben]« (1937: 290). An dieser Stelle soll zwar auf eine vollständige Rekonstruktion der Darstellung von Kuypers verzichtet werden, aber die für uns besonders relevanten Aspekte sollen dennoch kurz Erwähnung finden. Nach der Darstellung der Wandlungsgeschichte der Epieikeia in der Rhetorik (290–292) – die verschiedene Versionen, Bedeutungsunterschiede und Definitionen hinsichtlich der Epieikeia und ihr Verhältnis zum Naturrecht enthält – kommt Kuypers zur folgenden Einschätzung: »Nach dieser in der Rhetorik vertretenen Auffassung stehen das Naturrecht und das Billige als zwei unter sich verschiedene ungeschriebene Normenkomplexe zusammen im Gegensatz zu den geschriebenen Gesetzen, insoweit beide Komplexe ewig und unabänderlich sind.« (294). Diesbezüglich, so Kuypers, »ist der Begriff der Billigkeit vor allem aufgenommen worden, um eine technische Verbesserung in der Anwendung der allgemeinen Norm auf den einzelnen Fall zu ermöglichen […]« (293) und argumentiert gegen die Auffassung von Trude und für die These von Salomon mit folgenden Worten: »Es ist nicht ganz richtig und jedenfalls unklar, wenn Zeller die Billigkeit als die Berichtigung des positiven Rechts durch das Naturrecht auffasst. Wenigstens gilt dies nicht von der engen Begriffsbestimmung, die man in der Nik. Ethik findet.« (293f.). Als Begründung weist Kuypers auf die Allgemeinheit der Normen des Naturrechts, die den Menschen vorgegeben sind, hin und kon91 https://doi.org/10.5771/9783495820759 .
Klugheit als ethische Richtschnur
trastiert dies damit, dass es bei der Epieikeia eben grundsätzlich darum geht, »dass der Gesetzgeber nicht alle Situationen, die sich in der Wirklichkeit des praktischen Handelns ergeben, vorhersehen kann« (294). Abschließend konstatiert Kuypers: »Die Billigkeit zeigt nun teilweise Ähnlichkeit mit diesem sogenannten Naturrecht, teilweise unterscheidet sie sich ganz wesentlich von ihr. Die Übereinstimmung besteht wohl darin, dass sie im Zusammenhang mit dem natürlichen Rechtsgefühl steht, darin ihre Stütze und also nicht ihre Herkunft in willkürlicher Satzung hat. Während aber das Naturrecht in engerem Sinne im allgemeinen die fundamentalen Rechtsnormen des Zusammenlebens enthält, ist die Billigkeit immer auf das Konkret-Individuelle der menschlichen Wirklichkeit und des menschlichen Handelns bezogen.« (Kuypers 1937: 298).
(B.)
Das Verhältnis von Billigkeit und Naturrecht II.
»If the written law tells against our case, clearly we must appeal to the universal law and to equity as being more just. We must argue that the juror’s oath ›I will give my verdict according to my honest opinion‹ means that one will not simply follow the letter of the written law. We must urge that the principles of equity are permanent and changeless, and that the universal law does not change either, for it is the law of nature, whereas written laws often do change. This is the bearing of the lines in Sophocles’ Antigone, where Antigone pleads that in burying her brother she had broken Creon’s law, but not the unwritten law.« (Aristoteles, Rhetorik I, 15 1375a28–33, zit. nach Horn 206: 156)
Horn nimmt die obige Passage als Ausgangspunkt seiner Diskussion über das Verhältnis von Billigkeit und Naturrecht in Aristoteles (Horn 2006: 156–158) und kommt zu dem Schluss, dass: »We don’t find any support for the assumption that the equitable person, in doing his job of correcting and supplementing the law, may be inspired by a universal moral law. It seems probable that the idea of a dual Natural Law that has normative force for the positive legislation of the individual state is totally absent in the Nicomachean Ethics – maybe in the entire Corpus Aristotelicum.« (Horn 2006: 157)
Horn konstatiert mit Recht, dass die Idee des Naturrechts in EN V, 14 keine Rolle spielt und die Aristotelische Unterscheidung zwischen dem natürlichen Gerechten und dem positiven Recht (EN V, 10) unbestimmt bleibt und wenig darüber aussagt, auf welche Weise das natürliche Gerechte mit Blick auf die Korrektur des positiven Rechts 92 https://doi.org/10.5771/9783495820759 .
Die Billigkeit bei Aristoteles (EN V, 14)
in Anschlag gebracht werden kann. Horn räumt jedoch ein, dass es einige Stellen in der Politik (I) – natürliche Sklaverei und die natürliche Herrschaft über andere – und der Rhetorik (I, 10 und I, 13–15, engl.) gibt, in denen Aristoteles eine Position entwickelt, die auf das Gemeinsame aller Menschen gerichtet ist und die über die jeweilige Polisgesetzgebung, für die diese normativ bedeutsam ist, hinausgeht (Horn 2006: 157). Die Bedeutung der Passagen mit Blick auf die Rolle des Naturrechts für die Billigkeit wird von Horn jedoch letztendlich im Rahmen seiner Einwände entkräftet (Horn 2006: 157–158). Obwohl der Beitrag von Horn insgesamt vorzüglich ist, kann seine knappe Diskussion mit Blick auf das Verhältnis von Naturrecht und Billigkeit nicht überzeugen. Im Folgenden werden seine unterschiedlichen Einwände entkräftet und im Anschluss daran (unter Einbeziehung der vorangegangen Diskussion und insbesondere des Begriffs der gnômê), wird dafür argumentiert, dass die billige Person bei ihrer Entscheidungsfindung das Naturrecht fest im Blick hat. (i.) Die spezifische inhaltliche Ausrichtung der Rhetorik Nach Horn schrieb Aristoteles die Rhetorik in erster Linie für Redner, die die Annahme eines Naturrechts als eine gute Strategie für eine überzeugende Rede vor Gericht verwenden konnten, ohne jedoch notwendigerweise die eigene philosophische Position dabei offenzulegen. Grundsätzlich kann man einräumen, dass Horn einen wichtigen Punkt vorbringt; nicht alles, was Aristoteles in der Rhetorik konstatiert, ist Grundlage seiner eigenen philosophischen Position. Doch die Vorstellung, dass Aristoteles in der obigen Passage lediglich eine (unbedeutende) Fingerübung für künftige Redner anstellt, erscheint wenig überzeugend, zumal Aristoteles direkt auf Antigone’s berühmte Begründung gegen Kreons Dekret Bezug nimmt. Hier geht es nicht um eine bloße Hilfestellung für die Abfassung einer Gerichtsrede, sondern um eine klare philosophische Positionierung. (ii.) Der Begriff Nomos Horn konstatiert im Rückgriff auf Kraut (2002: 105), dass es keinen Hinweis dafür gibt, dass der Aristotelische Nomosbegriff im Sinne des moralischen Gesetzes verwendet wird. Was der Begriff Nomos im jeweiligen Kontext jedoch genau bedeutet, ist problematisch und nicht immer eindeutig zu klären. Auf diesen Umstand weist auch J. Van Johnson in seinem Beitrag Aristotle on Nomos (1938) hin, wo93 https://doi.org/10.5771/9783495820759 .
Klugheit als ethische Richtschnur
bei er sich unter anderem auf die Aristotelischen Unterscheidungen des Nomosbegriffs in der Rhetorik (I, 10 1368b7ff.; I, 13 1373b4ff.) bezieht. Van Johnson konstatiert: »In other words, [nomos] is an extremely ambiguous word, and every time we meet it in the text of Aristotle we must decide whether it means the genus, a species, or only a sub-species.« (Van Johnson 1938: 354).
Bien hat ganz recht, wenn er betont, dass das Wort Nomos zum einen so viel bedeuten kann wie das »ungeschriebene Gesetz« (=moralisches Gesetz) und sich damit auf die Sitten, Gebräuche, Konventionen und rituelle Kultvorschriften bezieht (1995: 136). Zum anderen kann sich der Begriff Nomos aber auch auf »das Gesetzliche« (=positives Gesetz) beziehen, was Aristoteles normalerweise mit Nomimos bezeichnet (vgl. dazu auch Gordon 2007: 38–50). Aufgrund dessen erscheint die Aussage von Horn durchaus gewagt, wenn er annimmt, dass es keinen Hinweis darauf gibt, dass der Begriff Nomos nicht auch mit »moral law« identifiziert werden kann. (iii.) Der genaue Inhalt des Naturrechts ist unbekannt Horn nimmt Folgendes an: (1.) Aristoteles gibt uns keine genauen Informationen darüber, was die universellen Bestimmungen des Naturrechts sind, die für alle Menschen gelten. (2.) Die ungeschriebenen Gesetze, die Antigone für sich in Anspruch nimmt, stammen aus dem religiösen und nicht dem moralischen Bereich. Beide Annahmen sind jedoch nur teilweise richtig. Mit Blick auf den ersten Punkt bleibt zu konstatieren, dass Aristoteles in EN II, 6 Handlungen wie z. B. Ehebruch, Diebstahl und Mord als an sich schlecht definiert. Diese Handlungen können nach Aristoteles niemals gut oder gerecht sein; damit erfüllen sie die naturrechtlichen Kriterien der Universalität, Absolutheit und Unveränderbarkeit. Aristoteles gibt zwar keine weiteren Handlungen dieser Art an, doch könnte man unter Umständen eine Liste von allgemeinen Prinzipien (und Handlungen) aus dem Corpus Aristotelicum herausarbeiten, die einen naturrechtlichen Status haben (man denke z. B. an das Prinzip Gleichen Gleiches und Ungleichen Ungleiches). Aristoteles gibt uns zwar keine präzise Anleitung an die Hand, um das natürliche Gerechte verlässlich zu bestimmen, doch zumindest erscheint es mit weiteren Anstrengungen nicht ausgeschlossen zu sein, weitere Naturrechte im Rahmen der Aristotelischen Ethik aufzudecken. Zweitens: Die Annahme, dass es sich beim Fall von Antigone ausschließlich um den religiösen Bereich handelt, 94 https://doi.org/10.5771/9783495820759 .
Die Billigkeit bei Aristoteles (EN V, 14)
ist falsch. Wie wir weiter oben gesehen haben, beinhaltet der Nomos ebenfalls rituelle Kultvorschriften, was auch den Fall von Antigone einschließt. Das Gebot, religiöse Vorschriften zu befolgen, ist selbst keine religiöse Vorschrift, sondern das, was man gewöhnlich als eine moralische Metaregel bezeichnet. (iv.) Verhaltensprinzipien sind keine naturrechtlichen Vorschriften Verhaltensregeln wie die Prinzipien der Freundlichkeit, Gastfreundschaft oder Menschenliebe, die sich auf Brauchtum, Konventionen und Traditionen zurückführen lassen und eine universelle Bedeutung haben (Aristoteles EN VIII, 1 1155a21–22), können – so Horn – strenggenommen nicht wirklich als Vorschriften des Naturgesetzes gelten. Dies ist sicherlich richtig, doch Horns Beispiele gehen am Kern der Sache vorbei. Nur weil einige Verhaltensprinzipien universelle Bedeutung haben, heißt dies natürlich nicht, dass damit auch ein naturrechtlicher Status erreicht ist. Ein Naturrecht zeichnet sich unter anderem dadurch aus, dass es universell, absolut und unveränderlich ist. Ob dies auch auf die oben genannten Verhaltensprinzipien zutrifft, ist in der Tat fraglich, doch für den vorliegenden Sachverhalt mit Blick auf das Verhältnis von Billigkeit und Naturrecht unerheblich. Exkurs: Gadamer hat konstatiert, dass man Aristoteles zu vorschnell die »Unveränderlichkeit« als Kennzeichen des Naturrechts im Gegensatz zur Veränderlichkeit des positiven Rechts zugeschrieben hat. Vielmehr, so Gadamer, geht Aristoteles von folgendem Gedanken aus: »Wohl kennt er den Gedanken eines schlechthin unveränderlichen Rechts, aber er beschränkt dies ausdrücklich auf die Götter und erklärt, daß unter Menschen nicht nur das gesetzte Recht, sondern auch das natürliche Recht veränderlich sei. Solche Veränderlichkeit ist nach Aristoteles durchaus damit vereinbar, daß es ›natürliches‹ Recht ist. Der Sinn dieser Behauptung scheint mir folgender: Es gibt zwar rechtlich Gesetztes, das ganz und gar Sache der bloßen Vereinbarung ist (z. B. eine Verkehrsregel wie das Rechtsfahren) – es gibt aber auch und vor allem solches, das nicht jede beliebige menschliche Vereinbarung zuläßt, weil ›die Natur der Sache‹ sich zur Wehr setzt. Es ist also völlig berechtigt, derart Gesetztes ›natürliches Recht‹ zu nennen. Sofern die Natur der Sache noch einen Spielraum von Beweglichkeit für die Festsetzung gewährt, ist solches natürliche Recht gleichwohl veränderlich.« (Gadamer 1990: 324).
95 https://doi.org/10.5771/9783495820759 .
Klugheit als ethische Richtschnur
Wir nehmen hingegen mit Blick auf die Diskussion zur Veränderlichkeit des Naturrechts an, dass »[d]ie Veränderlichkeit in bezug auf das [phûsikon dikaion] […] im fehlbaren menschlichen Erkennen [besteht].« (Gordon 2007: 253–258; hier: 253) und halten diesbezüglich folgende Argumentation von Salomon für angemessen: »Daraus ist zu folgern, daß [kinêton] für [nomikon] und [phûsikon] doch etwas Verschiedenes besagt; sonst wäre eine solche Gegenüberstellung nicht möglich. Und es kann nicht zweifelhaft sein, wo der Unterschied zu suchen ist: [kinêton] bedeutet für [nomikon] eine Eigenschaft des [nomikon] selbst, für [phûsikon] eine Erkenntniseigentümlichkeit. ›Eigentlich‹ ist nur das [nomikon] wandelbar, das [phûsikon] unwandelbar. Wandelbar ist aber die menschliche Erkenntnis. Weil der Mensch nicht fähig ist, gleich den Göttern zu erkennen, deshalb wandelt sich das [phûsikon]. Es wandelt sich in der Welt unserer Erkenntnis, so wie das [nomikon] sich in sich selbst wandelt. Aber für den äußeren Anschein gibt es allerdings keinen Unterschied; danach sind beide Rechtsarten wandelbar, [amphô kinêta]. Und darum haben wir hier ein Merkmal, das im praktischen Gebrauch für die Unterscheidung nicht herangezogen werden kann oder doch nicht herangezogen werden soll.« (Salomon 1937: 49)
(v.) Billigkeit und Naturrecht – Zwei unterschiedliche Bereiche Da, so Horn, Aristoteles in der Rhetorik (I, 15 1375a27–29) die Billigkeit vom Naturrecht unterscheidet und als zwei Alternativen statuiert, kann die billige Person auch nicht auf das Naturrecht Bezug nehmen. Er verweist auf Brunschwig (1996), der den Gesetzgeber in EN V, 10 (engl.) und in Rhetorik I, 13 (engl.) als jemanden beschreibt, der Regeln für die Gemeinschaft und keine Gesetze mit universeller Bedeutung aufstellt. Daraus schlußfolgert Horn: »Hence equity corrects and supplements his laws on a context-dependent basis, even if an equitable agent can refer to the unwritten part of a tradition.« (Horn 2006: 158). Weiter oben haben wir bereits gesehen, dass Kuypers ebenfalls davon ausgeht, dass man die Billigkeit vom Naturrecht unterscheiden muss, da sie »zwei verschiedene ungeschriebene Normenkomplexe« (1937: 293) darstellen, die jedoch beide auf das »natürliche Rechtsgefühl« (1937: 298) rekurrieren. Das Naturrecht, so Kuypers, enthält »die fundamentalen Rechtsnormen des Zusammenlebens«, während sich die Billigkeit »immer auf das Konkret-Individuelle der menschlichen Wirklichkeit und des menschlichen Handelns« bezieht (1937: 298). Horns Annahme, dass es sich bei der Billigkeit und dem Naturrecht um zwei Alternativen handelt, erscheint fraglich: Zum einen bleibt unklar, wozu sie »Alternativen« 96 https://doi.org/10.5771/9783495820759 .
Die Billigkeit bei Aristoteles (EN V, 14)
sein sollten, und zum anderen – und dies schließt die Überlegungen von Kuypers ein – ist nicht erkennbar, dass Aristoteles die Billigkeit und das Naturrecht in Rhetorik I, 15 1375a27–29 so scharf voneinander trennt, das beide Bereiche keinerlei Berührungspunkte haben. Aristoteles macht an dieser Stelle lediglich deutlich, dass sich die Billigkeit und das Naturrecht dadurch auszeichnen, dass sie beide dauerhaft und unveränderlich sind. Daraus folgt jedoch keineswegs, dass beide Bereiche keine Gemeinsamkeiten haben oder dass sich die billige Person nicht auf das Naturrecht beziehen kann. Wo nur steht das bei Aristoteles? 41 Unsere Ausgangsfrage war herauszufinden, auf welche Weise die billige Person bei Anwendungsproblemen urteilt, um so besser verstehen zu können, wie die praktisch kluge Person moralische Urteile fällt. Die obige Diskussion hat deutlich gemacht, dass es hierbei einen Zusammenhang zwischen der Billigkeit und dem Naturrecht gibt. Diesbezüglich hat Kuypers auf einen interessanten Punkt aufmerksam gemacht. Er geht davon aus, dass das Naturrecht allgemeine »fundamentale Rechtsnormen des Zusammenlebens« enthält, während sich die Billigkeit auf das »Konkret-Individuelle« des »menschlichen Handelns« bezieht. Dies legt – auch wenn dies Kuypers so nicht intendiert hat – den Gedanken nahe, dass man die Billigkeit als die Anwendungsdimension des Naturrechts verstehen kann, wobei das oben angeführte natürliche Rechtsgefühl die Brücke zwischen Naturrecht und Billigkeit schlägt. Die billige Person korrigiert also das fehlerhafte positive Recht, indem sie mit Hilfe ihres natürlichen Rechtsgefühls zu bestimmen versucht, auf welche Weise die allgemeinen Bestimmungen des Naturrechts weiterhelfen können. Das natürliche Rechtsgefühl – so unsere These – kann mit der gnômê identifiziert werden. Daher kann man Trude auch gänzlich zustimmen, wenn er Folgendes betont: »Die [gnômê] läßt sich daher zusammenfassend etwa definieren als das Erkenntnisvermögen für die Billigkeit, das gekennzeichnet ist einerseits durch eine besonders tiefe Einsicht in den Einzelfall, also durch die Fähigkeit zur scharfblickenden, einsichtigen Unterscheidung der Besonderheiten des tat41 vgl. auch Gadamer: »Der Gedanke des Naturrechts ist angesichts der notwendigen Mangelhaftigkeit aller geltenden Gesetze auch nach Aristoteles völlig unentbehrlich, und er wird insbesondere dort aktuell, wo es sich um die Billigkeitserwägung handelt, die erst wirklich das Rechte findet. Aber seine Funktion ist insofern eine kritische, als nur dort, wo zwischen Recht und Recht eine Diskrepanz auftritt, die Berufung auf das Naturrecht legitim ist.« (Gadamer 1990: 325)
97 https://doi.org/10.5771/9783495820759 .
Klugheit als ethische Richtschnur
sächlichen einzelnen Falls, wie andererseits durch die Verbindung mit der Wahrheit.« (Trude 1955: 127).
Das natürliche Rechtsgefühl (bzw. die gnômê) kann sich auf zumindest zwei unterschiedliche Weisen zeigen: Zum einen kann es das Gegebene unmittelbar erfassen und im Sinne einer nicht-sinnlichen Wahrnehmung spontan zu einem moralischen Urteil kommen (vgl. EN VI, 9) und zum anderen kann die gnômê das richtige Urteil über das Billige mit Blick auf diejenigen Dinge fällen, die Probleme aufwerfen und über die man nachdenken kann (vgl. EN VI, 11). Für unsere Zwecke ist dies ein Ergebnis, das zunächst befriedigt, jedoch noch nicht detailliert genug aufzeigt, wie der phronimos genau urteilt. Dies wird im Laufe der Untersuchung noch etwas stärker verdeutlicht werden, wenn es darum geht, den Klugheitsbegriff im Kontext von Gadamers hermeneutischer Methode zu kontextualisieren. Vor diesem Hintergrund wird dann nochmals im Schlusskapitel – im Lichte der gewonnenen Erkenntnisse – auf die praktisch kluge Person bzw. den moralischen Experten eingegangen.
4.3. Gadamers hermeneutische Methode und der Aristotelische Klugheitsbegriff Hans-Georg Gadamers Philosophie – gemeint ist die philosophische Hermeneutik, die er in seinem Klassiker Wahrheit und Methode (1990) ausgeführt hat – ist untrennbar mit dem Aristotelischen Klugheitsbegriff verbunden. Friederike Rese hat ganz recht, wenn sie Folgendes über Gadamer in ihrem Beitrag Phronesis als Modell der Hermeneutik (2011) konstatiert: »In seiner Anknüpfung an den aristotelischen Begriff der phronesis ist Gadamer’s Kapitel über Die hermeneutische Aktualität des Aristoteles zu einem Leittext der »Rehabilitation der praktischen Philosophie« geworden, einer Bewegung, die die deutsche, akademische Philosophie in den 60er Jahren erfaßt hat […]« (Rese 2011: 114)
Aufgrund der erheblichen Bedeutung, die Gadamer dem Aristotelischen Klugheitsbegriff für das »Problem der Anwendung« im Besonderen und die Frage der praktischen Philosophie im Allgemeinen zuerkennt, ist es für unser eigenes Vorhaben von großem Interesse, sich einmal etwas genauer mit Gadamer auseinanderzusetzen und diejenigen Aspekte, die relevant sind, für unsere eigene Position 98 https://doi.org/10.5771/9783495820759 .
Gadamers hermeneutische Methode und der Aristotelische Klugheitsbegriff
fruchtbar zu machen. Hierbei steht das bereits oben genannte Kapitel von Gadamer im Fokus. Unser Anliegen ist es jedoch nicht, den sogenannten Leittext (1990: 317–329) einer ganzen Bewegung in seiner Gänze nachzuzeichnen, sondern lediglich diejenigen Punkte herauszugreifen, die für unsere eigene Fragestellung wesentlich sind. (A.) Das hermeneutische Problem der Anwendung Gadamer dokumentiert zunächst, dass sich das hermeneutische Problem am Anfang in zwei unterschiedliche Bereiche – Verstehen und Auslegen – aufteilte, bevor im Pietismus das Problem der Anwendung hinzutrat. Demnach sollen die »drei Momente […] die Vollzugsweise des Verstehens ausmachen«, wobei »sie nicht so sehr als Methoden [zu verstehen sind], über die man verfügt, wie als ein Können, das besondere Feinheit des Geistes verlangt« (Gadamer 1990: 312). Im Weiteren macht Gadamer deutlich, dass diese Bereiche einerseits nicht getrennt voneinander und andererseits nicht in zeitlicher Abfolge stattfinden, sondern einen gemeinsamen Vorgang darstellen. So schreibt er: »Nun haben uns unsere Überlegungen zu der Einsicht geführt, daß im Verstehen immer so etwas wie eine Anwendung des zu verstehenden Textes auf die gegenwärtige Situation des Interpreten stattfindet. Wir werden also gleichsam einen Schritt über die romantische Hermeneutik hinaus genötigt, indem wir nicht nur Verstehen und Auslegen, sondern dazu auch Anwenden als in einem einheitlichen Vorgang begriffen denken. Wir kehren damit nicht etwa zu der traditionellen Unterscheidung der drei gesonderten ›Subtilitäten‹ zurück, von denen der Pietismus sprach. Denn wir meinen im Gegenteil, daß Anwendung ein ebenso integrierender Bestandteil des hermeneutischen Vorgangs ist wie Verstehen und Auslegen.« (Gadamer 1990: 313)
In der Auseinandersetzung mit Emilio Betti über die Einheit der einzelnen Bereiche konstatiert Gadamer, dass die scharfe Unterscheidung bezüglich der kognitiven (Verstehen), reproduktiven (Auslegung) und normativen (Anwenden) Dimension bei Betti insofern Probleme aufweist, als »man bei der Zuordnung der Phänomene zu dieser Einteilung in Schwierigkeiten« gerät (Gadamer 1990: 315; vgl. auch Rese 2011: 116). So erscheint es plausibel, wenn Gadamer diesbezüglich Folgendes zu Bedenken gibt:
99 https://doi.org/10.5771/9783495820759 .
Klugheit als ethische Richtschnur
»Niemand wird ein Drama inszenieren, eine Dichtung vorlesen oder eine Komposition zur Aufführung bringen können, ohne den ursprünglichen Sinn des Textes zu verstehen und in seiner Reproduktion und Auslegung zu meinen. Aber ebenso wird niemand diese reproduktive Auslegung leisten können, ohne in der Umsetzung des Textes in die sinnliche Erscheinung jenes andere normative Moment zu beachten, das die Forderung einer stilgerechten Wiedergabe durch den Stilwillen der eigenen Gegenwart begrenzt […] dann läßt sich dem Schluß nicht ausweichen, daß die sich aufdrängende Unterscheidung kognitiver, normativer und reproduktiver Auslegung keine grundsätzliche Geltung hat, sondern ein einheitliches Phänomen umschreibt« (Gadamer 1990: 315–316).
Die obige Darstellung nennt zwei zentrale Punkte, die für unsere eigene ethische Position wichtig sind: 1. 2.
Die Anwendungsdimension ist untrennbar mit dem Verstehen und Auslegen verbunden. Die drei Momente – Verstehen, Auslegen und Anwenden – sind keine reinen Methoden, sondern gründen vielmehr auf einem Können.
Erstens: Verstehen – Auslegen – Anwenden Die Bedeutsamkeit dieses Punktes kann nicht hoch genug gewürdigt werden, da es hierbei unter anderem um die zentrale Frage geht, welchen Status die Anwendung von ethischen Theorien im konkreten Bereich der praxisorientierten Ethik hat. Die Begründungsfrage stand viele Jahrhunderte im Vordergrund und wurde erst wieder im 20. Jahrhundert durch das erneute Aufscheinen der praxisorientierten Ethik im Lichte der Rehabilitierung der praktischen Philosophie in einen gemeinsamen Zusammenhang gebracht (vgl. Riedel 1972). Begründen und anwenden – so könnte man Gadamer ausdeuten – sind wieder zwei Seiten einer Medaille. Demnach ist es plausibel davon auszugehen, dass der Prozess des Begründens ethischer Positionen nicht unabhängig von der Anwendungsfrage gesehen werden darf; noch dürfen wir annehmen, dass Anwendung ohne Bezug auf die Begründungsfrage sinnvoll ist (vgl. dazu auch Nida-Rümelin 1996). Gadamers Verdienst liegt eben darin, gesehen zu haben, dass es hier ein notwendiges Zusammenspiel beider Seiten gibt, damit ethisches Räsonieren überhaupt erfolgreich sein kann.
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Gadamers hermeneutische Methode und der Aristotelische Klugheitsbegriff
Zweitens: Verstehen, Auslegen und Anwenden als Modi des Könnens Dieser Punkt ist für unsere Ethik als Methode besonders relevant. Um dem Missverständnis vorzubeugen, dass es sich bei unserer ethischen Position doch ebenfalls um eine bloße Methode handelt (wie man dem Titel entnehmen könnte) und nicht um »ein Können, das besondere Feinheit des Geistes verlangt« (Gadamer 1990: 312), soll nochmals darauf hingewiesen werden, dass unsere Methode an die praktisch kluge Person im Aristotelischen Sinne rückgebunden ist. Es handelt sich bei der Ethik als Methode eben nicht um eine technê (Herstellungswissen), sondern um die Anwendung der phronêsis (Klugheit). Der Aristotelische Klugheitsbegriff setzt einen stabilen und tugendhaften Charakter im Handelnden voraus. Weiter unten werden wir uns nochmals mit dieser wichtigen Unterscheidung in Anlehnung an Gadamer auseinandersetzen (vgl. Gadamer 1990: 322–329). An dieser Stelle sollte lediglich auf die Wichtigkeit der spezifischen Disposition der klugen Person, nämlich ihrer festen ethischen Verfasstheit, für das Gelingen des ethischen Urteilens hingewiesen werden. (B.)
Die hermeneutische Aktualität des Aristoteles
(i.) Vom Allgemeinen auf das Besondere schließend »Wenn das hermeneutische Problem«, so Gadamer »seine eigentliche Spitze darin hat, daß die Überlieferung als dieselbe dennoch je anders verstanden werden muß, so handelt es sich darin – logisch gesehen – um das Verhältnis des Allgemeinen und des Besonderen. Verstehen ist dann ein Sonderfall der Anwendung von etwas Allgemeinem auf eine konkrete und besondere Situation.« (Gadamer 1990: 317)
Die Ähnlichkeit zur Aristotelischen Ethik ist insofern bedeutsam, als Gadamer damit »die praktische Vernünftigkeit (phronesis) zum Modell der Hermeneutik erklären [kann]« so Rese, »[d]a die praktische Vernünftigkeit (phronesis) und der Interpret eines Textes vor dieselbe Aufgabe gestellt sind, nämlich ein Allgemeines auf eine besondere Situation anzuwenden« (Rese 2011: 115). Mit Recht weist Gadamer jedoch einschränkend darauf hin, dass es Aristoteles weder »um das hermeneutische Problem noch um dessen geschichtliche Dimension« geht, sondern darum, welche Funktion die Klugheit im sittlichen Kontext einnimmt. Er grenzt die Aristotelische Position klar vom sokratisch-platonischen Intellektualismus, in dem Tugend und Wissen 101 https://doi.org/10.5771/9783495820759 .
Klugheit als ethische Richtschnur
eins sind, ab und macht deutlich, dass sich Aristoteles auf das menschlich Gute konzentriert, indem er seine Ethik an zwei zentrale Aspekte bindet: Zum einen an die Tugend, die sich erst durch Gewöhnung einstellt, und zum anderen die Rückbindung an den Ethos einer moralisch integren Polisgemeinschaft (Gadamer 1990: 317). 42 (ii.) Das Verhältnis vom sittlichen Sein und dem sittlichen Bewusstsein »Die Frage ist nun, wie es von dem sittlichen Sein des Menschen ein theoretisches Wissen geben könne und welche Rolle Wissen (d. h. ›Logos‹) für das sittliche Sein des Menschen spielt. Wenn das Gute für den Menschen jeweils in der Konkretion der praktischen Situation begegnet, in der er sich befindet, so muß das sittliche Wissen eben dies leisten, der konkreten Situation gleichsam anzusehen, was sie von ihm verlangt. Anders ausgedrückt, der Handelnde muß die konkrete Situation im Lichte dessen sehen, was von ihm im allgemeinen verlangt wird. Das heißt aber negativ, daß ein Wissen im allgemeinen, das sich nicht der konkreten Situation zu applizieren weiß, sinnlos bleibt, ja die konkreten Forderungen, die von der Situation ausgehen, zu verdunkeln droht. Dieser Sachverhalt, der das Wesen der sittlichen Besinnung ausspricht, macht eine philosophische Ethik nicht nur zu einem methodisch schwierigen Problem, sondern gibt dem Problem der Methode zugleich eine moralische Relevanz.« (Gadamer 1990: 318)
Wie bereits weiter oben in der Analyse des VI. Buches der Nikomachischen Ethik und der Würdigung der Aristotelischen Klugheitslehre angemerkt worden ist, ist der Gedanke der Sehens-Metaphorik bzw. der moralischen Sensitivität des phronimos ein zentraler Aspekt im Kontext der nicht-diskursiven Entscheidungsfindung. Wenn Gadamer in der oben zitierten Stelle konstatiert, dass »das sittliche Wissen […] der konkreten Situation gleichsam [ansieht], was sie von ihm verlangt« (Gadamer 1990: 318), dann macht dies einmal mehr deutlich, dass die praktisch kluge Person »in der Konkretion [einer] praktischen Situation« nicht nur erfaßt, was moralisch gesehen richtig ist, sondern auch weiß, dass sie entsprechend handeln muss. In dem Sinne hat Gadamer ganz recht, wenn er behauptet, dass das sittliche Wissen »kein gegenständliches Wissen ist«, das lediglich festgestellt werden kann, sondern den Handelnden »unmittelbar« (Gadamer 1990: 319) betrifft und eine Aufforderung an ihn ergeht, sich ent42 Für die Anwendung des Allgemeinen auf das Besondere mit Blick auf das Handeln und Verstehen, vgl. die Darstellung bei Rese (2011: 117–119).
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Gadamers hermeneutische Methode und der Aristotelische Klugheitsbegriff
sprechend zu verhalten. 43 Wir haben dies bereits an anderer Stelle herausgestellt und deutlich gemacht, dass der Aristotelische phronimos nicht dem sogenannten Motivationsproblem in der Moral ausgesetzt ist, da es sich bei der praktisch klugen Person eben nicht nur um eine Person handelt, die ihr sittliches Wissen mittels einer ethischen Theorie einfach nur anwendet, sondern es sich um ein fest verankertes Vermögen handelt, das ihr gesamtes praktisches Handeln bestimmt. Der phronimos kann nicht anders, als sich moralisch richtig zu verhalten. Indem Gadamer herausstellt, dass es problematisch ist, wenn sich das sittliche Wissen nicht angemessen in einer »konkreten Situation zu applizieren weiß« (Gadamer 1990: 318) und somit auch die ethischen Forderungen, die damit einhergehen, unklar bleiben, nimmt er gleichzeitig an, dass damit »eine philosophische Ethik nicht nur zu einem methodisch schwierigen Problem [wird], sondern gibt dem Problem der Methode zugleich eine moralische Relevanz« (Gadamer 1990: 318). Damit nimmt Gadamer auf das Problem der Methode bei Aristoteles Bezug, die – so die klassische These – vollständig vom Gegenstand bestimmt wird. So verweist Gadamer darauf, dass Aristoteles die Genauigkeitsforderungen im Bereich der Ethik einschränkt und dort nicht die Genauigkeit des Mathematikers verlangt. Im Besonderen kommt es Gadamer jedoch darauf an, »das eigentümliche Verhältnis [vom] sittliche[n] Sein und sittlichem Bewußtsein« bei Aristoteles genauer zu bestimmen (Gadamer 1990: 319). Dieses Verhältnis, so Gadamer, befindet sich bei Aristoteles in einer Spannung: Er steht einerseits zwischen dem Erbe eines sokratisch-platonischen Intellektualismus 44 und andererseits seiner eigenen Position des Ethos. Die Verhältnisbestimmung orientiert sich letztendlich an der übergeordneten Fragestellung, ob das sittliche Wissen ein Technê-Wissen darstellt. Im Folgenden soll dieser Frage genauer nachgegangen werden.
43 So schreibt Gadamer: »Das sittliche Wissen, wie es Aristoteles beschreibt, ist offenkundig kein gegenständliches Wissen. Der Wissende steht nicht einem Sachverhalt gegenüber, den er nur feststellt, sondern er ist von dem, was er erkennt, unmittelbar betroffen. Es ist etwas, was er zu tun hat.« (Gadamer 1990: 319) 44 Nach Gadamer bestimmt Aristoteles »Wissen« immer noch »als ein Wesensmoment des sittlichen Seins« (Gadamer 1990: 319) und bleibt damit eben teilweise noch dem Platonischen Erbe verhaftet.
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Klugheit als ethische Richtschnur
(iii.) Ist das sittliche Wissen ein Technê-Wissen? »Soll der Mensch sich selbst zu dem machen lernen, was er sein soll, so wie der Handwerker das machen lernt, was nach seinem Plan und Willen sein soll? Entwirft sich der Mensch so auf das ›Eidos‹ seiner selbst, wie der Handwerker ein ›Eidos‹ dessen, was er machen will, in sich trägt und im Material darzustellen weiß?« (Gadamer 1990: 320).
Können wir also etwas von der Figur des Handwerkers 45 für die »sittliche Entscheidung« lernen? »Gilt nicht das gleiche für das sittliche Bewußtsein? Wer sittliche Entscheidungen zu treffen hat, hat auch immer schon etwas gelernt. Er ist durch Erziehung und Herkommen derart bestimmt, daß er im allgemeinen weiß, was recht ist. Die Aufgabe der sittlichen Entscheidung ist eben die, in der konkreten Situation das Rechte zu treffen, d. h. das, was recht ist, konkret in die Situation hineinzusehen und in ihr zu ergreifen. Auch er muß also zugreifen und die rechten Mittel wählen, und sein Handeln muß genau so überlegt geleitet werden wie das des Handwerkers. Wieso ist es gleichwohl ein Wissen von ganz anderer Art?« (Gadamer 1990: 322).
Gadamer schickt sich im Rest seines Kapitels (322–329) an, diese Frage unter Bezugnahme auf den Aristotelischen Klugheitsbegriff zu beantworten. Dabei geht er insbesondere auf drei unterschiedliche Bedeutungskomplexe ein, die im Folgenden kommentierend untersucht werden sollen: 1. 2. 3.
Der Unterschied von technê und sittlichem Wissen (322–326). Das unterschiedliche Verhältnis von Mittel und Zweck beim Herstellungswissen und dem sittlichen Wissen (326–328). Das Sich-Wissen (328–329).
(1.) Der Unterschied von technê und sittlichem Wissen Gadamer weist gleich zu Beginn auf einen wichtigen Unterschied zwischen technê und dem sittlichen Wissen (phronêsis) hin, indem er deutlich macht, dass man das Herstellungswissen im Gegensatz zum sittlichen Wissen lernen und verlernen kann; dies, so Gadamer, ist beim sittlichen Wissen anders. Es kann nicht erlernt und verlernt »Wer etwas herzustellen weiß, weiß damit etwas Gutes, und er weiß es in der Weise ›für sich‹, daß er es, wo die Möglichkeiten gegeben sind, auch wirklich herstellen kann. Er greift nach dem rechten Material und wählt die rechten Mittel zur Ausführung. Er muß mithin das allgemein Gelernte in der konkreten Situation anzuwenden wissen.« (Gadamer 1990: 322)
45
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werden. Der Grund liegt darin, dass das sittliche Wissen immer schon eine Handlungsaufforderung an den Handelnden stellt; er also das sittliche Wissen – bis auf eine anfängliche Phase der Unmündigkeit als Handelnder – immer schon besitzen und anwenden muss (Gadamer 1990: 322). »Der Begriff der Anwendung« ist nach Gadamer »im hohen Grade problematisch. Denn anwenden kann man nur etwas, was man schon vordem für sich besitzt.« (Gadamer 1990: 322). So argumentiert Gadamer – scheinbar im Widerspruch zum zuvor Gesagten, dass man das sittliche Wissen nicht in der Weise besitzt, dass man es bereits hat und nur auf die konkrete Situation anwenden muss. Er erklärt diesen wesentlichen Unterschied anhand des sogenannten Leitbilds. Die Vorstellung des Menschen, »was er sein soll«, wird z. B. durch die aristotelischen Tugenden – die als Leitbilder fungieren – ausgedrückt, an denen sich der Handelnde orientiert. Beim Leitbild des Handwerkers, so Gadamer, sieht dies anders aus. Der grundsätzliche Unterschied zwischen beiden Leitbildern, so könnte man argumentieren, liegt für Gadamer im Grad der inhaltlichen Bestimmbarkeit. So erklärt er: »Was recht ist z. B., ist unabhängig von der Situation, die das Rechte von mir verlangt, nicht voll bestimmt, während sehr wohl das ›Eidos‹ dessen, was ein Handwerker herstellen will, voll bestimmt ist, und zwar durch den Gebrauch, für den es bestimmt ist.« (Gadamer 1990: 322–323)
Den Gedanken, dass der Inhalt des Rechts nicht »voll bestimmt« sei, schränkt Gadamer insofern wieder ein, als er im Folgenden darauf hinweist, dass dasjenige, »was recht ist […] in einem schlechthinnigen Sinne [ebenfalls] bestimmt« ist (Gadamer 1990: 323), da die positiven Gesetze und sittlichen Verhaltensregeln klar und deutlich formuliert sind. Wieso also, fragt Gadamer, ist dann die richterliche Form der Klugheit bei Aristoteles keine Technê? Gadamer hat ganz recht, wenn er in seiner Antwort auf den wichtigen Unterschied zwischen (a.) der Anwendung von Gesetzen in der Rechtsprechung und (b.) der Ausführung des Plans für die Herstellung eines Gegenstands durch den Handwerker hinweist. Ein Handwerker, der aufgrund äußerer Zwänge von seinem ursprünglichen Plan abweicht und somit darauf »verzichtet«, ihn so wie gedacht umzusetzen, macht damit »Abstriche bei der Ausführung« (Gadamer 1990: 323). Dies könnte man mit Gadamer als eine »schmerzliche Unvollkommenheit« beschreiben. Allerdings nur dann, so müsste man ergänzen, wenn der ursprüngliche Plan besser als die eigentliche Umsetzung war. Wenn 105 https://doi.org/10.5771/9783495820759 .
Klugheit als ethische Richtschnur
der Handwerker jedoch – während der Ausführung – eine bessere Lösung mit Blick auf die Herstellung des Gebrauchsgegenstands findet, dann gilt dies nicht mehr. Bei der Anwendung des Rechts findet der Richter das »bessere Recht«, indem er in der konkreten Situation vom ursprünglichen Recht absieht und »am Gesetze nachläßt« (Gadamer 1990: 323). Dies haben wir bereits weiter oben unter dem Begriff der Billigkeit kennen gelernt. So formuliert Gadamer: »Epieikeia ist die Berichtigung des Gesetzes. Aristoteles zeigt, daß alles Gesetz in einer notwendigen Spannung zur Konkretion des Handelns steht, sofern es allgemein ist und deshalb die praktische Wirklichkeit in ihrer vollen Konkretion nicht in sich enthalten kann.« (Gadamer 1990: 323)
Es folgt ein Exkurs über das Naturrecht bei Aristoteles (323–325) – worauf wir bereits teilweise in unserer Darstellung der Billigkeit eingegangen sind – bevor Gadamer den Gedankenkomplex mit einer wichtigen Bemerkung zu Aristoteles abschließt, die wir etwas genauer in den Blick nehmen wollen: »Aristoteles erkennt vielmehr für den Lehrer der Ethik genau so an, was nach seiner Meinung für die Menschen überhaupt gilt, daß auch er immer schon in einer sittlich-politischen Bindung steht und von da aus sein Bild der Sache gewinnt. Er sieht selber in den Leitbildern, die er beschreibt, kein lehrbares Wissen. Sie haben nur den Geltungsanspruch von Schemata. Sie konkretisieren sich immer erst in der konkreten Situation des Handelnden. Sie sind also nicht Normen, die in den Sternen stehen oder in einer sittlichen Naturwelt ihren unveränderlichen Ort haben, so daß es sie nur zu gewahren gilt. Sie sind aber auf der anderen Seite keine bloßen Konventionen, sondern sie geben wirklich die Natur der Sache wieder, nur daß diese sich durch die Anwendung, die das sittliche Bewußtsein von ihnen macht, jeweils erst selber bestimmt.« (Gadamer 1990: 325–326)
Gadamer argumentiert, dass der Ethiker – genauso wie der Laie – immer schon in einen spezifischen sittlich-politischen Kontext eingebunden ist und auf dieser Grundlage die moralischen Phänomene um ihn herum deutet. Er ist also an die besonderen Gegebenheiten – an das Hier und Jetzt der Polisgemeinschaft – rückgebunden und wird, so könnte man kritisch einwenden, durch jene spezifische Hintergrundmetaphysik in seiner Wahrnehmung determiniert und gleichzeitig beschränkt. Einerseits scheint der Gedanke einer phänomenalen Rückbindung an die Lebenswirklichkeit Halt zu geben und der Wirklichkeit zu entsprechen, andererseits verlangen wir doch vom Ethiker, dass er eben kein bloßes Kind seiner Zeit ist und sich von 106 https://doi.org/10.5771/9783495820759 .
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den Fesseln der eigenen Geschichte – der individuellen und gesellschaftlichen – zu lösen und zu distanzieren weiß. Wir wollen, dass er zur Wirklichkeit der Dinge, dem Noumenon, vordringt und nicht nur bei den Phänomenen stehen bleibt. Wir wollen, dass er das Wesen der Dinge in ihrem Sein, in ihrer Wirklichkeit erkennt. Wir wollen nicht, dass der Ethiker – wie der Laie – im Dunstkreis seiner je eigenen Polis gefangen bleibt, sondern sich aus dem spezifischen sittlich-politischen Korsett mit gewaltigen Schwingen in die Lüfte emporhebt. Gadamer hat recht, wenn er darauf hinweist, dass beide – der Ethiker und die anderen Menschen – in einem besonderen sozialen Kontext stehen, der sie prägt; doch gerade vom Ethiker verlangen wir, dass er sich nicht durch seine historisch-subjektive Rückgebundenheit an eine jeweilige Polis in seinem Denken determinieren lässt. Die Leitbilder 46 – bzw. Tugenden – des Ethikers sind nach Gadamer kein lehrbares Wissen, wie es noch Platon mit der Gleichsetzung von Tugend und Wissen angenommen hat, sondern sinken bei Gadamer auf den Geltungsanspruch von Schemata ab, die sich erst in der Anwendung konkretisieren. Obwohl wir den Gedanken mit Gadamer für richtig halten, dass die Anwendung bei der moralischen Bestimmung wesentlich ist, erscheint uns seine Zurückhaltung mit Blick auf die Herabwürdigung der Tugenden zu bloßen Schemata nicht gerechtfertigt zu sein. Weiter oben (vgl. Kapitel 4.1.1., Tabelle 3) haben wir dafür argumentiert, dass man aus den Tugenden allgemeine Prämissen (bzw. Handlungsanweisungen) ableiten kann, die für unser moralisches Denken und Handeln entscheidend sind. In diesem Sinne könnte man sagen, dass die Leitbilder – bis zu einem gewissen Grad – lehrbar sind, ihre Vervollkommnung aber in der jeweiligen Konkretion bei der Anwendung erhalten. Gadamer hatte ja bereits darauf hingewiesen, dass Aristoteles den sokratisch-platonischen Intellektualismus bezüglich der Lehrbarkeit der Tugenden und somit des moralischen Wissens durch die Idee der Übung (d. h. der Einübung der ethischen Tugenden) und des Ethos (d. h. die Rückgebundenheit des Individuums an die Polisgemeinschaft) ersetzt. Doch was heißt das eigentlich? Wenn wir uns einmal genauer vor Augen führen, was dieser Unterschied bedeutet, dann eröffnet sich uns ein etwas diffevgl. »Das Bild, das der Mensch von dem hat, was er sein soll, also etwa seine Begriffe von Recht und Unrecht, von Anstand, von Mut, von Würde, von Solidarität usw. (alles Begriffe, die im aristotelischen Tugendkatalog ihre Entsprechung haben), sind […] in gewissem Sinne Leitbilder, auf die er hinblickt.« (Gadamer: 1990: 322).
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renzierteres Bild. Aristoteles will mit seiner gegenüber Platon veränderten Position nicht dafür argumentieren, dass man zu keinen wirklich moralisch richtigen Handlungen mehr fähig wäre und alles in die moralische Beliebigkeit einer jeweiligen Polis gestellt ist, sondern im Gegenteil, dass eine moralisch richtige Handlung nur von einer tugendhaften Person ausgeführt werden kann, die in der bestmöglichen Polisgemeinschaft aufgewachsen und ausgebildet worden ist. In diesem Sinne darf man Aristoteles also nicht wie Alasdair MacIntyre (1981) missverstehen und einfachhin annehmen, dass sich die Aristotelische Tugendethik durch die Relativität der Tugenden und nicht durch ihre Universalität auszeichnet (vgl. Nussbaum für eine überzeugende Kritik an MacIntyre). Die Aristotelische Tugendethik ist eine universelle Ethik. Die Leitbilder, so Gadamer, sind weder unverrückbare, überzeitliche, von der Natur vorgegebene sittliche Normen, die von uns nur entsprechend wahrgenommen werden müssen, noch sind sie bloße Konventionen. Was sind sie aber dann? Nach Gadamer geben die Normen tatsächlich »die Natur der Sache« wieder, wobei »diese sich durch die Anwendung, die das sittliche Bewußtsein von ihnen macht, jeweils erst selber bestimmt« (Gadamer 1990: 326). Doch was heißt das genau? Gadamer hatte im Kontext seiner Diskussion der Veränderlichkeit des natürlichen Rechts bei Aristoteles konstatiert, dass es »zwar rechtlich Gesetztes […] aber auch und vor allem solches [gibt], das nicht jede beliebige menschliche Vereinbarung zuläßt, weil ›die Natur der Sache‹ sich zur Wehr setzt.« (Gadamer 1990: 324). Weiter oben hatten wir bereits in unserer Kritik an Gadamer darauf hingewiesen, dass die Veränderlichkeit des Naturrechts keine ontologische Dimension darstellt, sondern ein erkenntnistheoretischer Mangel der Menschen ist. Wenn Hanna hin und wieder Gewalt durch ihren Vater erfährt und gefoltert wird, dann ist dies eine moralisch schlechte Handlung. Das Foltern der eigenen Tochter, so hatten wir argumentiert, ist immer als eine unmoralische Handlung zu verstehen, die im Rekurs auf eine moralische Tatsache als »moralisch falsch« bestimmt wird. Die Kritik an Gadamer liegt also darin begründet, dass sich die Natur der Sache eben nicht immer erst durch die Anwendung selber bestimmt. Es gibt auch Fälle, die unabhängig vom »sittlichen Bewußtsein« klar bestimmt sind, nämlich durch moralische Tatsachen (vgl. Kapitel 3.4.).
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Gadamers hermeneutische Methode und der Aristotelische Klugheitsbegriff
(2.) Das unterschiedliche Verhältnis von Mittel und Zweck beim Herstellungswissen und dem sittlichen Wissen Gadamer weist gleich zu Beginn des Abschnitts auf den wichtigsten Unterschied zwischen dem Klugheitswissen bzw. dem sittlichen Wissen und dem Herstellungswissen der technê hin, indem er mit Recht konstatiert, dass das Klugheitswissen nicht nur – wie es beim Herstellungswissen der Fall ist – einen partikularen Zweck verfolgt, sondern auch auf das gute Leben insgesamt ausgerichtet ist. Das Herstellungswissen ist also ein ausschließlich partikulares Wissen (Gadamer 1990: 326). Beide Weisen des Wissens können einander nicht vertreten: Das Klugheitswissen kann das Herstellungswissen nicht dort vertreten, wo letzteres zwar wünschenswert wäre, aber fehlt (schließlich ist es ein Wissen ganz anderer 47 Art!). Und das Herstellungswissen macht es »überflüssig«, »daß man über das, wovon es als Wissen gilt, noch mit sich selber zu Rate ginge« (326). Das »Mitsichzurategehen« (euboulia), so Gadamer, ist ein wesentliches Spezifikum des Klugheitswissens und eben »nicht ein Wissen in der Art der Techne« (326). Das Klugheitswissen, so Gadamer, »kann grundsätzlich nicht die Vorgängigkeit eines lehrbaren Wissens besitzen« (326). Er begründet dies wie folgt: Die richtigen Mittel könnten nicht im Vorhinein bestimmt werden, da »die Kenntnis des rechten Zwecks« – also des höchsten Guts bzw. der Eudaimonia – nicht »Gegenstand eines Wissens« ist. Nach Gadamer – und hier wendet er sich von Aristoteles ab – gibt es »keine vorgängige Bestimmtheit dessen, worauf das rechte Leben im ganzen gerichtet ist« (326). Einen solchen »dogmatischen Gebrauch der Ethik« lehnt Gadamer ab (327). In der Nikomachischen Ethik zeichnet Aristoteles ein anderes Bild und betont, dass die »praktische« Glückseligkeit im gut leben (eu zên) und gut handeln (eu prattein) besteht und sich der phronimos an den ethisch-politischen Tugenden (Gadamers Leitbildern) orientieren sollte. Dies könnte man sehr wohl als einen Hinweis dafür gelten lassen, dass man zumindest eine ungefähre Vorstellung davon vgl. »Das sittliche Wissen ist wirklich ein Wissen eigener Art. Es umgreift in einer eigentümlichen Weise Mittel und Zweck und unterscheidet sich damit vom technischen Wissen. Eben deshalb hat es auch keinen Sinn, hier zwischen dem Wissen und der Erfahrung zu unterscheiden, wie das sehr wohl bei der Techne anhängig ist. Denn das sittliche Wissen enthält selbst eine Art der Erfahrung in sich, ja, wir werden noch sehen, daß dies vielleicht die grundlegende Form der Erfahrung ist, der gegenüber alle andere Erfahrung schon eine Verfremdung, um nicht zu sagen Denaturierung darstellt.« (Gadamer 1990: 328) 47
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hat, »worauf das rechte Leben im ganzen gerichtet ist«, ohne damit gleichzeitig zu behaupten, dass es realiter auch Personen gibt, die die sehr anspruchsvollen Aristotelischen Vorgaben auch erfüllen können. Contra Gadamer: Wir kennen den »rechten Zweck«, doch es fehlt uns die Kraft, die entsprechenden Mittel auf die richtige Art und Weise anzuwenden. Hier hat Gadamer ganz recht, wenn er konstatiert, dass es »keine bloßen Zweckmäßigkeitserwägungen [gibt], die der Erreichung sittlicher Zwecke dienen, sondern die Erwägung der Mittel […] selbst eine sittliche Erwägung [ist] und […] erst ihrerseits die sittliche Richtigkeit des maßgebenden Zweckes [konkretisiert]« (327). Es geht jedoch nicht nur um die richtige Wahl der Mittel, die Gegenstand der Klugheit sein muss, sondern es kommt nach Aristoteles ebenfalls auf den stabilen tugendhaften Charakter der handelnden Person an. Vor diesem Hintergrund macht Gadamer eine wichtige Bemerkung, auf dessen Inhalt wir bereits an einigen Stellen weiter oben hingewiesen haben. Es geht dabei um die Rolle der Klugheit mit Blick auf die Wahl der Mittel einerseits und den Zweck an sich – der Eudaimonia – andererseits. Er schreibt: »Aristoteles betont im allgemeinen, daß die [phronêsis] es mit den Mitteln [ta pros to telos] zu tun habe und nicht mit dem [telos]. Es dürfte der Gegensatz zur platonischen Lehre von der Idee des Guten sein, der ihn das so hervorheben läßt. Aber daß die [phronêsis] kein bloßes Vermögen der rechten Mittelwahl ist, sondern selbst eine sittliche Hexis, die das Telos mit sieht, auf das der Handelnde durch sein sittliches Sein gerichtet ist, geht aus ihrem systematischen Ort innerhalb der aristotelischen Ethik eindeutig hervor.« (Gadamer 1990: 326–327, FN 259)
Abschließend greift Gadamer nochmals die Sehens-Metaphorik auf, indem er konstatiert, dass das Aristotelische »Sich-Wissen« ein »Wissen vom Jeweiligen« ist und das sittliche Wissen vollendet, »gleichwohl [es] kein sinnliches Sehen ist«. Das Sich-Wissen enthält die »vollendete Applikation« und »[betätigt] in der Unmittelbarkeit der gegebenen Situation sein Wissen« (Gadamer 1990: 327). Auf unser Beispiel übertragen: Das gelegentliche Ausdrücken von Zigaretten auf Hannas Körper wird also unmittelbar als moralisch schlecht erkannt und bedarf keiner weiteren Abwägung von Argumenten. In diesem Sinne stimmen wir mit Gadamer überein, wenn er Folgendes zu bedenken gibt:
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Gadamers hermeneutische Methode und der Aristotelische Klugheitsbegriff
»Wenn man auch einer Situation ansehen muß, was sie von einem verlangt, so bedeutet dieses Sehen doch nicht, daß man das in dieser Situation Sichtbare als solches wahrnimmt, sondern daß man sie als die Situation des Handelns sehen lernt und damit im Lichte dessen, was recht ist.« (Gadamer 1990: 327)
Es ist also der Situation – das Ausdrücken der Zigaretten auf Hannas Körper – unmittelbar anzusehen, dass eine Aufforderung an uns ergeht, der unmoralischen Handlung ein Ende zu bereiten. Dies ist damit gemeint, wenn Gadamer mit Blick auf Aristoteles konstatiert, dass »in der sittlichen Überlegung das ›Sehen‹ des unmittelbar Tunlichen kein bloßes Sehen, sondern Nous« ist (327). So könnte man sagen, dass der phronimos – die praktisch kluge Person – in der jeweiligen Situation sieht, was zu tun ist, und entsprechend danach handelt. Damit ist jedoch nicht gemeint, dass er ohne jedwede Überlegung auskommt, sondern lediglich, dass er aufgrund seines Vermögens in der Lage ist, zu entscheiden, auf welche Weise er mit der vorliegenden Situation umzugehen hat. Der phronimos weiß – ohne Rekurs auf das Abwägen von Gründen –, dass das Ausdrücken von Zigaretten auf Hannas Körper eine unmoralische Handlung ist. Jede Faser seines Körpers nimmt gleichsam die Schlechtigkeit der Tat unmittelbar wahr und trachtet danach diese zu beenden. Geht es jedoch um komplexe moralische Probleme, so zeigt sich das Überlegene des phronimos in der Anwendung selbst. Hier kommt es dann auf die richtige Abwägung moralischer Gründe an. Auf der Grundlage der Phänomenologie moralischer Fälle und der Angemessenheit moralischer Urteile wird er dann zu einer angemessenen Lösung kommen. (3.) Verständnis Gadamer schließt seine Untersuchung der Frage, warum das sittliche Wissen kein technisches Wissen ist, mit einigen knappen Bemerkungen zu den Begriffen Verständnis (sûnesis), Einsicht bzw. Nachsicht (gnômê und sungnômê) und dem Beispiel des Deinos ab. (1.) Jemand hat Verständnis, wenn er über »die Fähigkeit des sittlichen Beurteilens« verfügt und in der Lage ist, »sich urteilend in die volle Konkretion der Lage [zu versetzen], in der einer zu handeln hat« (Gadamer 1990: 328). Dies, so Gadamer, kann man jedoch nicht mit der bloßen Anwendung eines technischen Wissens vergleichen, da man sich mit der Person, für die man Verständnis zeigt, auf eine bestimmte Art und Weise – nämlich freundschaftlich – verbunden fühlen muss (328). (2.) Derjenige, »der in billiger Weise richtig urteilt«, wird ein111 https://doi.org/10.5771/9783495820759 .
Klugheit als ethische Richtschnur
sichtig genannt; er »ist also bereit, die besondere Situation des anderen« anzuerkennen und ist damit am besten in der Lage, verzeihen zu können (328). Dies ist nach Gadamer jedoch keineswegs beim technischen Wissen der Fall. (3.) Das Beispiel des Deinos zeigt den wesentlichen Unterschied zwischen der praktisch klugen Person einerseits und einer zu allem fähigen und geschickten Person, die sich nicht an die Tugend gebunden fühlt, andererseits. Gadamer hat ganz recht, wenn er vor diesem Hintergrund sagt, dass »[n]ichts so schrecklich, so unheimlich, ja so furchtbar [ist] wie der Besitz genialer Fähigkeiten bei einem Schuft« (329). Hierbei handelt es sich also um den Anti-Tugendhaften, der das praktische Wissen einzig zu seinem eigenen Vorteil anwendet. Gadamers hermeneutische Methode hat uns einmal mehr darin bestätigt, dass moralisches Problemlösen nicht in der einfachen Anwendung von ethischen Theorien bestehen kann, sondern der Anwendung selbst Rechnung getragen werden muss. Die Anwendung ist also »nicht ein nachträglicher und gelegentlicher Teil des Verstehensphänomens […], sondern [mitbestimmt] es von vornherein und im ganzen« (329). Die unterschiedlichen Facetten der obigen Untersuchung mit Blick auf Gadamers Einbeziehung des Aristotelischen Klugheitsbegriffs verdeutlichen die besondere Relevanz eines flexiblen Beurteilungsmaßstabs für das moralische Denken und Handeln insgesamt. Flexibilität heißt dabei natürlich nicht Beliebigkeit, sondern Augenmaß (vgl. Kapitel 5.4.3.).
4.4. Empfehlungen für eine ethische Methode Dieser Abschnitt dient nicht als Zusammenfassung oder Wiederholung der obigen Diskussion, sondern ist dazu gedacht, einige Akzente zu setzen, die für unsere ethische Methode bedeutsam sind. In kritischer Diskussion mit Aristoteles und Gadamer haben wir mit Blick auf den Klugheitsbegriff sowie die Billigkeit einige wesentliche Aspekte herausarbeiten können, die zum besseren Verständnis unseres Vorhabens beigetragen haben. So bleibt zu konstatieren, dass eine ethische Methode, die nicht in irgendeiner Weise an die Natur des Menschen rückgebunden ist (ohne sich jedoch dem Sein-Sollens-Fehlschluss auszusetzen), sich ohne Zweifel der Gefahr aussetzt, zu abgehoben zu sein, um die kom112 https://doi.org/10.5771/9783495820759 .
Empfehlungen für eine ethische Methode
plexen Probleme der menschlichen Moral kontextsensitiv zu lösen. Freilich geht es hierbei nicht darum, die Natur des Menschen als eine alles entscheidende normative Determinante in die Ethik einzuführen, sondern die Einheit von Denken und tugendhaftem Charakter für das gute Handeln herauszustellen, ohne einem sokratisch-platonischen Intellektualismus anheimzufallen. Was das gute Handeln jedoch ist, kann jeweils nur im Rekurs auf das gute menschliche Leben bestimmt werden. Nach Aristoteles ist die praktisch kluge Person (bzw. der moralische Experte) in der Lage, zu bestimmen, was das Gute und Zuträgliche für sie selbst und mit Blick auf das gute menschliche Leben insgesamt ist. Vermittels der Klugheit (bzw. der Wohlberatenheit) gelingt es dem phronimos herauszufinden, worin die menschliche Glückseligkeit besteht und welche Mittel nötig sind, um diese zu erlangen. Klugheit bezieht sich somit nicht nur auf Zweckrationalität. Mit Recht nimmt Aristoteles an, dass Klugheit und Tugendhaftigkeit nicht voneinander getrennt gedacht werden können, da man nicht »gut sein kann ohne die Klugheit noch klug ohne die Tugend des Charakters« (EN VI, 13 1144a28–29). Klugheit und Tugendhaftigkeit sind also zwei Seiten einer Medaille. Dies ist insofern wichtig, als dass der moralische Experte nicht in der Lage wäre, vermittels seiner spezifischen Wahrnehmungsleistung der intuitiven Vernunft, die klaren Fälle wirklich eindeutig zu erkennen (vgl. Kapitel 3.4.). Wäre der moralische Experte nicht auch tugendhaft, wäre sein »Auge« getrübt und damit seine moralische Sensitivität eingeschränkt. Die einfachen Fälle und die Fälle im Graubereich der Moral können nur dann entsprechend gelöst werden, wenn das Abwägen von Gründen auf die richtige Weise erfolgt. Die Richtigkeit des Denkens (dianoia) aber hängt unter anderem davon ab, welche moralische Erziehung der phronimos genossen hat. Nach Aristoteles setzt dies zwingend die richtigen ethisch-politischen Tugenden in einer Gemeinschaft voraus (vgl. Kapitel 4.1.3. Tabelle 3). Es bleibt jedoch zu konstatieren, dass dieser Rahmen zwar notwendig, aber eben nicht hinreichend für die Existenz moralischer Experten ist. Ob es moralische Experten wirklich gibt, erscheint durchaus fraglich, da die Voraussetzungen einfachhin zu anspruchsvoll sind (wie bereits Aristoteles anklingen ließ). Wenn wir aber wissen, auf welche Weise die praktisch kluge Person urteilt, dann sind wir ebenfalls in der Lage, komplexe moralische Probleme angemessen zu lösen (vgl. Kapitel 5). Der Begriff der Billigkeit ist für den moralischen Diskurs im all113 https://doi.org/10.5771/9783495820759 .
Klugheit als ethische Richtschnur
gemeinen und bezüglich der ethischen Methode im Besonderen im hohen Maße relevant, gerade wenn es darum geht, neuartige moralische Probleme zu untersuchen, die mit den traditionellen ethischen Theorien nicht mehr angemessen gelöst werden können (als aktuelle Beispiele aus der Technikphilosophie mögen hier die kontrovers diskutierten Themen im Kontext der Künstlichen Intelligenz und Robotik dienen) 48. Aufgrund ihrer besonderen moralischen Verfasstheit, so könnte man in Anlehnung an Aristoteles sagen, hat die praktisch kluge Person einen verlässlichen Zugang zu moralischen Wahrheiten und ist in der Lage, die Kenntnisse auf konkrete und neuartige Fälle anzuwenden, ohne jedoch Gefahr zu laufen, dass ihre Entscheidungen moralisch beliebig sind. Ihr natürliches Rechtsgefühl leitet sie diesbezüglich an. Mit Gadamer sind wir der Ansicht, dass die Begründungs- und Anwendungsfrage im Kontext der praxisorientierten Ethik zusammengedacht werden müssen, und hier vor allem der Rekurs auf den Klugheitsbegriff zentral ist. Beim Klugheitsbegriff sind zumindest zwei weitere Punkte zu nennen: (1.) Gadamer weist mit Recht darauf hin, dass sich Aristoteles vom sokratisch-platonischen Intellektualismus mit Blick auf das Verhältnis von Tugend und Wissen abgrenzt und die Tugend auf das gute menschliche Leben bezieht. Dabei ist die Habituierung der ethisch-politischen Tugenden zentral, wobei die Tugenden erst durch eine entsprechende Rückbindung an den Ethos einer moralisch integren Polisgemeinschaft ihren echten moralischen Wert erhalten. Wie Aristoteles betont auch Gadamer die Bedeutung der Tugendhaftigkeit des Charakters bezüglich des guten Gelingens für das ethische Urteilen. Dies ist nicht nur wichtig, weil es ebenfalls das Motivationsproblem der Moral löst, sondern auch, weil es für die moralische Sensitivität des phronimos wesentlich ist. (2.) Gadamer diskutiert die Frage, ob Klugheit eine technê sei, und macht deutlich, dass man beides voneinander unterscheiden muss. Das Herstellungswissen besitzt man nicht auf die gleiche Weise wie das sittliche Wissen (phronêsis), da man die technê, so Gadamer, zum einen lernen und verlernen kann (was beim sittlichen Wissen nicht der Fall ist) und zum anderen die Tugenden bzw. Leitbilder im Vergleich zum »›Eidos‹ dessen, was ein Handwerker herstellen will«, unterdeterminiert sind, wie man in der Moderne sagt.
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vgl. hierzu Gordon 2018 und 2019.
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Empfehlungen für eine ethische Methode
Ein Vergleich zum Bogenschießen bietet sich an: Der Bogenschütze hat gelernt, was er tun muss, um sein Ziel zu treffen; genauso wie die Person, die die ethische Methode anwendet. Wenn der Bogenschütze jedoch nicht gelernt hat, welches Ziel in welcher Situation zu treffen, angemessen ist, dann verhält er sich lediglich wie jemand, der nur »geschickt« und nicht auch tugendhaft ist, während die praktisch kluge Person sowohl weiß, was das moralisch Richtige ist als auch entsprechend danach handelt. Dies setzt jedoch einen entsprechenden ethisch-politischen Rahmen voraus, der zuallererst gegeben sein muss, damit sich die praktisch kluge Person an den richtigen moralischen Leitbildern orientieren kann, um ihre ethischen Entscheidungen zu treffen. 49
Auf welche Weise dies möglich ist, ist nicht Thema unserer Untersuchung, sondern gehört in den Bereich der Politischen Philosophie.
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5. Der Moralische Experte 5.1. 5.2. 5.3. 5.4.
Über die Komplexität der Moral 116 Die Praktisch Kluge Person 118 Ethische Methode vs. Ethische Theorien Einwände 130
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5.1. Über die Komplexität der Moral Die weit verbreitete Annahme, dass die Moral mittels nur einer ethischen Theorie angemessen abgebildet werden kann, ist nicht nur falsch, sondern scheint vor dem Hintergrund der Komplexität der Moral mit Blick auf das menschliche Leben geradezu vermessen zu sein. Es gibt keine One-Size-Fits-All-Theorie der Moral, die sich nur eines oder einiger weniger Prinzipien der Moral bedient und sich dann anheischig machen könnte, alle moralischen Probleme angemessen lösen zu können. Ein Beleg dafür ist das Aufkommen der praxisorientierten Ethik im 20. Jahrhundert und die damit einhergehende Diversifizierung der Moral in unterschiedliche Teilbereiche bzw. Teildisziplinen, die aufgrund ihrer unterschiedlichen Sachgegebenheiten teils unterschiedliche Auslegungen moralischer Begriffe und Positionen hervorgebracht haben. Ein weiterer Beleg dafür ist die Unfähigkeit der traditionellen ethischen Theorien (Tugendethik, Kantische Pflichtethik und Utilitarismus), moralische Probleme der Moderne angemessen beschreiben und lösen zu können (insbesondere im Kontext der Bioethik und Technikethik). Dies kann man ebenfalls daran festmachen, dass jene klassischen Theorien zum Beispiel im Englischen durch den Zusatz »Neo« beschrieben werden. So sehen wir uns seit einigen Jahrzehnten mit den unterschiedlichen Spielarten und vermeintlichen Verbesserungen der Neo-virtue ethics (Martha Nussbaum), des Neo-Kantianism (Christine Korsgaard) und der stark ausdifferenzierten Familie des Utilitarismus (Peter Singer, Richard Hare) konfrontiert. Taucht ein neues Problem auf, das eine ethische Theorie nicht lösen kann, wird diese weiter entwickelt, um auf die neue Sachlage besser reagieren zu können. Die meisten Philosophen mögen darin einen Vorteil sehen. Man zeigt sich ja flexibel, um auf die neuen Erfordernisse im Rahmen des Alten und Bewährten einzugehen. Wir sehen darin jedoch einen moralischen Flickenteppich. 116 https://doi.org/10.5771/9783495820759 .
Über die Komplexität der Moral
Psychologisch gesehen mag dies durchaus verständlich sein, will man ja mit der Namensähnlichkeit der eigenen ethischen Position zu den klassischen Theorien deutlich machen, dass man sich sowohl inhaltlich als auch formal in einer Linie stehend sieht. Diesbezüglich unterliegen viele Anhänger dem Irrglauben, dass man damit auch eine gewisse Sicherheit mit Blick auf die Begründung für die eigene Position erworben hat. Des Weiteren wird gehofft, dass die Dignität der großen Philosophen und ihrer gefeierten Theorien ein Stück weit auf die Nachfolgenden und ihre Verbesserungen übergeht. Man mag sich kaum vorstellen wollen, was Kant zu Korsgaard und Aristoteles zu Nussbaum sagen würden. Welch ein Schauspiel. Wir sagen nicht, dass die klassischen ethischen Theorien oder ihre modernen Varianten insgesamt falsch sind; im Gegenteil sie sind wichtige Anker im Bereich der Moral, die uns helfen unsere Position im Raum des Moralischen zu finden. Dies heißt jedoch nicht, dass eine jener Theorien als die ultimative ethische Position anzuerkennen ist. Vielmehr geht es darum, sich klar zu machen, dass die ethischen Theorien jeweils Teilbereiche der Moral abdecken und nicht verabsolutiert werden dürfen. Wir sollten die ethischen Theorien eher als grobe Richtlinien verstehen, die uns bei der Lösung moralischer Probleme helfen, ohne dass wir jedoch einem Diktat der Theorie verfallen sollten. Der kasuistischen Lehre ist vorgeworfen worden, dass ihre paradigmatischen Fälle nicht nur dabei helfen würden, eine Lösung zu finden, sondern vielmehr den ethischen Diskurs selbst determinieren. Der Vorwurf ist klar. Das Mittel wird zum höchsten Zweck gemacht. Es kommt nun nicht mehr darauf an, dass die ethischen Theorien bzw. ihre Prinzipien als Mittel zum Zweck gesehen werden (so wie es eigentlich der Fall sein sollte), sondern es wird alles daran gesetzt, die Unumstößlichkeit der eigenen ethischen Position durch fortlaufende »Verbesserungen« sicherzustellen. Wir nennen dies die Verselbständigung des Mittels zum Zweck. Die Annahme, dass man einfachhin die ethische Theorie mechanisch auf moralische Fälle anwenden könnte (so wie es viele im Kontext der praxisorientierten Ethik am Anfang propagiert hatten), ohne echten Rekurs auf die praktische Klugheit zu nehmen, erscheint nicht nur vermessen, sondern auch moralisch verfehlt zu sein. Die Theorie darf einem das Selberdenken nicht abnehmen. Was meinen wir damit? Die ethischen Theorien versuchen mit einem endlichen Arsenal das Unendliche abzubilden, während die praktisch kluge Person bzw.
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Der Moralische Experte
der moralische Experte eher mit der lesbischen Bauart vergleichbar ist (vgl. Kapitel 5.3.).
5.2. Die Praktisch Kluge Person 5.2.1. Bemerkungen zu Aristoteles Im IV. Buch der Nikomachischen Ethik hören wir Aristoteles über den Großgesinnten (d. h. die Person die Seelengröße hat) Folgendes sagen: »Und man hält beim stolzen Menschen langsame Bewegung für angemessen, ferner eine tiefe Stimme und gesetzte Rede. Denn der, dem Weniges wichtig ist, wird keine Eile haben, und wer nichts für groß hält, wird nicht angespannt sein; das aber sind die Ursachen einer schrillen Stimme und hastiger Bewegung.« (EN IV, 8 1125a12–16)
Aus heutiger Sicht bleibt wohl mit Recht zu konstatieren, dass die äußerlichen Kriterien (Gang, Stimme, Redeweise), die Aristoteles mit Blick auf den Großgesinnten bzw. die praktisch kluge Person nennt, merkwürdig anmuten und eher der (männlichen) Vorstellungswelt der Griechen oder zumindest einiger Griechen entstammen mag. Auch wenn man sicherlich der christlichen Pervertierung des Großgesinnten als Hochmütigen nicht zustimmen sollte, ist es dennoch wichtig zu bestimmen, was eigentlich die praktisch kluge Person als tugendhafte Person grundsätzlich ausmacht. Ob sich jedoch die Natur des Tugendhaften auch im Rekurs auf äußerliche Kriterien ablesen lässt, können wir getrost anderen überlassen. Wie sollen wir uns also die praktisch kluge Person als Anker der Moral vorstellen, von der wir annehmen, dass sie der Dreh- und Angelpunkt moralischen Denkens ist? Was ist also das Spezifische des phronimos? Die beiden klassischen Stellen dazu finden wir wiederum bei Aristoteles im III. (6.) und VI. (5.) Buch der Nikomachischen Ethik: »Der Gute beurteilt jedes Einzelne richtig, und in allen Einzelsituationen zeigt sich ihm, was wahr ist. Jede Disposition (hexis) hat nämlich ihren eigenen Bereich des Werthaften (kalon) und Angenehmen (hêdy), und der Gute zeichnet sich vielleicht am meisten dadurch aus, dass er in allen Einzelfällen die Wahrheit sieht, indem er gewissermaßen Richtschnur und Maß (kanon kai metron) dafür ist.« (EN III, 6 1113a29–33),
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Die Praktisch Kluge Person
und »Es ist Kennzeichen eines klugen Menschen, dass er gut zu überlegen (bouleuesthai) vermag über das für ihn Gute und Zuträgliche, und zwar nicht in einer besonderen Hinsicht, zum Beispiel darüber, was seiner Gesundheit oder seiner Kraft zuträglich ist, sondern darüber, was überhaupt dem guten Leben (pros to eu zên holôs) zuträglich ist.« (EN VI, 5 1140a25–28)
Ein bedeutendes Ergebnis des VI. Buches der Nikomachischen Ethik ist, dass Aristoteles zeigt, dass gutes Handeln (eupraxia) zwei Dinge notwendigerweise voraussetzt: Zum einen die Fähigkeit diskursiv zu denken (dianoia) und zum anderen das Haben eines moralischen Charakters (hexis êthikê). Eine Person, die beides hat, bezeichnet Aristoteles als phronimos. Der phronimos bzw. der moralische Experte richtet sein Streben auf das gute – d. h. moralisch gute – Leben selbst. Die Explikation dessen, was das moralisch gute Leben ausmacht, dient der praktisch klugen Person als Grundlage, das jeweils Richtige in einer konkreten Situation zu bestimmen und entsprechend danach zu handeln. Bekanntlich räumt Aristoteles ein, dass es vermutlich nicht viele (oder überhaupt keine) tugendhafte Personen gibt. Dies klingt zunächst ernüchternd, wurde doch versucht, über die Existenz des moralischen Experten zu bestimmen, was das moralisch Richtige ist. 50
5.2.2. Charakter und Tugend Der moralische Experte ist aufgrund seiner Natur die ethische Richtschnur bzw. der Standard des moralisch Richtigen und somit die Personifizierung dessen, was es heißt, moralisch gut zu sein. Darüber hinaus gibt es natürlich noch einen technischen Experten der Moral, der selbst hinter den Forderungen der Moral zurückbleibt, jedoch in der Lage ist, moralisch richtige Ratschläge zu geben, ohne einen entsprechenden moralisch guten Charakter zu haben (vgl. Tabelle 4). 51 Der moralische Experte (einschließlich des tugendhaften Charakters) und der technische Experte der Moral (ohne tugendhaften Charakter) wissen beide, was das moralisch Richtige ist (vgl. jedoch Kapitel Vgl. Hoffmann (2012) für eine weiterführende Darstellung des Tugendhaften bei Aristoteles. 51 In der zeitgenössischen deutschen Debatte wurde unter anderem die Frage diskutiert, ob Ethiker selbst auch moralisch sein müssen (vgl. dazu Ammann et al. 2011). 50
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Der Moralische Experte
5.4.2.). Da man allerdings nur dem moralischen Experten aufgrund seines tugendhaften Charakters vertrauen kann (gerade wenn es um uneigennützige Ratschläge geht), ist sie die einzige Person, der man aus erkenntnistheoretischen Gründen den Vorzug geben sollte. Tabelle 4: Charakter und Handlungen Moralische Person
Moralische Handlung
Unmoralische Person
Antike
Moderne
Antike
Moderne
Die Handlung ist moralisch richtig, weil sie von einer moralisch guten Person ausgeführt wird.
Die Handlung ist moralisch richtig (unabhängig vom moralischen Charakter des Handelnden).
Unmöglich, da eine moralisch richtige Handlung einen moralisch guten Charakter erfordert.
Die Handlung ist moralisch richtig, auch wenn die Person einen unmoralischen Charakter hat.
Möglich (unabhängig vom moralischen Charakter des Handelnden).
Möglich
Möglich
Unmoralische Unmöglich, da die Handlung moralisch gute Person keine unmoralischen Handlungen ausführen kann.
Gibt es historische Vorbilder für moralische Experten? Konfuzius und Sokrates wurden oftmals als Idealbild eines praktisch klugen Menschen im Sinne eines phronimos angesehen. Unserer Ansicht nach wäre dies jedoch eine zu vorschnelle Behauptung. Beide Philosophen haben ohne jeden Zweifel außergewöhnliche und inspirierende Leben geführt, in denen sie beide höchsten moralischen Standards gerecht wurden und sich stets – auch in schwierigen Zeiten – authentisch verhielten. 52 Über Jahrhunderte hinweg galten Konfuzius und Sokrates als moralische Vorbilder für uns Nachfolgende und haben uns mit ihrem Beispiel dazu motiviert, moralisch besser zu handeln und zu leben. Dies ist zweifellos eine überragende Leistung und verdient unsere höchste Anerkennung. Warum also der Zweifel? Mit Blick auf Sokrates bleibt im Allgemeinen zu konstatieren, dass seine aporetische Grundhaltung in den frühen und mittleren Platonischen Dialogen nicht so recht zur Natur des moralischen Experten passen will. Hinzu kommt, dass Sokrates es mit hoher Wahrscheinlichkeit ebenfalls abgelehnt hätte, als phronimos bezeichnet zu 52 Jedenfalls bleibt zu konstatieren, dass den nachfolgenden Generationen dieses Bild vermittels einer recht überschaubaren Quellenlage gezeichnet wird.
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Die Praktisch Kluge Person
werden. Bei Konfuzius liegt der Fall etwas anders. Er sieht sich selbst als Mittler einer längst vergessenen traditionellen klassenorientierten Moral, die sich an den sozialen Riten (Li) der weisen Könige der Zhou Dynastie – Yao, Shun und Yu – orientiert (vgl. Gespräche). Die Richtigkeit einer Handlung wird an den sozialen Riten der Zhou und nicht an universellen genuin moralischen Prinzipien gemessen. Wenn man also wissen will, was man in einer Situation tun sollte, dann muss man sich an die sozialen Riten und klassischen Texte wenden. Grundsätzlich könnte man mit Recht fragen, ob die sittliche Orientierung an eine frühere soziale Ordnung als moralisches Vorbild für die Jetztzeit überhaupt dienen sollte. Für Konfuzius stellt sich diese Frage jedoch nicht, da er der Meinung ist, dass die Zhou Dynastie die perfekte Adaptierung der schlechthinnigen Moral war. Wenn man also Konfuzius als moralisches Vorbild – oder als moralischen Experten – annehmen möchte, dann sieht man sich unweigerlich mit erheblichen Schwierigkeiten konfrontiert. 53 Wenden wir uns nun der zeitgenössischen Debatte zu.
5.2.3. Bemerkungen zur zeitgenössischen Diskussion I. Die Frage, ob es so etwas wie moralische Experten oder moralische Expertise gibt, ist in der modernen Forschung eher stiefmütterlich behandelt worden 54. Dies ist bedauerlich, da die Antworten auf diese Frage wesentliche Aspekte für das richtige Verständnis mit Blick auf die Natur der Moral bereithalten. Grundsätzlich gibt es vier mögliche 53 Wer sich mit Konfuzianismus und insbesondere mit dem Vergleich von Konfuzianismus mit der (Aristotelischen) Tugendethik beschäftigen möchte, dem seien die beiden sehr lesenswerten Werke von Yu (2007) und Sim (2007) anempfohlen. Ein ebenfalls exzellentes Buch wurde von Angle und Slote (2013) herausgegeben. Das Kapitel »Kongzi and Ruism« von Van Norden (2007) ist ausgezeichnet. 54 Derzeit gibt es lediglich den von MacNiven (1990) herausgegebenen Sammelband sowie die beiden sehr guten Werke von Rasmussen (2005) und Watson und GuidryGrimes (2018), deren zahlreiche Beiträge hauptsächlich im Kontext der Bioethik/Medizinethik zu verorten sind. Jenks (2008) bezieht sich in seinem Werk ausschließlich auf Platon. Die Mehrheit der Beiträge im deutschen Sammelband von Ammann et al. (2011) diskutieren die spezifische Frage, ob Ethiker auch moralisch sein müssen. Darüber hinaus gibt es mittlerweile eine immer noch überschaubare Anzahl von englischsprachigen Aufsätzen zu den Themen »moral expertise« und »moral experts«, die die genannten Begriffe vor dem Hintergrund ethischer, politischer, erkenntnistheoretischer und ontologischer Überlegungen diskutieren.
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Der Moralische Experte
Varianten, wie die beiden Begriffe moralische Expertise und moralischer Experte zueinander ins Verhältnis gesetzt werden können: 1. 2. 3. 4.
Moralische Expertise existiert & moralische Experten existieren Moralische Expertise existiert & es gibt keine moralischen Experten Es gibt keine moralische Expertise & es gibt keine moralischen Experten Es gibt keine moralische Expertise & moralische Experten existieren (logisch unmöglich)
Einige grundsätzliche Fragen, die in der derzeitigen Forschung diskutiert werden, mögen den für uns relevanten Kontext weiter erhellen, ohne dass wir dabei jedoch den Anspruch erheben, in diesem Kapitel die Fragen aufzugreifen oder beantworten zu wollen. Es soll lediglich ein erstes Gefühl vermittelt werden, wie verzweigt das thematische Umfeld unserer Überlegungen eigentlich ist: • • • • • • • • •
• •
Was verstehen wir unter (moralischem) Expertenwissen? Was bedeutet es, ein Experte in einem Fachgebiet zu sein? Wie können Laien genuine moralische Experten identifizieren? Ist das Haben eines tugendhaften Charakters eine notwendige Komponente moralischer Expertise? Wie kann man Experten in der Theorie und Praxis identifizieren? Wann sollten wir moralischen Experten vertrauen und wann sollten wir ihnen nicht vertrauen? Wie ist das Verhältnis von moralischem Zeugnis (»moral testimony«) und moralischer Expertise? Können in einigen Fällen das Wissen und Bedenken von Laien die Meinungen der Experten befruchten und/oder außer Kraft setzen? Wie sollten wir mit Blick auf Meinungsverschiedenheiten unter Experten umgehen? Sollten wir dann nach dem Mehrheitsprinzip gehen? Werden Experten von spezifischen epistemischen oder moralischen Verpflichtungen aufgrund ihrer Funktion (als Experten) beeinflusst? Müssen moralische Experten ihre eigenen Ratschläge befolgen?
Drei prominente klassische Gegner einer Redeweise von moralischer Expertise und moralischen Experten sind C. D. Broad (1952: 244), A. J. Ayer (1954: 246) und R. G. Frey (1978: 51). Broad führt drei Gründe für seine Position an: (1.) Es ist nicht die Aufgabe von Moralphilosophen, anderen zu sagen, was sie tun sollen; (2.) Moralphilosophen besitzen kein einzigartiges moralisches Wissen bezüglich der 122 https://doi.org/10.5771/9783495820759 .
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Richtigkeit und Falschheit moralischer Aussagen, das für nicht-Philosophen unzugänglich ist; und (3.) Moralphilosophen sollten andere Menschen nicht in normativen Angelegenheiten anleiten. 55 Wir können uns die ablehnende Haltung von C. D. Broad (und A. J. Ayer) besser verständlich machen, indem wir uns den historischphilosophischen Kontext vergegenwärtigen. Zwei Aspekte sind unserer Ansicht nach entscheidend: Zum einen bleibt zu konstatieren, dass damals »Ethik betreiben« mehr oder weniger gleichbedeutend mit Metaethik war und es eher um die semantische Analyse von moralischen Begriffen sowie um ontologische und erkenntnistheoretische Fragestellungen ging. Der Bereich der praxisorientierten Ethik war den damaligen Moralphilosophen zwar nicht (zur Gänze) unbekannt, wurde aber eher stiefmütterlich behandelt. Somit war die Vorstellung, dass Moralphilosophen – die normalerweise Metaethik betrieben – überzeugende und richtige Antworten auf bedeutende normative Fragen und praxisorientierte Probleme geben sollten, nicht wirklich vermittelbar. Zum anderen kam es seit den späten 1960er Jahren zur Wiederkehr praxisorientierter Fragen in der praktischen Philosophie. Vor dem Hintergrund der sozialen Bürgerrechtsbewegungen – d. h. Gleichheit der Geschlechter, der Gleichberechtigung von African-Americans in den USA, das Streben nach Gleichheit zwischen Menschen ganz unterschiedlicher sexueller Orientierung, die Inklusionsbestrebungen von Menschen mit Behinderung sowie ein stärker werdendes Bewusstsein der Menschen für Tierrechte und Umweltschutz etc. – wandten sich viele Moralphilosophen von rein metaethischen Fragen ab und arbeiteten (wieder) verstärkt an praxisorientierten Problemen. Hinzu kam das Aufkommen der Medizinethik als feste und eigenständige Disziplin, was durch die beiden bedeutenden amerikanischen Institutionen The Hastings Center (1969) und das Joseph and Rose Kennedy Center for the Study of Human Reproduction and Bioethics (1971) in ihrer Entwicklung und Professionalisierung wesentlich befördert wurde (vgl. Gordon 2012). Ayers Ablehnung basiert auf seiner allgemeinen emotivistischen Position, nach der die Moral subjektiv ist und aus emotiven Urteilen
»[…] it is no part of the professional business of moral philosophers to tell people what they ought or ought not to do […] Moral philosophers, as such, have no special information, not available to the general public, about what is right and what is wrong; nor have they any call to undertake those hortatory functions which are so adequately performed by clergymen, politicians […]« (Broad 1952: 244).
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Der Moralische Experte
besteht, die lediglich die moralische Gesinnung und Präferenz der jeweiligen Person darstellt. Gleichwohl der Emotivismus einen erheblichen Bekanntheitsgrad erfahren hat, bleibt festzustellen, dass nur wenige Philosophen die Position aufgrund der erheblichen Kritik an jener Theorie ernsthaft vertreten haben. Der starke Kontrast zu anderen ethischen Positionen mit Blick auf eine angemessene Beschreibung des Oberflächencharakters der Moral erscheint vielen Beleg genug zu sein, die Position nicht weiter zu verfolgen. Der Emotivismus dient vielmehr als eine argumentative Folie, von der sich die (absolute) Mehrheit der Philosophen abheben wollen. Die Folge der emotivistischen Position, z. B. das Foltern von Hanna als subjektiv und relativ beschreiben zu müssen, erscheint mit Recht im Kern verfehlt zu sein. Die Natur der Moral wird durch den Emotivismus nicht überzeugend bestimmt. Frey argumentiert, dass es (derzeit) keinen Test für die Legitimität von ethischen Theorien gibt (»test of adequacy«). Daher sind wir auch nach Frey nicht in der Lage, eine normative ethische Theorie angemessen zu begründen. Wenn es jedoch keine gut begründete ethische Theorie gibt, folgt daraus zwangsläufig, dass es (1.) keine moralische Expertise gibt und damit auch (2.) keine moralischen Experten. Hinzu kommt, dass die moralischen Experten, wenn es sie denn gibt, nur Experten hinsichtlich einer ethischen Theorie wären, da es, so Frey, vermutlich keine ultimative allumfassende ethische Theorie gibt. 56 Wir teilen die Einschätzung von Frey, dass es (derzeit) keine ethische Theorie gibt, die die Komplexität des moralischen Lebens der Menschen angemessen beschreiben kann. Anders als Frey vertreten wir jedoch die Auffassung, dass dies allerdings im Rahmen einer ethischen Methode möglich wäre und wir somit zumindest der Möglichkeit nach über echte moralische Expertise und moralische Experten verfügen könnten (vgl. 5.3.).
56 »[…] the question of whether I am a moral expert is linked in its normative aspect with the adequacy of my normative ethic, and until I can demonstrate that my theory is adequate, for which purpose I first need to specify and then go on to justify some test of adequacy, I cannot even begin to satisfy the normative aspect to claims of moral expertise.« (Frey 1978: 51).
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5.2.4. Bemerkungen zur zeitgenössischen Diskussion II. Die Natur des moralischen Experten bzw. der praktisch klugen Person wird von Peter Singer (1972) und Terrance C. McConnell (1984) überzeugend dargestellt, so dass wir beide Beschreibungen näher in den Blick nehmen werden. Singer ist der Ansicht, dass es sowohl moralische Expertise als auch moralische Experten gibt. Er formuliert vier wesentliche Aspekte, die den moralischen Experten auszeichnen: (1.) Moralphilosophen sind moralische Experten, die einen klaren Vorteil gegenüber Laien haben; (2.) das allgemeine Training des Philosophen versetzt sie in die Lage, (a.) über eine hohe Kompetenz im Argumentieren zu verfügen und (b.) fehlerhafte Schlüsse zu erkennen; (3.) die spezifische Erfahrung im Bereich der Moralphilosophie befähigt die Philosophen dazu, (a.) moralische Begriffe zu verstehen und (b.) die Logik eines Arguments nachvollziehen zu können; (4.) Moralphilosophen haben Zeit über die komplexen Probleme vertieft nachzudenken. Es ist nicht verwunderlich, dass die beiden Listen der wesentlichen Aspekte moralischer Experten von Singer und McConnell im Grundsatz übereinstimmen, obgleich letzterer eine etwas ausführlichere Beschreibung gibt. Nach McConnell können wir zumindest neun unterschiedliche Aspekte identifizieren: (1.) Moralische Experten sind Moralphilosophen, die insbesondere normative Ethik betreiben (Metaethik und deskriptive Ethik sind nach McConnell für moralische Expertise weniger bedeutend); (2.) die Fähigkeit, anderen verständlich zu machen, was gute moralische Handlungsgründe für sie sind; (3.) die Fähigkeit, gute und schlechte Argumente voneinander zu unterscheiden, was hilfreich ist, um moralisches Wissen zu erlangen; (4.) die Fähigkeit, fehlerhaftes Denken zu erkennen, was hilfreich ist, um sich vor emotionalen Einflüssen und anderen irrelevanten Überlegungen zu schützen; (5.) moralische Experten verfügen über ein besseres Verständnis von moralischen Begriffen, was notwendig ist, um (a.) moralisches Wissen zu erlangen und (b.) nicht die Übersicht in der Diskussion von komplexen moralischen Problemen zu verlieren; (6.) die Fähigkeit, relevante Ähnlichkeiten und Unterschiede mit Blick auf Analogien und Vergleiche zu bestimmen; (7.) die Fähigkeit, neuartige Lösungsmöglichkeiten bezüglich komplexer Probleme zu finden, was hilfreich ist, um moralisches Wissen zu erlangen; (8.) Zeit über Probleme nachzudenken (je mehr Zeit zur Verfügung steht, desto wahrscheinlicher ist es, dass mehr Wissen mit 125 https://doi.org/10.5771/9783495820759 .
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Blick auf angemessene Lösungen von Problemen zur Verfügung steht); und (9.) die Urteile moralischer Experten sind durchaus fehlbar. Béla Szabados (1978) hat mit Recht darauf hingewiesen, dass Singer (was ebenfalls auf McConnell zutrifft) lediglich ein kognitives Modell im Blick hat, während die praktischen Fähigkeiten – wie der tugendhafte Charakter oder Fragen des guten Lebens für den moralischen Experten etc. – mit Blick auf die moralische Urteilsfindung einfachhin ausgeblendet bleiben. Für Szabados basieren die Entscheidungen des moralischen Experten nicht nur auf der kognitiven Seite, sondern beinhalten eine breite und vielfältige Auswahl an zusätzlichen Aspekten wie z. B. ein gutes moralisches Leben zu leben, Respekt vor Personen zu haben, das moralisch Gute zu lieben, moralische Imagination und eine tiefe Einsicht in die Grundbedürfnisse des Menschen zu haben (1978: 119–122, 129). Wir stimmen mit Szabados durchaus überein, dass der genuine moralische Experte nicht nur ein technischer Experte der Moral ist, sondern darüber hinaus noch über die geeigneten praktischen Fähigkeiten verfügen muss. Dennoch bleibt zu konstatieren, dass die Richtigkeit des moralischen Urteils davon unbenommen bleibt; es macht mit Blick auf die Richtigkeit des Urteils keinen Unterschied, ob die Person ein tugendhafter moralischer Experte oder ein tugendloser bloß technischer Experte der Moral ist. Es sei denn, man nimmt zusätzlich an, dass die praktischen Fähigkeiten dem moralischen Experten weitere ganz wesentliche Aspekte vermitteln, aufgrund dessen die Person in der Lage ist, bessere – d. h. richtigere – Entscheidungen zu treffen.
5.3. Ethische Methode vs. Ethische Theorien 5.3.1. Zwischen Universalismus und Partikularismus Wir haben dafür argumentiert, dass die Komplexität des moralischen Lebens – das moralische Universum – zu anspruchsvoll and herausfordernd ist, um alle moralischen Probleme und relevanten Aspekte eines Falles vermittels einer ethischen Theorie zu lösen. Anstelle der ethischen Theorien treten die moralischen Experten. Sie sind es, die die ethische Methode zur Lösung der Probleme der Moral am besten gebrauchen. Man könnte auch sagen, dass der moralische Experte die fleischgewordene ethische Methode ist. 126 https://doi.org/10.5771/9783495820759 .
Ethische Methode vs. Ethische Theorien
Die Vorstellung, dass man lediglich eine ethische Theorie auf Probleme anzuwenden habe, um diese lösen zu können, hat bereits Arthur Caplan (1992) mit Recht deutlich zurückgewiesen. Wir stimmen mit Caplan überein, wenn er Folgendes konstatiert: »Indeed, few, if any, philosophers who do applied ethics attempt to locate a single theory and apply it in the mode prescribed by the older, positivistic conception of theory. Rather, application often consists in drawing upon complementary moral theories or individual concepts to achieve clarification of points […] yet expertise in both science and ethics appears to consist, in part, of knowing not only what theory or theories are defensible, or which moral traditions or paradigms are most defensible, but in how to pick and choose among theories and traditions to provide appropriate answers to specific problems or problematics […] The use of exemplary cases and analogical reasoning from clear-cut cases also seem to be important features of the logic of moral reasoning.« (Caplan 1992: 34–35)
Es gibt keine eine universelle Handlungsregel (d. h. Moralprinzip), die man nur auf die moralischen Fälle anzuwenden bräuchte. Praktische Fälle sind stets kontextsensitiv und bis zu einem gewissen Grad unbestimmt. Aufgrund dessen ist es schon aus prinzipiellen Gründen unmöglich, dass ein universelles und abstraktes Moralprinzip alle wesentlichen Details eines Falles abdecken kann. Moralische Prinzipien und Regeln sind natürlich nicht grundsätzlich ungeeignet, um moralische Probleme lösen zu helfen, doch sie werden genau dann zu einem ungeeigneten Werkzeug, wenn man glaubt, alles vermittels jener lösen zu können. Moralische Prinzipien und Regeln sind nur ein Werkzeug unter vielen, um moralische Probleme zu lösen. Das Werkzeug der Werkzeuge ist und bleibt die praktisch kluge Person, der phronimos (bzw. der moralische Experte). So ist es auch angemessen, wenn Aristoteles im II. Buch der Nikomachischen Ethik Folgendes zu Bedenken gibt: »Doch dies sei im Voraus festgestellt, dass jede Erklärung im Bereich des Praktischen im Umriss und nicht mit Exaktheit zu geben ist. So haben wir ja auch zu Anfang gesagt, das die verlangten Erklärungen sich nach dem Gegenstand richten müssen. Was mit dem Handeln zu tun hat und förderlich ist (sympheron), besitzt keine Stabilität, ebenso wenig wie die Dinge, die mit der Gesundheit zusammenhängen. Wenn aber derart die Erklärung des Allgemeinen (katholou) ist, dann ist die Erklärung der Einzelfälle (kath’ hekasta) noch weniger genau. Sie fällt ja weder unter ein Herstellungswissen (technê) noch unter eine Vorschrift, vielmehr müssen die Handelnden selbst jeweils das im Hinblick auf die Situation (kairos) Angemessene er-
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Der Moralische Experte
wägen, wie es sich auch bei der Medizin und der Navigation verhält.« (Aristoteles EN II, 2 1104a3–10)
5.3.2. Ethik als Methode – Moralisch relevante Aspekte Moralische Experten zeichnen sich dadurch aus, dass sie sowohl das diskursive Denken (Abwägen von Gründen) beherrschen, als auch Meister im intuitiven Erfassen von moralischen Urteilen sind (vgl. Kapitel 4.). Sie gehören keiner Schulrichtung an, da sie für alle Aspekte der Moral offen sein müssen. Die ethische Methode umfasst alles. Dies nennen wir die Allumfassenheit des moralischen Denkens. Vor diesem Hintergrund kann man drei wichtige Bereiche voneinander unterscheiden, die für die moralische Urteilsfindung mit Blick auf die ethische Methode wesentlich sind: (1.) der moralische Experte (bzw. die Person, die moralisch urteilt), (2.) das moralische Problem und (3.) das moralische Werkzeug. Es folgt eine kurze Beschreibung der drei Bereiche: (1.) Der moralische Experte Obgleich wir bereits an einigen Stellen etwas über die wesentlichen Eigenschaften des moralischen Experten ausgesagt haben, sollen hier nochmals einige wenige Aspekte genannt werden. Grundsätzlich empfiehlt es sich, zwischen (a.) internen und (b.) externen Eigenschaften bei moralischen Experten (oder von Moralphilosophen) zu unterscheiden. Die internen Eigenschaften betreffen den tugendhaften Charakter sowie die moralischen Gefühle und Motive der Person. Die externen Eigenschaften beinhalten (unter anderem) die substantielle moralische Erfahrung, die spezialisierte Ausbildung und das besondere Wissen. Dies sind die notwendigen (jedoch nicht hinreichenden) Grundvoraussetzungen, die ein moralischer Experte haben muss. (2.) Das moralische Problem Bei der angemessenen Beschreibung des moralischen Problems müssen wir zwischen zwei grundlegenden Aspekten unterscheiden: (a.) allgemeine und (b.) besondere Aspekte. Die allgemeinen Aspekte sind die besondere Tradition, Kultur und Religion (und dergleichen), in der das moralische Problem diskutiert und verortet wird. 57 Die be57
Dies ist insbesondere für die moralische Urteilsfindung hinsichtlich der unter-
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sonderen Aspekte umfassen sämtliche für den Fall relevanten Informationen: Die spezifischen moralisch relevanten Umstände sowie die empirischen Fakten des Problems (und dergleichen). Beide Aspekte sollen eine möglichst genaue, klare und detailreiche Beschreibung des Falls gewährleisten. Die allgemeinen und besonderen Aspekte dienen insgesamt dazu, möglichst alle moralisch relevanten Informationen mit Blick auf das vorliegende Problem zu sammeln und entsprechend zu klassifizieren. Diese Vorgehensweise ist durchaus mit der kasuistischen Methode vergleichbar, die üblicherweise durch drei wesentliche Momente gekennzeichnet ist: Morphologie, Taxonomie und Kinetik. Bei der Morphologie wird zunächst die Grundstruktur und die Grundprobleme eines spezifischen Falles erfasst; sodann wird dieser im Rahmen der Taxonomie mit Blick auf verwandte Fälle eingeordnet; und im Anschluss daran werden bei der sogenannten Kinetik die besonderen Umstände des Falles bewertet (vgl. dazu auch den sogenannten »judgment approach« von Brody 1988: 77). Dies sind alles nützliche und moralisch relevante Schritte. (3.) Das moralische Werkzeug Das moralische Werkzeug umfasst das Gesamt des moralischen Instrumentariums: sowohl die unterschiedlichen ethischen Theorien und Ansätze, ihre moralischen Prinzipien und Regeln, spezifische Argumente und Einwände, als auch die unterschiedlichen methodischen Zugänge wie z. B. deduktives und induktives Schließen, die Methoden der Spezifizierung und Abwägung sowie das Auffinden von Analogien und paradigmatischen Fällen (und dergleichen mehr). Das Wissen und die Anwendungskompetenz darüber ist für die erfolgreiche Anwendung einer Ethik als Methode relevant. Der Unterschied zur herkömmlichen Methode, jeweils nur eine ethische Theorie zu verwenden, ist groß, vor allem wenn es darum geht, dass Gesamt des Moralischen abdecken zu wollen. Häufig wird jeweils nur ein zentraler Aspekt – Pflicht (Kant), Folgen (Mill), Tugenden (Aristoteles), oder einige moralische Regeln (Gert) etc. – in den Mittelpunkt gestellt, vermittels dessen dann alle moralischen Probleme gelöst werden sollen. Diese Strategie ist aufgrund der Komschiedlichen Phänomenologie moralischer Urteile wichtig (vgl. 3.4. und Tabelle 1). Die Doppelnatur moralischer Urteile fußt wesentlich auf der normativen Relevanz von Tradition, Kultur und Religion.
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plexität der Moral nur wenig überzeugend, da oftmals aus systemimmanenten Gründen theoriefremde (aber dennoch moralisch relevante) Aspekte gar nicht erst in den Blick geraten oder aber deren Bedeutung für die Lösung eines Problems herabgewürdigt wird. Alle drei Teile müssen mit Blick auf das moralische Räsonieren zusammenkommen, um eine erfolgreiche Anwendung überhaupt gewährleisten zu können. Dies ist eine große Aufgabe. Die Ethik als Methode ist damit das Analogon zum moralischen Experten und der moralische Experte ist die fleischgewordene ethische Methode.
5.4. Einwände Es ist unwahrscheinlich, dass die obigen Ausführungen von allen Moralphilosophen geteilt werden, da sich die meisten (immer noch) dem Diktat einer einzigen ethischen Theorie verpflichtet sehen. Auf Gedeih und Verderb folgen sie ethischen Prinzipien und haben verlernt, selber zu denken. Darin wurden sie sozialisiert. Unsere Kritiker könnten zumindest vier gängige Einwände vorbringen, die – zumindest auf den ersten Blick – nicht ohne weiteres von der Hand zu weisen sind. Auf den zweiten Blick bleibt jedoch zu konstatieren, dass die vier Einwände mit guten Gründen entkräftet werden können. Die vier Einwände sind wie folgt: 1. 2. 3. 4.
Gibt es moralische Expertise? Gibt es moralische Experten? Ist die ethische Methode beliebig? Unterminieren moralische Experten die Autonomie anderer?
5.4.1. Gibt es moralische Expertise? Der Einwand, ob es so etwas wie moralische Expertise überhaupt gibt, zielt darauf ab, das Fundament der Moral an sich zu unterminieren. Sollte es keine Wahrheiten im Bereich der Ethik geben, so die Kritiker, dann wäre es grundsätzlich unangemessen oder verfehlt, von moralischer Expertise zu sprechen (vgl. Ayer). Expertise setzt voraus, dass es so etwas wie richtig oder falsch gibt, so wie es beispielsweise im Kontext der Naturwissenschaften angenommen wird. Wenn es 130 https://doi.org/10.5771/9783495820759 .
Einwände
also keine Wahrheiten in der Ethik gibt, dann sollte man die Rede von moralischer Expertise aufgeben. Was kann man darauf erwidern? Erstens: Die traditionelle Gegenüberstellung zwischen den sogenannten starken empirischen Naturwissenschaften einerseits (in denen es Wahrheit und Falschheit gibt) und den eher auf schwachen Beinen stehenden Geisteswissenschaften andererseits (in denen es keine vergleichbare Wahrheit und Falschheit gibt) ist ein Mythos der Überheblichen. Dieser Mythos ist vor dem Hintergrund des metaethischen Pluralismus endgültig entmystifiziert worden (vgl. 3. Kapitel). Es gibt moralische Wahrheiten, die unhintergehbar und gewiss sind, und unabhängig von Menschen als wahr oder falsch gelten können (vgl. auch Gordon 2007). Zum Beispiel: Vergewaltigung, Mord aus niederen Beweggründen und das Ausdrücken von Zigaretten auf Hannas Körper sind moralisch falsch (und werden stets moralisch falsch bleiben). Wenn jemand ernsthaft darüber diskutieren wollte, ob Vergewaltigung moralisch gut oder schlecht ist, oder ob das Ausdrücken von Zigaretten auf Hannas Körper gerechtfertigt sei, dann exkludiert sich diese Person damit als ernsthafter Gesprächspartner von der moralischen Gemeinschaft selbst. Zweitens: Neben der Annahme, dass es so etwas wie moralische Tatsachen gibt, die unabhängig vom Menschen existieren, ist es ebenso plausibel anzunehmen, dass der Großteil der moralischen Fälle im Rekurs auf moralisches Räsonieren zurückgeht und somit auf der Grundlage eines steten Austauschs von Gründen basiert. Das Spiel des Abwägens von Gründen in der Ethik ist jedoch nicht beliebig oder willkürlich, sondern immer vor dem Hintergrund des stärksten Arguments zu sehen. Wir Menschen stehen erst am Anfang unserer moralischen Reise, wie schon David Parfit betont hat. Die Tiefen und Untiefen des Moralischen offenbaren sich uns nur teilweise und eruptiv. Vieles im Bereich der Moral hat sich erst über viele Jahrhunderte hinweg gezeigt und wurde dann moralisches Gemeingut (Singer 2011). Es gibt gute, weniger gute und schlechte Argumente sowie Argumente, die zu einer bestimmten Zeit und an einem bestimmten Ort entweder gehört oder aufgrund von besonderen Umständen (Vorurteile etc.) nicht gesehen wurden. Grundsätzlich kann man jedoch von einem moralischen Fortschritt der Menschen ausgehen, auch wenn wir noch lange nicht am Ziel – wenn es denn eines gibt – angekommen sind (Buchanan und Powell 2018). Drittens: Selbst wenn unsere Kritiker mit der Ansicht recht haben, dass es kein wahres Fundament der Moral gibt (d. h. es keine von 131 https://doi.org/10.5771/9783495820759 .
Der Moralische Experte
Menschen unabhängigen moralischen Wahrheiten gibt), ist die Rede von moralischer Expertise mit Blick auf anti-realistische Positionen dennoch sinnvoll. Warum ist dies der Fall? Das hängt mit der Existenz und Funktionsweise von normativen Gründen zusammen. So könnte man argumentieren, dass der normative Diskurs an sich als Fundament der Moral dient. Im Rekurs auf dieses Fundament könnte sich dann wiederum moralische Expertise entfalten. Gewiss muss man die beiden Fundamente der Moral ontologisch gesehen voneinander unterscheiden, doch grundsätzlich erscheint es möglich, die Idee moralischer Expertise in beiden Varianten zu vertreten. Mit anderen Worten: Sowohl in realistischen als auch anti-realistischen Positionen bezüglich eines Fundaments der Moral ist es durchaus plausibel, den Begriff der moralischen Expertise zu verwenden. Der Einwand der Kritiker kann somit nicht überzeugen.
5.4.2. Gibt es moralische Experten? Mit Blick auf den ersten Einwand haben wir bereits konstatiert, dass es moralische Expertise gibt. Somit stehen nur noch zwei von vier Varianten offen, die wir weiter oben ausgeführt haben (vgl. 5.2.3.): 1. 2.
Moralische Expertise existiert & moralische Experten existieren Moralische Expertise existiert & es gibt keine moralischen Experten
Der Einwand besagt, dass wir die Komplexität der Moral nicht angemessen vermittels einer ethischen Methode fassen können, da es schlechthin keine moralischen Experten gibt, die diese Methode anwenden könnten. Mit anderen Worten: Auch wenn es moralische Expertise gibt, so das Argument, gibt es einfachhin keine Personen, die den hohen Ansprüchen, die an einen moralischen Experten gestellt werden, gerecht werden könnten. Daher sollte man wieder zum traditionellen Paradigma zurückkehren und die klassischen ethischen Theorien verwenden, die dann gegebenenfalls wieder revidiert werden können, wenn neue komplexe Probleme auftauchen, die man mit den althergebrachten moralischen Prinzipien und Regeln nicht lösen kann. Früher hatten wir dafür argumentiert, dass Moralphilosophen als moralische Experten anzusehen sind (Gordon 2014). Dies er132 https://doi.org/10.5771/9783495820759 .
Einwände
scheint vor dem Hintergrund weiterer Überlegungen nicht mehr haltbar zu sein. Bis jetzt sind keine wirklichen moralischen Experten, die den höchsten Ansprüchen gerecht werden, auszumachen, gleichwohl das Vorhandensein jener Personen aus prinzipiellen Gründen nicht vollends ausgeschlossen werden kann (vgl. Aristoteles). Wenn es also keine echten moralischen Experten gibt, wie können wir dann die Ethik als Methode erfolgreich umsetzen? Auch wenn man davon ausgehen kann, dass die moralischen Experten diejenigen sind, die sich gewiss am besten für das Lösen moralischer Probleme eignen, erscheint es ebenso überzeugend zu sein, dass die Ethik als Methode selbst den Maßstab vorgeben kann. 58 Damit könnte man sich an das praktische Ideal annähern und eine solide Bearbeitung komplexer moralischer Fälle gewährleisten, ohne mit dem (zu hohen) Anspruch der moralischen Gewissheit in Konflikt zu geraten. Die Ethik als Methode ist somit in der Lage, das Paradigma des moralischen Experten abzulösen, ohne seine Existenz jedoch insgesamt in Frage stellen zu müssen. Anders formuliert: Die Ethik als Methode ist das real gewordene Format des moralischen Experten.
5.4.3. Ist die ethische Methode beliebig? Anders als einige der traditionellen ethischen Theorien, so der Einwand, kann die Ethik als Methode nicht auf ein klares Anwendungskonzept zurückgreifen, das es ihr erlaubt, eindeutige moralische Urteile zu fällen. Mit anderen Worten: Die ethische Methode ist willkürlich und damit anfällig für Beliebigkeit. Der Einwand ist überzogen. Grundsätzlich erscheint die suggerierte Stärke eines einzigen Masterprinzips, mit dessen Hilfe alle moralischen Probleme der Menschen (Tiere, Natur und künstlichen LeMit Blick auf den Klugheitsbegriff in der Nikomachischen Ethik (VI.) wählt Aristoteles genau die entgegengesetzte Methode: Um zu wissen, was klug ist, soll man die kluge Person beobachten (bzw. befragen). Sein methodisches Problem besteht jedoch darin, dass er an einigen Stellen einräumt, dass es vermutlich nicht viele oder keine (wirklichen) phronimoi gibt. Wenn es allerdings keine praktisch klugen Personen gibt, dann können wir auch nicht beobachten (bzw. wissen), was klug ist. Unser Ansatz zeigt zunächst auf, worin die Ethik als Methode besteht und geht dann dazu über, deutlich zu machen, dass die moralischen Experten am besten dazu geeignet sind, vermittels der ethischen Methode komplexe Probleme der Moral zu lösen. Allerdings kann die Ethik als Methode, so die Behauptung, auch für sich alleine stehen (jedenfalls annäherungsweise), da sie das Analogon zum moralischen Experten ist.
58
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Der Moralische Experte
bensformen) gelöst werden sollen, trügerisch. Das Aufkommen der praxisorientierten Ethik und die damit einhergehende Revision traditioneller ethischer Theorien ist ein deutliches Zeichen dafür (vgl. 1.4.). Die Stärke liegt eher, wie schon Aristoteles gesehen hat, in der methodischen Offenheit (vgl. den Aristotelischen Verweis auf die lesbische Bauart im Kontext der praktischen Klugheit). Es gibt keine One-Size-Fits-All-Regel in der Moral, auch wenn es sicherlich die einfachste Lösung wäre. Das beste Mittel gegen Willkür und Beliebigkeit ist der moralische Experte (bzw. sein Weg der ethischen Methode). Was andere Personen vielleicht als willkürlich und beliebig empfinden (denn sie wissen es nicht besser), erkennt die praktisch kluge Person klar und deutlich. Nicht nur der philosophische Laie, sondern auch der Moralphilosoph muss die Offenheit aushalten können. Der Offenheit begegnet man aber am besten damit, dass man nicht müde wird, Gründe auszutauschen, weiter zu fragen und stets unvoreingenommen nach der besten Lösung zu suchen, ohne Gefahr zu laufen sich der Beliebigkeit auszuliefern.
5.4.4. Unterminieren moralische Experten die Autonomie anderer? Kritiker könnten einräumen, dass, selbst wenn es moralische Expertise und Experten gibt, es dennoch aus prinzipiellen Gründen unzulässig wäre, auf den Rat von moralischen Experten zu hören, da dadurch die individuelle Autonomie unterminiert würde. Das zugrundeliegende Argument hat folgende Struktur: 1.
2. 3.
Moralische Entscheidungen haben nur dann einen echten moralischen Wert, wenn die Personen ihre Entscheidungen immer selbst durchdenken und eigenständig treffen. Paternalismus unterminiert die eigene moralische Autonomie. Ergo: Man sollte niemals auf moralische Experten hören, um zu entscheiden, was man selbst tun soll.
Die Gültigkeit des obigen Arguments kann mit guten Gründen in Frage gestellt werden: (1.) Niemand behauptet, dass alle moralischen Entscheidungen einer Person von moralischen Experten getroffen werden sollen. (2.) Im Gegenteil, Autonomie erfordert, dass die eigenen moralischen Entscheidungen wohlinformiert sein müssen, um ein angemessenes moralisches Räsonieren überhaupt erst gewähr134 https://doi.org/10.5771/9783495820759 .
Einwände
leisten zu können (daher sind moralische Ratschläge stets willkommen). (3.) Moralische Experten sollten als Personen angesehen werden, die den individuellen Entscheidungsprozess mit Blick auf moralische Angelegenheiten verbessern. (4.) Moralische Ratschläge unterminieren nicht die eigene moralische Autonomie, sondern – im Gegensatz – erweitern sie stark. Die genannten Gründe sind hinreichend, um den Einwand zu entkräften. Es sollte nunmehr klar sein, dass die ethische Methode insgesamt ein solides Instrumentarium darstellt, mit dessen Hilfe das moralische Universum erforscht und durchdrungen werden kann. Wir behaupten nicht, dass jedwede Person in der Lage ist, vor dem Hintergrund der Komplexität der Moral vermittels der Ethik als Methode zu richtigen moralischen Lösungen zu kommen. Gewissheit haben wir nur dann, wenn der moralische Experte das Ruder übernimmt. Dennoch können wir uns mit dem Gedanken trösten, dass gute Moralphilosophen – die über eine langjährige Erfahrung und ein ausgezeichnetes Training im moralischen Denken verfügen, im hohen Maße kompetent sind, eine herausragende Ausbildung und moralische Erziehung genossen haben sowie über einen gefestigten moralischen Charakter verfügen –, eine sehr gute Alternative sind, um die ethische Methode erfolgreich anzuwenden.
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6. Schlussbetrachtung
Die Ära der traditionellen ethischen Theorien ist vorbei. Das moralische Universum ist zu komplex, um es mit nur einer ethischen Theorie zu entschlüsseln. Wir haben in groben Zügen (unter anderem im Rekurs auf Brody, Rand, Aristoteles und Gadamer) einen vielversprechenden Weg aufgezeigt, wie es möglich ist, genau dies zu tun. Die von uns bevorzugte ethische Methode basiert auf zwei grundlegenden Ideen: Dem metaethischen Pluralismus einerseits und dem ethischen Pluralismus andererseits. Darüber hinaus haben wir dafür argumentiert, dass die ethische Methode das Analogon zum moralischen Experten bzw. der praktisch klugen Person darstellt. Das, was die Moral uns vorschreibt, ist in den Tiefen des Seins selbst verankert und kann nur von rationalen Personen 59 durch das diskursive Denken sowie im Rahmen der Strukturwahrnehmung entschlüsselt und ans Licht gebracht werden. Das Werkzeug der Werkzeuge dafür ist der moralische Experte und sein Weg ist die Ethik als Methode.
Dies heisst jedoch nicht, dass die moralische Gemeinschaft nur aus rationalen Personen besteht. Im Gegenteil, die Rationalität ist lediglich der Schlüssel dazu, herauszufinden, wer Mitglied der moralischen Gemeinschaft ist und welche moralischen Pflichten und Rechte wir gegenüber unseren Mitmenschen, Tieren, der Umwelt und anderen künstlichen nicht-menschlichen Lebensformen haben. Erst im Denken werden wir uns den Ansprüchen der Moral gewahr.
59
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