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German Pages 358 [353] Year 2022
Inga Reimers Essen mit und als Methode
Edition Kulturwissenschaft | Band 261
Inga Reimers, geb. 1982, ist Ethnographin und wissenschaftliche Mitarbeiterin mit dem Schwerpunkt Stadtanthropologie und -ethnographie an der HafenCity Universität Hamburg. Sie war Assoziierte im künstlerisch-wissenschaftlichen Graduiertenkolleg »Versammlung und Teilhabe. Urbane Öffentlichkeiten und Performative Künste« sowie Pro Exzellenzia-Stipendiatin.
Inga Reimers
Essen mit und als Methode Zur Ethnographie außeralltäglicher Mahlzeiten
Dieses Buch ist eine überarbeitete Fassung der Dissertation »Essen mit/als Methode. Experimentelle ethnographische Perspektiven auf ein Alltagsphänomen«, die dem Promotionsausschuss der HafenCity Universität Hamburg im Januar 2021 vorgelegt wurde. Erstgutachterin war Prof. Dr. Alexa Färber, Zweitgutachterin war Prof. Dr. Kathrin Wildner.
Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http:// dnb.d-nb.de abrufbar.
© 2022 transcript Verlag, Bielefeld Alle Rechte vorbehalten. Die Verwertung der Texte und Bilder ist ohne Zustimmung des Verlages urheberrechtswidrig und strafbar. Das gilt auch für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und für die Verarbeitung mit elektronischen Systemen. Umschlaggestaltung: Maria Arndt, Bielefeld Umschlagabbildung: Jan Reimers Druck: Majuskel Medienproduktion GmbH, Wetzlar Print-ISBN 978-3-8376-6086-9 PDF-ISBN 978-3-8394-6086-3 https://doi.org/10.14361/9783839460863 Buchreihen-ISSN: 2702-8968 Buchreihen-eISSN: 2702-8976 Gedruckt auf alterungsbeständigem Papier mit chlorfrei gebleichtem Zellstoff. Besuchen Sie uns im Internet: https://www.transcript-verlag.de Unsere aktuelle Vorschau finden Sie unter www.transcript-verlag.de/vorschau-download
Inhaltsverzeichnis
Dank | 9
TEIL I 1
Aus dem Entwicklungsprozess von Forschungsfeld und Forschungsfrage | 15
Eine Einleitung | 15 2
In und mit Ess-Settings ethnographisch forschen | 21
Methoden, Felder und Rollen | 21 2.1 Forschen zwischen Kunst und Ethnographie: Methoden | 25 2.2 Ein Abend, ein Feld? Feldkonstruktion und Material | 47 2.3 Sinnlich-informierte, ethnographische Nahrungsforschung: eine Suche | 51 3
Theoretisch-konzepturelle Grundlagen | 57
Paradigmen, Begriffe, Diskurse | 57 3.1 Aktuelle Konzepte der Nahrungsforschung | 58 3.2 Konzepte sinnlich-leiblicher Wahrnehmung | 68 3.3 Sinnlich-leibliche Perspektiven auf besondere Mahlzeiten: Forschungslücke | 88
KATALOG: ESS-SETTINGS Über den Tellerrand (ÜdT) | 94 Küchenmonument: Diskursives Dinner | 100 Olympia Gastmahl | 106 Hallo Festspiele | 112 Restaurant: Universität der Nachbarschaften | 119 Soli Essen I | 124 Soli Essen II | 128
Taktsinn I | 132 Taktsinn II | 137 Taktsinn III | 142 Taktsinn IV | 148
TEIL II Ess-Settings | 155 Analyseperspektiven auf außeralltägliche Mahlzeiten mit Thema | 155
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5 Jede/r muss ja essen | 159 Narrative Figuration von Essen und Kochen | 159 5.1 Narrative Figuren | 162 5.2 Anordnen und Verbinden: Der Esstisch | 163 5.3 Eröffnen von Möglichkeitsräumen: Die Küche | 167 5.4 Kochen als natürliche Kulturhandlung: Das Feuer | 169 5.5 Zurück zu den Wurzeln: Der Exzess | 174 5.6 Teilen und Verbinden: Das Familienmahl | 176 5.7 Wissen über Essen und Kochen erzählen | 179 Zwischen Wahrnehmung und Interaktion | 181 Essen und Kochen als sinnlich-leibliche Erfahrungsund Erkenntnispraktiken | 181 6.1 Essen und Kochen – Leib und Soziales | 184 6.2 Medialisiertes Essen – Essen als Medium | 191 6.3 Früher waren die Pfirsiche aromatischer: Essen und Erinnerung | 196 6.4 Leib, Performanz und Raum in den Atmosphären der Ess-Settings | 206 6.5 Zwischen Anspannung und Entspannung: Forschung als leibliche Praxis | 222
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Was über den Hunger hinausgeht | 233 Gesellschaftliche Dimensionen kollektiven Essens und Kochens | 233 7.1 Zusammen am Tisch: Soziale Ordnungen beim Essen | 237 7.2 Tischregeln: Gastlichkeit als Rahmen kulinarischer Versammlungen | 244 7
7.3 Herzlich Willkommen: Essen und Migration | 253 7.4 (Selbst-)Inszenierungen über Essen und Kochen: Elemente eines singularistischen Lebensstils | 267 7.5 Ess-Settings als liminale Situationen: Räumliche Anordnungen und zeitliche Begrenzungen | 281 7.6 Pause oder Arbeit? Essen im Spannungsfeld von Rekreation und Produktion | 294 8
8.1 8.2 8.3 8.4 8.5 8.6
Synthese | 301 Das Ess-Setting: Eine Formatkritik | 301 Methodologisches Fazit | 309 Verbindungen | 322 Transformation | 324 Polaritäten und das Dazwischen | 326 Ausblick | 328
Literatur- und Quellenverzeichnis | 331
Literaturverzeichnis | 331 Quellenverzeichnis | 349 Abbildungsnachweise | 355
Dank
Viele Köch*innen verderben den Brei? Dieses erste unter zahlreichen möglichen Sprichwörtern, um eine Arbeit zum Thema Essen einzuleiten, soll in dieser Arbeit auch das letzte gewesen sein. Nach der Lektüre zahlreicher wissenschaftlicher Publikationen wie auch populärer Texte zum Thema Essen war ich am Ende dieser Forschung der Wortspiele um das Essen und Kochen buchstäblich satt – was hier auch dazu führte, zu hinterfragen, wie über Essen und Kochen gesprochen wird. Dazu jedoch später mehr. An dieser Stelle möchte ich dennoch das oben genannte Sprichwort bemühen, um es am Beispiel der vorliegenden Arbeit zu hinterfragen und Forschung als kollektiven Prozess hervorzuheben. So haben unzählige Personen am Gelingen dieses ‚Forschungsgerichts‘ mitgewirkt, denen ich hiermit von ganzem Herzen danken möchte. Ein besonderer Dank gilt dabei … Alexa Färber, die mich und diese Arbeit von Beginn an kontinuierlich kritisch begleitet und mit Wort und Tat unterstützt hat und mich in ihrer Begeisterung für kulturwissenschaftliches Forschen stets motiviert und geprägt hat. … Kathrin Wildner, für ihre Bereitschaft, auch in herausfordernden Zeiten diese Arbeit zu betreuen und das Teilen einer besonderen Leidenschaft für ethnographische Methoden. … Gesa Ziemer, die mich zu dieser Arbeit ermutigt, mir Zugänge eröffnet und insbesondere in der finalen Schreibphase einen konzentrierten Rahmen ermöglicht hat. … den Teilnehmenden des von Alexa Färber an der HafenCity Universität Hamburg ins Leben gerufenen Doktorandenkolloquiums,
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die mit geduldigem Lesen und konstruktiver Kritik das Werden dieser Arbeit begleitet und vorangebracht haben. … den Leiterinnen des Graduiertenkollegs „Versammlung und Teilhabe. Urbane Öffentlichkeiten und Performative Künste“ Gesa Ziemer, Sibylle Peters, Kerstin Evert und Regula Valérie Burri, die durch das Schaffen dieses Forschungskontexts meine Arbeit und mein Verständnis von Forschung maßgeblich geprägt und die Forschung finanziell ermöglicht haben. … den Stipendiat*innen des besagten Graduiertenkollegs für herausfordernde wie auch freundschaftliche Diskussionen, die meinen Forschungshorizont enorm erweitert haben. … dem Team und Netzwerk des Pro Exzellenzia Kompetenzzentrums, das diese Forschung mit einem Stipendium in einer schwierigen Phase finanziell unterstützt und mich als Wissenschaftlerin enorm weiterqualifiziert hat. … Christina Galić für das gewissenhafte Lektorat dieser Arbeit. … den Gruppenmitgliedern der Bremer Supervisionsgruppe seit 2015 unter der Leitung von Jochen Bonz für das Einlassen auf das von mir eingebrachte Forschungsmaterial und die intensive Arbeit in der Gruppe insgesamt. … allen klugen, humorvollen und kooperativen Kolleg*innen und Freund*innen, die ihr Wissen zum Thema Essen sowie Wahrnehmungsfragen mit mir geteilt, meine Forschung kritisch kommentiert und mir in unterschiedlichen Bürogemeinschaften Beistand geleistet haben. Hier sind Anneli Käsmayr, Anna Symanczyk, Lisa Wiedemann und Zinovia Foka zu nennen, sowie insbesondere Janina Kriszio und Yuca Meubrink, die die vorliegende Arbeit von Beginn an begleitet und mit den gemeinsamen Schreibklausuren (online und offline) und dem Kommentieren verschiedenster Arbeitsstände einen unermesslichen Beitrag dazu geleistet haben, die Motivation für die Fertigstellung dieser Arbeit aufrecht zu erhalten. … allen Veranstalter*innen und Teilnehmenden der hier untersuchten Settings für ihre Bereitschaft, mich an den Veranstaltungen und ihren Gedanken dazu forschend teilhaben zu lassen. Hierbei möchte ich insbesondere die Teilnehmenden der von mir veranstalteten
Dank | 11
Taktsinn-Essen erwähnen, die sich beim Füttern und Gefüttert werden, beim Essen mit den Händen, beim schweigenden Essen oder auch unter schwierigen (akustischen) Rahmenbedingungen mit mir in diese Forschung begeben haben. … meinen Eltern, meinen Geschwistern, meiner (Schwieger-)Familie, meinen besten Freundinnen und vor allem meinem Partner Jens, dafür, dass sie alle mir u. a. mit der Kinderbetreuung, mit logistischer Unterstützung, der Dokumentation der Forschungsdinner und Gesprächen während der Forschung und dem Schreiben dieser Arbeit beigestanden, mich abgelenkt und ermutigt haben und nicht müde geworden sind, zu fragen, was ich in meiner Forschung eigentlich genau tue.
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Aus dem Entwicklungsprozess von Forschungsfeld und Forschungsfrage
EINE EINLEITUNG Wann beginnt eine Forschung? Insbesondere in ethnographischen Arbeiten zu Alltagsphänomenen ist es häufig schwierig, einen Anfangspunkt der Forschung zu benennen. Ist es der Zeitpunkt, an dem das Forschungsvorhaben beantragt wird? Oder startet die Forschung mit dem Entschluss, aus einem persönlichen Interesse eine systematische Forschung zu machen? Retrospektiv betrachtet wurde die vorliegende Forschung mit meinem ersten eigenen Forschungsdinner im Mai 2013 produktiv und öffentlich sichtbar. Die Inspiration für dieses Setting ging jedoch auf eine Veranstaltung zurück, die mich nachhaltig begeistert, aber auch mit Fragen zurückgelassen hatte – und das, obwohl ich nur beobachtend und eher zufällig an einem Teil des Abends teilgenommen habe. Es handelte sich hierbei um eine als Symposium bezeichnete Veranstaltung des Hamburg-Wilhelmsburger Kunstcamps, das jährlich im Rahmen des Musikfestivals MS Dockville stattfindet. Unter dem Titel „Tempokal? Zu Risiken und Nebenwirkungen temporärer Raumnutzungen“ rief das Kunstcamp zu einem Festessen auf und bezog sich dabei auf die spezifischen Regeln einer Mahlzeit: „An einer langen Tafel oder an mehreren Tischen werden drei Gänge gereicht. Das Mahl wird eröffnet durch einen Vortrag, zwischen den Gängen werden kurze Tischreden verschiedener ReferentInnen gehalten. Die ReferentInnen dürfen ihre Tischreden mit Projektionen bebildern. Nach den Tischreden soll an den Tischen das Gehörte reflektiert und diskutiert werden. Vor jedem Gang wechseln die TischrednerInnen und TeilnehmerInnen die Sitzpositionen. Sie sind aufgefordert, sich an den Tischen in immer
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neuen Konstellationen zusammenzufinden. Die TeilnehmerInnen sind eingeladen, auf den Papiertischdecken der Tische Kommentare, Stichpunkte und Fragen zu hinterlassen, die von neuen Tischgästen weiter kommentiert oder bearbeitet werden können. Getränke werden nur an verschiedenen Bars gereicht. Die TeilnehmerInnen sind aufgefordert, sich diese Getränke selbst zu holen. An den Bars laden RespondentInnen sie ein, zum Gehörten Stellung zu nehmen, Fragen zu stellen, mit anderen BarbesucherInnen zu diskutieren. Zum Digestiv werden die RespondentInnen die an den Bars gehörten Kommentare und Fragen vortragen. Die Tischreden und Eröffnungsvorträge werden von WissenschaftlerInnen oder ExpertInnen verschiedener Berufsfelder zu den beiden Themen bzw. relevanten Bezugsfeldern der Symposien gehalten. Die RespondentInnen sollen weniger über ein relevantes Fachwissen verfügen, als vielmehr kommunikationsstiftend wirken. Die am KUNSTCAMP beteiligten KünstlerInnen sind aufgefordert, an den Symposien teilzunehmen.Das Festmahl greift die kommunikationsstiftende Wirkung des gemeinsamen Speisens auf und vereint darüber hinaus Moderationsmethoden des World-Café, Pecha Kucha und Speed Datings in seinem Reglement. Durch die kurzen Tischreden der ExpertInnen werden akzentuierte Vorträge provoziert und langatmige Monologe vermieden. Die TeilnehmerInnen sollen sich durch die ritualisierte Form des Festmahls in einem performativen Rahmen bewegen können, der sie zu Austausch anregt, aber nicht zwingt. Durch die Gespräche an den Bars mit den RespondentInnen und durch die Kommentierung auf den Tischdecken werden die Rückmeldungen der TeilnehmerInnen der Festgemeinschaft zugänglich gemacht und eine Fokussierung auf die ExpertInnen-Inputs vermieden.“ (Ohne Autor*in 2011 Symposien Dockville).
Bei mir stellte sich weniger beim Besuch des Symposiums, sondern vor allem beim Lesen dieses Programmtextes im Rahmen meiner Vorbereitungen für das Forschungsdinner Taktsinn I ein Gefühl der Überforderung ein: Die am Setting Beteiligten werden mehrfach zu bestimmten Handlungen aufgefordert, dürfen nicht an festen Plätzen sitzenbleiben und müssen sich ihre Getränke selbst holen. Diese verschiedenen angestrebten Aufgaben und Abläufe sowie auch die Form, in der diese vorgetragen wurden, ließen bei mir nicht das Bild eines „kommunikationsstiftenden“, feierlichen und anregenden Festmahls entstehen, sondern erzeugten vielmehr den Eindruck, dass in dieser Situation zu viel gewollt und das Setting überladen wurde. Ausgehend von dieser Irritation und inspiriert durch weitere Einladungsdokumente wie auch Besuche ähnlicher Settings entstand ein Bündel an Forschungsfragen, die diese Forschung anleiteten: Welchen Mehrwert verbinden Gastgeber*innen dieser und ähnlicher Veranstaltungen mit der Verbindung von Essen und einem
Eine Einleitung | 17
spezifischen Thema? Welches Potential wird hierbei dem Essen zugeschrieben? Können diese Zuschreibungen in der Praxis verwirklicht werden? In welchem gesellschaftlichen und kulturellen Kontext stehen diese Mahlzeiten mit einem Thema und was sagen sie über aktuelle Problemstellungen und Bedürfnisse aus? Aus dieser Beobachtung heraus, dass Essen als Praxis und Mahlzeiten als Situationen und Institutionen für bestimmte Zwecke dienstbar gemacht werden, stellte ich mir zudem hinsichtlich meiner eigenen experimentellen Praxis in den Forschungsdinnern die Frage, inwiefern Essen, Kochen und Mahlzeiten als Forschung betrachtet und nutzbar gemacht werden können. Daher werden die angewendeten Methoden in diesem einleitenden Kapitel nicht nur vorgestellt und reflektiert, sondern Ethnographie als Methode in der Analyse explizit mitverhandelt. Die beschriebene besondere Mahlzeit stellt nur eines unter vielen populären Essensformaten dar, die häufig öffentlichkeitswirksam beworben und inszeniert werden. So fanden sich in den letzten Jahren in lokalen oder überregionalen Tageszeitungen vermehrt Artikel über „Supper Clubs“, „Running Dinners“ oder „Welcome Meals“ (vgl. Bennewitz 2013). Dabei sind diese teils kurios anmutenden Formate nur ein Phänomen rund um das Thema Essen unter vielen, welches in einer breit geführten Debatte eine Rolle spielt. Hinzu kommen verschiedenste Kochsendungen (vgl. Schmelz 2016, Göttsch 2010) oder Nahrungstrends wie Veganismus und die wiederentdeckte Leidenschaft für die Jagd und den eigenen Garten. Darüber hinaus werden Essstörungen und Übergewicht laut Regina Bendix und Michaela Fenske zunehmend als „Kulturstörungen“ debattiert (Bendix/Fenske 2014: 6). Die beiden Autorinnen stellen in aktuellen Debatten rund um das Thema Essen eine Zunahme der Intensität fest und fragen dabei nach den politischen Dimensionen. Die Breite und Fülle der Debatte schlägt sich auch in der Nahrungsforschung nieder – wenn es hier auch nach wie vor blinde Flecken und offene Fragen gibt, die im folgenden Kapitel zu den theoretischkonzeptuellen Grundlagen dieser Arbeit vorgestellt werden. Insgesamt gibt es in der geisteswissenschaftlichen Nahrungsforschung wie auch in der öffentlichen Debatte zwei kontrastierende Argumentationslinien, die zwei Seiten derselben Medaille darstellen. Zum einen haben Kochshows, Kochbücher, neue Restaurantkonzepte bzw. wiederentdeckte Zubereitungsweisen und Nahrungsmittel Konjunktur und beschreiben dabei die Vision und Potentialität, dass die Welt durch veränderten Konsum zu einer besseren Postwachstumswelt werden kann (vgl. Lemke 2018). In diesem Fokus ist Essen häufig auch mit Ideen der Selbstsorge und -optimierung verbunden, bei denen selbstgewählte Nahrungsver-
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▶ Kap. 5 Jede/r muss ja Essen
bote u.a. religiöse Nahrungsvorschriften ersetzen und dabei beispielsweise im Veganismus systemkritisch operieren (vgl. Bendix/Fenske 2014: 6). Diese Vorstellungen werden zum Beispiel in der Slowfood-Bewegung oder zahlreichen (Urban) Farming- und Gardening-Projekten sichtbar (vgl. Reckwitz 2018, Müller 2011, Lemke 2018). Zum anderen ist beispielsweise in Dorothee Kimmichs und Schamma Schahadats Einführung in die Zeitschrift für Kulturwissenschaften zum Thema Essen die Rede von einer Krise des Essens (Kimmich/Shahadat 2012). Nach Nicole M. Wilk betrifft diese Krise nicht nur Nahrungsmittelskandale und somit die materielle Beschaffenheit des Essens, sondern auch die Wirksamkeit des Essens als Zeichen: „Angesichts veränderten Essverhaltens und sich neu formierender Tischsitten lässt sich Essen nicht mehr als Zeichen deuten, kulturelle (kultursemiotische) Sicherheiten sind verloren gegangen, und Essen verliert seine gemeinschaftsstiftende Kraft. Gefordert wird eine ‚rückseitige Semiotik der Speise‘ (Wilk 2010: 8), die den ‚Wandel der Ernährungsstile‘ berücksichtigt und zur Kenntnis nimmt, dass nicht mehr das, was man am Essen sieht, sondern das, was man nicht sieht, seit den 1980er Jahren immer stärker in den Mittelpunkt rückt: ‚unsichtbare Inhaltsstoffe, mehrfach klassifizierte Fettsäuren, gute und böse Cholesterine, genetisch veränderte Zutaten […] sowie ›Negationseffekte‹, die Geschmacks- und Ernährungsstile heute stärker prägen als die traditionelle Küche der Kultur‘ (Wilk 2010: 15).“ (Ebd.: 7f)
▶ Kap. 6 Zwischen Wahrnehmung und Interaktion
Diese (vermeintliche) Abwendung vom Essen als Zeichen, mittels dessen sich der Zustand einer Gesellschaft und Kultur ablesen lässt, verbinde ich in dieser Arbeit mit einer Hinwendung zu den leiblichsinnlichen Dimensionen von Nahrung und Ernährung, wobei die Frage gestellt wird, was das Essen mit uns und unseren Leib/körpern1 macht und umgekehrt. Nach Jochen Bonz Diagnose einer Krise der symbolischen Ordnung (in der Kulturwissenschaft), die sich durch eine Abwendung von Kultur als Zeichen hin zu einem Paradigma des Spürens auszeichnet, ließe sich diese auch auf alltagskulturelle Zusammenhänge übertragen (Bonz 2014: 234). In diesem Zusammenhang spreche ich nicht von Krisen, sondern vielmehr von gesellschaftlichen Verschiebungen bzw. Ausdifferenzierungen, die sich logischerweise auch im Feld der Ernährung abbilden. So verzeichnete beispielsweise das Essen unterwegs und außer Haus u.a. aufgrund entgrenzter Arbeitszeiten und -praktiken einen 1
Erläuterungen der in diesem Text verwendeten Schreibweise Leib/körper befinden sich zu Beginn des Kapitels 3.2 Konzepte sinnlich-leiblicher Wahrnehmung.
Eine Einleitung | 19
starken Anstieg im letzten Jahrzehnt, gleichzeitig entwickelten sich jedoch gegenläufige Trends, die das bewusste Erlebnis des Essens in den Vordergrund stellen (vgl. Hirschfelder et al. 2015). Der kritische Gastrosoph Daniele Dell’Agli moniert in der allgemeinen Debatte über Essen die fehlende Wahrhaftigkeit und Reflexion im alltäglichen Umgang mit Lebensmitteln und identifiziert in dieser Auseinandersetzung ein Paradox, da die (mediale) Konjunktur des Themas nach wie vor nicht zu einem Umdenken in Richtung eines verantwortungsvollen Konsums geführt habe (Dell’Agli 2009). In welchem Zusammenhang diese Standpunkte und Diskurse mit den hier untersuchten Mahlzeiten stehen, wird in den folgenden Kapiteln geklärt. Im ersten Teil erläutere ich, was es bedeutet, sinnlich- und kunst-informiert, ethnographisch über und mit Essen zu forschen, und gehe dabei sowohl auf die verwendeten Methoden als auch auf die sich daraus ergebenden Konsequenzen für Feldkonstruktion und Forschungsmaterial ein. Daraufhin gehe ich auf die bereits angesprochenen Konzepte der Nahrungsforschung ein und ergänze diese um leibtheoretische Aspekte, um auf dieser Grundlage Arbeitsbegriffe für diese Forschung zu entwickeln. Der zweite Teil der Arbeit befasst sich mit der Analyse des Forschungsmaterials im Hinblick auf das Verbindungs- und Erkenntnispotential der untersuchten kollektiven Mahlzeiten aus drei Perspektiven: Erstens aus der Perspektive der narrativen Figuration von Essen und Kochen, die eine wichtige Rolle dabei spielt, dass Menschen sich überhaupt zu (besonderen) kollektiven Mahlzeiten versammeln und dass dem Essen und Kochen eine derart zentrale Rolle in einer Gesellschaft zugeschrieben wird. Mittels der zweiten Perspektive wird erläutert, welche Rolle das Sinnlich-Leibliche als Praxis der Erfahrung und der Erkenntnis in den untersuchten Mahlzeiten spielt und wie dies überhaupt in der Situation greifbar gemacht werden kann. Dabei hinterfrage ich auch, was es für mich in dieser Arbeit bedeutet hat, Forschung als leibliche Praxis zu begreifen und zu reflektieren. Bei der dritten Perspektive stehen die Handlungsebene der untersuchten Situationen und deren Einbettung in gesellschaftliche Zusammenhänge im Mittelpunkt, wenn die Herstellung von Beziehungen und Verbindungen beispielsweise anhand des Konzepts der Gastgeberschaft analysiert wird. In der darauf folgenden Synthese werden die zentralen Kategorien und Themen noch einmal aufgegriffen, die in allen drei Perspektiven relevant waren, in dieser Struktur aber nicht näher betrachtet werden konnten, und ein methodologisches Fazit gezogen. Neben diesem Überblick sollen nun ein paar kurze Erläuterungen zur Darstellung und den möglichen Lesarten dieser Arbeit gegeben werden. Diese betreffen zum einen den Versuch, die Komplexität des behandelten Themas auch in der Form dieser Arbeit
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wiederzugeben. Dabei war es während des Schreibprozesses stets problematisch für mich, eigentlich untrennbar miteinander verbundene Phänomene und Perspektiven für die Analyse trennen zu müssen. Hinzu kam, dass sich meine Lese- und auch Schreibgewohnheiten in den letzten Jahren verstärkt in Richtung nicht-linearer (digitaler) Textformen mit unterschiedlichen Verweissystemen verschoben haben, die eine weniger dominante Lesart vorgeben. Somit erforderte die Verschriftlichung der Forschung(-sergebnisse) eine Lösung, die auch in einem analogen Text Verweise, Verwicklungen und Überlagerungen in einem Themenbereich darstell- und vor allem auch lesbar zu machen. Aus diesen Überlegungen heraus entstand das in dieser Arbeit in der Seitenspalte verwendete Verweissystem, mittels dessen immer dann, wenn ein angesprochener Aspekt oder ein Thema an einer anderen Stelle in der Arbeit näher ausgeführt wird, auf eben diese Stellen verwiesen wird. Die Lesenden werden dazu eingeladen, selbst zu entscheiden, ob sie dem linearen Textverlauf folgen oder einem Verweis nachgehen wollen. Dies schließt auch die hier behandelten, kursiv gedruckten Fallbeispiele ein, die alle in unterschiedlichen Abstufungen für mehrere Kategorien und Perspektiven relevant waren. Diese Beispiele werden daher im Text selbst nur kurz erwähnt und im Katalog zwischen Teil 1 und Teil 2 näher erläutert. Die hierdurch bedingte, möglicherweise ungewohnte und sperrige Leseerfahrung kann auch als eine Form angesehen werden, die die Erfahrungen der Forscherin im Feld und den Forschungsverlauf nachvollziehbar und transparent machen soll.
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In und mit Ess-Settings ethnographisch forschen
METHODEN, FELDER UND ROLLEN Jede ethnographische Forschung ist von nicht-linearen Suchbewegungen, einem Im-Kreis-Denken und -Laufen und auch von Sackgassen und dem Entdecken neuer Pfade geprägt. Dies ist insbesondere dann der Fall, wenn Forschende Fragestellungen aus ersten Explorationen im Feld heraus entwickeln. Dies war auch in dieser Doktorarbeit der Fall, da die Arbeit zunächst unter einem Thema zugelassen wurde, welches auf den ersten Blick sehr vom hier behandelten Thema abweicht. So galt mein Interesse zu Beginn der Forschung vor allem dem kooperativen Erforschen nicht-visueller Phänomene im Kontext künstlerisch-wissenschaftlicher Forschung. Hierfür traf ich mich mit so genannten Expert*innen des Nicht-Visuellen2, um mit ihnen zusammen nicht-visuelle Wahrnehmungen und Praktiken zu ergründen. Dieser erste Untersuchungspfad mündete durch meine Assoziierung zum künstlerisch-wissenschaftlichen Graduiertenkolleg „Versammlung und Teilhabe. Urbane Öffentlichkeiten und Performative Künste“3 im ersten Taktsinn-Dinner. Die Kontextualisierung der Forschung im Rahmen des Kollegs
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Hierzu zählten der blinde Soziologe Siegfried Saerberg, eine ReikiLehrerin sowie verschiedene thematisch Involvierte und Interessierte aus den Bereichen Kunst und Wissenschaft. Das Graduiertenkolleg „Versammlung und Teilhabe“ war an der HafenCity Universität Hamburg angesiedelt und wurde in Kooperation mit zwei künstlerischen Institutionen (FUNDUS Theater sowie K3– Zentrum für Choreographie) durchgeführt, was zum Startzeitpunkt im Jahr 2012 im deutschen Raum einzigartig war. Im Folgenden wird das Graduiertenkolleg nur mit dem Kurztitel „Versammlung und Teilhabe“ erwähnt. S. a.: https://pab-research.de/assemblies-and-participation/ (letz ter Abruf: 10.01.2021)
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▶ Kap. 3 Theoretisch-konzeptuelle Grundlagen
▶ Kap. 7.1 Zusammen am Tisch/Die außeralltägliche Mahlzeit als Format und Bühne
wurde einerseits durch die Beschäftigung mit Formaten und Verfahren noch einmal verstärkt, andererseits richtete ich meinen Blick auf das Thema und die Praxis des Versammelns und somit auf die verbindende und soziale Funktion der Mahlzeit, was eine sinnvolle Ergänzung zur Fokussierung auf leiblich-sinnliche Aspekte darstellte. In der Reflexion und Diskussion des ersten Taktsinn-Abends mit den Teilnehmenden stellte sich schnell heraus, dass das Nicht-Visuelle kaum ein erforschbarer Gegenstand ist, sondern vielmehr eine Qualität, die Handlungen, Wahrnehmungen und Dinge charakterisiert. Somit änderte sich mit diesem ersten experimentellen Setting die Rolle der (nicht-visuellen) Wahrnehmung in meiner Forschung von Forschungsgegenstand hin zu einem Forschungsparadigma, welches der Anlage der Forschung sowie der Erhebung und Analyse zugrunde gelegt werden sollte. Durch diese Verschiebung fehlte nunmehr der Gegenstand, an dem zum einen die Frage nach dem Nicht-Visuellen erforscht werden konnte, und zum anderen das von Beginn an bestehende Interesse an den Forschungsformaten und verfahren verwirklicht werden konnte. An diese Stelle trat nun die Mahlzeit bzw. das Ess-Setting, das ich zu diesem Zeitpunkt eher aus der Not heraus statt als bewusste Entscheidung für ein künstlerischwissenschaftliches Forschungs- und Präsentationsformat gewählt hatte. Bei genauerer Betrachtung ergab das Fokussieren auf die Mahlzeit als konkrete Forschungssituation in vielerlei Hinsicht Sinn: Da die körperliche Anwesenheit der Essenden für das Zustandekommen unabdingbar war, stellte sie eine Versammlung dar, die mit einer multisensorischen Praxis – der des Essens – verbunden war und dabei festen, kulturell verankerten Regeln folgte, die sich für experimentelle Abwandlungen dienstbar machen ließen. Zudem ermöglichte das Thematisieren des kollektiven Essens eine Rückbindung des gesamten Projekts an die Kulturanthropologie und die kulturwissenschaftliche Nahrungsforschung, in denen ich mich sicher und verortet fühlte. Nach dem ersten so genannten „Try out“ eines eigenen Forschungsdinners sollte die teilnehmende Beobachtung anderer besonderer Dinner-Formate Inspirationen für die eigene experimentelle Forschungspraxis liefern. Die Erkenntnisse aus dem Besuchen solcher Dinner sollten dann wieder in die eigenen Forschungsdinner eingebracht und daraus entwickelte Thesen erprobt werden. Hierbei war die Frage leitend, welche Rolle das Essen als Erkenntnis- und Forschungspraxis in diesen Situationen spielte.
Methoden, Felder und Rollen | 23
Für die systematische Auswahl, welche Mahlzeiten für die teilnehmende Beobachtung interessant waren und welche nicht, erarbeitete ich zu diesem Zeitpunkt das Format des Ess-Settings, das sowohl die selbst veranstalteten Forschungsdinner als auch die besuchten Mahlzeiten umfasste. Ess-Settings werden in dieser Arbeit wie folgt definiert: Definition Ess-Setting Unter Ess-Settings werden in dieser Arbeit Situationen und Veranstaltungen verstanden, in denen kollektiv gegessen und teilweise auch gekocht wird, und dies mit einem vorab kommunizierten Thema oder Zweck verbunden ist. Ess-Settings finden an öffentlichen oder zumindest halböffentlichen Orten statt. Ess-Settings beinhalten immer eine Form der Inszenierung, die jedoch unterschiedlich ausgeprägt sein kann. In der Regel gehen die an Ess-Settings Beteiligten davon aus, dass das jeweilige Thema sich in besonderem Maße in Verbindung mit einer Mahlzeit bearbeiten lässt. Dies gilt sowohl für Organisierende als auch für Teilnehmende. In den hier behandelten Ess-Settings handelte es sich um folgende Themen und Zwecke, die dabei nicht nur jeweils einem im Katalog beschriebenen Setting zugeordnet werden können: • • • • • • •
Begegnung im Kontext von Flucht und Migration ermöglichen Wissensproduktion und -austausch zu einem Thema Arbeit an Diskursen Öffentlichkeit(en) schaffen Diskussion von/Experimentieren mit Repräsentationsfragen Initiieren von Prozessen Spenden sammeln
Ess-Settings sind zeitlich begrenzte, singuläre Situationen, können aber seriell aneinandergereiht werden. Die im Rahmen der Settings stattfindenden Essen sind außeralltägliche Mahlzeiten, in denen die Nahrungsaufnahme zu physischen Zwecken in den Hintergrund tritt, dabei aber nicht unerheblich wird.
Nach dem Besuchen der ersten Ess-Settings ergaben sich viele Fragen und es entstand auch Befremden hinsichtlich der Kombination von Essen und einem Thema. Eine der ersten Irritationen war die, dass in dem Zeitraum, in dem bei den Settings gegessen wurde,
▶Kap. 7.6 Pause oder Arbeit?
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kaum etwas anderes passierte. Die Bearbeitung des jeweiligen Themas fand vorwiegend davor statt oder, wenn das Essen gemeinsam zubereitet wurde, auch maßgeblich beim gemeinsamen Kochen. Somit stellten sich bei mir Zweifel ein, welche Rolle die Praxis des Essens für das Gelingen eines solchen Ess-Settings tatsächlich spielte. Gleichzeitig fielen mir immer wiederkehrende Sprachbilder auf, die in den Einladungen und Berichterstattungen zu den EssSettings verwendet wurden und welche auch in Gesprächen während der Settings und darüber hinaus auftauchten. Diese narrativen Figuren irritierten mich zunehmend in ihrer Redundanz und fanden darüber Einzug in die Analyse der Ess-Settings. Die Fokussierung auf die konkrete Situation des Essens als Mittelpunkt meines Forschungsdesigns gab spätestens zu diesem Zeitpunkt des Perspektivenwechsels einen Einblick in das Bild, das ich mir bis dato aus der Perspektive meiner Ess-Settings vom Essen und Kochen gemacht hatte. In diesem Bild hatten die Narrative über Essen und Kochen kein großes Gewicht, sie waren eher ‚Beiwerk‘. Aus dem Feld immer wieder auf diese Metaebene gestoßen zu werden erzeugte bei mir eine affektive Abwehrreaktion, da diese Metaebene bis dahin nicht Teil meines Bildes vom Feld gewesen war. Die von Rolf Lindner angesprochene vermeintliche Symmetrie zwischen den Vorstellungen der Forschenden und den Vorstellungen des Feldes gab sich dabei als Asymmetrie zu erkennen (Lindner 1981: 54f). Die Symmetrie bzw. Asymmetrie besteht hier allerdings weniger in den Bildern, die sich Forscherin und Feldakteure über den jeweils anderen machten (wie bei Lindner), sondern vielmehr in den Bildern, die sich beide Seiten über den Erkenntnisgegenstand machten. Durch das Zulassen und Erkennen der in der Forschung erlebten Irritationen wurde der Zugang zu den ‚falschen‘ Vorannahmen – wie zum Beispiel die Zentralität der Situation des Essens und Kochens selbst – ermöglicht. Die Einordnung und Interpretation dieser geschah im Anschluss in Gesprächen mit Kolleg*innen sowie in einer gruppenanalytischen Supervisionsgruppe. Durch den hier vorgestellten Forschungsverlauf entwickelten sich in der Reflexion und Analysearbeit drei Perspektiven, die meinen Forschungsfokus ausrichteten und das dabei entstandene Material ordneten: Erstens ist dies die Perspektive auf narrative Figuren und deren Funktionen im Hinblick auf das Versammeln zu einem Ess-Setting und der kulturellen und gesellschaftlichen Einbettung dieser Figuren. Zweitens fand das Paradigma Anwendung, sinnlichleibliche Aspekte sowohl aufseiten der Mitforschenden als auch aufseiten der Forscherin zu thematisieren und nutzbar zu machen. Drittens wurden die Verbindungs- und Beziehungsebene der EssSettings sowie damit verbundene gesellschaftliche Dimensionen analysiert. Parallel dazu wurde hierbei immer die Frage nach den
Methoden, Felder und Rollen | 25
angewendeten Methoden und den Möglichkeiten ihrer Erweiterung mitgedacht, was im Folgenden näher erläutert wird.
2.1
FORSCHEN ZWISCHEN KUNST UND ETHNOGRAPHIE: METHODEN
Im Rahmen des Graduiertenkollegs „Versammlung und Teilhabe“ beschäftigten sich die Stipendiat*innen mit der Thematisierung und Erprobung neuer Foren und Formen von öffentlicher Versammlung und demokratischer Teilhabe auf lokaler sowie internationaler Ebene (vgl. Burri et al. 2014). Die Projekte waren dabei institutionell wie inhaltlich im Bereich der performativen Künste4 angesiedelt, die hierbei als Experimentierfeld dienten, um Versammlung und Teilhabe zu erproben, zu erforschen und infrage zu stellen. Als forschende und gleichzeitig künstlerische Qualifikationsarbeiten stellten die Forschungen des Kollegs auch einen wichtigen Beitrag zum Feld der künstlerischen Forschung5 dar, welches zwischen (Kultur-)Wissenschaften und ‚klassischen‘ Kunstformen angesiedelt ist. Künstlerische Forschung wird hier als Diskurs und Praxis angesehen, welche unterschiedliche Formen von Wissen, Akteur*innen und Forschungsfeldern hervorbringen, die so in den einzelnen Bereichen nicht präsent sind. Dabei ist das Öffentlichmachen des Forschungsprozesses und des darin produzierten Wissens ein wichtiges Merkmal der künstlerischen Forschung. Als zentral für eine künstlerisch-forschende Methodologie beschreibt Sibylle Peters „die Einbindung und Erkundung der Körperlichkeit, der Materialität, der Situiertheit und der Performativität von Wissen“ (Peters 2013: 8), wobei Erkenntnisräume generiert und untersucht werden. Diese Umgebung des Graduiertenkollegs und die sich daraus ergebenden Setzungen und Verknüpfungen waren sowohl methodolo-
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Die hier zugrunde gelegte Definition performativer Künste umfasste neben Performance, Tanz und Theater auch Medienkünste, für die eine Interaktivität zwischen Künstler*innen, Werk und Rezipient*innen angenommen wurde (vgl. Burri et al. 2014: 8). Da künstlerische Forschung als Ansatz vor allem zu Beginn dieser Arbeit als Inspiration diente, im späteren Verlauf aber eher eine untergeordnete Rolle spielte, wird dieses Konzept an dieser Stelle nur kurz mit Blick auf die Konzeption des Graduiertenkollegs „Versammlung und Teilhabe“ vorgestellt. Zum Begriff der künstlerischen Forschung siehe Badura et al. 2015, Bippus 2009, Rey/Schöbi 2009, Caduff 2010.
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gisch als auch im Hinblick auf die Definition meiner eigenen Forscherinnenrolle zentral für diese Arbeit und werden nachfolgend vorgestellt. Die Wiedergeburt als Ethnographin: Rollen im Feld Im Austausch und der Zusammenarbeit mit Künstler*innen insbesondere aus den performativen Künsten haben mich verschiedene Aspekte inspiriert und damit auch die Anlage und Durchführung dieser Forschung beeinflusst. Während die anderen Stipendiat*innen des Kollegs eher aus dem Bereich der performativen Künste kamen und im Rahmen künstlerischer Forschungsprojekte auch ethnographische Verfahren wie Interviews und Beobachtungen durchführten, näherte ich mich von einer anderen Seite als Ethnographin, die daran interessiert war, die Grenzen des ethnographischen Methodenspektrums auszutesten. Die Schnittstelle zwischen (performativer) Kunst und ethnographischer Forschung bestand hier vor allem im Interesse an transdisziplinären Forschungsverfahren, die im Sinne eines „Forschens Aller“ (Peters 2013) an einem demokratischeren Verständnis von Forschung arbeiten. In dieser Auffassung forschen die Forschenden nicht über Felder und Akteur*innen, sondern beteiligen diese an Forschungsdesign und -fragen. Damit verbunden stellte sich im Rahmen des Graduiertenkollegs „Versammlung und Teilhabe“ die Frage, welche Forschungs- und Erhebungsverfahren diese Beteiligung von so genannten Alltagsexpert*innen in besonderem Maße ermöglichen. Dies bedeutete, das Wissen dieser an den Forschungen beteiligten Personen erst einmal als Expertise zu definieren und sie somit als Expert*innen adressieren zu können (vgl. Peters 2014: 221f). Im Zuge dessen wurde hierbei auch die Frage diskutiert, inwiefern alltägliche Praktiken wie Sammeln, Versammeln oder eben Essen in besonderem Maße wissenschaftliche Laien involvieren und dabei auch als Forschungsverfahren fungieren können. Dieser insgesamt sehr bereichernden Arbeit an der Schnittstelle zwischen Kunst und Ethnographie ging jedoch auch eine Phase der Verunsicherung voraus. So hatte ich, ganz im Gegenteil zu den anderen Akteur*innen des Kollegs, keine eigene künstlerische Praxis vorzuweisen und war vor die Aufgabe gestellt, während der Laufzeit des Kollegs zwei künstlerische „Try outs“ zu verwirklichen, die zum einen Material für die eigene Forschung generierten und zum anderen bereits Erkenntnisse oder Thesen aus dem Projekt im Medium der Forschung zeigten und somit den Forschungsprozess zu einem frühen Zeitpunkt öffentlich machten. Im Zuge dessen entstand unter Hochdruck das Format des Forschungsdinners, in dem nicht nur Aspekte der sinnlichen Wahrnehmung getestet werden
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sollten, sondern auch das Versammeln selbst als Forschungsverfahren in den Blick genommen wurde. Während es mir weniger Probleme bereitete, geeignete Methoden für meine Forschung zu (er-)finden und mich in den Diskursen des Kollegs zu orientieren, empfand ich den Druck, bereits zu diesem Zeitpunkt etwas zu produzieren und veröffentlichen zu müssen, als enorm belastend, da es – wie mir erst später deutlich wurde – der ethnographischen Forschungslogik, sich erst einmal offen ins Feld zu begeben, widersprach (vgl. Färber 2009). Ich sah mich in dieser Phase mit dem Anspruch konfrontiert, selbst als Künstlerin agieren und forschen zu müssen und im Rahmen dessen auch ästhetische Präsentationsformate entwickeln zu müssen. Für das erste „Tryout“ (Taktsinn I) definierte ich die Forschungsversammlung als künstlerisches Format, in dem die Rolle des Nicht-Visuellen bei einem Essen mithilfe von Expert*innen in diesem Bereich erarbeitet werden sollte. Beim zweiten Taktsinn-Dinner (Essen und Erinnerung) stand das Experimentieren mit und Testen von Thesen aus dem ersten Setting im Vordergrund. In beiden Fällen waren die gewählten Themen zwar zentral, um überhaupt etwas verhandeln zu können, und es ergaben sich wichtige Erkenntnisse sowohl über das Nicht-Visuelle als auch über den Zusammenhang von Essen und Erinnerung. Was mich aber wirklich interessierte war die Arbeit am Format Forschungsdinner und die Erprobung von Praktiken wie Versammeln, Essen oder Kochen als Forschungsverfahren. Nach der Analyse dieser ersten „Try outs“ erkannte ich, dass dieser von mir als belastend empfundene Druck, öffentliche Erkenntnisformate zu produzieren, durchaus produktiv gewesen war und vor allem aufgrund der Erwartung, als Künstlerin agieren zu müssen, als belastend empfunden worden war. Daraufhin erklärte ich die zukünftigen Settings explizit zu ethnographischen Settings/Experimenten und definierte die Rolle des Künstlerischen hier vor allem als Möglichkeitsraum, Ethnographie anders zu denken. Zugleich gibt diese Erfahrung Aufschluss über ein Verständnis von kulturund geisteswissenschaftlicher Forschung, in dem sich der Forschungsprozess – allen Bekenntnissen zum Prozesshaften zum Trotz – nach wie vor als nicht-öffentlicher Vorgang darstellt. Dies waren Prozesse, die die Forschung insbesondere im ersten Jahr latent begleiteten. Explizit wurden diese Überlegungen bei einer Klausur des Graduiertenkollegs im April 2014, in der die Forschungsstände der einzelnen Projekte präsentiert wurden. Hier stellte ich erste Erkenntnisse aus den besuchten Ess-Settings sowie den Taktsinn-Dinnern vor und erwähnte im Ausblick eher beiläufig, dass ich fortan die weiteren Präsentationen nicht als künstlerische, sondern eher als ethnographische Formate konzipieren würde. Auf die Anwesenden wirkte diese Entscheidung wie eine 180-Grad-
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▶ Kap. 7.2 Tischregeln/Das Kuratieren außeralltäglicher Gastlichkeit
Wende in meiner Forschung, wohingegen ich sie nach meinen internen Überlegungen eher als banal und folgerichtig empfunden hatte. Nach der anfänglichen Verwunderung beschrieb eine Stipendiatin diesen Moment als meine Wiedergeburt als Ethnographin, was sich für diese Zeit auch in den Feldnotizen und dokumentierten Diskussionen zeigen lässt. Dieser Perspektivenwechsel bedeutete jedoch nicht, dass die Forschung danach eine ‚klassische‘ Ethnographie gewesen wäre, sie wurde vielmehr zu einer kunst-informierten Ethnographie (vgl. Reimers 2020). Neben dieser ab dem Zeitpunkt relativ eindeutigen Grundhaltung als Ethnographin waren die Rollen, die ich im Rahmen der teilnehmenden Beobachtung eingenommen habe, durchaus herausfordernder und diverser. Hier nahm ich neben der Forscherinnenrolle gleichzeitig die Rolle der Organisatorin und/oder Teilnehmerin des Settings ein. Häufig entsprach das Umfeld, insbesondere bei meinen eigenen Taktsinn-Settings, auch meinem privaten bzw. Arbeitsumfeld, wodurch schnell eine große Vertrautheit und Offenheit herrschte. 6 Gleichzeitig zeigte sich hier aber auch die Homogenität der Teilnehmenden hinsichtlich des sozioökonomischen Status, was im Hinblick auf den Anspruch, kollaborativ mit diversen Expert*innen zu forschen, hinterfragt werden kann. Zudem ergab sich durch die anfänglich künstlerisch-wissenschaftliche Konzeption der Forschung die Situation, dass zumindest in den von mir veranstalteten Settings immer auch die Betreuerinnen dieser Arbeit anwesend waren. Dies ergab sich daraus, dass in dieser Form der Dissertation die künstlerischen, praktischen Teile der Forschung ebenso prüfungsrelevant sind wie der schriftliche Teil. Dies führte zu einer besonderen Nähe zu den betreuenden Personen, die insgesamt sehr bereichernd für diese Arbeit war. Allerdings wirft diese Konstellation auch Fragen darüber auf, welche Verantwortung Gutachter*innen in einer solchen Involviertheit tragen und was es bedeutet, dass diese ein Setting bewerten müssen, zu dem sie selbst maßgeblich beigetragen haben. Diese interessanten Fragen wurden jedoch in dieser Arbeit nicht weiter verfolgt, da im Forschungsverlauf keine künstlerisch-wissenschaftliche Promotion mehr angestrebt wurde und somit die eigenen Ess-Settings ‚nur noch‘ Erhebungssituationen waren.
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Durch meine Nähe zum Feld und zum Schutz der involvierten Akteur*innen wurden alle Namen in dieser Arbeit pseudonymisiert. Eine Ausnahme stellen Personen dar, welche über die jeweiligen Ess-Settings ohnehin einer (lokal) bekannten Person zugeordnet werden können und die Ess-Settings, die eigene Werke bzw. Werke einer Gruppe darstellen.
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Über die bisher genannten Rollen hinaus, die ich bewusst oder unbewusst während meiner Forschung eingenommen habe, gab es auch Rollen, die mir von Akteur*innen aus dem Feld zugeschrieben wurden. Diese Zuschreibungen sind, egal ob wahr oder nicht, zentral für das Verständnis der Beziehungen zwischen Feld und Forscherin und nicht zuletzt des Felds selbst (vgl. Sülzle 2017: 131ff, Lindner 1981). So stellte ich mich den Gastgebenden und Teilnehmenden der besuchten Ess-Settings immer direkt als Forscherin vor, die im Rahmen ihrer Doktorarbeit Mahlzeiten erforscht. Wie stark ich bei dieser Vorstellung meiner Forschung ins Detail ging, hing davon ab, wie sehr das jeweilige Gegenüber in wissenschaftliche Kontexte involviert war und/oder ob die Person Nachfragen zum Projekt stellte. In den meisten Fällen genügte diese Vorstellung, um mich als Expertin für das Thema Essen anzusehen, was mir zu vielen Settings einen besonderen Zutritt ermöglichte. So nahm das Team des Überden-Tellerrand-Satelliten in Hamburg-Wilhelmsburg bei meiner Anfrage eigentlich keine neuen Mitglieder mehr auf, in meinem Fall sei das aber etwas anderes. Für das Diskursive Dinner musste ich nicht auf einen Platz warten, mir wurde direkt nach meiner Anfrage, in der ich mein Forschungsinteresse kurz schilderte, die Teilnahme zugesagt. Beim Olympia Gastmahl wurde ich sogar aus der Teilnehmendenrunde dazu aufgefordert, ein Fazit des Abends aus meiner Sicht als Expertin zu ziehen. Diese Offenheit gegenüber meiner Person und Rolle als Forscherin kennzeichnete die verschiedenen Settings als Felder, in denen die Akteur*innen eine positive Einstellung zur (Kultur-)Wissenschaft hatten, weil sie beispielsweise einen ähnlichen Hintergrund hatten. Auch im Fall der Hallo Festspiele erleichterte mir meine Forschung den Zutritt und das Knüpfen von Kontakten, wobei dieser Zugang nicht bedeutete, dass ich ohne weiteres an allen Aktivitäten teilnehmen konnte und in zentrale Abläufe involviert wurde, was sich in der folgenden Feldnotiz zeigt: „Später planen Monika und Sabine und teilweise auch Oskar beim Kochen die Gerichte für die weiteren Tage. Sie scheinen alle zu wissen, was in etwa im Lager ist. Sie sprechen auch über einzelne Lebensmittel, als hätten sie bestimmte Gerichte, die sie selbst von Beginn an geplant hätten, z.B. ‚Ich habe noch die schwarzen Bohnen, daraus wollte ich noch ein Mus machen.‘ oder ähnlich. Ich habe das Gefühl, dass ich wirklich nur die Küchenhilfe bin, was ich ja eigentlich auch wollte, aber fühle mich irgendwie außen vor. Ich habe nicht den Eindruck, dass ich hier gerade Dinge einbringen kann. Die drei entwerfen so rasant Ideen für Gerichte und Kombinationen als seien sie ein eingespieltes Team. In dem Moment denke ich, dass es nicht so einfach ist für Außenstehende, nur über die gleiche Tätigkeit in eine
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Gruppe hineinzukommen. Ich scheine nach außen dazu zu gehören, weil ich offensichtlich die gleichen Dinge tue wie die anderen, aber in der Kommunikation und den Beteiligungsmöglichkeiten gehöre ich nicht so einfach von einem Tag auf den anderen zum ‚Kernteam‘ – auch wenn sie in mir eine Expertin sehen mögen.“ (Feldnotiz Hallo Festspiele 4. Tag)
Hier zeigt sich, dass meine Rolle im Feld stark von meiner jeweiligen Tätigkeit und der Personenkonstellation abhing, in der ich mich befand. Durch die kurze Dauer der Settings bzw. durch die kurze Dauer meiner Teilnahme konnte ich insbesondere in diesem Beispiel keine eigenen Maßstäbe entwickeln, anhand derer ich selbst entscheiden konnte, welches Verhalten angemessen ist. Zudem unterscheidet sich die hier eingenommene Rolle als Küchenhilfe stark von meiner Rolle in anderen Settings, bei denen ich selbst Verantwortung für das Setting innehatte, was auch in einer früheren Notiz zu den Hallo Festspielen deutlich wird: „Als dann die ersten bereits anfangen zu essen und Oskar und Marlene nicht zu sehen sind, bin ich unsicher, ob ich mich einfach mit hinsetzen und essen kann. Ich kann mich nicht an die beiden halten und meine Rolle hat irgendwie ihre (sichtbare) Berechtigung verloren. Ich laufe noch ein bisschen geschäftig rum, bis ich sehe, dass Oskar sich etwas auftut und an den Tisch setzt.“ (Feldnotiz Hallo Festspiele 2. Tag)
Im Gegensatz zu diesem Setting, bei dem ich durch meine Rolle als Küchenhilfe genügend Zeit und Raum für Beobachtungen und informelle Gespräche hatte, war ich zum Beispiel während meiner Forschung in den Über-den-Tellerrand-Settings häufig von meiner Doppelrolle als (Mit-)Organisatorin und Forscherin überfordert. Dies führte dazu, dass ich teils nicht in der Lage war, während der Kochabende Gespräche mit den Beteiligten zu führen, die über organisatorische Fragen hinausgingen. In meinen Feldnotizen ist auffällig, dass sie nur punktuell Informationen zum Geschmack der Speisen enthalten, da ich insbesondere bei den Über-den-Tellerrand-Settings, die an mehreren Abenden stattfanden, beim Essen bereits in Gedanken dabei war, organisatorische Verbesserungen für das nächste Setting zu planen. Diese starke Beschäftigung mit den formalen Aspekten insbesondere im hier genannten Beispiel prägte auch die Sprache in meinen Feldnotizen, was in Gruppensitzungen sehr deutlich, in die ich dieses Material einbrachte. So war der Schreibstil bei Überforderung eher kühl und protokollierend: „Makar beginnt als erstes damit, die Papierverpackungen der Tiefkühl-Kirschen zu öffnen. Es ist aber schnell klar, dass die vorhandenen Töpfe zu klein sind. So beginnt er erstmal mit zwei Töpfen. Die um die offene Küche
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herumstehenden Gäste sind heiß darauf, zu helfen und öffnen Kirsch-Pakete und schütten sie in die Töpfe. Ich bin für Makar an diesem Abend die Ansprechpartnerin und so bittet er mich zum Beispiel, seine Gäste vor dem Edeka abzuholen. Zuerst hole ich Nadi ab, die bereits sehr gut Deutsch und dafür weniger gut Englisch spricht, ab. Später wartet dort ein weiterer Freund von Makar, dessen Namen ich vergessen habe.“ (Feldnotiz 4. ÜdT)
Zudem war insbesondere die Erhebungsphase dieser Forschung von meiner Rolle als (werdende) Mutter geprägt, da die Geburten meiner beiden Kinder in diesen Zeitraum fielen. Dies hatte nicht nur Einfluss auf die Möglichkeit, insbesondere Abendveranstaltungen zu besuchen und für diese Zeit eine Betreuung zu organisieren, sondern auch auf meine Konzentrationsfähigkeit und Energieressourcen. Diese offensichtlichen Gründe für die Anstrengung und Erschöpfung aufseiten der Forscherin dürfen jedoch nicht darüber hinwegtäuschen, dass es weitere Gründe für Momente der Überforderung gab, die zum Beispiel in der Konzeption vieler Settings selbst lagen. Auf diese werde ich in den Kapiteln zu den gesellschaftlichen Dimensionen der Ess-Settings im zweiten Teil der Arbeit näher eingehen. Doch gerade durch diese Erfahrung, wie herausfordernd es sein kann, Gastgeberin eines solchen Ess-Settings zu sein, fühlte ich mit den Organisierenden, wenn ich – beispielsweise beim Diskursiven Dinner – nur Teilnehmende war und Abläufe nicht wie geplant funktionierten. Diese Multiperspektivität war insofern gewinnbringend für diese Arbeit, als dass sich hier die Rollen bzw. Perspektiven der Forschenden und Beforschten kreuzten. Durch die vorab beschriebenen Einflüsse und die Beschäftigung mit den damit zusammenhängenden Konzepten entstand für diese Arbeit eine Definition von Ethnographie als Perspektive, Experiment und Grenzgang (vgl. Reimers 2018), die im Folgenden vorgestellt wird. Hierbei stellt Ethnographie nicht nur eine Methodologie und Disziplin dar, sondern bezeichnet für mich vielmehr „das Verinnerlichen eines Blicks auf Alltagspraktiken und -kultur sowie eine Erkenntnisstrategie, mit Wissen und Phänomenen umzugehen, die nicht nur Kultur- und Sozialwissenschaftler*innen vorbehalten und an Disziplinengrenzen gebunden ist.“ (Ebd.: 71)7
7
Der folgende Abschnitt zum hier zugrunde gelegten Ethnographieverständnis und zum ethnographischen Experiment stammt teilweise wortwörtlich oder sinngemäß aus bereits veröffentlichten Texten der Autorin zu diesen Themen (vgl. Reimers 2014 und 2018).
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Definiert man Ethnographie vor den naturwissenschaftlich inspirierten Vorstellungen von (Sozial-)Wissenschaft, welche Wiederholbarkeit und Überprüfbarkeit in den Vordergrund stellen, so fehlen ihr diese Merkmale einer wissenschaftlichen Methode, wie die Anthropologin Claudia Lemke feststellt: „Im Gegenteil ist der ‚Kontrollverlust über die Bedingungen des Erkenntnisprozesses‘ für den Forschungsprozess ‚methodisch notwendig‘. […] Ethnographierend tätig zu sein heißt, vielfältige Beobachtungen und heterogene Erfahrungen in den Forschungsprozess zu integrieren, anstatt sie von vornherein auszuschließen.“ (Lemke 2011: 33)
Ethnographisch feldforschend zu arbeiten bedeutet hierbei, mit einem Set an Methoden wie teilnehmende Beobachtung oder Befragungen umzugehen und darüber hinaus auch gegenstands- und prozessbezogen weitere qualitative oder eben auch künstlerische Verfahren hinzuzuziehen. Immer aber zeichnen ethnographische Zugänge Mikroperspektiven nach, ohne dabei die Einbettung in größere Kontexte zu vergessen (vgl. Schmidt-Lauber 2007). In dieser Auffassung von Ethnographie stellt sich meines Erachtens keine grundsätzliche Frage nach ethnographischer Forschung oder Kunst, sondern vielmehr die Frage, inwiefern Ethnographie als Erkenntnispraxis und Erkenntnis ermöglichende Perspektive nutzbar gemacht werden kann – ganz gleich ob in (kultur-)wissenschaftlichen, künstlerischen oder anderen Kontexten. Als experimentelles Setting angelegt, kann eine ethnographische Forschung laut Hans-Jörg Rheinberger durchaus eine verbindende Komponente in hybriden Kontexten (vgl. Pfeiffer 2017) darstellen. So nimmt Rheinberger an, dass Ereignisse innerhalb eines Experimentalsystems „zu stabilen Verbindungen vorher unabhängiger Systeme führen und damit hybride Verbindungen hervorbringen. Auf diese Weise können zwischen zwei oder mehreren experimentellen Anordnungen Schnittstellen entstehen“ (Rheinberger 1993: 420). Die angesprochene Inspiration künstlerischer und ethnographischer Forschung durch experimentelle Aufbauten und Laborvergleiche ist hierbei schon länger und bis heute ein diskutiertes Thema (vgl. Berg 2009, Kreuzer 2012). Dabei unterscheidet sich der in den Naturwissenschaften wie auch im allgemeinen Diskurs verbreitetere Experimentbegriff von künstlerischen und kulturwissenschaftlichen Experimenten. Ersterer geht von einem Aufbau aus, in dem unter definierten und kontrollierten Bedingungen Hypothesen überprüft, beobachtet und Parameter gemessen werden. Diese Arten von Experimenten gelten als valide und aussagekräftig, wenn die Experimente unter gleichen Bedingungen wiederholbar sind und dabei
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gleiche Ergebnisse liefern. Die zweite Form von Experimenten hingegen zielt darauf ab, bestehende (soziale, kulturelle, ästhetische etc.) Grenzen auszuloten oder auch zu erweitern (vgl. Kreuzer 2012: 7). Im Gegensatz zu naturwissenschaftlichen Experimenten arbeiten künstlerische/kulturwissenschaftliche Experimente mit der Ungewissheit ihres Ausgangs. Hierbei wird weniger das Ziel verfolgt, Wissen zu testen, sondern vielmehr neues oder anderes Wissen zu ermöglichen. Es liegt in der Natur der Sache, dass Neues und Anderes nicht oder schwer vorstellbar sind. Diese Problematik greift Hans-Jörg Rheinberger in seinen Ausführungen zu Experimentalsystemen auf. In diesen wird Wissen weniger produziert, als dass es sich ereignet (Rheinberger 1992). Mit dem Experiment schafft die oder der Forschende eine empirische Struktur, die es erlaubt, in einem solchen Zustand des Nichtwissens um das Nichtwissen handlungsfähig zu werden (vgl. ebd. 2007). Den Experimentator*innen schreibt Rheinberger dabei eine ambivalente Rolle zu: Zwar können sie (neue) Erkenntnisse vor allem aufgrund ihrer Intuition und Erfahrung besser erkennen als Außenstehende (vgl. ebd. 1992: 27), allerdings ereignen sich diese Erkenntnisse nicht ausschließlich in Kopf oder Körper des wissenschaftlichen Genies, sondern im Experimentalsystem selbst (vgl. ebd. 2007). In diesem System sind laut Rheinberger sowohl die Experimentator*innen als auch die epistemischen (Fragestellung, Wissen etc.) und technologischen Dinge (Apparate, Raum etc.) untrennbar miteinander verbunden. Diese von Rheinberger benannten Komponenten eines Experimentalsystems entsprechen in ethnographischen Experimenten etwa den Forschenden und Mitforschenden, den Diskursen und Fragestellungen sowie den Versammlungsräumen und Alltagsdingen. Diese eher wissenschaftstheoretische Herleitung für die Anlage und Sinnhaftigkeit von Experimenten auch außerhalb der ‚klassischen‘ Laborwissenschaften erscheint plausibel und wurde auch an unterschiedlichen Stellen zu unterschiedlichen Zeiten als Konzept in den Kulturwissenschaften diskutiert und umgesetzt. Hierbei standen insbesondere Überlegungen und Entscheidungen im Vordergrund, welche die Darstellung und Repräsentation betreffen, sowie die Frage von Teilhabe und Sichtbarkeit der ‚Beforschten‘ (vgl. Klenk 2020, Marcus/Cushman 1982). Namensgebend als experimentelle Ethnographie oder in der Methodologie ethnographischer Forschungen (bspw. im Sinne bewusster Interventionen) kam und kommt das Experimentelle jedoch nach wie vor kaum vor. Eine Ausnahme, die jedoch in den ethnographisch arbeitenden Disziplinen nie kanonisch wurde, stellt die Ethnomethodologie dar (vgl. Langenohl 2009). Diese widmet sich der Frage nach den alltäglichen Lebensvollzügen in ihrer Selbstverständlichkeit und der
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Nicht-Thematisierung alltäglicher Handlungen, welche stabilisierend auf das soziale Gefüge wirken, und legte diese durch gezielt abweichendes Verhalten im Rahmen von Krisenexperimenten offen. Werner Patzelt sieht „die Methoden der Ermöglichung, Durchführung oder Verhinderung sinnhaft konzertierten Handelns“ (Patzelt 1987: 11) im Blickfeld ethnomethodologischer Forschung und schließt somit auch das Nicht-Funktionieren als erkenntnisbringendes Moment ein. Jens Loenhoff thematisiert im Zusammenhang mit erlernten Wahrnehmungsmodi und damit verbundenem impliziten Wissen die Rolle von Erwartungen, die nur als solche erkennbar werden, indem ein erwarteter Handlungsstrang gestört oder unterbrochen wird (Loenhoff 2015: 25). Zwei für diese Arbeit maßgebliche Ausnahmen von der fehlenden Umsetzung experimenteller Verfahren in den Kulturwissenschaften sollen an dieser Stelle im Hinblick auf zwei sie verbindende Aspekte vorgestellt werden, die auch für die Ess-Settings in dieser Forschung wichtig waren. Hierbei handelt es sich zum einen um die Konstruktion des Experimentierfeldes, indem Realität(en) inszeniert bzw. aufgeführt werden und dies als erkenntnisgenerierendes Verfahren angenommen wird. Zum anderen spielt das eklektische Zusammenbringen vorher nicht zusammengedachter Elemente in unterschiedlichen Bereichen eine Rolle, was in beiden Beispielen als Praxis des „mixing“ bezeichnet wird. Beim ersten Beispiel handelt es sich um ein Experiment von sechs Wissenschaftlerinnen aus unterschiedlichen (Ess-)Kulturen, die an einem Abend zusammenkamen, um auszuprobieren, ob Speisen anders schmecken, wenn sie mit den Händen gegessen werden. Die Erkenntnisse aus dem Experiment haben die Wissenschaftlerinnen in einem kollektiv verfassten Text unter dem Titel „Mixing methods, tasting fingers“ (vgl. Mann et al. 2011) veröffentlicht. Hier beschreiben sie das Setting nicht als einen übergreifenden Forschungsansatz zum Erforschen der sinnlichen Wahrnehmung, sondern vielmehr als ein Nebeneinander von Fragen, Körpern, Essen, Arbeit und Vergnügen. Wie der Titel bereits verrät, führen das experimentelle Vorgehen wie auch die Frage nach dem Erforschen sinnlich-leiblicher Qualitäten des Essens zu einem Nachdenken über die verwendeten Verfahren in einem Methodenmix: „It is a composite of divergent, clashing ways of working, irrevocably changed in the process of mixing them [the methods, d.Verf.] together. We were inspired by laboratory experiments, but did not comply with all of their rules. We did anthropological fieldwork, but not of the traditional kind. Both methods changed as we mixed the experimental organization of an event with the open attentiveness of fieldwork. And the mixing went on.
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We mixed being a researcher-subject with being an object of research.“ (Ebd.: 224)
Als zweites Beispiel dienen hier die experimentellen Arbeiten von Michael Guggenheim zu den Themen Essen und Geschmack und insbesondere das Format der „incubation“, welche er als „sociotechnical device that uses situational, social and time-based pressure to form new objects and interactions by using knowledge, interactions and objects“ bezeichnet (Guggenheim et al. 2012: 2). Michael Guggenheim, Bernd Kräftner und Judith Kröll beschreiben „incubations“ analog zum Zubereiten von Mahlzeiten und den benötigten Fähigkeiten der Köch*innen und vergleichen das Vorgehen mit dem Hinzufügen von Zutaten zu einem Eintopf oder indischem Curry: „It is based on an eclectic mixture of ingredients comprising various qualities and quantities. The quality of the stew depends on the skill of the cooks to add ingredients at the right time in the right quantities, to taste and adjust over and over, and to be open to adding new and unexpected ingredients to improve the complex interplay of textures and smells. […] its aim is not a predefined dish but something that tastes well. The central quality of the cook is not to follow defined rules to achieve a given result, but to juggle various ingredients to achieve something good to eat.“ (Ebd.: 6)
Die in dieser Arbeit als experimentelle Settings angelegten Taktsinn-Dinner orientieren sich in dem Sinne an den genannten Beispielen und ihren Praktiken des „mixing“, als dass auch hier verschiedene Methoden wie Experimente, Gruppeninterviews und andere Befragungen sowie teilnehmende Beobachtung in jeweils kurzen Zeitfenstern kombiniert wurden. Zudem war auch ich als Forscherin in besonderem Maße am Schaffen des Settings beteiligt und somit auch involviert und verantwortlich für die getroffenen Entscheidungen. Dies führt zum zweiten zentralen Aspekt der thematisierten Beispiele: Dem des Inszenierens und Aufführens von Realität im Rahmen ethnographischer Experimente und im Zuge dessen auch das Hinterfragen von Realität im Rahmen ethnographischer Forschung insgesamt. So finden derartige Experimente, die nicht Teil eines gängigen ethnographischen Methodensets sind, eher an den Disziplinenrändern und Schnittstellen statt, bspw. zwischen Kunst und Kulturwissenschaften, wie es auch in dieser Arbeit der Fall ist. Auch Anna Mann et al. stellen hinsichtlich ihres „Tasting fingers, mixing methods“ Experiments fest, dass das Experiment Realität in dem Sinne inszeniert, als dass dieses Essen zum einen als Experiment und nicht nur als Abendessen unter Kolleginnen geplant
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wurde. Zum anderen verstanden die Beteiligten das Setting als eine Situation, in der Wissen, Erfahrungen und die jeweiligen persönlichen Hintergründe neu erlebt werden konnten. Michael Guggenheim et al. beschreiben, dass sie mit ihren „incubations“ häufig auf Unverständnis gestoßen sind und im Zuge dessen als Clowns oder Außenseiter („stranger“) bezeichnet wurden (vgl. ebd.: 18). Dies ist zwar eine Abwertung der ernstgemeinten wissenschaftlichen Arbeit, allerdings empfanden die Wissenschaftler*innen dies auch als hilfreich, da mit diesem Label auch ein Möglichkeitsraum eröffnet wurde: „[…] to be labelled as a stranger or a clown is also a chance, because it opens a field, and it allows us to do things that otherwise would never happen. […] By playing ‚theatre‘, by being put in a laboratory, people are given a space in which to re-enact their biographical experiences in condensed, different and no less ‚true‘ ways than in a formal interview situation.“ (Ebd.: 19)
▶ Kap. 7.5 EssSettings als liminale Situation/Zwecke Essen und deren Rezeption
Insofern stellen diese experimentellen Settings nicht eine Fiktion oder alternative Realität dar, sondern eine Weiterführung bzw. einen anderen Teil ein und derselben Realität. Dieses Spielen mit und Testen von Realität und Akzeptanz aufseiten der Rezipient*innen findet auch in den Taktsinn-Settings Anwendung, wenn die alltägliche Situation der Mahlzeit den Routinen und Regeln entrückt wird und zum Beispiel über das Essen mit den Händen (Taktsinn III) Themen und Verbindungen möglich werden, die so vor dem Experiment nicht möglich waren. Gleichzeitig befinden sich ethnographische Experimente wie diese nicht auf einem festen disziplinären Terrain, sondern müssen im wahrsten Sinne des Wortes noch ‚verortet‘ werden. Dies zeigte sich u.a. an der Platzierung des vierten Taktsinn-Dinners im Programm des 40. Kongresses der Deutschen Gesellschaft für Volkskunde. Im Call for Papers zu diesem Kongress wurde insbesondere aufgrund des Themas „Kulturen der Sinne“ deutlich gemacht, dass alternative Beiträge zu Vorträgen durchaus gewünscht waren, weshalb ich das Veranstalten eines Forschungsdinners vorschlug und damit auch angenommen wurde. Dieses Forschungsdinner war schließlich (sicherlich auch aufgrund organisatorischer Fragen wie Teilnehmerbeschränkungen) aber nicht Teil der klassischen Kongressstruktur in Panels und Sektionen, sondern war neben Spaziergängen und einer Revue der Sinne Teil des Rahmenprogramms. Insofern sollen die in dieser Arbeit geschilderten Erfahrungen mit einem erweiterten, experimentellen Konzept dazu beitragen, andere
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und neue Formate der Präsentation ähnlicher Forschungen zu gestalten, die nicht zwischen klassischen und alternativen Forschungen hierarchisieren. Vom Forschen in temporären Feldern: Erhebungsmethoden In dem vorangehend beschriebenen, dieser Arbeit zugrunde liegenden Verständnis von Ethnographie wurde vorrangig das experimentelle Vorgehen in den Taktsinn-Forschungsdinnern erläutert und kontextualisiert. Diese ethnographischen Experimente stellen dabei allerdings nur einen Teil der erforschten Settings und Methoden dar. Auf den anderen Teil und die hierbei angewendeten Methoden soll an dieser Stelle eingegangen werden. Der Besuch und die Mitorganisation verschiedener Ess-Settings wurden in dieser Forschung als teilnehmende Beobachtung angelegt und durchgeführt. Teilnahme bedeutete hierbei, sich in das Setting einzufinden und sich entsprechend der vorgegebenen Abläufe und Rollen zu verhalten: Zu essen, wenn alle anderen Beteiligten aßen, zu sprechen, wenn es angemessen war, Gemüse zu schneiden, mich an Diskussionen zu beteiligen, (zu viel) Wein zu trinken und schließlich nach Hause zu gehen, wenn das gemeinsame Essen sein Ende gefunden hatte. Dieses Mitmachen sicherte meine Teilhabe in der temporären Tischgemeinschaft und ermöglichte es mir, die unbewussten und routiniert vollzogenen Handlungen der anderen Teilnehmenden nachzuvollziehen. Kurzum bedeutete die teilnehmende Beobachtung in dieser Forschung häufig, einfach zu essen, zu trinken, einen netten Abend zu haben – nicht weil ich immer persönlich Lust auf diese Situation gehabt hätte, sondern weil es die Situation und Praxis waren, die ich als zu erforschende Situation interessant fand. Eine solche Feldforschung, die die Praktiken und Situationen des Vergnügens und Genusses untersucht, thematisiert das vieldiskutierte Verhältnis von Nähe und Distanz in der teilnehmenden Beobachtung auf besondere Art und Weise: Nicht nur auf der Basis sozialer oder kultureller Nähe und Distanz, sondern auch auf einer leib/körperlichen Ebene (vgl. Spittler 2001, Kubes 2014). Der Körper der Forschenden wird hierbei zum Grenzobjekt (vgl. Leigh Star 2017), „an und in dem Grenzen verschiedener Bedeutungsräume verlaufen und sich überkreuzen“ (Mohr/Vetter 2014: 105). Dieses Austarieren zwischen privaten, subjektiven, leiblichen Aspekten kollektiven Essens und Kochens und den sozialen, öffentlichen und gesellschaftlichen Implikationen von Nahrung und Mahlzeiten spielte in dieser Forschung eine zentrale Rolle, beispielsweise wenn es um das Erleben und Nachvollziehen von Atmosphären ging.
▶ Kap. 3.2 Konzepte sinnlichleiblicher Wahrnehmung
▶ Kap. 8.3. Verbindungen
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▶ Kap. 6.4 Leib Performanz und Raum in den Atmosphären der Ess-Settings ▶ Kap. 7.5 EssSettings als liminale Situation/Zwecke Essen und deren Rezeption
Darüber hinaus spielte diese Polarität von Innen und Außen eine Rolle, wenn es um das Wahrnehmen und Thematisieren von Hunger ging. Dass ich oder weitere Teilnehmende eines Ess-Settings Hunger hatten, war einerseits ein leib/körperlicher Zustand, der einen Einfluss auf die Aufnahmefähigkeit und Bereitschaft zur Kooperation hatte. Andererseits wurden Hungergefühle im Laufe dieser Forschung auch zu einem Indikator für die Organisation eines Settings. Welche Form der analytischen Distanz(-ierung) ist jedoch möglich, wenn es sich, wie hier festgestellt, um eine leib/körperliche Nähe handelt, die reflektiert werden soll? Ein physisches Zurücktreten oder Herausgehen aus Situationen ist in diesem Fall schlichtweg nicht möglich. Um an den eigenen Leib/körper gebundene Erfahrungen reflektieren zu können und somit das Erlebnis eines EssSettings zu einer wissenschaftlichen Erhebungssituation werden zu lassen, müssen somit alternative Strategien angewendet und entwickelt werden. Einen Ansatz dazu liefern drei von Sebastian Mohr und Andrea Vetter (2014) vorgeschlagene Strategien, die auch für das Verständnis einer sinnlich-informierten und experimentellen Ethnographie in dieser Arbeit zentral waren. Insbesondere auf die von Mohr und Vetter vorgestellte Erkenntnisstrategie der (bewussten) Intervention wurde bereits im vorangegangen Kapitel eingegangen. Als Beispiel können hier Interventionen in die regelhaften Abläufe von Mahlzeiten bei den TaktsinnDinnern gelten, wenn Teilnehmende sich zum Beispiel gegenseitig fütterten oder mit den Händen aßen. „Die Körper der Forschenden kommen hier direkt und meist entgegen der Logik des Feldes zum Ausdruck“ (ebd.: 113). Im Zuge dieser Regelverletzung wurden eben jene Regeln erst präsent und verhandelbar. Die Strategie der Verfremdung zielt auf eine „beabsichtigte Manipulation der Erfahrung und deren Enthebung aus dem Feldkontext“ (ebd.: 112) ab, indem einzelne Sinneswahrnehmungen verstärkt, unterbunden oder technisch verstärkt werden. Bei den Taktsinn-Dinnern wurde diese Strategie als Teil der Experimente genutzt, wenn beispielsweise während des gemeinsamen Essens nicht gesprochen werden durfte und diese Situation sich somit u. a. akustisch anders als gewohnt darstellte. Für mich als Forschende war diese Verfremdung in dem Sinne relevant, als dass beispielsweise das Fotografieren einen Moment des sichtbaren Rollenwechsels markierte: So wurde meine Forschungstätigkeit vor allem bei den Über-den-Tellerrand-Settings dadurch sichtbar, dass ich mit einer Kamera Fotos vom Setting machte. Legte ich die Kamera ab, wurde ich wiederum vor allem als organisatorische Ansprechperson identifiziert. Gleichzeitig unterschieden sich die von mir gemachten Fotos von denen der Handyfotos der Teilnehmenden, die sie im Anschluss mit der Gruppe teilten. So waren meine Fotos eher aus einiger Entfernung gemacht
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worden und versuchten, das Setting als Ganzes zu erfassen, während die Fotos der Teilnehmenden vor allem Selfies, Gruppenfotos und Fotos des angerichteten Essens waren. Besonders eindrücklich zeigte sich dies, als eine Teilnehmerin eines Abends darum bat, mit meiner Kamera Fotos machen zu dürfen (vgl. Cuny 2008). Darüber hinaus beschreiben Mohr und Vetter die Strategie der Authentifizierung, bei der durch das Erleben anderer Lebenswelten auch ein Verständnis für diese entsteht, was der gängigen Vorstellung von teilnehmender Beobachtung entspricht. In dieser Arbeit wurde diese weniger als individuelle Strategie der Forscherin angewendet, sondern vielmehr im Sinne einer situierten und relationalen Authentizität (vgl. ebd.: 110), indem im Rahmen der Settings Wahrnehmungen und Eindrücke zusammen mit den Mitforschenden verhandelt wurden. In den teilnehmend beobachteten Ess-Settings geschah dies in informellen Gesprächen mit einzelnen Personen oder kleineren Gruppen während des Essens oder Kochens. Noch ergiebiger waren allerdings die im Anschluss an die Taktsinn-Settings durchgeführten Gruppendiskussionen, die zum Beispiel als aufgezeichnete Kaffee- oder Nachtischgespräche in das Gesamtkonzept eingebettet wurden. Dies war insofern wichtig, als dass die zu thematisierende Erfahrung zeitlich nicht lange zurücklag und durch das Besprechen in der Gruppe intersubjektiv ein kollektiver Erfahrungsraum greifbar gemacht wurde. Somit konnte eine gemeinsam erlebte Situation, die zudem als eine explizit kollektive gekennzeichnet war, auch im Kollektiv reflektiert werden. Hierbei unterscheidet sich die Konzeption dieser Gruppeninterviews von gängigen Auffassungen von Gruppendiskussionen, indem die Gruppe weniger aufgrund bestimmter Merkmale wie beispielsweise Alter, Migrationserfahrungen oder bestimmter Zugehörigkeiten adressiert wird (vgl. Bohnsack 2015), sondern aufgrund einer speziellen, situativen Erfahrung, die nur diese Gruppe miteinander teilt und über diese erst zur Gruppe wird. Diese Methode war hinsichtlich der Interpretation der vorab gemeinsam erlebten Situation äußerst hilfreich, da alle Beteiligten hier Deutungen und Eindrücke beitragen konnten und somit ein multiperspektivisches Bild eines Settings gezeichnet werden konnte. Dabei konnten die Diskutierenden Themen aufbringen, weiterverfolgen, fallenlassen oder erst gar nicht ansprechen. Ich nahm in diesen Situationen bewusst nicht die Position einer Gesprächsleitung ein, sondern brachte eigene Erfahrungen aus vorangegangenen Situationen ein.
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Zur Blackbox ethnographischen Deutens und Analysierens: Auswertungsmethoden Trotz der Offenheit vieler ethnographischer Arbeiten für die Reflexion und Weiterentwicklung von Methodologien, Paradigmen und Forschungsthemen bleibt die Analysearbeit des ethnographischen Materials vielfach eine Blackbox. Zwar existieren (wenige) gute Texte zu gängigen Analysemethoden wie Grounded Theory, Diskursanalysen oder Inhaltsanalysen, in denen auch eine Anwendung anhand von Beispielen erläutert wird.8 In Monographien, in denen diese Analysemethoden angewendet werden, entsteht jedoch häufig der Eindruck, dass es sich hierbei um einen abgrenzbaren Arbeitsschritt handelt, der nach der Wahl der geeigneten Methode ohne weiteres durchgeführt werden kann. Diese Lücke in der Beschreibung der Analysearbeit steht im Kontrast zur gängigen Reflexion der Erhebungsmethoden und des Forschungsverlaufs, in der mitunter auch das Scheitern und Irren thematisiert und Einblicke in Entscheidungen und Prozesse gegeben werden. Diese Einblicke fehlen in ethnographischen Texten häufig für die Analysearbeit. Dabei bleiben Erkenntnisprozesse, die außerhalb des Rahmens der gewählten Methode liegen, wie beispielsweise das Besprechen von Material in Kolloquien und Deutungsgruppen, weitestgehend unsichtbar in der schließlich entstandenen Forschungspublikation. Diese Diagnose fällt zusammen mit einer zunehmenden Thematisierung von Reflexivität in der kulturanthropologischen Forschung, in der u. a. die Modi der (Selbst-)Reflexion sowie das Maß an Selbstthematisierung diskutiert werden (vgl. Becker et al. 2017: 60ff). Brigitte Becker et al. sprechen in ihrem Text zur „reflexiven Couch“ auch eine Angst der Forschenden an, durch derartige Einblicke Details preiszugeben, die nicht für die (wissenschaftliche) Öffentlichkeit bestimmt sind. Die Autor*innen plädieren anhand dieser Unklarheiten und Unsicherheiten für eine „Operationalisierung von Reflexivität“ in der ethnographischen Forschung und thematisieren im Zuge dessen die Arbeit in Feldforschungssupervisionsgruppen. Auch ich war seit Beginn meiner Feldforschung Mitglied einer solchen Supervisionsgruppe für ethnographisches Feldforschen, was eine zentrale Rolle in der Analysearbeit gespielt hat. Bevor ich jedoch genauer auf diese Form der Gruppenarbeit eingehe, möchte ich an dieser Stelle versuchen, Licht in die AnalyseBlackbox dieser Arbeit zu bringen. 8
An dieser Stelle sei auf die Beiträge des Kapitels „deuten, theoretisieren, triangulieren“ in der von C. Bischoff, K. Oehme-Jüngling und W. Leimgruber herausgegebenen Einführung in die Methoden der Kulturanthropologie (2014) verwiesen.
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Diskursanalyse Nachdem zusätzlich zu den anderen Analyseperspektiven in dieser Forschung der Aspekt der narrativen Figuren einbezogen wurde, wurde deutlich, dass das Verfolgen dieses Aspekts einen spezifischen analytischen Zugang erforderte. Dieser unterschied sich von den anderen Perspektiven insofern, als dass es hier weniger um das individuelle Erzählen oder Sprechen ging, sondern vielmehr um übergeordnete Erzählungen und Bilder zum gemeinsamen Essen und Kochen. Dabei griff ein narrationsanalytischer Ansatz zu kurz, da bei diesem eher die „soziale Wirklichkeit […], wie sie sich aus der Sicht von Befragten darstellt“ über die Darstellung „konkrete[r] Geschehnisse oder Abläufe“ im Fokus steht (vgl. Kleemann et al. 2009: 65). Vielmehr sollte eine Bedeutungsebene zum Essen und Kochen herausgearbeitet werden, die weniger an die aktuelle Situation der Erzählung oder die erzählenden Personen geknüpft wurde, sondern von den Sprechenden als allgemein gültig gekennzeichnet wurde. Dabei wurden Essen und Kochen in den später dargestellten Figuren narrativ konfiguriert. Das heißt, dass Individuen Typisierungen rund um das Essen und Kochen situativ aufgriffen und diese im interaktiven Austausch stabilisierten (vgl. Linke 2018: 354).9 Somit war vor allem das Begreifen von gemeinsamem Essen und Kochen als Diskurs relevant. Dieser wird hier mit Reiner Keller nach Foucault definiert als „[…] eine Menge von an unterschiedlichen Stellen erscheinenden, verstreuten Aussagen, die nach demselben […] Regelsystem gebildet worden sind, und die Formulierung weiterer Aussagen strukturieren. Sie konstituieren als (sprachliche) Praktiken die Gegenstände, von denen sie handeln.“ (Keller 2008: 46)
Dabei war vor allem die letzte Aussage zur performativen Macht von Diskursen für diese Forschung wichtig. Denn das, was wirkmächtig in Ankündigungen, Rezensionen oder Zeitungsartikeln über den gegenwärtigen Zustand unserer Esskultur und die damit 9
Den Begriff der Konfiguration eines Narrativs, das sich auf kulturellhabituelle Grundlagen stützt und im individuellen wie auch medial vermittelten Sprechen über Essen und Kochen gefestigt wird, ist angelehnt an die Verwendung des Konfigurationsbegriffs in Angelika Linkes historischer Skizze zur raumsemiotischen Nutzung des Esstisches (2018). Linke verwendet den Begriff hier im Sinne von „räumlich bestimmten Formationen, die aufgrund einer synthetisierenden Zusammenschau von ausgewählten Objekten und Körpern aus diesen konstituiert verstanden werden.“ (Ebd. 354).
▶ Kap. 5 Jede/r muss ja essen
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verbundenen Praktiken gesagt wird, beeinflusst auch das Sprechen und Handeln bei kollektiven Mahlzeiten. Das bedeutet, dass die im Folgenden vorgestellten narrativen Figuren nicht nur Inhalt des Sprechens über Essen sind, sondern sich auch in Handlungen, Räumen und Gegenständen rund um das gemeinsame Essen und Kochen wiederfinden und den Modus des sich Versammelns beeinflussen. Das Ziel des diskursanalytischen Vorgehens in der Auswertung war, herauszufinden, wie sich die Werte und Normen, Wahrnehmungen und Erfahrungen gesellschaftlich manifestieren und miteinander verflochten sind und wie die zugrunde liegenden Regelsysteme empirisch rekonstruiert werden können. Die Untersuchung von Narrativen stellte hierbei einen Baustein neben Deutungsmustern oder Klassifikationen dar. „Narrative verbinden [in der wissenssoziologischen Diskursanalyse; d. Verf.] Elemente zu einem konsistenten, erzählbaren und wahrnehmbaren Gebilde als Weltzustände, die über ihre performative Wirkung, das heißt den sprachlichen Vollzug der Erzählung geschaffen werden“ (Kiefl 2014: 438).
▶ Kap. 8.3 Verbindungen
Dabei wirken diese verbindend, auch oder insbesondere dann, wenn sie aus unterschiedlichen Kontexten kommen, indem sie eine gemeinsame Grunderzählung nutzen (vgl. Keller 2008: 252). Die gemeinsame Grunderzählung der in dieser Forschung behandelten Beispiele entspricht den im Verlauf der Arbeit vorgestellten Narrativen. Mit Blick auf ihre diskursanalytische Forschung zum Kulturbegriff wirft Sabine Eggmann die Frage auf, wie gesellschaftlich weit verstreute Diskurse über Selbstverständliches und Alltägliches überhaupt aufgespürt und greifbar gemacht werden können. Sie schlägt eine Annäherung vom Rand bzw. von den „Anstößigkeiten“ her vor, was die eingangs beschriebenen Irritationen im Forschungsverlauf in den Mittelpunkt der Analyse von Essen und Kochen als Narrativ rückt: „Dort wo immer wieder Rechtfertigungen auftauchen, dort wo die gleiche inhaltliche Äußerung immer wieder variiert wird […], dort folgt das (sprachliche) Handeln nicht exakt dem ordnenden Regularium. […] Dort zeigt sich in Form einer Anstößigkeit die Irritation der Ordnung.“ (Eggmann 2013: 62)
Auch wenn in meiner Forschung die Irritation vor allem in der enttäuschten Erwartung der Forscherin an die Konzeption des Feldes
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lag, lässt sich für das Sprechen über Essen und Kochen als kollektive Handlung ebenfalls feststellen, dass die Erzählenden sich hier der bestehenden sozialen und kulturellen Ordnung vergewissern und diese im Sprechen und Handeln gleichzeitig stabilisieren. Gegenstandsverankerte Analyse Das dieser Forschung zugrunde liegende Material erforderte unterschiedliche Herangehensweisen an die Analyse: Während das Sammeln von Zeitungs- und Blogartikeln ein diskursanalytisches Vorgehen erforderte, um eine übergeordnete Bedeutungsebene der Themen Essen und Trinken herauszuarbeiten, folgte der Umgang mit dem restlichen Material eher einem durch die Grounded Theory informierten Forschungsstil, bei dem in einem Oszillieren zwischen deduktivem und abduktivem Kodieren die Spezifika der konkreten Ess-Settings herausgearbeitet wurden (vgl. Strauss/Corbin 2010). Da die Frage nach den Diskursen des Essens und Kochens und deren performativen Macht vor allem die hier vorgestellten narrativen Figuren betrifft, wird das zugrunde gelegte diskursanalytische Verständnis im fünften Kapitel zur narrativen Figuration von Essen und Kochen näher erläutert. Diese Bedeutungsebene des Phänomens kollektiven Essens und Trinkens stellt dabei jedoch auch einen Teil der gegenstandsverankerten Theoriebildung dar, wie Monika Götzö es in ihrem Text zur Grounded Theory beschreibt: „Die Leistung der Forschenden besteht darin, die Bedeutung des Phänomens zu verstehen, indem das Handeln systematisch erhoben und dargestellt wird und umgekehrt aber auch das Handeln zu verstehen, indem die Bedeutung des Phänomens rekonstruiert wird.“ (Götzö 2014: 449)
Die Theoriebildung erfolgt in dieser Arbeit auf zwei Ebenen: Einerseits durch die empirische Ausgestaltung von Formaten aktueller außeralltäglicher Mahlzeiten anhand der Ess-Settings und andererseits in Form eines methodologischen Beitrags zur Erforschung dieser Ess-Settings und der Nutzung von Ess-Settings als Methode. Der Verlauf der Suchbewegung zwischen Handlung, Wahrnehmung und Bedeutungsebene lässt sich anhand der Entwicklung der entwickelten Kategorien nachvollziehen. Bereits zu Beginn der Forschung standen die groben Perspektiven des Sozialen und des Sinnlich-Leiblichen in den Ess-Settings und das Thema Essen fest und wurden um Formatüberlegungen ergänzt, die insbesondere die Dienstbarmachung von Mahlzeiten (vgl. Barlösius 2011: 201ff) und die Nutzung von Essen als und mit Methode geprägt waren. Darüber hinaus wurde der Aspekt des Narra-
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tiven aufgrund der Gleichförmigkeit der Aussagen unter der Kategorie Stereotype zusammengefasst. Nachdem sich u. a. durch die Reflexion des Forschungsmaterials in unterschiedlichen Konstellationen die drei aktuellen Perspektiven herauskristallisiert hatten, gab es eine Reihe von Kodes wie Störung oder Verbindung, die in allen Analyseperspektiven eine Rolle spielten, und darüber hinaus Kodes, die nur in einer der Perspektiven vorkamen. Diese einzelnen Kodes finden sich auch in der Struktur dieser Arbeit wieder, zum Beispiel in den einzelnen Unterkapiteln oder in der Synthese, welche die übergreifenden Aspekte letztlich noch einmal zusammenführt. Gruppenbasierte Reflexion und Analyse Diese Entwicklungen und Ergebnisse sind nur zu einem Teil aus einsamer Arbeit am Schreibtisch entstanden. Zu einem großen Teil sind sie das Ergebnis des Präsentierens meiner Forschung und meines Materials in größeren und kleineren Öffentlichkeiten wie Kongressen, Kolloquien oder Vier-Augen-Gesprächen. Dies zu erwähnen mag auf den ersten Blick banal erscheinen, weil es einer in den Geisteswissenschaften gängigen Praxis entspricht. Allerdings wird meines Erachtens in Forschungspublikationen viel zu selten erwähnt, dass sich Erkenntnisse vor allem auch dabei einstellen, wenn das eigene Wissen für Präsentationen und Vorträge geordnet, präsentiert, diskutiert und getestet wird (vgl. Peters 2011). Diese kollektiven Präsentations- und Reflexionsprozesse ermöglichen eine analytisch notwendige Distanzierung vom eigenen Material und somit eine Multiperspektivität im Analyseprozess und auf das Material. Während dies in universitären Kolloquien und Tagungen vor allem auf Basis einer als wissenschaftlich gekennzeichneten Theorie- und Methodologieebene geschieht, legen die bereits erwähnten Supervisionsgruppen einen stärkeren Fokus auf assoziatives Arbeiten. Jochen Bonz und Katharina Eisch-Angus bezeichnen die „Haltung, die dem Material gegenüber eingenommen wird“ als „nicht einordnend und wertend, sondern so offen, dass auch die eigenen Gefühle und Einfälle, die dem Material entgegen gebracht werden, zum Vorschein kommen können“ (2017: 38). Hierbei geht es vor allem darum, zu erkunden, in welchen emotionalen Zustand das Material die Lesenden versetzt. Das Konzept dieser Kommunikation ist das des freien Assoziierens und knüpft damit an die Psychoanalyse an, aus der sich diese Form der Gruppenarbeit entwickelt hat. Dabei zitiert Jochen Bonz die psychoanalytisch ausgebildete Ethnologin Maya Nadig, die die Feldforschungs- und Deutungssituation in der Gruppe als analog zueinander beschreibt:
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„Man kommt in ein Feld und guckt, was bei einem passiert, welche Emotionen das Material auslöst. Hierzu versuchen sich die Beteiligten für das zu öffnen, was latent, unausgesprochen, im Text enthalten ist und sich abspielt. Man sammelt die verschiedenen Assoziationen, Gefühle, Eindrücke. Und indem die Gruppe das tut und nicht kognitiv einspringt, entsteht ein gemeinsamer Erlebens- oder Erfahrungsraum zum Text. Im Gespräch kann sich der Zusammenhang erschließen zwischen dem Sachmaterial und den emotionalen Elementen; man könnte sagen, dass eine Brücke zwischen ihnen entsteht.“ (Ebd. aus einem unveröffentlichten Gespräch mit Maya Nadig)
In diesem Zusammenhang wird deutlich, dass die Gruppe die Grundlage dieser Arbeitsform ist, welche nach Brigitte Becker et al. vor allem in der Multiperspektivität liegt. Allerdings summieren sich in dieser Gruppenarbeit nicht einfach nur die Expertisen der anwesenden Wissenschaftler*innen, sondern erzeugen in der gemeinsamen assoziativen Arbeit einen Mehrwert, der darüber hinausgeht. Dieser ist auch gerade darin begründet, dass Dinge verbalisiert werden, die im akademischen Alltag eher nicht verbalisiert werden können (vgl. Becker et al. 2017: 71f). Allerdings geht es in der Gruppenarbeit um mehr als nur ein anderes Sprechen, Arbeiten und Reflektieren jenseits wissenschaftlicher Konventionen. Vielmehr liegt der Gewinn, der auch für mich in dieser Forschung zentral war, im Greifbarmachen von latenten und unbewussten Gehalten der im Feld gemachten Erfahrungen, denen in der Gruppenarbeit zur Artikulation verholfen wird.10 Dies geschieht, indem Irritationen der Forschenden sowie insbesondere auch der Gruppenmitglieder beim Lesen des Materials als Ausgangspunkt für Deutungen und Assoziationen genommen werden, was sich in dieser Arbeit als Ansatz an den Stellen wiederfindet, an denen es um das Greifbarmachen von schwer verbalisierbaren Aspekten wie sinnlich-leibliche Wahrnehmungen oder Routinen im Sinne von impliziten Wissensbeständen geht.11 Auch über diese Parallele im Umgang mit Irritationen hinaus spielte die Gruppenarbeit in der Bremer Supervisionsgruppe für die vorliegende Forschung eine wichtige Rolle, weshalb ich anhand von Beispielen auf konkrete Analyseprozesse eingehen möchte.
10 Diese von Jochen Bonz verfasste Definition der Gruppenarbeit stammt aus einer internen Handreichung für die Gruppenmitglieder (Bonz 2021). 11 Dieses Vorgehen in der ethnographischen Gruppensupervision entstammt dem psychoanalytischen Ansatz von Übertragung und Gegenübertragung, der von Georges Devereux für die Arbeit in der Ethnographie weiterentwickelt wurde (Devereux 1998).
▶ Kap. 6.5 Zwischen Anspannung und Entspannung
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Die Gruppensitzungen mit etwa zehn Teilnehmenden fanden in regelmäßigen Abständen in einem nicht-universitären Raum in Bremen unter der Leitung von Jochen Bonz statt. Ein oder zwei Personen aus diesem festen Personenkreis verschickten vorab zu analysierendes Material an die Gruppe. Dies waren Feldnotizen, Interviewtranskripte oder auch freiere Formen wie zum Beispiel die mündliche Schilderung einer Situation oder, in meinem Fall, die Transkription der Tischdecken des vierten Taktsinn-Dinners. Nachdem sich die Gruppe vor Ort in einem Stuhlkreis eingefunden hatte, gab die materialgebende Person eine kurze Einführung zu ihrem Material und erwähnte dabei die Dinge, die ihr/ihm relevant schienen. Nach dieser Einführung zog sich die materialgebende Person in eine Rolle als Zuhörer*in zurück und notierte die Aspekte, die ihr/ihm wichtig erschienen. Die übrigen Personen tauschten sich danach etwa eine Stunde lang zu und über dieses Material aus und sprachen dabei die materialgebende Person nicht direkt an, sondern thematisierten die Forscher*in in der dritten Person. Wenn von mir in die Gruppe eingebrachtes Material behandelt wurde, notierte ich die Gespräche der Teilnehmenden und ergänzte mit diesen transkribierten Texten das bestehende Material. Durch diese Erweiterung des ursprünglichen Materials war die Arbeit in der Supervisionsgruppe bzw. das, was ich jeweils daraus mitgenommen hatte, stets präsent in der Analyse. Deshalb entschied ich mich dazu, besonders eindrückliche Beispiele dafür, wie die Gruppe zum besseren Verständnis des Materials beigetragen hatte, in dieser Arbeit zu kennzeichnen und somit diesen Prozess des Reflektierens und Interpretierens als einen kollektiven Prozess zu verdeutlichen. Wie genau die Gruppenarbeit mit meinem Material ablief und welche Erkenntnisse ich daraus gezogen habe, möchte ich im Folgenden anhand eines Beispiels verdeutlichen: Hierbei hatte ich Auszüge aus meiner Feldnotiz zum vierten Über-den-Tellerrand-Abend in eine Gruppensitzung eingebracht. In dieser beschreibe ich u. a. einen langwierigen Lebensmitteleinkauf mit Makar (dem Rezeptgeber), der den Zeitplan ins Wanken gebracht hatte. Danach beschreibe ich die Abläufe des Abends und die Aufgaben, die ich dabei übernommen habe. Die Feldnotiz schließt mit dem gemeinsamen Shisha-Rauchen in kleiner Runde. Die Gruppe stieg in das Gespräch ein, indem sie den sachlichen und protokollierenden Stil der Feldnotiz feststellte und diesen direkt mit der Sprache einer zu einem früheren Zeitpunkt zum Olympia Gastmahl eingebrachten Feldnotiz kontrastierte. Daraufhin kam die Gruppe auf meine Anspannung zu sprechen, „die von vorne bis hinten im Text steckt“. Einzelne Gruppenmitglieder gaben an, sich derzeit sehr müde zu fühlen. Es entstand somit eine Gegenübertra-
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gungsreaktion, die mich nicht überraschte, da ich wusste, wie präsent diese Anspannung in sämtlichen Feldnotizen war. Dennoch verspürte ich Betroffenheit über diese Betonung der Anstrengung, da das Über-den-Tellerrand-Konzept für mich und alle Beteiligten etwas anderes intendierte, nämlich Leichtigkeit, Freude und Begegnung zu ermöglichen. Daraufhin entwickelte sich in diesem Setting ein Gespräch über Fremdheit und Flüchtigkeit anhand von verschiedenen Situationen und Dingen: einem Armband, das nur an diesem Abend als Gefallen getragen wurde; einer Diskussion darüber, wie Beziehungen über die Abende hinaus ermöglicht werden können; einer Verständigung über bestimmte fehlende Gewürze, ohne dass diese mit Wörtern bezeichnet werden können. Die Gruppe nahm mich in diesem Setting als eine Akteurin wahr, die dieser Flüchtigkeit mit ihrer eigenen Präsenz und ihrem Handeln entgegentrat, und zog einen Vergleich zu Marina Abramovićs Performance-Kunstwerk „The Artist is present“12, bei dem die Künstlerin drei Tage lang an einem Tisch saß und Besucher*innen, die ihr gegenüber Platz nahmen, in die Augen blickte. Jemand sagte: „Inga spürt den Fehler im Konzept, wenn keine Beziehung stattfindet und nichts bleibt.“ In dieser Beschreibung der Gruppenarbeit wurde deutlich, dass die stattgefundene Gegenübertragung nicht einfach für sich interpretiert, sondern mit dem Aspekt der Fremdheit und Flüchtigkeit verknüpft worden war. Die von mir und den Gruppenmitgliedern wahrgenommene Anstrengung konnte somit nicht nur als Ergebnis eines herausfordernden Forschungsdesigns interpretiert werden, sondern auch als Indikator für den Grad an Fremdheit und das Bestehen von nachhaltigen Beziehungen, was mich überhaupt dazu gebracht hat, die Beziehungen und Verbindungen in den Settings viel stärker in den Blick zu nehmen.
2.2
EIN ABEND, EIN FELD? FELDKONSTRUKTION UND MATERIAL
Das hier zugrunde gelegte Verständnis von Ethnographie als Perspektive, Experiment und Grenzgang bringt auch ein besonderes Verständnis des Forschungsfeldes mit sich. Denn im Mittelpunkt dieser Forschung stehen unterschiedliche, häufig einmalig stattfindende Veranstaltungen, die nicht in einem systematischen Zusammenhang über die Tatsache hinaus stehen, dass sie alle unter der 12 Vgl. https://www.moma.org/learn/moma_learning/marina-abramovicmarina-abramovic-the-artist-is-present-2010/ (letzter Abruf: 10.01. 2021).
▶ Kap. 6.5 Zwischen Anspannung und Entspannung
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▶ Kap. 7.5 EssSettings als liminale Situationen/Raum und Zeit des Versammelns
hier vorgestellten Definition als Ess-Setting gelten (vgl. Welz 2013). Insofern kann diese Arbeit, mit Einschränkungen, als multisited Ethnography verstanden werden, indem die Forschende vorab definierten Settings folgte, was eher einem „follow the plot“ als klassischerweise einem „follow the people“ entspricht (vgl. Marcus 1995). Hierbei wird jedes Setting als eigenes Feld mit eigenen zeitlichen, räumlichen, diskursiven und sozialen Bedingungen verstanden und durch die Forschungsfrage verbunden. In diesem Verständnis sind ethnographische Forschungsfelder Manifestationen „des Untersuchungsgegenstandes in Personen, Gruppen, Orten, Diskursen und Gegenständen“ (Cohn 2014: 75), die im Rahmen einer Forschung als Feld in Relation zur forschenden Person konstruiert und damit erst hergestellt werden. Zwar bestehen die untersuchten Phänomene, wie in diesem Fall die Ess-Settings, auch ohne deren Beforschung, aber das Feld „als Gegenstand von Erkenntnisinteresse und wissenschaftlich informierter Reflexion gibt es [sie] eben nur durch das spezifische Zusammenwirken von Forschenden und Forschungsgegenstand“ (Mohr/Vetter 2014: 104). Das seit Langem hinterfragte Feldforschungsideal langer stationärer Forschungen in einem geographisch abgrenzbaren Feld greift hierbei ohnehin nicht, da es in der vorliegenden Forschung weniger um Einblicke in alltägliche Lebensvollzüge, sondern vielmehr um außeralltägliche Situationen geht. Dies ist auch der Grund, warum die einzelnen Felder als Settings bezeichnet werden. Der Begriff „Setting“ betont im Sinne des englischen Verbs „to set“ den Aspekt der Herstellung von und Handlung in einer vorgefundenen Situation. Die hier beschriebene Feldkonstruktion vieler zeitlich begrenzter Einzelfelder soll jedoch nicht als grundsätzliche Kritik an einer längeren, stationären Feldforschung missverstanden werden, sondern vielmehr als Plädoyer für eine durch die Forschungsgegenstände geleitete Definition des Feldes. Denn in den seriell angelegten Settings (Universität der Nachbarschaften-Restaurant, Über den Tellerrand) ergaben sich durch den längeren Beobachtungszeitraum durchaus Vorteile. Bei dieser seriellen Vorgehensweise liegt auch ein besonderes analytisches Potential darin, dass Forschende immer wieder neu in ein Feld ein- und auch auftauchen können und hierbei zum Beispiel Vergleiche möglich werden und Parameter im Hinblick auf ein experimentelles Vorgehen auf der Basis von Erfahrungswissen verändert werden können. Aus diesem Vorgehen ergibt sich ein spezifisches ethnographisches Material, das in dieser Arbeit einerseits als Ausgangspunkt für Analysen eingesetzt wurde und andererseits als Illustration für bestehende Konzepte der sinnlichen Ethnographie bzw. Nahrungsforschung auf einer empirischen Basis diente. Dieses Material setzt
2.2 Ein Abend, ein Feld? Feldkonstruktionen und Material | 49
sich vorwiegend aus eigenen Feldnotizen zusammen, die im Anschluss an den Besuch der Settings verfasst wurden. In die Dokumentation der eigenen Taktsinn-Dinner sowie der Über-den-Tellerrand-Abende flossen auch niedergeschriebene organisatorische Überlegungen und Reflexionen ein. Die Transkriptionen der in den Taktsinn-Diskussionen durchgeführten Gruppengespräche stellten darüber hinaus einen zentralen Materialtypus für die Forschungsanalyse dar. In einigen Taktsinn-Settings notierten die Teilnehmenden zudem Einfälle, Hinweise und Kritik auf extra für Notizen zur Verfügung gestellte Tischdecken. Aufgrund der enormen Größe dieser Tischdecken und um einen leichteren Zugriff auf diese Kommentare zu ermöglichen wurden die hinterlassenen Texte ebenso transkribiert wie die aufgezeichneten Abschlussrunden und direkt kategorisiert mittels verschiedener Bezeichnungen wie „Kommentar“, „Geschmacksbeschreibung“ oder „Kritzelei“. Darüber hinaus entstanden je nach Setting Fotos in unterschiedlichem Umfang und von unterschiedlicher Qualität, da insbesondere während der gemeinsamen Zubereitung von Speisen nicht immer die Gelegenheit und Zeit zum Fotografieren gegeben war. Zudem verfügen einige der besuchten Settings teilweise über umfangreiche Dokumentationen (UdN-Restaurant) oder aufschlussreiche Pressemitteilungen und Ankündigungstexte. Zusätzlich zu diesen selbst verfassten bzw. recherchierten Materialien entstand ein Fundus an Zeitungsartikeln, Food-Blog-Beiträgen und anderen Texten zum Thema Essen und Kochen mit unterschiedlicher Nähe zum Forschungsgegenstand. Jede/r konnte und wollte etwas zum Thema Essen und Kochen und somit zu meiner Forschung beitragen und so entstand eine Dokumentensammlung, deren Systematik nicht nur von mir selbst bestimmt wurde. Dabei fiel insbesondere in den Zeitungsartikeln auf, dass sich vor allem Kulturwissenschaftler*innen bzw. kulturwissenschaftlich inspirierte Autor*innen mit dem Thema Essen und Kochen als Praxis und Setting beschäftigen oder in der Tagespresse meist Expert*innen aus den Kultur- oder auch Ernährungswissenschaften hinzugezogen werden, um Thesen rund um die hier angeführten narrativen Figuren zu kommentieren. Dies ist mit Blick auf die in diesem Kapitel behandelten Strategien, Essen und Kochen als etwas kulturell und kulturübergreifend Relevantes darzustellen, erst einmal nicht weiter verwunderlich. Allerdings hat dieser relativ homogene Hintergrund der Kommentierenden Auswirkungen auf die Aussagen dieser Autor*innen und die Einordnung dieser Aussagen in den Kontext meiner Analysearbeit. So lässt sich hier nicht eindeutig zwischen Alltags- und wissenschaftlichem Wissen unterscheiden wenn beispielsweise kulturgeschichtliche Details über den
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▶ Kap. 5 Jede/r muss ja essen
Esstisch Teil der Marketingstrategie von Möbelhändlern sind (moebeldeal.com) oder die Rolle der Mahlzeit in Gegenwart und Vergangenheit mit soziologischem Wissen hergeleitet wird (vgl. Hauschild 2013). Die angesprochenen Ankündigungstexte waren nicht nur Einladungen zu Settings, die ich selbst besucht habe, sondern auch zu speziellen Restaurantformaten wie Supper Clubs, die nur bedingt unter die hier zu Grunde gelegte Definition des Ess-Settings fallen. Sie unterschieden sich meist insofern, als dass es keine klare Fragestellung für die konkrete Situation gab. Allerdings waren sie Teil des Diskurses, in den die Ess-Settings eingebettet waren, und wurden daher in die Analyse miteinbezogen. Letztlich waren es sogar insbesondere diese Dokumente zu „Supper Clubs“ und angesagten Restaurantformaten, die einen großen Fundus an Vorstellungen zum Essen heute und den damit verbundenen Entwicklungen und Trends präsentierten. In diesen Dokumenten werden u. a. bekannte und kulturell verankerte Vorstellungen von Essen und Kochen mit neueren, im Entstehen begriffenen Formaten abgeglichen und somit zu einem fruchtbaren Diskursfeld. Dabei ergibt sich die Logik dieser Materialsammlung nicht zwingend aus den zugrunde liegenden Situationstypen, sondern vor allem aus der Verbindung der dargestellten Settings über die nachfolgend vorgestellten narrativen Figuren. In diesen diskursiven Dokumenten wird deutlich, dass sie sich oft weniger auf Details beziehen und vor allem übergreifende Erzählmuster wiedergeben. Durch das beiläufige aber sukzessive Sichten dieses Materials drängte sich die Perspektive auf die narrativen Figuren nahezu in die Forschung. Aus diesem Grund wurde diese Textsammlung zu einem späteren Zeitpunkt der Datenerhebung von mir systematisiert. Da es mir hierbei vor allem um populäre, überregionale Quellen wie Blogs, Tageszeitschriften, Magazine oder Newsletter ging, handelt es sich bei dem zugrunde liegenden Material zu einem großen Teil um digitale bzw. digital verfügbare Texte. In dieser großen Bandbreite des Materials und der auf den ersten Blick eklektizistisch erscheinenden Zusammenstellung spiegelt sich die Komplexität des Forschungsfeldes um das Thema Essen und Kochen wider, die im folgenden Kapitel vorerst aus der theoretisch-konzeptuellen Perspektive näher vorgestellt werden soll, bevor danach auf die drei angesprochenen Analyseperspektiven der empirischen Forschung eingegangen wird.
2.3 Sinnlich-ethnographische Nahrungsforschung | 51
2.3
SINNLICH-INFORMIERTE, ETHNOGRAPHISCHE NAHRUNGSFORSCHUNG: EINE SUCHE
In der Forschung haben sich unter der vorab erläuterten Fragestellung und ethnographischen Methodologie zwei konzeptuelle Grundlagen herausgebildet, die bei der Analyse des erhobenen Materials maßgeblich waren. Hierbei handelt es sich erstens um das Forschungsfeld der Nahrungsforschung, welches sich über nahezu alle wissenschaftlichen Disziplinen erstreckt, was jedoch nicht bedeutet, dass hier auch konsequent interdisziplinär gearbeitet wird. Zweitens findet ein Forschungsparadigma in dieser Arbeit Anwendung, welches nach der Rolle der leiblich-sinnlichen Wahrnehmung in Alltag und Forschung fragt. Obwohl eine Verbindung der Felder Sinne und Essen vermeintlich nahe liegt, findet man in der (kulturanthropologischen) Forschung kaum Arbeiten, die diese Bereiche konsequent als sich ergänzend betrachten. So wird die Rolle der sinnlich-leiblichen Wahrnehmung in Alltag und Wissenschaft zwar in Einführungswerken zum Thema problematisiert, doch auch hier werden Essen und Trinken meist nur dann näher betrachtet, wenn explizit der Geschmackssinn im Fokus steht (vgl. Korsmeyer 2007). Dass Forschungsfeld und -gegenstand maßgeblich dafür sind, ob und welche Sinne in die Forschung einbezogen werden, zeigt sich insbesondere an Kongressbänden, die „das Sinnliche“ anhand konkreter Forschungsprojekte zum Thema machen (vgl. Braun et al. 2017). Essen und Geschmackswahrnehmung werden hier vor allem dann thematisiert, wenn sie auch die Forschungsfrage betreffen, und weniger als Teil einer umfassenden sinnlich-leiblichen Erfahrung des Forschungssettings, die der gesamten Forschung zugrunde liegt. Genau dieser Ansatz, der Leib und Körper als zentrale Komponente alltäglicher und somit auch wissenschaftlicher Erfahrung begreift, ist ein wichtiger Teil des vorliegenden Forschungssettings. In Arbeiten, die sich auf Wahrnehmung, Körper bzw. Verkörperung fokussieren, gehen Geschmack und Geruch häufig als weniger erkenntnisstiftende Sinne im Großen und Ganzen unter – trotz gegenteilig lautender Forderungen (vgl. Göbel/Prinz 2015, Gugutzer 2017, Ingold 2011, Pink 2013). Die vernachlässigte empirische Betrachtung der Sinne im Bereich der Nahrungsforschung erscheint auch vor dem Hintergrund befremdlich, dass insbesondere die Wahrnehmung von Geschmack nicht ohne die wahrzunehmenden Speisen und Getränke denkbar ist, wie Eva Barlösius in ihrer kanonischen Einführung in die Sozi-
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ologie des Essens konstatiert (2011). Allerdings geht auch ihr kurzes Kapitel zur leiblich-sinnlichen Dimension des Schmeckens und Riechens kaum über die basale Einordnung dieser Sinne in ein hierarchisches Modell hinaus. Leib und Körper tauchen hier wie auch in vielen weiteren Grundlagenwerken zum Thema Essen vor allem in Form einer Natur-Kultur-Dichotomie auf, in der grob zwischen dem Essen-müssen und dem Auch-Essen, also dem physiologischen Vorgang und der soziokulturellen Dimension unterschieden wird. Auch die von Dorothee Kimmich und Schamma Schahadat herausgegebene Ausgabe der Zeitschrift für Kulturwissenschaften zum Thema Essen (2012) bringt lediglich Harald Lemkes an metaphysischen Aspekten interessierten Beitrag zum einverleibten Anderen (2012) in die leibliche Perspektive ein. Mir stellte sich in dieser Forschung schnell die Frage nach den Gründen dafür, dass Wahrnehmung(en) in ethnographischen Forschungen (zum Thema Essen) nach wie vor eine untergeordnete Rolle spielen. Der Ausgangspunkt für dieses Zurücktreten und Hinterfragen lag ebenfalls in einem Moment leiblicher Irritation, der durch die kritische Kommentierung einer früheren Version dieses Kapitels im begleitenden Forschungskolloquium offenbart wurde. Die Kolloquiumsteilnehmenden lasen aus meinem vorläufigen Text einen starken Ärger über die identifizierte Forschungslücke und die Inkonsequenz im Verfolgen leiblich-sinnlicher Ansätze heraus, die jedoch von mir bisher nicht analytisch nutzbar gemacht worden war. In der Tat war die Verwunderung und auch der Ärger über das Fehlen leiblich-sinnlicher Perspektiven insbesondere auf einer empirischen Basis eine treibende Kraft, in meiner Forschung eben nicht nur das zweifellos fundierte und zentrale Wissen der kulturwissenschaftlichen Nahrungsforschung zu reproduzieren. Vielmehr verfolgte ich die Idee, Grundannahmen in der empirisch-ethnographischen Praxis auf die Probe zu stellen und dabei durch die leibliche Perspektive anderes Wissen über das Essen als Narrativ, Praxis und Zeichen zu erzeugen. Die Notwendigkeit eines Neu-Denkens und Neu-Machens von Ethnographie sieht auch Jochen Bonz in seinen Ausführungen zu „Acid House als Grenze des praxeologischen Kulturverständnisses“ (Bonz 2014: 233). Er versteht „das Sinnliche“ sowohl als methodologische als auch inhaltliche Ergänzung volkskundlich-ethnologischer Forschungen. Darüber hinaus stellt für ihn dieser „sensual turn“ ein Symptom dafür dar, dass es einen „Wandel in der Konfiguration des Kulturellen“ gibt, der eine methodologische und begriffliche Weiterentwicklung notwendig macht (ebd.). Bonz stellt in diesem Zusammenhang das lange Zeit gültige Paradigma von „Kultur als Text“ der sensuellen Ethnographie in ihren Erkenntnis-
2.3 Sinnlich-ethnographische Nahrungsforschung | 53
modi gegenüber: Einerseits der des Lesens (von Kodes) und andererseits der des Spürens, welche jeweils unterschiedliche begriffliche Werkzeuge zur Beschreibung und Analyse des Kulturellen erfordern (ebd.: 234f). Diese Werkzeuge sind nach wie vor für Praktiken wie das (Er-)Spüren in der Erhebungsphase oder auch das Assoziieren in der Auswertung und Präsentation von Erkenntnissen nicht ausreichend beschrieben, so dass sich sensuelle Ethnographien beim Erproben dieser Verfahrenhäufig mit dem Verdacht der Unwissenschaftlichkeit oder einem zu starken Bezug auf und übermäßige Reflexion des forschenden Selbst auseinandersetzen müssen (vgl. Bonz/Eisch-Angus 2017, Becker et al. 2017). Bei dieser Verhandlung von Wissenschaftlichkeit bzw. Relevanz scheint Genuss eine wichtige Rolle zu spielen. So erscheinen gerade schwer intersubjektiv über Sprache vermittelbare Phänomene wie das Essen oder auch Musikphänomene wie Acid House (vgl. Bonz 2014) vor allem unter dem Gesichtspunkt suspekt, dass die Forschenden während des Verständnisses solcher Phänomene Lust und Spaß daran haben (müssen). Insgesamt kristallisiert sich hier heraus, dass in nahezu allen Texten und Studien zur Rolle des Sinnlich-Leiblichen in der kulturwissenschaftlichen Forschung dieses Vorhaben mit einer Revision ethnographischer Methodologien verbunden wird, da das bloße Sich-dem-Feld-Aussetzen nicht zwingend auch zu sinnlich-informierten Ethnographien geführt hat (vgl. Arantes/Rieger 2014, Bonz 2014, Kubes 2018, Schmidt-Lauber 2003). Aus der vorangehenden Kritik und im weiteren Verlauf dieser Arbeit wird deutlich, dass der in allen Modi wahrnehmende Leib/körper der Forschenden Dreh- und Angelpunkt für die Erforschung von Phänomenen und Praktiken ist, insbesondere derer, die sich sprachlich schwer vermitteln und verhandeln lassen und somit schwer greifbar sind. In der Forschungspraxis bedeutet dies konkret, dass auch nicht so stark für die Beobachtung geschulten Sinne wie der Gehör-, Tast- oder Geruchssinn einbezogen und insgesamt auch Vages und Assoziatives zugelassen werden. Dies ist zum einen herausfordernd für die Forschenden, da es immer wieder ein Betonen der in Alltag und Forschung weniger verwendeten Sinnesmodi sowie eine kritische Auseinandersetzung mit dem Selbst erfordert, wie auch aus meinen Feldnotizen ersichtlich ist. Zum anderen muss eine solche Forschungsweise immer auch darauf bedacht sein, Selbstreflexivität nicht als bloße Nabelschau misszuverstehen, sondern eigene Wahrnehmungen und Gedanken immer in ihrem soziokulturellen und situativen Kontext zu sehen (vgl. Becker et al. 2017: 76ff). Diese Gratwanderung und Anstrengung der Perspektivverschiebung können als ein weiterer Hindernisgrund dafür gesehen
▶ Kap. 6.5 Zwischen Anspannung und Entspannung
54 | Essen mit und als Methode
werden, warum Sinnesdaten nicht wie gefordert konsequent miterhoben und eingebunden werden. Die Rückkopplung des Subjektiven mit den Wahrnehmungen und Stimmen aller Beteiligten ist ein wichtiger Aspekt dabei, trotzdem eine polyphone Darstellung des Feldes zu ermöglichen und dabei dessen Komplexität und Heterogenität gerecht zu werden. In Bezug auf die heterogene Verbindung und Darstellung von leiblich-sinnlichen Aspekten mit dem Thema Essen ist Nicolaj van der Meulen, Jörg Wiesel und Anneli Käsmayr in ihrem Band „Culinary Turn“ (2017) ein interessantes Experiment gelungen. Die Herausgebenden präsentieren unterschiedliche Text- und Bildformate zu einer ästhetischen Praxis des Essens und insbesondere Kochens und belassen die Heterogenität des von ihnen betrachteten Feldes von Diskursen und Praktiken, ohne sie allzu sehr einzuschränken. Mit Kapitelüberschriften wie „Discourse“ oder „Perception“ entscheiden die Herausgebenden sich für ähnliche Kategorisierungen und Perspektiven wie in dieser Arbeit. Zudem binden sie Praktiker*innen ein, die sehr dezidiert Auskunft über ihre ästhetische wie auch sensuelle Praxis geben, und schreiben dabei insbesondere Lebensmitteln eine zentrale Rolle zu. Allerdings verhindert diese heterogene Auffächerung in die verschiedenen Kapitel und Perspektiven auch wieder eine synthetisierende Betrachtung des Phänomens, was nicht in einer Einleitung geleistet werden kann. Aus diesem Grund wird in dieser Arbeit der getrennten Betrachtung einzelner Aspekte wie Narrative, Wahrnehmung und gesellschaftliche Dimensionen ein synthetisierendes Kapitel zur Seite gestellt, das die übergreifenden Aspekte des Alltagsphänomens Essen in diversen Ess-Settings aufzeigt. Einen alternativen Weg zur getrennten Betrachtung von sozialen, kulturellen und leiblich-sinnlichen Aspekten des Essens wählen auch Carole Counihan und Susanne Højlund in ihrem Sammelband „Making Taste Public“ (2018). Anhand ethnographischer Fallbeispiele zieht sich Geschmack als sinnliche Perspektive auf das Soziale durch alle Beiträge. „Instead of seeing our senses as passive receptors, impacted or shaped by culture, we turn the perspective around and ask how we use our senses to bring taste from a private experience to be part of the public. We define ‚the public‘ as the social space between people and food, a space where taste becomes accessible for others to engage and possibly to share.“ (Counihan/Højlund 2018a: 1)
In der Betonung ethnographisch-methodologischer Fragen fügen die beiden Autorinnen der überwiegend sozialwissenschaftlichen bzw. philosophischen Argumentation der vielen Grundlagenwerke
2.3 Sinnlich-ethnographische Nahrungsforschung | 55
zum Thema Essen eine wichtige Dimension hinzu, indem sie diese Argumentation in die Forschungspraxis umsetzen. Die empirischpraktische Perspektive ist bisher vor allem in ethnologischen Arbeiten zu finden, die außereuropäische, nicht-westliche Phänomene der Nahrungsaufnahme und -zubereitung untersuchen (vgl. Panenka 2014, Laderman 1994). Diese werden häufig in Arbeiten zur sinnlichen Wahrnehmung herangezogen, um westlich-kodierte sensorische Systeme infrage zu stellen und zu relativieren (vgl. Howes 2005: 11, Beer 2014: 153). Meistens werden dabei die Praxis des Essens bzw. Nahrungsmittel und deren Herstellung sowie Zubereitung überwiegend in ihrem Zeichencharakter als Indikatoren für gesellschaftliche Diskurse thematisiert. Als prominente Beispiele seien hier die Arbeiten von Claude Lévi-Strauss (1976) oder Mary Douglas (1972, hier 2008) genannt. Zudem betrachtet Pierre Bourdieu Geschmack in seinem doppelten Sinne als Distinktionsmerkmal (Bourdieu 1982). Insbesondere das Habitus-Konzept Bourdieus eigenet sich dazu, leiblichsinnliche Perspektiven mit den gesellschaftlichen Dimensionen zu verbinden. Im Zuge einer andauernden Debatte um die Erweiterung der (ethnographischen) Forschungsperspektive um nicht-menschliche Akteure (vgl. Fenske 2018, Mol 2007, Göbel/Prinz 2015) stellt sich auch für die Praxis der Nahrungsaufnahme und -zubereitung die Frage nach der Materialität von Kultur sowie der Handlungsmacht von Dingen beispielsweise in der Wirkung und Erzeugung von Atmosphären beim Essen und Kochen. Wie Sophia Prinz und Hanna Göbel allerdings feststellen, fehlt es für die genauere Erforschung dieser Zusammenhänge nach wie vor an methodologischen und theoretischen Instrumentarien. In dieser Arbeit spielen Dinge und Materialitäten deshalb eine wichtige Rolle, weil in als sinnlich-leiblich identifizierten Prozessen die Wahrnehmung (menschlicher Akteur*innen) und das Wahrgenommene (Dinge) nur als Zusammenhang epistemologisch nutzbar gemacht werden können. Dies ist zum Beispiel dann der Fall, wenn Erinnerungen sowohl als sinnlichleiblicher Vorgang als auch als Qualität gedeutet werden, die Dingen anhaften bzw. Akteur*innen und Aktant*innen verbinden. Ähnliche Fragen stellen sich in diesem Zusammenhang Wissenschaftler*innnen rund um die Philosophin und STS-Wissenschaftlerin Annemarie Mol im Eatingbodies-Netzwerk13, wenn sie beispielsweise die Einverleibung eines Apfels (Mol 2008) oder das „doing“ von Omega-3-Fettsäuren (Abrahamsson et al. 2015) näher betrachten. 13 https://erc.europa.eu/projects-figures/stories/what-eating (letzter Abruf: 10.01.2021)
▶ Kapitel 3.2 Konzepte sinnlichleiblicher Wahrnehmung/Sozialer SinnHabitus
▶ Kap. 6.4 Leib Performanz und Raum in den Atmosphären der Ess-Settings ▶ Kap. 6.3 Früher waren die Pfirsiche aromatischer
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Eine der wenigen Wissenschaftler*innen, die die Beschäftigung mit Sinnlichkeit und Materialitäten systematisch verfolgt hat, ist die Kulturanthropologin Nadia Seremetakis. Bereits im Jahr 1994 lokalisierte sie Wahrnehmung nicht nur innerhalb der Körpergrenzen, sondern bezog in den Prozess der Wahrnehmung auch materielle Objekte ein (Seremetakis 1994: 6). Der Sozialanthropologe David E. Sutton sprach sich darauf aufbauend für eine verbindende Forschungsperspektive zu Essen und Sinnlichkeit aus. Er forderte im Zuge dessen ein synästhetisches Sinneskonzept, das die Verbindung zwischen leiblicher Wahrnehmung und Wahrgenommenem in den Fokus stellt, denn „tastes are not separable from the objects being tasted“ (Sutton 2010: 218). Dabei begreift er das Konzept der Synästhesie weniger als ein theoretisches Anliegen, sondern vielmehr als eine sozial erworbene Fertigkeit, in der Essen einen Träger dieser synästhetischen Praxis darstellt (ebd.). Daraus folgt auch, dass eine Theorie des Leibes und der Sinne eben nicht ausreicht, um betreffende Fragen zu beantworten, auch der Einbezug von Materialität in die empirische Forschung spielt eine zentrale Rolle. Angelehnt an den durch Stephen Feld geprägten Begriff „acoustemology“ (Feld 2000) schlägt Sutton den Begriff „gustemology“ für Ansätze vor, die sich kulturwissenschaftlich mit Geschmack und weiteren sinnlich-leiblichen Aspekten von Nahrung beschäftigen (Sutton 2010: 212ff). Für ihn stellt die Erforschung des Themenfeldes Essen mit einem Fokus auf sinnliche Wahrnehmung ein hervorragendes Fenster zum Verständnis des alltäglichen Lebens dar, da hier alltagsweltlich geltende und sozial ausgehandelte Dualismen und Grenzsetzungen analysierbar werden, etwa zwischen innen und außen, privat und öffentlich, Individuum und Kollektiv (ebd.: 209).
3 Theoretisch-konzeptuelle Grundlagen
PARADIGMEN, BEGRIFFE UND DISKURSE Nachdem im vorangegangenen Kapitel die Grundlagen und Lücken einer sinnlich-informierten, ethnographischen Nahrungsforschung vorgestellt und diskutiert wurden, sollen hier noch einmal wichtige leibtheoretische Konzepte sowie grundlegende Begriffe aus der Nahrungsforschung thematisiert werden. Aus Gründen der Anschaulichkeit werden diese vorerst noch getrennt behandelt. Dieses Kapitel dient dabei den Analysekapiteln im zweiten Teil der Arbeit wie auch der gesamten Arbeit als Referenz und Grundlage, was u.a. durch die verschiedenen Querverweise nutzbar gemacht wird. Aus diesen beiden Feldern leiten sich Arbeitsbegriffe für die vorgestel lte Forschung ab, die am Ende des jeweiligen Abschnitts vorgestellt werden. Die Beschäftigung mit dem Thema Nahrung und Nahrungsaufnahme ist seit Jahren, wenn nicht sogar Jahrzehnten, gleichbleibend groß. Dies trifft sowohl für populäre als auch wissenschaftliche Kontexte zu und zeigt sich in der Wissenschaft u. a. daran, dass in den letzten Jahren immer wieder neue Wege gefunden wurden, um Beiträge zum Thema zu bündeln.14 Insgesamt tragen die wissenschaftlichen Publikationen in diesem Bereich auch der Tatsache Rechnung, dass Themen wie Ernährung, Kochen und Selbstversorgung, insbesondere verbunden mit der Frage nach einem guten, nachhaltigen Leben, auch im Alltag Konjunktur haben (vgl. Ege/Moser 2020, Reckwitz 2018). Dabei sind insbesondere Food
14 So wurde beispielsweise im Jahr 2009 in Österreich die Zeitschrift „Epikur“ neu gegründet. Auch weiterhin erscheinen insbesondere in der englischsprachigen Kultur- und Sozialanthropologie zahlreiche Überblicksbände zum Thema Essen („food“), so dass bspw. der Bloomsbury Verlag eine eigene interdisziplinär bespielte Reihe für Publikationen zum Thema Essen eingerichtet hat.
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Blogs hervorzuheben, die Trends in diesem Bereich schnell aufgreifen und verbreiten. Viele dieser Blogs, die im Übrigen zu einem großen Teil von Bloggerinnen betrieben werden, sind dabei nicht nur ein Medium der Vermittlung, sondern haben sich selbst zu Medien entwickelt, die Trends setzen und für die Betreiberinnen zu einem Geschäftsmodell geworden sind (vgl. Presswood 2020). Um an dieser Stelle die im Essens- und Nahrungsforschungskontext wichtigen Konzepte herauszufiltern, beziehe ich mich im Folgenden auf unterschiedliche, miteinander verknüpfte Diskursfelder. In diesem Kontext haben sich unterschiedliche wissenschaftliche Herangehensweisen, Deutungen und Schwerpunkte herausgebildet, in denen wohl am ehesten darüber Konsens besteht, dass Nahrungsaufnahme kein ausschließlich physiologischer Prozess ist, sondern die Möglichkeit bietet, die oben von Sutton angesprochenen Spannungsfelder zum Beispiel zwischen Individuum und Kollektiv zu eröffnen und zu beschreiben. Somit soll nachfolgend ein Blick auf die Grundlagen und den aktuellen Stand der Nahrungsforschung gerichtet und dabei zum einen die Position der Mahlzeit skizziert werden, welche dann noch einmal im weiteren Verlauf der Arbeit aufgenommen wird, wenn es um die sozialen Funktionen der Mahlzeit geht. Zum anderen werden verschiedene Begriffe wie Gastrosophie oder Commensality erläutert, die das Phänomen Essen aus einer bestimmten (disziplinären) Perspektive rahmen und beschreiben, und deren Differenzen und Überschneidungen aufgezeigt. Diese Zusammenschau der unterschiedlichen Begriffe ist auch deshalb analytisch wertvoll, weil diese bisher kaum in ihren gegenseitigen Beziehungen oder Abgrenzungen betrachtet worden sind und somit Aufschluss über die Institutionalisierung von Begriffen und Denkschulen geben.
3.1
AKTUELLE KONZEPTE DER NAHRUNGSFORSCHUNG
Aus der einleitend umrissenen gesellschaftlichen und wissenschaftlichen Konjunktur des Themas Essen heraus haben sich in den letzten Jahren verschiedene Modelle und Konzepte entwickelt, die das Phänomen Essen beschreibbar machen sollen. Sie sind in unterschiedlichen Disziplinen wie (Kultur-)Anthropologie, Philosophie oder Soziologie entstanden und haben dementsprechend unterschiedliche Schwerpunkte. Sie alle haben aber das Ziel, die Beschäftigung mit dem Thema Essen zu systematisieren, wobei sie sich überschneiden und ergänzen, aber durchaus auch widersprechen. Dabei gibt es zwei Tendenzen: Erstens die, das Feld global mit all seinen Verbindungen anzugehen und dabei mit der Frage zu
3.1 Aktuelle Konzepte der Nahrungsforschung | 59
verknüpfen, wie ein nachhaltiges und gutes Leben mit Blick auf Ernährung und Nahrungsmittelproduktion aussehen kann. Zweitens gibt es Ansätze, die sich dem Essen eher aus einer Mikroperspektive annähern und dabei vor allem die sozialen Funktionen der Praxis des Essens mitsamt der enthaltenen Werte- und Zeichensysteme in den Blick nehmen. Bei der disziplinenübergreifenden Beschäftigung mit dem Thema Essen und den damit verbundenen Konzeptualisierungen einer übergreifenden Nahrungswissenschaft wie Gastrosophie oder Commensality fällt auf, dass diese kaum über ihre jeweiligen Schulen hinaus verwendet werden und in Grundlagentexten zum Thema Essen und Ernährung bisher kaum in der Zusammenschau betrachtet worden sind, obwohl diese Konzepte zumeist den Ansatz verfolgen, einen umfassenden Blick auf das Phänomen Essen und dessen Erforschung zu werfen bzw. die Herangehensweise neu zu strukturieren. Diese Beobachtung wirft die Frage auf, welches Ziel mit diesen Konzeptualisierungen verfolgt wird, bevor sie im Folgenden vorgestellt und in Beziehung zueinander gesetzt werden. Alle hier vorgestellten Konzepte beinhalten eine Form von gesellschaftlichem Programm, das mit dem Phänomen Essen bzw. Ernährung verbunden wird. In diesem Zusammenhang dienen diese Begriffsschöpfungen vor allem dem Ziel, Aufmerksamkeit auf ein Thema zu bündeln und Anerkennung für dieses Thema und einen spezifischen Zugang zu erlangen. Dies geschieht u. a. auch dadurch, dass beispielsweise zwischen Theorie und Praxis Allianzen geschaffen werden, wie sie in der Kulinaristik oder dem Buch „Culinary Turn“ (2017) beschrieben werden. Durch diese transdisziplinäre Herangehensweise an das Thema Essen/Ernährung wird u. a. die Relevanz des Themas auch über die wissenschaftliche Beschäftigung hinaus betont. Außerdem funktioniert Essen/Ernährung in allen hier vorgestellten Konzepten als Boundary Object (Leigh Star 2018), das nicht nur in konkreten Situationen, sondern auch im trans- und interdisziplinären Austausch trotz unterschiedlicher Herangehensweisen und Definitionen eine Zusammenarbeit ermöglicht. Nahrungsforschung als Alltagskulturforschung Aus den oben beschriebenen Fokussierungen auf das Thema Essen und Ernährung wird bereits deutlich, dass das Thema in der Nahrungsforschung als umfassendes Phänomen behandelt wird, das sich durch alle Lebensbereiche zieht. Im Selbstverständnis der Volkskunde/Kulturanthropologie und (Europäischen) Ethnologie als Alltagswissenschaften liegt die Untersuchung des vielschichti-
▶ Kap. 8.3 Verbindungen
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gen Themas Nahrung also auf der Hand. Insbesondere in der Volkskunde hat die Nahrungsforschung immer schon einen wichtigen Forschungsbereich ausgemacht, der seit dem 19. Jahrhundert unterschiedliche Konjunkturen erlebt hat. Anfänglich spielte dabei eher die Bestandsaufnahme von Rezepten, Speisen oder Ess- und Kochgeräten in ihrer regionalen Eigen- bzw. Unterschiedlichkeit eine Rolle (vgl. Wiegelmann 1972).15 Betrachtet man die Genese der (deutschsprachigen) Nahrungsforschung, wird deutlich, dass sich auch hier die Schwerpunktsetzung der Forschung über Essen und Kochen immer auch nach dem Zeitgeist und der jeweiligen Situation einer Disziplin gerichtet hat. So war es beispielsweise in den 1990er Jahren ein Anliegen der volkskundlich-kulturwissenschaftlichen Forschung, am Diskurs Ernährung teilzuhaben und dessen Agenda nicht allein den bis dato in diesen Bereichen dominierenden Natur- und Agrarwissenschaften zu überlassen. Es sollten hier nun auch die kulturellen Dimensionen der Nahrungsmittelforschung, also Aspekte wie Tischsitten oder Identitätsstiftung beim Essen, erforscht werden. Alois Wierlacher formulierte im Zuge dessen den Ruf nach einer interdisziplinären, gegenwartsbezogenen „Kulturforschung des Essens“ und verlieh dieser Forderung mit einer DFG-geförderten internationalen Tagung und anschließendem Tagungsband Nachdruck (vgl. Wierlacher 1993: 9ff). Nicht nur Wierlacher beschreibt hier bereits den Körper als einen elementaren Teil des „sozialen Totalphänomens Essen“ in dem Sinne, dass Essen und Erkennen nichtdelegierbare Tätigkeiten sind, die an den identischen Körper gebunden sind (vgl. ebd.: 7). Vor allem der Literaturwissenschaftler Gerhard Neumann folgert im betreffenden Tagungsband jedoch nicht, dass die Handlungen beim Essen und Kochen in ihrer Leiblichkeit untersucht werden müssen, er sieht den Körper vielmehr als ein Verhandlungsfeld des Sozialen und Subjektiven zwischen Natur und Kultur an (Neumann 1993: u. a. 398), wobei der Leib/körper als eigenständiger und eigensinniger Akteur keine Rolle spielt.
15 Dabei kann mit Blick auf Europa für lange Zeit ein Nord-Süd-Gefälle in der ethnologischen Nahrungsforschung festgestellt werden. Günter Wiegelmann hebt hier insbesondere die skandinavische bzw. schwedische Forschung u.a. um Nils-Arvid Bringéus hervor, der 1970 in Lund das erste internationale Symposium für ethnologische Nahrungsforschung ins Leben rief (Bringéus 1971). In den folgenden Jahren hat sich insbesondere Wiegelmann, der sich mit Arbeiten zu Agrarlandschaften sowie Alltags- und Festspeisen einen Namen in der ethnologischen Nahrungsforschung gemacht hat, auch über die Grenzen Deutschlands hinaus in diesem Feld engagiert (vgl. Wiegelmann 2006, urspr. 1967).
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Gastrosophie Die Gastrosophie setzt es sich als Ziel, Essen als übergreifendes Thema und Problem zu beschreiben: „Gastrosophie ist ein Synonym für eine philosophische Beschäftigung mit den globalen Ernährungsverhältnissen. Es gilt dabei, alle Aspekte, die in die Ernährungsfrage hineinspielen, in den Blick zu bekommen.“ (Link 2016). Als einer der Gründungsväter der Gastrosophie wird der französische Schriftsteller Jean Anthèlme Brillat-Savarin genannt, der 1862 sein prägendes Werk „La Physiologie du Goût“ veröffentlichte. Die deutschsprachige Gastrosophie ist vor allem durch die zahlreichen Texte des Philosophen Harald Lemke geprägt. Lemke charakterisiert die Gastrosophie ontologisch als eine philosophische Theorie des Essens, die anstrebt, „[…] möglichst alle Seiten und die facettenreiche Ganzheit der Praktiken menschlicher Ernährung in den Blick zu bekommen, statt ihren Gegenstandsbereich in Einzelgesichtspunkte zu zerstückeln und in den arbeitsteiligen Prozess fachwissenschaftlicher Fragestellungen nur fragmentarisch zu erfassen.“ (Lemke 2001: 2)
Er sieht die Gastrosophie weniger als eine Disziplin an, die unterschiedliche Herangehensweisen zusammenführt, sondern vielmehr als die Arbeit an einem Begriff, der als Werkzeug das Denken erleichtert und so die Erkenntnis des Ganzen trotz der enthaltenen Vielheiten ermöglicht (Lemke 2001: 3). Die Gastrosophie begreift sich dabei nicht nur als wissenstheoretische Herangehensweise, sondern definiert sich vor allem als gesellschaftlich und politisch relevantes Projekt, indem sie sich mit zentralen Fragen und Problemen menschlicher Ernährung und ihrer Verwobenheit mit anderen Bereichen wie Ökologie, Gesundheit oder Ökonomie als „Menschheitsfrage“ beschäftigt (vgl. ebd.). Für Gastrosophen sind (gutes) Essen und (gutes) Leben nahezu gleichzusetzen. Dabei schwingt in ausgewiesen gastrosophischen Texten häufig eine moralische Dimension und Kritik mit, wenn beispielsweise Daniele Dell’Agli in seiner polemischen Einführung in den Band „Essen als ob nicht“ eine „Entritualisierung von Umgangsformen und Tischsitten“ beklagt, weswegen nur noch wenige Menschen „die naturwüchsigen Gelegenheiten zur Geschmacksbildung im familiären Kreis“ in Anspruch nehmen könnten (Dell’Agli 2007: 8). Interessant ist dabei die Argumentation Lemkes, dass sich die Gastrosophie insbesondere mit dem westlichen Wohlstandsmenschen beschäftige und diesen mit ihrer Kritik auch adressiere, weil die globalen (Ernährungs-)Probleme eben aus dieser Lebensweise resultie-
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▶ Kap. 7.4 (Selbst-)Inszenierungen über Essen und Kochen/EssSettings zwischen Ethik(en) und Ästhetisierung
ren würden (vgl. Lemke 2001: 4). Über die gastrosophische Perspektive hinaus hat sich u. a. Gunter Hirschfelder mit der Rolle von Moral und Hypermoral in Nahrungsdiskursen (Hirschfelder et al. 2015) auseinandergesetzt, der im Zusammenhang mit Lebensmittelskandalen weniger von einer Qualitäts- als von einer Vertrauenskrise spricht. Insofern ist der gastrosophische Ansatz für diese Arbeit dann interessant, wenn die Alltagspraxis des Essens und Kochens mit den gesellschaftlichen Dimensionen dieser Praxis in Zusammenhang gebracht wird. Dies ist zum Beispiel dann der Fall, wenn Vorstellungen hinsichtlich des guten bzw. richtigen Essens Einfluss auf konkrete Handlungen und Lebensstile nehmen und Essen bzw. Ernährung zum Gegenstand ethischer Aushandlungen wird. Obwohl diese aktuelle gastrosophische Argumentation nachvollziehbar sein mag, ist sie häufig kaum empirisch fundiert, da die Mikroperspektive und Praktiken eher hinter dem großen Ganzen verschwinden. Hervorzuheben ist jedoch, dass in der Gastrosophie explizit immer auch Wahrnehmung sowie Körper und Leib thematisiert werden und die Schulung insbesondere des Geschmackssinnes angestrebt wird. Ob eine Speise gut schmeckt, wird gastrosophisch nicht nur individuell bzw. habituell bestimmt, sondern beispielsweise auch über das Wissen um ‚gute‘ Produktionsbedingungen. Hier kommen Schmecken und Wissen ganz im Sinne des lateinischen „sapere“ (wissen) zusammen: „Schmecken will gelernt sein.“ (Lemke 2001: 10). Gustemology
▶ Kap. 6.3 Früher waren die Pfirsiche aromatischer
Während Geschmack und Schmecken in den meisten kulturwissenschaftlichen Konzepten maximal eine Komponente bzw. Perspektive unter vielen möglichen darstellt, geht David Sutton, wie oben bereits erwähnt, von Geschmack als Totalphänomen aus, wenn er Gustemology als Leitlinie für eine ethnographische Erforschung von Essen skizziert. Hierbei steht allerdings nicht nur der Geschmack im Fokus, sondern die sinnliche Wahrnehmung von Essen insgesamt, beispielsweise über das Sehen, Hören aber auch Spüren von Texturen und Temperaturen (Sutton 2011: 469ff). Diese sinnesübergreifende Perspektive macht Suttons Ansatz insbesondere für die Betrachtung meta-sinnlicher Phänomene (vgl. Seremetakis 1996: 9) wie Erinnerung in Zusammenhang mit dem Essen interessant.
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Culinary Turn Der bereits erwähnte, 2017 ausgerufene Culinary Turn ist anschlussfähig an die hier vorgestellte Idee der Gastrosophie, indem er sich (insbesondere in Kunst und Design) als ein Gegenprogramm zu einer digitalisierten, globalisierten Welt begreift und mit Vorstellungen von Echtheit und Authentizität spielt: „The term ‚culinary turn‘ is chosen to express a broad social turn towards questions of food, of cooking and nutrition, one driven by a new proximity of cooking and eating to cultural techniques in art and design. A key indicator of the ‚culinary turn‘ is not only how cookery and food are spilling over into other walks of life, but also the related emergence of paradoxes. Thus, the ‚culinary turn‘ is formulated as genuineness and authenticity that functions as a counter program to a digitalized, connected and globalized world, although both qualities have first to be constructed and staged.“ (Van der Meulen/Wiesel 2017a: 10)
Der gleichnamige Band von Jörg Wiesel und Nicolaj van der Meulen greift hierbei insbesondere eine Vorstellung des (high-class) Kochens als ästhetische, sich ergänzende Praxis zwischen Kunst, Handwerk und Erfahrung auf, „in which the focus is not only on cooking tasty dishes, but on using cooking as a way to analyze the world and transform it into a gustatory experience“ (ebd.: 11). Der turn wird hier also weniger aus der wissenschaftlichen Beschäftigung mit dem Essen und Kochen ausgerufen als vielmehr durch veränderte Praktiken und Ansprüche in Küche und Kunst, aus denen heraus sich die Autoren fragen, welchen Beitrag Kunst und Design hierbei leisten (können) (ebd.: 15). Insofern geht der hier beschriebene Culinary Turn einher mit einer Hinwendung zu sinnlichen Wahrnehmungen und leib/körperlichen Aspekten in den Sozialund Kulturwissenschaften insgesamt. Kulinaristik Die Verbindung von professioneller und alltäglicher Praxis mit der (kultur-)wissenschaftlichen Erforschung des Essens und Kochens findet sich auch im Konzept der Kulinaristik, das maßgeblich von Alois Wierlacher geprägt wurde. Dies lässt sich anhand seines Kreismodells beschreiben, welches die natürliche mit der kulturellen Dimension des Essens zusammenbringt und diese in das Konzept der Gastlichkeit einordnet.16 Im Jahr 2000 gründete Wierlacher 16 Das Modell setzt sich aus drei ineinander liegenden Kreisen zusammen. In der Mitte befindet sich der Bereich „Nutrition“, der die biologische
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die Deutsche Akademie für Kulinaristik, die es sich als Ziel gesetzt hat, „[…] der Gastronomie ihre akademische Anerkennung zu verschaffen, die Grundlagen einer neuen Ernährungskultur und Gastlichkeit zu legen und Studenten auszubilden, die diese Kultur in ihren gewählten Berufen vom Journalisten bis zum Marketingleiter eines Nahrungsmittelbetriebes anwenden.“ (Deutsche Akademie für Kulinaristik e. V.)
▶ Kap. 7 Gesellschaftliche Dimensionen kollektiven Essens und Kochens ▶ Kap. 7.5 EssSettings als liminale Situationen/Zwecke Essen und deren Rezeption
Somit strebt die Kulinaristik vor allem auch durch ihre Materialisierung in einer Akademie nicht nur eine inter-, sondern eine transdisziplinäre Beschäftigung mit dem Thema Essen an. Interessant an der hier beschriebenen übergreifenden Beschäftigung mit dem Essen ist, dass der Bedarf formuliert wird, der Gastronomie durch die Einbettung in einen akademischen Kontext Anerkennung zu verschaffen. Aus meiner Forschung geht jedoch hervor, dass die Erforschung von Essen insbesondere in Zusammenhang mit Aspekten wie Genuss und Hedonismus eher selbst um Anerkennung im akademischen Bereich kämpfen muss, was sich u. a. auch am Umgang mit Mahlzeiten und deren Finanzierung im universitären Rahmen ablesen lässt. Commensality In der englischsprachigen Literatur zum Thema Essen wird, insbesondere wenn Essen als soziales (Total-) Phänomen betrachtet wird, der Begriff Commensality verwendet. Hier tritt im Gegensatz zur globalen Perspektive der Gastrosophie oder Kulinaristik eher die Mikroperspektive während des Essens selbst in den Vordergrund. Der Begriff kommt ursprünglich aus dem Lateinischen und setzt sich aus den Wortteilen „con“ (mit) und „mensa“ (Tisch) zusammen. Dementsprechend bezieht er sich auf das Zusammenkommen am Tisch bzw. beim Essen. Im Deutschen hat Commensality keine direkte Entsprechung und kann am ehesten als Tischgemeinschaft übersetzt werden. Der korrespondierende deutsche Begriff des Dimension, also die Notwendigkeit des Essens und Trinkens umfasst und dementsprechend vor allem von Natur- und Ernährungswissenschaftler*innen behandelt wird. Der zweite Kreis stellt die „Kulturen“, also die Regelwerke, Zeichen und Symbole, die das Essen und Trinken regeln, dar. Hiermit befassen sich sowohl Geisteswissenschaftler*innen als auch Praktiker*innen und Köch*innen. Der äußere Kreis des Modells stellt die „Gastlichkeit“ dar, welche die beiden anderen Bereiche umrahmt und die verschiedenen Akteur*innen miteinander in Kontakt bringt (Wierlacher 2011a: 11).
3.1 Aktuelle Konzepte der Nahrungsforschung | 65
Kommensalismus wird hingegen eher als biologischer Fachbegriff verwendet, wenn verschiedene Arten eine parasitäre Ernährungsbeziehung eingehen, bei der ein Part profitiert und der andere dabei nicht geschädigt wird. Als Bild ist dieser biologische Terminus dennoch inspirierend, da auch im Konzept der Commensality die Funktion und Potenzialität von Mahlzeiten kulturübergreifend als verbindend betont werden. Es korrespondiert dabei mit Konzepten wie conviviality (Geselligkeit) und hospitality (Gastfreundschaft/Gastlichkeit). So verwundert es nicht, dass Commensality insbesondere in der historischen Forschung als mikropolitische Strategie thematisiert wird. Marc Jacobs betont in diesem Zusammenhang den Einsatz von Mahlzeiten in der Politik als „soft power“ Instrument, mittels dessen eher verführt und überzeugt als bedroht und bestraft werde sollte (Jacobs 2012: 54). Der Anthropologe Tan Chee-Beng beschreibt Commensality als eine Linse, um Kultur und soziale Beziehungen zu untersuchen (Chee-Beng 2015: 29), und erarbeitet dabei verschiedene Typen wie „domestic“ oder „hospitality commensality“, die sich überschneiden oder aufeinander beziehen können. Durch die Betonung der gemeinschaftsbildenden Variante hilft dieses Konzept, das große Feld der Nahrungsforschung zu systematisieren und hierbei eine Unterkategorie zu entwickeln, in der vor allem die sozialen Aspekte des Essens betrachtet werden, ohne allzu verkürzend zu wirken. Aus diesem Grund wird das Konzept im siebten Kapitel zu den gesellschaftlichen Dimensionen noch einmal stärker mit Bezug zur vorliegenden Forschung thematisiert. Arbeitsbegriffe: Mahlzeiten und Ess-Settings Aus dem vorangegangenen Überblick über das Feld der (kulturwissenschaftlichen) Nahrungsforschung wird deutlich, dass sich dieses insbesondere in den letzten dreißig Jahren ausdifferenziert hat und dabei innerhalb aber auch außerhalb der Wissenschaft unterschiedliche Allianzen eingegangen ist. Als so genanntes Totalphänomen wird die Aktualität des Themas in Alltag und Fachdiskurs auch in Zukunft weiterhin hoch bleiben. Dabei wäre es wünschenswert, nicht nur die zweifelsohne relevanten globalen und übergreifenden Zusammenhänge des Essens in den Fokus zu nehmen, sondern diese in ethnographischen Studien noch konkreter mit einzelnen Praktiken und Situationen rund um die Nahrungsproduktion, -zubereitung und -aufnahme zu verbinden. Dieser Vorgehensweise widmet sich diese Arbeit, in der die Analyseperspektiven auf das Thema Essen (Narrative, sinnliche-leibliche Wahrnehmung, gesellschaftliche Dimensionen) als drei mögliche aus dem Material heraus entwickelt
▶ Kap. 7.2 Tischregeln
66 | Essen mit und als Methode
▶ Definition EssSettings S. 23
wurden. Dadurch soll auch der bloßen Reproduktion von theoretischen Konzepten und Polaritäten in der Nahrungsforschung entgegengewirkt werden. So spielen zwar beispielsweise dichotome Konzepte wie das von Natur und Kultur eine wichtige Rolle in dieser Forschung, in der Praxis stellen sie sich allerdings nicht zwingend als Polaritäten dar, sondern ergänzen sich im Sinne eines Spannungsfeldes (Sutton 2010: 210). So wird das Natürliche in dem zugrunde liegenden Material eher mit dem Gegebenen und kaum Veränderbaren assoziiert und zeigt sich in Narrativen und Bildern über das Essen. Das Kulturelle wird im Feld eher mit dem Gemachten und Veränderbaren verbunden und in der gelebten Praxis verortet. In den untersuchten Ess-Settings ergänzen sich diese Pole, indem beispielsweise die kollektiv geteilten Bilder über das Essen überhaupt zum Versammeln anregen und diese dann im gemeinsamen Vollzug von Mahlzeiten verhandelt, bestätigt oder widerlegt werden. Durch diese explizit ethnographische Vorgehensweise, die kursierende Paradigmen aufspürt und dann durch deren Verortung Forschungsfelder erschließt und schafft, gerät die aktuell vieldiskutierte Perspektive auf die Nahrungsmittelproduktion in den Hintergrund, was nichts über die Wichtigkeit dieses Themas aussagt. Vielmehr zeigt sich, dass dieses Thema eher implizit in alltäglichen Handlungen und Aushandlungen zutage tritt und hier auch nur an diesen Kristallisationsmomenten thematisiert wird. In der Nahrungsforschung stellt die Mahlzeit eines dieser Kristallisationsmomente dar. Auch das in dieser Arbeit zentrale Ess-Setting stellt eine Form der Mahlzeit dar, die in diesem Fall den Moment des gemeinsamen Essens bezeichnet, also einen begrenzten Zeitraum, in dem die beteiligten Personen sich um einen Tisch versammeln. Zu einem Ess-Setting werden hier neben der Mahlzeit selbst auch die Zubereitung des Essens, das gemeinsame Aufräumen oder andere kollektive Tätigkeiten vor Ort gezählt. Die Beschränkung des Mahlzeit-Begriffs auf die Situation am Tisch geschieht in dieser Arbeit vor allem deswegen, um die Situationen des Zubereitens und des Essens getrennt betrachten und beschreiben zu können – auch wenn eine trennscharfe Unterscheidung nicht immer möglich ist. Die kulturübergreifende Vorstellung von Mahlzeiten ist hierbei auch über den Zeitraum eines Settings wirksam, indem sie es vermag, Vorstellungen aufzurufen und darüber Menschen zu einem Setting zu versammeln. Solche Vorstellungen hinsichtlich Mahlzeiten wirken zum Beispiel auch, wenn eine Mahlzeit nicht zustande kommt oder scheitert. Bei beiden Formaten, dem Ess-Setting und der Mahlzeit in der hier beschriebenen Definition, handelt es sich um Situationen, die zeitlich begrenzt sind und individuelle wie soziale Aspekte mit materiellen in Verbindung bringen.
3.1 Aktuelle Konzepte der Nahrungsforschung | 67
Auch Ulrich Tolksdorf betont auf der Basis der hier bereits erwähnten Akteur*innen der ethnologischen Nahrungsforschung der Nachkriegszeit, „daß die ‚Mahlzeit‘ als Grundeinheit und Ausgangspunkt ethnologischer Betrachtungsweise anzusehen ist“ (Tolksdorf 2001: 241). Für ihn und weitere Nahrungsforschende stellen Mahlzeiten eine Situation dar, an der sich nahezu alle Aspekte der ethnologischen und soziologischen Nahrungsforschung festmachen und untersuchen lassen. Dazu zählt auf der einen Seite die Materialität in Form von Nahrungsmitteln, Werkzeugen und Umgebung, wie auch Sozialität in Form der Tischgesellschaft, denn durch gemeinsam eingenommene Mahlzeiten werden soziale Gruppen sowohl hergestellt als auch gefestigt (vgl. Simmel 2017). Dabei wird betont, dass sich die insbesondere am Familientisch erlernten Nahrungsgewohnheiten kaum oder nur langsam ändern lassen (vgl. Tolksdorf 2001: 246, Bourdieu 1982). In diesem Sinne bilden sowohl die Zubereitungen als auch die als essbar gekennzeichneten Nahrungsmittel ein kulturelles System ab und prägen es fortlaufend (vgl. Tolksdorf 2017: 126ff). Dabei spielen sowohl regionale Eigenheiten der Nahrungsaufnahme und -zubereitung als auch innerhalb von Familienstrukturen vermittelte Gewohnheiten und Regeln eine wichtige Rolle für das Schaffen einer individuellen und kollektiven Identität.17 Mahlzeiten stellen in vielen Konzeptionen, die soziale Ordnungen beschreiben, ein zentrales Moment dar (vgl. Wierlacher 2011). Eva Barlösius unterscheidet in diesem Zusammenhang die häufig synonym verwendeten Begriffe Tischgemeinschaft und Mahlzeit über die Beziehungsqualität der Anwesenden. Während sich bei einer Tischgemeinschaft die Anwesenden untereinander kennen und es um die Stabilisierung der Gruppe geht, stellt die Mahlzeit eine soziale Institution dar, „die prinzipiell allen Menschen sozial zugänglich ist“ (Barlösius 2011: 173). Barlösius unterscheidet dabei, wie die Nahrungsethnologie auch, zwischen alltäglichen und außeralltäglichen Mahlzeiten. Somit spielt die Mahlzeit eine zentrale Rolle dabei, zeitliche Abläufe oder soziale Zugehörigkeit zu strukturieren, indem beispielsweise Alltag und Festtag markiert werden. Bei der außeralltäglichen Mahlzeit, die häufig auch die Grenzen der 17 Diese Beschreibung des Essens als „Totalphänomen“ führt einerseits zu der Interpretation, dass sich über Nahrungsgewohnheiten allgemeingültige Aussagen über das menschliche Sein treffen lassen, wie LévyStrauss es insbesondere im ersten Band seiner „Mythologica“ (1976) versucht hat. Andererseits haben vor allem Kulturanthropolog*innen wie Utz Jeggle (2008), Ulrich Tolksdorf (1976) oder auch Pierre Bourdieu (1982) einen großen Teil der Ernährungspraktiken als kultur- und insbesondere schichtspezifisch beschrieben.
68 | Essen mit und als Methode
alltäglichen Nahrungsgemeinschaft überschreitet, tritt die Nahrungsaufnahme beispielsweise zugunsten religiöser oder politischer Vergemeinschaftung in den Hintergrund (vgl. ebd.: 178). Georg Simmel betont in seinem grundlegenden Essay zur Soziologie der Mahlzeit diese soziale Funktion, durch die die zutiefst individuelle Angelegenheit der Mahlzeit als physiologisches, primitives Ereignis zu einer kulturellen Angelegenheit wird, die eine überpersönliche Bedeutung hat (Simmel 2017: 69f). Auch andere Theorien, die sich mit dem Zweck der gemeinschaftlichen Nahrungsaufnahme beschäftigen, stellen dabei eine Verbindung von Physiologie und Kultur her. So geht beispielsweise die Sozialwissenschaftlerin Margot Berghaus davon aus, dass der Mensch weder organisch noch psychologisch einen natürlichen Maßstab in sich trägt, der Appetit und Esspraxis reguliert, sondern diese Strukturierung vor allem durch das Soziale funktioniert (Berghaus 1984: 256f). In anderen, früheren Herleitungen zur Funktion der Mahlzeit wird die Tischgemeinschaft als Wirtschaftsgemeinschaft, die arbeitsteilig18 arbeitet, u. a. von Max Weber (1964) oder Ferdinand Tönnies (1963) historisch hergeleitet. Durch die Veränderung von Haushalts- und Arbeitsstrukturen in den vergangenen Jahrzehnten sind Menschen viel stärker in Tischgemeinschaften außerhalb des eigenen Haushalts eingebunden (zum Beispiel in Kantinen, Mensen o. ä.), bei denen sich der Zweck im Vergleich zur Wirtschaftsgemeinschaft umkehrt, denn die Gemeinschaft muss ggf. erst durch die Mahlzeit hergestellt werden. Somit rückt das Ziel der Nahrungsaufnahme in den Hintergrund. Was dafür in den Vordergrund rückt, vielleicht auch über die Vergemeinschaftung hinaus, ist eine grundlegende Frage in dieser Studie. Was ist also neben der Nahrungsaufnahme die Intention, das Thema der hier behandelten Ess-Settings neben der Nahrungsaufnahme beinhalten? Somit stellt auch hier die Mahlzeit eine zentrale Situation dar, die insbesondere im Kapitel Gesellschaftliche Dimensionen u. a. in seiner gemeinschaftsbildenden bzw. -repräsentierenden Funktion näher betrachtet wird.
3.2
KONZEPTE SINNLICH-LEIBLICHER WAHRNEHMUNG
Im Folgenden werden die relevanten Begriffe und Konzepte im wissenschaftlichen Diskurs in Bezug auf sensorische Systeme, Körper sowie Emotion und Affekt umrissen und daraus die für diese Arbeit relevanten Standpunkte und Arbeitsbegriffe abgeleitet. Zuerst geht 18 Arbeitsteilung bezieht sich in diesem Zusammenhang auf die Aufteilung von Erwerbs- bzw. landwirtschaftlicher Arbeit und Versorgungsarbeit im eigenen Haushalt.
3.2 Konzepte sinnlich-leiblicher Wahrnehmung | 69
die Betrachtung von den einzelnen Sinnen aus, um anschließend die Sinne verbindende Konzepte wie Verkörperung, implizites Wissen, Habitus oder „Body Multiple“ vorzustellen. Im sechsten Kapitel „Zwischen Wahrnehmung und Interaktion“ wird mithilfe des hier erarbeiteten Konzepts eines multiplen, situativ handelnden sowie sozial und kulturell eingebetteten Leib/körpers die Frage nach der sinnlich-leiblichen Dimension der untersuchten Ess-Settings behandelt. An dieser Stelle sei bereits vor der Erläuterung des Leib-Körper-Konzepts auf die in dieser Arbeit verwendete Schreibweise Leib/körper hingewiesen. Diese soll deutlich machen, dass Leib und Körper zwar aus analytischen Gründen unterschieden werden (können), es sich hierbei jedoch um eine untrennbare Einheit handelt. Häufig ist in Arbeiten, die sich explizit mit der Zweiheit von Körper und Leib befassen, trotzdem nur von Körper die Rede und der damit verbundene Leib wird lediglich mitgemeint. Dieser Unklarheit und letztlichen Inkonsequenz soll mit der hier verwendeten Schreibweise entgegnet werden. Dass ein Umdenken in Bezug auf das Körper-Leib-Konzept in der Forschung sich auch in Text und Sprache wiederfinden muss, stellen auch Lydia Maria Arantes und Elisa Rieger (2014) fest. Sie beziehen mit ihrer Schreibweise „Körper_Leib“ eine „dynamische Lücke“ ein, „welche nicht nur verbindet, sondern auch dem Dazwischen der Konzepte und der Übergänge von einem ins andere Raum gibt“ (ebd.: 14). Grundsätzlich halte ich auch diese Sicht- und Schreibweise für sinnvoll und praktikabel. Allerdings soll in dieser Arbeit eher die Verwobenheit der Konzepte von Leib und Körper bei gleichzeitiger Differenz betont werden, weshalb hier die Schreibweise mit einem Schrägstrich und der Kleinschreibung von „Körper“ bevorzugt wird. Klassifizierung der Sinne Seit Menschengedenken und über geographische und kulturelle Grenzen hinaus herrscht Konsens darüber, dass wir unterschiedliche Sinnesorgane besitzen und durch diese die Welt wahrnehmen. Wie jedoch diese anthropologische Konstante ausgestaltet wird, hängt mit den gesellschaftlichen Gegebenheiten zusammen, weshalb sensorische Modelle immer auch Auskunft über die jeweilige Gesellschaft geben. So wird beispielsweise das westliche Nachdenken über die Sinne in Alltag und Wissenschaft nach wie vor durch das aristotelische Modell der fünf Sinne (Sehen, Hören, Riechen, Schmecken und Tasten) geprägt – wenn auch vielfach kritisiert. In der vorliegenden Arbeit werden bei der Analyse sinnlich-leiblicher Dimensionen auch weitere Sinnes- und Wahrnehmungsmodi wie beispielsweise Hunger/Sättigung oder Temperaturempfinden eingeführt.
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Dass die Klassifizierung der Sinne kulturell geformt ist, zeigt sich zum Beispiel daran, dass indigene Bevölkerungsgruppen durchaus andere Klassifizierungen der einzelnen Sinne entwickelt haben. So unterscheiden zum Beispiel die Hausa in Nigeria nicht zwischen fünf, sondern zwischen zwei Sinnen: dem Visuellen und dem Nicht-Visuellen (vgl. Classen 1997 nach Ritchie 1991: 40). Die Ausdifferenzierung des Fünf-Sinne-Modells ging häufig einher mit der Abwertung differierender Sinnesmodelle als Kuriosum oder als weniger zivilisiert. Aber auch innerhalb dieser fünf Sinne wurde und wird zwischen höheren, erkenntnisstiftenden Sinnen (Sehen und Hören) und niederen Sinnen (Tasten, Schmecken, Riechen) unterschieden (vgl. Diaconu 2005). Eine weitere (westliche) Kategorisierung der Sinne stellt die der Nah- und Fernsinne dar. Hierbei erfolgt die Einteilung der einzelnen Sinne nach dem Vermögen, das Wahrgenommene räumlich zu verorten und Richtungen zu erkennen. Dementsprechend nehmen die einzelnen Sinnesorgane beispielsweise bei der Wahrnehmung eines Ess-Settings unterschiedliche Rollen ein. Im Zuge dessen tritt so der Sehsinn in den Vordergrund, indem er in der Lage ist, Räume überblicksartig zu erfassen und zwischen Gegenständen zu differenzieren, ohne sich ihnen wirklich nähern zu müssen. Der Hörsinn spielt für die Wahrnehmung von Richtungen und Bewegungen im Raum eine zentrale Rolle. In Bezug auf diese Fähigkeit nimmt der Geruchssinn eine Zwischenposition ein, da er durch Intensitätsveränderungen Richtungen zugänglich macht. Das Schmecken und vor allem das Tasten erfordern zwingend körperliche Nähe und Kontakt zwischen den Sinnesorganen und dem zu Erfahrenden. Diese Einordnung betont die Subjektivität und auch Intimität, die der gustatorischen sowie der taktilen Wahrnehmung anhaften. Beim Tasten ist die Berührung des Sinnesorgans Haut zwingend erforderlich. Beim Schmecken wird diese Barriere des Körpers sogar überschritten. Das Essen dringt in den Körper ein, geht eine Einheit mit ihm ein, wird einverleibt. Bezeichnend für Geruch- und Geschmackswahrnehmung ist, „daß sie die Welt nicht gegenständlich, im abstandswahrenden Gegenübertritt, erschließen, sondern vereinnahmend das Auseinander von Ich und Welt überbrücken“ (Hauskeller 1995: 89). In dieser Hinsicht werden die Nahsinne u. a. in der Werbung zu einem Garant für wahrhaftiges Erleben in Abgrenzung zu den vermeintlich rationalen Fernsinnen, die eine Besinnung auf uns selbst verhindern. Dieses Vermögen verleiht den Nahsinnen im Zuge eines verstärkten gesellschaftlichen Bedürfnisses nach sinnlich-ästhetischem (Selbst-)Erleben Relevanz in einer digitalen, rationalistischen, überfordernden Welt, was in unterschiedlichen Sehnsüchten ausgedrückt und dabei dem Digitalen/Rationalen gegenübergestellt wird: einer Sehnsucht nach Ruhe, Entschleunigung,
3.2 Konzepte sinnlich-leiblicher Wahrnehmung | 71
Ästhetisierung der eigenen Lebenswelt oder Natur. Folglich ist das Versprechen sinnlicher Erfahrungen insgesamt zu einem wichtigen Marketingwerkzeug in den unterschiedlichsten gesellschaftlichen Bereichen geworden (vgl. Göttsch-Elten 2017). Diese Einordnung der einzelnen Sinne in unterschiedliche Kategorien und der damit verbundene Okularzentrismus haben ihren Ausgangspunkt in der Philosophie und wurden im 19. Jahrhundert in den Naturwissenschaften aufgegriffen. Im Zuge dessen begann die auch heute noch geführte Debatte um die Messbarkeit von sinnlicher Wahrnehmung u. a. in der Biologie, Psychologie und Kognitionsforschung. Als Symptom und Beispiel dieser Entwicklung führt die Kulturanthropologin Lydia Maria Arantes den Zerfall des Tastsinns in kleinere, messbare Einheiten an, die immer kleiner wurden (Sensoren, Rezeptoren, Neuronen etc.) (vgl. Arantes 2017: 25). Fortan prägte und prägt die naturwissenschaftliche Forschung in diesem Feld den wissenschaftlichen und auch alltäglichen Diskurs, womit auch vielfach das „Augenmerk auf die Verbindung zwischen sinnlicher Wahrnehmung und kulturellen Formen und Praxen“ verschwand (vgl. Bendix 2006: 74). Nicht nur die haptische Wahrnehmung sollte durch Maschinen objektiviert und somit zu einem großen Teil externalisiert werden, auch die Konnotation des Sehsinns als objektiver Sinn wurde durch technische Apparate wie Mikroskope oder Fotoapparate weiter gefestigt (vgl. Arantes 2017: 25f). Ergänzend zu den erwähnten ethnologischen, kulturvergleichenden Perspektiven auf sensorische Systeme kam es, inspiriert durch existenzialistische Debatten, Mitte des 20. Jahrhunderts zu einer verstärkten Beschäftigung mit den Sinnen, der sinnlichen Wahrnehmung und Konzepten von Geist, Körper und Leib. Diese Debatte war dabei vor allem philosophisch-phänomenologisch (Merleau Ponty 1966) und weniger empirisch-methodologisch geprägt. Mit der zunehmenden Kritik an der vermeintlich objektiven Forscher*innenrolle und an der Idee von Kultur als Text (Clifford/Marcus 1986) spielten Wahrnehmungsfragen ab den 1980er Jahren in den angloamerikanischen, französischen und auch deutschen Kulturwissenschaften eine Rolle für die Konzeption von Forschungen. In dieser anfänglichen Konjunktur entwickelte sich als Reaktion auf den herrschenden Okkularzentrismus eine vor allem anglo-amerikanische „Anthropology of the Senses“ (Howes 2005). Diese zeichnete sich u. a. dadurch aus, dass sie sich insbesondere Forschungen zu den nicht-visuellen Sinnen widmete. Diese wiederum einseitige Forschungsperspektive wurde abermals kritisiert, da sie zum einen das Zusammenwirken der Sinne in einem Leib/körper übergehe und zum anderen hierbei das Sehen in seiner nicht-visualistischen Funktion vernachlässigt werde. Letztere Position nahm
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u. a. Cristina Grasseni mit ihrem Konzept der „skilled vision“ auf, mit dem sie den Sehsinn als verkörperten, angeeigneten Sinn zu „rehabilitieren“ versucht (Grasseni 2007, Ingold 2000). In der deutschsprachigen Kulturanthropologie lenkte Utz Jeggle anknüpfend an u. a. Michel Foucault, Mary Douglas und Georges Devereux den Blick auf den Körper und die Sinne als Untersuchungsgegenstand und begriff diese dabei als Handlungseinheit mit der materiellen Welt (Jeggle 1980: 174). Jeggle beschreibt eine Verdrängung der körperlichen Wahrnehmungen und Bedürfnisse (insbesondere der Forschenden) aus dem Forschungsprozess. Die Veränderung von Körperkonzepten in der Forschungspraxis wird 2006 u. a. von Regina Bendix wiederaufgegriffen. Dabei knüpft sie ihre Überlegungen zur Einbindung sinnlicher Wahrnehmungen in den Erhebungs- und Deutungsprozess an konkrete Felderfahrungen. Die Impulse aus dem Feld werden laut Bendix in den forschenden Körper aufgenommen und formen diesen. Diese Veränderung des körperlichen Zustands gilt es in Datenform zu bringen, um damit den Materialkorpus anzureichern und eine zusätzliche reflexive Perspektive zu bieten (vgl. Bendix 2006: 79). Die Ethnologin Bettina Beer ergänzt diese Forderung mit der Feststellung, dass sich das sensorische Modell einer Kultur nicht nur über die Praxis, sondern auch über die Sprache in Form von Metaphern oder Körperschmuck erschließen lässt (Beer 2000: 11). So hat die Hierarchisierung der Sinne u. a. auch das Vokabular westlicher Sprachen geprägt. Spätestens seit der (europäischen) Neuzeit gelten vor allem der Sehsinn, teils auch der Hörsinn, als primäre Sinne. Ihnen wird ein ästhetisches, theoretisches Potential zugeschrieben, was bis heute massiven Einfluss auf Kunst, Ästhetik und Wissenschaft hat und damit verbunden auf die Klassifizierung der so genannten sekundären Sinne (Tasten, Riechen, Schmecken). „Die Zivilisation hat die Sekundärsinne zweifach ‚anästhetisiert‘: Erstens indem sich die Sittenlehre bemühte, ihre Erfahrung zu beschneiden und sie in den Bereich des Privaten zu verbannen, und zweitens indem diese Sinne als nicht-ästhetisch und als ‚bloß angenehm‘ betrachtet wurden. Erfahrung und Theorie prägten beide die Sprache und werden ihrerseits von ihr geprägt; bei konkreten Untersuchungen erweist sich die Terminologie für das Tasten, das Riechen und das Schmecken in den indogermanischen Sprachen als viel unpräziser und ärmer als die visuelle bzw. als in anderen Sprachfamilien.“ (Diaconu 2005: 19)
Damit verbunden wurden die Sekundärsinne dem zugeschrieben, was nicht dem hegemonialen, männlichen Diskurs entsprach: dem Weiblichen, dem Kindlichen oder auch dem nicht-europäischen
3.2 Konzepte sinnlich-leiblicher Wahrnehmung | 73
„Primitiven“ (ebd.). Auch wenn diese Einteilung in der kulturwissenschaftlichen Debatte weitestgehend obsolet ist, so lässt sich trotzdem die wirkmächtige Vorstellung finden, dass ein unmittelbarer Zugang zum „Primitiven, Kindlichen“ in uns bzw. zur Welt vor allem über die Sekundärsinne möglich ist. Dies zeigt sich am Beispiel des Essens mit den Händen. So wird die Nutzung von Messer und Gabel an vielen Stellen als zivilisatorischer Fortschritt benannt (vgl. Mann et al. 2011: 222). Gleichzeitig weckt das Essen mit den Händen bei vielen Menschen Assoziationen zur Kindheit und wird damit verbunden als lustvolle Regelüberschreitung empfunden. „Teilnehmerin: Wir haben uns auch sehr gefreut über das Essen mit den Händen als es angekündigt wurde. Also ich erinnere das aus der Kindheit, dass ich das geliebt habe. Ich hatte einmal den Freibrief, Spaghetti mit Tomatensoße mit den Händen zu essen, bei einer Freundin meiner Mutter, die in Indien war und da kam irgendwie so das Thema auf: Warum isst man eigentlich in Indien mit den Händen? Und sie meinte so: Ja, stimmt. Willst du das nicht mit den Händen essen? Und ich war total euphorisch und hab so viel Spaghetti mit Tomatensoße gegessen und hab mich deswegen jetzt auch so gefreut, glaub ich. Weil diese Erinnerung daran noch da war. Das ist halt. Ich empfinde das als sehr lustvoll. Wir haben auch über das, also der Faktor Lust. Also mit den Händen, das Kneten und so. Also ich hab an das Brotbacken gedacht auch. Da geht’s gar nicht so sehr um das Essen, sondern einfach so das Reingreifen und so. Die Erfahrung, dass man das darf.“ (Diskussion Taktsinn III)
Restaurants mit indischer oder äthiopischer Küche werben damit, dass Essen vor Ort authentisch mit den Fingern gegessen werden darf und betten dabei diese taktile Erfahrung in das atmosphärische Gesamterleben ein, in das u. a. auch Musik oder Raumgestaltung einfließen. Diese Verbindung des Geschmacks- und Geruchssinns mit dem Atmosphärischen, Intimen wirkt auch in die Bewertung der Sinneswahrnehmungen im Alltag hinein. Wird den körpernahen Sinnen und ihren Wahrnehmungen zu große Aufmerksamkeit geschenkt, stößt dies teils auf Ablehnung und ist mit Scham oder Ekel verbunden. Dies kann der Fall sein, wenn es beispielsweise nicht nur um das Einverleiben des Essens sondern auch um das Ausscheiden von Exkrementen geht oder wenn das Essen in Zusammenhang mit Sex und Erotik thematisiert wird (vgl. Kofahl 2018). Gleichzeitig wird aber gerade dieses atmosphärische Potential des Sinnlichen auch gezielt als Potential eingesetzt. So wird stets betont, dass besonders der Geschmack und der Geruch von Lebensmitteln Erinne-
▶ Kap. 6.4 Leib, Performanz und Raum in den Atmosphären der Ess-Settings
74 | Essen mit und als Methode
▶ Kap. 6.3 Früher waren die Pfirsiche aromatischer
rungen hervorrufen, insbesondere an die Kindheit. Dies wird physiologisch mit der spezifischen Art der Verarbeitung von Geruchsinformationen im Gehirn erklärt.19 Zusammenfassend betrachtet trägt die anhaltende Beschäftigung mit Fragen der (sinnlichen) Wahrnehmung Prozessen in Gesellschaft und Wissenschaft Rechnung, in denen die Manipulation und/oder Inszenierung des menschlichen Körpers u. a. im Zuge der Arbeit an (der eigenen) Identität(en) eine zentrale Rolle spielen.20 In diesem Kontext hat es auch in der Wissenschaftslandschaft Veränderungen gegeben und es sind Disziplinen entstanden, die explizit die Beschäftigung mit Körperbildern und -inszenierungen in den Mittelpunkt stellen wie etwa die Gender Studies oder Disability Studies. Entstanden aus einer politischen Notwendigkeit heraus, die Marginalisierung von nicht dem ‚Normalbild‘ entsprechenden Körpern und Geschlechtern zu thematisieren, gibt es jedoch auch Kritik daran, strukturelle Benachteiligungen aufgrund von Geschlecht oder nicht der Norm entsprechenden Körpern isoliert zu betrachten. Dies wird auch in Bezug auf die Rolle von Körper(n) bzw. sinnlicher Wahrnehmung in kultur- und geisteswissenschaftlicher Forschung insgesamt gefordert, wie Regina Bendix in ihrem programmatischen Text zur Rolle der Sinne in der ethnographischen Forschung mit Bezug auf Michael Herzfeld feststellt: „Es gilt eher, sie [die Sinne, d. Verf.] als integralen Bestandteil unseres methodologischen Instrumentariums zu erkennen und zu nutzen und aus dieser Perspektive wiederum die Rolle der Sinne in Kommunikation und kultureller Praxis mitzubedenken. […] Wenn kulturwissenschaftliche Forschung zu den Sinnen nicht ein spezialisiertes und damit auch marginalisiertes Teilgebiet werden soll, gilt es, einen ganzheitlichen Zugriff zum Thema anzustreben, die Brücke zwischen den Sinnen und ästhetischen Kategorien zu bedenken, und das Sinnliche insgesamt in die ethnographische und theoretische Praxis einzubetten.“ (Bendix 2006: 72)
19 An dieser Stelle sei erwähnt, dass diese physiologische Seite einen wichtigen Anteil zum Verständnis von sinnlicher Wahrnehmung leistet und zum Beispiel Fragen nach der Verarbeitung von Reizen anders beantworten kann als eine geisteswissenschaftliche Disziplin, deren Aufgabe es ist, vor dem Hintergrund dieses Wissens nach den soziokulturellen Ausprägungen biologischer ‚Fakten‘ zu suchen. 20 Zusätzlich zur bereits erwähnten Sehnsucht nach Ästhetisierung sei an dieser Stelle die zunehmende Quantifizierung und Selbstvermessung des Menschen unter dem Schlagwort Quantified Self genannt, vgl. Duttweiler et al. 2016.
3.2 Konzepte sinnlich-leiblicher Wahrnehmung | 75
In den Sozial- und Kulturwissenschaften ist diese Entwicklung in unterschiedlichen Turns betitelt worden, darunter u. a. der Emotional Turn (Beitl/Schneider 2016) oder der Affective Turn (Clough/Halley 2007). Hierbei gibt es in der kulturwissenschaftlichen/soziologischen Forschung zu (sinnlicher) Wahrnehmung zwei Denkrichtungen: Zum einen diejenige, welche sich eher an den kollektiven Wahrnehmungswelten („worlds of sense“, vgl. Arantes 2014: 31) orientiert (vgl. Howes 2003, Classen 1997) und zum anderen diejenige, welche eher subjektive Perspektiven („ways of sensing“) in den Vordergrund stellt und dabei zumeist auch die Forschungspraxis als sinnliche Praxis mitreflektiert (Ingold 2011, Pink 2013). Die meisten der Werke zu sinnlicher Wahrnehmung beinhalten einen programmatischen Teil, in dem zu verstärkter Forschung über und mit dem Körper aufgerufen wurde und wird. Hier gibt es ebenfalls zwei Schwerpunkte: Zum einen geht es um Körperpraktiken und -bilder, zum anderen um die Erkenntnismöglichkeiten, die der Fokus auf den Körper (der/des Forschenden) bietet. In aktuelleren praxistheoretischen Forschungen wird dem Leib/körper u. a. im Zusammenspiel mit der materiellen und sozialen Welt eine eigene, aktive Akteursmacht zugeschrieben. Hier ist der Körper nicht mehr nur ein passives Objekt, in den Kultur und Gesellschaft eingeschrieben werden. Vielmehr wird der Körper als zentrale Bedingung und Ausgangspunkt von Sozialität verhandelt. 21 So wirken die einzelnen Sinne nicht für sich oder rein kumulativ, sondern immer in Interaktion mit den anderen Sinnen und in einem Geflecht aus den jeweiligen eigenen körperlichen Bedingungen, der materiellen Umwelt und den mit uns interagierenden anderen Körpern. Ingold spricht in diesem Zusammenhang von unterschiedlichen Facetten derselben Aktivität: „Looking, listening, and touching, therefore, are not separate activities, they are just different facets of the same activity: that of the whole organism in its environment.“ (Ingold 2011: 261). Diese Idee einer synthetischen bzw. synästhetischen Wahrnehmung weist also über die leibliche Perspektive hinaus, indem zum Beispiel durch das Zusammenwirken 21 Besonders aufschlussreich sind hierbei einige in den letzten Jahren erschienene Ethnographien, die sowohl den programmatischen Aspekt sinnlich-leiblicher Forschung aufnehmen, als auch hilfreiche Einblicke in die Anwendung dieses Forschungsprogramms in der Praxis geben (vgl. Schmidt 2011, Kubes 2018, Arantes 2017). Auf der theoretisch konzeptionellen Ebene verfolgt u.a. der Soziologe Robert Gugutzer (2013) mit der Idee einer verkörperten Soziologie bzw. der Konzeption einer neophänomenologischen (soziologischen) Forschung diesen Ansatz und schließt dabei u.a. an den Anthropologen Thomas J. Csordas (1994) an.
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▶ Kap. 6.4 Leib, Performanz und Raum in den Atmosphären der Ess-Settings
von Licht, Gerüchen, Klängen etc. eine Atmosphäre gestaltet bzw. als multisensuell beschrieben wird (vgl. Diaconu 2012: 56 und Hauskeller 1995: 74). Leib-Körper-Konzepte Wenn in der vorliegenden Arbeit angenommen wird, dass sich leibliche und soziale Praktiken wie die des Essens und Kochens nicht abschließend durch die aneinandergereihte Beschreibung einzelner Sinneswahrnehmungen greifen lassen, wird ein übergeordnetes analytisches Konzept benötigt, das die Hierarchisierung der Sinne überwindet und Anschlüsse an räumliche, soziale, kulturelle und politische Dimensionen ermöglicht. Ein solches Konzept muss Wahrnehmungen übergreifend erfassen und im Zusammenspiel mit der Umgebung mit menschlichen und nicht-menschlichen Akteur*innen jenseits von Dichotomisierungen wie Subjekt vs. Objekt oder Körper vs. Geist beschreiben können. Wahrnehmung ist in diesem Konzept als eine situative, (inter-)aktive, (inter-)subjektive bzw. (inter-)korporelle Praxis zu verstehen. Gleichzeitig muss es möglich sein, einzelne Wahrnehmungen zu lokalisieren und beispielsweise aus analytischen Gründen auch einzeln zu beschreiben und das Zusammenwirken spezifischer Sinneswahrnehmungen miteinander oder in ihrer soziokulturellen Prägung einzubeziehen. Durch den Einbezug der materiellen Komponente weist das in dieser Studie verwendete Leib/körper-Konzept über leibtheoretische Positionen hinaus. Die Unterscheidung von Leib und Körper stellt ein übergreifendes Konzept dar, in das die einzelnen Sinnesmodalitäten eingebettet sind, beziehungsweise nimmt der Leib nach Plessner und MerleauPonty durch seine Sinne wahr. In der (neo-)phänomenologischen Betrachtung sind Körper und Leib untrennbar miteinander verknüpft: Der Körper ist das für die Umwelt wahrnehmbare Ding, das der Mensch hat und dabei auch mit der Umwelt teilt, während der Leib die lebendige Einheit und subjektive Verbindung zur Welt darstellt, die der Mensch als Selbst ist (vgl. Plessner 1980). Nach Hermann Schmitz besitzt der Körper dabei eine dreidimensionale Ausdehnung und ist nur im räumlichen Bezug zu anderen Körpern (menschlichen wie auch nicht-menschlichen) zu einer bestimmten Zeit lokalisierbar. Der Leib kann ihm zufolge hingegen als „absoluter Ort“ beschrieben werden, der für die eigene Orientierung ohne diese raum-zeitlichen Bezüge existiert (vgl. Schmitz 2019: 11, Plessner 1975: 289f). Die Soziologin Gesa Lindemann betont dabei die Situiertheit des
3.2 Konzepte sinnlich-leiblicher Wahrnehmung | 77
„[…] raum-zeitlich strukturierten Vollzug[s] leiblicher Umweltbezüge. Es geht nicht um das aktive Handeln und Entscheiden einzelner Akteure, sondern darum, wie diese in die Situation eingebunden sind, von dieser berührt werden und entsprechend auf die Umwelt handelnd einwirken bzw. mit anderen kommunizieren.“ (Lindemann 2017: 58)
Somit ist das Körper-Leib-Konzept insbesondere dann hilfreich, wenn es um die Analyse von Interaktionen in konkreten räumlich sowie zeitlich begrenzten Situationen geht, in denen leibliche Akteur*innen mit/in gegebenen Umständen interagieren. Diese Dualität des menschlichen Körpers ist in der Lage, leibliche Selbste in ihrer Beziehung und Positionierung zur Umwelt (Körper haben) als auch den subjektiv wahrgenommenen Körper (Leib sein) als untrennbar voneinander in eine Einheit zu bringen und dennoch der Komplexität dieses Konstrukts gerecht zu werden. Denn beide beeinflussen sich wechselseitig und sind nicht voneinander getrennt denkbar. Es ist somit wichtig, diese Trennung als eine analytische zu begreifen. Mit der Fokussierung auf den Leib/körper wird die Einseitigkeit der Beziehung von Körper und Umwelt infrage gestellt. Der Körper ist nicht (mehr nur) das Ergebnis gesellschaftlicher Prägungen indem er u. a. Machtverhältnisse repräsentiert, vielmehr stellt die Leiblichkeit des Menschen die Bedingung sozialen Handelns dar (vgl. Gugutzer 2014: 17). Somit versteht Gugutzer den Begriff der Verkörperung auch nicht nur als das Sichtbarmachen soziokultureller Prägungen, sondern als die Praxis des Verschränkens von Körper und Leib (vgl. ebd.: 17f). Gugutzer stellt dieses leibliche Handeln in den Mittelpunkt einer neophänomenologischen Soziologie, in der der menschliche Körper nicht mehr nur Medium, sondern Subjekt sozialen Handelns ist. „Der Leib ist ein eigenständiger, autonom handelnder Akteur, dessen Aktionen sinnhaft und daher mehr als bloßes Verhalten sind. Der Leib als Handlungssubjekt zeigt sich als eigenwilliger Akteur, der sich der bewussten Kontrolle des Individuums entzieht. Als Handlungssubjekt agiert der Leib auf vorreflexive, eigen-sinnige, bzw. der Leib als Handlungssubjekt ist dieser ‚Eigensinn‘. […] Eigensinnig-leibliches Handeln entspricht einem dezidiert antirationalistischen Handlungsverständnis […], das betont, dass soziales Handeln häufig ein leiblich angeleitetes, körperliches Handeln jenseits willentlicher Kontrolle ist.“ (Ebd.: 53)
Da das Phänomen des Essens von eben diesem Dualismus von Innen- und Außenperspektive, Natur und Kultur geprägt ist, ist diese Annahme einer Verschränkung von Leib und Körper zentral für die Betrachtung des Essens als leibliche Praxis. Hunger und Durst sind
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leiblich spürbare Äußerungen der menschlichen Physiologie. Zugleich muss der Mensch das Essen als eine Kulturtechnik erst erlernen, dieses Wissen schreibt sich in den Körper ein und wird dabei implizit. Somit wird der eigene Körper „der erste Kulturgegenstand, mit dem der Mensch zu tun hat, und die ersten Kulturtechniken, die er entwickelt sind Körpertechniken“ (Gugutzer 2014: 44 nach Mauss 1975). An dieser Stelle ist es wichtig festzustellen, dass es keine (für dieses Thema) relevante vorgesellschaftliche Erfahrung des Leibes geben kann und das Hinzuziehen des Begriffs ‚Natur‘ vielmehr eine rhetorische Figur als eine relevante Kategorie leiblicher Erfahrung ist. Wenn hier davon ausgegangen wird, dass es sich bei Settings des kollektiven Kochens und Essens um Situationen verkörperter Praxis handelt, stellt sich die Frage, wie das Leib-Körper-Konzept für deren (ethnographische) Analyse verwendet werden kann. Die Idee der Trennung von Leib und Körper baut auf philosophischphänomenologischen Konzepten auf, die als Gedankenmodelle und Theorien zwar weitestgehend schlüssig sind, jedoch für die ethnographische Praxis nur bedingt hilfreich sind. So bieten sie der forschenden Person Möglichkeiten zur strukturierenden Analyse des Feldes, zum Beispiel als Blickrichtung auf das Feld und Material oder im Sinne von Kodes, die aber für jede Forschungssituation auf ihre Übertragbarkeit geprüft und ggf. angepasst werden müssen. Insofern ist die Idee des Leib/körpers hier als die konzeptuelle Grundlage für die ethnographische Forschung anzusehen, die in den nachfolgend vorgestellten Konzepten für die Praxis ausgestaltet wird. Hierbei steht dann die Perspektive des Leib/körpers als Erkenntnissubjekt(e) im Vordergrund. Verkörperung/Embodiment Die Verschränkung von Leib und Körper geschieht über die Verkörperung, die wiederum an einen praktischen Vollzugsmodus gebunden ist: „In der körperlichen Praxis sind Leib und Körper eins.“ (Gugutzer 2013: 23). Dabei gibt es wechselseitige Prägungen von Körper und Leib. So beeinflusst das kulturell erworbene Wissen über Körper die leibliche Wahrnehmung. Gesa Lindemann verdeutlicht dies an einem medizinhistorischen Beispiel, in dem Frauen wahrnahmen, dass ihre Gebärmutter im Körper wanderte. Mit der zunehmenden Verbreitung von anatomischen Abbildungen des weiblichen Körpers verschwand diese leibliche Wahrnehmung jedoch im Laufe des 17./18. Jahrhunderts. „Vor diesem Hintergrund ist die Verschränkung von Körper und Leib zu verstehen als eine Verschränkung von Wissen über den Körper und der erlebten Gegebenheit des eigenen Leibes.“ (Lindemann 2017: 65). Gleichzeitig
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steuert das leibliche Spüren, wie eine konkrete körperliche Handlung in einer Situation vollzogen wird. Das kann zum Beispiel eine Stimmung sein oder das Gefühl des Fremdseins in einer Situation, wodurch das Auftreten und die eigenen Handlungen mehr oder weniger extrovertiert ausfallen. Und auch diese Gefühle und Stimmungen werden wiederum zum Beispiel durch Rotwerden verkörpert und tragen ihren Anteil zur Dynamik einer Situation bei. Aus einer forschungstheoretischen bzw. vor allem forschungspraktischen Perspektive beschreibt Verkörperung ein Paradigma und eine Blickrichtung. Bereits in den 1990er Jahren beschrieb Thomas J. Csordas unter dem Begriff „embodiment“ ein methodologisches Konzept, das den Leib/körper in der Praxis mit der Welt verschränkt: „[…] I would like to juxtapose the parallel figures of the ‚body‘ as a biological, material entity and ‚embodiment‘ as an indeterminate methodological field defined by perceptual experience and mode of presence and engagement in the world.“ (Csordas 1994: 12). Dabei definiert er den Körper („body“) als biologische, materielle Gegebenheit. Etwa 10 Jahre später nimmt sich Gugutzer des Projekts an, die Körpersoziologie in eine verkörperte Soziologie zu verwandeln. Das bedeutet für ihn, aus einer Leib/körper-Perspektive Antworten auf grundlegende Fragen der Soziologie (z. B. Was ist soziales Handeln?) zu finden und nicht (nur) den Leib/körper zu einem Gegenstand der Soziologie zu machen (Gugutzer 2013: 145ff). Somit werden hier in Situationen der Interaktion Wechselwirkungen von Struktur (Sozialität, Kultur) und Verkörperung (Handlung) untersucht (vgl. ebd.: 149f). Seine Blickrichtung bezeichnet Verkörperung in dem Sinn, dass der Leib/körper der Forschenden ebenfalls zu Erkenntnisquelle und -subjekt wird, indem leiblich-affektive Regungen und deren Analyse und Repräsentation fester Bestandteil einer jeden Forschung sind (vgl. Gugutzer 2017). In diesem Sinne stellt die Verschränkung von Leib und Körper von innen und außen in der Verkörperung die konzeptionelle Grundlage für die im Folgenden vorgestellten Konzepte dar. Sozialer Sinn/Habitus Ergänzend zur vorangehend beschriebenen Idee der Verkörperung bietet sich Bourdieus Habitus-Konzept bzw. das Konzept des sozialen Sinns an, um beispielsweise zu erschließen, warum sich Menschen in einer Situation wohl, unwohl, kompetent etc. fühlen. Die erworbene Haltung im Sinne des Habitus ist hier mit der körperlichen, sichtbaren Haltung untrennbar verbunden. Sie fungiert als „eine Art innere Steuerungsinstanz des kulturellen Handelns“ (Gebauer 2017: 28). Der Habitusbegriff Bourdieus beinhaltet somit nicht nur kognitive Aspekte wie Denkmuster, sondern ist auch ein
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leibliches Konzept, indem im Habitus auch Dispositionen sichtbar verkörpert werden. Wichtig hierbei ist, dass es sich nicht um Automatismen handelt, sondern um Dispositionen, die leibliche Akteur*innen situationsgebunden aktualisieren können (vgl. Lindemann 2017). Die Wirksamkeit dieser Dispositionen ist relational und äußert sich nur in Beziehung zu einem sozialen Feld bzw. bleibt in dieser Beziehung verborgen. Dabei nimmt Bourdieu den Körper als Eins an, in dem Praxis, Prägung und Wissen verankert sind. Er ist somit die vermittelnde Instanz zwischen Subjekt und Umwelt. Die Klassenzugehörigkeit einer Person wirkt hier sowohl nach innen als auch nach außen: Einerseits beeinflusst sie die Wahrnehmung von und den Umgang mit dem eigenen Körper und dementsprechend lässt sich andererseits die jeweilige Klasse auch von außen am Körper ablesen.22 Im Handeln werden die Menschen nach Bourdieu zum einen von der konkreten Situation und zum anderen durch ihre Prägungen, den Habitus geleitet. Daraus entwickeln sie den praktischen Sinn, mit dem sie sich (vorreflexiv) in einer Situation orientieren. Das bedeutet, dass die geltenden Spielregeln eines sozialen Feldes auch ohne intendierten Sinn funktionieren und sinnhaft sind. Hierbei: „[…] leitet der praktische Sinn ‚Entscheidungen‘, die zwar nicht überlegt, doch durchaus systematisch, und zwar nicht zweckgerichtet sind, aber rückblickend durchaus zweckmäßig erscheinen. Als besonders exemplarische Form des praktischen Sinns als vorweggenommene Anpassung an die Erfordernisse eines Feldes vermittelt das, was in der Sprache des Sports als ‚Sinn für das Spiel‘ […] bezeichnet wird, eine recht genaue Vorstellung von dem fast wundersamen Zusammentreffen von Habitus und Feld, von einverleibter und objektivierter Geschichte, das die fast perfekte Vorwegnahme der Zukunft in allen konkreten Spielsituationen ermöglicht.“ (Bourdieu, 2014, S. 122)
Der praktische Sinn als vorbewusste leibliche Praxis ermöglicht damit die Bewältigung situativer Aufgaben und somit auch das Einschätzen von Atmosphären, weshalb Gugutzer von einem „atmosphärischen Verstehen“ spricht (Gugutzer 2014: 81).
22 Bourdieu arbeitet u. a. mit dem Beispiel, dass Angehörige der so genannten unteren Klassen schwereres Essen und körperliche, kämpferische Sportarten präferieren und dementsprechend auch starke, kräftige Körper als Ideal gelten (vgl. Bourdieu 1982: 288-354). In den so genannten mittleren und höheren Klassen werden hingegen Sportarten und eine Ernährung bevorzugt, die einen schlanken, gesund(en) (aussehenden) Körper in den Mittelpunkt stellen.
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Dies beinhaltet, dass die Angehörigen einer Gruppe aufgrund dieses gemeinsamen Wahrnehmungsschemas bestimmte Details und Zusammenhänge bemerken und verstehen, während sie andere, nicht in dieses Schema passende Details und Zusammenhänge nicht wahrnehmen. Nicht nur Praktiken werden bei Bourdieu durch klassenspezifisch erworbenes Wissen beeinflusst und in den Körper eingeschrieben, sondern auch der Geschmack selbst, der dann wiederum auch Einfluss auf das Aussehen des Körpers hat. Bourdieu sieht im Geschmack die „Natur gewordene, d. h. inkorporierte Kultur, Körper gewordene Klasse“ die den „Klassenkörper“ im wahrsten Sinne des Wortes formt und somit zur „unwiderlegbarste[n] Objektivierung des Klassengeschmacks“ macht (Bourdieu 1982: 307). Er geht nicht nur davon aus, dass die einverleibten Nahrungsmittel den wahrgenommenen Körper formen (im Sinne eines schlanken, dicken, gesund wirkenden Körpers), sondern dass das gesamte Körperschema beeinflusst wird, zum Beispiel in Form der Körperhaltung. Bourdieu stellt fest, dass der wahrgenommene Körper, auch wenn kaum etwas an ihm nicht auch kulturell geprägt ist, häufig als natürlich beschrieben wird: „Die konstitutiven Zeichen des wahrgenommenen Körpers, genuine Kulturprodukte, die Gruppen unter dem Aspekt des körperlichen Grads an Kultur, anders gesagt ihrer Ferne zur Natur differenzieren, erwecken tatsächlich den Anschein natürlicher Fundierung.“ (Ebd.: 310)
Bourdieu betont in diesem Zusammenhang den doppelten Sinn des Geschmacksbegriffs und verbindet ihn mit der Verwendung des Kulturbegriffs im allgemeinen Sprachgebrauch und im ethnologischen Sinne: „Die Doppelbedeutung des Wortes ‚Geschmack‘, die gewöhnlich zur Rechtfertigung der Illusion von Spontaneität herhalten muß, welche die kultivierte Disposition produziert, indem sie sich als angeboren ausgibt, soll dieses eine Mal daran erinnern helfen, daß Geschmack als ‚Fähigkeit, über ästhetische Qualitäten unmittelbar zu urteilen‘, nicht zu trennen ist vom Geschmack als Fähigkeit zur Unterscheidung jeweils spezifischer Geschmacksrichtungen von Speisen, womit die Vorliebe für bestimmte unter ihnen impliziert ist.“ (Ebd.: 171)
Diese bourdieusche Verwendung von Geschmack in einem doppelten Sinne stellt die Abwertung des Geschmackssinns als nicht erkenntnisstiftend infrage, da gerade diesem (erweiterten) Geschmackssinn „ein Wahrnehmungs- und Differenzierungsvermögen attestiert wird, welches sich bestens zur Aneignung von Kultur und Kunst eignet.“ (Barlösius 2011: 75). Geschmack, aber auch
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leibliche Praxis insgesamt, bietet somit einen analytischen Zugang und dient als Erkenntnisquelle für situative Praxisanalysen in nahezu allen Forschungsfeldern. Emotionspraktiken
▶ Kap. 6.4 Leib, Performanz und Raum in den Atmosphären der Ess-Settings
Die gegenwärtigen Debatten um Emotion und Affekt bewegen sich in einem Spannungsfeld zwischen Naturwissenschaften, Psychologie sowie Geistes- und Kulturwissenschaften. Unter dem Oberbegriff „Emotion“ werden allgemein Gefühlsregungen bezeichnet, die u. a. je nach Disziplin und Untersuchungssetting in unterschiedliche Unterkategorien unterteilt werden und unterschiedliche Formen von Gefühlen zugrunde legen. Affekt stellt dabei eine Form von Emotion bzw. Emotionspraxis dar, die sich durch ihre Nicht-Intentionalität und ihre Gerichtetheit auf das Innere auszeichnen. Insbesondere in der ethnographischen Forschung kann es hilfreich sein, mit einem erweiterten Emotionsbegriff zu arbeiten, da so das meist breite Emotionsspektrum eines Feldes abgedeckt werden kann. Sollte sich im Forschungsverlauf der Bedarf nach spezifischeren Konzepten wie zum Beispiel Affekt ergeben, sind diese nicht von vornherein ausgeschlossen. Hierbei folge ich dem von Monique Scheer beschriebenen Konzept der Gefühlspraktiken. Monique Scheer plädiert dafür, Emotionen als Zusammenspiel aus nach innen gerichtetem Erfahren und nach außen gerichtetem Ausdruck zu verstehen. Insofern sind Gefühle nicht etwas, das wir einfach so haben, auch sie unterliegen einem Herstellungsprozess, der an körperliche Gegebenheiten, kulturelle Prägungen und praktische Aushandlung geknüpft ist. Angelehnt an Catherine A. Lutz und Lila Abu-Lughod bezeichnet Scheer Emotionen als „kommunikative Performanzen, die genauso intensiv auf das kulturelle System verweisen, in das sie eingebettet sind, wie auf das Innere des Subjekts“ (Scheer 2016: 22). Nach Sarah Ahmed sind Emotionen wie auch Atmosphären nicht in Menschen oder Dingen lokalisiert, sondern befinden sich zwischen ihnen als eine Art Kommunikationsmedium. Aktiv und passiv, natürlich und artifiziell oder auch innen und außen werden hierbei zu Zuschreibungen, die im emotionspraktischen Ansatz überwunden werden sollen. Sie reihen sich in dieser Sichtweise in die einleitend zu diesem Kapitel beschriebenen Spannungsfelder (Sutton 2010) ein, die sich bei der synthetisierenden Betrachtung von Polaritäten ergeben. Scheer verdeutlicht die Gemachtheit dieser Unterscheidungen am Beispiel eines bewussten und eines reflexhaft erlebten Lachens:
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„Aus der kulturwissenschaftlichen Perspektive erscheint es jedenfalls wenig sinnvoll, zwischen diesen beiden Arten des Lächelns streng zu unterscheiden. Im Vollzug gehen sie fließend ineinander über. Dass die eine Art ‚echter‘ als die andere erscheint, oder zum ‚natürlichen‘ Affekt erklärt wird, während die andere Art als kulturell geboten und deshalb unnatürlich gilt, ist eine historisch entstandene Sichtweise, die in einer Ethnografie oder Kulturgeschichte analysiert, nicht reproduziert werden soll.“ (Scheer 2016: 24)
Affekt stellt für Scheer weniger eine ‚natürliche‘ Körperäußerung oder autonome Handlung dar, als vielmehr eine Form des habitualisierten Körpers, die autonom wahrgenommen werden kann, wenn sie sich dem eigenen Willen gegenüberstellt (ebd.: 26). Somit wird das Konzept der Emotionspraktiken anschlussfähig an das oben erläuterte Habituskonzept, indem Emotion als Praxis beschrieben wird, die durch den Habitus produziert wird (ebd.: 27f). Um mentale Phänomene wie Gefühle oder Erinnerungen sichtbar zu machen und erforschen zu können, wird ein so genannter materieller, körperlicher Anker benötigt. Dies können Bewegungen oder Äußerungen des Körpers oder auch der Sprache sein, wobei diese nicht losgelöst voneinander betrachtet werden können: „Körperliche Aktivierung wird erst durch Versprachlichung sinnvoll; emotionale sprachliche Äußerungen verweisen auf körperliche Zustände, evozieren sie, werden erst durch sie verständlich.“ (ebd.: 29). Um Emotionen als in Situationen, Diskurse und Interaktionen eingebettete Praktiken zu verstehen, unterscheidet Monique Scheer zwischen vier sich überlappenden Gefühlspraktiken: (1) Mobilisierende Praktiken sind alle Praktiken, die u. a. in Verbindung mit Ritualen, Artefakten und Räumen Emotionen evozieren und dabei meist mit einer Erwartungshaltung verbunden sind, dass genau diese Emotionen eintreten. So ist meistens bereits vor dem Musikhören, dem Besuch einer Beerdigung oder der Teilnahme an einem ausgedehnten Mahl klar, welche Gefühle voraussichtlich erzeugt werden. Bei (2) benennenden Emotionspraktiken werden Gefühle geordnet und typisiert. Durch (3) kommunizierende Emotionspraktiken wird über den Ausdruck von Gefühlen mobilisiert und ein bestimmter Zweck erreicht, wenn zum Beispiel ein Trainer seine Mannschaft durch eine Standpauke zu höheren Leistungen antreibt. (4) Regulierende Emotionspraktiken sind dort zu beobachten, wo Gefühle gedämpft und orientiert an Normen kanalisiert werden. In diesem Sinne sind Emotionspraktiken wie auch Verkörperungen und der Habitus Konzepte, in denen das Innen und Außen des Leib/körpers situativ in der Handlung verbunden werden und insbesondere dann hilfreich, wenn es um das Fühlen geht. Dabei sei angemerkt, dass solche Emotionspraktiken gerade aufgrund ihrer Si-
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tuativität instabil und nicht so vorhersagbar sind, wie die oben beschriebene Einteilung in Emotionspraktiken es vermuten ließe. So kann bereits ein unerwartetes, falsches Musikstück eine Vorfreude auf etwas oder eine Situation zum Scheitern bringen. Implizites Wissen Für die Verwirklichung von empirischer Erkenntnis ist also ein, meist verbales, Explizieren der Wahrnehmung notwendig. Insbesondere dort, wo vordergründig nicht-rationale Verständigungsprozesse ablaufen wie etwa im Sport, beim Tanz oder eben beim kollektiven Kochen und Essen ist dieser Zugang über leibliche Erfahrung besonders hilfreich. Die routinierten Handlungen, die eben kein explizites Wissen (mehr) erfordern und sich in einem Leibgedächtnis ablagern, lassen jedoch eine direkte Verbalisierung häufig nicht ohne weiteres zu. Dieses implizite Wissen oder Erfahrungswissen ist dabei jedoch nicht statisch, sondern dynamisch, und aktualisiert sich ständig im Handlungsvollzug (Gugutzer 2014: 68). Der Begriff Erfahrungswissen impliziert, dass es nur durch die Praxis erworben und verinnerlicht werden kann und es hier nicht nur um einen Lernprozess, sondern um übergreifend-sinnliche Erfahrung geht. Der Pädagoge Hans Georg Neuweg spricht in diesem Zusammenhang auch von einer Kunst, beispielsweise des Kochens, die nicht nur angewandte Theorie ist, sondern aus Verfahrensregeln und Kniffen besteht, „die dem praktischen Schaffen als Nebenertrag erwachsen“ (Neuweg 1999: 6). Dieses Verständnis von Kunst und Könnerschaft erfordert mehr als nur das Befolgen von Regeln, um eine Kunst zu beherrschen.23 Für Neuweg hängen Wissen und Können dabei nicht immer zusammen, denn er unterscheidet zwischen „Wissen ohne Können“ und „sprachlosem Können“. In diesem Zusammenhang betont der Kommunikationswissenschaftler Jens Loenhoff, dass es sich bei implizitem Wissen eben nicht, wie häufig angenommen, um ein internalistisches Wissen handelt, auch der Erwerb dieses Wissens sei sozial eingebettet (Loenhoff 2015: 24f). Somit liegt der Schlüssel zur Explizierung dieses impliziten Wissens auch wieder in der sozialen Kontextualisierung. Ein Ansatzpunkt dafür könnte laut Loenhoff sein, erwartete Abläufe zu durchbrechen und damit auch die Normativität des impliziten Wissens deutlich zu machen.
23 Dieses Kunstverständnis entspricht sicherlich nicht aktuellen Debatten, soll allerdings an dieser Stelle nicht weiter erörtert werden, da ich mich hier vor allem auf die Konzeption von Erfahrungswissen bei Neuweg beziehe.
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„The refusal or denial of a follow-up action suffices to call attention to the failure of an action and to make the expectation noticeable as an expectation. The implicit normativity of the kind of tacit knowledge that ensures successive action thus emerges above all in the expectation of those expectations by which social action is structured.“ (Ebd.: 25)
Auch in dieser Arbeit spielt die Nutzung leiblich-affektiver Differenzerfahrungen im Forschungsprozess eine zentrale Rolle dabei, implizites Wissen verbalisierbar zu machen und es somit zu einem möglichen Verhandlungsgegenstand des Kollektivs werden zu lassen. Der Anspruch, dass (Körper-)Wissen expliziert werden muss, entspringt meist weniger einem alltäglichen Problem als einem methodologisch-wissenschaftlichen. Auch Gugutzer beschäftigt sich mit dieser Idee eines „leiblichen Missverstehens“ als Ausgangspunkt von Erkenntnis und lenkt den Blick auf solche Situationen, die spürbar nicht funktionieren (vgl. Gugutzer 2014: 82). „Durch deren Rekonstruktion ist es möglich, ex negativo allgemeine Bedingungen und Aspekte leiblichen Verstehens zu identifizieren.“ (ebd.). Insofern spielt in dieser Arbeit weniger das Konzept des impliziten Wissens selbst eine Rolle, sondern geht in anderen Konzepten wie dem Habitus oder der Idee von Verkörperung auf. Beispielsweise im Umgang mit Essen und Erinnerung spielt die Frage eine Rolle, wie implizit-leibliches Wissen über leibliche Praxis insbesondere durch Störungen oder gezielte Interventionen zum verhandelbaren Wissen einer Gruppe werden kann. Body Multiple Auch wenn deutlich geworden ist, dass die Trennung von Körper und Leib eine analytische ist und Körper und Leib insgesamt als ineinander verschränkte Einheit angesehen werden müssen, kann es methodologisch sinnvoll sein, beide Einheiten zu trennen, sie in sich noch einmal zu unterteilen und als Vielheiten zu begreifen. Thomas J. Csordas bezieht sich u. a. auf Mary Douglas oder Nancy ScheperHughes und Margaret Lock wenn er den „multiple body“ als unbestimmte Anzahl von Körpern im Körper beschreibt, je nachdem welche Aspekte in der Forschung im Mittelpunkt stehen (vgl. Csordas 1994: 5f). Auch wenn die von Csordas angeführten Beispiele von nur einem „body“ in Verbindung mit anderen Einheiten ausgehen, ist es daran anschließend durchaus denkbar, auch viele Leiber und Körper anzunehmen, je nachdem welche (temporären, situativen) Verbindungen sie zum Beispiel mit einer materiellen Umwelt eingehen. Auch die Anthropologin und Philosophin Annemarie Mol geht davon aus, dass nichts singulär ist: kein Objekt, kein Körper, keine
▶ Kap. 8.2 Methodologisches Fazit
▶ Kap. 6.3 Früher waren die Pfirsiche aromatischer
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Krankheit (vgl. Mol 2007: 6). Sie fügt dem „Körper haben und Leib sein“ mit dem „doing body“ eine weitere leibtheoretische Kategorie hinzu. Im Prozess des „doing body“, den sie in ihrer ethnographischen Forschung zu Arteriosklerose beschreibt, entsteht bei Mol ein „body multiple“, das in einem bestimmten Rahmen/einer bestimmten Situation in einem kollektiven Prozess entsteht: „The body ‚we‘ do in that setting is done by a wide ‚we‘: all kinds of people and apparatus are involved. The patient whose arteries are at stake actively participates in these doings.“ (Martin et al. im Gespräch mit Mol 2018: 296). Somit ist der multiple Körper als ein Netzwerk zu verstehen, das verschiedene menschliche und nicht-menschliche Akteur*innen unter einem bestimmten Aspekt versammelt. Mol unternimmt hierbei den Versuch, eine komplexe Realität zu beschreiben, ohne diese zu sehr zu vereinfachen. Sie bezeichnet das Multiple in diesem Zusammenhang auch als „intricately coordinated crowd“ (Mol 2007: viii). In Mols Buch „The Body Multiple“ entspricht dieser Aspekt der Krankheit Arteriosklerose. Sie beschreibt, dass das „doing of the body“ hierbei mit dem „doing of illness“ zusammenfällt und beide Prozesse nicht getrennt voneinander beschrieben werden können. Unter einem anderen Fokus würde dieses Body Multiple dementsprechend anders aussehen. Durch die Fokussierung der Praxis, des „doing“, werden die Grenzen des Körpers hierbei stark erweitert und entsprechen nicht mehr der leiblichen oder auch körperlichen Grenze. Übertragen auf die vorliegende Forschung ist das hier beschriebene Body Multiple der essende Leib/körper, der unter verschiedenen Aspekten betrachtet wird: als erzählter/narrativ konstruierter „essender Leib/körper“, als sinnlich-affektiver „essender Leib/körper“ und als gesellschaftlicher/politischer „essender Leib/körper“. Dazu gesellt sich der forschende „essende Leib/körper“ und viele weitere Perspektiven, die in dieser Arbeit nur kurz erwähnt und nicht weiter ausgeführt werden können. Wichtig dabei ist, dass es sich bei dieser Idee des Multiplen nicht um Fakten handelt, die entdeckt werden, sondern dass diese im Zusammenwirken unterschiedlicher Akteur*innen als solche erst hergestellt werden („to enact“). Arbeitsbegriffe: Der essende Leib/körper Die Auffassung eines Leib/körpers als einerseits nach innen und andererseits nach außen gerichtetes Konzept des fühlenden, handelnden und interagierenden Selbsts bildet die Grundlage der hier vorliegenden Forschung. Alle umrissenen weiteren Konzepte bauen auf diesem Konzept auf und arbeiten damit. Sowohl das Habituskonzept und die Emotionspraktiken als auch die Vorstellung von
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Verkörperung(en) beruhen auf dem handelnden, mit der Umwelt interagierenden Leib/körper und stellen damit eine wichtige Weiterführung für die ethnographische Forschung dar. Wir nehmen uns selbst und unsere Umgebung wahr, in diesem Fall beim kollektiven Essen und/oder Kochen, und gehen gleichsam Allianzen mit Personen, Atmosphären und Dingen ein. Temporäre Zustände unseres Leib/körpers wie Hunger oder schlechte Laune beeinflussen dabei unser Umfeld ebenso wie längerfristige Eigenschaften wie Geschlecht oder körperliche Beeinträchtigungen. Somit wird die Wahrnehmung hier weniger in ein Fünf-Sinne-Schema gefasst, sondern vielmehr als reziproker leib/körperlicher Prozess reflektiert. Abseits der visuellen, akustischen, taktilen, gustatorischen und olfaktorischen Reize spielen hier auch das Empfinden von unterschiedlichen Temperaturen, Hunger, Durst, Sättigung oder die Wahrnehmung von Zeit eine wichtige Rolle. Dabei kann die Aufmerksamkeit nach innen oder nach außen gerichtet sein und dementsprechend ein soziales Wohlgefühl oder ein Gefühl von Fremdheit vermitteln. Folglich kombiniert das hier verwendete Wahrnehmungsmodell konkrete, an Sinnesorgane gebundene Eindrücke wie Geschmack oder Geruch mit diffuseren, atmosphärischen Empfindungen und Gefühlen. Ausschlaggebend dafür, ob die direkte Sinneswahrnehmung oder eher ein synästhetischer, übergreifender Zugang gewählt wird, ist hierbei immer das Material und die zugrundeliegende Situation. Darüber hinaus konzipiert die Idee eines Body Multiples den Leibkörper als relationale Vielheit unter einem bestimmten Fokus, mit der sich Situationen und damit zusammenhängende Atmosphären und Materialisierungen betrachten lassen. In diesem Sinne existiert also nie nur der Leib/körper an sich, sondern immer nur der Leib/körper plus x. Was dieses x ist, hängt von dem jeweils hergestellten Referenzsystem einer Forschung ab. In der hierin beschriebenen Forschung entspricht dies, wie bereits erwähnt, dem Leib/körper plus dem Referenzsystem Essen (der essende Leib/körper). Ich lege dabei zugrunde, dass sowohl Dinge bzw. Materialitäten als auch menschliche Subjekte handelnde und handlungsmächtige Akteur*innen sind, die in der Situation eines Ess-Settings zusammenwirken. Gerade wenn beim Essen durch die Einverleibung von Nahrungsmitteln beispielsweise eine Körpergrenze überschritten wird, verschwimmen auch die Grenzen von Subjekt und Objekt (vgl. Mol 2008), von Mikro- und Makroebene sowie von menschlichen und nicht-menschlichen Akteur*innen (vgl. Latour/Roßler 2007, Kwek/Seyfert 2015). Daran anschließend zeigen sich an Essen und Kochen geknüpfte Erinnerungen als früh erworbene und stetig verfestigte Praktiken, die auf implizitem Wissen beruhen. Je nach Fokus werden die beschriebenen theoretischen Grundlagen
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vor allem im sechsten Kapitel zu „Essen und Kochen als sinnlichleibliche Erfahrungs- und Erkenntnispraktiken“ weiter ausgeführt und zur Analyse herangezogen.
3.3
SINNLICH-LEIBLICHE PERSPEKTIVEN AUF BESONDERE MAHLZEITEN: FORSCHUNGSLÜCKE
Anschließend an den vorab erläuterten Forschungsstand zur (kulturwissenschaftlichen) Nahrungsforschung und einen sich in den Geistes- und Kulturwissenschaften abzeichnenden Sensory Turn, soll die identifizierte Forschungslücke nun noch einmal vorgestellt werden. Dabei sei an dieser Stelle erwähnt, dass diese Arbeit weniger an Debatten der kulturwissenschaftlichen Nahrungsforschung und sinnlichen Ethnographien ansetzt, sondern vielmehr an dem aus dem Feld heraus definierten Format des Ess-Settings. Nichtsdestotrotz schließt gerade die Problematisierung dieses Mahlzeitenformats an aktuelle Debatten um die Zentrierung von Erfahrung und sinnlichem Erleben in ethnographischen Forschungen an (Arantes/Rieger 2014). So geht es in dieser Arbeit zum einen darum, sich Ess-Settings unter der vorab beschriebenen Definition zu nähern und als Feld und Format zu beschreiben. Zum anderen soll darüber hinaus geklärt werden, auf welche Bedürfnisse, Problemstellungen und Entwicklungen Ess-Settings eine Antwort liefern können. Warum und inwiefern funktionieren hier also außeralltägliche Mahlzeiten in partizipativen, schöpferischen und wissenschaftlichen Kontexten als Erkenntnis- und Begegnungsräume und warum auch nicht? Eine der wenigen Arbeiten im Kontext der kulturanthropologischen Nahrungsforschungen, die sich ebenfalls mit besonderen Mahlzeitentypen beschäftigt, ist die Dissertation von Kristina Bennewitz. In dieser nimmt sie vorwiegend Formate wie „Supper Clubs“ und „Running Dinners“ und die sozialen Qualitäten dieses außeralltäglichen gemeinsamen Essens in den Blick. Dabei stellt auch Bennewitz fest, dass es bisher kaum größere empirische Forschungen zu Mahlzeitformaten bzw. Mahlzeitsituationen gegeben hat.24 Die Arbeit setzt an dieser Lücke an und erweitert den Forschungsfokus um die sinnlich-leibliche Perspektive auf besondere Mahlzeitformate. Wie mit Jochen Bonz (2014) beschrieben, führt
24 Eine inspirierende Ausnahme hiervon ist Alice P Juliers Monographie „Eating Together“ zur Rolle des gemeinsamen Essens in der US-amerikanischen Gesellschaft (2013).
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diese Erweiterung der Perspektive bei konsequenter Weiterverfolgung in der Forschung zu einer Revision der ethnographischen Methodologie, die als eine parallele Forschungsspur in dieser Arbeit mitverfolgt wird.
An dieser Stelle möchte ich die einzelnen Ess-Settings, die dieser Forschungsarbeit zugrunde liegen, in Katalogform vorstellen. Den Katalogbegriff habe ich deshalb gewählt, da die einzelnen Fallbeispiele hier systematisch unter den gleichen Kategorien zusammen mit einem relevanten Foto des Settings vorgestellt werden. Inspiriert wurde diese Art der Darstellung von der Idee, diesen Katalog wie eine Art Ausstellungskatalog auf den Weg durch die Ausstellung der vorliegenden Forschung mitzunehmen und auf ihn zurückgreifen zu können, wenn diese Informationen benötigt werden. Alle hier katalogisierten Settings sind in der Arbeit kursiv gedruckt und erleichtern somit das Navigieren durch die Arbeit. Die einzelnen von mir untersuchten Ess-Settings sind in vielen Punkten ähnlich. Sie passen selbstverständlich alle unter die hier zugrunde gelegte Definition des Ess-Settings, was bedeutet, dass in allen Situationen gemeinsam gegessen und teils auch gemeinsam gekocht wurde, und in dieser explizit thematisierten Versammlung gemeinsam ein Thema bzw. eine Frage bearbeitet wurde. Es gibt jedoch auch Unterschiede zwischen den einzelnen Formaten, zum Beispiel in der Regelmäßigkeit und dem Zugang zu den Veranstaltungen. Darüber hinaus fanden alle EssSettings an unterschiedlichen Orten statt.25 Um die Ähnlichkeiten und Unterschiede deutlich zu machen, beschreibe ich an dieser Stelle alle Settings unter den gleichen Aspekten. Denn alle Settings sind aus mehreren in dieser Arbeit angewandten Perspektiven interessant und nicht alle Aspekte finden sich gleichermaßen in allen Settings. Zum anderen möchte ich mit dieser Darstellung thematisieren und hervorheben, dass jedes einzelne Setting eine einzelne ethnographische Erhebungssituation und somit auch ein einzelnes Feld darstellt. Das heißt, dass eine nur einmal stattgefundene Veranstaltung ebenso als ein(e) Feld(-situation) aufgefasst wird wie eine Serie oder Reihe von Veranstaltungen. In diesen seriellen Settings, wie zum Beispiel den Taktsinn-Dinnern, kann die gleiche Beschreibung (z.B. der Rolle der Forscherin) bei mehreren Settings auftauchen. Trotz der strukturierten Darstellung mit gleichen Kategorien ist diese hier nicht wertfrei, was in ausgewählten und für das jeweilige Setting zentralen Materialien wie Feldnotizen, Diskussionstranskripten oder Metatexten aus dem Feld deutlich wird. Diese Texte behandeln beispielsweise eine Besonderheit oder 25 Die einzige Ausnahme stellt hier das erste Taktsinn-Dinner dar, welches in der Universität der Nachbarschaften stattgefunden hat, die ich in einem ähnlichen Zeitraum auch separat noch einmal für das Hotel/Restaurant Wilhelmsburg beforscht habe.
ein Problem im Setting selbst oder einen Aspekt, der besonders wichtig für die Argumentation in dieser Arbeit ist. Um aus diesem Katalog wieder auf Kapitel dieser Arbeit zu verweisen, sind jedem Beispiel Verweise zu Kapiteln vorangefügt, in denen dieses Setting eine besondere Rolle spielt. In der Formatbeschreibung werden Bezüge zu bekannten Mahlzeitformen wie zum Beispiel dem Familienmahl hergestellt, um einerseits das Setting im Nachhinein für Nichtbeteiligte greifbarer zu machen und es andererseits bereits an dieser Stelle gesellschaftlich einzuordnen.
Über den Tellerrand (ÜdT)
Abbildung 1, Vierter Über-den-Tellerrand-Abend Was: Begegnungen zwischen Geflüchteten und Locals auf Augenhöhe ermöglichen Wer: Über den Tellerrand/Die Insel hilft e. V. Wo: Wilhelmsburger Zinnwerke (Hamburg) Wann: seit Herbst 2015 Behandelt in: → 6.4 Leib, Performanz und Raum in Atmosphären von Ess-Settings → 6.5 Zwischen Anspannung und Entspannung → 7.3 Herzlich Willkommen
Thema Beim Über-den-Tellerrand-Kochen stand das Thema Begegnung im Kontext von Migrations- und Fluchterfahrung im Mittelpunkt. Gegenseitiges Kennenlernen und das Knüpfen von Kontakten sollte über niedrigschwellige Angebote ermöglicht werden. Das
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gemeinsame Kochen und Essen stellte hierbei eine Kernaktivität dar, bei der beispielsweise Kategorien wie das Eigene und das Fremde thematisiert wurden.
Format Die Über-den-Tellerrand-Settings orientierten sich an der Situation des Familienessens bzw. dem Essen mit Freund*innen. Dadurch, dass die Anwesenden sich in der Regel nicht kannten, das Setting jedoch eine private Situation inszenierte, entstand eine produktive Spannung, die u.a. auch die hier zugrunde gelegte Idee von Gastgeberschaft betraf. Das Essen und Kochen wurde, wie im Über-den-Tellerrand-Konzept und in den Einladungen erkennbar war, als Mittel eingesetzt, um Gemeinschaft zu stiften und das Knüpfen von Kontakten zu ermöglichen. Dies stand hier im Zusammenhang mit größeren gesellschaftlichen Themen wie interkulturelle Verständigung und Chancengleichheit. An den Über-den-Tellerrand-Abenden stand das gemeinsame Zubereiten des Essens gegenüber dem gemeinsamen Essen im Vordergrund und nahm auch zeitlich den größeren Teil des Abends ein. Die Idee war hierbei nicht, dass eine Person für alle anderen Anwesenden kocht, sondern dass die/der Rezeptgebende alle anderen in die Zubereitung miteinbezieht, was mitunter eine Herausforderung darstellte. Die Berliner Über-denTellerrand-Initiative stellte den jeweiligen Satelliten in unterschiedlichen Städten Material für Einladung, Organisation und Gestaltung zur Verfügung.
Gastgebende Die Idee der Über-den-Tellerrand-Initiative entstand 2013 aus einer studentischen Aktion heraus, die das Ziel hatte, mit Geflüchteten aus dem damaligen Camp auf dem Oranienplatz in Berlin über Essen und Kochen in Kontakt zu kommen. Da die Resonanz auf diese gemeinsame Kochaktion sehr groß war, folgten weitere solcher Aktionen. Im Zuge dessen wurden Rezepte gesammelt und im ersten Kochbuch „Rezepte für ein besseres Wir“ (Demuth 2014) zusammen mit den Geschichten der jeweiligen rezeptgebenden Personen veröffentlicht. Durch den Erfolg des Kochbuchs motiviert, entstand schnell die Idee, Kochevents zu veranstalten, bei denen sich Menschen mit und ohne Fluchterfahrung „auf Augenhöhe“ begegnen können (vgl. Liebetrau 2019). Durch die positive Resonanz bestärkt, gründeten die Initiator*innen 2014 den Verein Über den Tellerrand, der es sich als
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Ziel setzte, Räume für Begegnung und Austausch zu schaffen und Begegnung sowie „Austausch auf Augenhöhe zwischen Menschen mit und ohne Fluchterfahrung zu fördern“ (Über den Tellerrand ohne Jahr). Die Berliner Gruppe unterstützte im Zuge dessen auch die Entstehung weiterer Gruppen in ganz Europa bei der Gründung von so genannten Satelliten, die ihrerseits lokale Veranstaltungen organisieren und Netzwerke aufbauen sollten. Dafür wurden Leitlinien erarbeitet, die im Sinne einer Corporate Identity an neue Gruppen weitergegeben wurden. Auch die Hamburger Über-den-Tellerrand-Gruppe, in der ich zwischen Herbst 2015 und Frühjahr 2017 mitwirkte und forschte, stellt(e) einen solchen Satelliten dar, entstand allerdings aus dem Hamburg-Wilhelmsburger Verein „Die Insel hilft e. V.“ heraus und wurde auch finanziell von diesem unterstützt.
Teilnehmende und Einladung Insbesondere zu Beginn meiner Mitarbeit im Jahr 2015 gab es eine lange Warteliste von so genannten Locals26, die an einem Über-den-Tellerrand-Abend teilnehmen wollten. Um Geflüchtete zu finden, die Gerichte für die Kochabende vorschlagen wollten, nutzten wir anfänglich die Kontakte des Vereins „Die Insel hilft e. V.“. Die jeweiligen Köche konnten dann Freunde und Bekannte mitbringen, in der Regel andere Geflüchtete aus dem gleichen Land. Dabei wurde darauf geachtet, dass die Anzahl der Locals und der Geflüchteten in etwa gleich war. Je öfter die Kochabende stattfanden, desto mehr Anmeldungen gab es auch von Geflüchteten, die ein Gericht vorschlagen wollten. Diese wurden teilweise von aktuell Teilnehmenden vorgeschlagen und kontaktiert. Nach und nach gab es auch ‚Stammgäste‘, die immer wieder an den Veranstaltungen teilnahmen, wenn es freie Plätze gab. Zudem wechselten ehemalige Teilnehmende zum Teil auch in das Organisationsteam, so dass sich mit der Zeit eine Community um die Über-den-Tellerrand-Initiative gebildet hat.
26 Mit dem Begriff des/der „Local/s“ werden in dieser Arbeit alle Menschen bezeichnet, die nicht als Geflüchtete gelten. Das sind in der Regel die Personen in den Ess-Settings, die bereits länger vor Ort oder anderswo in Deutschland wohnen. Die Bezeichnung sagt dabei nichts über Nationalität oder offiziellen Aufenthaltsstatus aus. Vielmehr werden mit den Bezeichnungen „Local“ und Geflüchtete*r Rollen in den Settings beschrieben, deren Grenzen mit der Zeit durchlässiger wurden.
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Die Teilnahme an Über-den-Tellerrand-Settings war zu der Zeit meiner Forschung für Geflüchtete kostenlos, die Locals wurden um eine selbst bestimmte Spende gebeten.
Rolle der Forscherin Als ich Teil des Organisationsteams wurde, bestand dieses mit mir zusammen aus insgesamt drei Personen. In den etwa eineinhalb Jahren, in denen ich in der Gruppe mitwirkte, gab es immer wieder Wechsel innerhalb dieses Teams, weshalb über einen längeren Zeitraum hinweg keine regelmäßigen Kochabende stattfanden. Während der Kochabende war ich sowohl Organisatorin als auch Forscherin. Dabei wussten nicht alle Teilnehmenden von meiner Forschung, da ich hier vor allem als Ansprechperson in Erscheinung getreten bin. In Gesprächen mit einzelnen Teilnehmenden erzählte ich aber durchaus von meiner Forschung, wenn beispielsweise die Frage nach meinem Beruf gestellt wurde. Insgesamt führte die Doppelrolle als organisatorisch Verantwortliche und Forscherin in diesem Setting häufig zu Überforderung und dem Gefühl, zumindest einer der Rollen nicht gerecht werden zu können.
Ort und Setting Die Über-den-Tellerrand-Initiative empfiehlt, die Kochaktionen ‚auf neutralem Boden‘ und somit weder in Einrichtungen für Geflüchtete noch in Privatwohnungen zu veranstalten. Die hier beforschten Kochabende fanden bis auf das erste von mir besuchte Setting in den Hamburg-Wilhelmsburger Zinnwerken statt – einem ehemaligen Industriegebäude, das in den letzten Jahrzehnten viele Zwischennutzungen erlebt hat und aktuell in einen Kultur- und Kreativort umgewandelt wird. Die Über den TellerrandSettings fanden hier in einem großen, u.a. als Co-Working-Space genutzten Raum mit angrenzender, offener Küche statt. Der Küchenbereich wird vom restlichen Raum durch eine Art breiten Tresen getrennt, der als Arbeitsfläche für die Zubereitung von Speisen dient.
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Zeit Die Kochabende der Hamburg-Wilhelmsburger Über-den-Tellerrand-Gruppe fanden und finden regelmäßig an einem festgelegten Termin (zum Beispiel jeden 2. Samstag im Monat um 16 Uhr) statt. Parallel zu den regelmäßigen Koch-Events entwickelten sich weitere Formate wie Spaziergänge oder das Dabke-Tanzen, welche an zusätzlichen Terminen stattfanden. Während meiner Zeit im Organisationsteam starteten die Settings am (späten) Nachmittag damit, dass sich die Rezeptgebenden und eventuell deren Freunde und Bekannte mit 1-2 Personen aus dem festen Team zum Einkaufen trafen. Das gemeinsame Kochen begann meist um 17:00 Uhr, in der Regel wurde dann gegen 19:00 Uhr gegessen. Im Anschluss räumten und wuschen alle Beteiligten gemeinsam ab. Manchmal folgte noch ein Ausklang. In den meisten Fällen verabschiedeten sich die Beteiligten bis spätestens 21:00 Uhr. Insbesondere an den ersten Kochabenden gab es teilweise noch organisatorische oder infrastrukturelle Schwierigkeiten, weswegen das Essen teilweise erst gegen 20:00 Uhr oder später begann.
Essen An einem der ersten Kochabende wurde das Gericht Lahme bi Karaz (Hackbällchen mit Kirschsoße) gekocht, eine Spezialität aus der syrischen Stadt Aleppo. Dafür wurden Sauerkirschen in ihrem Saft gewürzt und aufgekocht. Währenddessen rollten die Teilnehmenden gewürztes Rinderhack zu kleinen Fleischbällchen, welche dann angebraten und im Kirschsud gekocht wurden. Anschließend wurden Kirschen und Hackbällchen in einer Schale auf arabischem Fladenbrot angerichtet und mit glatter Petersilie garniert. Dazu gab es Bulgur. Die Kombination aus süßsauren Früchten und kräftigen Hackbällchen überraschte und begeisterte alle Teilnehmenden gleichermaßen. Das kollektive Formen der Fleischbällchen ermöglichte der Gruppe ein von mir als sehr intensiv empfundenes gemeinsames Erlebnis.
Feldtagebuch „Makar beginnt als erstes damit, die Papierverpackungen der Tiefkühl-Kirschen zu öffnen. Es ist aber schnell klar, dass die vorhandenen Töpfe zu klein sind. So beginnt er erstmal mit zwei Töpfen. Die um die offene Küche herumstehenden Gäste sind heiß darauf zu helfen und öffnen Kirsch-Pakete und schütten sie in die Töpfe. Ich bin
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für Makar an diesem Abend die Ansprechpartnerin und so bittet er mich zum Beispiel, seine Gäste vor dem Edeka abzuholen. Zuerst hole ich Nadi ab, die bereits sehr gut Deutsch und dafür weniger gut Englisch spricht. […] Die Tatsache, dass ich für diesen Abend mehr Verantwortung trage als für den letzten, macht sich bei mir weiter in latenter Anspannung bemerkbar. Aber seitdem die Töpfe auf dem Herd stehen und es endlich ‚richtig‘ losgegangen ist, fühlt es sich nicht mehr schlecht oder anstrengend an […]. Die Kirschen köcheln währenddessen auf dem Herd und Makar packt die 5 Kilo Hackfleisch aus. Er und Nadi beginnen, erste Bällchen zu formen. Makar sagt auf Englisch in die Runde, dass die Gäste nun helfen könnten, Hackbällchen zu formen. Ich sage ihm, er solle ein Bällchen als Anschauungsstück machen. Er nickt daraufhin, als habe er gerade genau das vorgehabt. Nadi, Lena, die beiden jüngeren Studentinnen und Johanna formen zusammen Bällchen und stehen dabei an der äußeren Seite der Kochinsel. Makar, Nadi und ihr Freund stehen auf der Herdseite. […] Währenddessen beginnen Nadi und Makar damit, die Hackbällchen zu braten. Die ‚Kirschsuppe‘ wird gesüßt und nebenbei schon einmal Wasser für den Bulgur gekocht. Währenddessen versuchen Beatrix und ich, das Brot aus der Plastikverpackung zu nehmen. Wir wollen es auf Tellern zum Tisch bringen. Makar sagt jedoch, dass es unter das Gericht in die Schale komme, damit es sich mit Soße vollsauge. Als Makar das Brot in der Schale anrichtet, das Gericht darauf verteilt und mit Petersilie garniert, wird es ganz ruhig. Alle stehen um ihn in der Küche herum und schauen zu. Irgendwann blickt Makar auf und fängt an zu lachen. Daraufhin lachen auch alle anderen, da sie merken, wie fixiert sie auf Makar und seine Vorbereitungen waren. Es ist eine ungezwungene, lustige Stimmung, in der fast alle sich auf Augenhöhe begegnen. Kurz zuvor ist Gebre mit seinen beiden Kumpels wiedergekommen, nachdem er sie spontan eingeladen hat, damit das Deutsche-Geflüchtete-Verhältnis zahlenmäßig gleich ist. Anders als alle anderen bleiben die beiden von Beginn an räumlich auf Abstand und nehmen auch von sich aus keinen Kontakt zur Gruppe auf. Sie setzen sich direkt auf zwei Stühle neben der Treppe und stellen sich nicht mit in die Küche, auch wenn Gebre sich dort aufhält. Die beiden sprechen mit Abstand am wenigsten Deutsch und Englisch und ich vermute, sie fühlen sich nicht wohl, nah bei den anderen zu sein.“
Küchenmonument: Diskursives Dinner
Abbildung 2, Diskursives Dinner „Open Future“ Was: „Open Future“ Wer: raumlabor Berlin Wo: Vorplatz der Berlinischen Galerie, Berlin Wann: 29. April 2015 Behandelt in: → 6.4 Leib, Performanz und Raum in Atmosphären der EssSettings → 7.4 (Selbst-)Inszenierungen über Essen und Kochen → 7.5 Ess-Settings als liminale Situationen
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Thema Das Diskursive Dinner ist ein Format, das das raumlabor-Kollektiv entwickelt hat und in unterschiedlichen Kontexten zu unterschiedlichen Themen veranstaltet. Dementsprechend variieren auch die Inhalte der einzelnen Dinner, die vom raumlabor seit Mitte der 2010er Jahre veranstaltet worden sind. In der zugrunde liegenden Forschung wurde ein Diskursives Dinner zum Thema „Open Future“ besucht, das nach „neuen Erzählungen“ fragte, „die uns helfen, in den unübersichtlichen, hyperkomplexen Situationen zu navigieren, in denen wir leben“ (Berlinische Galerie 2015). Bei anderen Diskursiven Dinnern wurden im weitesten Sinne Fragen zu Raumproduktion und -planung behandelt. Format Diskursive Dinner beinhalten meist zusätzlich zum gemeinsamen Essen das Element des gemeinsamen Vor- und Zubereitens des Essens. Meist bedeutet dies, dass die Teilnehmenden an Tischen sitzen und Lebensmittel zerkleinern, welche dann von einem Kochteam weiterverarbeitet werden. Neben dem Zubereiten und dem späteren gemeinsamen Essen – häufig in mehreren Gängen, die das Programm strukturieren – gibt es Vorträge oder Diskussionen unter den Anwesenden. Dabei misst das raumlabor-Kollektiv dem Essen und Kochen die gleiche Wertigkeit zu wie beispielsweise dem Diskutieren und Zuhören (vgl. raumlaborberlin 2016). Somit wird hier zum einen auf das Tischgespräch rekurriert und zum anderen ein Bezug zu Mahlzeiten in einem künstlerischen Kontext hergestellt, bei denen Essen und Kochen als strukturierende und inszenatorische Elemente eingesetzt werden. Gastgebende Veranstalter*in ist das Berliner Kollektiv raumlabor, welches aus Architekt*innen besteht, die sich zu einem losen Netzwerk zusammengeschlossen haben und an der Schnittstelle zwischen Architektur, Stadtplanung, Kunst und Intervention meist in Kooperationen mit anderen städtischen Akteur*innen arbeiten.
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Teilnehmende und Einladung Das Küchenmonument, in dem das Diskursive Dinner stattfand, stand im April 2015 für zwei Tage auf dem Vorplatz der Berlinischen Galerie. Es wurden hier vor allem Bau- und Urban-Gardening-Workshops angeboten, die sich insbesondere an die Nachbarschaft richteten, die als nicht zwingend deckungsgleich mit den Besucher*innen der Berlinischen Galerie angenommen wurde. Zum Diskursiven Dinner wie auch weiteren Veranstaltungen wurde über die raumlabor-eigenen Verteiler und den Verteiler der Berlinischen Galerie überwiegend per E-Mail eingeladen. Darüber hinaus veröffentlichten verschiedene Kunst-, Kultur- und Architekturmagazine Einladungen zum Diskursiven Dinner auf ihren Webseiten oder über ihre E-Mail-Verteiler. Die Teilnahme an dieser und weiteren Veranstaltungen auf dem Galerievorplatz war kostenlos, eine Anmeldung aber erforderlich. Die Interessierten wurden auf eine Anmeldeliste gesetzt und nach einem nicht näher einzusehenden Verfahren ausgewählt und benachrichtigt. Nachdem ich mich per EMail als Forscherin mit Interesse an eben diesem Format angemeldet hatte, wurde mir vorab ein Platz für das Dinner zugesichert. Der Einlass zum Küchenmonument wurde von zwei Frauen geregelt, die wissen wollten, ob sich die Teilnehmenden „über raumlabor“ oder „einfach so“ angemeldet hätten. Je nachdem, welcher Kategorie die Gäste angehörten, bekamen sie ein pinkes oder ein blaues Bändchen, wie ich vermute. Diese Einteilung spielte jedoch im Verlauf des Abends keine ersichtliche Rolle mehr. Soweit ich über Gespräche und den ersichtlichen Habitus der Teilnehmenden einen Eindruck von diesen bekommen konnte, waren die Teilnehmenden in Feldern wie Kunst, Kultur, Architektur und Planung aktiv oder zumindest daran interessiert. Rolle der Forscherin Wie bereits erwähnt, wurde mir als Forscherin zu Ess-Settings ein Sonderrecht eingeräumt, das mir einen festen Platz auf der Gästeliste ermöglichte. Diese Wertschätzung meiner Forschung deckt sich mit der Einordnung, dass raumlabor im gleichen bzw. in einem ähnlichen gesellschaftlichen Feld agieren, in dem ich auch die anderen Forschungssettings verorte. Im weiteren Verlauf des Settings spielte ich als Forscherin jedoch keine erkennbare Rolle, da ich wie die anderen
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Gäste eher im Kollektiv der Kochenden, Essenden und Zuhörenden aufging und nur den direkten Gesprächspartner*innen von meiner Forschung im Rahmen der üblichen Tischgespräche erzählte. Darüber hinaus bot das Diskursive Dinner jedoch eine Möglichkeit, meine Rolle zu reflektieren, da ich hier nicht wie so häufig eine Doppelrolle als Veranstalterin und Forscherin innehatte. Ort und Setting Das Küchenmonument wird auf verschiedene Art und Weise bespielt. Es ist ein Möglichkeitsraum. In seiner raumgreifenden Anmutung passt der Begriff des Monuments sehr gut – einerseits. Andererseits haben die filigrane Membran und die Tatsache, dass es immer wieder abgebaut und verstaut wird, so gar nichts Monumentales. In diesem Fall befand sich das Küchenmonument auf dem Vorplatz der Berlinischen Galerie, die zurzeit wegen Renovierung geschlossen war. Es füllte somit eine Lücke und fungierte als Stellvertreter für die Galerie. Das bedeutete auch, dass ein ähnliches Publikum wie das der Galerie angesprochen wurde. Auch das spielte in die Erwartungen an die Diskursiven Dinners hinein. Es reichte demnach nicht, einfach nur ein Essen zu machen, es musste zum Beispiel auch ein Vortragsprogramm stattfinden. Dabei arbeiteten sowohl Veranstalter*innen als auch die Teilnehmenden am Gesamterlebnis Küchenmonument mit: Die Gäste, indem sie Anweisungen befolgten, und die Veranstaltenden, indem sie den Rahmen vorgaben. Zeit Das besuchte Diskursive Dinner zum Thema „Open Futures“ fand an einem Mittwochabend im April 2015 zwischen 18:00 und 22:00 Uhr statt (geplantes Ende: 21:00 Uhr). Nach dem Einlass gegen 18:00 Uhr konnten sich die Teilnehmenden selbstständig einen Platz an einem der Tische aussuchen und sich mit den Tischgenoss*innen vertraut machen. Währenddessen verteilte das Kochteam verschiedene Lebensmittel wie Gemüse, Obst oder Kräuter, die von den Gästen geschnitten wurden. Nach und nach wurden die vorbereiteten Zutaten wieder eingesammelt und zur Kochinsel in der Mitte des Küchenmonuments gebracht. Zwischenzeitlich begrüßten die anwesenden raumlabor-Mitglieder die Gäste über ein Mikrophon und informierten über Ablauf und Regeln des
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Abends. Nachdem die Vorspeise serviert und verspeist worden war, hielt die Designforscherin Prof. Dr. Carolin Höfler ihren ersten Vortrag zum Thema „Neuerfindung der Stadt? Informelle Praktiken der Raumproduktion in der Postdemokratie“, zu dem anschließend eine Diskussion stattfand. Da die Hauptspeise später als geplant fertig war, folgte nach Höflers Beitrag gleich ein Vortrag von Stefan Kaegi, der versuchte, eine Verbindung zwischen den Projekten von Rimini Protokoll (Daimler 2014, Weltklimakonferenz, Home visit Europe) und dem Thema des Abends herzustellen. Während des Vortrags wurde die Suppe serviert und gegessen. Nach einer Diskussion über den zweiten Vortrag folgten der Nachtisch und der dritte Beitrag von Kai Schiemenz, der mittels eines Werkstattberichts erläuterte, wie er Routinen in seiner Arbeit entkommt und somit Neues schaffen kann. Während des letzten Vortrags wurde bereits das Geschirr abgeräumt und die ersten Gäste verließen das Küchenmonument, u. a. weil die Garderobe im Gebäude der Berlinischen Galerie bereits um 21:30 geschlossen wurde. Wenig später verließ ich mit den meisten anderen Gästen das Küchenmonument. Essen Bei dem von mir besuchten Diskursiven Dinner mit dem Titel „Open Futures“ wurde unter Mitarbeit der Teilnehmenden als Vorspeise ein Salat aus Blattsalaten, Spargel, Erdbeeren, Parmesan sowie verschiedenen Kernen und Kräutern zubereitet. Die Hauptspeise bestand aus einer Minestrone mit Staudensellerie, Champignons, Kartoffeln, Parmesan und Tomaten. Zum Nachtisch gab es Vanilleeis mit Rhabarberkompott. Zu welchen Gerichten die an den einzelnen Tischen geschnittenen Lebensmittel verarbeitet wurden, war bis zum Servieren der fertigen Teller nicht klar, was eine anregende Spannung erzeugte und dazu führte, dass wir nach den von uns geschnittenen Komponenten wie Zwiebeln und Kräutern suchten. Feldtagebuch „[…] Nachdem man eine Art ‚Schleuse‘ durchquert hat, eröffnet sich die Blase hell und offen vor einem. Man geht über eine Rampe ein Stück herunter und bekommt dabei etwas Luft vom Gebläse ab. Ich mache erstmal ein paar Fotos von den Tischen und den Leuten. Dann suche ich einen Platz. Diejenigen, die bereits sitzen, haben
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schon mit dem Schneiden begonnen. Ich mochte mich nicht in eine zu eingeschworene Gruppe setzen, aber auch nicht dorthin, wo die meisten sich gar nicht zu kennen scheinen. Ich frage mich, was die Anwesenden eigentlich hier wollen, was sie sich von diesem Abend erwarten – und was nicht? […] Langsam wird es kalt in der Blase. Viele Leute ziehen nach und nach Jacken an und sehen etwas unglücklich aus. Die Vorfreude auf das warme Essen steigt. So langsam geht das Tageslicht über in das künstliche Licht der Straßenlaternen, die draußen stehen. Bei einem Windzug bewegt sich die Hülle des Küchenmonuments. Es wirkt fast, als würde es atmen. Sei es der Wein oder das Licht oder das Fehlen von Ecken, mir wird ein wenig schwindelig, wenn ich nicht mit Reden, Essen oder Zuhören beschäftigt bin.“
Olympia Gastmahl
Abbildung 3, Olympia Gastmahl Was: Olympia Wer: Jan Holtmann Wo: Privates Wohnatelier in Hamburg Wann: 16. November 2015 Behandelt in: → 6.4 Leib, Performanz und Raum in Atmosphären der EssSettings → 6.5. Zwischen Anspannung und Entspannung → 6.4 (Selbst-)Inszenierungen über Essen und Kochen
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Thema Das Olympia Gastmahl rief Hamburger*innen dazu auf, über das Thema Olympia bzw. Hamburgs Bewerbung für die Olympischen Sommerspiele 2024 zu diskutieren. Dabei stand der Abend mit Speis und Trank „im exklusiven Ambiente“ einer Hamburger Privatwohnung unter dem Motto „Dabei sein ist alles“, was im Alltag auch als olympisches Motto bezeichnet wird (Holtmann 2015). Format In der Begrüßungsrede zum Olympia Gastmahl leitete der Initiator und Künstler Jan Holtmann das Thema des Abends (Olympia) aus der griechischen Mythologie her und verknüpfte dieses Gastmahl mit der Idee des altgriechischen Symposions – einer geselligen Diskussions- und Trinkrunde. Durch den künstlerischen Hintergrund des Veranstalters und die Verknüpfung mit der Hamburger Kulturolympiade, welche in der Einladung erwähnt wurde, kann dieses Setting als Künstlerdinner bezeichnet werden und ist somit sowohl kontextuell als auch ästhetisch und inhaltlich im Feld der Kunst zu verorten. Der Aufbau des Abends erinnerte zudem an aktuelle Dinner-Formate wie „Supper Clubs“, bei denen einander unbekannte Menschen in einer Privatwohnung zum Essen zusammenkommen. Gastgebende Das Olympia Gastmahl wurde vom Hamburger Konzeptkünstler Jan Holtmann veranstaltet, der hier und auch in anderen Projekten unter dem Namen noroomgallery auftritt. Die noroomgallery strebt nicht – wie der Name erahnen lässt – die Produktion von Kunstwerken an, sondern beschäftigt sich auf künstlerische und forschende Weise mit dem Verhältnis von Werk, Medium und deren Vermittlung. Dabei kooperieren die Projekte von noroomgallery/Jan Holtmann mit anderen gesellschaftlichen Feldern wie Stadtentwicklung oder Sport. Dies zeigte sich zum Beispiel in zwei Projekten, die im Rahmen der Internationalen Bauausstellung in Hamburg-Wilhelmsburg stattgefunden haben: das IBA Labor Kunst & Stadtentwicklung, welches von Jan Holtmann als Versuchsanordnung entwickelt wurde, und dem Kunst und Sportverein Wilhelmsburg, dessen Präsident Jan Holtmann war. Zudem
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hat Jan Holtmann unterschiedliche Hospitality-Formate wie den KunstHasserStammtisch, das openroom artisthotel und „das größte Hotel der Stadt in Hamburg und Köln“ initiiert. Teilnehmende und Einladung In der Einladung über verschiedene Mailinglisten und Hamburger Tageszeitungen wurden interessierte Hamburger*innen dazu aufgerufen, sich entweder als Gastgeber*in oder Teilnehmer*in zu bewerben. Laut Pressetext sollten die Interessierten dann per Losverfahren auf die zehn möglichen Termine verteilt werden. An dem von mir besuchten Abend bestand die Runde zu einem großen Teil aus Akteur*innen aus den Bereichen Kunst, Kultur und Stadtentwicklung bzw. aus Kunst- und Kulturkonsument*innen. Die Personen, die nicht in diesen Bereichen verortet werden können (ein Arzt und eine Psychologin), fielen dementsprechend auf und äußerten teils auch Unbehagen darüber. Diese Selbstverortung war hierbei fast deckungsgleich mit einer Beziehung zu Jan Holtmann. Eine Sonderrolle kam einem Journalisten zu, der als Einziger klar Stellung für Olympia bezog und sich in den genannten Feldern und vor allem auch mit der Olympiabewerbung Hamburgs sehr gut auskannte, sich jedoch selbst nicht dort verortete. Die Gastgeberin, in deren Wohnung das Olympia Gastmahl stattfand, arbeitete dort auch gleichzeitig als Lektorin und Übersetzerin. Auf ihrer Homepage und in ihrer Vorstellung erklärte sie, dass sie passionierte Hobbyköchin sei und bereits andere kulinarische Events wie zum Beispiel „Cooking and Conversation“-Kurse in ihren Räumen stattgefunden haben. Die Teilnahme am Olympia Gastmahl war kostenlos. Rolle der Forscherin Ich besuchte das Olympia Gastmahl als reguläre Teilnehmerin und erwähnte in der Vorstellungsrunde zu Beginn des Gastmahls mein Forschungsinteresse, was einerseits interessiert, andererseits humorvoll kommentiert wurde, dann aber während der Diskussionen keine weitere Rolle mehr spielte. Vielmehr stellte Jan Holtmann mich in einer späteren Runde, in der er seine Verbindungen zu den Anwesenden erklärte, als frühere Redakteurin des experimentellen Fernsehformats „Konspirative KüchenKonzerte“ vor, an denen wir beide kurze Zeit redaktionell gearbeitet hatten. Am Ende des Abends wurde ich in meiner Rolle als Expertin und Forscherin
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von Jan Holtmann gebeten, ein Fazit des Abends zu ziehen. Meine offen kommunizierte Forschung ermöglichte es mir außerdem, im Nachgang der Veranstaltung Nachfragen zur Rolle des Essens an diesem Abend zu stellen, worauf ich zwei Antworten von den Teilnehmenden bekam – verbunden mit dem Wunsch, weiter über die Forschung informiert zu werden. Ort und Setting Der von mir besuchte Abend fand in einer Ladenwohnung im Erdgeschoss mit großen, offenen Fenstern zu einem Gehweg zwischen den Hamburger Stadtteilen Sternschanze und St. Pauli statt. Der Ort ist nicht nur die Wohnung der Gastgeberin, es ist gleichzeitig auch ein von ihr betriebenes Büro für Übersetzungen und Lektorate englischsprachiger Texte. Im Rahmen der Hamburger Bewerbung für die Ausrichtung der Olympischen Sommerspiele 2024 rief die Behörde für Kultur und Medien eine so genannte Kulturolympiade ins Leben, „die einen Diskurs darüber […] initiieren [sollte], wie ein kreatives und vielfältiges Kulturprogramm für die Olympischen und Paralympischen Spiele aussehen kann“ (Behörde für Kultur und Medien 2015). Das Olympia Gastmahl war neben fünf weiteren von einer Jury ausgewählten Projekten Teil dieser Kulturolympiade. Die sechs Projekte wurden durch ein vom Unternehmer Alexander Otto zur Verfügung gestelltes Preisgeld von insgesamt 50.000 Euro gefördert. Neben großen Zeitfenstern für eine offene Diskussion, die das Thema Olympia behandeln konnte aber nicht musste, gab es eine Begrüßungsrede, eine Vorstellungsrunde und eine Einladung von Jan Holtmann, in der Runde einen kurzen Text des Schriftstellers Navid Kermani zu einer nicht bekannten Melodie zu singen: „Wozu das alles? Und weiß doch genau, daß der Sinn ihrer und meiner Handlung darin besteht, die Frage nach dem Zweck als unwichtig zu erweisen.“ Dieser Text schloss an die Argumentation Jan Holtmanns an, dass er als Künstler sich Olympische Spiele wünsche, die einfach gute Feste seien und keinem Zweck dienen müssten.
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Ein weiteres Element dieses Abends und der weiteren Olympia-Gastmahl-Abende stellte eine vom Künstler Armin Chodzinski entworfene Tischdecke dar, welche die Spuren eines jeden Abends dokumentieren sollte. Dafür wurde die Runde aufgerufen, ein Fazit auf der Tischdecke zu notieren. Nach einer eher schleppenden Diskussion legte sich die Runde auf den Satz „Die Spiele sind die Spiele.“ fest. Zeit Das hier thematisierte Olympia Gastmahl fand an einem Montagabend im November statt. Die neun weiteren Termine fanden ebenfalls im November statt und waren über einen Zeitraum von zwei Wochen verteilt. Die einzelnen Daten wurden in der Einladung angegeben. Das besuchte Setting startete um 19:30 und endete kurz vor Mitternacht. Es gab während des Abends kaum eine von den Teilnehmenden wahrnehmbare zeitliche Strukturierung. Vielmehr bestimmte die Gastgeberin und Inhaberin der Wohnung, wann die vorbereiteten drei Gänge serviert werden konnten. Die weiteren Programmpunkte des Abends wurden von Jan Holtmann eingeführt und an Gesprächsthemen und -verläufe angepasst. Essen Das Essen war eine eher unspektakuläre Zusammenstellung von Gerichten, die vermeintlich günstig und möglichst konsensfähig sind: Die Kürbissuppe als Vorspeise ist saisonal und wird im Herbst gern gegessen. Die Nudeln und der dazu gereichte Brokkoli lassen sich schnell zubereiten und sind wie alle Speisen an diesem Abend vegetarisch. Ebenso wie der Apfelcrumble mit Eis. Als Getränke wurden Wein, Bier, Wasser, Apfelschorle und Club Mate zur Selbstbedienung in der Tischmitte platziert. Feldtagebuch „Danach stellt sich meine Sitznachbarin vor. Sie hat jahrelang als Assistenz einer Geschäftsführung gearbeitet, aber diesen Job an den Nagel gehängt, um jetzt als Tagesmutter zu arbeiten. Sie will nur noch Dinge tun, auf die sie wirklich Lust hat. Sie ist gegen Olympia und begründet das damit, dass sie nicht will, dass sich die zukünftige Austragungsstätte (Kleiner Grasbrook) und die Elbe verändern. Ihre Begründung hört sich für mich nicht sehr fundiert an. Außerdem sei
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sie jetzt schon genervt von den vielen Baustellen in der Stadt und befürchtet, dass diese im Fall einer Bewerbung noch zunehmen würden. Ihr Kulturbezug sei der einer Kulturkonsumentin. Woher kommt eigentlich diese Idee, dass jede/r ihren/seinen Kulturbezug angeben muss, frage ich mich. Ich fühle mich jedenfalls gezwungen, auch meinen Bezug zu ‚Kultur‘ anzugeben. Ich sage, dass ich Wissenschaftliche Mitarbeiterin bei Kultur der Metropole an der HCU bin und bereits per Briefwahl gegen Olympia gestimmt habe. Ich fände es aber spannend, falls Olympia doch komme, zu sehen, wie Hamburg diese Aufgabe in den Sand setze. Dann schaltet sich Heidi ein und sagt, dass wir nun die Suppe essen sollten, bevor sie kalt wird. Damit ist meine Vorstellung unterbrochen, weil alle erstmal bekunden, wie die Suppe schmeckt. Ich bin unsicher, ob ich noch weiterreden soll und sage dann noch kurz etwas dazu, dass ich eben solche EssSettings wie diese im Rahmen meiner Doktorarbeit beforsche. Das wird kurz scherzend (‚Ess-Setting, hahaha!‘) aber auch interessiert aufgenommen, aber nicht weiter behandelt. Ich merke, dass mir mein Begriff ‚Ess-Setting‘ etwas fremd geworden ist. Aus der Runde kommt außerdem der Begriff ‚Versuchskaninchen‘ als Reaktion auf mein Outing als Forscherin (wie so oft). Während wir essen, erläutert Jan auf Nachfrage aus der Runde seinen Bezug zu allen Gästen.“
Hallo Festspiele
Abbildung 4, Hallo Küche
Was: Festival für künstlerische Raumentwicklung Wer: Verein zur Förderung raumöffnender Kultur e. V. Wo: Kraftwerk Bille (Hamburg-Hammerbrook) Wann: seit 2015 (hier 08/09 2016) Behandelt in: → 6.5 Zwischen Anspannung und Entspannung → 7.4 (Selbst-)Inszenierungen über Essen und Kochen → 8.1 Ess-Settings: Formatkritik Thema Die Hallo Küche als Teil der Hallo Festspiele steht ebenso wie das gesamte Festival unter dem Thema gemeinschaftlicher (künstlerischer) Raumöffnung und -entwicklung an einem spezifischen Ort (Kraftwerk Bille und nahe Umgebung). Mit diesem Ansinnen ist ein partizipativer Ansatz verbunden,
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der insbesondere die Nachbarschaft einlädt, sich in die Prozesse und Aktivitäten einzubringen. Die Küche als Ort und die Praxis des Essens wurden im Zuge dessen mit den Themen Versammlung und Begegnung verknüpft. Format Die hier im Rahmen der Hallo Festspiele thematisierte Hallo Küche präsentierte sich vor allem als räumliches Element und brachte somit die Praxis des Essens und Kochens mit dem Aspekt des Räumlichen zusammen. Sie stand, zumindest im Konzept der Hallo Festspiele, gleichberechtigt neben anderen Denkeinheiten wie Musik, Performance oder Diskurs, die als Departments bezeichnet wurden. Alle Departments arbeiteten in ihrem spezifischen Medium zum Thema Raumöffnung. Hierbei zeichneten die Akteur*innen das Bild einer Küche als zentralen Ort des Beisammenseins. Während meiner teilnehmenden Beobachtung stellten eine Selbstbau-Küche und daneben aufgebaute Bänke besonders zur Mittagszeit einen Ort dar, an dem alle Beteiligten zusammenkamen und gemeinsam aßen. Dabei wird auch das Bild des Familienmahls aufgerufen, wenn in der Ankündigung davon die Rede ist, dass die Hallo Festspiele als ein Familienfest verstanden werden können – mit einer Familie, die man noch nicht kennt. Gastgebende Träger der Hallo Festspiele und diverser weiterer Projekte rund um das ehemalige Kraftwerk Bille war und ist der 2015 gegründete gemeinnützige Hallo: Verein zur Förderung raumöffnender Kultur e. V. Über das Kraftwerk Bille hinaus sieht der Verein seine Aufgabe darin, „unzugängliche Orte – entweder weil sie leer stehend oder anderweitig ungenutzt sind – öffentlich und langfristig nutzbar zu machen“ (Verein zur Förderung raumöffnender Kultur e.V. ohne Jahr). Die Akteur*innen der Hallo Festspiele und der vorbereitenden Veranstaltungen (Hallos) sehen ihre Rolle nicht darin, Settings für Aktivitäten vor Ort vorzubereiten, sondern legen dies in die Hände aller Beteiligten. Dennoch gibt es für die einzelnen Departments Ansprechpersonen, die Aktivitäten bündeln und koordinieren. Für die Hallo Küche übernahmen diese Rolle Monika und Marlene27, weshalb ich im Rahmen meiner Forschung mehrfach Kontakt mit beiden hatte. Beide 27 Die Namen wurden pseudonymisiert.
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waren und sind im Raum Hamburg an weiteren, ähnlichen Projekten wie mobilen Küchen oder Ess-Settings beteiligt. Während der kurzen Zeit meiner Mitarbeit fiel mir Monikas und Marlenes enormes praktisches Wissen in der (räumlichen) Entwicklung von Küchen- und Ess-Formaten wie auch Gerichten auf, die immer auch einen ästhetischen Anspruch hatten. Die beiden bildeten damit einen Kontrapunkt zum professionellen Koch Oskar, der vor allem Wert auf eine handwerklich gute und zeitlich geplante Essenszubereitung legte und sich von konzeptuellen Fragen eher abgrenzte. Teilnehmende und Einladung Die Einladung zu den Hallo-Aktivitäten um das ehemalige Kraftwerk geschah über unterschiedliche Kanäle. Hierbei sind vor allem die Webseite der Hallo Festspiele sowie Newsletter, Flyer und Plakate im Stadtraum zu nennen. Darüber hinaus sprachen die Akteur*innen auch gezielt Nachbar*innen an, um den zu entwickelnden Ort in den Stadtteil einzubetten. Insgesamt handelte es sich bei den Besucher*innen, die sich nicht eindeutig von den beteiligten Akteur*innen abgrenzen ließen, um ein vorwiegend akademisches, kunst- und kulturaffines Publikum. Während bei den vorbereitenden Hallos und dem ersten Teil der Festspielwoche vor allem kunstproduzierende Personen vor Ort waren, stieg der Anteil der eher kunstkonsumierenden Personen zum Ende der Festivalwoche, die sich zu einem wichtigen Event im Hamburger Kunstund Kulturkalender entwickelt hat. Rolle der Forscherin Die Intention, die Hallo Festspiele teilnehmend zu beobachten, lag vor allem darin, einen Arbeits- und Produktionsprozess zu beobachten und zu begleiten, in dem Essen und Kochen eine zentrale Rolle einnehmen, ohne dabei selbst zu stark in die Organisation eingebunden zu sein. So wurde mir in einer vorbereitenden E-Mail-Konversation die Rolle einer Küchenhilfe zugewiesen – mit der Perspektive, selbst ein Essensformat einbringen und gestalten zu können. Dabei sind mir diese Formate allerdings bis zum Ende meiner Forschung vor Ort nicht klargeworden, was jedoch auch an eingeschränkten Zeitressourcen für Feldbesuche gelegen haben kann.
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Eine Rolle als gefühlt ‚bloße‘ Küchenhilfe einzunehmen fiel mir aufgrund meiner verantwortlichen Rollen in den restlichen Ess-Settings immer wieder schwer. Allerdings gestaltete sich der Einstieg sehr leicht, da ich direkt nach meiner Ankunft in die Essenszubereitung eingebunden wurde und von diesem Zeitpunkt an durch meine sichtbare Tätigkeit als Teil des Hallo-Teams erkennbar und begrüßt wurde. Diese Erfahrung hielt mir vor Augen, dass meine Expertise im Kochen und Konzipieren von Gerichten im Vergleich zu vielen anderen deutlich geringer war und mein Interesse vor allem den Formaten galt. Dennoch wurde ich aufgrund meiner Vorstellung als Forscherin zu Ess-Settings als Expertin für das Thema Essen angesprochen, was mir jedoch das Zurücktreten zur stillen Beobachtung erschwerte. Durch die Erfahrungen, die ich vor Ort als Küchenhilfe machte, wurde mir außerdem bewusst, wie sehr das Kochen für große Gruppen, insbesondere in einem semi-professionellen Rahmen, körperliche Arbeit ist. Dies gilt dementsprechend auch für die teilnehmende Beobachtung in diesem Feld. Ort und Setting Die Hallo Festspiele fanden und finden an einem Ort statt, den es durch den gastgebenden Verein ursprünglich zu entwickeln galt: das ehemalige Kraftwerk Bille im Hamburger Stadtteil Hammerbrook. Das Projekt steht in Zusammenhang mit Stadtentwicklungsprozessen des Hamburger Ostens. Dabei wurden die einmal jährlich im Spätsommer stattfindenden Festspiele in so genannten Hallöchen vorbereitet, welche auch an anderen Orten der Stadt stattfanden. Die Festspiele selbst starteten mit einer viertägigen Aufbauphase, „die mit einer inhaltlichen und physischen Materialinventur“ begann und im Zuge dessen der Festivalraum performativ und diskursiv entwickelt wurde (Verein zur Förderung raumöffnender Kultur e.V. 2016a). Die Hallo Küche diente während der Hallo Festspielwoche als ein Ort des Zusammenkommens und Beisammenseins und befand sich in einem Hof hinter der so genannten Schaltzentrale. Während meiner ersten teilnehmenden Beobachtung wurde das Essen noch unter freiem Himmel zubereitet, danach wechselte der Zubereitungsort in einen breiten Durchgang, der in den Hof führte. Die selbstgebauten Küchenmöbel waren aus Sperrholz und boten die Möglichkeit, das zubereitete Essen als Buffet für die Essenden aufzubauen. Dabei wurden in einem Ankündigungstext folgende
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Fragen gestellt: „Wer sagt eigentlich, dass sich in der Küche alles ums Essen dreht? Und wer definiert überhaupt, wo die Küche ist?“. Daraus wird deutlich, dass die Küche ebenso wie der gesamte Festivalraum von den Prozessbeteiligten geschaffen wurde und über die Funktion der physischen Nahrungsaufnahme hinaus ein Ort für Begegnung und Austausch sein sollte. Im Gegensatz zu anderen Settings stand hier das Thema der Raumöffnung und -entwicklung im Vordergrund und wirkte sich dabei auch auf das Konzept der Küche und Mahlzeiten aus. Wie mir eine der Verantwortlichen erzählte, war die Einbindung der Küche in das Gesamtkonzept des Festivals einer Analyse aus dem Vorjahr geschuldet. Beim letztjährigen Festival habe immer nur eine Person oder eine kleine Gruppe für alle Anwesenden gekocht und sich an dieser Aufgabe aufgerieben. In diesem Jahr sei die Küche als eine Art „Open Stage“ für alle geöffnet, die sich beteiligen wollten, womit die Arbeit aufgeteilt werden solle. Während meiner Forschung dort habe ich allerdings keine derartigen Beteiligungsformate in der Hallo Küche erlebt. Zeit Die Hallo Festspiele und die einzelnen Elemente wie die Arbeit in den einzelnen Departments und Hallöchen unterliegen dem Prinzip des Prozesshaften. Dabei münden alle Vorarbeiten in die Festspielwoche im August/September eines Jahres. So war auch das Programm der behandelten Festspielwoche eher eine grobe Richtlinie und prinzipiell offen für spontane Veränderungen. Dies galt vor allem für den ersten Teil der Woche, in dem sich alle Akteur*innen vor Ort einrichteten und mit dem Ort Projekte entwickelten. Dementsprechend war der Zeitplan für die Woche nur in zwei grobe Abschnitte gegliedert, in denen einzelne Programmpunkte wie gemeinsame Mittagessen, Performances und Rundgänge angeführt wurden. Der erste Abschnitt ging von 14:00 bis 19:00 Uhr, der zweite Abschnitt von 19:00 Uhr bis Ende. Diese Offenheit spiegelt sich auch in der Organisations- und Koordinationsarbeit wider, die von den Verantwortlichen des Küchen-Teams übernommen wurde. So mussten viele Entscheidungen kurzfristig und spontan getroffen werden, was das Arbeiten in der Festspielwoche sehr anstrengend wirken ließ.
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Essen Ein großer Teil der verwendeten Zutaten bestand aus so genannten geretteten Lebensmitteln, die zum Beispiel Supermärkte nach Ablauf des Mindesthaltbarkeitsdatums kostenlos an feste Abholpersonen abgegeben hatten.28 Am ersten Tag meiner teilnehmenden Beobachtung bereiteten wir einen Kartoffelsalat mit Senf-Essig-Dressing, Sonnenblumenkernen, Petersilie und Kernöl, einen GurkenMelonen-Salat mit Sesam und Schwarzkümmel sowie ReisTofu-Ananasbratlinge mit Barbecue-Dip zu. Am zweiten Tag kochten wir Paprikagemüse, Pellkartoffeln, veganen Rahmwirsing und einen Tomatensalat. Dazu wurde ein Rotkohlsalat vom Vortag gereicht und Smoothies aus Melonenresten gemacht. Feldtagebuch „Jetzt wurde die Küche quasi für alle geöffnet, quasi als eine Open Stage bei einem Musikfestival und jede/r kann sich mit einem Format einbringen. Ein Beispiel von dem auch Oskar vorher gesprochen hat, scheint das Waffeln backen zu sein. Marlene erzählt auch noch von Situationen, die sie mal arrangiert hat, in denen Menschen Essen in Salatblätter gerollt haben oder mit den Händen gegessen haben. Oder wie sie in der Mitte eines Dreiecks aus Tischen stand und Essen ausgegeben hat. Je länger ich darüber nachdenke, desto weniger erschließt es sich mir, wer hier ein solches Format mit welchem Interesse veranstalten sollte. Ich hoffe, im Verlauf der Woche ein Format mitzubekommen. Das Essen wird schließlich, eine halbe Stunde später als angedacht, um 14:30 fertig und die träge Masse, die über das gesamte Gelände verteilt ist, wird zum Essen zusammengerufen. […] Marlene holt noch Schüsseln aus dem Lager, damit wir die Salate etc. schön anrichten und auf die Tische stellen können. Sie sagt, sie hasst Schlangen und Buffets und möchte, dass es eine schöne Situation ist. Oskar hingegen hat großes Interesse daran, dass er die zeitlichen Versprechen, die er gemacht hat (es gibt in 10 Minuten Essen) einhalten kann und dass sein Essen warm auf den Tisch kommt. […] Auf dem Nachhauseweg merke ich, dass mir die direkte Sonneneinstrahlung auf die Outdoor-Küche ganz schön zugesetzt hat (Sonnen-
28 Vgl. https://foodsharing.de/ (letzter Abruf: 10.01.2021)
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brand!) und ich die ganze Zeit nichts getrunken habe. Meine Schultern sind vom Stehen und Schnippeln ziemlich verspannt. Ich bin kaputt und bekomme abends Migräne. Am nächsten Tag merke ich, dass die heißen Pellkartoffeln meine Hände verbrannt haben und dass ich einzelne Schnitte in den Händen habe.“
Restaurant: Universität der Nachbarschaften
Abbildung 5, UdN-Restaurant
Was: Erforschen und Einbinden von Nachbarschaft Wer: Studienprogramm Urban Design (HafenCity Universität Hamburg) Wo: Universität der Nachbarschaften (UdN, Hamburg-Wilhelmsburg Wann: Wintersemester 2012/13 Behandelt in: → 6.4 Leib, Performanz und Raum in den Atmosphären der Ess-Settings → 7.1. Zusammen am Tisch → 7.5. Ess-Settings als liminale Situationen
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Thema Im Rahmen einer Lehrveranstaltung an der HafenCity Universität Hamburg etablierten Studierende und Lehrende des Studienprogramms Urban Design an der so genannten Universität der Nachbarschaften (UdN) in Hamburg-Wilhelmsburg ein Hotel bzw. ein Restaurant, um so die Öffnung des Ortes in den Stadtteil voranzutreiben und Begegnungen, Interaktionen sowie den Aufbau eines Netzwerks zu ermöglichen. Format Der Titel dieses Lehr- und Forschungsprojekts gibt bereits das Format an, in dem Essen und Kochen hier verhandelt wird. Das Restaurant war dabei ein Unterprojekt des Vorhabens, die UdN als Hotel zu betreiben, welches als niedrigschwelliger angesehen wurde. Das Knüpfen von Kontakten mit Akteur*innen aus dem Stadtteil geschah hierbei einerseits über das Einbinden von Köch*innen, Musiker*innen, Barbetreiber*innen etc., die ihre Expertise in die Gestaltung der Restaurantabende einbrachten und dort auch selbst aktiv wurden. Andererseits waren die Bewohner*innen des Stadtteils angesprochen, das Restaurant als Gäste zu besuchen. Darüber hinaus gab es Restaurant-Abende, die von einer bestimmten Gruppe wie zum Beispiel einem lokalen Dart-Verein gestaltet wurden. Kochen und Gastronomie wurden hier somit als professionelle Praxis relevant und das Essen insbesondere in der (halb-)öffentlichen Form eines Restaurantbesuchs eingebunden. Gastgebende Das UdN-Restaurant wurde durch eine Gruppe von UrbanDesign-Studierenden unter der Leitung von Prof. Bernd Kniess und Benjamin Becker betrieben. Der Titel der Lehrveranstaltung lautete „IKP: activate_participate_associate“. Die beteiligten Studierenden kamen dabei aus unterschiedlichen Disziplinen wie Kulturwissenschaften, Stadtplanung oder Architektur. Der Studiengang Urban Design an der HafenCity Universität (HCU) beschäftigt sich mit städtischen Praxisformen in ihrer Wirkung und Herstellung und arbeitet hierbei mit einer gegenstandsorientierten Methodologie zwischen Forschung und Gestaltung.
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Teilnehmende und Einladung Die Hintergründe der Teilnehmenden variierten je nachdem, ob und mit welchen lokalen Akteur*innen an den jeweiligen Abenden zusammengearbeitet wurde. Es waren immer Studierende oder auch Lehrende aus dem Studienprogramm Urban Design oder der HCU anwesend, da auch über die EMail-Verteiler der HCU zu den Abenden eingeladen wurde. Darüber hinaus trugen ehemalige Teilnehmende (aus dem Stadtteil) dazu bei, die Restaurant-Abende in ihrem Umfeld bekannt zu machen. Rolle der Forscherin Ich habe das UdN-Restaurant zwei Mal als Forscherin besucht und ansonsten interessiert begleitet, was bedeutete, dass ich mit den beteiligten Akteur*innen vor, während und nach dem Projekt informelle Gespräche geführt und die Einladungen gelesen und verteilt habe. Zudem gab es eine Überschneidung zwischen diesem Ess-Setting und meinem ersten Taktsinn-Dinner. So fand das erste Taktsinn-Dinner während der Laufzeit des UdN-Restaurants ebenfalls an einem Mittwochabend in der Universität der Nachbarschaften statt. Da ich einige Projektbeteiligte über meine Arbeit an der HafenCity Universität kannte bzw. auch andere Veranstaltungen in der Universität der Nachbarschaften besucht hatte, fiel mir der Feldeintritt leicht – zumal ich auch in die Kategorie Nachbarin fiel, weil ich in der unmittelbaren Umgebung der Universität der Nachbarschaften wohnte. Ort und Setting Die Universität der Nachbarschaften war ein temporäres, transdisziplinäres Lehr- und Forschungsprojekt, das als Kooperationsprojekt der HafenCity Universität Hamburg mit der Internationalen Bauausstellung und der Kampnagel Kulturfabrik realisiert wurde. Die UdN befand sich im leerstehenden ehemaligen Gesundheitsamt in Hamburg-Wilhelmsburg, welches zwischen 2007 und 2013 stetig umgebaut und in unterschiedlicher Weise genutzt wurde. Alle Projekte folgten dabei der Grundidee des UdN-Projekts, welche im „forschende[n] Erarbeiten und Erproben zeitgemäßer Bildungsformen an der Schnittstelle von Kultur, Wissen und Stadtentwicklung“ lag (Universität der Nachbarschaften 2012b). Dabei
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stellte die UdN sowohl einen Ort des Arbeitens in Bau-Workshops und Seminaren dar als auch einen Ort der Begegnung mit der Nachbarschaft. Während der Dauer dieser temporären Nutzung wurden die einzelnen Räume immer wieder umgenutzt und umgebaut, und im Zuge dessen durch den Einbau von großen Fenstern auch räumlich zur Nachbarschaft und dem angrenzenden Park geöffnet. Zum Ende des Projekts haben sich jedoch auch feste Räume etabliert. Dazu gehörten ein Foyer, das in die offene Küche mit Kücheninsel überging, oder ein großer Veranstaltungsraum mit angrenzenden Räumen, die häufig für Ausstellungen und Präsentationen genutzt wurden. In diesen Räumen fand auch das UdN-Restaurant vorwiegend statt. Allerdings wurden im Zuge eines experimentellen Vorgehens immer wieder Elemente wie ein Empfangstresen, die Bar und die Ess-Tische unterschiedlich angeordnet und diese Anordnungen erprobt und reflektiert. Zeit Die Restaurant-Abende fanden ab November 2012 jeweils mittwochabends ab ca. 19:30 Uhr statt. Insgesamt wurden zehn verschiedene Settings veranstaltet. Dabei war das Projekt von Beginn an experimentell angelegt, so dass räumliche Komponenten, Gerichte, Servierformen (Buffet oder Bedienung am Platz) oder die Getränkeauswahl von Abend zu Abend verändert wurden. Durch diesen seriellen Aufbau konnten die Studierenden gezielt Hypothesen überprüfen und nach Lösungen für auftretende Probleme suchen. Essen An allen zehn Restaurant-Abenden wurden unterschiedliche Gerichte zubereitet, teils von unterschiedlichen Köch*innen aus dem Stadtteil. Häufig gab es Suppen oder Eintöpfe aus unterschiedlichen Länderküchen, manchmal auch Fingerfood-Buffets oder Drei-Gänge-Menüs. Diese enthielten häufig gefülltes Gemüse oder verschiedene Hackfleischgerichte. Ausschnitt Projektdokumentation „Instead of trying to establish an exclave as result of outer space student ideas, the objective is to imbed the hotel into the neighbor-
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hood. Think local... on every level! First step: open up to the neighbourhood, make your work visible and transparent. Invite them! ;The Hotel needs a restaurant anyway. Let’s start with the fun part!!!‘. We decided to set up a weekly event on every Wednesday where interested people of the community could get to know the project and its growing number of participants. Since the end of November 2012, the Hotel Restaurant has opened its doors to deliver fine food, drinks and live music. Sometimes irritating and chaotic, but true and handmade. ‚The most important elements of our restaurant are the cook, the music and the guests – for atmosphere let’s improvise!‘ By inviting cooks and musicians of the neighbourhood we were already looking for potential actors for start up corporations. It’s not easy to find people and actually make them cook there or play music etc. Organising and actually experiencing the Wednesday dinners has also a great teambuilding effect among students and participants themselves. The transformation process has started. Week after week seat orders, decorations, installations and of course the operation structure have been improved. More and more people get to know the project. The network is growing and that is notably visible in our vivid cook events. The objective of the first evening was to get started with a series of events for initiating the transformation process ‚UdN goes Hotel‘. Thanks to the dinners we are right in the middle of it! The restaurant gives the students a chance to prove the hotel itself on a smaller scale. Under the topic ‚Learning from...‘ every Wednesday dinner teaches the students on what there is to think of, to change, to improve etc. Learning by doing.“
Soli-Essen I
Abbildung 6, Lass uns zusammen was essen, Park Fiction
Was: Soli-Picknick zum Ermöglichen von Begegnung Wer: Park Fiction Komitee Wo: Park Fiction (St. Pauli, Hamburg) Wann: August 2013 Behandelt in: → 7.3 Herzlich Willkommen → 7.4 (Selbst-)Inszenierungen über Essen und Kochen → 7.5 Ess-Settings als liminale Situationen Thema Nachdem im Juni 2013 rund 70 so genannte LampedusaFlüchtlinge in der St. Pauli Kirche eine temporäre Unterkunft erhalten hatten, wurden die Geflüchteten und alle Interessierten unter den Titeln „Lass uns zusammen was essen“ und „Lass uns mal wieder zusammen was essen“ dazu aufgerufen, im benachbarten Park Fiction zu gemeinsamen Picknicks zusammenzukommen. Die zugrundeliegende Idee hierbei,
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war es, nachbarschaftliche Begegnung auf Augenhöhe in einer informellen Atmosphäre zu ermöglichen. Format „Lass und (mal wieder) zusammen essen“ sind Formate zwischen Welcome Dinner und Soli-Mahlzeit. Das Welcome Dinner ergibt sich hier aus dem Zusammenhang, dass es sich um ein Essen für Geflüchtete handelt, bei dem die Teilnehmenden willkommen geheißen werden sollen und dabei ein Begegnungsraum geschaffen wird. Das Soli-Dinner leitet sich von „Solidarität“ ab und wird nicht nur im Geflüchteten-Kontext veranstaltet. Meist werden bei solchen Mahlzeiten (auch) Geld oder Sachspenden gesammelt, um (Gerichts-)Prozessund Lebenshaltungskosten bestimmter Personen zu decken. Soli-Veranstaltungen wie Mahlzeiten oder auch Konzerte finden vor allem in einem politischen, eher linken Milieu statt. Für die adressierten Geflüchteten stellten laut den Veranstaltenden diese Picknicks einen „Wendepunkt“ in der Entwicklung eines informellen, nachbarschaftlichen Unterstützungsnetzwerks dar. Alltagspraktiken wie gemeinsames Essen wurden hierbei in einen „politischen und emanzipatorischen Zusammenhang“ gestellt (vgl. Schäfer/Czenki 2021). Gastgebende Als Organisator*in wird auf der Park-Fiction-Webseite das Park Fiction Komitee angegeben, zu dem verschiedene Akteur*innen aus der Hamburger Kunstszene und der Rechtauf-Stadt-Bewegung gehören. Dieses Komitee sieht sich als Ansprechpartner*in für Fragen rund um das Projekt Park Fiction in Hamburg-St. Pauli. Da keine Anmeldung für das Picknick notwendig war, traten die Organisator*innen vor Ort für mich nicht sichtbar in Erscheinung. Teilnehmende und Einladung Die Einladungen zu den beiden Soli-Picknicks wurden auf der Webseite des Projekts Park Fiction sowie über soziale Medien wie Facebook veröffentlicht und verbreitet. Der auffordernde, niedrigschwellige Titel wurde bewusst gewählt und soll „an Sprache und Formate vorstädtischer Nachbarschaftskultur“ anknüpfen (vgl. ebd.). Das Publikum bestand zu einem
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größeren Teil aus People of Color, was jedoch nicht maßgeblich vom Park-Fiction-Publikum an anderen Tagen abwich. Zudem entdeckte ich einige zentrale, mir persönlich allerdings eher flüchtig bekannte Personen aus der Hamburger Kunst- und Kulturszene. Zu den weiteren Hintergründen der Personen vor Ort können aufgrund meiner rein beobachtenden Stellung in dieser Situation keine weiteren Angaben gemacht werden. Rolle der Forscherin Ich hatte aus meinem privaten Umfeld von diesem Picknick gehört und fühlte mich verpflichtet, diese Situation zu beforschen. In meinen Feldnotizen beschreibe ich kurz das Setting und anschließend vor allem meine Widerstände, mich an dem offenen Picknick zu beteiligen und Kontakte zu knüpfen. Somit nahm ich bei diesem Setting eine reine Beobachterinnenrolle ein, die im belebten Treiben des Parks, der auch sonst ein sehr diverses Publikum anzieht, nicht weiter auffiel. Ort und Setting Die Idee für den Park Fiction (auch Antoni Park und Gezi Park Fiction) entstand in den 1990er Jahren aus einer kollektiven Wunschproduktion heraus, die u.a. vom Hamburger Künstler Christoph Schäfer geleitet wurde. Ausgangspunkt waren Bebauungspläne des Areals, auf dem Wohn- und Bürohäuser entstehen sollten. Verschiedene Akteur*innen auf St. Pauli und darüber hinaus argumentierten jedoch für einen öffentlichen Park. Der Park wurde 2005 mit einem Picknick eröffnet und ist seitdem ein Ort für alltägliche Versammlungen genauso wie für Performances und politische Veranstaltungen. Als Kunstprojekt wurde der Park Fiction u. a. auf der documenta 11 in Kassel präsentiert. Das Soli-Picknick stellte somit keine außergewöhnliche Veranstaltung an diesem Ort dar, es basierte weniger auf aufwändiger Vorbereitung und bestand vor allem aus einem Aufruf zum Picknick, der mit dem politischen Appell verbunden war, die Geflüchteten vor Ort und darüber hinaus nicht zu stigmatisieren. Somit beruhte das Stattfinden des Picknicks auch zu einem großen Teil auf der Eigeninitiative vieler Personen.
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Zeit Der Picknick-Beginn wurde jeweils für 17:00 Uhr angesetzt und darauf verwiesen, dass auch Kinder willkommen seien. Beide Picknicks fanden an einem Freitag statt, so dass berufstätige Personen direkt nach der Arbeit teilnehmen konnten und das Setting gegebenenfalls auch ein Startpunkt für weitere Abendaktivitäten sein konnte. Während der Zeit meiner Beobachtung gab es abgesehen von unterschiedlichen DJs, die Musik auflegten, keine weiteren strukturierenden Elemente im Ablauf. Nach dem Essen tanzten bereits einige Anwesende. Essen Die (potentiellen) Teilnehmenden wurden in der Einladung dazu aufgerufen, selbst Essen und Getränke für das gemeinsame Grillen mitzubringen und gegebenenfalls etwas mehr einzupacken, um das Essen teilen zu können. Dementsprechend gab es an dem von mir besuchten Picknick vor allem Fleisch und vegetarische Grillwaren sowie Salate, Brot und verschiedene Aufstriche und Soßen. Ich selbst hatte mir nur zwei Alsterwasser und Süßigkeiten aus einem benachbarten Kiosk mitgebracht. Feldtagebuch „Ich kaufe mir zwei Alster und 10 kleine Colaflaschen am Kiosk und setze mich auf die Palmeninsel mit Blick zum Grill und zu dem aufgebauten Buffet. Das Ganze ist wirklich eher eine Party mit DJ/Musik, mitgebrachten Getränken (soweit ich das sehen konnte) und eben einem Buffet + Grill. Der Grill und ein Solistand mit Infomaterial und Gezi-Park-Fiction-T-Shirts werden von Leuten in eben diesen TShirts bedient. Für das Essen musste nicht bezahlt werden (da ja auch jeder etwas mitbringen sollte, aber ich vermute, es gab eine Spendendose. Ich war nicht motiviert genug – auch nicht nach zwei Alster – um das auszuprobieren/nachzufragen. Teilhabe wäre nicht schwer gewesen. Das Setting ‚Park Fiction‘ war einfach so wie sonst, nur das eben das ‚Picknick‘ stattgefunden hat.“
Soli-Essen II
Abbildung 7, Galerie linksrechts
Was: Soli-Mahlzeit zum Sammeln von Spenden Wer: Kollektiv Alternative Abendgestaltung Wo: Galerie linksrechts (Gängeviertel) Wann: November 2014 Behandelt in: → 7.3 Herzlich Willkommen → 7.4 (Selbst-)Inszenierungen über Essen und Kochen → 7.5 Ess-Settings als liminale Situationen Thema Beim zweiten Soli-Dinner wurde die Flucht von Fatuma, einer von Somalia nach Deutschland geflüchteten Frau, thematisiert. Vor Ort und in der Einladung wurde die Situation dieser Geflüchteten näher geschildert. Da sie „aufgrund kultureller
Soli-Essen II | 129
Zwänge“ nicht in Freiheit leben konnte, war Fatuma nach Deutschland geflohen. Zum Zeitpunkt des Dinners drohte ihr die Abschiebung. Sie benötigte für die Heirat mit einer deutschen Frau nun Geld, um dafür benötigte Dokumente aus Kenia (ihrem vorherigen Aufenthaltsland) zu beschaffen. Fatuma war zu diesem Zeitpunkt Teil der Bewegung „Women in Exile“, die sich für die Rechte und den Schutz von geflüchteten Frauen einsetzt. Über eine zuvor veranstaltete Floßtour dieser Gruppe waren die Veranstalter*innen des Dinners mit Fatuma in Kontakt gekommen. Format Das Soli-Dinner für Fatuma war in erster Linie eine Soli-Mahlzeit, deren Zweck es war, Spenden für die Geflüchtete zu sammeln. Das Drei-Gänge-Menü wurde zudem mit einem anschließenden Soli-Konzert und dem Aufruf verbunden, sich auf andere Art und Weise mit der Flüchtlingsthematik auseinanderzusetzen. Gastgebende Aus der Einladung wie auch der Kommunikation während des Essens war für dieses Setting keine einzelne Person oder Initiative als gastgebend erkennbar. Vielmehr war im Einladungstext von einem nicht näher definierten „Wir“ die Rede. Einer der am Ende der Einladungsmail genannten Männer war zur damaligen Zeit Student an der HafenCity Universität Hamburg. Die E-Mail-Adresse lässt eine feste Gruppe namens „Alternative Abendgestaltung“ hinter dem Dinner vermuten, was jedoch im Laufe des Abends nicht weiter aufgegriffen oder bestätigt wurde. Teilnehmende und Einladung Die Einladung zu diesem Soli-Dinner wurde u. a. über die EMail-Verteiler der HCU verschickt. In der Einladungsmail gaben die Initiatoren einen Einblick in die Situation der Geflüchteten Fatuma und erklärten, wofür das bei diesem Essen gesammelte Geld verwendet werden sollte. Interessierte wurden gebeten, sich mittels der angegebenen E-Mail-Adresse anzumelden. Erwartungsgemäß bestand das Publikum zu einem großen Teil aus HCU-Studierenden.
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Rolle der Forscherin Ich besuchte dieses Soli-Dinner zusammen mit meiner drei Monate alten Tochter und meinem Partner und war dementsprechend häufig abgelenkt von den Abläufen und Gesprächen des Abends. Gleichzeitig erleichterte mir die Präsenz meiner Tochter den Einstieg ins Gespräch mit der sonst sehr zurückhaltenden Fatuma. Meine in Unterhaltungen offenbarte Forschung wurde mit Interesse aufgenommen und sogar mit Vorschlägen für interessante Mahlzeitenformate kommentiert. Ort und Setting Das Soli-Dinner fand in der Galerie linksrechts im Hamburger Gängeviertel statt. Da dieser Galerieraum in zwei Teile (links und rechts des Eingangs) unterteilt ist, wurde das Essen in zwei unterschiedlichen Räumen serviert. Der Kochvorgang fand an einem anderen Ort im Gängeviertel statt und war somit für die Teilnehmenden nicht sichtbar. Die Tische waren so platzsparend wie möglich aufgestellt, dass auch der von mir mitgebrachte Kinderwagen Platz fand. Dennoch war der Raum sehr voll, als alle Gäste an den Tischen saßen. Außer der Spendensammlung und der kurzen Einführung einer Studentin zu Fatumas Situation gab es während des Essens keine weiteren Programmpunkte. Die Geflüchtete, die im Mittelpunkt stand, kam etwas später zum Essen dazu und ging früher. Sie wirkte dabei etwas unsicher und auch in der Runde herrschte Unklarheit darüber, ob Fatuma wusste, dass dieser Abend ihr gewidmet war. Zeit Das Soli-Dinner sollte laut Einladung um 19:00 Uhr beginnen, startete aber deutlich später, da viele Gäste erst weit nach 19:00 Uhr hinzustießen. Der Abend wurde durch die einzelnen Gänge strukturiert. Zwischen Haupt- und Nachspeise wurde die anwesende Fatuma kurz vorgestellt und es wurden Spenden gesammelt. Die Dauer des Essens war begrenzt durch das im Anschluss zum gleichen Zweck stattfindende Soli-Konzert des Hamburger Musikers Sven Kacirek, das um 22:00 Uhr starten sollte.
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Essen Die Tische waren bereits beim Ankommen der Gäste mit verschiedenen Dips und Brot gedeckt und es durfte direkt gegessen werden. Als Vorspeise gab es einen Weißkohlsalat mit Aprikosen und veganen Köfte. Die Hauptspeise bestand aus vegetarischem Fingerfood. Zum Nachtisch gab es Pancakes. Alle Speisen wurden aus geretteten Lebensmitteln zubereitet.29 In der Einladung war betont worden, dass die Gerichte von professionellen Köchen zubereitet werden würden. Feldtagebuch „Nach der Hauptspeise gibt es eine Pause zum Rauchen und Verdauen. Ich nehme L. in die Trage, weil sie immer noch nicht schläft. Beim Rausgehen komme ich mit Fatuma ins Gespräch, die L. niedlich findet. […] Da Fatuma Sven Kacirek, der gleich noch ein SoliKonzert geben wird, nicht kennt, erzähle ich ihr kurz, welche Art von Musik er macht. Dann entschuldigt sie sich und kommt auch zum Nachtisch nicht mehr zurück an unseren Tisch. Mich wundert, dass Fatuma so gar nicht über den Plan und Ablauf dieses Abends Bescheid weiß, da es ja eigentlich nur um sie geht. […] Wir werden dann von Tim wieder zum Nachtisch reingebeten. Vorher gibt es noch ein paar Infos zu Fatuma (Bootstour, Situation von Flüchtlingsfrauen in Deutschland) und die Spenden werden eingesammelt. Die meisten Personen geben die empfohlenen 20 Euro. Ich finde es merkwürdig, dass Fatuma selbst gar nichts sagt und sich nicht einmal für die Spenden/die Veranstaltung bedankt. Oder weiß sie gar nichts von den Spenden?“
29 Vgl. https://foodsharing.de/ (letzter Abruf: 10.01.2021)
Taktsinn I
Abbildung 8 , Taktsinn I
Was: Gemeinsames Diskutieren des „Nicht-Visuellen“ Kontext: Erste Präsentationswoche des Graduiertenkollegs „Versammlung und Teilhabe“ Wo: Universität der Nachbarschaften (UdN, Hamburg-Wilhelmsburg) Wann: 8. Mai 2013 Behandelt in: → 6.4 Leib, Performanz und Raum in den Atmosphären der Ess-Settings → 7.1. Zusammen am Tisch → 7.5 Ess-Settings als liminale Situationen Thema Beim ersten Taktsinn-Dinner sollte das Nicht-Visuelle als Thema und Wahrnehmungsqualität kollektiv gesucht und reflektiert werden. Die eingeladenen Expert*innen gaben dafür
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Inputs zu Auditivem und Klangwelten in der Forschung sowie zur Rolle des Empfindens von Energie und Stimmung. Alle Teilnehmenden suchten darüber hinaus die Qualitäten des Nicht-Visuellen in ihrer subjektiven Wahrnehmung des Abends. Format Die Suche nach dem Nicht-Visuellen wurde hier als Forschungsdinner in drei Gängen organisiert. Das Forschungsdinner stellte ein Format dar, mittels dessen während und durch das gemeinsame Essen eine Fragestellung gemeinsam bearbeitet wurde. Beim ersten Taktsinn-Setting spielte die Spannung, die durch den Wechsel zwischen formellen Vorträgen und ausgelassenem Genießen und Sprechen während des Essens entstanden war, eine wichtige Rolle. Durch die Verankerung im Graduiertenkolleg „Versammlung und Teilhabe“ wurde dieses Dinner als künstlerisch-wissenschaftliches Setting angenommen. Kunst wurde in diesem Zusammenhang als Möglichkeitsraum definiert, in dem (alltägliche) Praktiken wie Essen, Versammeln oder Kuratieren auf ihr Potential Wissen zu produzieren befragt wurden. Neben der Öffnung des Forschungsprozesses für eine größere Öffentlichkeit ging es in dieser Präsentationswoche auch darum, Material zu generieren und Forschungsfragen zu testen. Im Anschluss an das Essen und die Vorträge beteiligten sich viele Gäste an einem aufgezeichneten Bargespräch zu den Erkenntnissen des Abends. Einige Gäste übermittelten ihr Feedback über vorgegebene Feedback-Fragebögen per EMail. Gastgebende Alle Taktsinn-Settings wurden von mir als Forscherin organisiert. Das erste und dritte Taktsinn-Dinner fanden im Rahmen von Präsentationen des Graduiertenkollegs „Versammlung und Teilhabe“ statt. Teilnehmende und Einladung Für die Präsentationswoche des Graduiertenkollegs „Versammlung und Teilhabe“ wurde jeweils ein Programmheft mit Beschreibungen der einzelnen Programmpunkte erstellt und im weiteren Umfeld des Kollegs per E-Mail und Post verteilt.
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Darüber hinaus hatte ich Einladungen zum Taktsinn-Dinner an Freunde und Kolleg*innen an der HafenCity Universität verschickt. Die versammelten Personen entsprachen dieser Reichweite: Unter den Teilnehmenden waren überwiegend Angehörige des Graduiertenkollegs, Kolleg*innen von der HafenCity Universität sowie einige Akteur*innen aus Hamburger Kulturkontexten. Darüber hinaus nahm ein befreundetes Paar teil. Die starke kulturwissenschaftliche Prägung der Versammelten wurde von den nicht kulturwissenschaftlich Ausgebildeten im Feedback erwähnt und kritisiert. Bis auf die drei Vortragenden zahlten alle Teilnehmenden einen Beitrag von 10,00 Euro für Essen und Getränke. Rolle der Forscherin Meine Rolle in diesem Setting war die einer klassischen Gastgeberin, indem ich das Setting vorbereitete, die Gäste begrüßte, die Abläufe koordinierte und die Teilnehmenden durch den Abend führte. Dadurch, dass meine Forschung als Thema im Mittelpunkt des Settings stand, war ich gleichzeitig auch als Forscherin präsent. Diese Doppelrolle war in diesem Setting zwar herausfordernd, funktionierte jedoch gut, da ich das Forschungsdinner und somit auch meine Rolle selbst konzipiert hatte. Ort und Setting Das erste Taktsinn-Setting fand in der Universität der Nachbarschaften statt (→Restaurant: Universität der Nachbarschaften). Die kurzen Tischreden der Expert*innen für das Nicht-Visuelle wechselten sich mit den einzelnen Gängen ab. Die drei Expert*innen für das Nicht-Visuelle gaben jeweils unterschiedliche Inputs zum Thema des Abends, und der blinde Soziologe und Kurator Siegfried Saerberg stellte einen experimentellen Hörbeitrag vor, der in die nicht-sehende Raumnavigation einführte. Der Kulturanthropologe Johannes Müske stellte den kulturanthropologischen Umgang mit Klang und seiner kulturellen Prägung vor. Als Abschluss lieferte die Coachin, Persönlichkeitstrainerin und Reiki-Lehrerin Angelika Leisering mit einem Wahrnehmungsexperiment einen Input zu ihrem Verständnis eines passiven Sinns. Durch das gemeinsame Essen zwischen den Reden wurden auch Geschmacks-, Geruchs- und Tastsinn in die Wis sensproduktion einbezogen. Das Ergebnis dieses Abends
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blieb durch den experimentellen Charakter für alle Beteiligten bis zum Ende offen. Zeit Das erste Taktsinn-Dinner fand an einem Mittwochabend im Mai 2013 und somit ein Jahr nach dem Start des Graduiertenkollegs „Versammlung und Teilhabe“ statt. Das Dinner startete gegen 18:00 Uhr mit einer kurzen Begrüßungs- und Vorstellungsrunde, einem einleitenden Vortrag von mir zur Idee des Abends und dem ersten Vortrag. Danach wechselten sich Essen und Vorträge mit anschließender Diskussion ab. Gegen 21:00 Uhr war der offizielle Teil des Abends beendet und es gab die Möglichkeit, an der Bar ein Feedbackgespräch zu führen. Gegen 23:00 Uhr war die Veranstaltung beendet. Essen An diesem Abend gab es ein vegetarisches Drei-GängeMenü, das von einem Cateringunternehmen vor Ort geliefert wurde. Der erste Gang bestand aus einer Möhren-IngwerSuppe, als Hauptgang wurde ein Ratatouille-Spieß mit Feta, eine Mini-Quiche mit Lauch und ein Grünkern-Bällchen auf Joghurt- Minze-Dip serviert. Zum Nachtisch gab es ein Apfelcrumble mit Vanillesoße und eine Mocca Trüffelpraline. Bei der Auswahl der Speisen hatte ich auf eine möglichst große Vielfalt an Konsistenzen und Geschmäckern geachtet und bewusst einen Fingerfood-Gang eingeplant, um das Taktile beim Essen zu betonen. Zum Essen wurden Weißwein, Bier und Wasser auf den Tischen zur Selbstbedienung angeboten. Feldtagebuch „An der beschriebenen Atmosphäre hatte das Essen einen maßgeblichen Anteil. Aber auch das eher Ungeplante und Beiläufige lieferte einen wichtigen Beitrag: So nahm das Tageslicht im Raum mit jedem Gang und jeder Tischrede etwas ab, bis am Ende der Raum zum Dessert in eine Mischung aus Abenddämmerung und blauem Scheinwerferlicht getaucht war. Angelika Leisering beschrieb dieses zu Beginn ihres Vortrags passend mit dem Begriff des ‚leisen Lichts‘. Diese Form des Offenen und Experimentellen fand auch Einzug in die Klangcollage von Siegfried Saerberg, indem sich Kirchenglocken
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und Kinderstimmen von draußen mit den Sounds vom Band vermischten. Damit war für einige Gäste die Erkenntnis verbunden, dass auch beim Hören Bilder erzeugt werden und Visualität generell nicht nur etwas mit dem Sehen von äußeren Eindrücken zu tun hat, sondern auch eine Form des Verstehens, des Übersetzens von allen Sinneseindrücken ist.“
Taktsinn II
Abbildung 9 , Taktsinn II
Was: Forschungsdinner zum Thema Essen & Erinnerung Kontext: Forschungsdinner zum Testen von Essen als/mit Methode Wo: Mietküche „Gekreuzte Möhrchen“ (Hamburg-St. Pauli) Wann: 24. März 2014 Behandelt in: → 5. Jeder muss ja essen → 6.1 Essen und Kochen: Leib und Soziales → 6.3 Früher waren die Pfirsiche aromatischer → 7.4 Selbstinszenierungen über Essen und Kochen Thema Beim zweiten Taktsinn-Dinner stand das Thema Essen und Erinnerung im Mittelpunkt und sollte anhand von mitgebrachten Nudelsoßen und Zubereitungsweisen thematisiert wer-
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den. Eine zentrale Frage dabei war, wie und worüber sich Erinnerungen materialisieren und greifbar machen lassen: über das Erzählen, den Geschmack oder Dinge wie Kochtöpfe? Zusätzlich zu diesem Hauptthema wurde das Thema kollektives Kochen bei der Zubereitung einer Gemüsesuppe mitverhandelt und beim schweigenden Essen nach Wahrnehmungsveränderungen gefragt. Format Das zweite Taktsinn-Setting stellte rückblickend das experimentellste und offenste Forschungsformat der von mir veranstalteten Mahlzeiten dar. Dieser offene Charakter kam u. a. deshalb zustande, da dieses Dinner nicht in Präsentationen eingebunden war, sondern der Fokus auf dem Forschen und Testen lag. In dieser Hinsicht handelte es sich hier vor allem um ein Ess-Experiment. Durch die vertraute Runde, in der das Setting stattfand, hatte es aber auch den Charakter eines Essens und Kochens mit Freunden. Gastgebende Alle Taktsinn-Settings wurden von mir als Forscherin organisiert. Das erste und dritte Taktsinn-Dinner fanden im Rahmen von Präsentationen des Graduiertenkollegs „Versammlung und Teilhabe“ statt. Teilnehmende und Einladung Die Einladung zum zweiten Taktsinn-Dinner wurde an alle Teilnehmenden des ersten Taktsinn-Essens geschickt, mit der Bitte um eine zeitnahe Rückmeldung. Es meldeten sich ausschließlich Kolleg*innen von der HafenCity Universität und Freunde an, die zu einem großen Teil bereits am ersten Setting teilgenommen hatten. Rolle der Forscherin Meine Rolle in diesem Setting war die einer klassischen Gastgeberin, indem ich das Setting vorbereitete, die Gäste begrüßte, die Abläufe koordinierte und die Teilnehmenden durch den Abend führte. Dabei wurde ich durch meinen Partner unterstützt, da ich an Aktivitäten wie schweigendes Essen und Füttern/Gefüttertwerden teilnehmen wollte. Dadurch,
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dass meine Forschung als Thema im Mittelpunkt des Settings stand, war ich gleichzeitig auch als Forscherin präsent. Die Forschung und meine Rolle wurden in der Abschlussdiskussion ausführlich in einem kollegialen Modus besprochen. Ort und Setting Das Setting fand in der Mietküche „Gekreuzte Möhrchen“ in einem Ladenlokal zwischen den Hamburger Stadtteilen Sternschanze und St. Pauli statt. Der Koch- und Essbereich befindet sich in einem Raum und ist optisch durch Möbel und einen Kühlschrank getrennt. Dass es sich nicht um eine private Küche handelte, wurde mit Blick auf die Gemütlichkeit zwar moniert, aber angesichts des Forschungssettings positiv bewertet. Die Gäste wurden vorab per E-Mail über die Aufgabe des Abends informiert: Alle sollten eine Nudelsoße vorbereiten und mitbringen, mit der sie eine markante Erinnerung verbinden. Die vor Ort erwärmten Soßen wurden zusammen mit dort gekochten Nudeln serviert. Die Anwesenden wurden in Zweiergruppen aufgeteilt, in denen sich die Gruppenmitglieder gegenseitig mit dem Nudelgericht fütterten. Dabei sollte die jeweils fütternde Person die mit der Soße verknüpften Erinnerungen beschreiben. In welcher Reihenfolge das Füttern und Essen erfolgen sollte, war nicht vorgegeben. Die Teams wurden durch ein Losverfahren zusammengestellt, welches direkt bei Ankunft durchgeführt wurde. Vor dem experimentellen Füttern wurde in der Gruppe gemeinsam eine Gemüsesuppe gekocht. Als die Suppe fertig war, wurde sie schweigend gegessen. Bei beiden Aufgaben gab es Teilnehmende, die sich weniger einbrachten bzw. das Füttern und Schneiden gänzlich verweigerten. Abschließend gab es bei Kuchen und Kaffee noch eine lange Abschlussdiskussion über das Thema des Abends und das Setting. Das Setting war in dem Sinne experimentell angelegt, als dass es auf meiner Seite keine Erwartungen an ein Ergebnis, wohl aber einen experimentellen Aufbau gab, der aus Fragen, Aufgaben und Infrastruktur vor Ort bestand.
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Zeit Das zweite Taktsinn-Dinner fand an einem Montagabend im März 2014 ab 17:00 Uhr statt. Die Startzeit war bewusst früh gesetzt worden, damit noch genügend Zeit für das Vorbereiten der Gemüsesuppe und zum Ankommen war. Die Abläufe verzögerten sich im Laufe des Abends etwas, da insbesondere das Erhitzen großer Wassermengen mehr Zeit als geplant erforderte. Der Abend endete gegen 22:30 nach einer ausführlichen Abschlussrunde. Essen Bei diesem Setting wurde eine Gemüsesuppe gemeinsam zubereitet. Für die Hauptspeise hatten alle Teilnehmenden eine bestimmte Nudelsoße, die für die jeweilige/n Teilnehmende/n mit einer markanten Erinnerung verbunden war, mitgebracht oder vor Ort zubereitet bzw. erhitzt. In den meisten Fällen handelte es sich um Soßen auf Tomatenbasis, es gab aber auch eine Backobstsoße und einen Nudelsalat. Die Nudeln wurden für alle Gäste vor Ort gekocht. Um das Thema (Kindheits-)Erinnerungen auch im Dessert aufzugreifen, hatte ich vorab einen ‚Kalten Hund‘ vorbereitet. Hierbei handelt es sich um einen Kuchen aus Butterkeksen, welche abwechselnd mit einer Schokoladen-Kokosfettmasse in eine Kastenform geschichtet werden. Alle Gäste teilten diese Kindheitserinnerung, wenn auch unter anderen Bezeichnungen (z. B. Kalte Schnauze). Als Getränke standen Bier, Weißwein, Wasser und Limonade zur Verfügung. Ausschnitt Abschlussrunde „Elena: Was wir auf jeden Fall beide hatten, du musst mich korrigieren, wenn das nicht so ist, dass Erinnerungen viel weniger über das Essen selbst präsent waren als vielmehr darüber, wie man es vorbereitet, was man da alles einkauft. Nora: Mir ist ein Topf wieder eingefallen. Elena: Wo drin es vorbereitet wird, als tatsächlich über den Geschmack und den Moment des Essens. Nora: Ich hatte auch so'n bisschen gedacht, dass mich diese Nudelsoße wirklich an diese Situation erinnern würde, dass das so aktuell noch mal neu zusammengesetzt wird. Aber wenn ich an diese Nudelsoße denke, dann denke ich an vergangene Situationen, aber jetzt musste ich die ganze Zeit nicht daran denken.
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Inga: Also, ich glaub, ich hatte das auch mit nem Topf, in welchem Topf diese Soße immer war. Weil es immer einen speziellen Topf gab, in dem das gemacht wurde. Anton: Und dann brachte ich ihn auch gleich mit. Inga: Deiner ja auch. (zu Anton) Ronja: Aber bei uns beiden war das eher das soziale Umfeld (zu Klaus). Also eher an welche Freunde oder welche Situationen uns das erinnert. Es war letztendlich nicht so richtig wichtig, was das für ne Soße war. Sondern eher an diese Situation hat uns das erinnert. Klaus: Ja, auch so die Zutaten. Ronja: Ja, bestimmte Zutaten waren es, die mich an die Situation erinnert haben. Ich wurde auch eher ausgelacht für meine Zutaten. Elena: Aber ist der Moment des Erinnerns der des Schmeckens oder die Zutat in die Soße machen? Klaus: Eher die Zutat in die Soße machen. Das Kaufen oder das Sammeln der Zutat. Elena: Ja, das mein ich. Ronja: Bei mir wars eher, wie das soziale Umfeld darauf reagiert hat oder (...) und da war die Zutat zwar wichtig, aber nicht das... Elena: Aber ich meinte, wann WIR uns erinnern. Wenn wir's schmecken oder wenn wir es vorbereiten. Das war das, was ich meinte. Anton: Oder erinnern wir uns daran, wenn wir es ERZÄHLEN? Da war ganz viel was ich dachte, ich hatte es mir schon vorher überlegt, ich würde es erzählen. Kam dann noch konkreter. Frauke: Wäre das auch gekommen, ohne das Essen? Anton: Da wären dann ganz andere Sachen gekommen. Ja. Frauke: Echt? Anton: Ja. Also das war jetzt auch nur ne Auswahl des Potpourri an Erinnerungen, was ich dazu im Angebot gehabt hätte.“
Taktsinn III
Abbildung 10, Taktsinn III
Was: Öffentliches Zwischenfazit: Das perfekte Forschungsdinner? Kontext: Zweite Präsentationswoche des Graduiertenkollegs „Versammlung und Teilhabe“ Wo: Küche von k3 in der kampnagel Kulturfabrik (HamburgWinterhude) Wann: 4. Mai 2014 Behandelt in: → 3.2 Konzepte sinnlich-leiblicher Wahrnehmung → 5.1 Essen und Kochen: Leib und Soziales → 8. Synthese Thema Beim dritten Taktsinn-Setting stand die Inszenierung eines vermeintlich perfekten Forschungsdinners im Mittelpunkt,
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was dementsprechend die Frage aufwarf, was ein Forschungsdinner überhaupt auszeichnet. Das Setting näherte sich dieser Frage in zwei Durchläufen und mittels vier unterschiedlicher Themen bzw. Fragestellungen: 1. dem sozialen Experiment, 2. dem sinnlichen Experiment, 3. dem Essen als Repräsentation und 4. dem Essen als performativer Rahmen. Format Das dritte Dinner-Setting wurde als Zwischenfazit konzipiert, in dessen Rahmen sowohl die bisherige Forschung präsentiert als auch der Gegenstand des Essens mit und als Methode im konkreten Handeln nähergebracht werden sollte. Durch den Einbezug der Teilnehmenden wurde auch in diesem Setting Material für die vorliegende Forschung generiert. Insbesondere durch den Ortsbezug auf kampnagel hatte der zweite Durchlauf des Forschungsdinners am Abend den Charakter eines Essens im Restaurant nach einem gemeinsamen Theaterbesuch. In der Tat hatten viele Teilnehmende vorab eine Performance besucht. Das Bedürfnis, sich im Anschluss über das Erlebte auszutauschen, kollidierte teilweise insbesondere mit der Aufgabe, während des Essens ein Rollenspiel zu performen. Gastgebende Alle Taktsinn-Settings wurden von mir als Forscherin organisiert. Das erste und dritte Taktsinn-Dinner fanden im Rahmen von Präsentationen des Graduiertenkollegs „Versammlung und Teilhabe“ statt. Teilnehmende und Einladung Für die Präsentationswoche des Graduiertenkollegs „Versammlung und Teilhabe“ wurde jeweils ein Programmheft mit Beschreibungen der einzelnen Programmpunkte erstellt und im weiteren Umfeld des Kollegs per E-Mail und Post verteilt. Darüber hinaus hatte ich eine Einladung zum dritten TaktsinnDinner an Freunde und Kolleg*innen sowie für meine Forschung interessante Multiplikator*innen geschickt. Die versammelten Personen entsprachen dieser Reichweite: Unter den Teilnehmenden waren überwiegend Angehörige des Graduiertenkollegs, Kolleg*innen von der HafenCity Universi-
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tät sowie einige Akteur*innen aus Hamburger Kultur-Kontexten. Allerdings nahmen an diesem Taktsinn-Setting deutlich mehr Personen teil, die bisher nicht an meiner Forschung und den veranstalteten Settings beteiligt gewesen waren. Im Gegensatz zu allen anderen Taktsinn-Settings war hier keine Anmeldung erforderlich und Teilnehmende konnten sich vor Ort spontan zu eine Teilnahme entscheiden. Es wurde im Programmheft jedoch auf ein begrenztes Platzkontingent hingewiesen, das allerdings zu keinem Zeitpunkt überschritten wurde. Die Teilnahme am Forschungsdinner war kostenlos. Rolle der Forscherin In diesem Setting trat ich weniger stark als Gastgeberin in den Vordergrund, wobei ich auch hier in einem einleitenden Vortrag einen Einblick in meine Forschung gab und das Ess-Experiment anleitete. Danach hielt ich mich jedoch eher im Hintergrund und initiierte nach dem Essen und Experiment die abschließende Diskussionsrunde. Meine Rolle in diesem Setting war die einer klassischen Gastgeberin, indem ich das Setting vorbereitete, die Gäste begrüßte, die Abläufe koordinierte und die Teilnehmenden durch den Abend führte. Dadurch, dass meine Forschung als Thema im Mittelpunkt des Settings stand, war ich gleichzeitig auch als Forscherin präsent. Diese Doppelrolle war bei diesem Setting zwar herausfordernd, funktionierte jedoch gut, da ich das Forschungsdinner und somit auch meine Rolle selbst konzipiert hatte. Ort und Setting Das dritte Taktsinn-Setting fand in der Küche des k3 – Zentrums für Choreographie in der kampnagel Kulturfabrik statt. Dieser Ort ergab sich u. a. daraus, dass das k3 Kooperationspartner des Graduiertenkollegs „Versammlung und Teilhabe“ war und während der zweiten Präsentationsphase weitere Performances von Stipendiat*innen vor Ort stattfanden. Die Küche ist im regulären Betrieb kein öffentlicher Ort für Aufführungen, aber räumlich direkt an Kurs- und Probenräume sowie Tanzstudios angeschlossen. In der offenen Küche waren jeweils zwei Biertische hintereinander zu zwei Tafeln aufgebaut und mit Papiertischdecken bedeckt. Auf den Tischen lagen Filzstifte, mit denen auf der Tischdecke geschrieben werden durfte und sollte. Die beiden Präsentationen an diesem Tag enthielten jeweils ein Ess-Experiment zu zwei unterschiedlichen Themen.
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Jeder Tisch bearbeitete ein Thema. Mittags wurden die Themen „Essen als soziales Experiment“ und „Essen als sinnliches Experiment“ behandelt und abends die Themen „Essen als Repräsentation“ und „Essen als performativer Rahmen“. Das soziale Experiment beinhaltete die Anweisung, gemeinsam mit den Sitznachbar*innen aus einer Schale zu essen. Für das sinnliche Experiment waren die Gäste angehalten, mit den Händen zu essen. Beim Essen als Repräsentation sollten die Teilnehmenden die Diskurse thematisieren, die für sie mit der servierten Suppe verbunden waren. Beim Essen als performativer Rahmen wurde den Essenden eine Rolle zugeteilt, die sie währenddessen einnehmen sollten, um darüber die lediglich performten aber nicht ausgesprochenen Hierarchien zu thematisieren. Für beide Durchläufe war im Vorfeld eine anschließende gemeinsame Diskussion geplant gewesen. Allerdings löste sich die zweite Runde auch aufgrund des verspäteten Beginns nach und nach auf, weshalb ich mich spontan gegen eine Abschlussrunde entschied. Zeit Die zweite Präsentation im Rahmen des Graduiertenkollegs „Versammlung und Teilhabe“ fand an einem Sonntag im Mai 2014 statt und war in zwei Präsentationen aufgeteilt: So begann der erste Durchlauf gegen 14:00 Uhr, der zweite Durchlauf war ab 19:00 Uhr geplant, begann aber etwas verspätet. Somit handelte es sich beim ersten Setting um ein Forschungslunch und nur beim zweiten um ein Forschungsdinner. Während am Nachmittag noch viele Teilnehmende zur abschließenden Diskussion geblieben waren, löste sich das Forschungsdinner am Abend relativ schnell gegen 21:00 Uhr auf. Essen Wie beim ersten Taktsinn-Dinner wurden auch bei diesem Setting das Essen und die Getränke von einem lokalen Caterer vor Ort geliefert. Beim Mittagessen wurde eine vegetarische Basmatireispfanne und beim Abendessen eine Minestrone mit Tofu und Laugengebäck serviert. Dazu gab es Weißwein und Wasser. Für die Abschlussrunde am Nachmittag wurden zudem Kaffee und Gebäck bereitgestellt. Für das Essen mit den Händen und das Essen aus einer Schüssel wurde bewusst ein Reisgericht mit Gemüse gewählt. Die
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Suppe mit Tofu und Buchstabennudeln sollte durch die verschiedenen Zutaten vor allem zum Reflektieren über Essen als Repräsentation und Diskurs anregen. Ausschnitt Feedbackgespräch Der folgende Ausschnitt stammt aus dem Feedbackgespräch, das nach dem ersten Durchgang des Forschungsdinners zum Thema „Essen als sinnliche/soziale Versammlung“ durchgeführt wurde. In diesem Abschnitt wird der Verhandlungsprozess nachvollzogen, der dem gemeinsamen Essen aus einer Schale unter teils Unbekannten vorausgegangen war. „S.: Ist doch interessant, also ich glaube, wenn A. nicht gewollt hätte, dass wir alle aus dem gleichen Topf essen, hätten wir das auch nicht gemacht. J.: Doch. Auf jeden Fall. Ich hätte mich darüber hinweggesetzt. [..] Ich find einfach, dass es hier ein geschlossener Raum ist. U.: Ich war der Erste, der es gemacht hat. Weil ich das auf der Serviette ausprobieren wollte, war ich glaub ich der Erste, der es gemacht hat. Und dann lags ne ganze Weile auf meiner Serviette und ich hab dann erstmal gefragt, wie denn hier der Hase läuft. T.: Irgendwann verhungert man, wenn man abwartet. U.: Ich glaub dadurch, dass man einfach macht, wird manchmal ne Entscheidung getroffen. J.: Aber das find ich eigentlich ganz angenehm. Das war jetzt durchaus was Positives, dass da jetzt jemand ist, der das Machtwort spricht. M.: Ich erinnere mich an einen Moment, wo ich so anfangen wollte, aus der gemeinsamen Schüssel zu essen. Und dann gab's, ich weiß nicht von wem, son Moment von: Nee, warte noch, wir müssen noch was aushandeln. […] B.: Also, ich find das ja spannend, dass ihr so lange auch darüber geredet habt und diese Hierarchie und alles mit reinspielt. Ich glaub, ich hätte meinen Löffel genommen und hätte angefangen und hätte euch alle komplett übergangen. U.: Wär vielleicht ganz gut gewesen. B.: Was in dem Moment vielleicht auch sehr unhöflich gewesen wäre. Weil man kann ja durchaus die Frage stellen: Hat da jemand Problem mit? Die ist ja mehr als berechtigt. A.: Aber wir hatten ja jetzt auch dieses Thema soziale ‚Versammlung‘. Und da war ja klar, dass wir das jetzt auch zum Problem machen.
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U.: Du hattest auch vorher angekündigt, dass es um die Verhandlung dessen geht, ne. Das ist mir so stark in Erinnerung geblieben, dass mir völlig klar war, es kommt zu ner Verhandlung. […] D.: Das ist ja auch interessant, wie autoritär diese Setzung wahrgenommen wurde. Also ich glaub, wir haben das viel weniger thematisiert. Und haben da unseren Stiefel draus gemacht.“
Taktsinn IV
Abbildung 11, Taktsinn IV
Was: Essen mit/als Methode. Ein Forschungsdinner Kontext: Forschungsdinner im Rahmenprogramm des 40. dgv-Kongresses in Zürich Wo: Foyer des Hauptgebäudes (Universität Zürich) Wann: 23. Juli 2015 Behandelt in: → 6.4 Leib, Performanz und Raum in Atmosphären der EssSettings → 7.1. Zusammen am Tisch → 7.5 Ess-Settings als liminale Situationen
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Thema Das vierte Taktsinn-Dinner zielte darauf ab, Essen mit und als Methode an der Situation des gemeinsamen Essens zu präsentieren und erfahrbar zu machen. Format Das vierte Dinner-Setting wurde als Zwischenfazit konzipiert, in dessen Rahmen sowohl die bisherige Forschung präsentiert als auch der Gegenstand des Essens mit und als Methode im konkreten Handeln näher gebracht werden sollte. Durch den Einbezug der Teilnehmenden wurde auch in diesem Setting Material für die vorliegende Forschung generiert. Gastgebende Alle Taktsinn-Settings wurden von mir als Forscherin organisiert. Das vierte Taktsinn-Dinner fand als Forschungsdinner im Rahmenprogramm des 40. dgv-Kongresses zum Thema „Kulturen der Sinne“ statt. Der Aufbau und die räumliche Planung wurden durch das Organisationsteam des Kongresses im Vorfeld des Settings übernommen. Teilnehmende und Einladung Das Forschungsdinner wurde im digitalen und gedruckten Programm des Kongresses angekündigt und es wurde dazu aufgerufen, sich vorab anzumelden. Insgesamt standen 26 Plätze zur Verfügung, die jedoch nicht vollständig besetzt wurden. Rolle der Forscherin Bei diesem Setting trat ich vor allem als Forscherin in Erscheinung, was besonders durch den Kontext eines wissenschaftlichen Kongresses bedingt war, bei dem es vorrangig um die Präsentation der eigenen Forschung ging. Dadurch, dass ich das Setting nur aus der Ferne planen konnte, entstand bei diesem Ess-Setting erstmals eine Situation, die nicht als positive gastliche Situation bezeichnet werden konnte. Einige der Teilnehmenden äußerten ihren Unmut über die Vorbereitung des Settings durch die Kongress-Organisation. Andere machten mich für die Situation verantwortlich und äußerten
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ihre Kritik durchaus angespannt und ärgerlich. Für mich als Forscherin war das Setting trotz oder gerade wegen der enormen Einschränkungen interessant und verlangte dabei den Teilnehmenden viel Geduld und Energie ab. Dennoch äußerten einige der Anwesenden im Nachhinein auch positive Kritik, die auf meine Souveränität im Umgang mit der schwierigen Situation abzielte. Ort und Setting Das Forschungsdinner wurde vom Organisationskomitee des Kongresses im Foyer des Uni-Hauptgebäudes platziert, da sich hier auch die Essensausgabe während der Mahlzeiten befand und ich vorab den Wunsch geäußert hatte, das Forschungsdinner mit dem angebotenen Catering zu verbinden. Allerdings entstand durch diese Platzierung – trotz der Tatsache, dass die Tische in einer seitlichen Nische untergebracht waren – eine außerordentlich schwierige akustische Situation, in der insbesondere ich während meiner Inputs gegen die Pausengespräche der anderen Kongressteilnehmenden anreden musste. Nach dem Input zu meiner Forschung verzehrten die Teilnehmenden die bereits eingedeckten Salate schweigend und notierten dabei ihre Gedanken und Geschmackswahrnehmungen auf der Papiertischdecke. Im Anschluss gab ich einen zweiten Input zu meiner Forschung, der allerdings wegen des hohen Lärmpegels für die meisten Anwesenden nicht zu verstehen war. Als ich den Vortrag beendete, gingen die Teilnehmenden eilig zum Buffet, um sich eine Hauptspeise zu holen. Die Essenden wurden erneut dazu angehalten, während des Verspeisens des Nudelgerichts nicht zu sprechen und sich auf ihre subjektive Wahrnehmung des Ess-Vorgangs zu konzentrieren. Nach der Hauptspeise gab ich den letzten der drei Inputs und lud die Teilnehmenden dazu ein, für den Nachtisch zu einer Abschlussdiskussion des Settings zusammenzukommen. Dem kamen allerdings nur wenige der Teilnehmenden nach – wohl auch, weil sich die Mittagspause dem Ende neigte. Zeit Das Forschungsdinner fand am Donnerstag, den 23. Juli 2015, zwischen 13:00 und 14:30 Uhr statt, was genau dem Zeitraum der Kongressmittagspause entsprach, und war somit genau genommen ein Forschungslunch. Das bedeutete
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für die Gäste, dass sie keine Möglichkeit zur Erholung hatten, wenn sie an den nach der Mittagspause stattfindenden Vorträgen teilnehmen wollten. Das Forschungsdinner startete etwas später, da einige Teilnehmende verspätet ankamen. Essen Das Essen, das im Rahmen des vierten Taktsinn-Settings angeboten wurde, entsprach dem Catering, das für alle Kongress-Teilnehmenden in der Mittagspause in Form eines Buffets angeboten wurde. Als Vorspeise gab es einen Salat bestehend aus verschiedenen Blattsalaten sowie Möhren und Radieschen mit einem Mayonnaise-Dressing. Als Hauptspeise wurden Spaghetti Bolognese angeboten, welche es auch als fleischlose Variante gab. Als Dessert gab es portionierte Gläser mit Schokoladenmousse oder Obstsalat. Darüber hinaus hatte ich auf den Tischen Brownies bereitgestellt, die zu Beginn des Dinners als Basis für Fähnchen mit den damaligen Schwerpunkten meiner Forschung dienten. Mit Wasser versorgten sich die Gäste ebenfalls am Buffet oder brachten eigene Getränke mit. Feldtagebuch „Nachdem alle den Salat aufgegessen haben, beginne ich mit dem zweiten Teil des Vortrags, der ebenso wenig wie der erste akustisch ankommt. Der Salat konnte den Hunger eher nicht stillen, denke ich, und so kommen mir die Gäste eher ungeduldig vor. Ich selbst habe kaum Hunger, obwohl ich heute bisher wenig gegessen habe. Zwei Teilnehmerinnen hatten sich bereits Nudeln geholt, warteten aber noch mit dem Verspeisen des Hauptgerichts. Als ich andeute, dass es nun zum Hauptgang übergeht, stehen bereits die ersten Personen auf und ich kann kaum noch die Aufgaben (schweigendes Essen) formulieren. Ich sehe, wie Teilnehmerinnen anderen Essenden mit dem Zeigefinger vor dem Mund anzeigen, dass nun geschwiegen werden soll. Die meiste Zeit halten alle das Schweigen durch. […] In der Zeit des schweigenden Essens kommt eine Teilnehmerin zu mir und beschwert sich ziemlich unfreundlich über die Rahmenbedingungen, für die sie mich verantwortlich macht. Sie scheint das Setting zu verlassen, kommt aber später noch einmal wieder.“
4 Ess-Settings
ANALYSEPERSPEKTIVEN AUF AUSSERALLTÄGLICHE MAHLZEITEN MIT THEMA Nachdem im ersten Teil dieser Arbeit vor allem die Anlage der Forschung und die relevanten konzeptuellen Grundlagen für diese Forschung vorgestellt wurden, möchte ich mich im zweiten Teil den Ess-Settings und deren Analyse aus drei Perspektiven widmen. Die Gliederung in drei Hauptperspektiven und die jeweiligen Unterkategorien ist ein Ergebnis der Beschäftigung mit dem empirischen Material und der Ordnung dessen. Konzepte und Theorien werden hierbei auf ihre Anwendbarkeit als Methodologien bewertet und angewendet. Das zugrunde liegende Material aus den Ess-Settings und der Sammlung an Beiträgen zum Essen und Kochen wird hierbei auf zwei unterschiedliche Weisen für die Analyse herangezogen. So dient es zum Teil als Ausgangspunkt für die Reflexion der nachfolgend vorgestellten Aspekte und zum Teil als Illustration und Bekräftigung zentraler Fragen, die sich aus den im dritten Kapitel vorgestellten konzeptuellen Grundlagen ergeben. In dieser zweiten Herangehensweise geht es auch darum, identifizierte Forschungslücken zu füllen. Die drei analytischen Perspektiven und die damit verbundenen Fragen und Lösungsansätze möchte ich an dieser Stelle kurz einleitend vorstellen. Erstens wird im Folgenden die Perspektive des erzählten Essens und Kochens bzw. die narrative Figuration des Essens und Kochens erläutert. Diese Narrative werden hier mit unterschiedlichen Bildern wie zum Beispiel dem Bild des Ess-Tisches verknüpft und die Frage aufgeworfen, ob und inwiefern diese Vorstellungen dabei helfen, Menschen (zu Ess-Settings) zu versammeln, und welche kulturellen Muster und gesellschaftlichen Entwicklungen damit angesprochen werden. In dieser Perspektive geht es demnach weniger um die situative Erfahrung oder konkrete Praxis des Essens und Kochens in den hier behandelten Ess-Settings, sondern um eine übergeordnete, diskursive Sicht auf diese Alltagsphänomene, in der insbesondere
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▶ Kap. 3.2 Konzepte sinnlichleiblicher Wahrnehmung
▶ Kap. 6.3 Früher waren die Pfirsiche aromatischer ▶ Kap. 6.4 Leib, Performanz und Raum in den Atmosphären der Ess-Settings
▶ Kap. 6.5 Zwischen Anspannung und Entspannung
▶ Kap. 7.2 Tischregeln
▶ Kap. 7.3 Herzlich Willkommen ▶ Kap. 7.4 (Selbst-)Inszenierungen über Essen und Kochen
die Produktion und Manifestation der Bedeutung von Essen und Kochen thematisiert werden. In der zweiten Analyseperspektive richtet sich der Fokus auf die subjektiven, sinnlich-leiblichen Aspekte der untersuchten Ess-Settings. Hierbei kommt das dieser Arbeit zugrunde liegende sensorischen System zum Tragen, welches Wahrnehmung als reziproken Prozess zwischen leib/körperlichen Prozessen und ‚außenliegenden‘ Faktoren wie Sozialität und Interaktion mit räumlichen und materiellen Akteur*innen versteht. Zentrale Beispiele für die Thematisierung dieses sensorischen Systems waren die Problematisierung von Essen und Erinnerung, wobei Erinnerung nach Nadia Seremetakis als „Meta-Sinn“ angesehen wird, sowie die Rolle des Atmosphärischen in den Ess-Settings, im Zuge dessen auch das Zusammenwirken von räumlichen, materiellen, sozialen und Wahrnehmungsaspekten thematisiert wird. Im Umgang mit Wahrnehmung, Subjektivität und implizitem Wissen stellt sich nicht nur in dieser Arbeit die Frage nach der Greifbarkeit dieser vagen und schwer definierbaren Konzepte. Somit spielen Emotionen, Wahrnehmungen und sinnlich-leibliche Daten nicht nur in Bezug auf den Forschungsgegenstand Essen und Kochen eine wichtige Rolle, sondern auch für meine Erkenntnispraxis. Deshalb werden in diesem Kapitel u. a. Widerstände, Anspannung oder Fremdheitserfahrungen auf Seiten der Mitforschenden wie auch der Forscherin thematisiert. Drittens werden die gesellschaftlichen und sozialen Dimensionen von Essen insgesamt und in den Ess-Settings und somit die Handlungsebene thematisiert. Hierbei steht die Frage im Mittelpunkt, inwiefern kollektives Essen und Kochen in einer konkreten Situation soziale Ordnung(en) und Verbindungen herstellt und welche gesellschaftlichen Problemstellungen sich daran zeigen lassen. Da ich die Ess-Settings zu einem großen Teil nicht (nur) aus der Perspektive einer Teilnehmenden besucht und erforscht habe, sondern in den meisten Fällen zumindest Einblicke in die Konzeption und Organisation hatte, spielt die Verhandlung von Gastgeberschaft und Gastlichkeit eine zentrale Rolle in diesem Kapitel. Dadurch, dass die untersuchten Ess-Settings in aktuelle Diskurse und Trends eingebettet waren, lassen sie sich auch als Diagnosen eben dieser Zeit, Gesellschaft und deren Räume beschreiben. Daraus resultiert der Fokus auf das Thema Migration und Essen, aber eben auch übergeordnete Fragen nach Ethiken und Ästhetiken beim und des Essen(s), die sich in Fragen hinsichtlich Inszenierung und Lebensstil wiederfinden lassen. Wie einleitend bereits erläutert, versucht diese Arbeit auch, in Form der Darstellung eine Entsprechung für die Komplexität des
Analyseperspektiven | 157
Gegenstands ‚Essen‘ in dessen narrativer Figuration, sinnlich-leiblicher Bedingtheit und gesellschaftlichen Dimensionen zu finden. Ein wissenschaftlicher Text ist hierbei immer eine von der Autor*in konstruierte Repräsentation des Untersuchten. Diese Autorität möchte ich in dieser Arbeit jedoch dadurch einschränken, dass sich Irritationen und Zusammenhänge auch über den Text wahrnehmbar für die Lesenden als solche erschließen lassen und die Lesenden dabei über das Verweissystem auch eigene Lesarten entwickeln können. Besonders inspirierend war hierfür die Arbeit „The Body Multiple“ von Annemarie Mol (2007), die ebenfalls eine Lösung gesucht und gefunden hat, um verschiedene Dimensionen eines Themas nicht linear in einem analogen Text zu arrangieren. Bei ihr geht es um das Nebeneinander von wissenschaftlichem Diskurs und ethnographischer Forschung, die sie unterteilt in zwei Seitenabschnitte, nebeneinander laufen lässt. Auch bei Mol schlägt sich die inhaltliche Ebene (mehr „multiplicity“) auf der Textebene nieder. Gerade im Hinblick auf das von Mol beschriebene „Body Multiple“ lässt sich auch für diese Arbeit feststellen, dass die gewählte Strukturierung und Darstellung eine Auswahl unter vielen möglichen Perspektiven darstellt. Insofern beschreibe ich hier das Multiple Ess-Setting im Hinblick auf die diskursiven Verhandlungen des Themas (Narrative), die gesellschaftlichen Dimensionen sowie die körperlich-leiblichen Aspekte, die sich aus meinem Feld heraus entwickelt haben. Somit ist das Synthesekapitel dieses zweiten Teils der Arbeit eben kein klassisches Fazit, enthält aber trotzdem eine abschließende Reflexion bzw. Kritik des Formats Ess-Setting sowie der dieser Arbeit zugrunde liegenden experimentellen Methodologie.
▶ Kap. 3.2 Konzepte sinnlichleiblicher Wahrnehmung/ Body Multiple
5 Jede/r muss ja essen
NARRATIVE FIGURATION VON ESSEN UND KOCHEN Auf der Suche nach den Potentialen des kollektiven Essens und Kochens für gesellschaftliche, wissenschaftliche und künstlerische Zwecke begegneten mir während meiner Forschungsarbeit immer wieder Aussagen, die sich weniger als von mir erwartet auf die konkrete Situation des Essens und Kochens bezogen, sondern vielmehr allgemeine Vorstellungen von gemeinsamem Essen und Kochen wiedergaben oder über die Situation vor Ort hinauswiesen. Im Forschungsverlauf kristallisierte sich folgendes Gesprächsmuster heraus, wenn ich im Kreise von (fachfremden) Kolleg*innen oder im privaten Umfeld Einblicke in meine Arbeit gab: Person: Und, warum bist du hier? Forschende: Ich arbeite an meiner Doktorarbeit zum Thema Essen. Person: Oh, spannend. Das ist ja auch wirklich ein wichtiges Thema, jeder muss ja essen. Da kommen die Menschen zusammen. Das ist ja schon bei den Höhlenmenschen so gewesen, wenn die am Feuer zusammengesessen haben. Bei uns in der WG war die Küche auch der wichtigste Ort. Forschende: Mich interessieren vor allem Situationen, in denen Menschen zusammen essen und kochen und dabei etwas Bestimmtes erreichen wollen. Nachbarschaft thematisieren oder so. Person: Ah, so wie das Perfekte Dinner oder so?30
Wie oben geschildert, wurde mir häufig die Relevanz des Themas Essen und Kochen in Alltag und Forschung erzählt und bestätigt, ohne dass ich direkt danach gefragt hätte. Da ich an konkreten Situationen des Essens und Kochens interessiert war, maß ich diesen 30 Ich schildere hier keine konkrete Situation, sondern fasse vielmehr die meisten Motive der informellen, in Gedächtnisprotokollen nachträglich dokumentierten Gespräche zusammen, um einen konzentrierten Einblick in diese Situationen zu geben.
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▶ Kap. 6.5 Zwischen Anspannung und Entspannung
▶ Kap. 2.1 Forschen zwischen Kunst und Ethnographie/Diskursanalyse
Alltagsgesprächen über Essen vorerst wenig Bedeutung bei, nahm aber wahr, dass ich sie in ihrer Redundanz zunehmend als lästig oder zumindest stereotyp empfand. Gleichzeitig traten diese Gespräche und Figuren permanent weiter auf und erzeugten bei mir als Forscherin vorerst Ärger und Abwehr, da sie in meinem sehr auf das konkrete Handeln und Erleben vor Ort gerichteten Forschungsdesign nicht vorkamen. Sie passten schlichtweg nicht in das Bild, das ich mir von meinem Forschungsgegenstand gemacht hatte. Die von Rolf Lindner beschriebene vermeintliche Symmetrie zwischen meinen Vorstellungen von Mahlzeiten und den Vorstellungen des Feldes gab sich hier als Asymmetrie zu erkennen (vgl. Lindner 1981: 54f). Die Symmetrie bzw. Asymmetrie bestand hier allerdings weniger in den Bildern, die sich Forscherin und Feldakteur*innen voneinander machten (wie bei Lindner), sondern vielmehr in den Bildern, die sich beide Seiten über den Erkenntnisgegenstand machten. Durch das Zulassen und Erkennen der erlebten Irritationen in der Forschung wurde der Zugang zu den ‚falschen‘ Vorannahmen eröffnet, die hier in der vermeintlichen Zentralität der Situation des Essens und Kochens lagen. So bezog ich diese Äußerungen vorerst unter der Kategorie Stereotype in meine Forschung ein. Schnell wurde jedoch klar, dass durch diese normative Einordnung meinerseits und die damit verbundene, vorschnelle (Ab-)Wertung Deutungspotentiale eher verschlossen als geöffnet wurden. Da diese Erzählungen weder der damals bereits bestehenden Perspektive der sinnlich-leiblichen Ebene von Essen und Kochen noch der konkreten Handlungsebene und den damit verbundenen gesellschaftlichen Dimensionen zugeordnet werden konnten, bedurfte es einer dritten Kategorie, nämlich die der Narrative, welche hier nun als erste analytische Perspektive thematisiert wird. Dieser Perspektive auf die narrative Figuration von Essen und Kochen liegt dabei im Vergleich mit den anderen Perspektiven ein anderes Material und somit auch eine andere Vorgehensweise in der Analyse zugrunde. Essen und Nahrungszubereitung werden hier auf der Grundlage von Einladungstexten und Zeitungs- bzw. Blogartikeln zu einem Diskursfeld, in dem aktuelle Probleme und Themen verhandelt werden. Die Situationen werden hier nicht als singuläre Ereignisse konstruiert, sondern als übergeordnete Sinn- und Handlungsstrukturen des Alltäglichen (vgl. Keller 2008: 233). In der Analyse dieses Diskurses wird im immer wieder formulierten Common Sense des gemeinsamen Essens die Historizität und soziale Emergenz von Diskursen deutlich, was sich im Folgenden an den herausgearbeiteten narrativen Figuren zeigt. Dabei ist die Sprache, wenn über Essen und Mahlzeiten gesprochen wird, durchzogen von
Narrative Figuration von Essen und Kochen | 161
Sprachbildern, die „Appetit auf mehr machen“ oder „Wissen in Menüfolgen oder Häppchen servieren“ und sich, wie die in diesem Kapitel behandelten narrativen Figuren, stets und in vielfältigen Kontexten wiederholen. Brigitta Schmidt-Lauber bezeichnet die beschriebene Gleichförmigkeit von Aussagen und Bildern im Diskurs in ihrer Studie zum Thema Gemütlichkeit als „Monochromie“ (Schmidt-Lauber 2003: 16) und zielt damit auf ein Bild der Eintönigkeit von Kultur und kulturellen Äußerungen ab. Dieses steht in Kontrast zu einem pluralen und dynamischen Verständnis von Kultur und widerspricht auf den ersten Blick der Auffassung, dass Esskultur(en) und die Präsenz unterschiedlicher Ernährungsweisen heute so komplex und vielgestaltig sind wie nie zuvor. Obwohl die narrativen Figuren homogen scheinen, verbietet es sich, eine übergeordnete Wahrheit anzunehmen, gerade weil der Zugang nur subjektiv erfolgen kann (vgl. Oldörp 2001). Insofern erfordert die Auseinandersetzung mit den Vorstellungen von Essen und Kochen zwangsläufig auch eine Auseinandersetzung mit dem Alltäglichen als Zugang und Gegenstand sowie den zugrunde liegenden Konzepten von Kultur. Es lassen sich dabei drei unterschiedliche Auffassungen von Kultur unterscheiden: Erstens wird hier unter Kultur ein obligatorisches, in seiner Ausgestaltung jedoch variables Regelwerk in Form einer Esskultur oder Küche verstanden, das zum Beispiel die Zeiten, die Orte sowie die konkreten Abläufe von Nahrungszubereitung und -aufnahme organisiert. Zweitens wird ein Kulturbegriff benötigt, um das zu beschreiben, was über die biologischen Notwendigkeiten des Essens hinausgeht. Drittens wird der Kulturbegriff als vergleichende oder auch abgrenzende sowie verbindende Kategorie relevant, wenn es um ethnische/geographische Unterschiede in Ess- und Kochgewohnheiten geht. In den folgenden Analysen wird deutlich, dass die Erwartung einer pluralen (Ess-)Kultur berechtigt ist und der Wunsch nach Einheitlichkeit eher die andere Seite der Medaille darstellt, welche beim Ordnen der Pluralität hilfreich ist. Denn in beiden Gegenständen, dem des Essens und der vorab mit Schmidt-Lauber angesprochenen Gemütlichkeit, wirken sowohl individuelle als auch kulturell geprägte Vorstellungen. Diese lassen Phänomene wie Gemütlichkeit und Essen übergreifend und verbindend wirken, beinhalten aber auch gleichzeitig eine starke Komponente des situativen, subjektiven Erlebens. Während ich im nächsten Kapitel auf diese subjektiven, leiblich-sinnlichen (und in diesem Sinne auch non-verbalen) Aspekte des Essens und Kochens näher eingehen werde, soll
▶ Kap. 6.1 Essen und Kochen – Leib und Soziales
162 | Essen mit und als Methode
▶ Kap. 3.2 Konzepte sinnlichleiblicher Wahrnehmung/Sozialer Sinn/Habitus
an dieser Stelle das Sprechen über Essen und die damit einhergehende Produktion von Bedeutung und vor allem Verbindungen in den Fokus genommen werden. Dabei spielt die Kategorie des Alltags für das Essen eine zentrale Rolle. Nicht umsonst wird Essen als ein „Alltagsphänomen par excellence“ (Schmidt-Lauber 2003: 14) angesehen, da Nahrungsaufnahme und -zubereitung kulturübergreifend regelmäßig stattfinden und dabei den Alltag der Beteiligten strukturieren (Elias 1978; Greverus 1978, Jeggle 1999). Die Erforschung dieser Phänomene und den damit verbundenen Alltagspraktiken ist insofern dankbar, als dass nahezu jede Person Expert*in für das jeweilige Thema ist. Dies hat auch Einfluss darauf, wie über Essen gesprochen wird, denn nahezu jede/r verfügt hierbei über ein Erfahrungswissen, das sich niedrigschwellig teilen und mit weiterem Wissen über Essen aus beispielsweise Kochsendungen, Zeitschriften oder Blogs anreichern lässt. Die Diskurse und Handlungen rund um das Thema Essen sind immer mit einem soziokulturellen Zusammenhang verbunden und geben somit immer auch Einblicke in eben diesen. Das macht das Essen und Kochen nicht nur für die (kulturanthropologische) Forschung interessant, sondern u. a. auch für Kulturschaffende, Künstler*innen und Akteur*innen in der Stadtentwicklung, was in den folgenden Kapiteln anhand deren Praxis veranschaulicht wird. Die in diesem Kapitel dargestellten narrativen Figuren beschränken sich jedoch nicht auf Diskurse innerhalb dieser Felder (Kunst, Kultur und Wissenschaft), sondern können als Mainstream angesehen werden. Allerdings finden sich andersherum diese narrativen Figuren auch in der Sprache dieser weniger dem Mainstream zuzuordnenden Formate wieder, weshalb in diesem Kapitel neben den medialen und alltäglichen Repräsentationen von Essen durchaus auch Aussagen aus den Ess-Settings zu finden sind. Zudem werden die narrativen Figuren mit Texten und Aussagen aus wissenschaftlichen Publikationen unterlegt, wenn deren Argumentation die Narrative stützt oder sogar im Gespräch auf die Argumentationen Bezug genommen wurde. Diese sehr heterogene Quellenlage für dieses Kapitel spiegelt dabei sehr gut das Spannungsfeld wider, in dem ich mich als Forscherin bewegte.
5.1
NARRATIVE FIGUREN
Im Folgenden werden nun diese narrativen Figuren, die sich aus dem Sprechen bzw. Schreiben über das (kollektive) Essen im Feld während meiner Forschung herauskristallisiert haben, vorgestellt und dabei auch wieder in den und anhand der untersuchten Ess-Settings als (performative und materielle) Aspekte eines Diskurses über kollektives Essen kontextualisiert.
5.2 Der Esstisch | 163
Die (1) Figur des Esstisches thematisiert die konkrete Erfahrung der als räumlich und materiell verankerten Alltagspraxis des Essens und verweist dabei auf das Spannungsfeld zwischen individueller und kollektiv-gesellschaftlicher Praxis. Mit der (2) Küche wird ein diskursiver Raum eröffnet, der als Ort des Zusammenkommens dargestellt wird. Über (3) das Feuer bzw. die Feuerstelle, um die herum sich Menschen versammeln, wird vor allem das Kochen als Kulturtechnik erläutert, was meist mit einer Idee des ‚Ursprünglichen‘ einhergeht, die Natur und Kultur in Beziehung zueinander setzt. Das Ursprüngliche, auf der Vergangenheit Basierende wird auch in Narrationen des (4) Exzesses und der Grenzüberschreitung insbesondere im Kontext von künstlerischen Settings zum Thema. Abschließend wird mit der Figur des (5) Familienmahls die Familie als soziale Grundeinheit beschrieben und aufgezeigt, welche aktuellen gesellschaftlichen Vorstellungen von Gemeinschaft damit verknüpft und begründet werden. Allen Figuren ist dabei gemein, dass sie sich mit dem Menschen als sozialem Wesen auseinandersetzen und sich dieser Vorstellung in den narrativen Figuren vergewissern. Dabei wurden hier nur die Figuren aufgegriffen, die mir während meiner Forschung verstärkt begegnet sind. Dadurch wird nachvollziehbar, warum andere populäre, an dieser Stelle zu erwartende Bilder oder Figuren wie das christliche Abendmahl nicht thematisiert werden.
5.2
ANORDNEN UND VERBINDEN: DER ESSTISCH
Das Bild des Esstisches wird in vielen Gesprächen und Erzählungen über das Essen verwendet. Sei es beiläufig als notwendige Gegebenheit für eine (gemeinsame) Mahlzeit oder explizit als Symbol für das Essen und Beisammensein schlechthin. In vielen allgemein bekannten Redewendungen und in den von mir untersuchten Dokumenten wird deutlich, dass der Tisch zum einen den Ort vorgibt, wo das gemeinsame Essen stattfindet und die Essenden (ange-)ordnet werden. Darüber hinaus werden häufig Besitz, Macht aber auch Zugehörigkeit zum Beispiel im Hinblick auf das Verhältnis zwischen Gastgebenden und Gästen über das Sprachbild des Tisches geklärt. Dabei kann der Titel einer Ankündigung oder eines Zeitungsartikels bereits viel über ein Setting aussagen, wie eine Schlagzeile des Kölner Stadtanzeigers zeigt: „Supper Club. Am fremden Esstisch zu Hause“ (Haaser 2012). Aus der Perspektive der Gäste wird deutlich, dass sie sich nicht an den eigenen Esstisch setzen und demnach jemand anderes, meist die gastgebende Person, über die Gestaltung des Esstisches und somit des Settings bestimmt. Das ‚zu Hause‘ ist
▶ Kap. 7.2 Tischregeln
164 | Essen mit und als Methode
hierbei weniger eindeutig und lässt damit Deutungsspielraum: Entweder geht es darum, dass der Esstisch bei der gastgebenden Person zu Hause steht oder es wird eine Atmosphäre angestrebt, in der sich die Gäste zu Hause fühlen können. Diese Hierarchisierung wird deutlich weniger positiv konnotiert und auch in der Redewendung „solange du die Füße unter meinen Tisch steckst…“ deutlich. Hier wird der Tisch ebenfalls einer Person des Haushalts zugeordnet, die über die Tischgenoss*innen bestimmen kann. Dieses Sprachbild nutzt dabei den (Ess-)Tisch auch dazu, einen Familienort zu symbolisieren. Angelika Linke beschreibt den Esstisch in ihrem Aufsatz zur raumsemiotischen Nutzung desselben als ein Medium menschlichen Handelns, indem er dieses Handeln unterstützt, variabel macht und Handlungen dabei gleichzeitig formt bzw. nur in spezifischen Weisen ermöglicht (vgl. Linke 2018: 350). Durch die Funktion, Menschen um sich herum beim Essen anzuordnen und sie beim Essen zu unterstützen, handelt es sich beim Esstisch um ein soziales Möbel (vgl. ebd., nach Simmel 2017). An ihm zeigt sich einerseits die Zeichenhaftigkeit und andererseits die Performativität der diskursiven Konfiguration. Denn am Esstisch und dem Umgang mit ihm lassen sich gesellschaftliche Ordnungen und Entwicklungen zeigen, genauso wie er „als performatives Medium“ gesellschaftliche Ordnungen konstituiert, stabilisiert und verändert (vgl. ebd.: 377). Wie beim Sprechen über Essen besteht auch für den Esstisch die Tendenz, diesen als Kulturobjekt zu essentialisieren, um somit beispielsweise ein Setting mit Bedeutung aufzuladen oder Marketingzwecken zu dienen, wie sich an der Darstellung des Esstisches in einem Online-Möbelshop zeigt. Der Anbieter moebeldeal.com, der es sich in seinem Internetauftritt zum Ziel setzt, nicht nur Möbel zu verkaufen, sondern den Kund*innen ein Lebensgefühl nach Hause zu liefern, bietet in der Rubrik Esstische einen umfangreichen Esstisch-Ratgeber an, der nicht nur über Einrichtungsfragen informiert, sondern auch eine kleine Kulturgeschichte des Esstisches mitliefert. Hier wird dem Esstisch „die älteste Tradition“ unter allen Tischen zugeschrieben und seine Funktion in der Zivilisierung des Menschen betont: „Um die Nahrungszubereitung und das Essen selbst fern vom Boden, dem Schmutz und auch Tieren zu halten, muss sich früh als Bedürfnis der Zivilisation nach erhöhten Essensplattformen entwickelt und zur ‚Niveauerhöhung‘ zu Tisch und passenden Stühlen geführt haben.“ (Moebeldeal.com)
Dabei wird betont, dass Esstische heute weitaus mehr Funktionen haben, als nur Essen und Trinken zu ermöglichen, und mittlerweile
5.2 Der Esstisch | 165
eine Rolle als Universalmöbelstück in einer zeitgenössischen Wohnung einnehmen. Auch wenn neben dem Essen weitere Verknüpfungen hinzugekommen sind, ist die Assoziation des Tisches mit dem Essen weiterhin dominant. Auch wenn der Tisch nicht explizit als Esstisch bezeichnet wird, besteht eine enge Verbindung „zwischen Tisch und Verzehr“, die sich in Ausdrücken wie „zu Tisch gehen“, „auftischen“ oder auch „tafeln“ zeigt (vgl. Linke 2018.: 352). Auch der Begriff „commensality“31 verweist auf das Zusammenkommen am Tisch zum Essen. Dabei ist die Anwesenheit eines Tisches mit Tischplatte und Tischbeinen nicht zwingend notwendig für das Funktionieren eines gemeinsamen Essens, sondern kann auch durch (gesellschaftlich akzeptierte) ähnliche, die Situation des Essens signalisierende Dinge, ersetzt werden. So erfordert ein auf dem Boden eingenommenes Picknick eine Decke, auf der das Essen angeordnet wird und um die bzw. auf der sich die Essenden niederlassen. Mit der materiellen und räumlichen Markierung des gemeinsamen Essens werden kulturelle Werte- und Regelsysteme symbolisiert und gleichzeitig aufgeführt. Die soziale Funktion thematisiert auch die narrative Figur des Esstisches im hier zugrunde liegenden Material. Die Zusammenkunft am Tisch unterliegt gesellschaftlichen Regeln und Normen, die u. a. die Gesprächsthemen beim Essen reglementieren, wie in einer NRD-Reportage zum Phänomen „Social Cooking“ in den Tischgesprächen deutlich wird: „Wie an den Tafeln der Vergangenheit unterhält sich Tischnachbar mit Tischnachbarin. Nur an einer Ecke durchbricht Laura das Muster, als sie hört, wie niedrig Bastians Miete ist, und mischt sich ins Gespräch schräg gegenüber ein. -SzenentonLaura: Schlafzimmer und Bad, mit nem Balkon, in Hamburg! In dieser Lage? Wenn Du ausziehst, sagst Du Bescheid. Bastian: Ich habe den Schnitt gesehen, die Lage, 5. Stock, Größe, Preis – 450 warm. Sprecherin: Dieses Gesprächsthema wäre in früheren Zeiten wohl unter den Tisch gefallen. Getreu der Regel ‚Über Geld spricht man nicht.‘ – ebenso wenig wie über Politik, Religion und Krankheit. Knigge empfahl Gastgebern sogar, die Regie für die Unterhaltung der Anwesenden zu übernehmen. […] O-Ton (Tanita): Ich glaub, dass das in meiner Generation gar nicht mehr so arg ist, dass man nicht über Gehalt sprechen kann oder so. Ich denk natürlich 31 Der Begriff kommt aus dem Lateinischen und setzt sich zusammen aus „con“ (mit) und „mensa“ (Tisch).
▶ Kap. 3.1 Aktuelle Konzepte der Nahrungsforschung/Commensality
166 | Essen mit und als Methode
schon so, dass schwere Schicksalsschläge oder private Sachen, die dann mehr in die Tiefe gehen, eher nicht an den Tisch gehören, weil man dann vielleicht gar nicht weiß, wie man sich verhalten soll, aber wenn es um positive Dinge geht, wie wenn man in einer schönen Wohnung wohnt, wo jeder drauf neidisch ist, dann kann man das natürlich sagen.“ (Zwick 2016: 12f)
▶ Kap. 8.5 Polaritäten und das Dazwischen
In dieser Konversation erweitert sich die ordnende und verbindende Funktion des Tisches, indem nicht nur die Zugehörigkeit der Teilnehmenden am Tisch geregelt wird, sondern auch Themen sprichwörtlich auf den Tisch kommen oder unter denselben fallen. Damit wird hier das Bild der Tischgemeinschaft über die versammelten Personen hinaus um eine diskursive Ebene erweitert. Zusätzlich zu dem oben angesprochenen Wandel der gesellschaftlich akzeptierten Themen bei Tisch hat sich auch die Anordnung der Essenden am Tisch verändert. War die Positionierung der ranghöchsten Personen am Kopf der Tafel auch im Familiären noch gang und gäbe bis vor einigen Jahrzehnten, so steht die Anordnung heute ganz im Zeichen einer (inszenierten) Individualisierung, bei der „spontane Neigungsgruppierungen“ vor durch „soziale Normen vorstrukturierte Gruppenbildung“ gestellt wird (vgl. Linke 2018: 367). Der Esstisch wird hierbei durch die Essenden situativ angeeignet und bewegt sich dabei zwischen individuellen Bedürfnissen wie dem Führen eines privaten Gesprächs mit selbstgewählten Sitznachbar*innen und dem in allen Ess-Settings erklärten Ziel der großen Tischgemeinschaft. Dieses Springen zwischen der individuellen Wahl der Position im Raum wie auch am Tisch, die das Erleben intimer Momente zulässt, und der Möglichkeit, sich als Teil eines (temporären) Kollektivs zu fühlen, beschreibt eine Teilnehmerin des zweiten Taktsinn-Dinners anhand der Raumaufteilung und der vorhandenen Esstische wie folgt in ihrem Feedback zum Abend: „Durch den fließenden Übergang von Küche zu Essbereich kam es nicht zu einer ungewollten Zweiteilung der Gruppe, sondern die Grüppchenbildung konnte von der Gastgeberin gesteuert werden, gleichzeitig war es sehr einfach, zwischen den Gesprächspartnern zu wechseln bzw. sich in der Gruppe zu unterhalten. Auch die großen Tische erlaubten eine gute Unterhaltung in der Gruppe, ermöglichten aber auch Gespräche zu zweit (beim Essen der Nudeln), ohne dass man das Gefühl hatte, dass alle bei dem Gespräch zuhören.“ (Taktsinn II – Feedback Ronja)
Angelika Linke zeichnet in ihrer historischen Skizze zum Esstisch die Genese eben dieses Zusammenhangs von Individualität und Kollektivität zu Tisch nach, indem sie epochenübergreifend das
5.2 Der Esstisch | 167
Verhältnis von Tisch-Allmend (Schüsseln, Platten etc. in der Mitte des Tisches, die allen Essenden zur Verfügung stehen) und Platzparzellen (Geschirr und Besteck, das individuell genutzt wird und den individuellen Raum am Tisch markiert) beschreibt (Linke 2018: 375). Anhand des Wandels der Konfiguration auf und um den Esstisch zeigen sich gesellschaftliche Veränderungen zum Beispiel in Bezug auf die oben angesprochenen Hierarchien oder das Verhältnis von Individuum und Kollektiv(en). Die Betonung des Kollektiven und des Versammlungsaspekts in allen zugrunde gelegten Ess-Settings lässt sich somit auch an der Markierung des individuellen Raums am Tisch ablesen. Gerade dann, wenn vorab noch gemeinsam geschnitten und gekocht wurde, wanderten Teller und Besteck in die Mitte des Tisches und wurden Teil des Tisch-Allmends (vgl. Linke 2018) und jede/r Einzelne bediente sich hieraus nach Bedarf. Somit wird der Esstisch vor allem dann als Symbol für die Versammlung (beim Essen) herangezogen und interessant, wenn das Verhältnis von Individuum und Kollektiv innerhalb dieser Versammlung thematisiert wird
5.3
ERÖFFNEN VON MÖGLICHKEITSRÄUMEN: DIE KÜCHE
Eine ähnliche Figur, über die Zugehörigkeit zu einer Gruppe und Zusammenkunft thematisiert werden, ist die der Küche, teilweise auch zusammen mit dem Esstisch als gemeinsame Konfiguration. Interessant ist, dass die Küche beim Sprechen über Essen eine große Rolle einnimmt, obwohl sie häufig nicht der Ort der Nahrungsaufnahme, sondern der Nahrungszubereitung ist. Die Küche als konkreter Raum mit einer bestimmten Funktion innerhalb einer Wohnung ist allerdings bei der Verwendung des Narrativs häufig nicht gemeint, sondern vielmehr ein diskursiver Raum oder auch die Art und Weise wie Speisen regionen- oder ländertypisch zubereitet werden. Dabei wecken der Ort der Küche bzw. die an diesen Ort geknüpften Vorstellungen im Vorfeld bestimmte Erwartungen und Vorstellungen an ein Ess-Setting, welche – implizit oder explizit – auch von den jeweiligen Initiator*innen eingesetzt werden. So schwingt zum Beispiel in einer Ankündigung der Hallo Festspiele die Annahme mit, dass der Ort der Küche per se ein Versammlungsort ist, obwohl dem Festival eigentlich die Idee zugrunde lag, dass die Orte und Werke der Beteiligten erst im Laufe der Festivalwoche entwickelt werden sollten: „Die Hallo Küche ist auch ein zentraler Ort des Beisammenseins. Dort werden ausgewählte Lebensmittel
168 | Essen mit und als Methode
von Feinschmecker-Hallos in Köstliches verwandelt.“ (Verein zur Förderung raumöffnender Kultur e.V. 2016b). An den Tagen, an denen ich die Hallo Küche teilnehmend beforschte, war diese allerdings vor allem ein funktionaler Ort der Nahrungszubereitung mit Herd und Tischen, die teils in einer Hausecke und teils in einem Durchgang platziert waren. Das Essen selbst fand einige Meter entfernt statt und war somit räumlich getrennt vom Ort der Zubereitung. Entscheidend ist hier allerdings nicht das Aufspüren des funktionellen Raums Küche, sondern vielmehr, dass die Erzählung des Raums Küche hier als ein Möglichkeitsraum eröffnet wird und sich mit den Erwartungen an das Zusammenkommen deckt. So geht auch aus dem abschließenden Feedback einer Teilnehmerin des zweiten Taktsinn-Dinners hervor, dass sie das Setting u. a. deshalb als gelungen empfand, weil es in einer Küche stattgefunden hatte, was für sie mit einem bestimmten kulturellen Programm verbunden war. Sie scheibt, dass „der Fakt, dass es sich um eine Küche handelte, dem Abend von vornherein eine lockere, entspannte Atmosphäre [gab].“ (Ronja: Taktsinn II). Diese Konnotation der Küche als offener, gemütlicher (vgl. Schmidt-Lauber 2003) und sozialer Raum findet sich auch in Sprichwörtern wieder, die die Küche als Herz des Hauses oder einen Ort bezeichnen, an dem die besten Partys stattfinden. Diese Aufladung des Küchennarrativs reicht bis zur Idealisierung oder Überhöhung der Küche. So heißt es in einem Konzeptpapier von raumlaborberlin zum Küchenmonument:
„Die Küche ist Spiegel städtischer Identitäten. In der Küche spiegeln sich kulturelle Eigenheiten und Traditionen. In der Küche setzt man sich zusammen und auseinander. Wenn man jemanden zu sich nach Hause einlädt, steht die Küche, das gemeinsame Essen für die Gastlichkeit, die Offenheit des Gastgebers. Die Küche ist also der ideale Ort, Ort der Verbindung und Auseinandersetzung zwischen dem Privaten und dem Öffentlichen.“ (raumlaborberlin 2013)
Texte wie dieser erzeugten durch die Idealisierung und die Verallgemeinerung bei mir ein Gefühl der Unzufriedenheit, da sie gleichzeitig vage darin bleiben, wie genau beispielsweise die Spiegelung städtischer Identitäten funktioniert oder warum die Küche ein idealer Ort für Verbindung darstellen soll. In einem Memo zu dieser Aussage habe ich notiert, dass diese Aussage mir genauso (in halts-)leer wie das Monument selbst vorkomme. Dieser Bezug auf die räumliche Dimension der ebenso spektakulären Skulptur lässt darauf schließen, dass es hier vielmehr um das Aufrufen von Sehnsucht nach Gemeinschaft und Erlebnis geht als um konkrete Informationen zum Setting. Diese großen Narrative können durchaus
5.3 Die Küche | 169
auch ansprechend wirken und die Neugier auf das Setting wecken. Darüber hinaus wird mit der Küche ein Ort angesprochen, zu dem jede/r eine Vorstellung hat. Inwiefern das Bild des „Spiegels städtischer Identitäten“ hilfreich ist oder eher bildungsfernere Gruppen abschreckt sei dahingestellt, kann aber an dieser Stelle nicht beantwortet werden. Es wird jedoch deutlich, dass die Küche als narrative Figur im Material dort auftaucht, wo Einladungen zum Zusammenkommen ausgesprochen werden und ein niedrigschwelliger Zugang ermöglicht werden soll. Im Folgenden wird mit dem Bild des Feuers eben diese Idee aufgegriffen, dass es beim gemeinsamen Kochen und Essen einen kulturübergreifenden Konsens über das verbindende Potential gibt.
5.4
KOCHEN ALS NATÜRLICHE KULTURHANDLUNG: DAS FEUER
Über das Feuer wird weniger das Essen als das Kochen als Kulturtechnik erzählt. Zwar spielt auch das Versammeln um das Feuer als Form der Tischgemeinschaft eine Rolle, allerdings ist in diesem Narrativ die Verknüpfung des Bildes einer Feuerstelle mit der Erzählung menschlicher Evolution dominanter als der soziale Aspekt. Die Tischgemeinschaft im Sinne einer kulturhistorischen Entwicklung und eines distinguierten Tafelvergnügens spielt somit in dieser narrativen Figur des Feuers eine untergeordnete Rolle, es wird eher die biologische Determinierung des Essens bzw. die Macht des „schon immer“ thematisiert. Nicht nur in Alltagsgesprächen, sondern auch in der ethnologisch-kulturwissenschaftlichen Literatur wird die „Entdeckung“ des Feuers als Startpunkt der kulturellen Entwicklung des Menschen markiert und stilisiert (Wrangham 2009, Lévi-Strauss 1976, Wojtko 2018, Vilgis 2018). So entstand mit dem Feuer die Möglichkeit, eine größere Vielfalt an Nahrungsmitteln ess- und verwertbar zu machen, was auf längere Sicht körperliche Veränderungen beispielsweise des Kiefers, des Darms und auch des Gehirns mit sich brachte und eine Vielzahl an Entwicklungen kultureller Güter wie Kochgeschirr und Zubereitungstechniken ermöglichte (vgl. Wrangham 2009, Vilgis 2018). Die Fähigkeit, Feuer zu machen und zu beherrschen, wird bis heute als eines der zentralen Unterscheidungsmerkmale zwischen Mensch und Tier angesehen (vgl. Wrangham 2009: 7ff). In einer prosperierenden, technisierten Gesellschaft zeigt sich diese Fertigkeit weniger im tatsächlichen Handeln, als vielmehr als Referenz, die hier im Narrativ des Feuers dargestellt wird. Das Feuer und das Kochen mit (offenem) Feuer fungieren dabei als das Andere. Der Umgang mit dem Feuer wird im Alltag und
170 | Essen mit und als Methode
insbesondere in Reportagen oder Tageszeitungen als außeralltägliches Abenteuer im Sinne einer Rückbesinnung stilisiert und dabei zum Beispiel beim Grillen eher männlich konnotiert. So heißt es in einem Radiobeitrag des Schweizer Rundfunks: „Kochen und Braten auf offenem Feuer in der Natur scheint zurzeit im Trend zu liegen. Es verspricht ein ursprüngliches, sinnliches Erlebnis, ein Kontrastprogramm zum organisierten Alltag. […] Das Kochen gehört zu den ältesten und wichtigsten Kulturtechniken des Menschen. Während Jahrtausenden war das Kochen auf einem offenen Feuer der Normalfall. Erst mit dem Gas- und danach mit dem Elektroherd wurde das Feuer als Kochund Wärmequelle aus dem Haus verbannt. Gleichzeitig wandelte sich dadurch das Aussehen unserer Küchen, sie gleichen heute eher blitzblanken Laboratorien als einer rauchigen Schmiedewerkstatt.“ (Trefzer 2013)
In Texten, in denen das Kochen mit offenem Feuer thematisiert wird, steht zum einen das auch hier angesprochene besondere (multisensuelle) Erlebnis im Mittelpunkt. Zum anderen werden eine zeitliche und kulturelle Verbindung und Kontinuität zum früheren bzw. kulturell Anderen suggeriert (vgl. Fabian 2014). So spricht die Heilpraktikerin und Autorin Susanne Fischer-Rizzi auf dem Einband ihres Buches „Wilde Küche“ davon, dass über das Kochen am offenen Feuer in der Natur das „Erlebnis von Ursprünglichkeit“ ermöglicht wird. Sie bereite die Speisen dabei „[m]al wie unsere Vorfahren einfach und archaisch, mal wie moderne Gourmetköche und -köchinnen“ (Fischer-Rizzi et al. 2010: 7) zu. Mit einem Gegenbild zur technisierten, schnelllebigen und temporeichen Welt von „seelenlosen“ (ebd.) Küchengeräten lädt Fischer-Rizzi das Erlebnis des Kochens am Feuer in der Natur mit Bedeutung auf. Dies geschieht vor allem über das Ansprechen emotionaler Aspekte und dem mehrdimensionalen sinnlichen Erleben. Im nachfolgenden Zitat wird diese Emotionalisierung nicht nur im Inhalt deutlich, sondern auch in der Sprache und der Dichte der verwendeten Bilder, weshalb ich Fischer-Rizzi bewusst in dieser Breite zitiere. Hierbei spiegelt sich das wider, was Ausgangspunkt meiner Untersuchung der Narrative zum Essen und Kochen war: Das Gefühl, auf immer gleiche und stereotype Erzählungen über das Essen und Kochen zu stoßen, wenn ich von meinem Forschungsthema berichte, und dass diese immer wieder reproduziert werden und bei mir somit den Eindruck von inhaltlicher Leere erzeugten: „Die Küche im Freien bietet ein mehrdimensionales Sinneserlebnis: Der würzige Duft des Feuers und des Holzes dringt in meine Nase, das leise Knistern der Flammen schenkt mir ein vertrautes Gefühl der Geborgenheit, die Hitze wärmt wohlig meine Wangen. Über allem ist der weit ausladende
5.4 Das Feuer | 171
Himmel als Decke aufgespannt. Während ich koche und esse, kann ich die Landschaft genießen oder mich einfach entspannt im Gras ausstrecken. Dabei ist Unvorhergesehenes nie ganz auszuschließen. Die wilde Küche fasziniert jedesmal von neuem, denn der geheimnisvollen Magie des Feuers, dem Herz der wilden Küche, kann man sich nicht entziehen. Das offene Feuer ist zu einem großen Teil aus unserem Leben und aus unserem Bewusstsein verschwunden, ist mit Tabus und Verboten belegt und durch zahlreiche Gesetze fast vollständig verdrängt worden. Das Feuer draußen im Freien gehört meines Erachtens jedoch zu den Dingen, die wir nicht aussterben lassen dürfen. Dort, wo man kocht und isst, ist man zumindest zeitweise zuhause. Die Natur, die Wildnis ist dann kein fremder Ort mehr. Dies führt zu einem bereichernden Erleben der Natur, zu einer tiefen, beglückenden und behaglichen Verbundenheit. Je weiter wir uns in unserem Alltag von der Natur entfernt haben, umso heilsamer ist eine Zeit draußen in der Natur, ganz ohne Leistungsdruck. […] Denn nur im Verweilen erschließt sich uns die ganze Schönheit der Natur, können wir Zeitdruck und Alltagsballast abstreifen. In unserer hoch technisierten Welt und unserem komplexen Leben ist das Einfache geradezu Erholung und Vergnügen. Die wilde Küche verzichtet auf einen großen Aufwand an Technik und bietet so die Möglichkeit zur Improvisation und zum Experimentieren. Sie lässt uns das Schlichte genießen und würzt es mit etwas Romantik, Nostalgie und Abenteuerlust. In der langen Zeit von den ersten Feuerstellen bis heute wurden zahlreiche und vielfältige Techniken des Kochens am offenen Feuer entwickelt, und bis heute hat sich ein reichhaltiges Repertoire an Rezepten überliefert. Nur was wirklich funktioniert, hat den Lauf der Zeit überstanden. In diesem Buch finden Sie einen großen Teil dieser Kochmethoden, die Sie mit verschiedensten Rezepten ausprobieren können. Wandeln Sie dabei auf den Spuren unserer steinzeitlichen Vorfahren, sitzen Sie mit ihnen am Feuer und löffeln Sie gemeinsam eine Steinzeitsuppe. Bereiten Sie mit einem Dutchoven ein Gericht zu und finden Sie sich dabei gedanklich und gefühlsmässig in einem Siedlertreck der amerikanischen Pioniere wieder, mit denen Sie kulinarisch gen Westen ziehen. […] Wildnis ist überall, wo man ein Feuer entzündet, über dessen Flammen, Duft und ursprüngliche Kraft staunt und sich davon faszinieren lässt. Lassen Sie sich auf dieses Vergnügen und auf dieses Abenteuer ein!“ (Fischer-Rizzi et al. 2010: 7ff)
Genau diese Vehemenz aber auch scheinbare Austauschbarkeit und Universalität des Narrativs vom Essen und Kochen am Feuer sorgt dafür, dass sich die beschriebene Performanz des Diskurses einstellt: Über das Erzählen eines konsensuellen Bilds von Gemeinsamkeit und Gemeinschaft wird eben dieses hergestellt. Ein weiteres Beispiel, in dem Essgewohnheiten mit einem archaischen Bild hergeleitet und damit die heutige Ausgestaltung des Essens und Kochens plausibel gemacht wird, ist die Paleo- oder
172 | Essen mit und als Methode
auch Steinzeit-Ernährung. Diesem Phänomen wird eine besondere Erzählbarkeit zugeschrieben, weshalb es u. a. stark in Internetforen und Blogs verhandelt wird. Die Essenden nehmen hier vorwiegend unverarbeitete, kohlenhydratarme Lebensmittel zu sich, von denen ausgegangen wird, dass sie bereits so in der Steinzeit verfügbar waren und gegessen wurden. Die Anhänger dieser Ernährungsform gehen davon aus, dass der menschliche Körper sich seit der Steinzeit kaum verändert habe und die heutige Ernährung dementsprechend unpassend für den menschlichen Organismus sei (Backes 2018). Der Blogger Sascha Lobo beschreibt Paleo daher als die perfekte „Internet-Diät“, deren Erfolg weniger auf der wissenschaftlichen Begründbarkeit der Funktionsweise, sondern vor allem auf der narrativen Herleitung beruht: „Sie besteht in erster Linie aus einem einleuchtenden Narrativ, einer Erzählung, die sich knapp zusammenfassen und weitererzählen lässt und die zugleich als nachvollziehbare Anleitung dient: Paleo ist die erste Mem-Diät, die durch das Narrativ Regelwerk, Motivation und ständige Erinnerung darstellt.“ (Lobo 2016)
Insbesondere am Paleo-Beispiel zeigt sich, dass kulturelle und biologische Erklärungsmuster und Faktoren bei dem Versuch verschwimmen, diese Form der Ernährung zu begründen und zu vermitteln. Es gibt durchaus fundierte naturwissenschaftliche Erkenntnisse und Argumente, die im Paleo-Diskurs angeführt werden, wie die Überzeugung, dass der Konsum stark verarbeiteter und mit raffiniertem Zucker gesüßte Lebensmittel belastend für den Körper sind (Backes 2018.). Der mediale Hype lässt sich, wie auch Lobo schreibt, wiederum stärker auf das Narrativ des vitalen, ursprünglichen Steinzeitmenschen zurückführen und ist dabei häufig auch mit der bereits oben von Fischer-Rizzi thematisierten Kritik an der heutigen Welt verbunden und mit einer Sehnsucht nach dem Ursprünglichen verknüpft. Hierbei wird das Vergangene auf unterschiedliche Weisen mit dem Gegenwärtigen verknüpft. Zum einen stellt es einen Gegenentwurf und eine Kritik am Gegenwärtigen dar im Sinne von Werten, Praxis und Wissen, welche im Zuge von Zivilisierung, Globalisierung oder Industrialisierung (bedauernswerterweise) verloren gegangen seien. So begründet Elke Buhr die Rolle von Künstlerdinnern als ästhetischen, gesellschaftlichen und politischen Akt und Gegenentwurf zu Zeiten von Massentierhaltung und Lebensmittelindustrie (vgl. Buhr 2014: 64). Zum anderen werden Vergangenheit und Gegenwart in einem Modus des „schon früher“ oder „immer noch“ verbunden, wenn zum Beispiel ein Teilnehmer des Olympia Gastmahls im Nachhinein in die Runde der Teilnehmenden schreibt:
5.4 Das Feuer | 173
„Gemeinsames Essen hat etwas kulturübergreifend Disziplinierendes und Ordnendes. Man sitzt an einer Tafel und wartet darauf, dass das Familienoberhaupt, der Zeremonienmeister, Protokollchef oder wer immer das Signal zum Start des gemeinsamen Mahls gibt. Diese archaische Form der Nahrungsaufnahme im Rudel ist bis heute ein Kernelement der Machtpolitik und der kleinen familiären Debatten und Entscheidungen gleichermaßen. Dass Fremde an einer Tafel ins Gespräch kommen, ist die wohl älteste Form der Diplomatie. Umso faszinierender ist, dass derlei, wie bei unserem Olympia-Mahl bewiesen, auch in modernen Gesellschaften und als ‚Spiel‘ noch funktioniert.“ (Feldnotiz Olympia Gastmahl)
In der Erzählung, dass etwas bis heute und schon sehr lange Gültigkeit besitzt, wird (hier) dem gemeinsamen Essen ein besonderer Wert zugeschrieben und dabei auch die jeweilige Zusammenkunft in den Kontext von etwas Besonderem und Wichtigem eingeordnet. Zudem schwingt in diesen und ähnlichen Narrationen die allgemeingültige Annahme mit, dass Essen und Kochen automatisch verbinden, was hierbei häufig nicht kulturell, sondern biologisch hergeleitet wird, da ja alle Menschen essen müssen. Das ‚Wie‘ des Essens und das Kochen werden dementsprechend als kulturelle Äußerung verstanden. Wenn also im Diskurs über Essen das Verhältnis von Natur/Biologie und Kultur thematisiert wird, geht es, wie oben bereits angedeutet, vor allem darum, Erzählungen als relevant zu markieren, was dabei nicht nur über Biologisierung geschieht, sondern auch über Historisierung, die häufig mit dem Muster „schon in der Steinzeit“ einhergehen und/oder dem Muster der Evolutionstheorie folgen (vgl. Wrangham 2009, Vilgis 2018). Daraus wird gleichzeitig auch ein kulturelles Argument, denn wenn sich die Relevanz von Mahlzeiten biologisch begründen lässt, gilt diese Begründung für alle Menschen und ist somit als universelle Verbindung kommunizierbar. Diese Argumentation funktioniert dabei unabhängig von genaueren Angaben zu einer naturwissenschaftlichen Evidenz. Diese Art der universellen Verbindung wird in der Diskussion nach dem zweiten Taktsinn-Dinner eindrucksvoll von einem Beteiligten bekräftigt: „Du kannst mit dem Facharbeiter nicht über irgendwas reden. Aber über Bratwurst kannst du mit dem reden. […] Diese Brückenbildung übers Essen, weil das eben so was ultra Rudimentäres ist. Nahe zu Atmen oder so was.“ (Sven, Diskussion Taktsinn II).
▶ Kap. 3.1 Aktuelle Konzepte der Nahrungsforschung
174 | Essen mit und als Methode
5.5
ZURÜCK ZU DEN WURZELN: DER EXZESS
Mit dieser Universalisierung und Historisierung schwingt u. a. in der Figur des Feuers auch eine Idee von Unzivilisiertheit und Natürlichkeit mit, die Mensch beim Kochen und insbesondere beim Essen (wieder-)erleben kann. So untertitelt Susanne Fischer-Rizzi das Rezept für eine „Steinzeitsuppe“ aus Wildgemüse und -kräutern mit dem Slogan „Die Zivilisation vergessen“ (Fischer-Rizzi et al. 2016). Sie zielt dabei auf die Unmittelbarkeit beim Suchen und Zubereiten von Pflanzen wie Kohldistel und Queckenwurzel ab, die im Rahmen der heutigen Ernährung keine Rolle (mehr) spielen. Wenn Fischer-Rizzi hier von „vergessen“ spricht, impliziert dies, dass es nicht darum geht, Fortschritt und Zivilisierung zu negieren, sondern sich für eine bestimmte Zeit außerhalb von Alltag, Sicherheit und Komfort zu bewegen. Insbesondere in künstlerischen Formaten gehen hiermit Bilder des Rausches und des Exzesses einher, in denen die Grenzen des kulturell Erlernten und Zivilisierten bewusst und im Rahmen des Systems Kunst überschritten werden.32 In der Titelstory des Monopol-Magazins zum Thema Künstlerdinner steigt die Autorin Elke Buhr mit einer charakteristisch ausschweifenden Beschreibung eines römischen Mahls ein, das auch in weiteren Texten zu Essen und Exzess immer wieder prototypisch angeführt wird (vgl. Vilgis 2018: 44): „Zur Vorspeise gibt es mit Honig übergossene und mit Mohn bestreute Haselmäuse, heiße Würste und syrische Pflaumen mit Granatapfelkernen. Als Leckerbissen zwischendurch folgen Rindfleisch, Hoden, Nieren, Feigen und die Gebärmutter einer Jungsau, angerichtet auf den Symbolen der Tierkreiszeichen. Aus einem gebratenen Wildschwein fliegen lebende Drosseln heraus, die eingefangen und frisch zubereitet werden. Nein, dies ist nicht die Speisefolge eines MoMA-Dinners – es ist das Gastmahl, das der freigelassene Sklave Trimalchio in einer Satire des römischen Dichters Petronius ausrichtet. Trimalchios Dinnerparty ist fiktiv. Doch die Esskultur der römischen Oberschicht entfaltete auch in der Realität eine außergewöhnliche Kunstfertigkeit: ob Lucullus oder Nero. Stundenlang ließen die Senatoren und Kaiser für sich und ihre Gäste exquisite Speisen auftragen, von Gesang und Rezitationen begleitet. Diese Gelage dienten dem Genuss, dem Rausch und dem Exzess und folgten dennoch der Ratio. Sie sicherten gesellschaftlichen Einfluss, waren politische Instrumente, sie inszenierten Macht und mehrten den Ruhm ihrer Veranstalter.“ (Buhr 2014: 56)
32 Als prominentes Beispiel für diese Kunstrichtung gilt der Eat Art Künstler und Galerist Daniel Spoerri (vgl. Buschmann 2009)
5.5 Der Exzess | 175
Buhr nutzt die Beschreibung von Trimalchios fiktiver Dinnerparty als Referenz für den Typus Galerie- bzw. Künstlerdinner. Solche Abendessen werden u. a. von Galerien und Museen zu Ausstellungseröffnungen oder besonderen Ehrungen von Künstler*innen veranstaltet und sind laut Buhr Erben der beschriebenen antiken Mahlzeiten: „Sie sind, in wechselnden Anteilen, gemeinschaftliches Fest und Inszenierung von Macht, gesellschaftliches Ereignis und Anlass zum Ausflippen, sie feiern das Geld, und sie feiern die Kunst.“ (ebd.). Somit bieten sie einen Rahmen für sozialen Austausch, in dem der Exzess zum guten Ton gehört. Hierbei wird die Grenzüberschreitung zu einem Habitus und somit zu einem kulturellen Programm, das impliziert, dass das Ungeplante planbar ist. Dieses Vorhaben scheint absurd, weckt aber Spannung und kann somit werbewirksam für ein Setting sein. Es geht dabei häufig weniger darum, diese Überschreitung tatsächlich zu vollziehen, sondern vielmehr um das kollektive Pflegen einer diskursiven und kulturell verankerten Figur des Exzesses. Insbesondere die Erinnerung im Sinne von Historizität als Wert an sich ist hier ein zentrales Merkmal. Auch beim von mir besuchten Olympia Gastmahl zieht der Hamburger Künstler Jan Holtmann in seiner Begrüßungsrede eine Verbindung zur antiken Mythologie und den dort veranstalteten Symposien als rituelle Ess- und Trinkgelage. Er verleiht seiner eigenen künstlerischen Inszenierung eines Gastmahls somit einen kulturellen Rahmen und schreibt diesem einen kulturellen Wert zu. Diese Inwertsetzung der einzelnen Ess-Settings durch den Einbezug von Elementen des Exzesses und des Außeralltäglichen ist im Kontext eines Narrativs zu sehen, das einen zunehmenden Verlust an Situationen und Möglichkeiten des Essens in der Gruppe in unserer Gesellschaft beschreibt und damit verbunden von einem Bedeutungsverlust guter Lebensmittel und deren sorgsamer Zubereitung ausgeht. Die Bedeutung und der Vollzug der Gemeinschaft beim Essen nimmt nach dieser Erzählung ab, je näher sich eine Erzählung an der Gegenwart befindet: „Während unsere Urahnen noch Speisen teilten, weil nicht jeder seinen eigenen Büffel jagen konnte, gibt es heute in den industrialisierten Ländern kaum noch Umstände, die ein gemeinsames Mahl erfordern. Dank Fertigessen und Tiefkühlpizza kann jeder sich allein versorgen.“ (Hauschild 2013: 2)
Die Wissenschaftsjournalistin Jana Hauschild leitet hieraus jedoch nicht eine Vereinzelung der Essenden ab, sondern eher eine tiefe Sehnsucht nach gemeinsamen Mahlzeiten, die hier weniger kultu-
▶ Kap. 6.4 Leib Performanz und Raum in den Atmosphären der Ess-Settings/Improvisation
176 | Essen mit und als Methode
rell als vielmehr biologisch begründet wird. Doch auch für soziokulturelle Vorgänge beschreibt Hauschild diese Entwicklung vom gemeinsamen Essen als verbindlichen Rechtsakt hin zu einem symbolischen: „Bis ins 11. Jahrhundert hinein schlossen Menschen Verträge ab, indem sie miteinander aßen. Statt Papier mit Tinte und Feder zu unterzeichnen, galt die Tischgemeinschaft als verbindliches gegenseitiges Einverständnis – am Hof wie unter Bauern. […] Ins Brathähnchen aus der Königsküche zu beißen wirkte wie die Signatur unter einem Arbeitsvertrag. […] Mit den Jahrhunderten verloren Mahlzeiten ihre Bedeutung als rechtlicher Akt. Ihre symbolische Kraft verloren sie jedoch nie. Erfolgreiche Verhandlungen oder Bündnisschlüsse endeten weiterhin in Essgelagen.“ (Ebd.)
▶ Kap. 7.5 EssSettings als liminale Situationen/Zwecke Essen und deren Rezeption
In der vorangegangenen Beschreibung des Essens als rechtlichen Akt stellt Hauschild eine Verbindung zwischen Vergangenheit und Gegenwart her, indem sie beschreibt, dass die juristische Funktion des Essens zu einer nicht minder wichtigen symbolischen Funktion wurde. Das Essgelage als Situation der Grenzüberschreitung und des Rausches bekommt hiermit eine Herleitung und Legitimierung. Eben dieses Bild des Maßlosen, Verschwenderischen und Luxuriösen ist es aber auch, welches die in dieser Arbeit behandelte Frage nach den Potentialen von Essen als Forschungsverfahren und -situation (negativ) beeinflusst. Im Kapitel zu Zwecken, Essen und deren Rezeption werde ich näher darauf eingehen, dass die Finanzierung von Essen über öffentliche (Forschungs-)Gelder schwierig bis unmöglich ist, eben weil gemeinsame Mahlzeiten verdächtigt werden, vor allem Spaß und Luxus zu sein.
5.6
TEILEN UND VERBINDEN: DAS FAMILIENMAHL
Die im Vorfeld identifizierte Sehnsucht nach Gemeinschaft und Sinn wird in Werbe- und Ankündigungstexten für Restaurant- und Dinnerkonzepte mit der Figur des Familienmahls verbunden. Hierbei wird die Gemeinschaft der Essenden bzw. das Essen in Gemeinschaft positiv dargestellt und durch das (regelmäßige) Zusammenkommen Stabilität und Sicherheit suggeriert. Das Essen in der Familie wird hierbei meist als die Grundform der kollektiven Mahlzeit dargestellt und ist somit Referenzpunkt für sämtliche Tischgemeinschaften (vgl. Barlösius 2011: 175ff). In ihrem bereits zitierten Artikel zu „Wurstsalat und Weltfrieden“ betont Jana Hauschild die besondere Qualität der Verbindung bei Tisch: „Essen stiftet eine Verbindung, die Tinte weder ausdrücken noch herstellen kann. Essen
5.6 Das Familienmahl | 177
ist privat und persönlich. Wir nehmen den anderen mit in eine Situation, die sonst nur die Familie oder enge Freunde erleben.“ (Hauschild 2013). Sie bezieht sich dabei auf Eva Barlösius, die die Mahlzeit als „Urform des Beisammenseins“ bezeichnet und somit das Argumentationsmuster des Ursprünglichen nutzt, welches vorab mit der Figur des Feuers beschrieben wurde. Zwar sei die biologische Notwendigkeit, das Essen in der Gruppe zu erlegen und zu verspeisen heute nicht mehr gegeben, aber dennoch sei der „innere Wunsch“ zum gemeinsamen Essen eine anthropologische Konstante, zitiert Hauschild die Ernährungswissenschaftlerin Christine Brombach (ebd.). Auch hier wird also die Notwendigkeit der Tischgemeinschaft sowohl kulturell als auch biologisch hergeleitet und begründet. Häufig ist in den von mir gesammelten Texten, die mit dieser Figur arbeiten, vom Tisch oder Teller die Rede, welche von den Tischgenoss*innen geteilt werden. Das Teilen wird hier zu einer aktiven Tätigkeit, mit der die Essenden zur Ausgestaltung der Gemeinschaft beitragen bzw. diese dadurch herstellen. Das wird insbesondere dann deutlich, wenn sich fremde Personen über das Sitzen an einem Tisch oder sogar das Essen von geteilten Tellern aktiv zum Bilden einer Gemeinschaft entscheiden. Ein aktuelles Phänomen, das dieses Format des Teilens aufgreift, ist das so genannte „family-style dining“. Das in diesem Konzept benutzte Bild des Familienmahls spielt einerseits mit subjektiven Erfahrungen und Erinnerungen und evoziert dabei andererseits gesellschaftliche Vorstellungen, die als Handlungsanweisungen für das gemeinsame Essen eingesetzt werden (Sitzen an einem Tisch, Teilen des Essens). Das Teilen, das hier einerseits als grundlegende Handlung menschlicher Gemeinschaft beschrieben wird, wird auf der anderen Seite auch als Trend beschrieben (vgl. Plag 2017), nämlich dann, wenn es in einem Restaurant und hier meist nicht innerhalb der Familie geschieht: Alle Gerichte kommen auf einen Tisch oder sogar in einer Schüssel, aus der sich alle bedienen. Dabei gibt es häufig nicht mehr den einen Tisch, den eine Gruppe reserviert und besetzt, sondern unterschiedliche Gruppen sitzen an einem Tisch, woraus auch die Bezeichnung „table restaurant“ abgeleitet wurde (vgl. ebd.) Das Teilen wird in diesen Trends und Konzepten zu einem Imperativ, bei dem es gilt, offen und öffentlich zu sein und nicht auf das Eigene zu beharren. So beschreibt der Koch Tommy Tannock Vorbehalte, sich mit Fremden eine Suppenschüssel und die Suppe darin zu teilen, als „typisch deutsch“ und ergänzt, dass das gemeinsame Essen der Normalzustand sei (vgl. ebd.). In diesen normativen Äußerungen spiegeln sich Vorstellungen wie etwa die, dass Essen ohne Gesellschaft kein gesellschaftlich akzeptierter (Dauer-)Zustand sei und dass es ein Problem darstelle, das Essen auf dem eigenen Teller
178 | Essen mit und als Methode
nicht zu teilen. Auch hier zeigt sich eine Verhandlung dessen, wie viel Individualität und wie viel Kollektivität situativ und kulturell möglich und akzeptierbar ist, wie bereits Angelika Linke in Bezug auf den Ess-Tisch beschrieben hat (2018, s. a. Simmel 2017: 72f). Das Teilen ist allerdings auch in eine übergreifende Entwicklung einzuordnen, in der nicht nur der Esstisch mit Personen außerhalb des eigenen Haushalts geteilt wird, sondern auch gerettetes Essen, das Auto, der Arbeitsraum oder der Kleingarten. Hierbei geht es zu einem großen Teil um Fragen von Ethik(en) und Nachhaltigkeit, wenn beispielsweise abgelaufene, aber verzehrbare Lebensmittel „gerettet“ und „fairteilt“33 werden oder durch Carsharing weniger Autos in Städten stehen und fahren. Gleichzeitig spielen finanzielle Fragen in Sharing-Modellen eine Rolle, etwa dann, wenn die Miete für einen urbanen Arbeitsplatz nicht alleine aufgebracht werden kann oder das Einkommen nicht bis zum Monatsende für Lebensmitteleinkäufe ausreicht (vgl. Widlok 2017, Derwanz 2015). Das wichtigste Motiv für das Teilen in den hier thematisierten Mahlzeiten und Konzepten ist allerdings vielmehr das der Gemeinschaft, die durch den geteilten Moment oder eben auch die geteilte Suppenschüssel sichtbar verbunden ist oder sich im Zuge dessen verbindet. Als Vorbilder für dieses Format des öffentlichen, geteilten Essens dienen vor allem Restaurants in den USA. In Deutschland ist das Phänomen des family dining eher in der gehobenen, experimentelleren Küche in urbanen Restaurants einzuordnen, welche sich über das Erlebnis des Essens definieren. Dabei spricht das family dining besonders die Zielgruppe der so genannten Millenials an. Celina Plag charakterisiert diese als Menschen, „die mobil leben, gern auf dem Biomarkt einkaufen, oft einkaufen und sich für urbane kulinarische Trends begeistern“ (Plag 2017). Plag zitiert in ihrem Artikel die Berliner Köchin Sophia Rudolph, welche davon ausgeht, dass diese Menschen permanent unterwegs und Singles sind und zu Hause weder Zeit noch Lust haben, für sich alleine zu kochen. Dieser Form der Erlebnisgastronomie liegt dabei immer auch eine zu erzählende Geschichte zugrunde. Sie kann an die jeweiligen Köche geknüpft sein oder eben an ein Konzept wie das des familiären Essens. Plag betont in diesem Zusammenhang, dass das Konzept dieser Restaurants und das Speisen vor Ort eben nicht alles sei, sondern es in diesen „Zeitgeist-Lokalen“ immer auch um das richtige „Storytelling“ gehe, um das Funktionieren zu gewährleisten
33 Im Rahmen des Foodsharing-Netzwerks werden abgelaufene, aber noch genießbare Lebensmittel von Supermärkten abgeholt und an vom Netzwerk registrierten, öffentlich zugänglichen Stationen – auch Fairteiler genannt – verfügbar gemacht.
5.6 Das Familienmahl | 179
(ebd.). Das Narrativ eines Dining-Formats oder auch einer spezifischen Speise ist jedoch, insbesondere bei der (Wieder-)Einführung neuer kulinarischer Trends als Versprechen und Einordung in gesellschaftliche Zusammenhänge, nicht zu unterschätzen. So beruht der Erfolg von Restaurants, die verstärkt wieder u. a. Innereien auf die Speisekarte setzen, wohl kaum oder zumindest nicht nur auf dem kulinarischen Erlebnis.34 Vielmehr ist hier ein Diskurs um Lebensmittelverschwendung zentral für das Verstehen und Annehmen dieser Entwicklung.
5.7
WISSEN ÜBER ESSEN UND KOCHEN ERZÄHLEN
Das Zusammenfassen und Erzählen des Essens in wiederkehrenden Bildern und Narrativen sowie die Markierung von gemeinsamen Mahlzeiten als universell und althergebracht dient demnach einer Selbstvergewisserung. Analog zu Brigitta Schmidt-Laubers Feststellung der monochromen Erzählung von Gemütlichkeit (vgl. Schmidt-Lauber 2003) stellen Essen und Kochen in dieser Arbeit einen „Common Sense im Sinn einer geteilten Selbstverständlichkeit und gemeinsamen Wissens“ (Schmidt-Lauber 2003: 24) dar, der im stetigen (Re-)Produzieren der genannten Narrative Sicherheit und Sinn schafft. Diese durch die Narrative des Essens vermittelte Sicherheit ist maßgeblich dafür, ob die (potentiellen) Teilnehmenden sich zu einem Ess-Setting versammeln, obwohl sie nicht genau wissen, wer und was sie genau vor Ort erwartet. Durch den Austausch und das Teilen der Bilder und Narrative wird hier gleichermaßen Gemeinsamkeit hergestellt und inszeniert. Bei der (Re-)Produktion dieser narrativen Figuren im Alltagsgespräch wie auch in der medialen Verbreitung findet hierbei eine Vermischung von Alltags- und wissenschaftlichem Wissen statt, welche die Basis für eben diese Verbindung und Verständigung darstellt. Insofern findet in diesen Diskursen auch eine Popularisierung von wissenschaftlichem Wissen über Essen und Kochen statt und wird zu einem übergreifenden Wissenskorpus. Dies taucht vor allem dort auf, wo neue gesellschaftliche Phänomene und Entwicklungen wie ‚sharing‘ oder ‚back to the roots‘ über das Thema Essen plausibel gemacht werden sollen. Dieser geteilte Wissenskorpus kann somit hilfreich sein, wenn statusübergreifender Austausch und Verbindungen möglich gemacht werden sollen.
34 Zum Beispiel das Berliner Restaurant Herz & Niere: https://herzundniere.berlin/ (letzter Abruf: 10.01.2021)
▶ Kap. 7.4 (Selbst-)Inszenierungen über Essen und Kochen
180 | Essen mit und als Methode
Dabei können die hier angeführten narrativen Figuren grob in zwei Perspektiven auf Essen und die hier nachfolgend thematisierten Ess-Settings aufgeteilt werden. Erstens wird mit dem Ess-Tisch, der Küche und dem Familienmahl das sozialisierende Potential der gemeinsamen Mahlzeit hervorgehoben. Mit dem Feuer und dem Exzess geht es zweitens um eine Positionierung gegenüber gegenwärtigen Entwicklungen, die zum einen Kritik am Status quo sein können oder zum anderen diesen Zustand historisch, biologisch oder kulturell herleiten und somit stabilisieren. Inwiefern diese Narrative und das Sprechen über Essen dabei das Zusammenkommen und Versammeln insbesondere zu den hier behandelten Ess-Settings (positiv) beeinflussen und welche Lebensstile und Inszenierungen mit den Ess-Settings verbunden sind, kläre ich im siebten Kapitel über die Gesellschaftliche Dimensionen kollektiven Essens und Kochens. Vorher möchte ich jedoch auf die Rolle des subjektiven, leib/körperlichen Erlebens in Situationen des kollektiven Essens eingehen und dabei u. a. noch einmal die hier gestellte Frage des wahrhaftigen und außeralltäglichen Erlebens als atmosphärischen Raum oder auch in der medialen Vermittlung wieder aufgreifen.
6 Zwischen Wahrnehmung und Interaktion
ESSEN UND KOCHEN ALS SINNLICHLEIBLICHE ERFAHRUNGSUND ERKENNTNISPRAKTIKEN Beim Vergleich des ethnographischen Forschungsprozesses mit dem Vorgang des Essens ergeben sich interessante Parallelen. So findet in beiden Fällen zuerst eine Annäherung an das Nahrungsmittel bzw. den Forschungsgegenstand statt. Das Essen wird mit den Augen begutachtet, mit den Händen befühlt, die Temperatur mit den Lippen geprüft. Gegebenenfalls informieren wir uns vorab über das Gericht und die angemessene Zubereitungs- und Essweise. Wir zerteilen das Essen mit den Händen und im Mund, wenden es mit der Zunge, verleiben es uns ein. Die Idee von Geschmack entfaltet sich dabei erst nach und nach, wir spüren in uns hinein, vergewissern uns bei unseren Tischnachbar*innen über das Wahrgenommene, bekommen eine Idee des Gerichts, rufen bekannte Gerüche und Geschmäcker im Gedächtnis ab. Unser Körper verarbeitet die zu uns genommenen Lebensmittel, spaltet Inhaltsstoffe auf, nimmt mit, was er gebrauchen kann. Körper und Nahrungsmittel gehen eine Einheit ein, die sich jenseits willentlicher Kontrolle verändert (vgl. Mol 2008). Auch als (ethnographisch) Forschende nähern wir uns unserem Gegenstand langsam an. Wir recherchieren vorab, tasten uns im Forschungsfeld langsam voran, bauen Nähe auf, fühlen uns ein, reflektieren unsere Gefühlsregungen. Das Feld, in dem wir forschen, schreibt sich in unseren Leib/körper ein und wir agieren mit unseren habituell geprägten Leib/körpern. Wir nehmen aus dem Feld Material mit, das uns hilfreich erscheint, bearbeiten und verändern es und bewegen uns wieder aus dem Feld hinaus. Mit der Veröffentlichung unserer Erkenntnisse geben wir sie frei und damit die weitere Interpretation aus der Hand.
182 | Essen mit und als Methode
In diesen Parallelen zeigt sich, dass beide Praktiken – Essen und Forschen – an den Leib/körper gebundene Praktiken sind, die immer leibliches Erfahren beinhalten und dabei mit dem soziokulturellen Umfeld verknüpft sind. Bei den Prozessen des Essens und Forschens verändern sich nicht nur die Gegenstände, sondern auch wir Essenden/Forschenden. Wissen schreibt sich in unsere Leiber ein. So gibt es sowohl im Prozess des Essens und Verdauens wie auch im ethnographischen Forschungsprozess Momente, die wir aktiv und willentlich vollziehen wie etwa die Auswahl eines Forschungsortes oder einer Speise. Darüber hinaus gibt es aber zahlreiche Momente, die abseits unserer Rationalität ablaufen. Dabei spielt das Leibliche eine zentrale Rolle – zum Beispiel wenn wir uns nach dem Schlucken des Essens ganz auf die Physiologie unserer Verdauungsorgane verlassen oder uns etwa im Forschungsfeld von Intuitionen und äußeren Umständen leiten lassen. Das bedeutet, dass eben diese leiblichen Prozesse reflektiert werden müssen, wenn wir über unser (implizites) Alltagswissen hinaus etwas über ein Thema wie Essen und Kochen erfahren wollen (vgl. Reimers 2014: 75). Dabei können Forschende genauso wie Essende aufgrund der Subjektivität dieser Prozesse nie genau dasselbe erforschen bzw. essen. Es bedarf stets der (verbalen) Verhandlung über den betreffenden Gegenstand (vgl. Diaconu 2005: 318, 326, 342). In der vorliegenden Arbeit wird deshalb dem Wahrnehmen durch die unterschiedlichen Sinne und dem leiblichen Erleben ein eigenes Kapitel gewidmet, da es die Aspekte des Sprechens über Essen/Kochen und der Konstruktion von sozialer Ordnung durch kollektives Essen/Kochen ergänzt und somit eine umfassende Beschreibung des Phänomens Essen/Kochen möglich wird. Dieser Forschung liegt, wie bereits dargelegt, eine ethnographische Forschung zugrunde, was impliziert, dass leibliches Erfahren eine epistemologische Grundlage darstellt. Insofern wird das Forschen als explizit leibliche Praxis am Ende dieses Kapitels noch einmal aufgegriffen, um zu reflektieren, welche Erkenntnisse sich durch die Perspektive auf Wahrnehmung und Leiblichkeit in der konkreten Forschung ergeben haben. Dabei wird von den Veranstaltenden der zugrunde liegenden Settings und auch von mir als Forscherin von Leib/körpern ausgegangen, die zum Essen bzw. zum Forschen im jeweiligen Feld in der Lage sind. Insbesondere in leib/körperlicher Hinsicht können hierbei Einschränkungen bestehen, die eine Teilnahme an den Settings erschweren oder unmöglich machen. Indem von aktiv essenden Personen ausgegangen wird, werden immer auch bestimmte andere Personen ausgeschlossen. So wird bei genauem Hinsehen deutlich, dass Personen mit Ess-Störungen, Unverträglichkeiten oder anderen Erkrankungen, die mit einer er-
Essen und Kochen als sinnlich-leibliche Praktiken | 183
schwerten Nahrungsaufnahme einhergehen (z. B. motorische Einschränkungen), konzeptuell nicht einbezogen werden und somit meist von solchen sozialen Ereignissen ausgeschlossen sind. Gleiches findet sich in der Feldforschung, wo der Forscher*innenkörper den Zugang zum und die Teilhabe am Feld maßgeblich bestimmt. Als Frau habe ich beispielsweise keinen Zutritt zu einem MännerKochclub und meine körperliche Kondition bestimmt, ob und wie lange ich die Strapazen in einer Profiküche aushalten würde.35 Dass Essen und Kochen diese besonderen leiblich-sinnlichen, teils erotisch konnotierten Eigenschaften (vgl. Kofahl 2018) besitzen, scheint Konsens zu sein und wird vielerorts inszeniert. Inwiefern eine subjektive und situative Perspektive auf gemeinsame Mahlzeiten greif- und verbalisierbar gemacht werden kann, bleibt dabei jedoch häufig im Hintergrund. Nimmt man an, dass soziales Handeln immer auch leib/körperlich fundiert ist, beinhaltet dies zum einen die Perspektive der/des Forschenden, die/der seinen Leib/körper zur Gewinnung intersubjektiver Erkenntnisse einsetzt, zum anderen aber auch die Perspektive aller an der Forschung beteiligten Akteur*innen, die mit ihrem leiblichen Wahrnehmen und Handeln zu diesen Situationen beitragen und ihre sozialen und kulturellen Prägungen dabei in die Situationen einbringen. Die behandelten Ess-Settings bestehen aus dem Zusammenspiel von Leib, materiell-räumlicher Umgebung und den in diese eingeschriebenen Prägungen und bringen dabei u. a. durch die Anwesenheit der Körper temporäre Versammlungen, Situationen und Wahrnehmungen hervor. Bei deren Erforschung sind Forschende mit dem Paradox konfrontiert, dass sie gerade durch die Existenzialität und Alltäglichkeit der Themen Essen/Kochen bzw. des Körpers/Leibs schwer greif- und verbalisierbar sind, da viele Vorgänge zugunsten des schnellen gegenseitigen Verstehens routiniert und implizit ablaufen. Wie wir und was wir heute essen und was wir als geläufig empfinden wird insbesondere in der Kindheit geprägt. In diesem Sinne prägen die sich in den Leib eingeschriebenen Erinnerungen in Form eines Leibgedächtnisses sowohl die individuelle als auch die kollektive Wahrnehmung eines Ess-Settings und werden von den Beteiligten immer wieder als Referenz aufgerufen.
35 Diese hypothetische Aussage zu meinen leib/körperlichen Ressourcen beim Kochen in einer Profiküche sollen an dieser Stelle nicht das Stereotyp bedienen, dass Frauen allein aufgrund fehlender Kraft schlechtere Leistungen in der Spitzengastronomie erbringen. Die Aussage bezieht sich hier einzig auf die Tatsache, dass professionelle Arbeit in einer Großküche mit harter körperlicher Arbeit einhergeht.
▶ Kap. 3.2 Konzepte sinnlichleiblicher Wahrnehmung/Verkörperung-Embodiment
184 | Essen mit und als Methode
6.1
▶ Kap. 8.2 Methodologisches Fazit/Geschmack und Erfahrungen verbalisieren
ESSEN UND KOCHEN – LEIB UND SOZIALES
Nachfolgend soll der Blick auf das Soziale beim Essen und Kochen im Sinne eines Sozialisations- und Interaktionsprozesses gelenkt werden, der leiblich angeleitet und verkörpert wird. Gleichzeitig kann das Verbalisieren eines erlebten (Wohl-)Geschmacks als eine soziale Handlung beschrieben werden. Die Kulturanthropologin Anna Mann unterscheidet am Beispiel eines Familienessens in einem österreichischen Restaurant zwischen drei verschiedenen Modi der Äußerung von Wohlgeschmack (etwas schmeckt gut): dem „experiencing“ (Wahrnehmungserfahrung der Qualitäten eines Essens), „socializing“ (Verbindungsqualitäten) und „processing“ (Fähigkeit, das Essen zum Beispiel zu kauen und zu schlucken) (Mann 2018a). An dieser Stelle ist der Blick auf den zweiten Punkt, das Sozialisieren durch/anhand eines Geschmacks, interessant. Mann beschreibt in ihrem Text eine Situation, in der ihr Sitznachbar die Torte seiner Tante probiert, äußert, dass sie gut schmeckt und dann aufsteht, um dies der Tante mitzuteilen. Mann folgert daraus, dass in dieser Situation weniger sinnliche Dimensionen wie Textur, Ausgewogenheit o. ä. zentral sind, sondern das „Schmeckt gut“ vielmehr als Form der Anerkennung und Beziehungsarbeit fungiert, was an die Ausführungen des vorangegangenen Kapitels zu Narrativen anschließt. Zusätzlich zu dieser verbalisierten Form von Wahrnehmung spielte bei den Ess-Settings auch das Wahrnehmen als kollektiver, verkörperter Prozess eine Rolle. In den Ess-Settings, bei denen sowohl gemeinsam gekocht als auch gegessen wurde, hat sich in Hinblick auf die Ausrichtung nach innen (Leib) und nach außen (Körper) gezeigt, dass vor allem beim Kochen eine gemeinschaftsbildende Interaktion stattfindet und somit die Wahrnehmung und Interaktion der Körper im Vordergrund steht. Zusätzlich dazu bedarf es in einem kollektiven Kochprozess der Aushandlung der einzelnen Arbeitsschritte und Arbeitsweisen. Je nach Situation orientieren sich Kochende an unterschiedlichen Vorgaben und Normen, die teilweise erst in der Gruppe ausgehandelt werden müssen. So tauchte beim zweiten Taktsinn-Dinner, bei dem die Teilnehmenden in einem experimentellen Setting gemeinsam eine Nudelsuppe kochen und Erinnerungen über das Füttern eines Nudelgerichts erforschen sollten, das Wort „Referenzstück“ auf. Dieses Referenzstück sollte sicherstellen, dass die Kochenden in etwa gleich große Gemüsestücke schnitten. Schwieriger als die Größe der einzelnen Komponenten gestaltete sich beim Kochen der Speisen das Abschmecken. Obwohl jede/r Anwesende eine eigene Geschmacksvorstellung von einer Gemüsesuppe hatte, wollte Niemand verantwortlich sein für den endgültigen Geschmack. Eine
6.1 Essen und Kochen – Leib und Soziales | 185
weitere Schlussfolgerung aus dieser Beobachtung könnte auch sein, dass kein Mitglied der Gruppe, in der alle gut miteinander bekannt waren, eine solch dominante Position von sich aus einnehmen wollte. Schließlich erklärten sich zwei der Teilnehmenden bereit, diese Aufgabe zu übernehmen, und fanden damit eine kooperative Lösung. Am Prozess des Abschmeckens zeigte sich über diese konkrete Situation hinaus, dass es sich nicht um einen normativen Prozess handelte – es gab also kein eindeutiges Richtig oder Falsch – entscheidend waren die selbst zugeschriebene Kochkompetenz und die eigene Rolle in der Gruppe. Hierbei wurde das vorhandene, für die jeweilige Situation als relevant eingeschätzte Wissen bzw. Nicht-Wissen ausgehandelt und dementsprechend gemeinsames Handeln konstituiert und angeleitet. Beim anschließenden Essen stand dann vor allem die nach innen gerichtete Perspektive im Mittelpunkt. Entsprechend ergeben sich introspektive Fragen wie: Ist das Essen heiß oder kalt? Wie schmeckt mir das Essen? Entspricht es meinen Vorstellungen? Bin ich in der Lage, das Essen mit den bereitgestellten Werkzeugen sozialkonform zu mir zu nehmen? Gerade zu Beginn der Mahlzeit, als alle auf ihren Plätzen saßen, kam es im Vergleich zur Kochsituation bei fast allen Settings zu einer deutlich wahrnehmbaren Geräuschveränderung und Laustärkesenkung. Es waren weniger die Stimmen der Anwesenden hörbar, als vielmehr das Klappern von Besteck und Geschirr sowie Nebengeräusche, die vorher durch die Lautstärke der unterschiedlichen Gespräche überlagert worden waren. Somit wurde hier nicht nur Hunger, sondern auch die Konversation kurzzeitig ‚gestillt‘. Zusätzlich dazu, dass die Gäste mit der Wahrnehmung des Essens beschäftigt waren, begannen die Teilnehmenden das Essen fast immer mit großem Hunger. Häufig dauerte die Essenszubereitung länger als erwartet oder Programmteile des Abends, bei denen nicht gegessen wurde (Vorträge o. ä.) nahmen mehr Zeit als geplant in Anspruch. In diesen Teilen der Ess-Settings lag der Fokus auf der Schaffung eines kollektiven Produkts (das zu kochende Gericht, die Beantwortung einer übergeordneten Frage), wofür die Interaktion und Konversation der Anwesenden erforderlich waren. Die Wahrnehmung war somit vorwiegend nach außen gerichtet. Inkorporiertes Wissen, Gefühle, gewohnte Geschmäcker wurden verbalisiert und damit verkörpert. Die Dramaturgie der meisten Ess-Settings arbeitete auf die (zumindest temporäre) Vollendung dieses gemeinschaftlichen Produkts hin, was im gemeinsamen Essen zelebriert wurde. Die nach außen oder innen gerichtete Aufmerksamkeit ließ sich nicht nur im Übergang vom Kochen zum Essen zeigen, sondern spielte auch bei den Settings eine Rolle, bei denen es einen Wechsel
186 | Essen mit und als Methode
▶ Kap. 6.4 Leib, Performanz und Raum in den Atmosphären der Ess-Settings
zwischen dem Essen und spezifischen Programmpunkten gab. So wurde die Abfolge der einzelnen Gänge beim ersten Taktsinn-Dinner immer wieder durch die Redebeiträge der Expert*innen für das Nicht-Visuelle unterbrochen. Hierbei ergaben sich unterschiedliche Anforderungen an die Teilnehmenden. Das Essen zwischen den Vorträgen war häufig durch den Austausch in Gesprächen über Persönliches oder zuvor Gehörtes geprägt. Das nach innen gerichtete Schmecken des Essens, das als nicht-visuelle Praktik einen wichtigen Teil einnehmen sollte, kam laut eigenen Angaben bei einigen Teilnehmenden zu kurz. Wurden solche Gespräche allerdings beim schweigenden Essen unterbunden, wie zum Beispiel beim Verspeisen der gemeinsam gekochten Gemüsesuppe im zweiten TaktsinnDinner, so überlagerte der Wunsch nach Konversation die Ausrichtung auf das Schmecken und Spüren, und die Teilnehmenden betonten die Künstlichkeit der Situation. Hier zeigte sich die Dominanz des kulturell erlernten Musters von Kommunikation und somit von Sozialität beim Essen in Gesellschaft. Das akzeptable Verhältnis zwischen Stille und Rückzug in das Innere auf der einen Seite und Konversation, also Ausrichtung auf das Äußere, auf der anderen Seite wurde hierbei immer situativ ausgehandelt. Insbesondere beim ersten Taktsinn-Dinner spielte nicht nur die Ausrichtung der Anwesenden auf den jeweiligen Programmpunkt eine Rolle, sondern auch das inkorporierte Wissen über die sozialen Anforderungen an eine bestimmte Situation. So spricht eine interviewte Teilnehmerin beispielsweise davon, dass sie Redner*innen Aufmerksamkeit signalisiere, um einerseits die vorgetragenen Inhalte aufzunehmen und andererseits durch ihren aufmerksamen Körper (Blicke, Mimik, Gestik) den vortragenden Personen Anerkennung entgegenzubringen. Durch solche interkorporellen Wechselwirkungen, die zu einem großen Teil non-verbal ablaufen, entsteht im Idealfall eine von allen Anwesenden als angenehm und gelungen empfundene Situation. Dass die wahrnehmende Introspektive immer auch eine Outrospektive ist, zeigte sich an den Überlegungen der Teilnehmenden zum Vortrag des blinden Wissenschaftlers Siegfried Saerberg beim ersten Taktsinn-Dinner. Einige der Zuhörenden schlossen hierbei die Augen, um sich auf die vor allem auditiv vermittelten Inhalte besser konzentrieren zu können. Dabei waren sie sich bewusst, dass sie dem Vortragenden aufgrund seiner Sehbehinderung kein visuelles Feedback – zum Beispiel in Form eines zugewandten Blicks – entgegenbringen mussten. Gleichzeitig kann ein gelangweilter oder fragender Blick von Zuhörenden bei sehenden Vortragenden durchaus Verunsicherung bewirken. Sehen bzw. Blicken ist, wie Wahrnehmung insgesamt, also eine aktive und reziproke Handlung zwischen Innen und Außen (vgl. Panenka 2014, Grasseni 2007), was
6.1 Essen und Kochen – Leib und Soziales | 187
auch Gesa Lindemann übergreifend für Wahrnehmung und Handlungen feststellt: „Leibliche Selbste berühren einander wechselseitig, indem sie sich auf einander richten und selbst erleben, dass sich andere auf sie richten – etwa durch Blicke, Gesten oder Worte. In diesen Analysen wird deutlich, dass es einen inneren Zusammenhang gibt zwischen dem Spüren des eigenen Leibes und der Art und Weise, sich auf die Umwelt zu beziehen. Wenn ich mich matt und bedrückt fühle mit schweren hängenden Gliedern, kann ich nicht dynamisch überzeugend nach außen wirken. Ich muss mich in diesem Fall buchstäblich in einen anderen leiblichen Zustand bringen, der zu den Anforderungen der Situation passt.“ (Lindemann 2017: 62)
Wie oben bereits beschrieben, wechselte der Wahrnehmungsmodus der Teilnehmenden bzw. die Ausrichtung der Wahrnehmung im Laufe eines Ess-Settings immer wieder zwischen innen und außen. Dies hatte nicht nur Auswirkungen auf den/die Einzelne/n, sondern beeinflusste die gesamte Situation. So kam es bei einer Ablaufveränderung, nachdem sich beispielsweise alle Personen zum Essen an den Tisch begeben hatten, zu einer Synchronisierung des Verhaltens. Dies wurde insbesondere dann deutlich, wenn es eine besondere Situation zu meistern galt. So wurde beim schweigenden Essen (Taktsinn II, Taktsinn IV) deutlich, dass fast alle Gäste an einem Tisch non-verbal kommunizierten, lachten und dies auch als legitim hingenommen wurde. Die Gäste eines anderen Tisches waren sehr viel stärker in sich gekehrt und reagierten weniger aufeinander bzw. nur dann, wenn es einen Anlass/ein Bedürfnis gab, um beispielsweise einem anderen Gast das Salz oder Getränke zu reichen. Dementsprechend führte die Eliminierung des sozialen Drucks zur Kommunikation (schweigendes Essen in der Gruppe) nicht zwingend dazu, sich verstärkt dem subjektiven Erleben zuzuwenden. Allerdings geht aus den Notizen auf der Tischdecke des vierten TaktsinnDinners auch hervor, dass sich einige Gäste vom sozialen Kommunikationsdruck befreit fühlten und sich dementsprechend dem Notieren der Geschmackswahrnehmungen zuwenden konnten. Viele hatten dabei jedoch auch das Gefühl, dass das schweigende Notieren sie vom eigentlichen Schmecken abhielt: „Löffel wäre gut, verordnetes Schweigen wirkt skurril angesichts des lauten Raumes , Habe Mitteilungsbedürfnis, schreibe mehr als ich esse, Gedanken schweifen ab – weg vom Essen und fehlende Achtsamkeit, Schokolade: Forschungsdinner ist aufgrund der Reflexion ‚anstrengender‘ als normale Essen, tolles Projekt, aber Raumlautstärke extrem störend, schweigen empfand ich eigentlich ganz angenehm, weil ich nicht so gut bin/mich nicht so
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wohl fühle in der Konversation mit vielen fremden Leuten.“ (Taktsinn IV, Tischdecke 2, Herv. i.O.)
Einige Teilnehmende gaben auch an, erst einmal ihren Hunger stillen zu müssen, bevor sie in der Lage seien, sich wieder dem sozialen Miteinander zuwenden zu können (Taktsinn IV, Tischdecke 1). Bei anderen Kommentaren entstand jedoch der Eindruck, dass das Entziehen der sozialen Komponente so eindrücklich wirkte, dass es das bewusste Wahrnehmen des Essens überlagerte: „Beim schweigenden Essen, was ich gar nicht so unangenehm fand wie ich erst dachte, habe ich vor allem gemerkt, wie konditioniert ich darauf bin, über das was ich da esse auch zu sprechen. Das ist mir am Schwersten gefallen, nicht sagen zu können: schmeckt gut, oder scharf, etc. und sich nicht mit anderen über das erschmeckte auszutauschen.“ (Feedback Gesche, Taktsinn II)
Insofern ist die Wirkung des schweigenden Essens zugunsten der Wahrnehmung zu hinterfragen, da sowohl das Fehlen der Kommunikation als auch das Kommunizieren selbst die bewusste Wahrnehmung zu überlagern scheinen. So schrieb bereits beim ersten Taktsinn-Dinner ein/e Teilnehmer/in im anschließenden Feedback, dass „Essen als soziale Situation so stark ritualisiert [ist], dass man das Wahrnehmen in bewusster Form immer wieder vergisst.“ (Feedback Taktsinn I). Auch beim dritten Taktsinn-Dinner spielte die Synchronisierung (impliziten) Handelns eine Rolle und wurde bei der anschließenden Gruppendiskussion thematisiert. In diesem Fall waren miteinander bekannte und unbekannte Teilnehmende dazu angehalten, ein Reisgericht aus einer gemeinsamen Schüssel zu essen. Ein Teilnehmer häufte sich anfangs noch eine kleine Menge Essen auf seine Serviette, ging aber später dazu über, wie alle anderen Beteiligten aus der gemeinsamen Schüssel zu essen: „Thomas zu Christian: Hast du n Gruppendruck gespürt? [Lachen] Klaus: Oder wars dir wumme? Christian: Nein, die Erfahrung, das mitzumachen, hat dann überwogen. Also ich würde das nicht als Druck, sondern als n Zug, äh, formulieren.“ (Diskussion Taktsinn III).
Mit dem Begriff „Zug“ bzw. dem damit verbundenen Gezogenwerden wird hier die Kraft des kollektiven Erlebnisses beschrieben, für das der Teilnehmende seine leiblich-subjektiven Bedenken (Übertragen von Krankheiten, Überschreiten von Distanz) aufgab. Hier
6.1 Essen und Kochen – Leib und Soziales | 189
ist bedeutsam, dass es sich bei dieser Person um eine den anderen Teilnehmenden weitestgehend unbekannte Person handelte. Somit spielte sich während des Essens aus der Schüssel auch eine Aushandlung der einzelnen Rollen ab, die nicht nur auf der verbal-diskursiven Ebene stattfand, sondern auch auf der leib/körperlichen. Mit dem Verspüren eines „Zugs“ aus der restlichen Gruppe wurde die Störung in diesem Rollenkonflikt affektiv wahrnehmbar. Demnach wurde Soziales hier leiblich erfahrbar und angeleitet verhandelt. An einem anderen Tisch beim gleichen Setting sollte das Essen des gleichen Reisgerichts mit den Händen vom eigenen Teller zu einem sinnlichen Erlebnis führen. Dies trat jedoch in den meisten Fällen nicht ein: Die Besonderheit der sozialen Grenzsituation erzeugte auch hier eine verstärkte Kommunikation über das Erleben des Moments, womit wiederum die Kommunikation beim Essen im Vordergrund stand. In diesen Wechselwirkungen und Überlagerungen zeigte sich noch einmal die Notwendigkeit, sich mehrere Leiber in einem Leibesraum vorstellen zu können, um die Gleichzeitigkeit, auch von widersprüchlichen Wahrnehmungen, beschreibbar machen zu können. So tritt hier beispielsweise der schmeckende Leib in Konkurrenz zu dem sich unwohl fühlenden Leib (bspw. aufgrund klebriger Hände), woraus deutlich wird, warum das Experiment nicht wie erwartet ein vorrangig nach innen gerichtetes sinnliches Erlebnis erzeugte. Wobei hier betont werden muss, dass diese Grenzsituation mit dem zugrunde liegenden kulturellen Hintergrund verbunden und keineswegs universell ist (vgl. Mann et al. 2011). Mann et al. beschreiben in ihrem Experiment, in dem sowohl Laien als auch Expert*innen des Essens mit den Händen verschiedene Speisen mit den Händen zu sich nahmen, dass dieses Essen mit den Händen unterschiedliche leib/körperliche Anforderungen an beide Gruppen stellte: „What are the bodily specificities of eating with one’s hands? To answer this question, the novices had to be open and adaptive. For the experts, finger eating was altered, too. They had to attend to and be articulate about things that usually go without saying.“ (Ebd.: 227)
Dabei liegt die mögliche Herausforderung beim Essen mit den Händen nicht zwingend in kulturellen Differenzen, vielmehr hängt die positive oder negative Wahrnehmung dieser Situation auch von persönlichen Erfahrungen des händischen Essens und den dabei abgerufenen Erinnerungen insbesondere an die eigene Kindheit ab. Vor allem durch dieses Potential, leiblich zu affizieren und damit außeralltägliche Settings zu kreieren, wird und wurde das Essen mit den Händen gerne in Mahlzeiten in der westlichen Kunst, Wissenschaft
▶ Kap. 3.2 Konzepte sinnlichleiblicher Wahrnehmung/Body Multiple
190 | Essen mit und als Methode
und Kultur genutzt und dabei auch Ästhetisierungen unterzogen (vgl. Mann et al. 2011). „Mahlzeiten, die ursprünglich der körperlichen Reproduktion dienen, werden nun zu Szenarien kultureller Selbstdarstellung und Bedeutungsstiftung – es ist der Wechsel vom Ereignis der Wahrnehmung von Welt zum Ereignis der Kunst als Konstruktion von Welt. Es ist der Wechsel vom Ereignis sinnlicher Rezeption zum Ereignis sinnhafter Konstruktion […].“ (Neumann 2005: 209f)
Im hier beschriebenen Einsatz von Mahlzeiten wird deutlich, wie alltägliche Handlungen wie Essen zu Formaten mit einem bestimmten Zweck verbunden werden. Die Verhandlung des Kontextes eines Projekts, das sich mit Essen und Kochen beschäftigt, zeigt sich u. a. im Kunst-/Kochprojekt „Fremdspeisen“. Hier wurden Sinneswahrnehmungen zusammen mit dem soziokulturellen Kontext und räumlichen Ambiente thematisiert. Dabei spielten Setting und Konzept eine zentrale Rolle für die Beantwortung der Frage, ob es sich um einen Kochworkshop oder ein Kunstprojekt handelt. Der Koch Roman Steger setzt das Esserlebnis in diesem Projekt gezielt ein, um soziale Realität und Essrealität zu verknüpfen und Wahrnehmung zu beeinflussen. Ihm selbst geht es mit dieser Perspektivenverschiebung auch um ein vermeintlich wahrhaftigeres, unmittelbareres Erleben des Kochens und Essens: „Die Verknüpfung von sozialer Realität und Essrealität. Durch das Essen verändert sich die Wahrnehmung. Das ist es, was ich als Kunst an diesem Projekt sehe. Für mich war es auch spannend, da ich als Koch kaum noch mit den Gästen kommuniziere, ich bekomme sie nicht mit, ich weiß nicht, wie der Gast auf das Essen reagiert. Diesmal habe ich die Reaktion direkt erfahren.“ (Binner et al. 2013: 12)
Wie oben beschrieben, bestimmen die kulturell und sozial geprägten Vorstellungen und Bilder von Essen und Mahlzeiten also auch die Wahrnehmung dieser und die Handlungen darin. Somit spielt die Frage von Vermittlung und Übertragung dieser als oder durch Medien ebenfalls eine wichtige Rolle, was im folgenden Kapitel aufgegriffen wird.
6.2 Medialisiertes Essen – Essen als Medium | 191
6.2
MEDIALISIERTES ESSEN – ESSEN ALS MEDIUM
Die Erfahrung von Essen und Kochen als Erlebnis und Beitrag zum eigenen Wohlbefinden wird heute nicht nur praktiziert und inszeniert, sondern ebenso medial vermittelt und verhandelt. Dies passiert insbesondere in TV-Kochsendungen (Schmelz 2018) oder Foodblogs (vgl. Presswood 2020, Pollmann 2019). Da es sich beim Vorgang des Essens, wie oben gezeigt wurde, um einen vor allem leiblichen, subjektiven und schwer visuell vermittelbaren Vorgang handelt, steht in Kochshows vor allem die Zubereitung von Essen im Mittelpunkt. Professionelle Foodblogger*innen aber auch Nutzer*innen, die keine professionelle Intention damit verbinden, präsentieren in ihren Blogs oder über soziale Medien wie Instagram oder Facebook, teils unter dem Hashtag #foodporn, vor allem den Zustand der fertig zubereiteten Speise und inszenieren diese und dabei auch sich selbst in bestmöglicher Form. 36 Einen Schritt weiter geht ein aus Südkorea stammender Trend namens „Mukbang“37. Hier filmen sich Personen regelmäßig beim Verzehr großer Portionen und erreichen dabei eine große Zahl an Followern.38 Während des Essens sprechen einige Akteur*innen über das Essen, aber auch über andere Themen, und richten sich dabei direkt an ihre Follower. In einigen Videos werden dabei aktiv verstärkt, was für einige Rezipierende den Reiz von Mukbang-Videos ausmacht und bei einigen auf Ablehnung stößt. Teilweise gibt es während solcher „Mukbang“ einen Live-Chat oder direkte Kommentare, mittels derer die Zuschauenden direkt auf das Gesehene reagieren und somit Teil der Session werden. Die Frage nach dem Hintergrund dieses Trends beantwortet ein so genannter „Broadcast Jockey“ (BJ) damit, dass Essen ein wichtiger Bestandteil der koreanischen Kultur sei, an der so auch allein lebende und essende Menschen teilnehmen könnten (vgl. Bei der Kellen 2016). 36 Ein Überblick zu „Food Photography“ vom Kochbuch bis zum Food Blog findet sich im Blog der Autorin und Bloggerin Annekathrin Kohout: https://sofrischsogut.com/2015/09/14/food-photography-eine-zei treise/ (letzter Abruf: 10.01.2021) 37 „Mukbang“ setzt sich aus den koreanischen Begriffen „muk“ (Essen) und „bang“ (Sendung) zusammen. 38 Einer der erfolgreichsten Mukbang-Channels auf YouTube ist der von „BANZ“: https://www.youtube.com/user/eodyd188. (letzter Abruf: 10. 01.2021). In Deutschland ist dieses Phänomen weniger verbreitet, es gibt jedoch auch hier Mukbang-Channels wie beispielsweise den von HTLL: https://www.youtube.com/channel/UCgODUvLLneYhC9CzC GBnnbg (letzter Abruf: 10.01.2021).
▶ Kap. 7.4 (Selbst-)Inszenierungen über Essen und Kochen
192 | Essen mit und als Methode
▶ Kap. 5.6 Das Familienmahl
Die Konjunktur des medial vermittelten Essens und Kochens in unterschiedlichen Formaten wird häufig u. a. mit einer vermeintlich immer schnelllebigeren Welt, der fortschreitenden Digitalisierung und einer damit verbundenen Vereinzelung erklärt. Insbesondere der Vorgang des Essens wird hierbei zum Symptom eines Problems erklärt, wenn vermeintlich immer mehr Menschen alleine essen und durch die Möglichkeiten der Digitalisierung vor allem medial kommunizieren. Dies steht im Kontrast zu dem Diskurs und der Annahme der Mahlzeit als sozialer Situation par excellence und der starken leiblichen Komponente des Essens. Wie bereits im vorangegangenen Kapitel erläutert wurde, werden Ess-Settings u. a. unter dem Titel family dining als eine Lösung dieses Problems beschrieben, bei denen sich Menschen an ‚realen‘ Orten leiblich begegnen. Die Praxis des Essens wird hierbei zu einer paradigmatischen Form leiblicher Erfahrung in einer Gemeinschaft und Wahrhaftigkeit, wie auch Mădălina Diaconu feststellt: „Gesucht werden neue Denk- und Erfahrungsweisen. In einer Zeit, wo alles (aus-)tauschbar wird, greift der Mensch auf sein Allerletztes und Eigenstes zurück: den Leib und seine Eindrücke.“ (Diaconu 2005: 15). Zwar sind auch diese Settings häufig von einem hohen Maß an Inszenierung geprägt, das leibliche Erlebnis beim Essen jedoch wird als wahrhaftig perzipiert (vgl. Reckwitz 2018). Es kann davon ausgegangen werden, dass dieses Versprechen eines leiblichen Erlebens insbesondere vor dem Hintergrund der (vermeintlichen) Vereinzelung in der Gesellschaft maßgeblich dazu beiträgt, sich zu einem Ess-Setting oder zu anderen Formaten zu versammeln. Diese Vorstellung greift auch die Künstlerin Christiane (Kili) Schmid in der Darstellung ihres Nachbarschaftskochen-Projekts auf, indem sie Kochen als Medium beschreibt, „um Kommunikationsprozesse zwischen Menschen anzuregen.“ (Schmid 2008: 2). Hierbei sollen durch das Kochen, welches „leicht zugänglich ist“, komplexere Systeme wie Kunst vermittelt und über die Praxis hinausgehende Gestaltungsmöglichkeiten in der Nachbarschaft ausgelotet werden. Leibliche und medial vermittelte Handlungen und Erfahrungen werden in der Projektbeschreibung dabei direkt gegenübergestellt: „Das Projekt hat eine Kommunikationsform etabliert, die Nähe schafft: Denn Kochen ist sehr ‚körpernah‘, schliesst viele Sinne mit ein und führt – im Gegensatz zu Medien wie Internet, Radio und Fernsehen – zu einer eigenständigen Handlung von Menschen, die nach innen gerichtet und gleichzeitig zwischenmenschlich ist: Durch das Ergebnis – die im Rahmen einer Gala oder im öffentlichen Raum verkostete Speise – geht die Kontaktaufnahme hier buchstäblich durch den Magen.“ (Ebd: 3)
6.2 Medialisiertes Essen – Essen als Medium | 193
Paradoxerweise führt die Feststellung eines „zu wenig“ an leiblicher Erfahrung und Begegnung zwar teilweise zu Projekten wie den oben genannten, gleichzeitig scheint aber die wiederum mediale Vermittlung von Essen und Kochen auch eine Antwort auf dieses Phänomen zu sein, wie sich am Beispiel Mukbang zeigen lässt. Beim genaueren Hinsehen lässt sich jedoch feststellen, dass bei einer leiblichen Versammlung wie einem Ess-Setting und bei medial vermitteltem Essen und Kochen unterschiedliche Bedürfnisse angesprochen werden. So geht es in den medial bzw. insbesondere visuell vermittelten Formaten zu einem größeren Teil um (Selbst-)Inszenierung der Kochenden und Essenden sowie des Settings selbst. Mădălina Diaconu bezeichnet diese vermittelten Bilder als ‚Esswerbungen‘, in denen weniger Nahrungsmittel und Geschmacksassoziationen dargeboten werden, „sondern eher soziale Wertvorstellungen und kulturelle Ideologien […]“ (Diaconu 2005: 394). Dabei wirken digitale und ‚reale‘ Bilder wechselseitig aufeinander. So stellt Sascha Lobo in seinem Blog fest, dass Spitzenköche ihre Gänge u. a. nach dem Kriterium Fotogenität anrichten, da ein gutes digitales Bild im Netz zu hunderten Kunden im realen Restaurant führen könne: „Das digitale Auge isst mit, und nicht für eine Person, sondern für Hunderttausende.“ (Lobo 2016). Hinzu kommt, dass visuell in Fotos oder Videos vermitteltes Essen beim bloßen Betrachten synästhetische Wahrnehmungen auslösen können, die wiederum mit individuellen oder auch kollektiven Erfahrungen im Leibgedächtnis interagieren. Ein Beispiel hierfür ist das über Internetvideos populär gewordene Phänomen des Autonomous Sensory Meridian Response (ASMR) 39, bei dem beispielsweise leise EssGeräusche bei hierfür empfänglichen Menschen einen wohligen Schauder mit anschließender Entspannung hervorrufen (Barrat/Davis 2015). Gleichzeitig rufen die gleichen Geräusche bei anderen Menschen starke negative Gefühle wie Ekel hervor. Interessant hieran ist, dass das Schmecken durch die mediale Vermittlung von Essen zugunsten anderer sensueller Wahrnehmungen außerhalb des Fünf-Sinne-Schemas in den Vordergrund tritt. Zudem setzt es dem Narrativ, dass Essen vor allem über leibliche Anwesenheit als sinnliches Erlebnis funktioniert, eine alternative Erfahrung entgegen. Allerdings ist diese Ausrichtung auf visuelle Vermittelbarkeit nur ein Teilphänomen der visuellen Repräsentation von Speisen (im Internet). Gleichzeitig gibt es Restaurants, insbesondere Restaurants mit gehobener Küche, in denen Fotografieren nicht erwünscht 39 In Deutschland ist die YouTuberin Janina mit ihren ASMR-Videos erfolgreich. Hier isst sie beispielsweise Honigwaben oder Gewürzgurken vor einem Mikrofon: https://www.youtube.com/channel/UC-raV7aGwCCh7cxtL8bl5eQ/videos (letzter Abruf: 10.01.2021)
194 | Essen mit und als Methode
▶ Kap. 7.4 (Selbst-)Inszenierungen über Essen und Kochen
ist, u. a. um das situative leibliche Erleben zu betonen. Das Fotografieren des Essens hat dementsprechend weniger mit leiblichsinnlicher Wahrnehmung von Essen als vielmehr mit der eigenen Inszenierung durch Essen und dessen Repräsentation zu tun. Im Kontrast zu dieser auf Repräsentation ausgerichteten Medialität des Essens stellt Roman Steger im Kontext des Projektes „Fremdspeisen“ die Praktik des Kochens auch als reflexive Übersetzungsleistung dar, indem er seine Geschmacksbilder zu multisensorischen Gerichten bzw. einer synästhetischen Erfahrung transformiert und sich im Zuge dessen dieser Einstellungen bewusst wird: „Das Gericht Marillenknödel z. B. hat ein gewisses Bild, gewisse Farben: das Weiße und innen das Gelbe. Das sind für mich Bilder, ebenso das Bröselige. Das Spannende ist, dass ich dieses Bild schmecken kann. Meine Arbeit ist folgendermaßen: lch stelle mir Curry darin vor; auf einmal verändert sich die Farbe des Bildes und dadurch aber auch die Nuancen des Geschmacks. Dann ist eben die Frage, ob ich den Curry in den Topfenteig gebe oder in die Brösel hinein, oder ob ich eine Sauce dazu mache. Auch das Zucker-Weiß ist für mich ein Geschmacksbild: Wenn ich an Zucker denke, weiß ich ‚süß‘, aber ich verbinde das mit der Farbe Weiß. Beim Entwickeln von Gerichten ist es für mich ein Bild, das interessant ist, das Zusammenstellen von (Geschmacks-)Bildern. […] Je klarer mein Bild ist, je klarer und feiner wird das Gericht auch auf dem Teller. Ebenso ist es mit den Texten von Markus Binner, zu denen ich ein Bild sehe. Diese Geschmacksbilder heißt es dann in ein Gericht umzusetzen. Ein Esserlebnis, bei dem du dich selbst erfährst und auch deine Einstellungen reflektierst .“ (Binner/Steger 2013: 13f)
Die Geschmacksbilder, die Roman Steger hier beschreibt, beruhen auf biographischer und kultureller Prägung. Aus dem Beispiel Zucker lässt sich folgern, dass eine Person, die von Kindheit an eher mit unraffiniertem Rohrzucker als mit raffiniertem Rübenzucker in Berührung gekommen ist, süß eher mit der Farbe braun verbinden könnte, was jedoch an anderer Stelle näher geklärt werden müsste (Poehls 2017). Ess-Erlebnisse wie die hierin beschriebenen bieten für Steger durch die Ausrichtung nach innen auf die eigenen Geschmacksbilder eine Möglichkeit, diese und somit auch die eigene Kultur zu reflektieren. Dementsprechend gibt es, wie oben angedeutet, auch keine allgemein gültigen Geschmacksbilder. In der Idee des Geschmacksbildes verbinden sich verschiedene Sinnesmodi mit einer Vorstellung von Kultur. Seit jeher wird über diese Bilder beim Essen u. a. das Konzept des Eigenen und des Fremden bzw. des Alltäglichen und des Exotischen vermittelt, ver-
6.2 Medialisiertes Essen – Essen als Medium | 195
handelt und manifestiert. Diaconu bezeichnet Essen in diesem Zusammenhang als Reisesurrogat. Im Konsum ‚fremder‘ Speisen sieht sie die Erweiterung der räumlichen Grenzen des Ichs und die Möglichkeit, sich fremde Welten anzueignen: „Wir essen nicht nur mit dem Mund und der schmeckenden Zunge, sondern auch mit der Imagination, mit den Augen und mit der sprechenden Zunge.“ (Diaconu 2005: 362). Wenn auch die Idee des Fremden hier stärker reflektiert werden müsste, so ist doch die von Diaconu beschriebene Vorstellung interessant, dass wir auch mit der Imagination essen. So wie sie es formuliert, könnte die Imagination als eigener Sinn bzw. als Brücke zwischen dem Sehen und dem Schmecken angesehen werden, der eben nicht nur das konkrete, materielle Gericht vor Ort sehen und schmecken kann, sondern in der Lage ist, über die Situation hinaus zu verweisen. Diese Vermittlungsfunktion nimmt das Essen häufig dann ein, wenn es um Erinnerungen an Geschmack oder auch kulinarische Situationen geht, die im folgenden Kapitel wieder aufgegriffen werden. Im Bezug auf die Vorstellung von Essen als Medium, wie es oben u.a. mit dem Nachbarschaftskochen angesprochen wurde, ist an dieser Stelle jedoch noch interessant, was genau beispielsweise Erinnerungen und Vorstellungen transportiert und somit zum Träger für diese wird. Ist es das Einkaufen und Zubereiten einer Soße, das Erzählen der Geschichte über die Soße oder das Gefüttertwerden und Füttern mit der Soße? Im dritten Taktsinn-Dinner, in dem die Aufgabe an die Teilnehmenden gestellt wurde, die Erinnerungen an eine bestimmte Nudelsoße an die Sitznachbar*innen zu verfüttern wurdeSchnell deutlich, dass das Füttern zwar als Metapher und Inszenierung für das Weiterreichen von Erinnerungen funktionierte, für das konkrete Erinnern und die Vermittlung von Erinnerungen aber ungeeignet und sogar störend war. Das Evozieren und Vergegenwärtigen der Erinnerungen erfolgte für die meisten Teilnehmenden eher beim Einkaufen und Zubereiten der Zutaten. In den Erzählungen beim Füttern wurden diese Erinnerungen dann schließlich vermittelt. Dabei tauchte auch die Frage auf, ob denn die Nudelsoße überhaupt notwendig sei, da das Erlebte vorwiegend verbal vermittelt wurde. Ein großer Teil der Gäste betonte aber, dass die Vermittlung anhand der Soßen konkreter gewesen sei, insbesondere in Bezug auf sensorische Qualitäten wie Geruch, Konsistenz, Geschmack und Aussehen. Insofern ist die Vermittlung über Sprache und die Soße selbst nicht ohne Komplexitätsverlust voneinander trennbar (vgl. Fendl 2017). Es ist dennoch festzustellen, dass Essen hier als Medium funktioniert und als Teil eines medialen Vermittlungsprozesses eingesetzt wird. Darüber hinaus stellt sich, wie eingangs beschrieben, die Vermittlung von Essen als sinnliches Objekt und sinnlich-leiblicher Vorgang als ambivalent dar. Einerseits werden
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▶ Kap. 3.1 Aktuelle Konzepte der Nahrungsforschung
bestimmte Qualitäten wie Geruch und Geschmack als nicht vermittelbar markiert. Andererseits kann gerade die vermittelte Darstellung von Essen starke Wahrnehmungen auslösen. Diese Ambivalenz lässt sich in den übergeordneten aktuellen Diskurs um Essen und Ernährung einordnen, in dem Entgrenzung und Vereinzelung dem sinnlich-wahrhaftigen Erleben gegenübergestellt werden.
6.3
FRÜHER WAREN DIE PFIRSICHE AROMATISCHER: ESSEN UND ERINNERUNG
Die Kulturanthropologin Nadia Seremetakis beschreibt in ihrem Grundlagenwerk „The Memory of the Senses“ Erinnerung als einen Meta-Sinn, der die einzelnen Sinne verschränkt, anregt oder über sie hinausweist, und eine Art Horizont der sinnlichen Wahrnehmung darstellt (Seremetakis 1996: 9). In diesem Zusammenhang prägen das Speichern und Wiederherstellen von Erfahrungen unser gesamtes Handeln. Wie bereits aufgezeigt, darf auch hier kein einzelner Sinn in seiner Fähigkeit zu erinnern oder Erinnerungen anzuregen ausgeschlossen werden. Dennoch transportieren einzelne Sinnesmodalitäten unterschiedliche Qualitäten von Erinnerung in besonderem Maße bzw. werden verstärkt mit diesen verbunden. Dazu zählen vor allem das Riechen und Schmecken (vgl. Heindl 2005, Sutton 2010). Auch ich hatte bei der Konzeption des zweiten Taktsinn-Dinners die Vorstellung, über Essen in besonderer Art und Weise etwas über das Thema Erinnerung herausfinden zu können, und wollte die Möglichkeiten dazu ausloten. In Gesprächen oder Texten, die ich während meiner Forschung geführt/gelesen habe, wurde häufig in Bezug auf den Geschmacks- und vor allem den Geruchssinn die besondere Fähigkeit dieser Sinne betont, vergangene Situationen durch ein erneutes Wahrnehmen wieder spürbar und präsent werden zu lassen. Dies wird zum einen durch die Biologie des Menschen bzw. das menschliche Nervensystem erklärt. 40 Neben dieser biologischen Komponente der olfaktorischen und gustatorischen Wahrnehmung gibt es auch eine zentrale soziokulturelle Seite, indem Ge-
40 Die Weiterleitung eines Geruchsreizes führt, bevor er bewusst verarbeitet wird, ins limbische System, in dem unmittelbar und unwillentlich Gefühle erzeugt werden. Erst dann wirkt diese Information auch auf das Bewusstsein und es werden u.a. Erinnerungen abgerufen (vgl. Heindl 2005).
6.3 Früher waren die Pfirsiche aromatischer | 197
rüche und Geschmäcker durch Erfahrungen bereits als Säugling erlernt und konnotiert werden. Wird durch einen Geruch oder einen Geschmack eine Erinnerung wieder aufgerufen, ist diese häufig auch mit der sozialen Situation verknüpft. Unsere Geschmackspräferenzen verweisen zudem auf das soziale Feld, in dem wir aufgewachsen sind (Boudieu 1982). So kann der Geruch von Orangenblüten uns das Gefühl und die Situation lauer Sommernächte im Urlaub vermitteln, oder der Geruch von Umkleidekabinen in eine Situation des Scheiterns und der Erniedrigung im Schulsport (vgl. Heindl 2005: 267ff). Es müssen aber nicht immer konkrete Erlebnisse sein, die in einer solchen Situation wieder präsent werden, es können auch diffuse Emotionen und Stimmungen sein, die nicht direkt lokalisiert und eingeordnet werden können, sondern vielmehr als atmosphärisch beschrieben werden. Nach Hubertus Tellenbach gibt es eine zentrale Verbindung zwischen Gerüchen, Erinnerung und der Erzeugung von Atmosphären: „Der Oralsinn ist der Sinn der Wiederholung. Wir können zwar den Duft nicht wiederholen, wie eine Zeile oder eine Melodie; aber der Duft ‚wiederholt‘ uns, indem er uns erinnert; oder anders ausgedrückt: Im Duft ist das Unvergängliche am Vergangen aufgehoben – das Atmosphärische.“ (Tellenbach 1968: 31)
Diese atmosphärische Wirkung von Gerüchen wird noch einmal dadurch verstärkt, dass Gerüche nicht gezielt wahrgenommen werden. Gerüche diffundieren aus einer nicht immer lokalisierbaren Quelle, sie umgeben uns und besitzen somit räumliche Qualitäten. Dabei kann ein Geruch eher subtil Einfluss nehmen, ohne dass wir ihn bewusst wahrnehmen, und damit eher als Teil eines atmosphärischen Ganzen wirken. Auch hier können Erinnerungen in Form von Gefühlen und Stimmungen aufgerufen werden. Gerüche können aber auch, wenn sie bewusst eingesetzt bzw. reflektiert werden, direkt zum Schaffen einer Atmosphäre oder zum Aufrufen einer Erinnerung eingesetzt werden. Im Geruch bzw. dessen Erinnerung liegt laut Siegfried Saerberg eine Möglichkeit, sich gerade alltägliche Erfahrungen und Emotionen zu vergegenwärtigen, die häufig durch die Gewöhnung an sie schwer greifbar werden. „Diese Verbindung zwischen soziokultureller Identität und Geruch ist in der gegenwärtigen Erinnerung wesentlich leichter zu fassen als in der vergangenen Gegenwart: So wie das allzu Nahe nicht mehr riechbar ist, die Gewöhnung verdeckt es. Wenn ein Geruch verschwindet, wird seine Identität stiftende Bedeutung vielleicht erst in der Erinnerung entdeckbar.“ (Saerberg 2011: 183)
198 | Essen mit und als Methode
▶ Kap. 8.3 Verbindungen
Ähnliches gilt für den Geschmack, auch wenn das Aufnehmen von Nahrung fast immer aktiv vollzogen wird. Als alltägliche, routinierte Handlung wird jedoch dem Vorgang des Essens und Schmeckens häufig weniger Aufmerksamkeit geschenkt, wodurch beim Essen auch unbewusst Erinnerungen und Gefühle aufgerufen werden können. Diese Wahrnehmungen und Emotionen finden nicht im leeren Raum statt, sondern beinhalten immer auch eine materielle Seite. Sie können sich Gegenständen anheften bzw. sich in diesen erneut materialisieren. Nadia Seremetakis hat die materielle Komponente von Erinnerung in Verbindung mit sinnlicher Wahrnehmung bereits in den 1990er Jahren beschrieben. Sie betont dabei die Verwobenheit von Erzählung, verkörperter Praxis und materieller Welt, aus der heraus Erinnerungen in Form eines Meta-Sinnes aufgerufen werden (vgl. Seremetakis 1996: 9). In der hier vorliegenden Arbeit muss dabei unterschieden werden zwischen dem Aktivieren subjektiver, persönlicher Erinnerungen und der Vermittlung dieser. So geht es bei der Aktivierung eher um ein Wiederaufgreifen und Bewusstmachen durch bestimmte Eindrücke, Objekte oder Erzählungen. In der Vermittlung muss der relevante Kontext in Form von Räumen, verbundenen Personen, biographischen Details miterzählt werden, um die Erinnerung vollständig wirken zu lassen. Wie detailliert dieser Kontext vermittelt werden muss, hängt u. a. davon ab, ob und inwiefern die Rezipierenden die vermittelte Erinnerung an eigene Erfahrungen andocken können. Dass ein Geruch bzw. das Riechen selbst ohne sprachliche Vermittlung bereits zum gegenseitigen Verstehen reichen kann, zeigte sich in Einkaufssituationen für die Über-den-Tellerrand-Abende. Hier ergaben sich häufiger Situationen, in denen Begriffe in der entsprechend anderen Sprache, zum Beispiel die Bezeichnungen von Gewürzen, nicht bekannt waren. Da allerdings beide Seiten die Gerüche der Gewürze als leibliches Wissen verinnerlicht hatten, genügte hier die sensuelle Information, um einen Konsens über das Lebensmittel zu erzeugen, der nicht verbalisiert werden musste. In der Deutungswerkstatt kommentierte ein Teilnehmer diese Situation mit dem Satz „Man muss es machen, weil es nicht da ist.“ (Feldnotiz 4. ÜdT-Abend) und betonte damit die Rolle des Performativen in der Situation. Das Riechen tritt hier somit als Handlung und weniger als Wahrnehmung in den Vordergrund und erzeugt somit etwas, das vorher nicht da war: ein sensuelles Verstehen außerhalb der Sprache. Es (das Riechen) muss gemacht werden, damit es (die Referenzsituation, der Geruch, die Erinnerung etc.) da ist. Meistens werden Wissen und Erinnerung über bzw. an Situationen des Essens und Kochens jedoch verbal evoziert und kommu-
6.3 Früher waren die Pfirsiche aromatischer | 199
niziert. Inwiefern das Gericht oder Lebensmittel tatsächlich anwesend sein muss, wurde beim zweiten Taktsinn-Dinner zu Essen und Erinnerung thematisiert. Es wurde implizit zu Grunde gelegt, dass die zu vermittelnden Erinnerungen dem Essen anhaften und somit beim Zubereiten, Essen und Füttern bzw. Gefüttertwerden besonders gut transportiert werden können. In der anschließenden Diskussion und dem Versuch, erste Ergebnisse des Abends zu formulieren, stellte sich für einen Moment Ernüchterung ein, als festgestellt wurde, dass das Füttern selbst wider Erwarten kaum etwas zum Erinnern und Vermitteln von Erinnerungen beigetragen hatte. Und auch die Rolle des Gerichtes selbst als Träger von Erinnerungen wurde infrage gestellt. Dass Erinnerungen aufgerufen und erzählt worden waren stand jedoch fest. Doch was genau hatte diese Erinnerungen angeregt, getragen bzw. übertragen? „Elena: (lachend) Ja. Was wir auf jeden Fall beide hatten, du musst mich korrigieren, wenn das nicht so ist, dass Erinnerung viel weniger über das Essen selbst präsent waren als vielmehr darüber, wie man es vorbereitet, was man da alles einkauft. Nora: Mir ist ein Topf wieder eingefallen. Elena: Wo drin es vorbereitet wird, als tatsächlich über den Geschmack und den Moment des Essens. Nora: Ich hatte auch son bisschen gedacht, dass mich diese Nudelsoße wirklich an diese Situation erinnern würde, dass das so aktuell noch mal neu zusammengesetzt wird. Aber wenn ich an diese Nudelsoße denke, dann denke ich an vergangene Situationen, aber jetzt musste ich die ganze Zeit nicht daran denken. [...] Inga: Also, ich glaub, ich hatte das auch mit nem Topf, in welchem Topf diese Soße immer war. Weil es immer einen speziellen Topf gab, in dem das gemacht wurde. Anton: Und dann brachte ich ihn auch gleich mit. Inga: Deiner ja auch. (zu Anton) Ronja: Aber bei uns beiden war das eher das soziale Umfeld (zu Klaus). Oder bei dir... also eher an welche Freunde oder welche Situationen uns das erinnert. Also es war letztendlich nicht so richtig wichtig, was das für ne Soße war. Sondern eher an diese Situation hat uns das erinnert. Klaus: Ja, auch so die Zutaten. Ronja: Ja, bestimmte Zutaten waren es, die mich an die Situation erinnert haben. Ich wurde auch eher ausgelacht für meine Zutaten. Elena: Aber ist der Moment des Erinnerns der des Schmeckens oder die Zutat in die Soße machen? Klaus: Eher die Zutat in die Soße machen. Das Kaufen oder das Sammeln der Zutat oder… Elena: Ja, das mein ich.
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Ronja: Bei mir wars eher, wie das soziale Umfeld darauf reagiert hat oder […] und da war die Zutat zwar wichtig, aber nicht das... Elena: Aber ich meinte, wann WIR uns erinnern. Wenn wirs schmecken oder wenn wir es vorbereiten. Das war das, was ich meinte.“ (Diskussion Taktsinn II)
In dem hier zitierten Teil der Diskussion werden Dinge wie Zutaten oder Kochutensilien zu Trägern der erzählten Erinnerung, wobei das Vergegenwärtigen dieser vielmehr anhand des Rekonstruierens des Kontextes und einer Gesamtsituation passierte: beim Einkaufen von Zutaten und beim Zubereiten. Anhand dieser Dinge orientierte sich dann in der Vermittlungssituation die erzählte Erinnerung und bot dabei ein Gerüst für das Wecken von Erinnerungen. Das hing sicherlich auch damit zusammen, dass alle Teilnehmenden bereits im Vorfeld mit der Aufgabe konfrontiert worden waren, sich eine erinnerungsträchtige Soße zu überlegen. Eine Teilnehmerin kommentierte dies kritisch im Nachgang zum Dinner: „Ich hatte das Gefühl, mich quasi vor dem Essen auf ein Narrativ einzustellen und weniger aktiv zu erinnern. […] Für mich fühlte sich das Essen merkwürdig vom Erinnern entkoppelt an, anders kann ich es nicht beschreiben. Vielleicht einfach zu viel Vorbereitung im Sinne von ‚Wissen‘ im Vorfeld.“ (Feedback Gesche Taktsinn II)
▶ Kap. 3.3 Sinnlich-leibliche Perspektiven auf besondere Mahlzeiten
Im obigen Kommentar schwingt die Idee mit, eine ‚gute‘ Erinnerung müsse spontan und eher intuitiv als rational erzeugt werden. Zudem wird die erzählte Erinnerung im Narrativ zu einer Erinnerung zweiter Ordnung, da dies keine aktive, direkte Handlung sei. Somit kann das oben beschriebene Gefühl der Ernüchterung als das Fehlen an leiblichem Erleben in Abgrenzung zum rationalen Erzählen und Verbalisieren beschrieben werden. Möglicherweise steht hierbei die individuell und subjektiv aufgerufene Erinnerung mit allem, was sie auslöst, in Konflikt zum auf Interaktion gerichteten Verhandeln der Erinnerung in der Gruppe. Darüber hinaus schien ein Teil der Anwesenden bei der Suche nach einer Erinnerung das leibliche Verspüren dieser ‚vergessen‘ zu haben. Vor dem Hintergrund, dass an diesem Abend fast ausschließlich Kolleg*innen, also Wissenschaftler*innen zu Gast waren, scheint hier noch einmal die These bestätigt, dass (kulturwissenschaftliche) Forschung nach wie vor nicht selbstverständlich leiblich reflektiert wird. Zwar wurde die Materialität von Erinnerungen von den Anwesenden thematisiert (Konsistenz der Soßen, Zutaten) und Emotionen wurden beispielsweise im Umgang mit den Handlungsanweisungen geäußert (Füttern und Gefüttertwerden), aller-
6.3 Früher waren die Pfirsiche aromatischer | 201
dings wurden beide Aspekte zumindest in diesem Moment der Diskussion wenig reflektiert. Dabei zeigte sich am Beispiel meiner Nudelsoße aus Mehlschwitze, Tomatenmark und Ketchup, wie sehr Materialität, Erinnerung und Emotionen in Zusammenhang stehen, und belegte, dass es in der Tat einen Unterschied macht, ob etwas – in diesem Fall eine Soße – erzählt und imaginiert wird oder ob sie tatsächlich mit allen ihren positiven und auch unangenehmen Erscheinungen vorhanden ist. Denn entsprechend ihrer Basis (Mehlschwitze) wurde die Soße nach dem Erkalten zunehmend dickflüssig und bekam eine Haut auf der Oberfläche. Hierbei zeigte sich, dass sie bei Verlust ihres ursprünglichen Kontextes für mich als ‚Erinnerungsgeberin‘ neu konnotiert wurde, was sowohl positiv als auch negativ sein kann. Beim Evozieren von Erinnerungen über das Essen wird meist nicht nur die zeitliche Dimension dieser betont, sondern auch das Wiederaufrufen von Räumen, Orten und räumlich gebundenen Erfahrungen. So wird der Geruchssinn im Über-den-TellerrandKochbuch „Eine Prise Heimat“ als Sinn beschrieben, der Zeitreisen ermöglicht. Damit verbunden wird auf der einen Seite die zurückgelassene Heimat der Geflüchteten thematisiert, aber auch die Antizipation einer Zukunft, in der unterschiedliche Einflüsse zusammenfließen und verbindend wirken (Über den Tellerrand e.V. 2016a). In diesem Sinne dienen Essen und Kochen als Brücke in dreierlei Hinsicht: 1. zwischen der Vergangenheit, Gegenwart und teilweise auch der Zukunft, 2. zwischen dem Heimatort und dem aktuellen Aufenthaltsort und 3. zwischen der eigenen Kernfamilie und neuen Gruppen oder Personen. Im Vorhaben, Erinnerungen in Form eines Essens zu wecken und zu übersetzen, zeigte sich zudem, dass bestimmte Gerichte und Zubereitungsweisen ein stärkeres Potential haben, an persönliche Erinnerungen geknüpft zu werden als andere. So gab es für die im zweiten Taktsinn-Dinner kollektiv zubereitete Gemüsesuppe kaum Anknüpfungspunkte in Bezug auf subjektiv erinnerte Gerichte, Zubereitungen und Situationen. Vielmehr war die gemeinsam gekochte Suppe das Ergebnis eines Abstimmungsprozesses im Hier und Jetzt und wurde weniger als das Werk eines/einer Einzelnen wahrgenommen. Es entstand somit ein Konsensprodukt, bei dem es in Konsistenz, Geschmack etc. durchaus Abweichungen geben konnte, wohingegen es bei der zu erinnernden und vermittelnden Soße nur den einen richtigen Geschmack geben konnte. In diesem Fall schied eine kollektive Zubereitung aus bzw. war mit hohem koordinatorischen Aufwand und der Kontrolle der abgegebenen Arbeitsschritte verbunden. Dies zeigte sich auch beim Über-den-Tellerrand-Kochen, wenn die Gastköche entgegen des Konzepts kaum Arbeiten an die anderen Gäste abgeben konnten. Es gab und gibt
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hier einen Konflikt zwischen einem ‚authentischen‘ Gericht, das die Erinnerung und das Werk eines/einer Einzelnen repräsentiert, und dem Anspruch, ein Erlebnis und Werk in einem kollektiven Prozess zu erschaffen (vgl. Diskussion Taktsinn II, Feldnotiz 3. ÜdTAbend). Nicht zuletzt beruht mein eigener Zugang zum Thema Essen und Kochen auf einer solchen Brücke, nämlich der zu meiner Oma und ihrer Art zu kochen. So stellte in meiner Kindheit das Essen bei den Großeltern eine Besonderheit dar, obwohl ich sie fast täglich sah. Manche Gerichte habe ich nie wieder als derart köstlich empfunden wie von meiner Großmutter zubereitet (Brathähnchen mit Apfelmus und Salzkartoffeln), andere Gerichte oder Komponenten sind mir nie woanders begegnet. Dazu gehört auch die oben genannte Tomatensoße auf Mehlschwitzebasis. Aus den Händen meiner Oma und deren Küche mit Sitzbank und holzbefeuertem Herd entrissen, wirkte diese Soße mit ihrer orangen Farbe und dicklichen Konsistenz kaum mehr so köstlich wie früher und die Erfahrung fühlte sich für mich merkwürdig entrückt an. „Inga: Und der Kontext ist nochmal wichtig. Ich hab darüber nachgedacht, wie diese Soße war. Und ich habe gedacht, die war immer son bisschen dick, die war orange. Lachen Inga: Das hat sich nicht komisch angefühlt. Das war wirklich diese leckere Soße aus meiner Kindheit und als ich das jetzt gemacht hab', dachte ich: Ja, hmm, sieht schon n bisschen komisch aus. Und jetzt nochmal in so 'ner Runde zu sitzen und total aus dem Kontext diese Soße hier präsentieren zu müssen. Das ist schon fast, dass ich denke, es ist auch ein bisschen peinlich. Nora: Das ist son Statusding. Wer hat die modernste Soße, vielleicht. Anna: So dass du denkst, dass du dich rechtfertigen musst für die Soße? Inga: … Ja, also, wären es nochmal andere Leute gewesen, wäre es wahrscheinlich … Ich verzweifel da jetzt nicht dran. Aber es ist schon so, dass ich denke, hmm. Nora: Man braucht auf jeden Fall ne gute Geschichte dazu. Inga: Das ist irgendwie etwas anderes jetzt. Das entmystifiziert diese Soße jetzt. Frauke: Oh Mann, das ist aber traurig. Das wollen wir doch nicht. Du hast es darauf angelegt, das zu entmystifizieren. Das liegt jetzt nicht an uns. Inga: Ihr müsst euch ja auch nicht rechtfertigen.“ (Diskussion Taktsinn II)
Aus dieser Gesprächssequenz lässt sich schließen, dass die Soße einerseits in der Kindheit in ihrem spezifischen Herstellungskontext auf mich gewirkt hat und eine Reproduktion dieser Erfahrung nicht oder nur schwer über die re-materialisierte Soße aufgerufen werden kann. Um das Erlebnis auch für andere greifbar zu machen, bedarf
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es mindestens einer detaillierten Schilderung des Kontextes. Dabei erscheint das Zusammenbringen von Erinnerung und Soße im Nachhinein als ein Wagnis, das ich eingehe, indem ich versuche, die Soße nicht nur für mich in all ihren sinnlichen Komponenten zu reproduzieren, sondern sie zusätzlich auch noch dem Urteil der anderen Essenden aussetze, die meine sensuelle Erinnerung relativieren. Aus dem beschriebenen Gefühl des Entmystifizierens der Soße erwächst der Eindruck, dass ich die Erinnerung (in diesem Moment) als etwas Beschützenswertes empfinde. Nadia Seremetakis beschreibt in diesem Zusammenhang, dass vergangene leibliche Erfahrungen nicht in uns archiviert werden und einfach wieder in gleicher Form aus diesem Archiv hervorgeholt werden können. Vielmehr werden sie immer in der Situation, in der sie wieder zum Gegenstand werden, neu konstruiert: „Here sensory memory, as the meditation on the historical substance of experience is not mere repetition but transformation which brings the past into the present as a natal event.“ (Seremetakis 1996: 7). Seremetakis bezieht sich hierbei auf das Verschwinden heimischer Obstsorten, in ihrem Fall griechischer, die u. a. durch die europäische Wirtschaftspolitik verdrängt wurden. Dieser Vorstellung wird das Narrativ angeheftet, dass Früchte wie zum Beispiel Pfirsiche in der Vergangenheit geschmackvoller gewesen seien und heutige Früchte dementsprechend weniger Geschmack besäßen. Unabhängig von der Frage, ob der Geschmack bzw. die Wahrnehmung sich tatsächlich verändert hat, wird mit dem „Fehlen“ von Geschmack ein Problem im Umgang mit gesellschaftlichem Wandel beschrieben. Dieses liegt laut Seremetakis darin, dass hier Veränderungen in der materiellen Welt (noch) nicht bzw. nicht mehr auf entsprechende Wahrnehmungsmuster treffen und somit auch keine Möglichkeiten zur Identifikation bieten: „When new forms and items of an emerging material culture step in between a society’s present perceptual existence and its residual sociocultural identity, they can be tasteless because people may no longer have the perceptual means for seeking identity and experience in new material forms.“ (Ebd.: 8)
Ein solcher Geschmackswandel, dem bereits ein entsprechendes intersubjektiv verhandeltes Wahrnehmungsmuster zugeordnet wurde, kann für die Geschmacksrichtung bitter beobachtet werden. In der biologisch-physiologischen Klassifikation entsprechen bitter schmeckende Lebensmittel eher potentiell ungenießbaren oder sogar giftigen Lebensmitteln. Auch in einem übertragenen, metaphorischen Sinn wird Bitteres eher negativ konnotiert. Wie David Sut-
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ton beschreibt, wird das Zusichnehmen und Schmecken von bitteren Lebensmitteln in einigen Gesellschaften unmittelbar mit einer als bitter beschriebenen Erfahrung assoziiert: „Ingesting bitter food as representative of bitter experience can be found in many societies and rituals, not the least of which being the passover ceremony.“ (Sutton 2010: 216). In einem gesellschaftlichen Kontext, der eine gesunde Ernährung und Lebensweise propagiert und Lebensmittel teilweise als funktional betrachtet (Stichwort Superfood), gerät die gesundheitsfördernde Wirkung bitter schmeckender Lebensmittel in den Vordergrund und das Bittere erfährt eine neue Bewertung. Diese Inwertsetzung des bitteren Geschmacks lässt sich anhand der Tischdeckennotizen des vierten Taktsinn-Dinners beobachten. Hier wurde wiederholt der bittere Geschmack des Salats bzw. einer der Salatkomponenten erwähnt und meist positiv bewertet: „bitter, trocken da ich keine Sauce habe (Laktose Intoleranz), durch die Karotten trotzdem etwas süß, bitter bleibt noch im Mund nach dem Schlucken, erfrischend, kauen ist notwendig – habe dies Gefühl dass ich gerade eine Kuh bin, ich spüre dass das bittere Geschmack etwas gutes für meinen Körper ist (= hilfe für die Verdauung) – gutes Gefühl!, Dieses gute Gefühl hätte ich nicht mit der Soße gehabt.“ (Tischdecken Taktsinn IV)
Übertragen auf die oben beschriebene Situation, in der die Nudelsoße meiner Oma zum sperrigen Objekt wurde, kann hier der soziokulturelle Wandel eines Geschmacksmusters nachvollzogen werden. In einer von gesundheitlichen und ästhetischen Aspekten dominierten Küchenwelt findet eine Soße der Nachkriegsküche zumindest keine kulinarischen Anknüpfungspunkte, sondern funktioniert, wenn überhaupt, noch als (nostalgisches) Narrativ. Dies bestätigte auch eine Über-den-Tellerrand-Teilnehmerin in einem späteren Interview mit der Aussage, dass auch ihre Großmutter sehr gut gekocht habe und sie sich gerne an das Essen bei ihr erinnere, aber auch „so unglaublich ungesund, dass es definitiv kein Maßstab“ für sie sei (Interview Jana). Auch wenn die positive Wahrnehmung einer Speise oder eines Lebensmittels in der Gegenwart meistens nicht unmittelbar reproduziert werden kann – sei es über den Geschmack, die Konsistenz oder auch das Esserlebnis zum Beispiel beim Essen mit den Händen – ist mit dem Wiederaufrufen der kulinarischen Erinnerung ein emotionales Ereignis verbunden. Allerdings muss die Betonung dieser Komponente nicht nur zu positiven Emotionen führen. Das Wecken von Kindheitserinnerungen über Speisen und das Essen selbst kann auch auf einen Zustand verweisen, dem wir heute entwachsen sind. So wurde das Füttern und Gefüttertwerden beim zweiten Taktsinn-Dinner einerseits als Erlebnis wahrgenommen,
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andererseits aber auch als Zumutung, was in der Verweigerung einiger Teilnehmender gegenüber der Anweisung mündete. Im Sinne von Bourdieu wurden hierbei in Leib und Sprache gespeicherte Gefühle und Gedanken heraufbeschworen, indem der Leib in eine bestimmte Gesamthaltung gebracht wurde – in diesem Fall die des Gefüttertwerdens (Bourdieu 1982: 127f). Insbesondere zwei Teilnehmerinnen des zweiten Taktsinn-Dinners artikulierten in der Abschlussdiskussion, dass sie das Füttern und insbesondere das Gefüttertwerden als eine Überschreitung ihrer Privatsphäre empfunden hatten. Diese wird einerseits durch die Grenzen des eigenen Tellers bestimmt und zum anderen durch die Grenzen des eigenen Körpers, die beim Gefüttertwerden überschritten werden. Die beiden Teilnehmerinnen empfanden diesen Vorgang als Verlust ihrer Mündigkeit und Autonomie, welche sie in Relation zu einem in der Situation anwesenden Baby als nicht-kindlich beschreiben: „Anna: Ich finde, das ist ja das Interessante, dass es ja so gesellig ist, aber das Essen ist totale Privatsache. Frauke: Ja. Anna: Total. Und deshalb ist das so, man will nicht gefüttert werden. Frauke: Das Baby vielleicht, aber wir nicht. Anna: Ja, genau.“ (Diskussion Taktsinn II)
Wiederum andere Teilnehmende maßen dem Füttern kaum größere Bedeutung bei oder empfanden es sogar zumindest kurzzeitig als interessante Erfahrung. Die Spannung zwischen Zumutung und Erlebnis wurde auch für die Teilnehmenden der Deutungswerkstatt aus meinem Material spürbar. Das Sinnliche bzw. das leibliche Erleben wird in der Abschlussdiskussion des zweiten Taktsinn-Dinners als leer und vorgeschoben empfunden, wohingegen das (akademische) Sprechen über das Essen im Vordergrund stand. Neben der Betonung der diskursiven Ebene durch die Zusammensetzung der Teilnehmenden könnte eine weitere Erklärung in der persönlichen Ablehnung liegen, sich in diesem (akademischen) Setting zu öffnen und dabei die eigenen Emotionen preiszugeben. In diesem Konflikt zeigt sich darüber hinaus, dass über die Thematisierung von individuellen Erinnerungen, zum Beispiel anhand einer Nudelsoße, weniger das Kollektiv in den Vordergrund gestellt wird, sondern Einzelpersonen sich über die spezifische Erinnerung in Bezug zur Gruppe setzen. Sobald die Erinnerung von weiteren Personen oder der ganzen Gruppe geteilt wird, wird diese zu einem verbindenden Element. Dies geschah beispielsweise, als viele Teilnehmende des zweiten Taktsinn-Dinners die Töpfe erwähnten, in denen die Nudelsoßen zubereitet worden waren.
206 | Essen mit und als Methode
Mit Bezug auf die vorangegangenen Erläuterungen kann abschließend hinterfragt werden, ob das Erinnern über das Füttern tatsächlich nicht funktioniert hat oder ob Teilnehmende eventuell die evozierten Erinnerungen und Emotionen nicht mit der Gruppe teilen und vor sich selbst zulassen wollten. Dies kann jedoch nicht mittels der erhobenen Daten abschließend geklärt werden. Es ist allerdings deutlich geworden, dass Essen und Erinnern als parallel gedachte Tätigkeiten vermittelnde Prozesse sind, die zeitliche, räumliche und auch soziale Brücken schlagen können. Zentral hierfür sind Wahrnehmungen und verkörperte, Erinnerungen aktivierende Handlungen sowie Erzählungen, die diese in einem bestimmten materiellen Kontext vermitteln. Ephemere und feststoffliche Dinge wie Soßen, Gerüche und Lebensmittel können dabei sowohl zum Aktivieren wie auch zum Vermitteln von Erinnerungen beitragen, was wiederum an das Verständnis von Essen als Medium anschließt.
6.4
LEIB, PERFORMANZ UND RAUM IN DEN ATMOSPHÄREN DER ESS-SETTINGS
Auch wenn in den obigen Betrachtungen immer auch die Interaktion und die konkrete Umgebung für das Wahrnehmen und Spüren eine Rolle gespielt hat, soll an dieser Stelle zum einen gezielt das Zusammenwirken von eigener Wahrnehmung und (Inter-)Aktion betrachtet werden. Zum anderen lege ich im Folgenden den Fokus auf die affektive Wirkung dieser (Inter-)Aktion zu einer bestimmten Zeit in einem bestimmten Raum. Meist wird das Zusammenwirken der genannten Komponenten unter dem Begriff der Atmosphäre zusammengefasst, weshalb dieses hier als Raum, Zeit, Wahrnehmung und Umwelt organisierendes Konzept auf die konkreten Ess-Settings angewendet wird. Im Atmosphärischen lässt sich ein weiteres Spannungsfeld beschreiben, das dem Phänomen des kollektiven Essens innewohnt. Dieses Feld spannt sich einerseits auf zwischen der Singularität und Temporalität der jeweiligen Situation und andererseits der Normierung und (kulturellen) Reglementierung der Praxis des Essens. Dabei ist es wichtig, zwischen der diskursiven, alltagssprachlichen Verwendung von Atmosphärenbegriff und Atmosphärenkonzepten zu unterscheiden. In der ersten Verwendung geht es meist darum, einer als diffus wahrgenommenen Situation einen Namen zu geben und eine bestimmte Atmosphäre herzustellen. Die Reflexion der Verwendung des Atmosphärenbegriffs spielt nachfolgend eine zentrale Rolle, da sich in dieser Differenzierung Vorstellungen über das Zusammenwirken von Raum, Menschen und Dingen und deren Wahrnehmung zeigen. Zudem werden Erwartungen
6.4 Leib, Performanz und Raum in Atmosphären | 207
an das Erlebnis des Essens über die Beschreibung der Atmosphäre deutlich. In diesem Sinne geht es weniger um die Anwendung von Atmosphärenkonzepten, sondern vielmehr darum, das als Atmosphäre Wahrgenommene zu reflektieren. Bestehende Atmosphärenkonzepte dienen hierbei als analytische Perspektive. Trotz unterschiedlicher Auffassungen des Begriffs unter Wissenschaftler*innen und Mitforschenden im Feld ermöglicht der Begriff eine Auseinandersetzung über schwer greif- und verbalisierbare Situationen während der Forschung. Wenn zum Beispiel in Ästhetik, Kulturwissenschaften oder Architektursoziologie Atmosphären behandelt werden, steht vielmehr die Analyse von räumlich-situativen Interaktionen und Wahrnehmungen im Vordergrund. Diese theoretische, insbesondere durch die Phänomenologie geprägte Herangehensweise (vgl. Böhme 1995, Hauskeller 1995) dient nachstehend der Reflexion der Aussagen über Stimmungen und Atmosphären. Den meisten Atmosphärenkonzepten ist hierbei gemein, dass sie die Dauer der Atmosphären und der damit verbundenen Situationen begrenzen, was auch für alle Ess-Settings zutrifft und prägend ist. Darüber hinaus hängen Erzeugung und Wahrnehmung von Atmosphären wechselseitig zusammen und sind somit etwas, was sich zwischen wahrnehmendem Subjekt und außen liegendem Objekt aufspannt. In unterschiedlichen Konzepten liegen auch die Schwerpunkte auf unterschiedlichen Atmosphärenaspekten. Das können zum Beispiel die den Akteur*innen und Situationen zugrunde liegenden bzw. zugeschriebenen sozialen und kulturellen Hintergründe sein (vgl. Braun 2011: 14), oder der Fokus liegt auf der das Subjekt affizierenden materiellen Qualität der Umgebung (Schmitt 2012, Göbel/Prinz 2015). Michael Hauskeller betont, dass dabei die Ursprünge einer Atmosphäre nicht zwingend in dem sie wahrnehmenden Subjekt liegen müssen. So kann ich die emotionale Stimmung anderer Personen wie Wut oder Trauer als atmosphärisch wahrnehmen, muss diese jedoch nicht selbst teilen, bin also nicht leiblich affiziert von ihr (vgl. Hauskeller 1995: 25, Gugutzer 2014: 77). Es wird allerdings in allen Definitionen davon ausgegangen, dass Atmosphären nicht auf einen Einzelaspekt reduziert werden dürfen, sondern immer im Zusammenspiel vielfältiger Faktoren entstehen. In den untersuchten Ess-Settings wurden Atmosphären insbesondere in Bezug auf die Planung/Ankündigung oder die rückschauende Zusammenfassung der Situationen beschrieben, meist als Antwort auf die konkrete Frage nach der Atmosphäre. Wird die Atmosphäre bereits vor der Veranstaltung erwähnt, geschieht dies meist in dem Sinne, dass mit oder in einer Atmosphäre etwas gefördert oder ermöglicht werden soll und dadurch auch die Erwartungen
▶ Kap. 8.3 Verbindungen
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der Veranstaltenden ausgedrückt werden. Dabei wird die Vorstellung dieser Atmosphäre auch vorab schon mit der konkreten Situation des Essens verknüpft. So erwiderten die Initiatorinnen einer Mahlzeitenreihe namens „Dishcourse“41 in einem Interview auf die Frage nach der Rolle des Essens, dass dieses „an den Abenden eine natürliche, gesellige, informelle, kollektive und Sinnlichkeit stiftende Atmosphäre schaffen“ (Emailinterview A.P.) soll. Und in der Ankündigung eines Soli-Dinners für die Geflüchtete Fatuma heißt es: „Der Abend soll eine Plattform bieten, sich in ausgelassener Atmosphäre über Themen der Flüchtlingsrealität auszutauschen und gleichzeitig einen Beitrag zu leisten, der Fatuma dieselbe Freiheit ermöglicht, die für uns wie selbstverständlich erscheint.“ (Feldnotiz Soli-Dinner Fatuma). Geben die Teilnehmenden nach dem Essen Auskunft über ihre Wahrnehmung einer Atmosphäre, lassen sich diese Äußerungen relativ eindeutig den oben angeführten drei Aspekten von Atmosphären(-beschreibungen) zuordnen: Erstens dem Außen bzw. der materiellen Umgebung („warm“, „sonnig“, „dämmrig“), zweitens der Interaktion („offen“, „gelassen“, „neugierig“, „respektvoll“) und drittens der inneren Einstellung bzw. Wahrnehmung („gelassen“, „anregend“, „konzentriert“, „entspannt“) (Feedback Taktsinn I). So eindeutig es damit erscheint, dass eine Atmosphäre sich aus diesen drei Kernbereichen zusammensetzt, desto uneindeutiger ist die Zugehörigkeit zu den einzelnen Kategorien. So kann die Architektur eines Raumes offen sein, aber auch die Qualität des Miteinanders oder eben die eigene Einstellung und Wahrnehmung der Situation. Daher stehen im Folgenden nicht die Atmosphären selbst im Vordergrund, sondern die Frage, was sich an diesem Gefüge, das aus der leiblichen Perspektive als Atmosphäre wahrgenommen und benannt wird, zeigen lässt und warum. Leib und Atmosphäre Häufig wird etwas als Atmosphäre beschrieben, was sich mit messbaren Kriterien kaum umfassend greifen lässt und maßgeblich über bloße Zustandsbeschreibungen hinausgeht. So erwähnte eine Teilnehmerin der Abschlussdiskussion des vierten Taktsinn-Dinners, dass sie von Altersheimen gehört habe, in denen die Speiseräume so gestaltet werden, dass eine „Atmosphäre wie früher“ entsteht. 41 Bei den interdisziplinären „Dishcourse Dinner Talks“ wurden Akteur*innen mit unterschiedlicher Expertise zu einem bestimmten Thema oder Raum in eine private Küche eingeladen und diskutierten darüber während eines gemeinsamen Essens. http://edu.konstfack.se/ organisingdiscourse/dishcourse (letzter Abruf: 10.01.2021)
6.4 Leib, Performanz und Raum in Atmosphären | 209
Hier wird deutlich, dass es vermutlich nicht ausreicht, nur die Möblierung und Wandfarbe zu verändern, es wird ein ‚Mehr‘ benötigt, um eine solche Atmosphäre entstehen zu lassen. Somit sind Atmosphären und insbesondere deren Beschreibungen immer auch Konstruktionen von Bedeutung, wie Michael Hauskeller beschreibt: „Allgemein ist Atmosphäre in allen Sinnesbereichen dasjenige am Wahrnehmungsgegenstand, was nicht Gegenstand ist, sondern Bedeutung. Wie die Welt für uns ist, d. h. welcher Art unsere Beziehung zu ihr in jedem einzelnen Moment ist und wie wir uns in ihr befinden, erfahren wir nicht gegenständlich, sondern atmosphärisch.“ (Hauskeller 1995: 101)
Bei der Befragung der Teilnehmenden des ersten Taktsinn-Dinners ergab sich zudem, dass Atmosphären eher ein fließender, gleichförmiger Charakter zugeschrieben wird und dass starke Unterschiede in Emotionen und Abläufen bzw. deren Wahrnehmung eine Atmosphäre stören können. So beschrieben viele der Befragten, dass der Wechsel zwischen entspanntem und geselligem Essen und dem konzentriert-gespannten Zuhören während der Vorträge sie herausgefordert habe. Entweder schweiften sie beim Versuch, die Atmosphäre des Abends zu beschreiben, zu anderen Themen ab oder brachen mit dem Hinweis ab, dass sie dies nicht in Worte bzw. „in eine Atmosphäre packen“ könnten (vgl. Auswertung Taktsinn I). Hierbei schwingt mit, dass durch das konstruierte Setting des Forschungsdinners der erwartete atmosphärische Charakter eines Dinners bzw. einer Vortragsveranstaltung gestört wurde. Gugutzer beschreibt, dass aus neophänomenologischer Sicht jede soziale Situation – sei es eine wissenschaftliche Tagung oder ein privates Zusammentreffen in einer Küche – eine spezifische atmosphärische Stimmung besitzt. So affiziere die Atmosphäre einer jeden singulären Situation „die Anwesenden auf irgendeine Weise leiblich […]“ (Gugutzer 2014: 78). Dabei bezieht Gugutzer sich auf Hartmut Böhme und Elisabeth Ströker, die Atmosphären als „gestimmte Räume“ bezeichnen (vgl. ebd.). Entscheidend für „gestimmte Räume“ ist unter anderem, dass Wissen über soziale Situationen in der Regel als vorbewusste leibliche Praxis angeeignet wird. „Atmosphärisches Verstehen ist so gesehen das leiblich praktische Vermögen, die Anforderungen – den Sinn – einer sozialen Situation vorreflexiv zu erkennen und situationsangemessen zu handeln.“ (ebd.: 81). So verbanden die Teilnehmenden des ersten Taktsinn-Dinners ihre Schwierigkeiten im Umgang mit dem Wechsel von formal zu privat nicht nur mit den Erwartungen an die Situation, sondern auch mit ihren Ansprüchen an die eigene Rolle und Funktion. Eine Teilnehmerin berichtete beispielsweise im anschließenden Bar-Inter-
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▶ Kap. 3.2 Konzepte sinnlichleiblicher Wahrnehmung
view, dass sie aufgrund des Wechsels zwischen formellen Vorträgen und gelöstem Essen ihren Forschergestus nicht habe beibehalten können (vgl. Nadja in Auswertung Taktsinn I). Im Konzept des atmosphärischen Verstehens kommen hier der neophänomenologische Atmosphären-Begriff und die Idee des Habitus nach Bourdieu zusammen. Auch Monique Scheer stellt in ihren Emotionspraktiken diese Verbindung her und merkt dabei an, „dass Atmosphären und andere Mobilisierungspraktiken nicht automatisch auf jeden wirken und schon gar nicht in der gleichen Weise, sondern mit vorbereiteten Körpern interagieren“ (Scheer 2016: 31). Von vorbereiteten Körpern (oder in diesem Fall Leib/körpern) kann dann die Rede sein, wenn die Teilnehmenden nicht nur rationales Wissen über die Situation und deren grundlegende Abläufe haben, sondern dieses Wissen darüber hinaus als leibliches Wissen verinnerlicht haben, welches ihnen ein atmosphärisches Verstehen ermöglicht, das als intuitives oder automatisiertes Verstehen und Handeln erlebt wird. Es handelt sich hierbei jedoch nicht nur um einseitiges Verstehen oder Wahrnehmen, sondern vielmehr um einen leiblich angeleiteten Kommunikationsprozess mit menschlichen oder nicht-menschlichen Akteur*innen. In dem dabei entstehenden atmosphärischen Raum verhalten sich die anwesenden Subjekte zu eben diesem, indem sie sich ihm einerseits preisgeben, also den Dynamiken der Situation folgen, oder andererseits in den Widerstand zu ihm treten und dementsprechend aus dem „flow“ der Situation aussteigen (vgl. Schmitz 1992: 22, nach Gugutzer 2014: 79f). Improvisation Die Art des Handelns in diesem Spannungsfeld zwischen Preisgabe und Widerstand (vgl. ebd.) kann als Improvisation beschrieben werden. Hierbei gibt es ein Oszillieren zwischen dem Rückgriff auf Bekanntes und Eingeübtes, das im Leibgedächtnis gespeichert ist, und dem Gestalten und Schaffen einer (neuen) Situation. Christopher Dell beschreibt dies als „konstruktive[n] Umgang mit Unordnung in der Gemeinschaft“ (Dell 2016: 317). Dabei handelt es sich nicht um ein bloßes Geschehenlassen, sondern um die subtile Nutzung von Struktur und Koordination, wobei die Handlungen selbst Struktur miterzeugen (ebd.: 316). Gewinnt eine der beiden Seiten (Struktur oder Offenheit) die Überhand, kann es zu Störungen oder zum Scheitern der Improvisation und ggf. der gesamten Situation kommen. Dabei erzeugt Improvisation Mehrdeutigkeiten, welche als Mehrwert für die jeweilige Situation anzunehmen sind. Hier wird der Handlungsspielraum insofern erweitert, als dass der Rahmen und die zugrunde liegenden Strukturen und Regeln (die bekannt
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sein müssen) in dieser Situation (temporär) erweitert werden können. Bei den Ess-Settings geschah dies beispielsweise mit dem Alltagswissen über das Essen und Kochen, das u.a. durch unbekannte Zubereitungsweisen oder Lebensmittel sowie durch ungewöhnliche Handlungsanweisungen wie schweigendes Essen oder gegenseitiges Füttern herausgefordert wurde. Der Improvisation liegt dabei ein Lernprozess zu Grunde, der es ermöglicht, in der gleichen oder in ähnlichen Situationen schneller/besser mit der dort gegebenen Offenheit und Struktur umzugehen. Inwiefern die bewusste Ungeplantheit bestimmter Elemente einen Mehrwert erzeugen kann, zeigte sich beim ersten Taktsinn-Dinner insbesondere an der Atmosphäre. So wurde der relativ rohe bauliche Zustand der Universität der Nachbarschaften nur mit den nötigsten und vor Ort vorhandenen Komponenten wie Tischen, Stühlen und Geschirr ausgestattet. Auf eine aufwändige Ausleuchtung des Raumes wurde verzichtet und nur blau leuchtende Scheinwerfer in den Ecken des Raumes sowie Kerzen auf dem Tisch platziert. Dadurch entwickelte sich das Dinner mit abnehmendem Tageslicht ungeplant fast zu einem Dinner im Dunkeln und es herrschte, wie eine Referentin es am Ende zusammenfasste, „leises Licht“ am späteren Abend. Die Rohheit des Raumes wurde im Nachhinein von einer Teilnehmerin positiv beschrieben als „ungestylt“ im Sinne eines Belassen des Ortes und einer Gelassenheit beim Veranstaltungsablauf (Auswertung Taktsinn I). In diesem Sinne gab es durch den „rohen“ Ort keine Aufforderung, die gestalterische Lücke bereits in der Vorbereitung zu füllen, sie wurde bewusst offen gelassen. Ein von vornherein mit einer stärkeren „Gestyltheit“ in Verbindung gebrachter Ort – wie zum Beispiel ein als solcher ausgewiesener Festsaal – hätte womöglich beim Belassen in einem „roheren“ Zustand zu Irritationen geführt. Die Nutzung oder Inszenierung von Ungeplantheit kann sich jedoch auch negativ auswirken, wenn zum Beispiel Abläufe länger dauern und die Teilnehmenden dadurch Hunger verspüren. Hier kommt der Leib dem Setting gewissermaßen in die Quere. Dabei muss die Variante der widerständigen Haltung nicht zwingend negativ sein, zum Beispiel im Sinne einer Verweigerung. So kann das bewusste Nutzen von und Brechen mit Bewegungsund Handlungsmustern auch als erkenntnisstiftend genutzt werden, wie es in der folgenden Beschreibung eines Universität-der-Nachbarschaften-Dinners dargestellt wird: „Setting the scene every Wednesday we influence movement patterns and interaction with the setting of tables, bar, kitchen and reception. Last week’s dinner introduced an exhibition and so added a situation calling for interaction with the current status of the project. This led in some cases also to
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discussions and further interest in the project. However, most elements of previous dinners expected guests to behave a certain, often memorized way. As an example: look at chairs grouped around a table. You know how to behave in this situation because it’s familiar. Therefore interaction happens in a quite established manner. In order to mix things up and with that give people an idea about their idea of space, we built a structure out of our IBA scaffolding. People will find various options of using the structure. The question of how to use it, and not this question’s answer, is the core of our everyday life.“ (Bauer et al. 2013)
Ben Anderson beschreibt dieses In-Beziehung-treten nach dem Prinzip eines Puzzles, bei dem die einzelnen Teile zusammenpassen müssen, um eine Atmosphäre entstehen zu lassen. Atmosphären werden durch die wahrnehmenden Subjekte vervollständigt, indem sie sich mit – in diesem Fall ästhetischen – Objekten verbinden. Die Atmosphäre entsteht allerdings nur dann, wenn das wahrnehmende Subjekt offen für die von den Dingen ausgehenden Anteile ist, dass also die Schnittstelle zur Wahrnehmung der Atmosphäre in diesem Setting gewissermaßen aktiviert ist (vgl. Anderson 2009: 79). Dies ist auch bei Anderson einem dynamischen Prozess unterworfen: „On the one hand, atmospheres require completion by the subjects that ‚apprehend‘ them. They belong to the perceiving subject. On the other hand, atmospheres ‚emanate‘ from the ensemble of elements that make up the aesthetic object. They belong to the aesthetic object. Atmospheres are, on this account, always in the process of emerging and transforming. They are always being taken up and reworked in lived experience – becoming part of feelings and emotions that may themselves become elements within other atmospheres.“ (Ebd.)
Verbindet sich die wahrnehmende Person mit dieser Atmosphäre und nimmt sich somit als Teil dieser Situation wahr, verbindet sie sich dementsprechend auch mit den in dieser Situation teilhabenden anderen Personen. Aus diesen als geglückt wahrgenommenen Verbindungen resultiert in den meisten Fällen ein Gefühl von Teilhabe und Kooperation in der betreffenden Situation, an der sowohl die Personen selbst als auch das Essen mitwirken. Das Essen kann dabei einerseits bewusst eingesetzt und auch zum Thema werden, wie Frauke in der Abschlussdiskussion des zweiten Taktsinn-Dinners beschreibt: „Frauke: Aber das ist für mich son Alltagsding. Du hast mich letztens gefragt, was für mich gutes Essen ausmacht (zu Anton). Wir waren essen in einem Restaurant und da hat er mich gefragt und da hab ich ja auch genauso geantwortet. Dass es für mich dabei um die Beziehungen zu den Menschen
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geht und nicht um das Essen selbst. Für mich ist das ein Vehikel.“ (Diskussion Taktsinn II)
Anton betont daraufhin eher das situative, atmosphärische Verbindungspotential, wenn er die Veränderung des Zustands der Essenden bei einer Mahlzeit hervorhebt: „Anton: […] Ich geh' halt auf gutes Essen ab. Und damit kannst du ne Gemeinschaft erzeugen. Und, hast du ja gesehen, du kommst in völlig andere Situationszustände beim Essen. Also wer sagt denn, dieses Essen und nicht Reden, ist doch Quatsch. Vor allem beim Essen reden, vor allem betrunken reden. Das Trinken gehört für mich auch eigentlich immer dazu.“ (Diskussion Taktsinn II)
Beide gehen allerdings auf das gemeinschaftsbildende Potential des Essens ein, das hier einen wichtigen Beitrag zur Ganzheit der Atmosphäre leistet. Glückt dieses Verbinden und Teilwerden nicht, kann es zu Widerständen kommen, welche im Folgenden thematisiert werden. Widerstände Im Hinblick auf das Vorhaben, Atmosphären zu produzieren, zu ermöglichen oder zu manipulieren bedeutet das, dass dies letztlich nur dann funktionieren kann, wenn die Schnittstellen der wahrnehmenden Subjekte aktiviert und somit offen für die Atmosphäre sind. Dabei muss insbesondere dem Widerstand keine bewusste rationale Entscheidung zugrunde liegen, es kann zum Beispiel bei Hunger oder Müdigkeit zu einem leiblich-physiologischen Widerstand kommen. Dieser äußert sich eventuell dadurch, dass die Anwesenden weniger oder gar nicht mehr am Setting mitwirken. Zu beobachten waren solche Widerstände im Verlauf des Diskursiven Dinners im Küchenmonument, bei dem sich nach und nach immer weniger Gäste an der Diskussion beteiligten. Dem lag vermutlich ein Zusammenspiel verschiedener Faktoren zugrunde, die allesamt eher auf der leiblich-physiologischen Ebene zu verorten waren: So dauerte das Kochen und somit das Essen länger als im Zeitplan vorgesehen. Gleichzeitig wurde es aufgrund der untergehenden Sonne immer dunkler und auch kälter. Damit kann davon ausgegangen werden, dass Hunger, Müdigkeit und Kältegefühl einen maßgeblichen Anteil an der schwindenden Beteiligung hatten. Widerstände auf der affektiv-leiblichen Ebene durch eher außerhalb des Leiblichen liegende Faktoren konnten beim Olympia Gastmahl beobachtet werden. Hier gab es eine latente, aber vage Thematisierung der Zugehörigkeit der einzelnen Teilnehmenden
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zum (Hamburger) Kulturbetrieb und -diskurs, was den Ablauf und die Atmosphäre des Abends beeinflusste. Es entstanden in den Gesprächen immer wieder Verbindungen zwischen einzelnen Teilnehmenden, die dann durch ihre Präsenz und insbesondere Gesprächsanteile die Atmosphäre bestimmten. Die Spannung, die alle Beteiligten durch den Abend hindurch begleitete bzw. begleiten sollte, riss jedoch immer wieder ab. Bei der Besprechung der Feldnotiz zu diesem Abend in der Deutungswerkstatt dominierte der Eindruck des Nicht-Verstehens. Das betraf zum einen das Format und den Ablauf und zum anderen die Zusammensetzung der Teilnehmenden. Bereits in der Vorstellungsrunde war ich irritiert darüber, dass alle Beteiligten ihren Bezug zum Hamburger Kulturbetrieb angaben, welcher meist mit der Beziehungsqualität zum Kurator Jan Holtmann korrelierte. Die persönliche Vorstellung der Teilnehmenden beinhaltete in dieser Situation mehr als eine Einordnung in den Hamburger Kulturbetrieb, sie wurde eher Teil einer habituell geprägten Selbstpräsentation der Anwesenden. All diejenigen, die einen deutlichen Bezug zu Jan Holtmann und zum Kulturbetrieb angaben, waren auch deutlich an der Interaktion an diesem Abend beteiligt. In meiner Feldnotiz tauchen sie mit ihren bürgerlichen Namen auf. Alle anderen Teilnehmenden fanden (für mich) kaum statt und tauchen in der Feldnotiz nur in funktionalen Bezeichnungen auf (zum Beispiel als „der Arzt“ oder „die Begleitung vom Arzt“). Die habituelle Komponente wird durch eine Unterhaltung über das Getränk Club Mate noch einmal verdeutlicht. So probierte zum Beispiel die Begleiterin des Arztes an diesem Abend Club Mate zum ersten Mal. Der Bezug zu einer Limonade auf Mateteebasis, das überwiegend mit Hacker-, Aktivismus- und Technokreisen in Verbindung gebracht wird (vgl. Ganz et al. 2011), deckt sich mit dem angegebenen Kulturbezug: Die Personen, die Club Mate nicht kannten, hatten sich auch selbst als kulturfern bezeichnet. Dieser Übergang zwischen den beiden Polen Preisgabe und Widerstand (Schmitz 1992: 22) bestimmt also die Dynamik und die Dichte der Atmosphäre. Im Gegensatz zu den vorab genannten Beispielen der fehlenden Schnittstellen und des (leiblichen) Widerstands bleibt diese Atmosphäre bei einer großen Übereinstimmung und überwiegender Hingabe der Beteiligten vorerst stabil und wird als intensiv empfunden. Ein solcher Moment einer dichten Atmosphäre entstand an einem Über-den-Tellerrand-Abend, als viele der Teilnehmenden dem für das Rezept Verantwortlichen gebannt beim Anrichten seines Gerichts zusahen: „Als Makar das Brot in der Schale anrichtet, das Gericht darauf verteilt und mit Petersilie garniert, wird es ganz ruhig. Alle stehen um ihn in der Küche herum und schauen zu. Irgendwann blickt Makar auf und fängt an zu lachen.
6.4 Leib, Performanz und Raum in Atmosphären | 215
Daraufhin lachen auch alle anderen, da sie merken, wie fixiert sie auf Makar und seine Vorbereitungen waren.“ (Feldnotiz 4. ÜdT-Abend)
In der beschriebenen Situation vertieften sich die Anwesenden für einen bestimmten Zeitraum in das interessierte Miterleben und Betrachten eines Arbeitsschritts beim Anrichten. Als die betrachtete Praktik unterbrochen und das Erlebte zu einer reflektierten Handlung wurde, veränderte sich die Wahrnehmung von der kollektiven, aber dennoch subjektiven Vertiefung hin zu einem gemeinschaftlich erlebten Moment der Kommunikation und Gruppenbildung. Verbindungen Die beschriebene Dynamik von Atmosphären basiert auf eben dieser leiblichen Kommunikation zwischen nach innen gerichtetem Erleben und nach außen gerichtetem Handeln. Innerhalb dieser Situation leiblich-affektiver Betroffenheit ist die Differenz zwischen Wahrnehmungsobjekt und -subjekt zeitweise aufgehoben und es entsteht eine Ganzheit (vgl. Anderson), die als Atmosphäre bezeichnet werden kann, wie Gugutzer beschreibt: „Gerät man in eine Situation, die einen gefangen nimmt, die einen spürbar bewegt, fesselt, fasziniert, mitreißt, einem nahe geht, kurz: die eine suggestive Kraft ausübt, dann entsteht wie Schmitz sagt, ‚ad hoc ein übergreifender Leib‘. […] Der eigene Leib und die Körper der Umwelt verschmelzen zu einer spürbaren Ganzheit.“ (Gugutzer 2014: 59)
Die Qualität von Atmosphären als synthetisierende Situationen hängt nach Michael Hauskeller von dem vorwiegend angesprochenen Sinnesorgan ab, denn die verschiedenen Sinne nehmen Gegenständliches unterschiedlich stark wahr. So werden beim Hören und Sehen zuallererst Fixpunkte im Raum wie Dinge, Landschaften oder Geräuschquellen identifiziert und somit der Fokus nach außen gerichtet. Durch Riechen und Schmecken sind keine Gegenstände oder Richtungen erfahrbar, da es sich bei Nase und Zunge nicht um doppelte Sinnesorgane handelt. Beim Riechen kann durch die Bewegung im Raum noch einer Geruchsquelle nachgegangen werden, das Schmecken hingegen funktioniert komplett ohne direkten räumlichen Bezug und überbrückt vereinnahmend das Auseinander von Ich und Welt (vgl. Hauskeller1995: 89). Die Bilder und Gegenstände, die beim Schmecken und Riechen produziert werden, sind zu einem großen Teil und untrennbar mit der Innenwelt der wahrnehmenden Person verbunden. Das ist auch ein Grund, warum diesen Sinnen besondere Qualitäten in der Erzeugung von Atmosphären und dem Evozieren von Erinnerungen
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zugeschrieben werden. Zeit spielt für das Wahrnehmen und Wirken von Gerüchen in Atmosphären eine wichtige Rolle, da sie ephemer und damit temporär sind. Es kann aber davon ausgegangen werden, dass diese nach ihrer Wahrnehmung gewissermaßen in eine andere Form wie beispielsweise ein Gefühl und/oder eine Veränderung der Situationsdynamik transformiert werden. Douglas Porteous beschreibt dies in seiner Konzeption von „smellscapes“ als Gewöhnungseffekt und zieht als Beispiel den Geruch von Wohnräumen heran: „The perceived intensity of a smell declines rapidly after one has been exposed to it for some time. Not that the smell disappears, but the perceiver becomes habituated to it […]. In everyday terms, one’s house has a characteristic smell readily perceived by visitors but apparent to the occupant after having been away from home for some time.“ (Porteous 1990: 23)
Dabei kann davon ausgegangen werden, dass gewohnte Gerüche im Hintergrund unbewusst wirken und somit Sicherheit geben. Ungewohnte Gerüche hingegen werden tendenziell eher als alarmierend oder unangenehm wahrgenommen. Dies kann insbesondere beim Kochen mit unbekannten Zutaten oder bei ungewohnten Zubereitungsweisen zu Momenten der Irritation führen, wie sich auch an einem der Über-den-Tellerrand-Kochabende zeigte: „Was interessant war, war, dass die Gerüche immer wieder gewechselt haben. Manchmal schienen die Gäste die Gerüche nicht so lecker zu finden. Einer der Gerüche war für mich der eines nassen Hundes (evtl. als der Kohl angebraten wurde?). Die Gerüche konnte man auch außerhalb der Küche wahrnehmen.“ (Feldnotiz 4. ÜdT-Abend)
Im Hinblick auf die Intention der Über-den-Tellerrand-Settings, welche ganz allgemein das Zusammenbringen von untereinander unbekannten Menschen war, ist jeder hier beim Kochen entstehende Geruch ein Verbindungsangebot auf der leiblichen Ebene, das von den wahrnehmenden Personen aufgenommen werden kann. Dies trifft insbesondere dann zu, wenn das zubereitete Gericht nationale und/oder persönliche Konnotationen trägt, wie es zum Beispiel bei landestypischen Gerichten oder Lieblingsspeisen aus der Kindheit der Fall ist. Das Verbindungsangebot kann dabei durchaus auch herausfordern, wenn die Gerüche und Geschmäcker fremd sind und (zumindest vorerst) nicht in uns bekannte Geschmacksmuster passen, wie im obigen Beispiel mit dem Geruch nach „nassem Hund“ angedeutet wurde.
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Zusammenfassend kann die Rolle des Geruchs und des Riechens also als eine Praktik des Dazwischens und auch als eine Praktik der Verbindung beschrieben werden. Gerüche überbrücken zeitliche Unterschiede, indem sie den Zugang zu zurückliegenden Erfahrungen und den damit verbundenen Erinnerungen möglich machen. Indem Gerüche von der Geruchsquelle diffundieren und Räume erfüllen, wird zum Beispiel das Erleben einer Speise bereits auf Distanz zumindest zu einem Teil möglich. Geschmackswahrnehmungen sind dagegen nach innen gerichtet und nehmen bei der Verortung in Raum und Zeit eine untergeordnete Rolle ein. Spürbar wurde die Verbindung von Geschmack, Geruch, Essen und Innenwelt, wenn zu Beginn des Essens in den Settings die Unterhaltungen deutlich leiser wurden oder teilweise für einen Moment ganz verstummten. Dieses Abschwellen der akustischen Reize hatte wiederum Einfluss auf die Dynamik und die Atmosphäre. Teilweise war die Vertiefung in die Wahrnehmung des Essens oder auch der Hunger zumindest für einen kurzen Augenblick so stark, dass die Stille noch für einen Moment bestehen blieb. Die Stille rief bei den Teilnehmenden öfter Verunsicherung hervor, und auf diese Verunsicherung wurde reagiert, indem die Gespräche wieder aufgenommen wurden. Somit war die Atmosphäre insbesondere bei Settings, in denen gekocht und gegessen wurde, durch einen Wechsel des jeweiligen Fokus nach innen bzw. nach außen geprägt. Das Reagieren auf eine allzu große Stille kann in diesem Zusammenhang als eine Form von Re-kollektivierung der Situation gedeutet werden, indem die wahrnehmenden Leiber wieder zu kommunizierenden Körpern wurden. Das heißt jedoch nicht, dass in der Stille wahrnehmender, schmeckender Leiber keine kollektive Atmosphäre herrschen kann. Wenn das schmeckende In-sich-Gehen als kollektive Handlung kommuniziert und angenommen wurde, wurde dies durchaus – zumindest für einen kurzen Moment – als kollektives, verbindendes Erlebnis wahrgenommen. Raum und Atmosphäre Ablauf und Wahrnehmung des Essens werden maßgeblich durch die räumliche Umgebung der jeweiligen Ess-Situationen beeinflusst. Sowohl die Architektur und räumliche Ausstattung als auch Faktoren wie Licht, Wissen über den Ort, Materialien, Temperatur oder Gerüche tragen zum Gesamterlebnis bei. Diese Erkenntnis wird u. a. in der Altenpflege angewendet, um beispielsweise Demenzkranke durch gezielte Raumgestaltung zum Essen anzuregen. Dies kann zum einen über eine Möblierung geschehen, die sich an früheren Zeiten orientiert, zum anderen wird immer wieder auch der soziale Aspekt des Essens betont und für das Essen in Gemeinschaft
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plädiert (vgl. Schönberger 2005: 40). Letztlich handelt es sich jedoch immer um ein Zusammenwirken von leiblicher, materieller und sozialer Ebene. Dabei gibt es Räume, die Kollektivität in besonderer Weise ermöglichen, was sich besonders am Über-den-Tellerrand-Setting in den Hamburg-Wilhelmsburger Zinnwerken zeigen lässt. Das Projekt startete im Gemeindehaus der Kreuzkirche in Kirchdorf-Süd. Hier war die kleine, etwa 16m² große Küche vom Gemeindesaal, in dem gegessen wurde, durch einen Flur getrennt. Es war somit nicht möglich, dass alle Teilnehmenden gemeinsam in der Küche Essen vor- und zubereiten, ein Teil der Anwesenden musste beispielweise für das Schneiden von Gemüse auf den Gemeindesaal ausweichen. Somit waren insbesondere die am Herd stehenden Personen von den anderen Gästen getrennt, was sich auch in der Atmosphäre des Abends niederschlug. Die gewünschte Begegnung zwischen den Anwesenden und den Köchen Gebre und Amare fand an diesem Abend so gut wie gar nicht statt, da die beiden beim Kochen räumlich ‚abgeschnitten‘ waren. Das Kochen war hier auch aufgrund der Trennung von Küche und Ess- bzw. Aufenthaltsraum weniger ein kollektiver Prozess. Ein ähnliches Problem wurde auch für das Restaurant in der Universität der Nachbarschaft beschrieben. Hier waren Bar, EssTische, Empfangsbereich und Küche an den Restaurantabenden unterschiedlich angeordnet, schließlich wurden Bar und Ess-Bereich im Hauptraum des Gebäudes zusammengelegt. Damit verbunden war die Vorstellung, eine Atmosphäre zu schaffen, die sich räumlich konzentriert. „The decision to place the bar in the big room was made, because the last dinners there was a certain border between both the kitchen and the restaurant area. This we wanted to avoid this in creating one atmosphere in one room that includes the bar and the sitting and eating area.“ (Bauer et al. 2013)
Interessant ist in diesem Zitat die Verwendung des AtmosphärenBegriffs. Die hier zu gestaltende Atmosphäre wird als Lösungsentwurf zu der zu überwindenden Grenze zwischen Küche und Restaurant formuliert. Dabei stellen beide, sowohl die Grenze als auch die Atmosphäre, Konzepte dar, die über rein baulich-materielle Aspekte hinausweisen. Die Grenze wird nicht genauer lokalisiert oder spezifiziert, sondern als „certain border“ beschrieben, die zwar klar vorhanden, aber vor allem als gefühlte Grenze verstanden werden kann. Auch die hier formulierte Idee von Atmosphäre weist über die räumlichen Veränderungen hinaus. So entsteht der Eindruck, dass zuerst eine an den Raum gebundene Atmosphäre geschaffen wird, in der dann quasi automatisch Bar- und Ess-Bereich verschmelzen.
6.4 Leib, Performanz und Raum in Atmosphären | 219
Ob und inwiefern dies geschieht und beispielsweise durch die Handlungen der Anwesenden vollzogen wird/wurde, bleibt in der Dokumentation, aus der das Zitat stammt, vage. Somit erscheint die Verwendung des Atmosphären-Begriffs und schärfer definierbarer Begriffe wie dem des Raumkonzepts als eine Reaktion auf diese wahrgenommene und schwer formulierbare Unklarheit. Auch beim Über-den-Tellerrand-Setting gab es Raumkonflikte, die sich jedoch erst im Nachhinein zeigten. Sie wurden für unsere Organisationsgruppe erst formulier- und verstehbar, nachdem wir mit dem Projekt in das so genannte Oberstübchen der Zinnwerke im Wilhelmsburger Reiherstiegviertel umgezogen waren. Hier fanden Kochen und Essen in einem großen Raum statt, der unter der Woche als Co-Working-Space genutzt wurde. Die Küche war offen gestaltet und wurde nur durch eine von zwei Seiten nutzbare Kücheninsel mit Arbeitsflächen vom Arbeits- bzw. Ess-Bereich getrennt. Die Kücheninsel ordnete alle dort Anwesenden so an, dass sie sich anblicken können. Häufig standen diejenigen, die das zu kochende Gericht verantworten, auf der Herdseite und die Helfenden auf der anderen Seite. Darüber hinaus bot die Kücheninsel Halt und einen Fokus, da hier die Arbeit geschah und sich die Lebensmittel und Küchengeräte befanden. Sie war somit ein Anziehungspunkt und bildete etwa zwei Stunden lang den räumlichen Mittelpunkt des Zusammentreffens. Am Herd stehend konnte der restliche Raum eingesehen und vom Raum zur Kochinsel geblickt werden. Dadurch war die Situation leicht zu überblicken, was den Anwesenden beim Agieren im Raum Sicherheit gab. Hinzu kam, dass der Raum u. a. durch dort arbeitende Personen wohnlich gestaltet wurde und mit einem Mix aus Second Hand- und Designmöbeln somit zum Verweilen einlud. Die Ausstattung der einzelnen Schreibtische im Raum und die Wandgestaltung durch Plakate und Malereien an einer Schultafel gegenüber der Kücheninsel verwiesen auf die Nutzung durch die Coworking-Nutzenden und ließen diese trotz Abwesenheit anwesend wirken. Dabei unterlag der Raum auch durch die Nutzung durch unsere Über-den-TellerrandGruppe ständig kleineren und größeren Veränderungen, welche den Raum mit Erinnerungen und Bedeutungen aufluden. Verglichen mit den Settings anderer Über-den-Tellerrand-Gruppen in Hamburg, die u. a. in Schulküchen kochen und essen, ist hier durchaus eine Weiterentwicklung des Raumes angelegt und gewünscht, wohingegen beispielsweise eine Schulküche immer wieder in ihren sauberen und funktionalen Grundzustand gebracht werden muss. Dadurch hat der Raum in den Zinnwerken eine besondere, wohnliche Qualität. Zusammenfassend können die räumlichen Bedingungen für das Schaffen einer (temporären) Gemeinschaft in den Zinnwerken also als günstig beschrieben werden.
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Diese Offenheit in Nutzung und Gestaltung des Oberstübchens ergab sich auch aus der Situation der Zinnwerke, die offiziell nur temporär von der städtischen Verwaltungsgesellschaft Sprinkenhof gemietet und genutzt wurden. Die Zinnwerke und somit auch der von uns genutzte Raum befanden und befinden sich einem andauernden Transformationsprozess. So begann zur Zeit meiner Forschung die inoffizielle Nutzung der Nebenräume als temporärer Wohnraum zu verschwinden. Die Bewohner*innen teilten sich die Küche und Toiletten mit den dort arbeitenden Personen und somit auch mit uns. Sie übernahmen dabei auch teilweise Aufgaben wie die, uns die Tür zu öffnen, da wir zu dieser Zeit keinen eigenen Schlüssel hatten, oder das Beantworten von einfachen Fragen. Somit waren die Nutzungen des gesamten Zinnwerke-Komplexes sehr vielfältig, dabei aber auch häufig unklar und kontrovers in den Zuständigkeiten. Diese Spannung in der Raumnutzug schlug sich zum einen als für uns positive Offenheit und interessante Atmosphäre nieder, führte aber zum anderen auch zu Abstimmungsproblemen und erschwerte unsere Organisation. Als gemeinnützige Initiative zahlten wir keine Miete für die Nutzung der Zinnwerke, hatten somit aber auch keine offiziellen Dokumente wie einen Mietvertrag, der Verbindlichkeit schafft. Wie in der unten angeführten Feldnotiz beschrieben, kam es häufig vor, dass vorher getroffene Vereinbarungen hinsichtlich des Öffnens der Türen oder der Versorgung mit zusätzlichen Stühlen und Geschirr nicht eingehalten wurden und wir kurz vor dem Ankommen der Teilnehmenden vor Ort noch improvisieren mussten: „An den Zinnwerken angekommen, wo Paula und ich noch Sachen abladen wollen, ist das Tor zu, so dass ich nicht auf den Hof komme. In der SMSund WhatsApp-Konversation mit den MitbewohnerInnen der Zinn-WG hat sich nach und nach herausgestellt, dass niemand von ihnen da sein wird. Auch Hannah nicht, wie erstmal abgesprochen. Ich bekomme den Eindruck, dass sie sich bewusst aus dem Staub machen. Allerdings fühlen sie sich dann alle aus der Ferne verantwortlich und versuchen zu organisieren, dass ich reinkomme. Als Paula da ist, treffen wir einen älteren Mann, der auch in die Zinnwerke möchte, und uns schließlich an der Tür am Kanal reinlässt. Benjamin lässt uns dann wieder in die WG. So können wir zwar unsere Sachen ablegen, aber wir kommen nicht wieder vom Hof runter. Nachdem ich Stefan angerufen habe, lässt der uns wenige Minuten später wieder durch das große Tor raus und gibt mir auch einen Schlüssel für die WG-Tür.“ (Feldnotiz 7. ÜdT-Abend)
Diese Unklarheiten führten zu mehr Stress im Vorfeld und wirkten sich dabei auch auf unser Vermögen aus, uns voll den Ankommenden zu widmen und sie zu empfangen. Da ich mit den zuständigen
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Personen aus den Zinnwerken auch privat gut bekannt bin, führte die Unverbindlichkeit insbesondere bei mir zu Ärger, da ich durch diese persönliche Ebene eine stärkere Verbindlichkeit erwartet hatte. Emotionen wie Anspannung und Ärger ziehen sich durch nahezu alle Feldnotizen und werden zum Beispiel beim Lesen dieser in der Deutungsgruppe als bestimmend in diesem Ess-Setting wahrgenommen. Hierin zeigt sich an meinem Fall die Verknüpfung der räumlichen Bedingungen mit meiner Verfassung als Forscherin und Organisatorin, was für die Bewertung des Settings sowie der gemachten Erfahrungen und insbesondere der dadurch nicht gemachten Beobachtungen zentral ist. Wie in den meisten anderen Settings handelt es sich bei den Zinnwerken um einen umgenutzten Raum, der sich durch Improvisation, Offenheit, Temporalität und Modularität bzw. vielfache Nutzungsmöglichkeiten auszeichnet. Derartige Räume lassen sich als Ermöglichungsarchitekturen beschreiben (Dell 2016). Dieses Verständnis von Raum als ermöglichend ist kongruent mit der hier verwendeten Definition von Ess-Settings bzw. Mahlzeiten als transformativ, offen und prozessual. Ermöglichungsarchitekturen wollen Erleben und Handeln vor Ort dem situativen Prozess überlassen und dabei nur minimal durch Architektur und Gestaltung eingreifen. Gleichzeitig ist jedoch zentral, dass die Räume dies auch kommunizieren und somit der angestrebten Offenheit ‚Rückendeckung‘ geben. Erkennbar wird dies u. a. daran, dass fast alle der genutzten Räume große Fenster besaßen, die sowohl einen Blick von außen nach innen als auch umgekehrt zuließen. Beim Küchenmonument bestand sogar die gesamte Außenwand aus einer durchscheinenden Membran. Die Offenheit wurde darüber hinaus durch die modulare Ausstattung der Räume unterstützt. Ein weiteres Beispiel für eine sich räumlich manifestierende Offenheit ist der Kitchen Hub der Über-den-Tellerrand-Gruppe in Berlin (vgl. CoCoon Studio 2015, Klingbeil 2015). Er wurde als multifunktionaler Raum geplant und im Zuge dessen mit selbst gebauten Möbeln ausgestattet, die nach Bedarf auch als Esstisch oder Kücheninsel verwendet werden können. Gleichzeitig wird diese offene, unvoreingenommene Ästhetik wieder durch Elemente gebrochen, die Gemütlichkeit erzeugen sollen und den Raum als einladend kennzeichnen. So sind neben dem eingedeckten Geschirr meist auch Blumen vorhanden. Wenn möglich, wird das Licht gedimmt oder zumindest nicht zu hell gestaltet. Insbesondere in der Situation des Ankommens wirkt die Raumgestaltung als Einstimmung, Willkommensgruß und auch eine vorgezogene Form der Wertschätzung der Teilnehmenden. Gleichzeitig können räumliche, den Raum als wohnlich erscheinen lassende Elemente als ein Sicherheit gebender Faktor für die an Ess-Settings Teilnehmenden funktionieren. Auch für mich als Forscherin stellten
▶ Kap. 7.5 EssSettings als liminale Situationen/Raum und Zeit des Versammelns
222 | Essen mit und als Methode
diese Elemente in herausfordernden Situationen Elemente dar, die mir dabei halfen, mit Anspannung umzugehen: „Ich bin sehr positiv überrascht, wie schön und gemütlich es ist, als wir vom Einkaufen in den Zinnwerken ankommen – sowohl in der Küchenecke als auch am Esstisch. Aber ich bin nach wie vor angespannt, weil das Kochen immer noch nicht wirklich startet. Durch die Atmosphäre (Licht, Stimmung der Gäste, Räumlichkeiten, die Kommunikation ermöglichen) bin ich aber guten Mutes.“ (Feldnotiz 4. ÜdT-Abend)
Räumliche Elemente wie die wohnliche Einrichtung, die Kücheninsel und die klar erkennbaren Funktionselemente wie Herd und Esstisch funktionieren also in diesem Setting als strukturgebend und Sicherheit stiftend. Im Folgenden möchte ich nun näher auf die vorab geschilderten emotionalen Zustände während der Feldforschung eingehen und aufzeigen, inwiefern diese für die Analyse nützlich gemacht werden konnten.
6.5
▶ Kap. 2.1 Forschen zwischen Kunst und Ethnographie
ZWISCHEN ANSPANNUNG UND ENTSPANNUNG: FORSCHUNG ALS LEIBLICHE PRAXIS
Neben vielen für mich erfolgreichen Forschungssituationen gab es auch Settings und Versammlungen, zu denen ich keinen Zugang gefunden habe oder bei denen mir der Einstieg ins Feld vergleichsweise schwer fiel, u. a. aus Sorge vor Zurückweisung oder nicht adäquatem Verhalten in der Situation. Diese Angst vor dem Feld (Lindner 1981) kann nach Sebastian Mohr und Andrea Vetter als unbewusste Intervention bezeichnet werden, bei der Forschende durch körperliche Merkmale oder bestimmtes Verhalten keinen Zugang zum Feld erhalten (vgl. Mohr/Vetter 2014: 113). Nichtsdestotrotz können diese verhinderten Zugänge im Nachhinein analytisch wertvoll sein, was im folgenden Kapitel anhand von Momenten des Widerstands und der Überforderung in der leib/körperlichen Dimension des Forschens dargelegt wird. In den vorangegangenen Kapiteln ist deutlich geworden, dass die Leib/körper der Forschenden habituell geprägt sind und sich dadurch bestimmte Erkenntnismöglichkeiten im Feld eröffnen oder auch verschließen können. Diese Untrennbarkeit des Leib/körpers der Forschenden vom Kontext, nicht nur im Sinne einer soziokulturellen Verbundenheit, sondern auch einer fühlenden, wahrnehmenden Einheit, hebt Gugutzer mit Bezug zu Georges Devereux als Mittelpunkt seiner neophänomenologischen Soziologie hervor. Hierbei wird der Leib/körper der/des Forschenden in der Wahrnehmung und
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Praxis u. a. zu einem analytischen Werkzeug. Dieses wird vor allem in „Momente[n] spürbaren Widerstands“ wirksam, in denen sich der Leib zu Wort meldet: „[…] all diese widerständigen Erfahrungen, die normaler Bestandteil des Forschungsalltags sind, nehmen unmerklich aber unweigerlich Einfluss auf den Forschungsprozess. Sie steuern den Erkenntnisprozess, da sie zu genauem oder ungenauem Lesen von Texten, zur Bereitschaft oder Weigerung inhaltlicher Auseinandersetzungen, zur selektiven Wahrnehmung und Aufnahme von Argumenten führen (können).“ (Gugutzer 2014: 86f)
Auch wenn in dieser Arbeit die Rolle von leiblichen Wahrnehmungen im Forschungsprozess von Beginn an ernst genommen und reflektiert wurde, gab es dennoch Emotionen und latente leib/körperliche Zustände, die zunächst keine Beachtung fanden. Diese wurden erst in der Analysearbeit nach Abschluss der Erhebungsphase entdeckt und relevant, u. a. durch die Analyse des Feldmaterials in einer ethnographischen Deutungswerkstatt. Insbesondere das Empfinden von Anspannung und Erschöpfung wurde hier über mehrere Sitzungen hinweg immer wieder besonders greifbar. In diesem Sinne sollen abschließend noch einmal zentrale Momente des leiblichen Widerstands bzw. markante Emotionen im Erkenntnisprozess vor allem aus der Forscherinnenperspektive thematisiert und Erkenntnisse abgeleitet werden. Anspannung Nahezu alle Feldnotizen, in denen ich Besuche von Ess-Settings beschreibe, beinhalten oder beginnen mit der Schilderung von Anspannung oder Erschöpfung meinerseits. Darin spiegelt sich zum einen meine persönliche Situation während der Forschung wieder, die maßgeblich geprägt war von der Geburt meiner zwei Kinder und der damit verbundenen schlaflosen Nächte und Anstrengungen. Da die meisten dieser Settings Abendveranstaltungen waren, ergab sich für mich die Situation, dass meine Kinder rechtzeitig im Bett sein und eine Betreuung organisiert werden musste. Hier wird einmal mehr deutlich, dass Feldforschende u. a. den zeitlichen Logiken ihres Feldes folgen müssen, ganz gleich ob diese kompatibel sind mit den Logiken einer zusätzlichen Erwerbs- und Familienarbeit, und dass die dabei entstehenden Probleme reflektiert werden müssen. Häufig gestalteten sich durch diese Kollisionen der Hinweg und die Ankommsituation als stressig und/oder ich schaffte es nicht, pünktlich vor Ort zu sein und verpasste dadurch gegebenenfalls wichtige Informationen, wie sich in der Feldnotiz zum Olympia Gastmahl zeigt:
▶ Kap. 2.1 Forschen zwischen Kunst und Ethnographie/Gruppenbasierte Reflexion und Analyse
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„Für Montag, den 16.11. ist aber noch ein Platz frei und ich sage spontan zu. Jan schickt am Sonntag Details zum Ort und zur Zeit per Mail: ‚Um 19:30 in der Bernstorffstraße 168. Keine Klingel – einfach ans Fenster klopfen.‘ Ich hetze, nachdem ich Luise ins Bett gebracht habe, im Regen mit dem Fahrrad los und komme etwa 10 Minuten zu spät. Ich ziehe schnell vor der Tür die Regenhose aus und gehe dann mit triefender Regenjacke rein. Die Tür ist nicht abgeschlossen und man kann bereits durch die großen Fenster in den Raum schauen. So sehe ich, dass Jan bereits einen Vortrag hält. Leicht rechts neben der Eingangstür steht ein Tisch im Raum. Jan steht geradeaus und alle anderen Teilnehmenden haben sich rundherum in Wandnähe aufgestellt oder hingesetzt. Ich sehe zwei Frauen vor dem rechten Fenster sitzen und schlängele mich an ihnen vorbei. Beide Frauen wirken sehr ‚kulturmäßig cool‘ auf mich. Die eine (Corinna) macht mir etwas Platz und sagt, dass ich meine Jacke und Regenhose an die Heizung hängen kann. Ich nehme mir einen Stuhl vom Esstisch, obwohl am Tisch noch niemand sitzt, und ziehe dort möglichst leise im Sitzen meine Jacke aus. Jan erzählt gerade, was er so macht und wie es zum Gastmahl Olympia gekommen ist (frühere Ess- und Hospitality-Formate, KunstHasserStammtisch, noroomgallery). Außerdem erzählt er, warum es ‚Gastmahl‘ Olympia und nicht ‚Restaurant‘ heißt (Ging bei Facebook nicht, da Restaurant nach Gewerbe klingt). Dann folgt ein kurzer Exkurs zur mythologischen Bedeutung von Olympia (Geschichte, Symposium, Gastmahl).“ (Feldnotiz Olympia Gastmahl)
Hier wird deutlich, wie viel Energie es bereits kostet, triefend in eine schon gestartete Veranstaltung mit weitestgehend unbekannten Personen zu platzen. Mein Fokus in dieser Situation war vor allem darauf gerichtet, das Setting möglichst wenig zu stören und dabei trotz Regenkleidung einen akzeptablen ersten Eindruck zu hinterlassen. Wenn man bedenkt, dass in der Literatur zur Feldforschung insbesondere das Eintreten in das Feld als besonders erkenntnisreich angesehen wird, gestaltet sich dieser Eintritt hier äußerst holprig, so dass sicher einige interessante Beobachtungen des Settings an mir vorbeigegangen sind. Dennoch können, wie eingangs erwähnt, aus der Notiz Aussagen zur zeitlichen Formatierung dieses Ess-Settings getroffen werden. Darüber hinaus lässt sich diese in den Feldnotizen dominante Anspannung auch in Zusammenhang bringen mit den unterschiedlichen Rollen, die ich in den einzelnen Settings eingenommen habe. So war ich insbesondere an den Über-den-Tellerrand-Abenden einerseits als Organisatorin für den Veranstaltungsablauf verantwortlich und durfte andererseits das Beobachten und Dokumentieren nicht vergessen. Häufig schaffte ich es hierbei nicht, sowohl die Perspektive der teilnehmenden neuen und alten Nachbar*innen als
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auch die der Mitorganisierenden ausreichend nachzuvollziehen. In den Feldnotizen zu den Über-den-Tellerrand-Abenden schwingt das Mitdenken des Organisatorischen dabei immer mit und dominiert dieses teilweise sogar. So kam erschwerend hinzu, dass es sich hier um ein fortlaufendes Format handelt und ich in meinen Feldnotizen immer auch Ablaufverbesserungen oder Anschaffungsvorschläge vermerkt habe. Dieser protokollierende Stil fiel auch der Deutungsgruppe im Kontrast zu den anderen, einmaligen Settings auf. Der Wunsch, die Über-den-Tellerrand-Abende stetig zu verbessern und den neuen Nachbar*innen somit bessere Chancen auf das Knüpfen von Kontakten zu ermöglichen, ist hierbei ein zentrales Anliegen. „Hier geht es um etwas Wichtigeres als um ein Kunstprojekt“, stellte die Deutungsgruppe bei dem Versuch fest, einen Über-den-Tellerrand-Abend mit dem Olympia Gastmahl zu vergleichen (Feldnotiz 4. ÜdT-Abend). Die Gruppe thematisierte hierbei nicht nur meinen Anspruch an das Gelingen dieser Abende, sondern auch einen gesellschaftlichen Anspruch. (An-)Spannungen im Forschungsprozess äußerten sich jedoch nicht nur über und durch leib/körperliche Formen von Überforderung oder Erschöpfung, sondern auch über das Empfinden von Ärger. Dies war meist der Fall, wenn Abläufe nicht wie geplant funktionierten – besonders dann, wenn ich den Eindruck hatte, dass nicht alle Anwesenden am Gelingen des Settings mitarbeiteten. Wie beschrieben, waren wir als Über-den-Tellerrand-Gruppe meist auf das Mitwirken der damaligen Mieter angewiesen bevor unsere Kochtreffen ein offizieller Teil des Zinnwerke-Portfolios wurden. Die Mieter*innen mussten uns beispielsweise Türen öffnen oder das Zusammentragen von zusätzlichem Mobiliar ermöglichen. Dabei wurden wir einige Male versetzt, was unsere Zeitpläne ins Wanken gebracht hat. Gleichzeitig gab es bei Settings, an denen ich nicht als Organisierende beteiligt war, Situationen, in denen ich mich ebenfalls nicht durchgehend am Gelingen des Abends beteiligte. So kam einer der Veranstaltenden des Diskursiven Dinners beim Versuch einer Ansage zu Beginn des Settings kaum zu Wort. Die meisten der Gäste unterhielten sich weiter mit den direkten Tischnachbar*innen und bereiteten weiter Zutaten für das gemeinsame Essen vor: „Während wir reden und schneiden, wird in der Mitte des Raums bereits zubereitet. Immer wieder kommen Personen aus dem Kochteam und holen Müll ab oder bereits geschnittene Lebensmittel. Es gibt nebenbei Wein und stilles Wasser. Währenddessen versucht Jan Liesegang schon etwas zum Ablauf des Abends zu sagen. Obwohl er, wie alle RednerInnen, später über ein Mikro spricht, ist er kaum zu verstehen. Alle Gäste sind viel zu sehr mit dem Zubereiten, sich Begrüßen und Reden beschäftigt. Auch für mich ist
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das etwas viel Multitasking. Ich hätte gerne zugehört, als er etwas zum Küchenmonument erzählt, will aber nicht unhöflich sein und versuche, mit Thomas und Maria im Gespräch zu bleiben und zupfe weiter Kräuter. Jan versucht derweil Regeln einzuführen: ‚Vielleicht können wir die Regel einführen, dass alle anderen die Gespräche einstellen, wenn hier vorne geredet wird.‘ Mia, Matthias und ich lachen darüber. Alle anderen Gäste reden ebenfalls weiter. Jan hört auf zu reden und das Treiben geht weiter.“ (Feldnotiz Diskursives Dinner)
Obwohl ich die unangenehme Situation, dass ein Setting nicht den geplanten Verlauf nimmt, aus eigener Erfahrung kannte, entschied ich mich hier, der Gruppensituation am Tisch den Vorzug zu geben und mitzulachen. Darüber hinaus spürte ich, dass mich die Gleichzeitigkeit der verschiedenen Aufgaben überforderte. Somit zahlte sich die oben beschriebene, (über-)fordernde Doppelrolle als Forschende und Teilnehmende/Organisierende in diesem Zusammenhang aus, da ich so die Möglichkeit hatte, beide Perspektiven kennenzulernen und nachzuvollziehen. Mit diesem Erfahrungshorizont im Hintergrund wurde insbesondere am Beispiel des Diskursiven Dinners deutlich, dass nicht zwingend nur die Kombination verschiedener Rollen zu einem Gefühl von Anspannung oder Überforderung führt, sondern dass die Überforderung auch vom Setting selbst ausgehen kann, wenn sich beispielsweise zu viele unterschiedliche Programmpunkte überlagern. Darüber hinaus gestalten sich gerade Settings, bei denen in temporär genutzten Räumen gekocht und improvisiert wird, häufig als anstrengend. Durch die meist bewusst reduzierten Strukturen müssen die Teilnehmenden sich hier stärker einbringen, wenn beispielsweise noch Räume eingerichtet und gestaltet oder geeignete Küchenutensilien organisiert werden müssen. Zudem gehen in den häufig auf Kollektive verteilten Organisationsprozessen auch Informationen, Planungsschritte oder Materialien verloren. So beschreibe ich nach meiner teilnehmenden Beobachtung der Hallo-Festspiel-Küche nicht nur eine mentale Erschöpfung, sondern darüber hinaus auch körperliche Beeinträchtigungen, die u. a. durch fehlenden Sonnenschutz entstanden sind: „Auf dem Nachhauseweg merke ich, dass mir die direkte Sonneneinstrahlung auf die Outdoor-Küche ganz schön zugesetzt hat (Sonnenbrand!) und ich die ganze Zeit nichts getrunken habe. Meine Schultern sind vom Stehen und Schnippeln ziemlich verspannt. Ich bin kaputt und bekomme abends Migräne. Am nächsten Tag merke ich, dass die heißen Pellkartoffeln meine Hände verbrannt haben und dass ich einzelne Schnitte in den Händen habe.“ (Feldnotiz Hallo Festspiele 2. Tag)
6.5 Zwischen Anspannung und Entspannung | 227
In dem hier thematisierten Setting der Hallo Festspiele stellte die Küche, die sämtliche am Festival Beteiligten mit Nahrung versorgte, einen Programmpunkt neben anderen Punkten wie beispielsweise Performances, Installationen oder Gesprächsformaten dar. Ich arbeitete hier nicht konzeptuell mit, sondern unterstützte den gelernten Koch Oskar, der seine Arbeit im Gespräch mit mir als Handwerk beschrieb. Diese Rolle und Tätigkeit als Küchenhilfe definierte mich als temporären Teil des großen Kollektivs um die Hallo Festspiele. Ich bemerkte allerdings schnell, dass diese Rolle keinerlei Gestaltungskompetenz beinhaltete und ich hier einfach nur zuarbeiten und beobachten konnte. Auch wenn es angesichts der stets mitschwingenden Anspannung und Erschöpfung eine nahezu perfekte Position im Team war, fühlte ich mich in dieser Rolle unwohl. Dass mir der Koch Vorschläge für die schnellere Zubereitung eines Gurken-Melonen-Salats gab, empfand ich als Bevormundung – auch wenn klar war, dass ich im Gegensatz zu ihm kaum professionelle Küchenerfahrung besaß. Mir fiel es schwer, nicht in Entscheidungen eingebunden zu sein, sondern nur Aufgaben zu empfangen und auszuführen. Meine Expertise als Forscherin und Veranstalterin von Ess-Settings hatte mir zwar den Zutritt zu diesem Feld ermöglicht, war jedoch im weiteren Verlauf nicht mehr wirklich gefragt. Dadurch blieb meine Rolle durchgehend im Unklaren, zumindest dann, wenn sie über die Tätigkeit als Küchenhilfe hinausging. Meine beiden Gewährpersonen Marlene und Monika sprachen mich zwar ausschließlich in dieser Expertinnenrolle an, vergaßen mich aber immer wieder in ihrer Programmplanung. Ich fühlte mich dementsprechend häufig unsicher, was ich tun durfte und welche Erwartungen an mich gestellt wurden, was sich im folgenden Ausschnitt aus meinem Feldtagebuch zeigt: „Das Essen wird schließlich, eine halbe Stunde später als angedacht, um 14:30 fertig und die träge Masse, die über das gesamte Gelände verteilt ist, wird zum Essen zusammengerufen. Nachdem ich Marlene nach dem Geschirr für die Tische gefragt habe, bringt sie sich nun auch in die Küchenarbeit ein. Ich weiß nicht, ob es ihr nun ein wichtiges Anliegen ist oder ob sie einfach mit aushilft, weil es schnell gehen muss. Sie holt noch Schüsseln aus dem Lager, damit wir die Salate etc. schön anrichten und auf die Tische stellen können. Sie sagt, sie hasst Schlangen und Buffets und möchte, dass es eine schöne Situation ist. Oskar hingegen hat großes Interesse daran, dass er die zeitlichen Versprechen, die er gemacht hat (es gibt in 10 Minuten Essen) einhalten kann und dass sein Essen warm auf den Tisch kommt. Als Marlene und ich beim Einfüllen des Essens in Schalen etwas ins Plaudern kommen, ermahnt er uns – zwar in freundlichem Ton, aber bestimmt – zur Eile. Ich fühle mich zwischen diesen beiden Positionen etwas verloren, weil
228 | Essen mit und als Methode
ich beide verstehen kann und mich nicht verantwortlich genug fühle, Stellung zu beziehen. Ich halte mich also einfach raus und versuche alle voranzutreiben. […] Als dann die ersten bereits anfangen zu essen und Oskar und Marlene nicht zu sehen sind, bin ich unsicher, ob ich mich einfach mit hinsetzen und essen kann. Ich kann mich nicht an die beiden halten und meine Rolle hat irgendwie ihre (sichtbare) Berechtigung verloren. Ich laufe noch ein bisschen geschäftig rum, bis ich sehe, dass Oskar sich etwas auftut und an den Tisch setzt. Marlene setzt sich zu mir und wir unterhalten uns – mehr schlecht als recht, weil Marlene abgelenkt ist. Trotzdem ist die Situation herzlich, offen und sympathisch.“ (Feldnotiz Hallo Festspiele 2. Tag)
In der beschriebenen Unsicherheit und der gespürten Verlorenheit zwischen den unterschiedlichen Akteur*innen und Aufgaben spiegelt sich auch die Offenheit bzw. Unklarheit darüber wider, welche Rolle die Küche im Gesamtkonzept des Festivals einnehmen sollte bzw. einnahm. So wurde sie zwar – beispielsweise auf der Homepage – neben anderen Aktionsformen wie Performance und Gesprächen genannt, eine Agenda oder ein konkretes Programm gab es allerdings nicht. Diese Struktur sollte sich laut Pressetext erst vor Ort im Zusammenwirken von Teilnehmenden und Initiierenden bilden: „So entsteht ein offenes, transdisziplinäres Netzwerk, zu dem jeder auf eigene Art und nach eigenem Maß partizipieren und Teil der Hallo-Gemeinschaft werden kann. Diese Gemeinschaft bildet Departments, welche Konzepte für die Hallo Festspiele entwickeln. Diskurs, Gehirn, Kommunikation, Küche, Musik, Performance, Produktion, Licht, Raum und Spiel sind bislang die abstrakten Denkeinheiten, die sich schließlich vor Ort, am Kraftwerk Bille, manifestieren. […] Die Hallo Festspiele beginnen mit einer für alle Menschen offenen, gemeinsamen Aufbauphase von Montag bis Donnerstag, die mit einer inhaltlichen und physischen Materialinventur (mit u. a. Umschichten, We Are Visual) startet und davon ausgehend performativ und diskursiv einen Festivalraum entwickelt. […] Ein festlicher Spielraum öffnet sich gegen Wochenende, zum Ausprobieren, zum Tanzen, zum Diskutieren. Gäste werden zu Teilnehmerinnen und Gestalterinnen.“ (Verein zur Förderung raumöffnender Kultur e.V. 2016a)
▶ Kap. 7.5 EssSettings als liminale Situationen/Raum und Zeit des Versammelns
Somit zeigt sich einmal mehr, wie schwierig die richtige Abstimmung von Offenheit und Struktur ist, um den Beteiligten einen Zugang zum und ein gutes Gefühl während des Settings zu ermöglichen. Dabei gibt es kein allgemeingültiges Verhältnis für alle Anwesenden, jede/r einzelne Akteur*in muss das Verhältnis von freiem Gestaltungsraum und Strukturierung selbst aushandeln. Diese Aushandlung ist immer (auch) ein leiblicher Prozess.
6.5 Zwischen Anspannung und Entspannung | 229
Fremdheit Die von mir wahrgenommene Anspannung war, wie oben beschrieben, eine Reaktion auf Rollenkonflikte im Feld sowie auf Unklarheiten in der Anlage und dem Ablauf des Settings, zum Beispiel in Bezug auf das Zusammenspiel von Offenheit und Struktur. Da alle Settings, auch wenn sie seriell angelegt wurden, immer nur einen Abend dauerten, waren stets auch die Möglichkeiten begrenzt, Vertrautheit und Verbindungen zu schaffen. Somit war ein weiterer Aspekt, der in der Wahrnehmung von Anspannung und Erschöpfung eine Rolle spielte, das Wahrnehmen und in einigen Fällen Überwinden von Fremdheit. Diese war in den meisten Fällen eine soziale Fremdheit, da ich in allen Settings mit mir und miteinander unbekannten Personen zusammengekommen bin. Hier dominierte wahrscheinlich nicht nur für mich die Angst, unausgesprochene Kodes und Regeln nicht zu kennen, nicht den richtigen Ton zu treffen oder Peinlichkeiten zu erleben – wenn etwa unbemerkt Essen zwischen den Zähnen hängen blieb oder ich nicht über ein bestimmtes Wissen des Feldes verfügte. Dies wird besonders in meinen Feldnotizen zu den Über-denTellerrand-Abenden deutlich, bei denen es häufig auch eine kulturelle Fremdheit zu überwinden galt. Hierbei spielte auch mein Anspruch an meine Position als Organisatorin eine Rolle, in den Settings mit der ihnen innewohnenden Flüchtigkeit Bedeutung und somit etwas Stabiles, Bleibendes zu schaffen. Gleichzeitig bemerkte ich bei einem späteren Besuch eines Über-den-Tellerrand-Grillens wie fordernd die Kontaktaufnahme ist, wenn ich ein Gast unter vielen bin: „Ich bemerke, wie anstrengend die Kontaktaufnahme bzw. das Sprechen untereinander über die üblichen Floskeln hinaus ist. Insbesondere dann, wenn die Kinder mich ständig unterbrechen. Es fühlt sich gut an, über das Schneiden etc. etwas zu tun zu haben. Vorher habe ich mich immer in meiner Orga-Team-Rolle wohl und sicher gefühlt und alle wussten, wer ich bin. Hier war ich dann eine unter vielen.“ (Feldnotiz ÜdT-Grillen)
Bei vielen der Settings ist allerdings in den Feldnotizen ein Abnehmen der Anspannung zum Ende hin zu beobachten. Die Spannung nahm dann ab, wenn die organisatorische Arbeit weitestgehend getan und ich selbst mit den Anwesenden ins Gespräch gekommen war. Besonders eindrücklich zeigte sich dies an einem Über-denTellerrand-Abend, an dem der Koch seine Shisha mitgebracht hatte, um nach dem Essen noch gemeinsam zu rauchen. Hier entstand eine Verbundenheit und Entspannung zwischen mir und den miteinander befreundeten Teilnehmenden Makar und Nadi, die ich genießen
▶ Kap. 6.4 Leib Performanz und Raum in den Atmospären der Ess-Settings/Improvisation
230 | Essen mit und als Methode
konnte. Aus dieser Situation wird deutlich, dass beispielsweise das Vertiefen von Beziehungen und Themen in Gesprächen dazu führen kann, die vorangehend beschriebene Anspannung zu überwinden. Insofern lässt sich am Grad der wahrgenommenen Fremdheit die Menge und vor allem Qualität der eingegangenen Beziehungen und Verbindungen ablesen. Die Entspannung geschieht hier u. a. durch eine Entschleunigung im Ablauf des Settings und durch Fokussierung auf einen Teilaspekt anstelle von Multitasking. Auf diese Aspekte wird im folgenden Punkt näher eingegangen. Entspannung Nachdem Anspannung und Erschöpfung als erkenntnisleitend beschrieben wurden, soll hier abschließend erläutert werden, welche Aspekte beim Agieren im Feld zu Entspannung geführt haben. Dies geschieht hier weniger in der Absicht, dem negativ besetzten Gefühl von Anspannung eine positive Emotion gegenüberzustellen. Vielmehr wird Entspannung hier in dem Sinne thematisiert, als dass sich meine Entspannung und Zufriedenheit in Feldsituationen als Indikatoren für Momente der Stabilisierung und Sicherheit interpretieren lassen. Dies müssen nicht immer Situationen sein, in denen auch (für alle Beteiligten) Klarheit und Stabilität herrschten. So war die abschließende Diskussion nach dem zweiten Taktsinn-Dinner von Unklarheit über mein Forschungsdesign und meine Forschungsfrage geprägt. Dieses Zulassen von Uneindeutigkeit war jedoch im Sinne einer experimentellen Offenheit von mir durchaus intendiert und somit konnte ich als Organisierende des Settings mit der Situation souverän umgehen, während die Teilnehmenden sich genau an dieser Offenheit abarbeiteten. Somit kann Klarheit über das zugrunde liegende Setting als ein Anker beschrieben werden, der den Teilnehmenden Sicherheit gibt. Einerseits wäre es hier sicherlich von Vorteil gewesen, die intendierte Offenheit noch stärker an alle Anwesenden zu kommunizieren. Andererseits war ich im damaligen, frühen Stadium meiner Forschung zu dieser Erkenntnis womöglich noch nicht in der Lage und erst die mir gegenüber geäußerte Irritation über den Verlauf meiner Forschung versetzte mich in die Lage, in diese Richtung weiterdenken zu können. Einen weiteren Anker in dieser Situation stellte die organisatorische Unterstützung meines Partners dar, also die Anwesenheit einer bekannten Person, der mich als Gastgeberin unterstützte, indem er Getränke nachschenkte, nicht mehr benötigte Utensilien wegräumte oder bei der Suche nach Küchenaccessoires half. So sicherte auch Gastgeber Jan Holtmann beim Olympia Gastmahl die Positionen der ihm bekannten Teilnehmenden innerhalb der sozialen
6.5 Zwischen Anspannung und Entspannung | 231
Gruppe, indem er seine Beziehungen zu ihnen bekanntgab. Nicht zuletzt stellte auch mein habituelles, leibliches Wissen ein Werkzeug dar, die jeweiligen Anforderungen der Settings zu bewältigen – seien dies Kompetenzen wie das Führen von Smalltalk oder die Kenntnis von Kodes beim Sprechen im akademischen Kontext. Überleitend zum folgenden Kapitel zu den gesellschaftlichen Dimensionen des Essens und Kochens sei hier noch die entspannende Wirkung von Alkohol erwähnt, der in den meisten Settings, wenn nicht aus religiösen oder kulturellen Gründen verboten, auch erwartet wird.
7 Was über den Hunger hinausgeht
GESELLSCHAFTLICHE DIMENSIONEN KOLLEKTIVEN ESSENS UND KOCHENS An einem verregneten, kalten Februarabend mache ich mich direkt nach einem langen Tag am Schreibtisch auf den Weg zu einem Neujahrsempfang im Warburg-Haus in Hamburg-Winterhude42. Es wird ein Grußwort der Staatsrätin für Wissenschaft, Forschung und Gleichstellung geben und den Vortrag einer renommierten Expertin für Networking und Kommunikation. Nach der Denkarbeit des Tages ist mir kaum nach Smalltalk und Vernetzung, wozu diese Veranstaltung explizit dienen soll. Aber der schöne Veranstaltungsort sowie die Aussicht auf ein Glas Sekt und ein paar Häppchen tragen mich durch den Hamburger Feierabendverkehr. Vor Ort betrete ich um kurz vor halb sieben als eine der Letzten den Vortragsraum und folge den Beiträgen der Gäste. Der Expertinnenvortrag zum Thema Networking regt die Anwesenden an, die Rolle von Smalltalk ernst zu nehmen und dabei keine Chance zum Networking verstreichen zu lassen. Ich fühle mich unter Druck angesichts meiner Müdigkeit und des nahenden kommunikativen Teils des Empfangs. Doch wieder motiviert mich der Gedanke an ein entspannendes Glas Sekt, etwas zu Essen und auch das Kennenlernen interessante Personen. Nachdem alle offiziellen Programmpunkte abgehandelt worden sind, freut sich die Projektleiterin des veranstaltenden Programms darauf, nun im Foyer gemeinsam anzustoßen. Und zwar mit einem Glas alkoholfreien Sekt oder Saft. Angesichts meiner Vorfreude fällt es mir schwer, meine Enttäuschung zu verbergen, habe ich doch in den vergangenen Jahren aufgrund von Schwangerschaften und Stillzeiten diesen entspannenden Schwips von ein, zwei Gläsern Sekt nur selten genießen können. Diese Enttäuschung wird noch gesteigert, als ich neben den gefüllten Gläsern keine Häppchen, sondern nur Salzstangen entdecken kann. Ich nehme mir dennoch ein Glas und halte Ausschau nach bekannten Gesichtern, wobei ich Blickkontakt mit 42 Das Warburg-Haus beherbergt u. a. die von Aby Warburg gegründete Kulturwissenschaftliche Bibliothek und dient heute als Lern-, Forschungs- und Veranstaltungsort.
234 | Essen mit und als Methode
unbekannten Personen zu vermeiden versuche. Der Vorraum ist gefüllt. Die meisten Anwesenden sind um Stehtische gruppiert, aber auch dazwischen haben sich Gruppen gebildet, so dass ich mir meinen Weg durch die Menge suchen muss. Die meisten von ihnen scheinen sich bereits von vorherigen Veranstaltungen zu kennen und unterhalten sich angeregt. Schließlich finde ich zwei Wissenschaftlerinnen, die ich an meiner Hochschule kennengelernt habe, und verbringe mit ihnen die restlichen anderthalb Stunden des Empfangs. Ich erwähne im Gespräch mit ihnen vor allem meinen Hunger und erfahre, dass auch sie noch nicht zu Abend gegessen haben. Von Vernetzung und möglichen Chancen auf neue Kontakte keine Spur.
An der hier geschilderten Erfahrung von Erwartungen und deren Enttäuschung sowie meiner Unfähigkeit zu offener Kommunikation in der Situation lässt sich vieles von dem deutlich machen, was bereits in den vorangegangenen Kapiteln zum Thema Narrative und leiblich-sinnlicher Wahrnehmung behandelt wurde. Darüber hinaus lassen sich daran die sozialen und gesellschaftlichen Dimensionen von kollektivem Essen (und Kochen) aufzeigen, welche im folgenden Kapitel im Mittelpunkt stehen. Die verschiedenen Unterkapitel stellen dabei Kernaspekte dar, die in den hier zugrunde liegenden Ess-Settings eine zentrale Rolle im Hinblick auf das Soziale und Verbindende gespielt haben. Dazu zählt im zweiten Unterkapitel das Konzept der Gastlichkeit, das u. a. das Verhältnis zwischen Gastgebenden und Gästen regelt. In diesem Zusammenhang spielte insbesondere bei den Über-den-Tellerrand-Settings wie auch den Soli-Dinnern das Thema Flucht und Migration und damit verbunden die Frage des Willkommenheißens sowie das Schaffen von (nachhaltigen) Verbindungen eine wichtige Rolle, die drittens als gesellschaftliche Dimension der Ess-Settings thematisiert werden. Viertens werden die gesellschaftlichen Hintergründe der Ess-Settings näher beleuchtet und damit verbunden die Fragen nach Teilhabe und deren Grenzen in der (Selbst-)Inzenierung von und beim Essen gestellt. Fünftens betrachte ich die zeitlichen und räumlichen Grundlagen der untersuchten Mahlzeiten. Das sechste Unterkapitel fragt nach den Vor- und Nachteilen sowie den gesellschaftlichen Hintergründen, gemeinschaftliches Essen und Kochen im Spannungsfeld von Rekreation und Produktion zu praktizieren. Doch vorab soll hier die eingangs geschilderte Situation reflektiert und erläutert werden, was diese mit Essen als Phänomen und Praxis zu tun hat, zumal es hier ja eben kein Essen gab. Auf der leib/körperlichen Ebene kommen hier unterschiedliche Dinge zum Tragen: Zum einen verhinderten mein Hunger und meine Anspannung, dass ich mich auf die Situation und die an mich gestellten Anforderungen (Smalltalk, Netzwerken) einlassen konnte. Dies wurde verstärkt durch die Enttäuschung meiner Erwartung von Sekt
Gesellschaftliche Dimensionen | 235
und Buffet und beeinflusste mein (Wohl-)Befinden. Dadurch wiederum fühlte ich mich nicht gewappnet, mich Neuem zu öffnen und mich auf die für mich anstrengende Smalltalk-Situation einzulassen. Ich zog mich also zurück in bekannte und dementsprechend weniger fordernde Kreise. Selbstverständlich ist meine hier geschilderte Erfahrung nicht ohne weiteres übertragbar auf alle weiteren Anwesenden, welche die Situation eventuell aufgrund ihrer möglicherweise andersartigen, subjektiven Ausgangslagen (sie haben bereits vorab etwas gegessen, Smalltalk stellt für sie kein Problem dar, sie wussten, dass es nur alkoholfreie Getränke geben wird etc.) völlig anders wahrgenommen haben. Nimmt man jedoch an, dass es nicht nur mir und meinen Gesprächspartnerinnen so gegangen ist, wurden die Potentiale einer solchen Veranstaltung nicht ausgeschöpft und das ausgewiesene Ziel des Abends, nämlich Austausch und Vernetzung, nicht in ausreichendem Maße erreicht. Auch wenn diese Annahme in Bezug auf die beschriebene Situation hypothetisch ist, kann sie hier einen Ausgangspunkt darstellen, um über die gesellschaftlichen und sozialen Dimensionen von Ess-Settings nachzudenken. Das fehlende Essen und die dadurch ausgelösten Gefühle von Enttäuschung und Unwohlsein haben hier bei mir eine Irritation ausgelöst, die als erkenntnisreiche Störung aufgefasst werden kann. Dadurch wurden u. a. Vorannahmen und Erwartungen deutlich. So war und bin ich der Auffassung, dass das Empfang-Format das Vorhandensein von Essen beinhaltet. Ich hatte eine Veranstaltung nach dem Motto der in der Schweiz und Frankreich verbreiteten und institutionalisierten Apéros erwartet, der laut Wikipedia „Genuss und Geselligkeit verbindet“43. In einem Blogbeitrag zu Netzwerkbildung und Apérokultur bezeichnet der Ökonom Daniel Müller-Jentsch das „Spannungsverhältnis zwischen professioneller und persönlicher Interaktion“ als zentral für die Apérokultur, in der „gutes Essen und Alkohol die Zunge [lösen]“ (Müller Jentsch 2013). Auch er betont hierbei die kollektive Entspannung durch den Rahmen, wodurch persönliche Verbundenheit entstehen kann. Die Möglichkeit, sich bei einer Veranstaltung wie einem abendlichen Empfang leiblich zu stärken und darüber hinaus auch über das Essen in Kontakt zu kommen und Gesprächsanlässe zu liefern, erhöht meines Erachtens die Chancen, dass die mit dem Empfang verfolgten Ziele erreicht werden können bzw. dass die geladenen Gäste überhaupt teilnehmen. Über diese subjektiven Erwartungen hinaus kann das Fehlen eines kulinarischen Angebots unterschiedliche Aussagen über den Kontext der Veranstaltung ermöglichen: 43 Vgl. https://de.wikipedia.org/wiki/Ap%C3%A9ro_(Anlass) (letzter Abruf: 10.01.2021)
236 | Essen mit und als Methode
▶ Kap. 7.5 EssSettings als liminale Situationen/Zwecke, Essen und deren Rezeption
▶ Kap. 7.6 Pause oder Arbeit?
Erstens könnte ein fehlendes Bewusstsein für das Potential eines angebotenen Snacks zugrunde liegen und daher wurde dieser Mehrwert nicht genutzt und die Prioritäten anders gesetzt. Zweitens könnte das eingeschränkte Angebot auf eine fehlende Wertschätzung gegenüber den geladenen Gästen, die den Empfang direkt im Anschluss an einen Arbeitstag besuchten, zurückgeführt werden. Diese Lesart tangiert die Frage nach den konkreten Formaten von Ess-Settings und ihren Kontexten bzw. deren Arbeitsprozessen. Hierbei spielt die Gestaltung von Räumen und zeitlichen Abläufen eine zentrale Rolle. Drittens könnten hier aber auch fehlende finanzielle Mittel oder Einschränkungen bei der Verwendung von Geldern Gründe gewesen sein, auf ein Buffet zu verzichten. Dies könnte in diesem konkreten Fall auf einen behördlichen oder universitären Kontext verweisen, in dem die Vergabe von Mitteln (für Caterings) stark reglementiert ist. Viertens könnte dem Verzicht auf Essen auch eine bewusste Entscheidung zugrunde liegen, wenn zum Beispiel die Veranstaltung zeitlich begrenzt werden sollte. So wird hier implizit damit gerechnet, dass die Verweildauer sich verkürzt, wenn nicht auch noch gegessen wird – insbesondere dann, wenn die Gäste Hunger haben und im Anschluss noch etwas essen wollen/müssen. Das berührt die im Weiteren gestellte Frage nach dem Umgang mit dem Informellen in Ess-Settings und der dabei häufig zugrunde liegenden Ökonomisierung von Pausensituationen, sowohl im monetären als auch im zeitlichen Sinne. Die tatsächlichen Gründe für den Verzicht auf Alkohol und ein Buffet in der beschriebenen Situation können jedoch an dieser Stelle nicht beantwortet werden. Darüber hinaus sollen die hier vorgeschlagenen Optionen keinesfalls als Unterstellungen an die Gastgebenden verstanden werden. Vielmehr soll durch die Schilderung und das Hinterfragen der Situation die Rolle des Essens als Gegenstand und Praxis einmal mehr verdeutlicht werden und ein erster Überblick über das Kapitel zu den gesellschaftlichen Dimensionen des Essens gegeben werden. In diesem Sinne wird im Folgenden nach der Rolle des Essens und Kochens bei der Herstellung und Stabilisierung sozialer Gruppen sowie Situationen gefragt. Bevor ich jedoch auf die vorangehend benannten gesellschaftlichen Aspekte des Essens und Kochens eingehe, sollen zuerst die Grundlagen des gemeinschaftsbildende Potentials von Mahlzeiten ausgelotet werden: Was ist das potentielle und das tatsächliche Soziale und Verbindende beim Essen und wie realisiert es sich in den jeweiligen Ess-Settings?
7.1 Zusammen am Tisch | 237
7.1
ZUSAMMEN AM TISCH: SOZIALE ORDNUNGEN BEIM ESSEN
Sinnliche Ordnungen sind „integraler Bestandteil und notwendige Voraussetzungen jeder sozialen Ordnung“ und werden in der Praxis von den jeweiligen Leib/körpern mobilisiert und erkennbar (vgl. Reckwitz 2015: 446f). Somit muss eine Analyse des Sozialen beim Essen bei den leiblich-sinnlichen Qualitäten und Praktiken ansetzen und nach den Verschränkungen von und dem Transfer zwischen Leib und Körper fragen. Anne-Rose Meyer bezeichnet im Zuge dessen das Essen als liminales Phänomen, das ein Innen und ein Außen miteinander verbindet (Meyer 2017: 16). Wie in der Einleitung zum vorangegangenen Kapitel erläutert wird, verleiben wir uns beim Essen immer einen Teil unserer Umwelt ein. Somit eignen wir uns nicht nur als Kind die Welt über den Mund an und stellen Bezüge zwischen Innen- und Außenwelt her. Das, was wir essen, ist das Ergebnis einer Aushandlung zwischen Selbstsorge bzw. -optimierung und gesellschaftlich geprägten Nahrungs- und Körpervorstellungen: Esse ich beispielsweise ‚low carb‘, weil es mir dabei gut geht, oder bediene ich mit dem daraus eventuell resultierenden Gewichtsverlust an mich herangetragene Ansprüche an meinen Körper? Diese Verwobenheit von Ich und Gesellschaft in Momenten der Nahrungszubereitung und -aufnahme lässt sich beispielsweise an populären Argumentationen zeigen, die Nahrungsphänomene mit geschlechtlicher Identität und Geschlechterrollen verbinden. So wird zum Beispiel über die Zubereitung insbesondere von Fleisch eine Praxis hergestellt, die zwischen männlich und weiblich unterscheidet (vgl. Ott 2017: 154ff). Trotz zahlreicher Debatten darüber, Kochen nicht mehr als vorwiegend weibliche Praxis und Aufgabe zu betrachten, dominiert weiterhin das Bild der Frau und Mutter, die die Familie (mit Essen) versorgt.44 Alltägliches, häusliches, privates Kochen ist somit auch weiterhin weiblich konnotiert. Wie Eva Barlösius zeigt, wechselt die Tätigkeit der Nahrungszubereitung allerdings das Geschlecht, wenn es „an einem lauen Sommerabend in den Garten verlagert und der Grill in Gang gesetzt [wird]“ (Barlösius 2011: 124) oder wenn man in die Küchen der Spitzengastronomie schaut (vgl. Crowther 2018: 110ff; Mennel 1988: 256ff). In der (alltäglichen) Praxis des Kochens und Essens wird in Situationen wie diesen nicht nur ein doing gender vollzogen, sondern auch ein doing food, indem kulturelle Regeln festgeschrieben und durch die Leib/körper der Beteiligten eingeschrieben und performt werden 44 Diese Omnipräsenz der Frau als häusliche Versorgerin der Familie zeigt sich sowohl aktuell in der Werbung wie auch historisch in Protagonistinnen in der Literatur (Ott 2017: 323ff; Wierlacher 1987).
238 | Essen mit und als Methode
▶ Kap. 8.5 Polaritäten und das Dazwischen
(vgl. Counihan 1999). Bezogen auf Situationen des kollektiven Essens bedeutet diese verkörperte Praxis, dass das Wie und Was beim Essen Ergebnis eines soziokulturellen Lernprozesses sind und im alltäglichen Vollzug von Mahlzeiten immer wieder aufgeführt und bestätigt wird (vgl. Jeggle 2008). Da es mir hier nicht um das Festschreiben von Binaritäten, sondern um das Produktivmachen von Spannungsfeldern geht, kann das hier thematisierte Innen bzw. Außen nicht nur einem analytischen Aspekt zugeordnet werden. Dies wäre der Fall, wenn man das Innen nur als das Subjektive und das Außen nur als das Soziale, Interaktive verstehen würde. So haben beispielsweise Tischgemeinschaften wie Stammtische oder Geschäftsessen immer auch ein Außen, von dem sie sich in der Situation selbst oder auch grundsätzlich abgrenzen und damit das Innen stärken. In Tischgesprächen während solcher Mahlzeiten versuchen die Essenden zum einen, sich auf Geschmack und Konsistenz des Essens sowie das sie umgebende Setting zu konzentrieren und dieses im besten Fall zu genießen. Zum anderen treten sie in Interaktion mit den Tischgenoss*innen und gehen (ebenfalls im besten Fall) eine Verbindung mit ihnen ein. Dieses Oszillieren zwischen Innen und Außen geschieht zwar meist automatisiert und unbewusst, wird jedoch dann zum Thema, wenn beispielsweise Essen und Sprechen bzw. das Ausrichten von Aufmerksamkeit nicht entsprechend sozialer Regeln in Einklang gebracht werden können. Dies geschah als bewusste Intervention während des vierten Taktsinn-Settings im Rahmen des 40. Kongresses der Deutschen Gesellschaft für Volkskunde in Zürich. Beim verordneten schweigenden Essen in der Kongress-Mittagspause hinterließen einige Teilnehmende Notizen auf den Papiertischdecken, in denen deutlich wird, wie maßgeblich eine Störung des Innen-Außen-Verhältnisses auf die individuelle und soziale Situation des Essens wirkt: „Hauptgang: ‚Mensafraß‘, Nudeln hart, kein Salz, Soße schmeckt nach nichts (nur Maggi),Gefühl des Ekels, Beobachtung was Körpersprache der anderen dazu sagt, normalerweise würde ich aufhören zu essen und mir was anderes kaufen, Erfahrung von Zwang durch sozialen Druck, nur 5 von 13 haben aufgegessen, viele Teller sind noch sehr voll“ „Eine Frau redet aus Versehen beim Hauptgang, strafende Blicke der Gruppe, Körpersprache zeigt Scham, gegen sonst untypische Regel verstoßen zu haben. Ist eh zu laut zum Reden, weil man schreien müsste + bei Hunger liegt Fokus eh erstmal nur auf Essen.“ (Tischdecken Taktsinn IV)
Insbesondere dann, wenn die Aufmerksamkeit vom eigenen Hunger oder Genießen auf das Setting und die Anwesenden gerichtet wird,
7.1 Zusammen am Tisch | 239
gerät in solchen Situationen die Nahrungsaufnahme in den Hintergrund und andere Aspekte treten in den Vordergrund, was auch auf die hier thematisierten Ess-Settings zutrifft, indem sie übergeordnete Fragen und nicht (nur) das Essen selbst behandeln. (Tischdecken Taktsinn IV) Die außeralltägliche Mahlzeit als Format und Bühne Wie die obige Einleitung zeigt, ist die Nahrungsaufnahme jeder/jedes Einzelnen sowohl als Vorstellung als auch als Situation mit einer Verbindung zwischen Innen und Außen verknüpft. Dieses Verbindungspotential wird häufig als soziales Potential des Essens thematisiert und kulminiert in der Situation der Mahlzeit. Dieses Zusammendenken des Essens mit dem Sozialen begegnet uns nicht nur im alltäglichen Sprechen über das Essen, sondern ist auch Gegenstand kultur- und sozialwissenschaftlicher Texte und Forschungen. Es besteht Konsens darüber, dass Mahlzeiten Menschen erstens versammeln, zweitens verbinden und diese Verbindungen drittens festigen und teils auch inszenieren (vgl. Barlösius 2011: 172ff). Diese drei bzw. vier Formen von Verbindungsarbeit finden sich in allen hier behandelten Ess-Settings, allerdings in unterschiedlicher Ausprägung. So steht beispielsweise bei den Über-den-Tellerrand-Settings ganz klar das Ermöglichen und Schaffen erster Begegnungen und Verbindungen im Vordergrund. Das Festigen von Beziehungen oder das Herauskristallisieren von Positionen innerhalb einer Gruppe beim Essen geschieht vor allem dann, wenn sich bereits miteinander bekannte Personen beim Essen und Kochen begegnen. Dies war insbesondere beim zweiten Taktsinn-Dinner der Fall, bei dem es sich zum größten Teil um Kolleg*innen handelte. Doch auch im Rahmen der Über-den-Tellerrand-Abende entwickelte sich eine Gruppe von Teilnehmenden, die häufiger als einmal an den Essen teilnahm, und sich so nach und nach eine Art lose, lokale Über-denTellerrand-Community entwickelte. Durch die Punktualität der meisten in dieser Forschung besuchten Veranstaltungen, die nur an einem Termin stattfanden, stehen in dieser Arbeit allerdings vor allem das Schaffen sowie das Inszenieren bzw. Aufführen von Verbindungen im Mittelpunkt. Auch wenn den Teilnehmenden in den meisten Ess-Settings klar war, dass es sich in dieser Konstellation um eine einmalige Veranstaltung handelte, war die Kommunikation und Interaktion in den Situationen häufig so, dass die geschaffenen Verbindungen durchaus längerfristig Bestand haben könnten: Telefonnummern wurden ausgetauscht, Ideen für Projekte geschmiedet oder lose Verabredungen für weitere Treffen gemacht. Die Mehrzahl der Anwesenden wusste (implizit) vom kulturellen Programm einer solchen außeralltäglichen
▶ Kap. 3.1 Aktuelle Konzepte der Nahrungsforschung/Arbeitsbegriffe
240 | Essen mit und als Methode
Mahlzeit, die vor allem den Zweck verfolgt, Beziehungen „zu intensivieren und den Zusammenschluss zu einer ‚exklusiven Gemeinschaft‘ zu fördern“ (ebd.: 207). Durch ihre habituelle Prägung konnten die Teilnehmenden gemäß der an sie gestellten Erwartungen Beziehungsarbeit ‚performen‘, auch wenn sie keine konkreten Absichten in diese Richtung hatten. Diese Sichtweise lässt außeralltägliche Ess-Settings wie das Küchenmonument oder das Olympia Gastmahl als Inszenierungen des Alltäglichen erscheinen, welche die Mahlzeit als Form nutzen. Der soziale und kulturelle Hintergrund der Veranstalter*innen bestimmt zu einem entscheidenden Teil die Interaktion der Anwesenden, welche dabei Teil einer „cultural performance“ (Wierlacher 2011a: 118) werden. Inwiefern diese Idee der Aufführung die Situation der Anwesenden ordnet und für das Verständnis der Einzelnen hilfreich ist, kläre ich im noch folgenden Unterkapitel zu (Selbst-)Inszenierungen beim und über Essen. Vor allem den experimentellen Taktsinn-Dinnern lag darüber hinaus das Wesen einer Versammlung auf Probe zugrunde. Sibylle Peters und Esther Pilkington verstehen unter einer solchen Versammlung Situationen, in denen Menschen aus diversen Kontexten zusammenkommen und gemeinsam Wissen erproben und produzieren und dabei auch die Versammlung selbst in den Blick nehmen. Sie legen diesen Zusammenkünften – in ihrem Fall der Versammlung „The Art of Being Many“ – den Modus einer „real fiction“ zugrunde: „Let’s act together, as if there already is a transnational European real-democracy-movement, whose strength lies in selforganisation and a reflexive and creative way of performing instead of representing the many.“ (Peters, Pilkington 2015: 86). Um einen bestimmten Zustand, ein bestimmtes Wissen zu erreichen, setzen sie die kontrafaktische Annahme ein, dass dieses Ziel bereits Realität ist, in der Hoffnung, dass es in der Performance Realität wird. Tatsächlich waren gerade die von mir veranstalteten Forschungsdinner unter dem Titel Taktsinn solche hypothetischen, experimentellen Versammlungen, die die folgende Frage aufwarfen: Was wäre, wenn wir beim Essen forschen würden bzw. was wäre, wenn wir beim Forschen essen würden? Dies kennzeichnet die Settings als eine Art künstlerisches „Sozialisationsspiel“, das „[…] jene Modelle auf die Spitze kritischer Erprobung und Infragestellung [treibt], die vom alltäglichen Nahrungsverhalten vorgegeben werden, und die Strukturen, die sich im Nahrungshandeln abzeichnen, in ein ästhetisches Spiel von Dekonstruktion und Rekonstruktion […] verwickeln.“ (Neumann 1993: 421)
7.1 Zusammen am Tisch | 241
Die spielerische Aufforderung richtete sich an alle Teilnehmenden und lud sie ein, an dem offenen Setting und der kollektiven Suche nach Antworten mitzuarbeiten, und machte das Gelingen dieser Versammlung letztlich auch von ihrer Teilhabe abhängig. Wären die Gäste des zweiten Taktsinn-Dinners beispielsweise nicht der Handlungsanweisung des Abends gefolgt und hätten ihre Erinnerungen nicht geteilt, wäre die Veranstaltung als Forschungssetting unter dem Titel „Essen und Erinnerung“ für mich als Forscherin wenig erkenntnisreich gewesen. Somit werden die Ess-Settings in dieser Arbeit nicht nur als außeralltägliche Mahlzeiten definiert, in denen sich Sozialität organisiert und abbildet, sondern darüber hinausgehend als performative, kollektive Mahlzeiten, deren Gelingen an die Beteiligung aller Tischgenoss*innen geknüpft ist. Die Nutzung der sozialen und kulturellen Eigenschaften von außeralltäglichen Mahlzeiten bezeichnet Eva Barlösius als Funktionalisierung bzw. Institutionalisierung. Soziale Institutionen wie Mahlzeiten beinhalten habitualisierte Handlungen, die für alle Beteiligten erkenn- und erwartbar sind (vgl. Barlösius 2011: 184). Somit wird eine Mahlzeit als eine solche erkannt, auch wenn sie nicht vordergründig der Nahrungsaufnahme dient, sondern mit anderen Inhalten und Interessen ausgestattet ist, dabei aber in ihrer Struktur gleichbleibt (vgl. ebd.: 202). Ein gutes Beispiel für eine Funktionalisierung der sozialen Institution Mahlzeit stellt ein durch damalige Akteur*innen der Wilhelmsburger Soul-Kitchen-Halle45 im UdNRestaurant veranstalteter Abend dar. Die wöchentlich stattfindenden Restaurant-Abende der Universität der Nachbarschaften hatten das Ziel, Nachbar*innen einzuladen und somit das temporäre Bauprojekt stärker in den Stadtteil einzubinden: „Instead of trying to establish an exclave as a result of outer space student ideas, the objective is to imbed the hotel into the neighborhood. Think local... on every level! First step: open up to the neighbourhood, make your work visible and transparent. Invite them!“ (Bauer et al. 2013)
Für die ehemaligen Betreiber der Soul-Kitchen-Halle stellte dieser gemeinsam veranstaltete Restaurant-Abend eine Möglichkeit dar, 45 Die heute als Soul-Kitchen-Halle bekannte ehemalige Lagerhalle in Hamburg-Wilhelmsburg erlangte ihren Namen durch den Film „Soul Kitchen“ (Fatih Akin 2009). Sie wurde nach Veröffentlichung des Films zwischen 2010 und 2012 als Veranstaltungsort für unterschiedliche kulturelle Formate durch den Verein „StadtKultur Hafen“ genutzt. 2012 wurde sie durch die Stadt Hamburg u. a. wegen Brandschutzmängeln geschlossen. Seitdem ringen diverse Parteien um die Weiternutzung und gegen den Abriss der Halle.
242 | Essen mit und als Methode
ihre Belange zum Erhalt des 2012 durch die Stadt gesperrten Gebäudes zu thematisieren. Für die Beteiligten des UdN-Projektes ermöglichte diese Kooperation die Erweiterung des eigenen Netzwerks. „The 9th dinner experiment was the first time the organization was almost fully given over to another actor from the surrounding neighborhood. The initiative evolved towards the end of a previous dinner, when Mathias an active member of the nearby Soulkitchen Halle (located at the Industriestrasse 101) proposed his idea of taking over an evening. His idea was to organize the night as ‚Soulkitchen in Exile‘, where a discourse about the unsure future of this cultural venue could be ignited. With his crew of activists they would provide the food, and run the bar. The music would consist of a compilation of artists who had performed at the Soulkitchen throughout the course of its existence. […] Hosting an event together with a cultural venue, which has become an institution in the Reiherstiegviertel and Hamburg at large, allowed us to open our evening to an entirely new network of people. Since news about the event would be advertised via the Soulkitchen’s facebook site, our listservs and the local Inselbeat calender, we estimated with about 80 to 90 guests would show up. How exciting it was to give our laboratory over to others from the neighborhood!“ (Bauer et al. 2013)
Bei diesem kooperativ gestalteten Ess-Setting ging es somit nicht vorrangig um die gemeinsame Nahrungsaufnahme, sondern um das Schaffen einer Allianz, die für beide Seiten nützlich ist und dafür die gegebenen, offenen Strukturen eines Essens in den Projekträumen der Universität der Nachbarschaft nutzt. Die Aneignung und Nutzung von Mahlzeiten für bestimmte Zwecke lässt sich auch insbesondere in der Politik oder bei Arbeitsessen beobachten. Solche Situationen des gemeinsamen Essens sollen nach Eva Barlösius „eine Atmosphäre des Einverständnisses schaffen – oder vortäuschen –, um so die Verhandlungen zu erleichtern. Bei diesen Mahlzeiten ist beides zu einem bewusst inszenierten Symbol geworden: das Essen und die Gemeinschaftlichkeit.“ (Barlösius 2011: 210). Dies trifft in unterschiedlichen Ausprägungen auch auf die in dieser Arbeit untersuchten Ess-Settings zu, auch wenn die Gäste sich hier gerade nicht aus privilegierten Personen wie Politiker*innen oder Staatsgästen zusammensetzten. Das heißt im Umkehrschluss jedoch nicht, dass die in den EssSettings betonte Offenheit und Gemeinschaftlichkeit auch uneingeschränkt besteht. Verschiedenste Gründe tragen dazu bei, dass eine Mahlzeit nicht nur ein- sondern immer auch ausschließt. Diese Gründe reichen von Fragen des Zugangs zu Essensräumen über
7.1 Zusammen am Tisch | 243
Kostengründe bis hin zu einer bewussten Begrenzung der Zielgruppe. Auch durch die Art der Einladung, die für die Ess-Settings gewählt wurde (Mailinglisten, bestimmte Zeitschriften oder Aushänge an bestimmten Orten) fand bereits der Ausschluss derer statt, die nicht Teil dieser Informationssysteme sind, die sich aus verschiedensten Gründen nicht trauen teilzunehmen, Menschen mit Ess-Störungen und Unverträglichkeiten, Menschen, die Sprachbarrieren fürchten, und Menschen, die in den Settings nicht gemäß religiöser Vorgaben essen können. Fremdheit spielt nicht nur als interkulturelle Grenzziehung eine Rolle, sondern auch intrakulturell innerhalb von Subkulturen oder in Schwellensituationen wie dem Schulanfang oder Berufseinstieg (vgl. Wierlacher 2011a: 8). Somit sind Mahlzeiten nicht als Verbindungsgaranten zu sehen, sondern stärken vielmehr Gruppen, die sich grundsätzlich aus ähnlichen Personen zusammensetzen bzw. diese bestehenden Verbindungen in einem späteren Status repräsentieren (vgl. ebd: 95). Doch gerade über die Kenntnis und Feststellung eines Anderen, Fremden definiert sich auch das Eigene, und durch diese Grenzziehung und deren Inszenierung wird die Gruppenidentität gestärkt. Was als fremd gilt, ist hierbei eine Konstruktion und Setzung derer, die in der Position sind, den allgemeinen Diskurs zu prägen (vgl. Köstlin 2017: 360). Das/der/die Fremde bzw. Andere besitzt somit eine wichtige Funktion im Hinblick auf die soziale Situation der Mahlzeit und das im Folgenden erläuterte Konzept der Gastlichkeit, in das die Mahlzeit eingebettet ist, und kann sowohl positiv als auch negativ konnotiert sein.46 In den hier behandelten Ess-Settings wie auch im allgemeinen Diskurs um Essen steht weniger die angsteinflößende Wirkung des Anderen im Vordergrund, sie wird eher als exotisch markiert. Das Fremde ist hier laut Konrad Köstlin längst angeeignet (Köstlin 2017: 361) und fungiert eher als Chiffre der Selbstpositionierung. Nach Moritz Eges und Johannes Mosers Definition eines urbanen, ethischen Lebensstils gehört zum guten, städtischen Leben ein „routinierte[r] Umgang mit Differenz, mit Fremden und Fremdem“ (Ege, Moser 2017: 241). Auch für die an den Ess-Settings Teilnehmenden stellte die Konfrontation mit dem Fremden eher eine interessante Herausforderung dar, die es anzunehmen galt, um sich intellektuell und sensuell weiterzuentwickeln. Daher möchte ich mich an dieser Stelle noch einmal dem sozialisierenden Potential der Mahlzeit zuwenden,
46 So leitet sich das deutsche Wort „Gast“ vom lateinischen „hostis“ ab, das sowohl für „Feind“ als auch für „Fremder“ stehen kann. Eine eingehendere Begriffserklärung findet sich bei Wierlacher 2011a: 6f.
244 | Essen mit und als Methode
beispielsweise beim Empfangen von Fremden, und es in das übergeordnete Konzept von Gastlichkeit bzw. Hospitality einbetten. Denn das sozialisierende Potential von Mahlzeiten erklärt sich nicht aus der Nahrungsaufnahme heraus, sondern aus dem kulturellen und gesellschaftlichen System, in das diese eingebettet ist.
7.2
TISCHREGELN: GASTLICHKEIT ALS RAHMEN KULINARISCHER VERSAMMLUNGEN 47
Wie oben bereits angedeutet, sieht Alois Wierlacher (2011) in der bewussten und gerahmten Konfrontation mit dem Fremden – indem zum Beispiel unbekannte Personen zu einem Essen eingeladen werden – die Möglichkeit, sowohl sich selbst als Gastgebende/r als auch die versammelte Gruppe wandlungsfähig zu erhalten und sich weiterzuentwickeln. Insofern stellen Einladungen zu einem Essen sowohl ein Risiko als auch ein Potential dar. Ein Risiko insofern, als dass ich außerhalb des engsten Familien- und Freundeskreises nicht wissen kann, ob der/die Kochende/n hygienisch einwandfrei arbeiten oder eventuell unlautere Absichten verfolgen. Das Potential solcher Versammlungen, das wohl überwiegen mag, liegt zum Beispiel darin, neue Menschen und Sichtweisen kennenzulernen und dabei das eigene Netzwerk zu erweitern. Gleichzeitig geht es vor allem den Gästen, die einer solchen Einladung folgen, auch um ein (außeralltägliches) Erlebnis, das zum einen im Erleben von Sozialität und zum anderen in der leib/körperlichen Erfahrung der außeralltäglichen Ess-Situation oder auch aus einer Mischung der beiden besteht. Daran anschließend, dass sowohl Gastgebende als auch Gäste die gastliche Situation prägen und über deren Gelingen mitentscheiden, soll Gastlichkeit nachstehend als reziproker Prozess verstanden und reflektiert werden. Dabei frage ich auch nach den Grenzen und Anschlüssen an das Gastlichkeitskonzept. In welchen Settings werden die Grenzen zwischen den jeweiligen Rollen in gastlichen Situationen durchlässig und wo werden sie infrage gestellt?
47 Dieser Titel wurde von Alois Wierlachers Grundlagenwerk zum Thema Gastlichkeit in den Kulturwissenschaften (2011) inspiriert, auf dem große Teile dieses Kapitels basieren.
7.2 Tischregeln | 245
Gastlichkeit als Schwellensituation Das Verhältnis zwischen Gästen und Gastgebenden wird im Konzept der Gastlichkeit48 systematisch beschrieben, genauer gesagt in der kulturellen Form der Gastlichkeit, die Wierlacher als „ein Beziehungskonzept, ein Kulturmuster, eine Rechtsfigur, ein Geschäftsmodell und eine übergreifende Schutzkategorie“ (Wierlacher 2011a: 6) begreift. Das gemeinsame Essen bezeichnet er mit Bezug auf Regina Bendix (2008: 49) als kommunikativen Anker des Gastlichkeitskonzepts. Die gastliche Situation besteht dabei aus verschiedenen Elementen, zu denen zum Beispiel die zentrale Situation des Ankommens zählt, die Wierlacher als Schwellensituation bezeichnet (vgl. Wierlacher 2011a: 98). Viele dieser gastlichen Elemente laufen ritualisiert ab und andersherum enthalten viele Rituale einer Kultur Elemente des Essens und Trinkens, weshalb diese drei Elemente Gastlichkeit, Ritual sowie Essen (und Trinken) hier in Zusammenhang gebracht werden sollen. In diesem Dreiklang stellt die Gastlichkeit ein übergeordnetes Regelwerk und einen Rahmen für die konkrete Situation der Mahlzeit dar, deren Abläufe wiederum zu einem großen Teil ritualisiert sind. Typisch für Rituale ist, dass eine Transformation, eine (soziale) Wandlung stattfindet, an deren Schwellenzustand eben diese Rituale vollzogen werden. Dies geschieht in der Regel in einem Prozess, der individuelle mit sozialen Aspekten verbindet: „Allgemein lässt sich das Ritual charakterisieren als eine spezifische Verknüpfung von symbolisierten Einzelhandlungen und Gesten in gleich bleibenden, vorstrukturierten, also intern geordneten Handlungsketten.“ (Soeffner 2009: 14). Auch der Literaturwissenschaftler Rolf Parr bezeichnet Gastlichkeit als Schwellensituation, die zwangsläufig eine zeitliche Begrenzung der Situation mit sich bringt, denn der Gast, der bleibt, ist kein Gast mehr und unterliegt fortan einem anderen kulturellen Regelwerk. Aus diesem Grund gibt es gewachsene Bräuche, die das Beherbergen von Gästen u. a. zeitlich regeln wie etwa die Drei-Tages-Regel (vgl. Parr 2011: 156f). Diese populäre Regel zeigt sich 48 Der Begriff der Gastlichkeit wird hier gleichbedeutend mit dem englischen Begriff „hospitality“ verwendet, obwohl diese teilweise voneinander unterschieden werden. Hierbei ist auch der Terminus „hospitality commensality“ eingeschlossen, mit dem Tan Chee-Beng das erweiterte Familienmahl in den eigenen vier Wänden beschreibt, in dem zum Beispiel Freunde oder auch Fremde mitbewirtet werden (Chee-Beng 2015: 25-28). Das „commensality“-Konzept ist in diesem Kontext insbesondere dort interessant, wo es explizit um gastliche Situationen des gemeinsamen Essens geht, was nicht zwingend in gastlichen Situationen enthalten sein muss.
▶ Kap. 8.4 Transformation
▶ Kap. 7.5 EssSettings als liminale Situationen/Raum und Zeit des Versammelns
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zum Beispiel im Sprichwort „Besuch ist wie Fisch, nach drei Tagen stinkt er.“ Die gastliche und somit auch die Ess-Situation ist demnach eine Situation des Übergangs, in der wir die Rolle des Gastes bzw. der/des Gastgebenden übernehmen und auch wieder ablegen. Gleichzeitig können die Beteiligten – unabhängig von diesen vorab festgelegten Rollen – aus dieser Situation verwandelt hervorgehen. Insbesondere im hier behandelten Typus des Welcome Meals, das im Rahmen der Über-den-Tellerrand-Settings maßgeblich ist, kann von der Mahlzeit als rites de passage (van Gennep 2005) die Rede sein (vgl. Shields-Argelès 2016). Dabei wandelt sich der/die Fremde im Laufe des Essens zu einem Gast bzw. Freund. Dies geschieht zum Beispiel, indem Geflüchtete in den Über-den-Tellerrand-Settings ihre Kommunikationsfähigkeit in der deutschen oder auch englischen Sprache oder eben auch ihre Kochkünste zum Wohle aller unter Beweis stellen und sich somit in der temporären Gruppe vor Ort oder auch in der sie aufnehmenden Gesellschaft als gesellschaftsfähig erweisen. Diese Lust auf und an der Verwandlung kann als ein möglicher Grund für den Besuch der Ess-Settings beschrieben werden – sei es die veränderte (Selbst-)Wahrnehmung im vierten Taktsinn-Setting, als zum Beispiel nicht gesprochen werden durfte. Oder es wandeln sich die Verbindungen innerhalb der Gruppe der Teilnehmenden, wenn diese sich an Über-den-Tellerrand-Abenden beim Essen kennenlernen oder beim dritten Taktsinn-Dinner gemeinsam aus einer Schale essen müssen. In den genannten Situationen wie auch in gastlichen Wandlungsprozessen sind hierbei das Geben (zum Beispiel von Wissen, Erfahrung, Rezepten, Geld) und Nehmen (zum Beispiel beim Zuhören, Ausprobieren und Speichern von Wissen und Informationen) zentral. Dies basierte in den Ess-Settings in der Regel nicht auf materiellen Gastgeschenken. Vielmehr stand insbesondere in den Über-den-Tellerrand-Settings der wechselseitige Austausch ideeller Gaben im Vordergrund. Als zentrale Setzung in den Über-denTellerrand-Settings ist hierfür die Idee einer geteilten Gastgeberschaft zu nennen. Bei dieser bestimmt ein festes Organisationsteam die Rahmenbedingungen für das Setting, während das Rezept und ein Teil der Gäste der Geflüchteten von einer von Event zu Event wechselnden Person im Sinne eines ‚featuring‘49 bestimmt werden. Dieses Rezept kann einerseits als Gabe an den Konterpart im Gastgebenden-Team verstanden werden, welcher den oder die Rezept-
49 Ein „featuring“ bezeichnet vor allem in der Musik einen Gastauftritt eines Künstlers in einem gemeinsam ausgewiesenen Song wie beispielsweise: Deichkind – Der Flohmarkt ruft (feat. Herr Spiegelei).
7.2 Tischregeln | 247
gebende/n als Teil der Gruppe anerkennt. Die sich an der Zubereitung beteiligenden Gäste nehmen sowohl das daraus entstehende Gericht wie auch die an das Rezept geknüpfte persönliche Geschichte der Flucht sowie die kollektive Geschichte eines Landes oder einer Region als „Bereicherung des Erfahrungsspektrums“ (Dücker 2011: 69) wahr. Indem die Gäste die Zuwendungen (das Rezept und das zugehörige Narrativ) annehmen, erkennen sie die Rezeptgebenden in ihrer Funktion als Gastgebende an. Zentral an diesen ineinander verschränkten Praktiken des Gebens und Nehmens bzw. Anerkennens ist die Reziprozität des Prozesses, denn „[f]indet dieser Wechsel nicht statt und besteht keine Möglichkeit des Rollentauschs, so handelt es sich um Almosen, die zum Zweck der Konstruktion gesellschaftlicher Hierarchien vergeben werden“ (Gottwald 2011: 51). Und dies entspricht nicht dem erklärten Ziel der Über-den-Tellerrand-Community, welche gleichwertige Beziehungen und Verbindungen schaffen will, die im besten Fall aus den gemeinsamen Aktivitäten hervorgehen bzw. diese hervorbringen. So steht in den „Erfolgsrezepten“ auf der Über-den-TellerrandWebseite: „Bei gemeinsamen Aktivitäten treten Menschen leichter in ein dialogisches Miteinander und der Schritt vom ‚Wollen‘ zum ‚Tun‘ ist klein, wenn ein passender Rahmen geschaffen wird. Wir motivieren jede*n, Teil der Gemeinschaft zu sein, überlassen aber den Teilnehmenden die Entscheidung, wie sie sich einbringen möchten.“ (Über den Tellerrand e.V. ohne Jahr c)
Eine materielle Gegengabe oder eine Gegeneinladung zum Essen, die über diese organisierten Treffen hinausgeht, kann ein Weg in die Etablierung tragfähiger sozialer Beziehungen sein, wenn sie denn angenommen werden (vgl. Gottwald 2011: 52). So erlebte ich während meiner teilnehmenden Beobachtung der Über-den-Tellerrand-Settings, dass die Brüder Sinya und Metin meine Orga-Partnerin Beatrix und mich zum Kochen in ihre Folgeunterkunft einluden, nachdem sie mit einer Gruppe weiterer junger Männer mit uns gekocht hatten. Aus Zeitmangel konnten wir diese Einladung nicht annehmen und somit auch keine weiteren Verbindungen aufbauen. Diese Nicht-Annahme der Einladung zu einem „Gegenbesuch“ beschäftigte mich lange, weil sich darin für mich zeigte, dass die Über-den-Tellerrand-Abende zwar in besonderem Maße einen Grundstein für den Aufbau von Beziehungen legen können, es nach dem Kochabend während meiner Forschung aber wenig Möglichkeiten gab, das Festigen von Beziehungen zu fördern. In diesem Fall hatten die Geflüchteten nach dem punktuellen gemeinsamen Essen nicht die Möglichkeit der Gegengabe und bleiben in der „Schuld“
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(vgl. Derrida 1997), auch weil sie nicht zwangsläufig auf die gleichen Ressourcen (zum Beispiel hinsichtlich Räumlichkeiten, Wissen, Geld) Zugriff hatten wie die Locals oder das Über-den-Tellerrand-Team. Am Beispiel der Ressource Zeit im angeführten Beispiel der Gegeneinladung von Metin und Sinya wird jedoch auch deutlich, dass eine ungleiche Verteilung in beide Richtungen möglich ist und Begegnungen erschweren kann. Allerdings bestand bei den Über-den-Tellerrand-Settings auch die Besonderheit, dass der Austausch für Geflüchtete essentiell war oder sein konnte. Bei Settings wie zum Beispiel dem Olympia Gastmahl, die mehr einer Inszenierungslogik folgten, spielte das sich selbst und weitere Gaben einbringen vielmehr eine Rolle als die symbolische Anerkennung der Anderen. Wenn Gastlichkeit hier also als liminale, begrenzte Situation verstanden wird, begrenzt das auch die Situationen und Ansprüche, die mit diesem Konzept erfasst werden können. Insbesondere dort, wo es um längerfristige Verbindungen gehen sollte, ist die gastliche, punktuelle Situation der Kochabende eher eine Schwelle hin zur Community, die im Über den Tellerrand-Konzept als Ziel definiert wird. Für die Settings, die nur an einem Termin oder in einem begrenzten Zeitraum stattgefunden haben, ist die hier skizzierte Idee von Gastlichkeit jedoch analytisch wertvoll. Das Kuratieren außeralltäglicher Gastlichkeit Die hier behandelten Ess-Settings sind zwischen privatem und professionellem Essen anzusiedeln, da sie weder eindeutig im privaten Rahmen stattfinden noch professionelle oder gar kommerzielle Dienstleistungen sind. Bis auf das Olympia Gastmahl fand keines der Settings in einer privaten Wohnung statt. Alle Mahlzeiten wurden in Form von Mailings oder auf Internetseiten öffentlich angekündigt. In den meisten Fällen wurden die Kosten für die Lebensmittel oder die Raummiete durch Spenden, Eintrittsgelder oder andere Fördermittel Dritter gedeckt und kein Gewinn erzielt. Häufig wird die unentgeltliche, private Gastlichkeit von der entgeltlichen, professionellen Gastlichkeit unterschieden, indem sie als Gastfreundschaft bezeichnet wird (vgl. Fuchs 2011). Da in der vorliegenden Arbeit bei keinem der Formate monetäre Gewinne im Vordergrund standen, wird hier nur der übergeordnete Begriff der Gastlichkeit verwendet und ggf. zwischen professionell und privat unterschieden. Denn auch wenn die Gastgebenden der zugrunde liegenden Settings das Bewirten der Gäste nicht professionell betrieben, war damit insbesondere bei den künstlerischen Formaten wie dem Diskursiven Dinner oder dem Olympia Gastmahl der Gewinn von symbolischem Kapital verbunden. Zudem stellten die Formate
7.2 Tischregeln | 249
für raumlaborberlin oder den Künstler Jan Holtmann einen Teil ihrer Arbeit dar, die für eben diese Formate von anderen Stellen wie privaten oder öffentlichen Fördertöpfen bezuschusst wurde. Über die finanziellen Aspekte hinaus waren mit der Gastgeberschaft bzw. dem Gast-Sein Anforderungen oder Erwartungen verknüpft, welche sich aus dem Thema des Settings ergaben. Meistens standen hierbei das Diskutieren und Produzieren von Wissen im Vordergrund. Dabei unterstellten die Gastgebenden den Gästen, dass sie ein eigenes Interesse an einem Thema wie Olympia in Hamburg (Olympia Gastmahl) oder Erzählungen von Zukunft (Küchenmonument) sowie dem Setting selbst hatten. Es wurde hier also eine kollaborative Beziehung intendiert, um gemeinsam an etwas zu arbeiten. Bei privater Gastlichkeit wird durch die bereits bestehenden Beziehungen ein Vertrauensvorschuss gewährt. Bei professioneller Gastlichkeit muss dieses Vertrauen erst durch verschiedene Elemente hergestellt werden. Dies können formale Dinge wie einsehbare Zertifikate und Prüflisten sein oder auch informelle Aspekte wie gepflegte Gast- und Sanitärräume, das Ambiente oder vertrauenerweckendes Servicepersonal. Andersherum spielt auch für Gastgebende ein Vertrauensverhältnis zu den Gästen eine wichtige Rolle. Sie setzen in gastlichen Situationen voraus, dass die Gäste mit der Einrichtung und auch dem Ruf der/des Gastgebenden vertrauensvoll umgehen. Wie sieht dieses wechselseitige Vertrauensverhältnis im Zwischenraum von Privat und Öffentlich aus, in dem alle hier behandelten Settings verortet werden? Ein Aspekt, der hier – wie in bekannten Restaurants – vertrauensbildend wirkt, war bei Settings wie dem Olympia Gastmahl oder dem Diskursiven Dinner der Bekanntheitsgrad bzw. der Ruf der Gastgebenden. Sowohl Jan Holtmann als auch das raumlabor-Kollektiv sind überregional bekannte Kunstund Kulturschaffende. Im Fall des UdN-Restaurants wurde über das kulturübergreifend bekannte Format des Restaurants versucht, einen Rahmen zu schaffen, der bereits im Vorfeld eine Idee über Abläufe und Verhaltensregeln am jeweiligen Abend vermittelte. Zudem wurde hier mit Schlüsselpersonen bzw. -gruppen aus dem Stadtteil gearbeitet, die den Zugang für andere Nachbar*innen erleichtern sollten. Auch im Über-den-Tellerrand-Kontext spielte beispielsweise der Geflüchtete Gebre eine wichtige Rolle dabei, insbesondere für die ersten Kochabende andere Geflüchtete in den Erstaufnahme-Einrichtungen anzusprechen, Vertrauen aufzubauen und für die Dinner zu gewinnen: „I wanted to be a good example for the other Eritreans. I wanted to show them that you are ok.“ (Interview Gebre 2016).
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Das ‚Schnittstellen-Engagement‘ von Gebre ist kennzeichnend für ein zunehmend kooperativ gedachtes Konzept von Gastlichkeit, „[…] in dem sich auch der Gast neu zu definieren hat“ (Wierlacher 2011a: 9). Denn wird das Kooperative dieser Situation betont, übernehmen auch die Gäste einen zentralen Teil der Gestaltung und auch des Gelingens des Settings. Dieser Beitrag wird von den Gastgebenden in der Konzeption der hier behandelten Settings bereits mitgedacht und lässt die Partizipation und Interaktion der Gäste zu einem Gradmesser einer gelungenen Veranstaltung werden. Es ist hier also eine Veränderung der Rolle des Gastes von einem passiven Empfänger zu einer aktiv gestaltenden Person zu beobachten (vgl. Teughels/Scholliers 2017). Eine gastliche Begegnungssituation ist somit kein Selbstläufer, sondern bedarf der Konzipierung und Gestaltung der oben genannten Grundelemente dieser Situation. Das stellt Gastgebende vor Herausforderungen, eröffnet aber auch Möglichkeiten, zum Beispiel indem diese Rolle als Plattform für Selbstinszenierung bzw. für die Darstellung eigener Themen genutzt wird. An diesen Anspruch an Gastgeberschaft ist eine nicht alltägliche Form von Gastlichkeit gebunden, die über die bloße gemeinsame Nahrungsaufnahme hinausweist und mit einer Vorstellung von Erlebnis oder Unterhaltung verbunden ist. Die Verbindung von Nahrungsaufnahme mit einem Thema bedient in den hier untersuchten Ess-Settings also zu einem großen Teil auch einen Hunger der Gäste auf besondere Erlebnisse. Dieses Mahlzeitformat bedient einen „singularistischen Lebensstil“, deren Trägerschaft Andreas Reckwitz einer spätmodernen50, akademischen Mittelklasse zuordnet (Reckwitz 2018.: 24). Diesem Milieu sind auch die meisten der an den Ess-Settings Beteiligten zuzurechnen. Wodurch sich eben dieses Milieu auszeichnet und welche Aussagen sich in diesem Zusammenhang über die Ess-Settings treffen lassen wird eingehender im vierten Unterkapitel zu den (Selbst-)Inszenierungen geklärt. Der Aspekt des Essens als außeralltägliches Erlebnis findet sich zum einen in vielen innovativen Restaurant-, Dinner- und Lunchformaten (vgl. Bennewitz 2013), die hauptsächlich im urbanen Raum seit mehreren Jahren Konjunktur haben. Zum anderen bzw. als Teil dieser Konjunktur spielt der Umgang mit kultureller und kulinarischer Fremdheit insbesondere in den besuchten Über-denTellerrand-Settings eine Rolle. Alois Wierlacher betont mit Bezug auf Dietrich Krusche in diesem Zusammenhang den Genuss als leib/körperliche Erfahrung wie auch als Sozialität stiftender Faktor in Mahlzeiten:
50 Als spätmoderne Gesellschaft nimmt Reckwitz die Gesellschaft an, die sich seit den 1970er Jahren entwickelt hat. (Reckwitz 2018: 12)
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„Er [der Genuss, d. Verf] fördert die Bereitschaft, sich Neuem auszusetzen und das Wagnis der Selbstgefährdung in dem Maße auf sich zu nehmen, das nötig ist, um eine neue Einsicht in sich selbst und in die Welt zu gewinnen. Genuss ist insofern eine ‚Risikoerfahrung, ein Rand- und ein Kippphänomen und deshalb als Erfahrungsraum so aufregend, anthropologisch so aufschlussreich‘.“ (Wierlacher 1993: 114f)
Diese „Risikoerfahrung“ beispielsweise eines Willkommensessens (sowohl im Über-den-Tellerrand-Kontext als auch in anderen Kontexten beim Willkommenheißen von Gästen in professionellen Kontexten) ist hier bei Wierlacher eher positiv konnotiert. Anhand von Comté-Käseverkostungen in Frankreich beschreibt die Anthropologin Christy Shields-Argelès darüber hinaus, dass die Willkommen-Geheißenen in diesen Mahlzeiten auch einem Test unterzogen werden, inwieweit sie bereit sind, sich den Gastgebenden zu nähern und sogar anzupassen: „In this way, welcome meals often consist of ‚dare foods‘, which provoke fear or disgust for the outsider, but are highly symbolic of, and greatly appreciated by, the community.“ (Shields-Argelès 2016: 5). In solchen Schlüsselsituationen wird das Verhältnis zwischen Gästen und Gastgebenden grundsätzlich geklärt bzw. der Grundstein für diese Klärung gelegt, was im Folgenden näher erläutert wird. Verhältnis und Rollen von Gästen und Gastgebenden An dieser Stelle möchte ich noch einmal die Konstruktion der geteilten Gastgeberschaft in den Über-den-Tellerrand-Settings aufgreifen, da hier die Geflüchteten in die Lage versetzt wurden, Menschen aus der sie aufnehmenden Gesellschaft insbesondere kulinarisch zu testen. In den von mir beforschten Mahlzeiten stand hierbei allerdings sowohl bei den Geflüchteten als auch bei den Locals weniger das Testen, sondern vielmehr wohlwollendes Zeigen des Eigenen und das Kennenlernen des Anderen im Vordergrund. Auch wenn mir in anschließenden Gesprächen berichtet wurde, dass Teilnehmende durchaus Missfallen oder sogar Ekel verspürt hätten, wurde dies an den von mir besuchten Abenden nie direkt geäußert. In der Regel wurde das Essen den Rezeptgebenden und Kochenden gegenüber überschwänglich gelobt, und das so stark, dass es mir angesichts der häufig soliden, aber eher durchschnittlichen Gerichte manchmal unangenehm war. Eingenommen von dem von mir als unehrlich wahrgenommenem Lob, kam es mir nicht in den Sinn, dass die Bekundung von Lob nicht nur dazu diente, das eigene Befinden auszudrücken, sondern vielmehr eine soziale Funktion hatte.
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Den unterschiedlichen Bedeutungen und Funktionen des Ausspruchs „schmeckt gut“ geht Anna Mann als Forscherin während eines Familienessens nach, bei dem u. a. ein selbstgemachter Kuchen als Materialisierung von Beziehungen beschrieben wird. Mann stellt fest, dass „socializing through the cake does not necessarily involve experiencing its qualities“ (Mann 2018a: 7). Hier zeigt sich, dass der persönliche Geschmack und individuelle (Miss-)Empfindungen zugunsten eines übergeordneten Ziels wie dem Festigen von Beziehungen oder das Ermöglichen von positiven Begegnungen in den Hintergrund gestellt wurden. Das „schmeckt gut“ kann demnach als eine Form von Gegengabe für die im Kuchen ausgedrückte Zuwendung angesehen werden. Grundsätzlich geht aus diesen Ausführungen hervor, dass in den untersuchten Ess-Settings das Verhältnis zwischen Gast und Gastgeber*in reziprok ist. Franz-Theo Gottwald sieht diese Reziprozität, bezugnehmend auf Marcel Mauss (1984), aus einer (alternativ) ökonomischen Perspektive als „globale Grundform sozialer Interaktion“ (Gottwald 2011: 47) an und betont dabei, dass soziale Beziehungen dann stabil sind, wenn erbrachte und entgegengebrachte Leistungen ausgewogen sind bzw. als ausgewogen empfunden werden. Gottwald differenziert u. a. zwischen unmittelbarer Reziprozität, wo der Austausch innerhalb eines einzigen Prozesses abgeschlossen wird, und aufgeschobener Reziprozität, die er am ehesten im Konzept der Gastlichkeit verwirklicht sieht. Hier wird, zum Beispiel auf Reisen, die Gastlichkeit nicht direkt erwidert: „In der Fremde wird die materielle Seite der Transaktion häufig von der sozialen Dimension der Gastlichkeit oder dem kulturellen Selbstverständnis, dem Fremden ein guter Gastgeber [Anm. d. Verf.: oder eben den Gastgebenden ein guter Gast] zu sein, überdeckt.“ (Ebd.). Die Motivation für eine solche Leistung ohne direkte Gegenleistung liegt weniger in der Erwartung einer direkten gleichwertigen Gegenleistung wie einer Folgeeinladung, sondern zeigt – zumindest in einigen der hier zugrunde gelegten Settings – ein Verständnis von komplizenhafter Kooperation, in der auf ein gemeinsames Ziel hingearbeitet wird, nach dem Erreichen dieses Ziels die entstandenen Verbindungen aber auch wieder gelockert werden können (vgl. Ziemer 2013). Dies trifft insbesondere auf die Settings zu, in denen mit der (Selbst-)Inszenierung sowohl von Gastgebenden als auch von Gästen das Erlangen von symbolischem Kapital verbunden ist. Zudem viele Teilnehmende der untersuchten Settings miteinander bekannt oder sogar durch ein freundschaftliches Verhältnis näher verbunden. In diesen Konstellationen war es häufig eine „Selbstverständlichkeit“, die Aktionen befreundeter Kunst- und Kulturschaffender zu besuchen, sich dabei in einem bekannten Umfeld auszutauschen und an eben diesem lokalen Diskurs teilzuhaben. Auch an
7.2 Tischregeln | 253
den von mir in Hamburg veranstalteten Taktsinn-Abenden setzte sich die Gruppe der Gäste auf ähnliche Art und Weise zusammen. So spielte es für die hier anwesenden Freund*innen und Kolleg*innen bei deren Teilnahme auch eine Rolle, mich in meiner Forschung zu unterstützen und sich für in der Vergangenheit liegende Hilfen meinerseits zu revanchieren. Zwar war bei diesen Settings der Zweck, meine Forschung zu unterstützen, allen Teilnehmenden von vornherein klar. Allerdings zeigte sich auch, dass zum Beispiel die Aufforderung zum gegenseitigen Füttern im zweiten Taktsinn-Dinner Teilnehmende auf die Probe stellte und diese daraufhin aus der von mir erwarteten Gastrolle fielen, als sie die Aufgabe verweigerten. „Frauke hat sich während des Gemüseschneidens etc. fast komplett verweigert und gesagt, dass sie kollektives Kochen total blöd findet. Ich hatte das so angenommen, weil ich es als legitime Haltung in diesem Forschungsprozess sehen wollte, fand aber ihr Verhalten […] insbesondere in diesem Zweierteam während des gesamten Abends doof. Dass die beiden sehr fixiert aufeinander waren, ist auch mehreren anderen Teilnehmenden aufgefallen, die dies im Anschluss einige Tage später mir gegenüber äußerten.“ (Feldnotiz Taktsinn II)
In den vorangegangenen Ausführungen zu Gastlichkeit und Gastfreundschaft wurde insbesondere das Über-den-Tellerrand-Beispiel herangezogen, weshalb ich auf die Verbindungen von Essen und Migration und insbesondere auf die so genannte Flüchtlingskrise ab 2015 näher eingehen werde. Über-den-Tellerrand erscheint hier als naheliegendes Beispiel für Gastlichkeit, weil es nicht nur um die Fremdheit des Gastes geht, sondern um die gesellschaftliche Verhandlung des Fremden bzw. den Umgang mit „den Fremden“ als gesellschaftlicher Aufgabe.
7.3
HERZLICH WILLKOMMEN: ESSEN UND MIGRATION
Wenn über Migration gesprochen wird, ist auch schnell die Rede von Gerichten und Nahrungsgewohnheiten in anderen Ländern und Kulturen. Küchen, Nahrungsmittel und Gerichte werden häufig in Diskussionen über Integration und Identität thematisiert und fungieren hierbei als Zeichen und Indikator für Weltoffenheit oder Integration (vgl. Möhring 2012). Gleichzeitig geht es in diesem Zusammenhang auch um die Frage, wie Heimat schmeckt und Geschmacksbilder (re-)produziert werden können (Song 2012).
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Im Folgenden möchte ich die Verknüpfung von Migration als Erfahrung und Diskurs anhand der untersuchten Ess-Settings thematisieren, die alle während und häufig unter dem Eindruck der so genannten Flüchtlingskrise ab dem Jahr 2015 stattfanden. Hier spielten Essen und Kochen u. a. als Mittel zur Integration, als universelles Bild des Versammelns beim Essen oder auch als Stein des Anstoßes, wenn kein oder das falsche Essen aufgetischt wurde, eine Rolle. Insbesondere seien an dieser Stelle Fragen hinsichtlich des Konsums von Fleisch erwähnt. So verlaufen die Konfliktlinien zum Beispiel nicht nur zwischen Fleisch-Essenden und Veganer*innen/Vegetarier*innen, sie werden auch sichtbar, wenn besorgte Eltern monieren, dass es in Kindertagesstätten und Schulen aufgrund der Ernährungsregeln muslimischer Kinder nun kein Schweinefleisch mehr zu essen gäbe.51 Ess-Gewohnheiten werden somit zu einem Indikator für Fremdheit oder Vertrautheit, indem sie Menschen in ihren Gepflogenheiten bestätigen und Sicherheit vermitteln oder aber als differenzierendes Mittel fungieren. Wie im vorangegangenen Kapitel mit Bezug auf Wierlacher und Shields-Argelès angesprochen, gibt es zwischen Sicherheit und Fremdheit auch die Lust am (vermeintlich) Fremden oder Exotischen, mit der zum Beispiel „Outsider“ getestet werden oder Essenden die Möglichkeit einer außergewöhnlichen Erfahrung eröffnet wird (vgl. Reckwitz 2018). Dabei ist es zentral, ob dieses Wagnis freiwillig geschieht, indem Menschen auf Fernreisen, in Restaurants oder bei „Welcome Dinnern“ (Über-den-Tellerrand) unbekannte Speisen probieren, oder ob sie dazu gezwungen werden, weil beispielsweise Krieg sie aus ihrer gewohnten Umgebung vertrieben hat. Im folgenden Kapitel wird die zweite Variante in Verbindung mit den Soli-Mahlzeiten und der Über-den-Tellerrand-Initiative im Mittelpunkt stehen und in ihrer Verwobenheit mit aktuellen Diskursen sowie darüber hinausgehenden Ideen von Gemeinschaft und Kultur beleuchtet. Beide greifen dabei das Essen mit bzw. für Geflüchtete auf. In den zwei nachfolgenden Abschnitten werden Settings beschrieben, in denen der Anspruch bestand, ein Problem durch das gemeinsame Essen und Kochen zu bearbeiten und einer Problemlösung näher zu kommen. Bei den von mir besuchten Settings in diesem Kontext war dies vor allem die Idee, beim Essen und Kochen einander (kulturell) fremden Menschen Begegnungen zu ermögli-
51 Die Thematisierung von Fleisch als konfliktreiches Kulturgut findet sich u. a. bei Harald Lemke (2018: 335f), Hagar Salomon (2014) oder Lars Winterberg. Letzterer leitet u. a. das BMBF-Verbundprojekt „Die Verdinglichung des Lebendigen: Fleisch als Kulturgut“, das 2018 an der Universität Regensburg gestartet ist.
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chen und in einem zweiten Schritt möglicherweise auch Schwierigkeiten von Geflüchteten beim Knüpfen von Kontakten und Freundschaften sowie dem Ankommen in Deutschland zu begegnen. So war im Fall der Soli-Essen die Hilfestellung auch an das Sammeln von Geld geknüpft, welches den Geflüchteten zu Gute kommen sollte. Das Schaffen von Begegnungsorten und -möglichkeiten war in diesem Beispiel keineswegs einseitig als Angebot für Geflüchtete gedacht. Auch für Locals, die mit Geflüchteten in Kontakt treten und/oder sich in der Flüchtlingsarbeit engagieren wollten, wurde eine Möglichkeit des Zugangs geschaffen. Diese Fokussierung auf Gastgebende und Gäste wird im zweiten Unterkapitel zu den Überden-Tellerrand-Settings stärker thematisiert. Essen als Hilfsangebot: Soli-Essen Ein beliebtes Format nicht nur in der Hilfe für Geflüchtete ist das des Soli-Essens. Auch ich habe zwei dieser Formate besucht, erstens in Form eines Picknicks und zweitens in Form eines Dinners. In den meisten Fällen liegt solchen Soli-Mahlzeiten die Idee zugrunde, dass durch einen Geldbeitrag, der über die Deckung der Kosten für beispielsweise das Essen hinausgeht, (geflüchtete) Personen unterstützt werden sollen. In diesem Sinne sind Soli-Essen mit aus prominenten Kreisen bekannten Benefiz-Dinnern vergleichbar, wobei erstere eher einem linken, politischen und weniger glamourösen Milieu zugeordnet werden können. In beiden Fällen wird jedoch die Idee des Helfens bewusst mit dem Format eines Essens verknüpft. Demnach würden diese Mahlzeiten ohne die Bedürftigkeit der einen Partei nicht stattfinden. Unterstellt man der organisierenden Seite, dass sie einen größtmöglichen Betrag einsammeln möchte, dann erfolgt die Auswahl der verknüpften Veranstaltungen im Hinblick auf die zugeschriebenen Erfolgsaussichten. Daneben spielt es bei solchen Entscheidungen auch eine Rolle, mit welchen Ressourcen die verbundenen Veranstaltungen realisiert werden können. Auf dieser Basis sind Entscheidungen für das gemeinsame Essen nachvollziehbar, da diesem die oben angeführten sozialen Qualitäten zugeschrieben werden und es mit relativ geringen Ressourcen realisierbar ist.52 Meist reichen dafür ein Basis-Wissen über Nahrungszubereitung, ein Ort zum Essen und für die Zubereitung sowie Nahrungsmittel (im hier genannten Fall gerettete Lebensmittel) aus, welche auch für die eigene alltägliche Versorgung notwendig sind. Die Beteiligten vollziehen hierbei einen Tausch: Die eine Seite bekommt Geld oder 52 Eine kritische Reflexion der Annahme, eine öffentliche Mahlzeit könne jeder überall und jederzeit veranstalten, findet im nachfolgenden Unterkapitel 7.5 statt.
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andere Formen der Unterstützung, während die andere Seite das Erlebnis eines kollektiv eingenommenen Essens bekommt. Die Gerichtauswahl folgt bei Soli-Essen weniger ästhetischen oder gustatorischen Aspekten, sondern richtet sich vor allem nach praktischen Kriterien: Welche Nahrungsmittel können kostengünstig woher bezogen werden? Welche Anforderungen an das Essen ergeben sich durch die Gäste, die ggf. Unverträglichkeiten haben, vegan leben oder sich nach bestimmten Regeln ernähren? Ob sich dabei über den Spendenzweck hinaus eine (temporäre) Gemeinschaft oder ein Gemeinschaftsgefühl einstellt, hat mit der symbolischen Ebene des Anerkennens und des Interesses am Zweck zu tun. So macht es einen Unterschied, ob beispielsweise bewusst ein Gericht aus dem jeweiligen Herkunftsland gekocht und somit den Empfänger*innen der Spenden auf der symbolischen Ebene Anerkennung entgegengebracht wird. Auch auf der Seite der Spendenden bietet ein landestypisches Gericht einen Anker, um sich mit der Herkunft und Kultur der empfangenden Personen auseinanderzusetzen und ins Gespräch zu kommen, wie der Kommentar eines Teilnehmers an einer Taktsinn-Diskussion zeigt: „Klaus: […] wenn ich n Soli-Essen für Leute aus Mosambik mache und ich hab noch nie irgendwelche typischen Sachen aus Mosambik gegessen. Das sind dann auf einmal Geschmäcker, die ich überhaupt nicht kenne. Da würd ich mich in dem Moment verleitet fühlen, über die Besonderheit und die Geschichte dieser Menschen nachzudenken, weil es einen Geschmack gibt oder eine Konsistenz, die ich noch nie im Mund hatte, über diese Andersartigkeit über deren Situation nachzudenken.“ (Diskussion Taktsinn II)
Klaus äußerte diese (Selbst-)Einschätzung in einem Gespräch darüber, ob es sinnlich und sozial einen Unterschied macht, in einem Soli-Dinner ein „typisch“ deutsches Gericht oder ein Gericht aus dem Herkunftsland der geflüchteten Person zu kochen. Dabei schwingt der Wunsch mit, die andere Person mit seiner/ihrer (kulturellen, nationalen etc.) Identität anzuerkennen und willkommen zu heißen. Gleichzeitig kann diese Geste auch problematisch werden, wenn es darum geht, im Namen der zu empfangenden Person zu sprechen oder zu handeln und eine vermeintliche Authentizität herzustellen. Wenn Klaus über „typische Sachen aus Mosambik“ und die Neu- und Andersartigkeit spricht, die dieses Essen für ihn haben würde, verknüpft er diese (positiv besetzte) Fremdheitserfahrung mit der Andersartigkeit der Situation der Mosambikaner*innen. Auch wenn er hier von der Situation und nicht von der Andersartigkeit der Personen spricht, besteht bei Benefiz-Mahlzeiten wie Soli-Dinners oder Über-den-Tellerrand-Settings dennoch die Ge-
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fahr zu exotisieren, somit „das Andere“ zu konstruieren und festzuschreiben anstatt es aufzulösen. Denn es liegt in der Anlage solcher Veranstaltungen, dass es immer Helfende und Hilfsbedürftige gibt, wie auch in der Einladung über einen Uni-Mailverteiler zum SoliDinner für die Geflüchtete Fatuma deutlich wird. Diese wurde (ohne ihr Wissen) von Bekannten durch ein Dinner finanziell unterstützt: „Was hat ein Drei-Gänge-Menü mit der Freiheit einer Flüchtlingsfrau zu tun? Ziemlich viel! Deswegen laden wir Dich herzlich zu einem DreiGänge-Menü ein, dessen Erlös solidarisch für die Bewältigung bürokratischer und finanzieller Hürden zu Gunsten Fatuma’s Freiheit gespendet werden. Nimm dir am 13. November den Abend frei, bring Hunger und neugierige Lauscher mit, um dich auf etwas andere Art und Weise mit der Flüchtlingsthematik in Deutschland zu beschäftigen. Aber nun zum Eigentlichen: Wir begleiteten von Juli bis August eine Floßtour für und mit Flüchtlingsfrauen. Mit durchgeführt wurde diese von ‚Women in Exile‘ (http://www.taz.de/!140673/). Eine der betroffenen Frauen, die diese Tour begleiteten, ist Fatuma aus Somalia. Sie lebte bis März in Kenia und mußte das Land aufgrund kultureller Zwänge verlassen, nicht wissend, dass sie in Deutschland in einem Lager wohnen muss und schon bald ihre Abschiebung droht. Fatuma wird aber bald eine deutsche Frau heiraten. Dafür benötigt sie allerdings diverse Dokumente aus Kenia, dessen bürokratische Aufwände ca. 1500 Euro kosten. Da sie aufgrund ihres Flüchtlingsstatus nicht arbeiten darf, um das Geld aufzutreiben, werden wir sie mithilfe einer Soli-Aktion finanziell unterstützen. Das Essen wird professionell zubereitet und aus Hamburgs FoodsharingNetzwerk ‚Lebensmittelretten.de‘ bezogen. Deine Spende, die wir für diesen Abend aufrufen, geht also zu 100 Prozent an Fatuma, die an diesem Abend auch persönlich dabei ist. […] Der Abend soll eine Plattform bieten, sich in ausgelassener Atmosphäre über Themen der Flüchtlingsrealität auszutauschen und gleichzeitig einen Beitrag zu leisten, der Fatuma dieselbe Freiheit ermöglicht, die für uns wie selbstverständlich erscheint.“ (Feldnotiz Soli-Dinner Fatuma)
In der obigen Einladung fällt auf, dass das hier aufgerufene Spannungsverhältnis zwischen den benachteiligten Geflüchteten und den privilegierten Helfenden als Problem benannt, aber nicht weiter reflektiert wird. Abgesehen davon, dass viele Umstände im Vagen bleiben (Um welche bürokratischen Hürden geht es? Was sind kulturelle Zwänge? Wie genau hilft das Geld, das hier gesammelt werden soll?), mutet es zumindest widersprüchlich an, sich während eines professionell zubereiteten Drei-Gänge-Menüs „auf etwas andere Art und Weise mit der Flüchtlingsthematik in Deutschland zu
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beschäftigen“ oder „sich in ausgelassener Atmosphäre über Themen der Flüchtlingsrealität auszutauschen“. Es wird der Eindruck erweckt, dass die Veranstaltenden hier eher im Sinne eines BenefizDinners über die (Themen der) Hilfsbedürftigen sprechen als mit diesen in einen Austausch zu kommen und Begegnungen zu ermöglichen. Im Hinblick auf Gastlichkeitskonzeptionen handelt es sich hier allerdings eher um Almosen. Denn diejenigen, die Hilfe benötigen, sind hier häufig keine Gäste. Das war bei den beiden hier behandelten Settings anders, denn sowohl Fatuma als auch die Geflüchteten aus der St. Pauli Kirche waren anwesend und hatten Zugang zu Essen, Getränken und Menschen, ohne dass sie dafür eine Gegenleistung erbringen mussten. In Bezug auf den Zweck, die jeweiligen Geflüchteten finanziell zu unterstützen, kann insbesondere das Soli-Dinner für Fatuma als erfolgreich bezeichnet werden. In Bezug auf das Ermöglichen einer Verbindung mit der Geflüchteten und auch ihrer Themen war das Setting aus meiner Perspektive weniger ergiebig. So wusste Fatuma vorab nichts von dem für sie veranstalteten Essen und der damit verbundenen Spendenaktion, sie wirkte überfordert und trotz des guten Willens der Beteiligten eher der Situation ausgesetzt als empfangen und aufgenommen. Geteilte Gastgeberschaft: Über den Tellerrand Diesem problematischen Gäste-Gastgebende-Verhältnis möchte ich die Essen im Rahmen der Über-den-Tellerrand-Abende gegenüberstellen. Hier wurden die Aufgaben bei der Essenszubereitung zwischen Geflüchteten und Locals verteilt und somit waren beide Seiten aufeinander angewiesen, wenn sie ein Produkt und Erlebnis schaffen wollten: Die Köch*innen brachten ein Rezept mit und „überwachten“ die Authentizität, die Gäste halfen bei der Zubereitung und die Organisierenden stifteten Geld, Raum, Werbung, kauften ein etc. Das Konzept sah dabei ausdrücklich vor, dass auch die Geflüchteten ein fester Teil des Organisationsteams sein können. Über den Tellerrand ist ein Format, das Essen und Kochen in den Mittelpunkt der Inszenierung und Aushandlung von Gastfreundschaft und Gastlichkeit stellt und dies als größere gesellschaftliche Aufgabe begreift. Zivilgesellschaftliches Engagement, wie es in unterschiedlichen Formaten im Rahmen des deutschlandweiten Über-den-Tellerrand-Netzwerks (und darüber hinaus) praktiziert wird, wurde während der so genannten Flüchtlingskrise um das Jahr 2015 insbesondere in deutschen Medien als Ausdruck einer neuen Kultur von Gastlichkeit und Solidarität betitelt. Diese Gastlichkeit galt es, so der Tenor, gegen das Erstarken einer neuen Rech-
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ten zu verteidigen (vgl. Hirschfelder 2018: 133ff). In diesem Kontext liegt das Etablieren eines als per se gastlich markierten Formats wie der Mahlzeit nahe. Die Idee hinter der Über-den-Tellerrand-Initiative ist, über die gemeinsame Zubereitung und das kollektive Verspeisen zum einen Herkunft aufzuzeigen und zum anderen Ankommen und Annähern zu ermöglichen (vgl. Über den Tellerrand e.V. 2016b). Beides soll Verständnis und Wertschätzung für die jeweils andere Seite ermöglichen: „Über den Tellerrand bietet in regelmäßigen kreativen, schöpferischen und sportlichen Aktivitäten Raum für Freundschaftsbildung. Beim gemeinsamen Kochen, Kicken, Gärtnern, Quatschen, Laufen oder Tüfteln schweißt der gemeinsame Schaffensprozess alle Teilnehmer eng zusammen. Durch das Schaffen und Erweitern der sozialen Netzwerke wird dadurch Integration erfolgreich umgesetzt.“ (Über den Tellerrand e.V. 2016c)
Während meiner Feldforschung standen dabei vor allem Gerichte aus den Nationen im Vordergrund, aus denen die um 2015 Geflüchteten mehrheitlich stammten, in diesem Fall Syrien, Iran oder Eritrea. Inwiefern es sich dabei um landestypische bzw. regionale Gerichte handelte, lag in der Entscheidung der Geflüchteten, die das Rezept für den jeweiligen Abend einbrachten. Bei der Auswahl der Gerichte gab es für die Köche53 Einschränkungen, die sich aus der spezifischen Küchensituation am Veranstaltungsort, den Wilhelmsburger Zinnwerken, ergaben. So gab es dort beispielsweise nur einen kleinen Elektroofen, in dem keine Ofengerichte für eine Gruppe von meist ca. 20 Personen zubereitet werden konnten. Häufig gab es somit Reisbeilagen (zum Beispiel Formen des Gerichts „Kabsa“ mit Reis, Gewürzen und Fleisch). Bei den insgesamt fünf Über-denTellerrand-Abenden, bei denen ich dabei war, gab es drei Gerichte, die von Geflüchteten vorgeschlagen worden waren, und zwei, die aus dem Organisationsteam eingebracht worden waren. Im ersten Fall stand die Idee dahinter, dass die geflüchteten Personen den anderen Gästen einen Teil ihrer Kultur beim gemeinsamen Kochen näherbringen könnten. Dass auch wir Organisierende Gerichte einbrachten, war der Idee geschuldet, mehr Einfluss darauf zu nehmen, ob die Gerichte sich zur kollektiven Zubereitung eigneten. Denn oft konnten die Köche, die Gerichte mitgebracht hatten, keine oder nur wenige Arbeitsschritte an die ihnen meist fremden Personen abgeben, da für sie weniger der kollektive Akt des Kochens im Vordergrund stand, vielmehr sollte das fertige Gericht 53 In der Zeit meiner Forschung haben nur männliche Geflüchtete Gerichte vorgeschlagen.
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▶ Kap. 7.2 Tischregeln/Das Kuratieren außeralltäglicher Gastlichkeit
für die Rezeptgebenden authentisch aussehen und schmecken, was hier bedeutete: so wie sie es in ihrer Heimat kennengelernt hatten. In diesem Anspruch spiegelte sich u. a. der Wunsch wieder, etwas aus dem im Herkunftsland erworbenen Erfahrungsschatz an die Anwesenden zu übertragen. Dies unterscheidet die Über-den-Tellerrand-Abende grundlegend von den anderen hier untersuchten Settings, in denen es zweifelsohne auch den Anspruch gab, ein schmackhaftes Essen zu kochen und zu servieren. In den Über-denTellerrand-Settings ging es in der Praxis jedoch darüber hinaus um die möglichst perfekte Reproduktion eines (Geschmacks-)Bilds. Daraus entwickelten sich zwei Gastgeberschaftsebenen an den unterschiedlichen Über-den-Tellerrand-Abenden: Zum einen die institutionelle Gastgeberrolle, die wir als Organisationsteam innehatten, und die symbolische, delegierte Gastgeberrolle, die Personen einnahmen, die ein Gericht eingebracht hatten. Die Intention, ein authentisches Gericht zu kochen, konkurrierte somit auch mit dem offiziellen Über-den-Tellerrand-Anspruch, über die kollektive Handlung eine Gemeinschaft herzustellen, die im besten Fall über den einzelnen Abend hinaus wirkt und besteht. Dies war in einzelnen Fällen erfolgreich, insbesondere dann, wenn es gemeinsame Interessen gab, zum Beispiel eine Präferenz für bestimmte Freizeitbeschäftigungen wie Tischtennis oder Klettern. Aber auch wenn sich der Kontakt auf den Kochabend beschränkte, kam es zu relevanten sozialen Transformationen zwischen dem Ankommen vor Ort und dem Wiederauseinandergehen: Auf der eher faktischen Ebene wurden hilfreiche Informationen meist von den Locals an die Geflüchteten weitergegeben oder Locals erhielten Einblick in die Lebenswelten der Geflüchteten. Vor allem beim Kochen wurden Tipps zur Zubereitung und zu den Lebensmitteln ausgetauscht. Während die Locals vor allem an einem ersten Kontakt zu Geflüchteten interessiert waren, verbanden viele Geflüchtete neben der Lust auf einen netten Abend außerhalb der engen Geflüchtetenunterkünfte existenzielle Erwartungen mit dem Besuch eines solchen Kochabends. Der Aufbau eines Netzwerks mit Locals erleichterte den Geflüchteten das Ankommen vor Ort sowie das Finden von Arbeits- und Wohnmöglichkeiten. Diese Über-den-Tellerrand-Treffen lassen sich, wie oben bereits für die Taktsinn-Dinner beschrieben, als Versammlungen begreifen, die sich in Form einer „real fiction“ gestalten. In diesem Zusammenhang erscheint die gemeinsame Mahlzeit zwischen Geflüchteten und Locals als eine Art Probe oder vielmehr als ein „so tun als ob“ („as if“) – als ob das von Über den Tellerrand postulierte Ziel, Menschen über gemeinsames Essen zu verbinden und Integration zu gestalten, in den einzelnen Settings bereits Realität sei. Als
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Teil des „Social Gastronomy Movements“54 arbeitet auch das Netzwerk explizit mit dem Modus des „als ob“ („as if“). So ist auf der Über-den-Tellerrand-Homepage folgendes Zitat zu finden: „Food has this unique power to connect us all, and the table is that magic field where we can look to each other, eye level, no matter our backgrounds, and allow the magic of dialogue to happen – social gastronomy is all about this.“ (Über den Tellerrand e.V. ohne Jahr a).
Dass diese „real fiction“ funktionieren kann, aber nicht muss, beschreibt Sibylle Peters in ihrer Konzeption einer „improbable assembly“ und bringt hier ebenfalls den Begriff der Magie ins Spiel: „It means postulating the existence of an organization, an institution or a network, whose existence is desirable, yet improbable. It means acting as if the respective group actually existed, and thereby calling it into being. This may sound simple but it is not. It is magic, and like all magic, it sometimes works and sometimes does not.“ (Peters 2016: 37)
Dabei stellt eben diese von Peters angesprochene Beobachtung, dass eine solche „real fiction“ funktionieren kann, aber nicht zwingend funktionieren muss, ein entlastendes Moment dar, das bereits im Kapitel zum Forschen als leibliche Praxis als wichtiges Moment der Über-den-Tellerrand-Abende beschrieben wurde. Auch hier wird einmal mehr deutlich, dass das Zustandekommen der EssensVersammlung zwar wichtig ist, aber meist im Zusammenhang mit der zugehörigen Erzählung („the unique power of food to connect us“) funktioniert. Konrad Köstlin bringt hierbei, ähnlich wie das Konzept der „real fiction“, das Bild einer sich selbst erfüllenden Prophezeiung in Spiel: „Je mehr über das Essen nachgedacht wird, umso besser funktioniert ein Interpretament der Deutungseliten als self-fulfilling-prophecy, das aus solchen Zuschreibungen geglaubte Wirklichkeiten werden läßt. Dazu gehört auch der Glaube und das offenbar verbreitete Bedürfnis, sich dem Fremden durch das fremde Essen nähern zu können.“ (Köstlin 2017: 355)
Während die Locals beim Über-den-Tellerrand-Kochen vor allem die Annäherung an das Fremde sahen, stellten diese Settings für die Geflüchteten auch eine Möglichkeit dar, das Eigene zu inszenieren. 54 „The Social Gastronomy Movement is an interconnected global network of local communities that use the power of food to create social change.“ https://www.socialgastronomy.org (letzter Abruf: 10.01. 2021)
▶ Kap. 6.5 Zwischen Anspannung und Entspannung
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Insbesondere in den Jahren 2015 und 2016 stellten die Kochsettings für die Geflüchteten eine Möglichkeit dar, nach längerer Zeit wieder selbst kochen zu dürfen und vor allem selbst gewählte, bekannte Gerichte essen zu können. Denn in den zu diesem Zeitpunkt üblichen Erstaufnahme-Unterkünften gab es für sie keine Möglichkeiten, selbst zu kochen und die aus den Herkunftsorten üblichen Lebensmittel zu kaufen. Vielmehr waren sie auf die Verpflegung aus Großküchen angewiesen, die häufig deutlich von der Ernährung in den unterschiedlichen Herkunftsländern abwich. Im Gespräch mit zwei Geflüchteten erwiderten diese auf meine Nachfrage, ob sich das Kantinenessen in eine Länderküche einordnen lasse, dass die Gerichte am ehesten der türkischen Küche zuzuordnen wären, wobei es sehr häufig Nudeln gäbe (Feldnotiz 5. ÜdT-Abend). Beschwerden über einseitiges Essen, das Nichtbeachten von kulturellen und religiösen Nahrungsregeln und teilweise minderwertige Essensqualität finden sich in vielen Beiträgen zur Situation der Geflüchteten seit 2015 auch über den deutschsprachigen Raum hinaus. So lassen sich laut dem Entwicklungsforscher Paolo Novak die Kerndimensionen des herrschenden Aufnahmeprozederes für Asylbewerber*innen (in Italien) am Essen ablesen. Anstoß für sein Nachdenken über die Thematik stellte ein Treffen mit einem Asylbewerber dar, der die Essenssituation in seiner Einrichtung als schlimmsten Missstand beschreibt, was sich bei ihm nicht nur verbal, sondern auch in körperlicher Erregung äußert: „The most unbearable thing, however, was having to eat pasta every day. ‚Pasta – Bianco – Pasta – Bianco – Pasta – Bianco, every day, only pasta.‘ Bianco is the name given in Italy to ‚white‘ plates of pasta, without tomato sauce. ‚What about chicken?‘ I asked. ‚Yes, sometimes we get that. But always pasta, pasta, pasta.‘ He said the word pasta obsessively, over a hundred times. ‚Basta pasta,‘ he said – enough pasta.“ (Novak 2017)
In Italien wie auch in Deutschland stellte das Essensangebot in Wohnunterkünften für Asylbewerber*innen ohne eigene Küche einen Ausgangspunkt für Auseinandersetzungen und Demonstrationen dar.55 In den Beschwerden der Asylbewerber*innen und der öffentlichen Reaktion darauf eröffnete sich ein Dilemma, das während
55 Die Aussagen zur Kritik Geflüchteter am Essen und ihrer Unterbringung sowie der Reaktionen von Locals in diesem Abschnitt der Arbeit beruhen auf einer Sammlung von Zeitungsartikeln über die Ernährung Geflüchteter, die sich während der Forschung ‚nebenbei‘ angesammelt hat. Insofern ist es hier nicht der Anspruch, eine fundierte Analyse die-
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der so genannten Flüchtlingskrise um das Jahr 2015 medial und in Alltagsgesprächen viel diskutiert wurde. Im Kern ging es hierbei um die Frage, wie weit eine Notversorgung gehen kann und muss, um die Grundrechte der Geflüchteten zu gewährleisten: Reicht es, satt zu werden, oder beinhalten diese Grundrechte auch ein Recht auf abwechslungsreiche Nahrung, die gleichzeitig vollwertig ist und unterschiedlichen Ernährungsformen gerecht wird? Im Zuge dessen gibt und gab es Proteste sowohl auf Seiten der Geflüchteten als auch auf Seiten der Locals (vgl. Hendrich 2018). Vielfach wurde von Locals die Meinung geäußert, dass die Geflüchteten in dieser (vermeintlichen) Notsituation kein Recht darauf hätten, sich über das ihnen zur Verfügung gestellte Essen zu beschweren, sondern vielmehr Dankbarkeit für die ihnen ermöglichte Versorgung zeigen sollten (vgl. Winter/Schläger 2017). Die Proteste gegen das angebotene Essen hätten sich in Italien laut Novak sogar negativ auf Asylverfahren auswirken können: „Food is a central part of this system that privileges docile migrants and which rewards their ‚positive signs of integration‘. This means saying ciao or buongiorno to Italians in an appropriate manner. Not making any trouble. And eating pasta – as all Italians are expected to do.“ (Novak 2017)
Am Beispiel von Nudeln und deren Ablehnung durch die Geflüchteten sowie der darauf geäußerten Erwartungen der Locals, wie Geflüchtete sich zu verhalten haben, zeigen sich unterschiedliche Verständnisse von und Erwartungen an Gastlichkeit. In der Zurückweisung der Nudeln, die in diesem Konflikt für ein italienisches Nationalbewusstsein stehen, weisen die Asylbewerber*innen im Verständnis der Kritiker*innen auch die Integration in die italienische Gesellschaft zurück und verweigern somit eine (immaterielle) Gegengabe auf die Aufnahme und Versorgung durch das jeweilige Land. Der katholische Caritasverband nahm diese Problematik des als angemessen empfundenen Gebens und Nehmens in der Geflüchtetenhilfe in einem Leitfaden auf. Die Autorin Hildegard WenzlerCremer unterscheidet hier zwischen Gesten der Dankbarkeit und Unterwerfung und betont, dass Konventionen des Zusammenlebens wie zum Beispiel im Rahmen von Gastlichkeit möglichst gleichberechtigt und professionell (neu) ausgehandelt werden müssten, um
ser Berichterstattung und der Ernährungssituation Geflüchteter zu erstellen. Vielmehr dienen die zitierten Beiträge der Verhandlung von Gastlichkeit am Beispiel der Verpflegung von Geflüchteten in Deutschland und Europa.
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keine der Seiten in ihrer Freiheit einzuschränken, sondern zu bereichern (vgl. Wenzler-Cremer 2018). „Es gehört zu einer nachhaltigen und sinnvollen ehrenamtlichen Arbeit, dass viel Wert auf eine gelingende Kommunikation gelegt wird, um kulturelle Unterschiede und schwierige Situationen besser zu verstehen sowie Sprachbarrieren zu überwinden. Dazu gehört auch, die Perspektive des anderen einnehmen zu können. Die Qualität ehrenamtlicher Arbeit kann enorm gesteigert werden, wenn sie gut begleitet und Supervision angeboten wird.“ (Wenzel-Cremer 2018)
Aus dieser Situation heraus wird die Entwicklung der verschiedenen Formate rund um das gemeinsame Kochen und Essen im Rahmen der so genannten Flüchtlingskrise umso plausibler. Das oben skizzierte Problem der unterschiedlichen Bewertung einer ausreichenden Versorgung mit Nahrung und anderen Gütern wird im Über-den-Tellerrand-Konzept aufgegriffen und den einzelnen Satelliten ein Konzept sowie Workshops für das Durchführen von Settings zur Verfügung gestellt.56 Auf der individuellen wie auch auf der symbolischen Ebene spielt die Thematisierung des Anderen in den untersuchten Settings eine zentrale Rolle, indem das jeweils Andere einverleibt und somit zum Eigenen wird. Das Erkennen des Eigenen beispielsweise in der kulinarischen Identität eines jeden und das Wertschätzen und Vermitteln dieser steht im Mittelpunkt des Über-den-Tellerrand-Konzepts. Es spielt insbesondere im gesetzten Rahmen der Flucht eine zentrale Rolle, denn den meisten Geflüchteten bleibt, nachdem sie einen Großteil ihres materiellen Besitzes zurücklassen mussten, vor allem das körperlich gebundene Wissen, um die eigene Identität und damit verbundene Geschichten zu erzählen. Zum Beispiel Ge-
56 Die anhand der Nudeln thematisierte Verknüpfung von Nationalität und Herkunft ist keineswegs so stabil, wie es die Erzählungen über Nationalgerichte teilweise suggerieren. Auch wenn bestimmte Speisen schon vermeintlich seit Jahrhunderten in einer Region zubereitet werden, sind sie häufig das Ergebnis von Wanderungsbewegungen von Menschen und somit auch von Zubereitungsweisen von Nahrung. Dies zeigt sich zum Beispiel auch, wenn es eher um Regionalküchen geht, die sich teilweise um die Grenzen von Nationalstaaten herum verorten lassen. In Deutschland zeugt beispielsweise die Existenz von italienischen oder türkischen Restaurants von der Einwanderung und dem Bleiben der so genannten Gastarbeiter*innen seit den 1960er Jahren. Gleichzeitig wird das Was und das Wie des Essens häufig zum Gegenstand von Zuschreibungen nationaler Identität (vgl. Shields- Argelès 2016).
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schichten darüber, wie es in Syrien eine Art „kulinarische Konkurrenz“ zwischen den Städten Aleppo und Damaskus gab und die jeweiligen Köche ihre Gerichte einer der Städte und deren Eigenschaften zuordneten und dabei in einen spielerischen Wettbewerb über die kulinarische Hauptstadt Syriens traten. Gleichzeitig lassen sich auch über die einzelnen Lebensmittel, die verarbeitet werden und nicht zwingend aus den Herkunftsländern kommen müssen, Erinnerungen und Wissen aufrufen, die bei der Zubereitung aufgerufen und mit den anderen Teilnehmenden geteilt werden können. Besonders deutlich zeigte sich dies am Beispiel der Kirschen für das am vierten Über-den-Tellerrand-Abend gekochte Gericht „Lahme bi Karaz“ (Hackbällchen mit Kirschen). Dies reichte vom Einkaufen der richtigen Kirschen, währenddessen der Rezeptgeber Makar mit seiner Mutter in Syrien über das Rezept sprach und mir von Kirschbäumen sowie dem Kauf und dem Haltbarmachen von Kirschen in Syrien berichtete, bis hin zur Aushandlung von kulinarischen Gewohnheiten bei der Zubereitung von Fleisch und Frucht in einem Gericht in der Gruppe aller Teilnehmenden. Indem Essen und traditionelle Zubereitungsweisen im Über-den-Tellerrand-Format und von den Teilnehmenden als etwas Wertvolles angenommen werden, entsteht hier für die Geflüchteten die Möglichkeit, einen anerkannten Beitrag zur Gemeinschaft und Kultur zu leisten. Christy Shields-Argelès versteht diese Dynamiken sozialer Identifikation im Rahmen von „Welcome Dinners“ als „continuous, dialogical process, rather than as a thing people possess, identity here has to do with the manner in which representations of ‚us’ and ‚them’ are not only integral to our own identity, but also constitutive of social interactions“ (Shields-Argelès 2016: 5). Dabei müssen das Kochen und Essen selbst nicht vordergründig der Ort bzw. die Praxis sein, an welche als zentral wahrgenommene Momente von Begegnung und Integration geknüpft werden. So dauerte die Zubereitung des Essens beim ersten von mir mitorganisierten Taktsinn-Abend viel länger als vorgesehen und so wurden die zur Überbrückung gespielten Gesellschaftsspiele zur „interaktivsten“ Zeit des gesamten Abends. Ein Geflüchteter aus Eritrea, der an mehreren Über-den-Tellerrand-Kochabenden teilnahm und somit eine sehr präsente Person während meiner Feldforschung war, betonte in einem Interview ebenfalls die Wichtigkeit von Formaten, die Interaktion ermöglichen. Dabei beschrieb auch er die Rolle des Essens und Trinkens für sich selbst als eher nachrangig: „It’s [Über den Tellerrand, d. Verf] an event where some one [sic] either do good to others or receive good from others – which are both equally important in social life. […] I participate because it's a way of integration. Not every body knows how to cook, but every body [sic] knows how to eat.
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It's a good way to bring people together. […] I got to know other people there. […], you and others are among those whom I came to meet in that place. And I am in contact with them in a way that suits our circumstances.“ (Interview Paula m. Gebre 2016: 17)
Auf seine Erwartungen angesprochen, reflektierte er seine eigene Rolle und Wirkung auf andere Geflüchtete, insbesondere andere Eritreer: „I wanted to be a good example for the other Eritreans. I wanted to show them that you are ok.“ (Interview m. Gebre 2016). Er war durch seine Kontaktfreude und teils auch freundliche „Hartnäckigkeit“ bei anderen Aktiven in der Geflüchtetenhilfe bekannt. Obwohl das gemeinsame Essen und Kochen nicht der Grund seiner Teilnahme an den Kochabenden war, sondern vordergründig der Wunsch nach Integration und Kontakten, misst Gebre im folgenden Zitat dem Essen und Kochen auf Nachfrage eine wichtige Rolle bei: „Eating is one of the best ways to come close. It helps coming closer at a table. There are cultural differences also in eating and cooking but everybody eats and cooks. And this helps to feel the similarity. It’s a good base and a starting point. That makes it easier to go further. Eating and cooking together is better than offering clothes or shelter or even a class. It’s about basic needs.“ (Interview mit Gebre 2016)
Hier wird deutlich, inwiefern ein Format wie Über-den-TellerrandKochen kulturelle Differenzen thematisiert und dabei zu überwinden versucht. Wie Gebre andeutet, stellen Essen und Kochen eine Grundlage her, auf die sich alle Anwesenden einigen können. Auf dieser Basis können dann Unterschiede in der (Ess-)Kultur gemeinsam thematisiert und verhandelt werden. Ob Mahlzeiten im Rahmen der Geflüchtetenhilfe für das Zustandekommen von Verbindungen funktionieren, hängt nicht von einem Automatismus ab, der diesen Situationen innewohnt, sondern auch maßgeblich vom Engagement der Beteiligten (vgl. Shields-Argelès 2016). So sah sich Gebre im Rahmen der Über-den-Tellerrand-Abende selbst als Vorbild und Gewährsperson für andere Geflüchtete, denen er vermittelte, dass die Initiative vertrauenswürdig sei. Dabei nahm er schnell eine vermittelnde Position zwischen den Locals bzw. dem Organisationsteam und den Geflüchteten ein, was zeigte, dass hier die Grenzen zwischen den Zugehörigkeiten durchlässig wurden. Diese Entwicklung ist grundsätzlich im Über-den-Tellerrand-Konzept angelegt, in dem nicht von Gastfreundschaft als Ziel die Rede ist, sondern von „community building“. Hieran wird deutlich, dass bis zum Zeitpunkt des dauerhaften Rollenwechsels zum Beispiel vom Geflüchteten (Gast) zum Mitorganisierenden (Gastgebende/r) das Konzept der Gastlichkeit analytisch hilfreich ist, um die Situation der Treffen
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zu beschreiben. Um das längerfristige soziale Gefüge und Ziel der Über-den-Tellerrand-Community zu analysieren, greift dieses Konzept hier jedoch zu kurz und muss Gegenstand weiterer Studien zu diesem Thema sein.
7.4
(SELBST-)INSZENIERUNGEN ÜBER ESSEN UND KOCHEN: ELEMENTE EINES SINGULARISTISCHEN LEBENSSTILS
Wenn ich auf die Teilnahme an den verschiedenen Ess-Settings zurückblicke, gibt es neben dem bereits beschriebenen Gefühlsmix aus Anspannung und Erschöpfung ein weiteres Gefühl, das mitentscheidend dafür war, an dieser Stelle auch den Aspekt von Lebensstil(en) und Selbstinszenierung(en) im Rahmen der Mahlzeiten zu betrachten. Es handelt sich hierbei um das Gefühl der Fremdheit bzw. des Nicht-Ganz-Dazugehörens. Damit einher ging die Angst, in einem Milieu, dem ich mich eigentlich zugehörig fühle, implizite Kodes und Regeln nicht zu kennen und meine Zugehörigkeit im Falle der Nichteinhaltung infrage gestellt zu wissen. Während der gesamten Erhebungsphase erlebte ich diese Fremdheitsgefühle und damit verbundene Momente der Verunsicherung, die zentral waren, um auf diese Situationen analytisch zugreifen zu können. So zog ich mich während des Diskursiven Dinners im Küchenmonument lange Zeit in die Beobachterinnen- bzw. Außenseiterinnenrolle zurück, bis ich gezwungen war, Platz zu nehmen und in Kontakt zu treten. Ich checkte E-Mails auf dem Handy, „um noch ein bisschen beschäftigt auszusehen“ (Feldnotiz Diskursives Dinner). Auch während des Olympia Gastmahls gab es diese Momente vor allem in der Situation des Ankommens, als ich verspätet und durchnässt die Location des Dinners betrat, wähend die offizielle Begrüßung bereits begonnen hatte. In der Feldnotiz zum Olympia Gastmahl zeigt sich in dieser Situation mein Unbehagen, mich meinem Feld zu zeigen, das ich als „kulturmäßig cool“ identifiziere. Nasse Regenkleidung war hierbei kein hilfreiches Accessoire, um einen guten ersten Eindruck zu machen. Darüber hinaus stand ich durch meine späte Ankunft ungewollt im Fokus, bevor ich einschätzen konnte, wer und wie die anderen Gäste des Abends sind. Beim Besuch des Soli-Picknicks im Hamburger Park Fiction zu einem früheren Zeitpunkt der Forschung verhinderte dieses Fremdheitsgefühl jegliche Interaktion, indem ich mich in die Beobachterinnenrolle zurückzog und keine Interaktionen wie Essen und Gespräche wagte – obwohl die Einladung zu diesem Picknick etwas anderes sagte:
▶ Kap. 6.5 Zwischen Anspannung und Entspannung
268 | Essen mit und als Methode
„70 refugees sleep at night in the St. Pauli Church. Let’s invite our new neighbours to a barbecue. So that we get to know each other. In an inviting atmosphere. Bring an extra piece of meat or veggy-sausage and share it. Or a grill, potato salad, bread or humus, or something to drink. Bring your kids. Everyone is welcome.“ (Park Fiction Kommitee 2013)
Auf die Frage, inwiefern sich hier die Grenzen von Teilhabe und Zugang zu den immer als offen kommunizierten Settings aufzeigen lassen, gehe ich an späterer Stelle ein. Auch die Frage, inwiefern die Räume der jeweiligen Settings Interaktionen begünstigen, werde ich zu einem späteren Punkt dieses Kapitels klären. Vorerst möchte ich an diesen Reflexionen meines Materials deutlich machen, dass insbesondere die hier angesprochenen Settings in einem bestimmten gesellschaftlichen Milieu stattfanden, das mit einem bestimmten Lebensstil und dessen Inszenierung verbunden ist und somit die besuchten Settings auch noch einmal gesellschaftlich rahmen. Ess-Settings zwischen Ethik(en) und Ästhetisierung Die an dieser Stelle angestrebte soziokulturelle Einordnung der Teilnehmenden an den hier zugrunde liegenden Ess-Settings geschieht, wie vorangehend beschrieben, zum einen aus der während der Feldforschungen immer wieder von mir wahrgenommenen Irritation heraus, aus der sich Aussagen über meine Verbindung zum Feld treffen lassen. Zum anderen geschieht diese Einordnung aufgrund der Feststellung, dass die Besucher*innen der Settings eine relativ homogene Gruppe in Bezug auf den sozioökonomischen Status darstellen. So handelte es sich bei den Teilnehmenden überwiegend um kunstaffine Personen zwischen 20 und 60 Jahren, die einen Studienabschluss haben und im urbanen Raum leben und arbeiten. Diese Gruppe unterscheidet sich durchaus von der im fünften Kapitel umrissenen Gruppe, die viel größer ist und eher als deutsche bzw. westeuropäische Mehrheitsgesellschaft bezeichnet werden kann. Aus der Perspektive der Gruppe, die hier für die Ess-Settings angenommen wird, ist dies jedoch kein Widerspruch, denn die Haltung der (eher privilegierten) Teilnehmenden ist eine, die auf Allgemeingültigkeit und Übertragbarkeit auf größere Zusammenhänge zielt. Die an den Ess-Settings Beteiligten können als Personen beschrieben werden, die zwar sich selbst entfalten und verwirklichen wollen, dies jedoch auch in einer weltzugewandten Weise tun wollen (vgl. Reckwitz 2018: 228ff). Mit Blick auf die Ernährung, die Reckwitz neben dem Reisen oder Wohnen als ein zentrales Element
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eines spätmodernen, singularistischen Lebensstils beschreibt, bedeutet das zum Beispiel, dass diese Menschen sich genussvoll, gesund und durchaus außenwirksam ernähren wollen, dies jedoch nicht auf Kosten anderer und auf eine nachhaltige Art und Weise tun wollen. Hierbei geht es weniger um Anpassung an Normen oder einen Mainstream als vielmehr darum, das Richtige, Gute auf eine besondere Art und Weise zu tun und somit um eine „Ethisierung des Kulinarischen“ (Reckwitz 2018 250ff). Die Forscher*innengruppe „Urbane Ethiken“ verortet diese Gemengelage aus individuellen und ethischen Fragen von Lebensführung explizit im urbanen Raum (Ege/Moser 2020) und stellt hier eine besondere „Konjunktur von als ethisch codierten Praktiken“ fest (Ege/Moser 2017). Zu diesen Praktiken wird in dieser Arbeit das kollektive Kochen und Essen mit einem Thema gezählt, da hierbei „AkteurInnen (vielfach: neue) Modelle des städtischen Zusammenlebens und Kooperierens, Modelle städtischer Lebensführung und einer entsprechenden Subjektivität entwickeln, mit denen Vorstellungen des Guten und Richtigen zusammenhängen“ (Ege/Moser 2017). Damit sind insbesondere die Ess-Settings angesprochen, die ihr Tun insgesamt bzw. das zugrunde liegende Konzept als gut und richtig kommunizieren. Dies ist bei den Soli-Dinnern und dem Über-den-Tellerrand-Kochen, bei denen es sich um Hilfsangebote handelt, offensichtlich der Fall. Interessant sind an dieser Stelle aber auch die Settings, bei denen die Handlungen im Kleinen von ethischen Gesichtspunkten geleitet wurden, zum Beispiel wenn es um die Herkunft und Qualität der verwendeten Lebensmittel ging. Vielfach wurde Wert auf vegetarisches, biologisch erzeugtes und regionales Essen gelegt. Diese Komponenten traten allerdings dann in den Hintergrund, wenn es um „gerettete“ Lebensmittel57 ging, die ansonsten im Müll gelandet wären. Bei der Verwendung von geretteten Lebensmitteln spielt häufig auch der finanzielle Aspekt eine Rolle, da solche Lebensmittel den Veranstalter*innen kostenlos zur Verfügung stehen, was in Bezug auf die Herstellungsbedingungen zu Konflikten führen kann. So war ich während meiner teilnehmenden Beobachtung der Hallo Festspiele 2016 Zeugin einer Diskussion des Küchenteams zu eben diesem Thema: „Als später die meisten Dinge erledigt sind, stehen Monika und Marlene und teilweise auch T. zusammen und planen einzelne Essen für unterschiedliche Slots. Sie sind sich dabei nicht sehr einig. […] Es scheint auch langsam das Geld für Lebensmittel knapp zu werden. Marlene überlegt eine Aktion mit Brot, Butter und Kresse aus einer Kunstaktion und Monika sagt, wir müssen im Zweifel Brot von Penny kaufen und dabei einfach ein bisschen 57 Vgl. https://foodsharing.de/ (letzter Abruf: 10.01.2021)
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der Masse Rechnung tragen. Das lehnt Marlene vehement ab.“ (Feldnotiz Hallo Festspiele 4. Tag)
▶ Kap. 8.2 Methodologisches Fazit/Mahlzeiten als Erkenntnissituationen
Marlene unterscheidet hier deutlich zwischen guten (= geretteten) und schlechten (= Brot von Penny) Lebensmitteln und gibt somit Einblick in ihre ethisch motivierte Praxis, die nicht nur ihre private Meinung aufzeigt, sondern maßgeblich für die Organisation des Hallo Festivals wird. Gleichzeitig zeigt sich an diesem Beispiel, dass dieser hier skizzierte Anspruch an die Lebensmittel mit einer ästhetischen Komponente verbunden wird, wenn zum Beispiel Marlene trotz Zeitdruck großen Wert darauf legt, die Gerichte in Schalen geschmackvoll anzurichten und somit eine „schöne Situation“ zu erzeugen. Der beschriebene ethische Umgang mit Essen geht über individuellen Geschmack oder habituelle Unterschiede hinaus, indem die Akteur*innen hier mit der Wahl eines Ernährungsstils ein gesellschaftliches Programm verfolgen und davon ausgehen, mit dieser Ernährung direkt Einfluss auf sozioökonomische Prozesse nehmen zu können (vgl. Ott 2017: 444f). Diese Schwierigkeit, die individuellen und auch kollektiven Definitionen von gutem Essen in der alltäglichen Praxis umzusetzen, beschreibt auch Anke Strüver in ihrem Text zu einer verkörperten politischen Ökologie des e/Essens. Bei den von ihr durchgeführten „Eat-Alongs“ fand Strüver heraus, dass die Praxis guten Essens maßgeblich von räumlichen, finanziellen und kulturellen Bedingungen abhängt (Strüver 2020: 106f). In der Verhandlung des guten und richtigen Geschmacks geht es somit auch um das Verfügen über ein Wissen über gutes Essen (vgl. Lemke 2001). In den hier untersuchten Ess-Settings oder auch ähnlichen Situationen wie den bereits angesprochenen „Supper Clubs“ findet eine Aushandlung dieses Wissens statt. Dass sich dieses Wissen jedoch nicht ohne weiteres in ein Menü übersetzen lässt, zeigt sich zum Beispiel an der Vorspeise des Olympia Gastmahls. Hier wurde aus der ethischen Sicht alles richtig gemacht: Es gab eine Kürbissuppe, die im Herbst mit biologisch erzeugten Produkten vegan/vegetarisch günstig hergestellt werden kann und dabei meist allen schmeckt. Allerdings ist die Gefahr groß bei solchen Gerichten, die es allen recht machen, dass sie wenig Spannung erzeugen und dementsprechend wenig zu einem (erwarteten) singulären, genussvollen Erlebnis beitragen. Aus diesem Grund mehren sich auch die Stimmen, die den Genuss und somit das subjektive Erlebnis in den Vordergrund stellen (vgl. Käsmayr 2018, Kofahl 2018). Mit dieser Perspektive auf Ästhetik und Ethik (auch) als Form des Selbstausdrucks und der Selbstpositionierung wird weniger die
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biologische Notwendigkeit des Essens betont, sondern der Fokus auf das Besondere dieser spezifischen Mahlzeit gelegt: „Das Restaurant OLYMPIA lädt die Hamburger ein, gemeinsam mit anderen Hamburgern einen Abend im exklusiven Ambiente des RESTAURANT OLYMPIA, in privaten Hamburger Wohnungen jeglicher Art zu zelebrieren. An mehreren Abenden im Restaurant OLYMPIA verbringen 10 geloste Gäste einen Abend bei Speis und Trank in der Wohnung eines Hamburger Gastgebers. Das Restaurant OLYMPIA wendet sich an alle Hamburgerinnen und Hamburger!“ (Holtmann 2015)
Routinierte Praktiken wie Essen werden hier zu einem besonderen Erlebnis „in exklusivem Ambiente“, ohne dass die Alltäglichkeit in diesen Handlungen oder die Öffnung für alle (in diesem Fall Hamburger*innen) verneint wird. Diesen vermeintlichen Gegensatz beschreibt Reckwitz als „Valorisierung und Kulturalisierung der Alltagspraxis“ (Reckwitz 2018: 292), im Zuge derer zum Beispiel Essen und Kochen ästhetisiert und ethisiert werden. So verbinden die Teilnehmenden der Ess-Settings ihr meist besonderes Interesse am Kochen mit der Möglichkeit, einen Einblick in die GeflüchtetenArbeit zu bekommen, und sie sind dabei auf der Suche nach besonderen Erfahrungen. Die hier beschriebene Singularisierung von Alltagssituationen und -praktiken bezeichnen Nicolaj van der Meulen und Jörg Wiesel im Rahmen des „culinary turn“ als Gegenprogramm zu einer digitalisierten und globalisierten Welt, in der Menschen auf der Suche nach dem echten und authentischen Erlebnis sind (vgl. van der Meulen/Wiesel 2017a: 10). In diesem Kontext ist auch das Diskursive Dinner zu verstehen, welches in der spektakulären Küchenmonument-Skulptur stattfand, die auf dem Vorplatz der Berlinischen Galerie installiert worden war. Laut raumlaborberlin „definiert [das Küchenmonument] den Raum neu“, es wirkt monolithisch und überrascht nach dem Aufblasen, indem es sich flexibel an leere Räume anpasst (vgl. raumlaborberlin 2013). Die ästhetische, leibliche Erfahrung als spektakuläres Moment wird auch hier wieder mit dem Alltäglichen und ethischen Ansprüchen verknüpft, indem der öffentliche Raum wiedererobert, Verbindungen geschaffen und Privates und Öffentliches beim Essen in der „Küche“ thematisiert werden sollen (vgl. ebd). Hier präsentiert sich der bereits angesprochene Gegensatz zwischen Singulärem und Alltäglichem als Idee des Überbrückens und wird dadurch zumindest im Konzept plausibel. Hier geht es einerseits auf Seiten der Gastgeber*innen darum, etwas beim und über das Essen (als Mahlzeit, Setting, Gericht etc.) auszudrücken und damit andererseits den Wunsch der Teilnehmen-
▶ Kap. 3.1 Culinary Turn ▶ Kap. 6.2 Medialisiertes Essen – Essen als Medium
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▶ Kap. 6.4 Leib Performanz und Raum in den Atnosphären der Ess-Settings/Improvisation
▶ Kap. 8.1 Das Ess-Setting: Eine Formatkritik/Was ist ein gelungenes EssSetting
den nach mit dem Essen verknüpften Geschichten, Themen und Erlebnissen zu befriedigen. In diesem Zusammenhang ist das Konzept des Diskursiven Dinners im Küchenmonument ein gutes Beispiel für ein Versprechen, das Interesse weckt und das Ess-Setting bereits im Vorhinein mit Bedeutung auflädt. Im Falle des Diskursiven Dinners vielleicht auch mit zu viel Bedeutung, wenn im Vorfeld eine Diskussion über die großen Erzählungen (Gott!) in einer hyperkomplexen Welt versprochen wird. Dieser vorab formulierte Anspruch erzeugt eine Spannung, die durch die aufgerufenen Superlative auch leicht zu einer Überspannung führen kann. Gleichzeitig ist das Ästhetische nicht nur ein wichtiger Aspekt für das individuelle Erlebnis vor Ort, sondern auch für die teils eher subtil wahrgenommene Kontextualisierung der einzelnen Settings. Diese Rahmungen funktionierten zum Beispiel über die Tischdecke beim Olympia Gastmahl, welche wie die olympische Fackel von Gastmahl zu Gastmahl wanderte und somit das Thema Olympia auf der ästhetischen Ebene erfahrbar machte. Beim ersten TaktsinnDinner wurde das Thema des Nicht-Visuellen ebenfalls insofern ästhetisch gerahmt, als dass ich mich entschied, eine wenig offensichtliche visuelle Gestaltung in Form von großem Blumenschmuck o. ä. vorzunehmen. Eine Teilnehmerin beschrieb dies in ihrem schriftlichen Abschlussfeedback als „das Belassen des Vorhandenen (wenig gestyltes Setting)“. Weitere Teilnehmende fanden das Thema des Nicht-Visuellen im schwindenden Tageslicht und dem dadurch in den Vordergrund tretenden diffusen, blauen Licht, welches durch wenige Scheinwerfer in den Raumecken erzeugt wurde. Dieses „leise Licht“ ergänzte auf der ästhetischen, atmosphärischen Ebene die in den Vorträgen und Diskussionen verhandelte, rationale Vorstellung des Nicht-Visuellen. Insbesondere diese von den Teilnehmenden empfundene Schlüssigkeit zwischen Ästhetik und Diskurs über das Nicht-Visuelle führte schließlich zu einer Bewertung des Abends als gelungen, was eine wichtige Erkenntnis für die zukünftige Gestaltung von Ess-Settings darstellt. (Selbst-)Inszenierungen beim Essen und Kochen Ob ein Ess-Setting insgesamt als positiv bewertet wird, hat also in den Ess-Settings meist weniger damit zu tun, ob das Thema erfolgreich bearbeitet wurde bzw. eine Aufgabe erfüllt wurde, sondern vielmehr damit, ob die Teilnehmenden das Setting als stimmig wahrgenommen haben. Ist dies nicht der Fall, kann zwar die Inszenierung des Erlebnisses stimmig erscheinen, das Erlebnis selbst aber zum Beispiel durch Unstimmigkeiten im Ablauf gestört sein, was bei den Ess-Settings der Fall war, wenn das Essen zu spät kam
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und der Hunger zu groß wurde. Dass ich den Stellenwert dieses Erlebnisses während der Feldphase meiner Forschung unterschätzte, zeigte sich u. a. an meiner Irritation oder Enttäuschung, wenn das Thema der einzelnen Settings kaum eine Rolle spielte. Insbesondere war dies beim Diskursiven Dinner und dem Olympia Gastmahl der Fall, die einen künstlerischen Hintergrund hatten und wo dementsprechend die Inszenierung der Situation eine besondere Rolle spielte. So gab hier beispielsweise die Menüstruktur die Dramaturgie vor, indem sich Beiträge und Essen abwechselten bzw. abwechseln sollten. Neben diesen erwartbaren Bausteinen einer Menüstruktur gehörte zur Dramaturgie des Abends auch, dass Jan Holtmann ein selbstkomponiertes Lied sang, in das alle Gäste einsteigen sollten und dies nach anfänglichem Gelächter auch taten. Die vermeintlich unangenehme Situation, in einer Runde mehr oder weniger fremder Personen gemeinsam ein unbekanntes Lied singen zu müssen und das auch noch aufgezeichnet wird, entpuppte sich wider Erwarten zu einer für Alle lustigen, positiven und lockernden Situation. Dieser gefühlte dramaturgische Höhepunkt wäre in meiner Wahrnehmung ein gutes Ende für diesen Abend gewesen. Im Anschluss daran wurde jedoch die Tischdecke des Künstlers Armin Chodzinski noch einmal ins Spiel gebracht. Jan Holtmann fragte die Gruppe nach einer Anweisung, einer Zusammenfassung des Abends, die Chodzinski in die Tischdecke einarbeiten sollte. Die Suche nach dieser Anweisung/diesem Fazit verlief schleppend und ließ die nachlassende Motivation der gesamten Gruppe erkennen, was an die nicht besonders leidenschaftliche Bedeutungsproduktion des Abends anschloss. Die von Jan Holtmann geschaffene Dramaturgie baute somit dadurch Spannung auf, dass Erwartungen geweckt, aber oft nicht erfüllt werden konnten: Allein die Bezeichnung eines Gastmahls, eines Restaurants ließ etwas Besonderes, Perfektes erwarten. Indem Holtmann die Ausführung anderen Personen überließ und nicht weiter eingriff, nahm er in Kauf, dass eben diese Erwartungen auch enttäuscht werden könnten. Dies zeigte sich auch in seinem Beitrag zur Hinleitung auf das Lied: Jan Holtmann ging es nicht um Olympische Spiele, die Sozialwohnungen schaffen sowie begeistern und eine Stadt attraktiv machen sollen, sondern einfach um ein gutes Fest. Ebenso wurde die Tischdecke als künstlerisches, materielles Produkt, das im Gegensatz zur Performance des Abends etwas Bleibendes darstellt, mit Essen beschmutzt und am Ende nur leidenschaftslos mit einer Konsenszusammenfassung gewürdigt. Insofern stand der Abend unter dem Zeichen des permanenten Produzierens und Zerstörens von Bedeutung. Dies wurde noch einmal untermauert, als ich etwa zwei Monate nach dem Gastmahl die Facebook-
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Seite des Events besuchen wollte. Wie auch dieser Abend flüchtig und wenig nachhaltig in Bezug auf Bedeutungen und das Knüpfen von Beziehungen gewesen war, hatte sich auch die digitale Präsenz in Luft aufgelöst. Dieses Verschwinden aus dem Diskurs passierte analog zu der Diskussion über Olympia nachdem sich die Hamburger*innen im Referendum gegen Olympia entschieden hatten. Insofern ist für dieses Settings weniger die Produktion von Sinn und Bedeutung relevant, sondern vielmehr die künstlerische Aufführung und Inszenierung dieser Dramaturgie, was ebenso zu Jan Holtmanns Definition der noroomgallery passt, in der keine Werke geschaffen werden, sondern der Vermittlungsraum Kunst reflektiert wird. Was ich als ethnographische Forscherin als Geringschätzung des zugrunde gelegten Themas und auch der Beitragenden empfand, gibt jedoch vor allem Aufschluss darüber, dass ich diese Settings mit dem Habitus einer Kulturwissenschaftlerin und weniger als Künstlerin/Kulturschaffende besuchte und eben diesen inhaltlichen Beitrag als zentral annahm. So fiel mir beim ersten Vortrag des Diskursiven Dinners auf, dass die Vortragende Prof. Dr. Carolin Höfer während ihres Beitrags nicht ausreichend räumliche Präsenz innehatte, weil um sie herum gekocht und geräumt wurde: „Carolin Höfer ist merkwürdig unprominent im Raum, obwohl sie gerade als Vortragende den Fokus darstellen sollte. Sie sitzt während ihres Vortrages. Teilweise werden währenddessen vor ihr Kisten mit geschnittenem Gemüse abgestellt. Das Konzept des Abends sieht ziemlich viele Aktionen gleichzeitig vor: Es wird Essen sowie Wissen produziert und gleichzeitig soll man sich auch noch wohlfühlen und nett miteinander plaudern. Ich fühle mich zwischendurch leicht überfordert von diesem Anspruch. Wenn es einem zu viel wird, kann man sich vielleicht einfach ins Plaudern und Essen zurückziehen. Ich frage mich, was die Anwesenden eigentlich hier wollen, was sie sich von diesem Abend erwarten – und was nicht?“ (Feldnotiz Diskursives Dinner)
Auf den ersten Blick erschien mir diese Situation, in der einer renommierten Vortragenden nicht ausreichend Aufmerksamkeit zukam, als respektloses Verhalten seitens der Organisierenden und auch des Publikums. Diese vermeintlich nicht funktionierende Aufmerksamkeitsökonomie könnte jedoch auch weniger als ein Problem, sondern vielmehr als ein Symptom des hier angenommenen kulturellen Felds angesehen werden, wo der Besuch von derartigen Events und Aufführungen nicht einfach nur Vergnügen bedeutet, sondern auch sozialen Austausch und Selbstinszenierung. Während die beschriebene Inszenierung von Essen bzw. EssSettings vor allem Bezug auf die Situationen und die zumeist öffentlichen Räume nimmt, an denen diese stattfanden, spielen bei der
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Selbstinszenierung einzelner Personen die Gerichte in ihrer materiellen bzw. visuellen Form eine stärkere Rolle. So beschreibt Pierre Bourdieu die bei außergewöhnlichen Anlässen kredenzten Speisen als „Indikator für die Selbstdarstellung“ im Sinne eines „zur Schau gestellten Lebensstils“, mit dem sich die (angestrebte) kulturelle und gesellschaftliche Position ausdrücken lassen (Bourdieu 1982: 141). Insbesondere Gastgeber*innen performen diesen Lebensstil über die Auswahl der Gerichte, deren Zubereitung und das Anrichten sowie das Ambiente, in das sie die Gäste einladen. „Die ästhetisch kuratierte Wohnung“ und das zubereitete Essen erzeugen ein Gesamtbild und Erlebnis für die Gäste und werden dabei zu einem „Ort performativer Selbstverwirklichung“ (vgl. Reckwitz 2018: 319). Auch wenn die Ess-Settings (bis auf das Olympia Gastmahl) nicht in privaten Wohnungen stattfanden, kann die Auswahl der jeweiligen Orte und Räumlichkeiten dennoch als relevant für die Inszenierung eines Lebensstils gesehen werden, da es sich fast ausschließlich um Räumlichkeiten handelte, die mit kulturellen und künstlerischen Events verbunden wurden. Aufschlussreicher für die Frage, inwiefern Gäste und Gastgebende sich über die Situation des Essens und die Gerichte selbst darstellen, waren in den Ess-Settings vielmehr die Gespräche beim Essen. Dies hängt sicherlich auch damit zusammen, dass es sich bei den zubereiteten Speisen häufig um kollektiv hergestellte Produkte handelte. Daher fand das Aushandeln von Präsenz und Status hier eher über das Wissen über Orte, Produkte und Zubereitungsarten statt. Sei es als implizites, schwer verbalisierbares Wissen über die „richtige“ Zubereitung von Tabouleh, das im Gespräch mit einer Über-den-Tellerrand-Teilnehmerin als eine Art Mysterium kommuniziert wurde, oder als spezifisch männlich konnotierte Praxis, bei der das eigene Wissen über Lebensmittel, Küchengeräte und Zubereitungsweisen als statusbildend bewertet wurde. Allerdings wurde ein solches Verhalten von den Teilnehmenden überwiegend kritisch gesehen. So beschreibt Frauke in der Diskussion des zweiten Taktsinn-Dinners merklich aufgebracht ihre Erfahrungen, dass Männer bei Essenseinladungenn als Einstieg ihren Gästen ungefragt ausschweifend über die verwendeten Nahrungsmittel und deren Zubereitung erzählten: „Du bist eingeladen irgendwo und dann fangen die erstmal an mit so ner Nummer, 45 Minuten. Und ich find das totlangweilig. Und das eigentliche wirklich interessante am Abend passiert dann immer erst nach 45 Minuten. Und da muss man so durch. Das geht mir SO auf die Nerven bei Männern. Frauen machen das witzigerweise auch aber seltener. Die kochen halt einfach und stellen das dann einfach auf den Tisch und dann redet man über
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interessante Dinge. […] Das ist so ein Luxussyndrom für mich.“ (Frauke, Diskussion Taktsinn II)
Frauke bezieht sich in dieser Diskussion explizit auf Männer ihres (privilegierten) Umfelds um die 30 Jahre, die in diesem Alter ausreichend finanzielle Mittel zur Verfügung haben, um hochwertige Lebensmittel einzukaufen und über die Inszenierung dieser Lebensund finanziellen Mittel ihren Status zu zeigen und zu festigen. Im weiteren Verlauf der Diskussion, die Frauke damit angestoßen hatte, kristallisierten sich zwei unterschiedliche Kochstile heraus, die zum einen als männlich und zum anderen als weiblich wahrgenommen und von der Runde kritisiert wurden. Hierbei ging es einerseits um das außeralltägliche, hobbymäßige Kochen von besonderen Gerichten, welche in besonderer Runde eingenommen und von den Essenden und Kochenden offensiv gelobt und besprochen werden, und andererseits um das alltägliche, häusliche Kochen zur Versorgung der Familie, das meist als selbstverständlich gilt und unkommentiert bleibt. Die Konnotation des ersten Stils als männlich findet sich auch im größeren Diskurs zum Beispiel in Zeitschriften, Büchern und Blogs wieder. So beschrieb der Gruner & Jahr Verlag im Jahr 2009 die nach wie vor gefragte Zeitschrift „BEEF!“ als „Food- und Lifestyle-Magazin für Männer mit Geschmack“. Weiter heißt es in der Pressemitteilung: „Die Küche avanciert mehr und mehr zum modernen Hobbykeller des ‚starken Geschlechts‘, und Kochen wird zunehmend als Statussymbol wahrgenommen. BEEF! ist gemacht für Männer, die leidenschaftlich gerne kochen und genießen. […] Und BEEF! fühlt sich gut an. Dafür sorgen ein hochwertiges Klappcover, im Heft 90g matt bedrucktes Papier und eine Strecke auf besonderem Werkdruckpapier. […] Ausgangspunkt war die speziell männliche Sichtweise auf die Themen Essen und Genuss: ‚Männer kochen anders – lustbetont, sinnlich und wenig praktisch. Bei uns stehen Event-Charakter und Geselligkeit im Vordergrund‘, erklärt Jan Spielhagen und fügt an: ‚BEEF! entspricht der männlichen Freude am Superlativ. Kompliziert, teuer, das Beste, das Kleinste, das Seltenste – solche Rezepte, Zutaten und Stories haben wir für das Magazin gesucht, gefunden und beschrieben‘.“ (Gruner & Jahr 2009)
Dieser vor Stereotypen strotzende Habitus macht auch über zehn Jahre später Zeitschriften wie „BEEF!“ aus und findet nach wie vor Anklang. Interessant ist daran, dass zwar die Felder, in denen Selbstinszenierung und Statusaushandlungen unter Männern behandelt werden, um das der Küche erweitert worden sind, die Sprache und Themen aber nach wie vor denen in „klassischen“ Männerdomänen wie Handwerken oder Angeln ähneln: Es geht um Fleisch,
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es geht um Superlative, Stärke und auch Technik, wie Carsten Otte in seinem gleichnamigen Buch den „gastrosexuellen Mann“ beschreibt (Otte 2014). Ich möchte an dieser Stelle weniger den Hintergründen dieser fraglichen Stereotype nachgehen58, als vielmehr an diesem Beispiel zeigen, welches Potential Essen und dessen Zubereitung für die – hier männliche – Selbstinszenierung bieten. Dass auch Frau sich erfolgreich über und mit Essen inszenieren und vermarkten kann, zeigen Foodbloggerinnen wie Sophia Hoffmann59 und Felicitas Then60. Das Besondere an diesen und ähnlichen (weiblichen) Blogs ist, dass sie bestimmte Themen wie Nachhaltigkeit oder vegane/vegetarische Küche in den Vordergrund stellen und im Sinne einer Mission verfolgen. Gleichzeitig geben die Bloggerinnen diesen Themen auf ihren Blogs ein Gesicht und verkörpern dabei auch einen bestimmten Lebensstil, bei dem beispielsweise das Reisen oder ethischer Genuss eine zentrale Rolle spielen, was wiederum an die beschriebene Ethisierung und Ästhetisierung anknüpft. Nicht zuletzt wird am Erfolg von Zeitschriften wie „BEEF!“, thematischen Foodblogs oder der wachsenden Nachfrage nach männlich oder weiblich konnotierten Küchenaccessoires deutlich, dass mit dem „Gendern“ von Koch- und Esspraxis auch ein finanzstarker Markt verbunden ist, der auf den oben genannten und kritisierten Stereotypen und deren „Naturalisierung“ aufbaut (vgl. Crowther 2018: 112f). Grenzen von Teilhabe in den Ess-Settings Nachdem in dieser Arbeit bereits die Narrative behandelt wurden, die Essen und Kochen auf besondere Weise mit dem Zusammenkommen von Menschen verbinden, und nachdem in diesem Kapitel die Rolle des Essens im Rahmen der kulturellen Gastlichkeit diskutiert wurde, möchte ich an dieser Stelle diese Erzählungen im Hinblick auf die untersuchten Ess-Settings hinterfragen. So besteht, wie aufgezeigt wurde, kulturübergreifend Einigkeit über die besondere Rolle von Mahlzeiten beim Bilden, Festigen und Inszenieren sozialer Beziehungen. Diese besondere Sozialität des Essens verhindert
58 Zum Thema Kochen und Gender bietet zum Beispiel das Kapitel „Cooking and Gender“ in Gillian Crowthers Einführung „Eating Culture“ (2018) einen guten Überblick. Noch umfassender beschäftigen sich Carole Counihan und Steven Kaplan mit dem Thema (2016). 59 Vgl. https://www.sophiahoffmann.com/aktuelles/ (letzter Abruf: 10.01. 2021). 60 Vgl. https://felicitasthen.de/ (letzter Abruf: 10.01.2021).
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jedoch nicht, dass bestimmte Mahlzeiten auch immer Personen ausschließen oder Teilnehmende sich in Ess-Settings zum Beispiel aufgrund unterschiedlicher sozioökonomischer Grundlagen unsicher oder fremd fühlen. Dabei gehe ich in diesem Kapitel auf die Situationen des Essens ein, in denen Offenheit und Diversität vorab zumindest angestrebt wurden, und weniger auf Mahlzeiten, die vorwiegend der Festigung und Inszenierung des Innenverhältnisses einer bestimmten Gruppe gelten (vgl. Barlösius 2011: 172ff). Dabei stelle ich mir die Frage, welche Aspekte in den untersuchten EssSettings dazu beigetragen haben, dass die angestrebte Teilhabe aller Teilnehmenden an den Situationen nicht erreicht wurde. Bevor jedoch der Blick auf die Teilhabe während der Mahlzeiten gerichtet wird, ist es wichtig, auch die möglichen Hürden beim Zugang zu den Settings zu betrachten. Meist wurden die Einladungen zu den Settings über Mailverteiler und Print bzw. digitale Medien kommuniziert, die nur ein begrenztes und meist sozioökonomisch ähnliches Publikum erreichen, obwohl in fast allen Fällen Diversität explizit gewünscht war. Wie schwer es ist, zum Beispiel diverse Akteur*innen aus einer Nachbarschaft zu involvieren, zeigte sich am Hotel/Restaurant-Projekt der Universität der Nachbarschaften besonders deutlich. „The title ‚Universität der Nachbarschaften‘ stands for interaction of the environment and its local residents with the ‚campus‘ just like it is planned for the hotel itself. Instead of trying to establish an exclave as result of outer space student ideas, the objective is to imbed the hotel into the neighbourhood. Think local... on every level! First step: open up to the neighbourhood, make your work visible and transparent. Invite them! ‚The hotel needs a restaurant anyway. Let’s start with the fun part!!!‘. We decided to set up a weekly event on every Wednesday where interested people of the community could get to know the project and its growing number of participants. […] By inviting cooks and musicians of the neighbourhood we were already looking for potential actors for start up corporations. It’s not easy to find people and actually make them cook there or play music etc.“ (Bauer et al. 2013)
Im weiteren Verlauf der Projektdokumentation berichten die Beteiligten immer wieder von Schwierigkeiten, lokale Akteur*innen einzubinden und somit auch ihr Netzwerk zu erweitern. Schließlich gelang es jedoch, im Schneeballprinzip immer weitere Schlüsselpersonen aus dem Stadtteil wie Köch*innen, Musiker*innen, Barbetreiber*innen oder auch einen Dart-Verein dafür zu gewinnen, an einem Restaurantabend mitzuwirken oder maßgeblich verantwortlich zu sein. Wie bei den Über-den-Tellerrand-Settings findet sich
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auch hier die Idee der geteilten Gastgeberschaft – wenn auch weniger institutionalisiert. Durch die Übernahme von Verantwortung für das Gelingen des Abends waren die Akteur*innen stärker motiviert, ihr Netzwerk einzuladen, und gleichzeitig fungierten die gastgebenden Gäste als Gewährspersonen, indem sie in ihrem Netzwerk um Vertrauen gegenüber dem Projektteam warben. Somit sind Gewährspersonen und Netzwerke als zentrale Momente anzusehen, um den Zugang für potentielle Teilnehmende zu ermöglichen, die nicht zum bestehenden Netzwerk gehören. Hierbei hatten jedoch die Settings, die an nur einem Termin stattfanden, einen klaren Nachteil, da der Aufbau eines Netzwerks nach dem Schneeballprinzip Zeit erfordert. Ein wichtiger Aspekt, der in den Ess-Settings vor Ort über geglückte Teilhabe und die Möglichkeit, weitere Verbindungen eingehen zu können, entscheidet, ist die Sprache. Zwar wird insbesondere in der Arbeit mit Geflüchteten betont, dass Essen und Kochen universell und kulturübergreifend sind und somit auch ohne das Sprechen der gleichen Sprache ausgeübt werden können. In der Praxis der Ess-Settings zeigte sich allerdings, dass Situationen des verbalen Austauschs häufig Schlüsselsituationen waren, in denen sich zeigte, wer am Geschehen beteiligt war und wer nicht. Besonders deutlich wurde dies in einer bereits beschriebenen Situation während des vierten Über-den-Tellerrand-Kochens, als Makar das Essen anrichtete und die meisten Teilnehmenden wie gebannt seinen Handlungen folgten und dabei eine intensive, intime Situation zwischen den Teilnehmenden entstand. „Irgendwann blickt Makar auf und fängt an zu lachen. Daraufhin lachen auch alle anderen, da sie merken, wie fixiert sie auf Makar und seine Vorbereitungen waren. Es ist eine ungezwungene, lustige Stimmung, in der fast alle sich auf Augenhöhe begegnen. Kurz zuvor ist Gebre mit seinen beiden Kumpels wiedergekommen, nachdem er sie spontan eingeladen hat, damit das Deutsche-Geflüchtete-Verhältnis zahlenmäßig gleich ist. Anders als alle anderen bleiben die beiden von Beginn an räumlich auf Abstand und nehmen auch von sich aus keinen Kontakt zur Gruppe auf. Sie setzen sich direkt auf zwei Stühle neben der Treppe und stellen sich nicht mit in die Küche, auch wenn Gebre sich dort aufhält. Die beiden sprechen mit Abstand am wenigsten Deutsch und Englisch und ich vermute, sie fühlen sich nicht wohl, nah bei den anderen zu sein. Ich bringe den beiden Apfelsaft. Während das Essen von Makar angerichtet wird, lade ich die beiden noch einmal ein, sich dazuzustellen. Sie stehen zögerlich auf und wirken, als hätten sie nicht recht verstanden, was sie nun tun sollen. Sie bleiben mit etwas Abstand zur Küche stehen. Kidane sagt: ‚Gut, gut!‘ und lacht. Dies war an diesem Abend mein letzter Versuch, sie stärker zu integrieren und zu motivieren.“ (Feldnotiz 4. ÜdT-Abend)
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Hier wird deutlich, dass die beiden Freunde von Gebre sowohl räumlich als auch sozial vom Rest der Gruppe entfernt waren und somit nicht an der ausgelassenen Stimmung teilhaben konnten. Meine Vermutung, dass fehlende Deutsch- und Englischkenntnisse maßgeblich für die Zurückhaltung in der Situation waren, wird in einem späteren Gespräch mit Gebre bestätigt. Solche Hürden in der Teilhabe aufgrund fehlender Sprachkenntnisse gab es jedoch nicht nur auf der Seite der Geflüchteten, sondern auch bei den Locals. So fiel mir beim fünften Über-den-Tellerrand-Kochen der Mittzwanziger Andreas auf, der im Vergleich zu den anderen Teilnehmenden kaum an Gesprächen teilnahm. Auf Nachfrage meinerseits stellte sich heraus, dass er kaum Englisch sprach, sich in einer schwierigen ökonomischen Lage befand und das Setting auch dafür nutzte, abseits seines schwierigen Alltags etwas Besonderes zu essen und in Gesellschaft zu sein. In dieser Hinsicht war seine sozioökonomische Situation eher mit der der Geflüchteten vergleichbar. Allerdings notierte ich in meinem Feldtagebuch mein Bedauern darüber, dass er an diesem Abend am ehesten ‚hinten runterfällt‘, also kaum die von ihm gewünschte Aufmerksamkeit bekommt. Im Vergleich zu den Geflüchteten, an die sich das Über-den-Tellerrand-Angebot vorrangig richtet, fehlte Andreas die Fluchterfahrung, die in diesem Konzept als symbolisches Kapital angesehen werden kann. Auch beim Olympia Gastmahl gab es eine vergleichbare Konstellation, in der die Teilhabe am Setting und insbesondere in Gesprächen innerhalb der gesamten Gruppe vom Besitz eines bestimmten Wissens bzw. kulturellen Kapitals abhängig war. Dies wurde zum einen über das Getränk Club Mate deutlich, das die Gastgeberin des Abends angeboten hatte. Im Verlauf des Abends stellte sich heraus, dass einige der Gäste das Getränk, das in Clubs, auf Vernissagen oder in der Hacker-Community längst Standard ist, nicht kannten. Bei der späteren Analyse der Feldnotizen fiel auf, dass genau diese Gruppe in der Vorstellungsrunde angegeben hatte, keinen besonderen Bezug zur Hamburger Kulturlandschaft zu haben, und dies im Fall eines teilnehmenden Arztes für Kinder- und Jugendpsychologie mit der Äußerung verbunden wurde, sich etwas fremd in der Runde zu fühlen. Zum anderen wurde der Besitz von kulturellem Kapital in den Gesprächen in großer Runde deutlich, in denen es um Olympia oder das Setting selbst ging. Auch hier hatten diejenigen, die sich in der Vorstellungsrunde mit einem starken Kunst- und Kulturbezug dargestellt hatten, hohe Redeanteile und bestimmten schließlich auch maßgeblich, welche Themen aufgenommen und weiterverfolgt wurden. Dies wurde deutlich, als der Veranstalter Jan Holtmann die Teilnehmenden am Ende des Abends wie bereits beschrieben um
7.4 (Selbst-)inszenierungen über Essen und Kochen | 281
ein Fazit bat und die Diskussion über dieses Schlusswort nur schleppend vorankam: „Manuel schlägt ‚Chancen und Risiko‘ vor. Was den Abend schon irgendwie gut zusammenfasst, aber niemand ist richtig begeistert. Ich finde den Vorschlag auch etwas langweilig und unkreativ. Aber es kommt auch kein Gegenvorschlag zustande. Felix sagt: ‚Hamburg größer machen.‘ Dabei zielt er auf den Fleck auf der Tischdecke ab. Aber auch dieser Vorschlag geht in Schweigen und allgemeiner Ratlosigkeit unter. Ich weiß nicht mehr, in welchem Zusammenhang, aber irgendwann sage ich: ‚Die Spiele sind die Spiele. Punkt.‘ Katharina findet diesen Vorschlag gut. Ich bin leidenschaftslos, finde den Satz aber auch irgendwie gut, obwohl es eher die letzte Stunde des Abends wiedergibt. Schließlich setzt Katharina diesen Vorschlag einfach durch und Jan notiert ihn. Es gibt keinen Widerspruch (mehr).“ (Feldnotiz Olympia Gastmahl)
Auch wenn die am Ende dieses ereignisreichen Ess-Settings einsetzende Müdigkeit einen Beitrag zum fehlenden Enthusiasmus geleistet haben dürfte, wird dennoch deutlich, dass es nur wenige Personen gab, die überhaupt zum Finden eines Fazits beitrugen, und dass diejenigen, die am Ende über die Vorschläge entschieden, auch diejenigen waren, die mit dem Veranstalter Jan Holtmann bereits zusammengearbeitet hatten und selbst im weitesten Sinne Kulturschaffende sind. Natürlich ließe sich hier auch argumentieren, dass auch diejenigen, die besser mit dem Gastgeber bekannt waren, diesem zu Hilfe kamen, als der Abend ins Stocken geriet. Trotzdem lässt sich an dieser Situation zeigen, dass während einer Mahlzeit immer auch habituelle und sozioökonomische Ungleichheiten eine Rolle spielen und sich an Aspekten wie Sitzordnung und Redeanteilen bzw. -beiträgen ablesen lassen. Daraus lassen sich wichtige Rückschlüsse auf die Rolle von Mahlzeiten beispielsweise in ethnographischen Forschungen insgesamt ziehen.
7.5
ESS-SETTINGS ALS LIMINALE SITUATIONEN: RÄUMLICHE ANORDNUNGEN UND ZEITLICHE BEGRENZUNGEN
Raum und Zeit des Versammelns Wie jede (Forschungs-)Situation fanden auch die hier behandelten Ess-Settings in einem spezifischen räumlichen und zeitlichen Rahmen statt, den es an dieser Stelle zu beschreiben gilt. Hierbei sollen
282 | Essen mit und als Methode
▶ Kap. 7.2 Tischregeln/Das Kuratieren außeralltäglicher Gastlichkeit
die zeitlichen und räumlichen Bedingungen nicht nacheinander dargestellt, sondern im Wechsel immer wieder aufeinander bezogen werden. Dies geschieht vor allem anhand der Praxis und Präsenz der Beteiligten, womit diese Handlungsebene als raum- und zeitverbindende Dimension fungiert. In den untersuchten Settings gab es Räume, die eine Praxis vorgaben, und Räume, die durch die Praxis erst konstituiert wurden. So fanden einige Ess-Settings in Mietküchen (Taktsinn II) oder zumindest in als solche definierten Kochund Ess-Bereichen (Über den Tellerrand/Zinnwerke) statt. Für viele der Settings wurde jedoch ein Ort ausgewählt, der wie das Küchenmonument oder die Universität der Nachbarschaften bewusst für diverse Nutzungen und Veranstaltungen betrieben wurde. Die Universität der Nachbarschaften wurde in diesem Sinne als „Ermöglichungsarchitektur“ beschrieben, „die sich weniger auf das Objekt fixiert, denn auf performativ-organisationale Prozesse bezieht“ (Universität der Nachbarschaften 2012a). Hierbei geht es darum, im Prozess das „Repertoire von Handlungsmöglichkeiten und Erfahrungen innerhalb spezifischer Regelwerke“ zu erweitern (vgl. ebd.). Bezogen auf die Hotel/Restaurant-Abende in der Universität der Nachbarschaften bedeutete dies beispielsweise, dass das Betreiben eines Hotels/Restaurant mitsamt des zugrundeliegenden kulturellen Regelwerks nicht nur dafür genutzt wurde, Menschen zu beherbergen und zu verköstigen. Vielmehr diente insbesondere das Restaurant auch dazu, Menschen aus der Nachbarschaft einzubeziehen und somit das eigene Netzwerk zu erweitern. In dieser Lesart von Ermöglichungsarchitekturen wäre auch das hier verwendete Konstrukt des Ess-Settings als Ermöglichungsarchitektur zu verstehen. Dementsprechend wird Raum in dieser Arbeit vor allem als „Erfahrungs- und Existenzform“ (Bachmann-Medick 1998: 22) begriffen, die sich im Kontext eines physischen Raums vollzieht. Doris Bachmann-Medick bezieht sich mit dieser Auffassung von Raum auf das Konzept des Dritten Raums nach Homi Bhabha (1994), welches vor allem im Rahmen postkolonialer Verhandlungen von Kulturen und Identitäten eine Rolle spielt und Alternativen aufzeigt. Für die hier behandelten Ess-Settings ist Bachmann-Medicks Interpretation des Dritten Raums insofern interessant, als dass sie die Liminalität und den transformativen Charakter in den Vordergrund dieser Erfahrungsräume stellt: „Nicht Selbst und Anderer begegnen sich hier, sondern die Andersheit und Verfremdung des eigenen Selbst wird zum Ausdruck einer neuen komplexen Erfahrung.“ (Backmann-Medick 1998: 23). Dies greift die vorangehenden Ausführungen zu Ess-Settings unter dem Modus des „as if“ auf, in dem gerade durch zeitliche und räumliche Begrenzungen dieser (Dritte) Raum eröffnet wird. Zudem eröffnet das Konzept des Dritten
7.5 Ess-Settings als liminale Situationen | 283
Raums die Möglichkeit, das Dazwischen abseits von Polarisierungen ernst zu nehmen und produktiv zu machen. Dazu gehören auch die räumlich-territoriale Komponente des Gastgebenden-Gast-Verhältnisses und dessen Grenzen, die Julian Pitt-Rivers wie folgt beschreibt:
▶ Kap. 8.5 Polaritäten und das Dazwischen
„The roles of host and guest have territorial limitations. A host is host only on the territory over which on a particular occasion he claims authority. Outside it he cannot maintain the role. A guest cannot be guest on ground where he has rights and responsibility.“ (Pitt-Rivers 2012)
Übertragen auf die Ess-Settings stellt sich diese Regel, vor allem im Falle der geteilten Gastgeberschaft bei den Über-den-TellerrandAbenden anders dar, weil die meisten Settings an Orten stattfanden, über die keiner der Anwesenden ‚Autorität‘ hatte, sondern Gastgeberschaft vielmehr verhandelt, delegiert, geteilt und inszeniert wurde. Nicht nur die Rollen von Gästen und Gastgebenden standen in einigen Settings zur Disposition, die Anwesenden sowie ihre Ansichten und Beziehungen veränderten sich in der betreffenden Situation und unterlagen somit einem Transformationsprozess. Diese Veränderungen waren häufig nicht besonders auffällig oder groß und wurden daher weniger als Veränderungen, sondern vielmehr als Zustände thematisiert: Die Teilnehmenden stellten fest, dass sie nach einem Essen satt und/oder müde waren. Oder sie fühlten sich durch anregende Tischgespräche erquickt und gingen inspiriert nach Hause. Somit macht jede Mahlzeit etwas mit uns – und sei es ‚nur‘ satt. In den meisten Fällen handelt es sich hierbei um Zustände, die sich vor allem auf die Situationen des Settings beschränken oder noch nachklingen. Wenn es sich um einmalige, so nicht wiederholbare Settings handelt, bleibt im besten Fall meist eine gute Erinnerung, eine erkenntnisreiche Information oder die Visitenkarte einer interessanten Person. Bei regelmäßigen Ess-Settings können darüber hinaus Verbindungen gepflegt und Beziehungen gefestigt werden. Dieses Nachdenken über die Dauer bzw. Regelmäßigkeit der verschiedenen Ess-Settings ist vor allem für die Settings relevant, bei denen es um das Schaffen dauerhafter Verbindungen bzw. um die Umsetzung komplexer Projekte wie zum Beispiel das Erforschen oder Beleben einer Nachbarschaft ging. Dazu bewegt hat mich ein informelles, eher zufälliges Gespräch mit einer Ethnologin, die zum Zeitpunkt des Gesprächs in Nachbarschaftsprojekten u. a. mit Geflüchteten gearbeitet hat. Sie berichtete, dass die von ihr und Kolleg*innen veranstalteten Mahlzeiten zum Zweck des Ken-
▶ Kap. 8.4 Transformation
284 | Essen mit und als Methode
▶ Kap. 8.1 Das Ess-Setting: Eine Formatkritik
nenlernens und Austauschens immer sehr gefragt gewesen seien, jedoch in den seltensten Fällen nachhaltigere Verbindungen zwischen den Teilnehmenden entstanden seien. Bessere Erfahrungen in dieser Hinsicht habe sie zum Beispiel mit Urban-Gardening-Projekten gemacht. Sie beschreibt das Säen, Pflanzen, Hegen, Ernten und Verarbeiten als einen auf längere Zeit angelegten Prozess, den man auch nur bedingt abkürzen kann und somit die meisten Beteiligten „am Ball blieben“. Die Beziehungen untereinander hätten sich dann eher nebenbei während der kollektiven Arbeit an einem Gartenprojekt gebildet und gefestigt. Eine weitere Variante, nachhaltige Verbindungen zwischen Offenheit und Verpflichtungen zu schaffen, entwickelte sich nach meiner Feldforschungsphase beim Über-den-Tellerrand-Satelliten in Hamburg-Wilhelmsburg. Hier waren die Kochabende und Veranstaltungen weiterhin so angelegt, dass diese in sich abgeschlossen waren und die Teilnehmenden keine längerfristigen Verpflichtungen eingehen mussten, wie es zum Beispiel der Fall ist, wenn ein Gemeinschaftsgarten angelegt und auch gepflegt wird. Gleichzeitig wurde jedoch die Kontinuität und Regelmäßigkeit der Veranstaltungen gestärkt und kommuniziert, somit war eine einmalige oder sporadische Teilnahme weiterhin möglich. Zusätzlich dazu entwickelten sich weitere regelmäßige Aktivitäten wie beispielsweise das Dabke-Tanzen, bei dem sich eine mehr oder weniger feste Gruppe von Locals und Geflüchteten regelmäßig traf. In der Beschreibung des Hamburger Satelliten auf der Überden-Tellerrand-Webseite heißt es in der Rubrik „Community Events“: „Uns liegt es am Herzen, dass nicht nur einmalige Begegnungen stattfinden, sondern dass wir uns bei verschiedenen Anlässen wiedersehen und gemeinsam schöne Momente erleben.“ (Über den Tellerrand e.V. ohne Jahr b). Daran lässt sich erkennen, dass sich der Modus der Über-den-Tellerrand-Veranstaltungen in Hamburg von einem eher kurzfristig improvisierenden in den Jahren 2015 bis 2017 zu einem geplanten und planenden um 2020 herum gewandelt hat. Sofern es sich nicht um Ess-Settings handelte, in denen nachhaltige Verbindungen geschaffen werden sollten, sondern um experimentellere Mahlzeiten-Formate wie die der Taktsinn-Dinner oder künstlerischere Formate, konnte auch genau in der Punktualität und zeitlichen Begrenztheit ein Vorteil liegen. So wird insbesondere beim Olympia Gastmahl immer wieder der Reiz der (künstlerischen) Zweckfreiheit sowohl im Hinblick auf die Mahlzeit selbst als auch auf die Olympischen Spiele betont. Der Initiator Jan Holtmann erwähnte mehrfach an diesem Abend, dass es für ihn „gute“ Olympische Spiele sein würden, wenn diese sich einfach als gutes
7.5 Ess-Settings als liminale Situationen | 285
Fest und nicht als Stadtentwicklungsprogramm etc. darstellten. Somit galt es gerade für das Olympia Gastmahl, wenig Bedeutung und Erwartungen zu produzieren und den Abend mit wenig Druck, dass etwas Besonderes passieren muss, zu gestalten. Die zeitliche Begrenzung der Mahlzeit hatte auch dann Auswirkungen auf den Verlauf des Settings, wenn bestimmte Regeln nur für den Zeitraum des Essens galten, indem zum Beispiel ein „Mahlzeiten-Du“ eingeführt wurde. Dies war beim dritten Taktsinn-Dinner zu beobachten, als eine Professorin und ein Student des gleichen Studiengangs für die Dauer des „Essens aus einer Schale“ vereinbarten, sich zu duzen, diese Regelung aber nicht darüber hinaus gelten sollte. In dieser Situation zeigte sich erneut der ermöglichende Charakter von Mahlzeiten als experimentelles Testfeld für soziale und gesellschaftliche Situationen. Burckhard Dücker betont die Rolle der zeitlichen Begrenzung, indem er die Mahlzeit als gastliche Situation beschreibt, die der alltäglichen Erfahrung und den alltäglichen Regeln entrückt ist: „Als gastlich gilt jene Atmosphäre von Geselligkeit, in der sich die Gäste aufgehoben, sicher, frei von Stress und entspannt fühlen können, in der nichts anderes von ihnen verlangt wird, als was sie zu geben bereit sind, in der es ausschließlich um den Genuss dieser außeralltäglichen Erfahrungssituation selbst geht. […] Alle Anwesenden sind tendenziell gleichberechtigt, beliebige Themen zugelassen, simulative Entwürfe für Problemlösungen – quasi fiktionale Welten – werden konstruiert und durchgespielt, Ergebnisse ausgehandelt, die nur für die Situation gelten.“ (Dücker 2011: 74)
Dass die Ess-Settings nicht nur zeitlich, sondern auch räumlich begrenzt waren, erscheint selbstverständlich und weniger wichtig für die Reflexion dieser. Dennoch möchte ich an dieser Stelle zwei Aspekte der räumlichen Be- und Eingrenzung beschreiben, die in den jeweiligen Settings insbesondere für die Atmosphäre zentral waren. So half diese Begrenzung u. a. dabei, den temporären Aktionsraum zu bestimmen. Den Anwesenden wurde dabei das Gefühl vermittelt, zumindest für diesen Moment auf besondere Art zusammenzugehören und somit das Schaffen von Verbindungen erleichtert (vgl. Käsmayr 2018). Die räumliche Begrenzung hat zudem praktische Gründe, wie sich beispielsweise beim vierten Taktsinn-Dinner zeigte. Hier fand das Essen in einem großen Foyer während eines allgemeinen Kongressmittagessens an Stehtischen statt. Dies hatte zum einen eine massive akustische Beeinträchtigung zur Folge, da die Gespräche und Geräusche der Essensausgabe nicht abgeschirmt werden konnten. Zudem waren die Teilnehmenden in dieser durchaus intimen Situation, in der sie ihrem persönlichen Befinden beim
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▶ Kap. 6.4 Leib, Performanz und Raum in den Atmosphären der Ess-Settings/Improvisation
Essen nachspüren sollten, dem Blick der anderen Kongressteilnehmenden ausgeliefert. Gleichzeitig konnten die Teilnehmenden des Ess-Settings die anderen Kongressmitglieder bereits essen sehen, während sie – durchaus hungrig – versuchten, meinem Vortrag zu folgen. Eine Konzentration auf die Situation in der Tischgemeinschaft und insbesondere auf die eigene Wahrnehmung war somit kaum möglich. Wie in den Erläuterungen zum Thema Improvisation bereits angeführt wurde, kann das Fehlen eines ausreichenden (räumlichen) Rahmens in Settings auch dazu führen, dass sich Teilnehmende u. a. aus Unsicherheit weniger stark in eine Situation hineinbegeben und beteiligen – gerade auch weil es möglich ist, sich räumlich zurückzuziehen. Ich selbst erlebte dies bei meiner Beobachtung des Soli-Picknicks im Hamburger Park Fiction, welche eigentlich als teilnehmende Beobachtung geplant gewesen war. Zwar kannte ich einige der Akteur*innen aus Arbeitskontexten, außerhalb dieser Kontexte war ich jedoch verunsichert, wie ich den Anwesenden begegnen sollte, und so zog ich mich in einen Parkbereich zurück, in dem weniger Aktivitäten stattfanden. Die durchaus intendierte (räumliche) Öffentlichkeit und Offenheit des Settings führte in meinem Fall somit eher dazu, dass ich keine Begegnungen zulassen konnte. Die Bedeutung räumlicher Bedingungen wie Enge und Weite zeigte sich für mich auch in Situationen des Ankommens an den jeweiligen Veranstaltungsorten. Da ich in der vorliegenden Forschung die einzelnen Ess-Settings als unterschiedliche (Unter-)Felder definiert hatte, musste ich mehrfach neu in ein Feld eintreten und konnte solche Schwellensituationen somit auch miteinander vergleichen. Während mir beim Küchenmonument des raumlaborberlin direkt die Luftschleuse auffiel, über die Teilnehmende in die Blase gelangten und somit einen kurzen Moment des Ankommens für sich hatten, stand ich beim Olympia Gastmahl direkt in einem Raum, in dem bereits alle Teilnehmenden versammelt waren und ihre Augen auf mich richteten. In beiden Situationen notierte ich in meinem Feldtagebuch, dass ich kurz innehielt bevor ich mich durch die Schleuse bzw. über die Türschwelle begab, indem ich Fotos machte, andere Gäste beobachtete oder meine nasse Regenkleidung auszog. Beim Vergleich der einzelnen Situationen des Ankommens fällt auf, dass räumlich schwierigere Ankommsituationen über soziale Interaktion ausgeglichen werden konnten. So reagierten einige der Anwesenden beim Olympia Gastmahl direkt auf die für mich unangenehme Situation und wiesen mich in die Situation ein, indem sie mir einen Platz zuwiesen, lächelten oder mir einen Ort für die nasse Kleidung zeigten. Diese für Gastgebende wichtige Aufgabe des Willkommenheißens, insbesondere in schwierigen räumlichen
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Situationen, habe auch ich als Teil des Über-den-Tellerrand-Teams übernommen, da der Eingang zu den Wilhelmsburger Zinnwerken nicht von der Straße einsehbar hinter einem großen Parkplatz liegt und zudem am Wochenende noch ein großes Metalltor den Parkplatz für Fahrzeuge verschließt. Somit nahmen wir die Ankommenden teilweise bereits auf dem gegenüberliegenden Supermarktparkplatz in Empfang, da sich dieser Treffpunkt besser im Vorfeld kommunizieren ließ. Unabhängig davon, wie sich der Zutritt zu einer Veranstaltung räumlich und emotional gestaltete, fällt in der Zusammenschau auf, dass viele Ess-Settings die Situation der Mahlzeit als räumlich offen inszenierten. So beschreibe ich in meinen Feldnotizen zum SoliDinner für Fatuma und zum Olympia Gastmahl die Wirkung der großen Fenster der jeweiligen Räume, über die Nicht-Beteiligte das Essen direkt von der Straße aus beobachten konnten und somit die Veranstaltungen den Charakter einer ausgestellten gastlichen Situation bekamen. Dieser Eindruck wurde im Fall des Soli-Dinners dadurch bestärkt, dass es sich um die Räume einer Galerie handelte. Beim Küchenmonument ist dieser durchsichtige Charakter der „Raumhaut“ sogar Programm, indem dieses laut raumlabor explizit das Thema Öffentlichkeit(en) thematisieren und transportieren sollte: „Das Trojanische Pferd Die Metapher des trojanischen Pferdes schien uns ein geeignetes Instrument, die Idee des Monuments mit der Produktion von städtischer Identität zu verbinden. Eine mobile Skulptur als Behälter, Identität in den öffentlichen Raum zu transportieren. Den Menschen die Möglichkeit eröffnen, diesen aktiv mitzugestalten. Das Monument Werkzeug zur Wiedereroberung des öffentlichen Raums. Aber wie kann ein Monument einen sozialen Raum generieren? Wie kann es dazu anregen, den öffentlichen Raum zu benutzen, ihn sich anzueignen? Und wie wird es zu einem Instrument, was Gemeinschaften und Identitäten unterschiedlichster Nachbarschaften spiegelt? Die Küche Die Küche ist Spiegel städtischer Identitäten. In der Küche spiegeln sich kulturelle Eigenheiten und Traditionen. In der Küche setzt man sich zusammen und auseinander. Wenn man jemanden zu sich nach Hause einlädt, steht die Küche, das gemeinsame Essen für die Gastlichkeit, die Offenheit des Gastgebers. Die Küche ist also der ideale Ort, Ort der Verbindung und Auseinandersetzung zwischen dem Privaten und dem Öffentlichen.“ (raumlaborberlin 2013)
Genau dieses beschriebene Spannungsverhältnis aus den Narrationen des Essens als einer privaten, Sicherheit gebenden Handlung und der angestrebten Öffentlichkeit und Kollektivität ist zentral für
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die Konzeption der meisten Ess-Settings. (vgl. Steets 2015: 35).61 Mit der Frage nach Öffentlichkeit und öffentlichen Räumen ist auch die Beobachtung verbunden, dass die beschriebenen Ess-Settings wie auch andere populäre Mahlzeiten-Formate wie „Supper Clubs“ für eine spezifische Auffassung von Urbanität stehen. Nicht unbedingt deshalb, weil diese einen genuin urbanen Charakter haben, sondern weil sie schlichtweg vorwiegend im urbanen Raum stattfinden und somit wiederum auch Vorstellungen von Urbanität produzieren. Wichtiger ist es jedoch, die städtischen Problemstellungen aufzudecken, auf die die beschriebenen Ess-Settings eine Antwort zu sein scheinen. Insbesondere dann, wenn man die Suche nach nicht-kommerziellen, funktionierenden öffentlichen Räumen für Begegnungen als Frage annimmt, welche offen für verschiedene Nutzungen sind. Gerade diese multifunktionalen offenen Räume waren wichtige Orte insbesondere für die Über-den-Tellerrand-Settings. Nicht zuletzt aus diesem Mangel heraus rief die Berliner Über-den-Tellerrand-Organisation im Jahr 2015 den Kitchen-Hub in Berlin Schöneberg ins Leben. Hierbei handelt es sich um ein helles, geräumiges Ladenlokal mit einem Herd im Zentrum und verschiedenen mobilen, multifunktionalen Raumelementen, die je nach Nutzungszweck modular zu Tischen, Stühlen oder Arbeitsflächen aufgebaut werden können (CoCoon Studio 2016). Im modularen Design spiegelt sich der Ansatz des Über-den-Tellerrand- bzw. des Kitchen-Hub-Planungsteams wider: „It is a tool to support the agency of refugees as urban actors. A modular toolkit can flexibly address a multitude of use requirements [...]. People with refugee and non-refugee background cook, eat, work and think together. They create a place of coexistence and mutual exchange, where refugees are not only welcome but become active in shaping urban space.“ (Ebd.)
Auch in der Planungs- und Umsetzungsphase spielten diese Überden-Tellerrand-Grundsätze eine zentrale Rolle, indem Geflüchtete mit ihrem Wissen und Können in den Prozess involviert waren und somit „urbanen Raum mitgestalten“ konnten (ebd.). Das Küchenmonument befasst sich mit dem Problem fehlender offener Räume, indem es versucht, ein möglichst niedrigschwelliger Versammlungsort zu sein. Es wurde explizit als ein „Archetyp neuen Raumund Stadtdenkens“ (Maak 2008: 2) geschaffen, um Problemstellungen im urbanen Raum zu erforschen und zu beantworten.
61 Der folgende Abschnitt wurde im Sinngehalt und in Teilen wörtlich meinem vorab veröffentlichten Artikel „Die Stadt als Tafel“ in der Zeitschrift für Stadtforschung „dérive“ entnommen (Reimers 2017).
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Genauso wie die hier beschriebenen Räume Öffentlichkeiten begünstigen und herstellen sollen, wird auch Gemeinschaft durch den jeweiligen Raum und die damit verbundenen Gestaltungselemente hergestellt. Hierbei haben sich frei stehende Kücheninseln bei den Settings, in denen auch gekocht werden sollte, als Gemeinschaft ermöglichend erwiesen. Solche im Raum angeordneten Küchen lassen sich insbesondere bei speziell für Ess-Settings errichteten Küchen finden. So erwähnt die Autorin Kirsten Klingbeil die zentrale Kochinsel im Kitchen-Hub des Vereins Über-den-Tellerrand in ihrem Artikel zu neuen Volksküchen (vgl. Klingbeil 2015: 64). Die Insel ist modular nach einem Baukastensystem aufgebaut. So kann diese zu einer großen Tafel erweitert und entweder auf Sitzoder Standhöhe genutzt werden. Die Intention wird von Klingbeil wie folgt beschrieben: „An einem neutralen Ort, jenseits von Vorurteilen und medialen Bildern, können Geflüchtete und Beheimatete so voneinander lernen und gemeinsam neue Kulturen erleben. Der Kitchen-Hub soll eine gemeinsame lokale Identität und gesellschaftliche Teilhabe stärken.“ (Ebd.)
Auch für die Universität der Nachbarschaften rückte die Küche(ninsel) als bauliches Element im Laufe der Zeit in den Mittelpunkt. Sie befand sich zuerst in einem der späteren Gästezimmer als ein Raum unter vielen. Das Foyer wurde im Laufe des Gebäudeumbaus bewusst als zentraler Punkt gesetzt und an eben diesem Ort die Kücheninsel aus recycelten Materialien errichtet. Durch einen späteren Umbau des eingebauten Fensters zu einem herausnehmbaren Element erfolgte die Öffnung zum nebenan gelegenen Park, womit die Küche zu einem noch offeneren/öffentlicheren Raum wurde. Auch in den Hamburg-Wilhelmsburger Über-den-TellerrandSettings erwies sich die offene Küche mit freistehender Kücheninsel als elementar für das Funktionieren des Settings. So fand der erste Kochabend noch im Gemeindehaus einer Kirchengemeinde statt, wo Küche und Essraum räumlich voneinander getrennt waren. Dadurch war die Interaktion zwischen den verantwortlichen Köchen und den anderen Teilnehmenden während der Zubereitung der Gerichte maßgeblich eingeschränkt. Zusätzlich dazu wirkte sich die Größe der Küche negativ aus, da nur die beiden Köche und maximal zwei weitere Personen in die Küche passten. Im Gegensatz dazu ermöglichte der Wohn-/Küchenatelierraum in den Wilhelmsburger Zinnwerken dauerhafte Sichtbeziehungen unter allen Teilnehmenden, ganz gleich, ob diese in der Küche an der Zubereitung der Gerichte mitwirkten oder sich am Esstisch sitzend unterhielten. Dies wird durch das Feedback einer Teilnehmerin des zweiten Taktsinn-
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Dinners bekräftigt, die die Durchlässigkeit von Koch- und Essort als zentral für das Setting anspricht: „Durch den fließenden Übergang von Küche zu Essbereich kam es nicht zu einer ungewollten Zweiteilung der Gruppe, sondern die Grüppchenbildung konnte von der Gastgeberin gesteuert werden, gleichzeitig war es sehr einfach, zwischen den Gesprächspartnern zu wechseln bzw. sich in der Gruppe zu unterhalten.“ (Feedback Taktsinn II, Ronja)
Zusätzlich dazu ist der Faktor Zeit zentral, wenn man Essen und vor allem Kochen als Praktiken betrachtet, die nach bestimmten Logiken organisiert werden (müssen). Das fängt bei den einzelnen Zubereitungsschritten eines Kochrezepts an, geht über die dramaturgische Nutzung einer Mahlzeit in künstlerischen Projekten bis hin zur komplexen und meist hierarchischen Organisation von Prozessen in einem Sternerestaurant. Daher möchte ich anschließend insbesondere auf organisatorische und infrastrukturelle Aspekte eingehen. Zwecke, Essen und deren Rezeption In kulturanthropologischen Arbeiten zu Gastlichkeit spielen organisatorische Aspekte in ihrem konkreten Vollzug und Einfluss kaum eine Rolle, obwohl sie grundsätzlich für wichtig erachtet werden (vgl. Wierlacher 2011a: 94). Vielmehr werden die kulturellen und somit auch rituellen Komponenten solcher Situationen betont und als leitend bei der Konzeption und Organisation gastlicher Situationen beschrieben (vgl. ebd.: 97). Dabei gehen diese Texte jedoch meist von eindeutigen gastlichen Situationen wie Familien- oder Geschäftsessen oder einer Essenseinladung unter Freunden aus. Wie aber vorangehend festgestellt wurde, handelt es sich bei den hier beschriebenen Ess-Settings eher um bewusst hybrid angelegte Formate zwischen privaten und öffentlichen bzw. privaten und professionellen Mahlzeiten in unterschiedlichen gesellschaftlichen Kontexten. Das gemeinsame Essen und Kochen wird hierbei dienstbar gemacht und zur Bearbeitung unterschiedlicher Themen eingesetzt. In den untersuchten Settings geriet dabei eben diese organisatorische Frage, was es bedeutet, eine Gruppe von 10 bis 30 Personen zu bewirten, in den Hintergrund und wurde in ihrer Komplexität teils unterschätzt. Dies äußerte sich meist darin, dass die Teilnehmenden erst später als geplant mit dem Essen beginnen konnten und/oder Abläufe durcheinander gerieten. Da diese Abläufe häufig nicht im Vorfeld im Detail kommuniziert worden waren, äußerte sich dies bei den Gästen meist als ein Gefühl der Unstimmigkeit oder eben als Hungergefühl. Wie diese organisatorischen Prozesse
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in den einzelnen Settings thematisiert wurden und welchen Einfluss sie auf das Setting hatten, möchte ich im Folgenden darstellen. Beim Diskursiven Dinner wurden die Gänge von einem KochTeam, das u. a. aus Studierenden bestand, und den Gästen des Abends zubereitet. Die Teilnehmenden wurden bereits von Schneidemessern und -brettchen an den einzelnen Tischen erwartet und machten sich nach einer kurzen Begrüßungs- und Orientierungsphase schnell an die Arbeit. Das Koch-Team brachte die zuzubereitenden Lebensmittel mit kurzen Erläuterungen an die Tische und holte sie nach der Bearbeitung wieder ab. Die einzelnen Teilnehmenden hatten dabei nur einen Einblick in die eigenen bzw. im näheren Umfeld verwendeten Lebensmittel und Arbeitsschritte. Wozu das Ganze verarbeitet wurde, konnte nur erahnt werden. Mit der gemeinsamen Zubereitung der Gänge wurde somit nebenbei eine Atmosphäre des Kollektiven, Partizipativen, Nicht-Hierarchischen suggeriert. Die Teilnehmenden waren – trotz steigendem Hungergefühl – fast durchweg sehr engagiert beim Schneiden von Zwiebeln und Gemüse sowie beim Zupfen von Kräutern und akzeptierten hierbei auch körperliche Beeinträchtigungen wie brennende Augen und verfärbte, klebrige Hände als ihren Beitrag zum großen Ganzen. „Während wir reden und schneiden, wird in der Mitte des Raums bereits zubereitet. Immer wieder kommen Personen aus dem Kochteam und holen Müll ab oder bereits geschnittene Lebensmittel. Es gibt nebenbei Wein und stilles Wasser. […] Mittlerweile haben alle ziemlichen Hunger. Wir sind gespannt, wie die Lebensmittel, die wir geschnitten haben, miteinander kombiniert werden. Matthias hat Zwiebeln geschnitten, Elke auch und geht später auch zum Kräuterzupfen über. Nach einer kleinen hungrigen Weile wird der Salat auf Tellern serviert und findet Gefallen. Matthias und mir fehlt etwas Pep, Elke findet ihn gut so. Matthias sagt: ‚Ich kann mich nicht mit diesem Salat identifizieren, da sind keine Zwiebeln drin‘.“ (Feldnotiz Diskursives Dinner)
Die absurd anmutende Aussage von Matthias, dass er sich nicht mit dem Salat identifizieren könne, greift auf den zweiten Blick ein grundlegendes Problem dieser Situation und des gesamten Settings auf. Die in der gemeinsamen Zubereitung aufgebaute Spannung und Vorfreude auf das Essen werden in diesem Moment enttäuscht, wenn Matthias einen Beitrag zum Essen nicht wiederfindet, auch wenn diese Aussage sicher nicht ganz ernst gemeint war. Denn auch darüber hinaus lässt sich hier ein Ungleichgewicht in der Verteilung von Teilhabe und Mitbestimmung feststellen, wenn alle Teilnehmenden zwar einen Beitrag zum Essen leisten (finanziell und durch
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ihre Arbeitsleistung), dann aber wiederum die Zubereitung und Zuteilung der Speisen durch eine kleine Gruppe erfolgt, die im Gegensatz zu den anderen dazu legitimiert und im Vorhinein bestimmt wurde. Ob die beschriebenen Störungen im Ablauf überhaupt als solche von den Teilnehmenden wahrgenommen und problematisiert werden, hängt auch von der jeweiligen Erwartung an das Setting und die Intention der Teilnahme ab. Sind die Gäste eher an einem Essen in einem außergewöhnlichen Setting interessiert, stört es sie gegebenenfalls mehr, wenn die einzelnen Gänge auf sich warten lassen oder gemessen an professioneller Bewirtung handwerkliche ‚Fehler‘ aufweisen. Oder die Gäste fühlen sich sogar gestört durch die an sie gestellten Aufgaben und Themen, wie zum Beispiel beim dritten Taktsinn-Dinner, wo die Anwesenden sich lediglich stärken und über den erlebten Festivaltag austauschen wollten. Kommen die Gäste wiederum vor allem aufgrund des Themas oder haben andere Beweggründe wie zum Beispiel den Kontakt zu Geflüchteten, spielen der Geschmack und die Logistik des Essens eine kleinere Rolle für die Bewertung des gesamten Settings als gelungen. Dies bestätigen auch Anneli Käsmayr und René Block in ihrem Gespräch über ein Restaurant („dreijahre“) bzw. Essen als Kunst und sehen gerade in der Spannung der unterschiedlichen Erwartungen einen Mehrwert: „RB: […] Natürlich können sich manche Gäste auch dadurch gestört fühlen und ignorieren, Teil eines Kunstwerkes zu sein. AK: Aus meiner Sicht sind beide notwendig: die Gäste, die es mitdenken und solche, die das Kunstmoment nicht sehen. Radikal am dreijahre war, dass eben nicht alle Gäste es als Kunst wahrnahmen oder überhaupt vom künstlerischen Konzept wussten. Es gab entschieden keinen Hinweis auf Kunst über der Tür. Manche kamen auch nur wegen der Atmosphäre oder des Essens.“ (Block/Bromley/Käsmayr 2012: 107)
Bei dem von Anneli Käsmayr angesprochenen „dreijahre“ handelt es sich um ein so genanntes Gastraumprojekt von Käsmayr, in welchem sie erprobte, was es bedeutet, ein Restaurant als Kunstprojekt zu betreiben, es dabei aber nicht deutlich als solches zu kennzeichnen: „Das dreijahre beschreitet damit die Grenze zwischen Alltag und Kunst radikal, da es überhaupt nicht mehr nach Kunst aussieht, sondern nur durch die Behauptung der Künstlerin der Möglichkeitsraum Kunst geöffnet wird. Es tut nicht nur wie ein Restaurant, sondern es IST ein Restaurant.“ (Käsmayr nach Bippus 2012: 25)
7.5 Ess-Settings als liminale Situationen | 293
Angelehnt an dieses Projekt Käsmayrs möchte ich an dieser Stelle die Frage aufwerfen, was es bedeutet, Ess-Settings als Forschung zu betreiben, und inwiefern dieses Vorgehen Grenzen von Wissenschaft und Forschung zur Disposition stellt. Ein gutes Beispiel hierfür stellt das Hotel/Restaurant-Projekt in der Universität der Nachbarschaften dar. Das Projekt war experimentell angelegt, so dass die Studierenden mit jedem Restaurantabend Parameter verändern, auf Schwierigkeiten reagieren und somit dem Ziel, ein Restaurant zu betreiben, immer ein wenig näher kommen konnten: „Already before preparations got started, we worked out a plan with some overall ideas for the upcoming dinner in question. The experimental design is pretty useful to plan the evening and make some decisions in advance. Thereby the first steps are to think about an overall evening planning, who is going to cook? Which band is willing to play? How to arrange the interior room design? A main point that turned out thereby is the flexibility between the experimental design and its realization in the end. Preliminary considerations are pretty important for the planning and realization of the dinner evening and give some structures. It showed up that we stand to benefit from the experiences of the previous dinners and get routine in planning and organizing the dinner.“ (Bauer et al. 2013)
Die von mir veranstalteten Taktsinn-Forschungsdinner waren weniger seriell angelegt und verfolgten vor allem die Idee eines Forschens und Präsentierens mit Essen und Kochen als Praxis. Dadurch, dass die hier vorliegende Forschung und die Taktsinn-Settings in einem künstlerisch-wissenschaftlichen Graduiertenkolleg verortet waren, eröffnete sich für mich ein Möglichkeit, Forschung anders zu denken. Dies betraf nicht nur die Forschungspraxis selbst, sondern auch Fragen der Finanzierung der Taktsinn-Settings. Denn wie in diesem Kapitel eingangs bereits angesprochen, gibt es einige bürokratische Hürden bei der Finanzierung eines Caterings bzw. Forschungsdinners über universitäre Kostenstellen. Begründet wird dies mit Bewirtungsrichtlinien, die in leicht abweichender Form jede öffentliche Einrichtung von Behörde bis Universität betreffen. So sieht beispielsweise die Repräsentationsrichtlinie der HafenCity Universität Hamburg, an der diese Arbeit entstand, vor, dass Haushaltsmittel nur für die Bewirtung auswärtiger Gäste und nicht für hochschulinterne Veranstaltungen vorgesehen sind. Grundlage für diese Argumentation ist „eine kritische Betrachtung durch die Öffentlichkeit“, der diese Ausgaben „in besonderem Maße“ unterliegen, da es sich bei den betreffenden Geldern um Steuergelder handelt (vgl. HafenCity Universität Hamburg 2020).
294 | Essen mit und als Methode
▶ Kap. 2.1 Forschen zwischen Kunst und Ethnographie/Die Wiedergeburt als Ethnographin
Dass ich das bereitgestellte Essen, die Getränke und Tischdecken dennoch nicht privat finanzieren musste, ermöglichte ein mit der Assoziierung verbundenes Projektgeld, das frei für die Zwecke der Forschung verwendet werden konnte. Somit konnten Ausgaben für Lebensmittel als Forschungskosten deklariert werden, wie dies beispielsweise bei anderen Projekten für die Anschaffung von Megaphonen, Ausgaben für Clubbesuche oder Übernachtungskosten für Gäste der Fall ist. Einmal mehr erwies sich hier das Feld der Kunst als Möglichkeitsraum, welches mir das Erweitern und Hinterfragen der Grenzen wissenschaftlicher Forschung ermöglichte. Mit den beschriebenen Restriktionen bei der Vergabe von öffentlichen Mitteln bzw. der Erstattung von beruflichen Kosten in der Steuererklärung (vgl. Schmidt-Lauber 2019: 74f) ist die Vorgabe verbunden, mit eben diesen sparsam und wirtschaftlich umzugehen. Dies impliziert, dass sich seriöse Wissenschaft und das Erleben von bzw. der Umgang mit Genuss und Informalität in der Forschung ausschließen oder zumindest suspekt erscheinen. Und genau diese Kriterien werden im Alltag oder bei beruflichen Essen als (Mehr-)Wert angesehen. Das Versprechen von Privatheit und Vergnügen während eines gemeinsamen Essens ist somit im öffentlichen Sektor eher ein Ausschlusskriterium aufgrund dieser vorausgesetzten Trennung von privatem Vergnügen und seriöser Arbeit.
7.6
PAUSE ODER ARBEIT? ESSEN IM SPANNUNGSFELD VON REKREATION UND PRODUKTION
Neben den in dieser Arbeit näher behandelten Ess-Settings gibt es eine Vielzahl von Mahlzeit-Formaten insbesondere im akademischen Bereich, die explizit zu gesellschaftlich ausgehandelten Essenszeiten wie der Mittagszeit stattfinden und dies mit einem Wortspiel im Titel deutlich machen. So gibt es alleine an der HafenCity Universität Hamburg, an der diese Arbeit entstand, zwei Formate dieser Art: die „Tea Time Lectures“ des Studiengangs Architektur am frühen Abend und das „CSLunch“ des „CityScienceLabs“ (CSL) zur Mittagszeit. Während die „Tea Time Lectures“ in den Vortragseinladungen das Thema Essen oder Trinken nicht weiter thematisieren, wird beim Lunchformat des CSL explizit dazu eingeladen, während des Vortrags zu essen: „The idea behind CSLunch is to stimulate the exchange between researchers across professions at the HCU. Everyone is welcome to talk about their topic (preferably touch the trend of digitalisation). It’s intended not to have finished projects or presentations but look into concepts and intermediate
7.6 Pause oder Arbeit? | 295
results to trigger discussion and get the view from different perspectives. The presentation format is hands-on: 5 min. each. The rhythm is every 3 to 4 weeks and always Mondays. And of course you are all welcome to join with your lunch tray!“ (CityScienceLab ohne Jahr)
Auch an anderen Universitäten und Einrichtungen gibt es die aus dem anglo-amerikanischen Raum bekannten „Brown Bag Seminars“ – beispielsweise an der Westfälischen Wilhelms-Universität Münster (vgl. Marketingcenter Münster ohne Jahr) oder die Veranstaltung „Pizza mit dem Prof“ (Lehrstuhl für Europäische Ethnologie/Volkskunde Würzburg 2018), bei denen während der Vorträgen und Diskussionen gegessen werden darf. Diese Formate und nicht zuletzt mein als Forschungsdinner ausgewiesenes Mittagessen während des 40. dgv-Kongresses in Zürich (Taktsinn IV) folgen der Logik, dass Zeiten der Rekreation bewusst für Input und/oder Austausch genutzt werden sollen. Hierbei verschwimmen die Grenzen zwischen Zeiten der Produktivität (Arbeit) und Rekreation (Pause), zwischen dem Formellen (Vortrag/Seminar) und dem Informellen (Austausch während der Mittagspause oder dem gemeinsamen Abendessen nach einer Vortragsveranstaltung). Ein Grund, warum Situationen des Essens und der (akademischen) Arbeit vermehrt zu verschwimmen scheinen, ist sicherlich die als knapp wahrgenommene Ressource Zeit. In zunehmend entgrenzten Arbeitszusammenhängen fällt es demnach schwer, die eigene Vortragsreihe so im Tages- und Wochenverlauf zu platzieren, dass Kolleg*innen oder auch externe Gäste teilnehmen können und sich bei Überschneidungen nicht für andere Veranstaltungen entscheiden. So kann es ein Argument sein, dass ich mein Mittagessen, welches ich ohnehin im Tagesverlauf eingeplant hatte, auch bei einem (nicht zu langen) Vortrag einnehmen kann. Vordergründig scheint dies eine Winwin-Situation für Teilnehmende und Veranstaltende zu sein. Allerdings lässt sich diese zeitökonomische Optimierung des (Arbeits-)alltags auch hinterfragen. So fällt zum Beispiel bei einem Vortrag mit gleichzeitigem Essen die Komponente des informellen Austauschs, der insbesondere bei Arbeitsessen geschätzt wird, weitestgehend weg, da die Aufmerksamkeit vor allem auf die Vortragenden gerichtet ist und Gespräche während solcher, auf kurze Dauer angelegten Veranstaltungen störend wirken. Zudem fällt auch die Erholung weg, die Pausensituationen eigentlich zugedacht ist, da die teilnehmenden Essenden aufmerksam und aufnahmebereit bleiben müssen. Dass diese Überlagerung der Situationen auch zu Verweigerung und Missmut führen kann, zeigte sich beim dritten Taktsinn-Dinner. Hier sollten die Teilnehmenden am Abend nach der letzten Festival-Veranstaltung beim Essen ein von mir erdachtes
296 | Essen mit und als Methode
▶ Kap. 3.1 Aktuelle Konzepte der Nahrungsforschung/Arbeitsbegriffe
▶ Kap. 7.2 Tischregeln/Das Kuratieren außeralltäglicher Gastlichkeit
Rollenspiel spielen, das die Rollen und Hierarchien von Arbeitsessen im Kunst- und Kulturbereich zum Thema hatte. Das Ergebnis war hierbei nicht die erwünschte Beschäftigung mit und Reflexion von Tischgemeinschaften, sondern eher destruktive oder alberne Notizen auf der beschreibbaren Papiertischdecke. Ich hatte hierbei den Drang von Theaterbesucher*innen unterschätzt, nach einer besuchten Vorstellung den Abend ausklingen zu lassen oder das Erlebte zu besprechen, denn dies entsprach viel mehr der Erwartung und den Energieressourcen der Teilnehmenden dieses TaktsinnDinners. Auch in solchen Situationen ist Essen im Sinne der Nahrungsaufnahme eher zweitrangig bzw. ein notwendiges Nebenbei. Viel wichtiger ist hier die soziale und gesellschaftliche Funktion der Mahlzeit, Menschen beim Essen zu versammeln und die soziale Situation zu rahmen. Denn, wie eingangs erwähnt, gelten diese Settings als außeralltägliche Mahlzeiten (Barlösius 2011: 178), welche nicht vordergründig dem Stillen von Hunger dienen, sondern andere Zwecke mit dem Essen verbinden. Gleichzeitig macht es – auch wenn kein großer Hunger gestillt werden muss – einen Unterschied, dass es Essen gibt, wie einleitend zu diesem Kapitel bereits aufgezeigt wurde. Denn wenn die Teilnehmenden der Settings hungrig sind, sind sie auch weniger gewillt und imstande, die mit dem Essen verknüpften Zwecke zu erfüllen. Hinzu kommt die über das Essen entgegengebrachte Anerkennung durch die Gastgebenden. In der Argumentation der meisten Settings fügt das gemeinsame Essen/Kochen der Bearbeitung eines Themas etwas hinzu, weshalb dies erfolgreicher, mit mehr Spaß oder in besonderer Art und Weise geschehen kann. Häufig führt dies jedoch auch zu Situationen von Überlagerung und Überforderung. In diesem Zusammenhang ist interessant, dass in den letzten 20 Jahren in vielen Workshop-Formaten mit dem bereits thematisierten „so tun als ob“ erfolgreich gearbeitet wurde. So fällt zum Beispiel in der von den Unternehmensberater*innen Juanita Brown und David Isaacs entwickelten Methode des „World Café“ das tatsächliche Essen als Element weg. Um eine niedrigschwellige und eher informelle Atmosphäre des Austauschs im Unternehmens- aber auch akademischen Kontext zu erzielen, wird hier nur die Andeutung des möglichen Essens und Trinkens durch eine Café-Situation inszeniert (vgl. Brown/Isaacs 2005). Die Gegenüberstellung von Situationen des Essens als informell und offiziellen Arbeitsabläufen impliziert auch, dass es Dinge gibt, die in der einen Situation gesagt werden können und in der anderen eben nicht. Eva Barlösius macht dies eindrücklich am Beispiel von Gutachter*innen bei Tisch deutlich (Barlösius 2014). Sie geht dabei
7.6 Pause oder Arbeit? | 297
von wissenschaftlichen Begutachtungsverfahren aus, die ihm Rahmen von Evaluationen oder Akkreditierungen stattfinden und Gutachter*innen verschiedener Disziplinen zusammenbringen, welche dann zu einem abgestimmten Ergebnis in Form eines Gutachtens kommen sollen. Das Problem hierbei ist, dass durch die unterschiedlichen Fachkulturen keine habituelle Abgestimmtheit vorausgesetzt werden kann. „Die Gutachter wie die Referenten benötigen deshalb eine soziale Gelegenheit, um sich über die Sichtweisen und Haltungen abzustimmen. Da sich diese gegen eine sprachliche Explizierung sperren, weil sie zumeist mit Eindrücken und Gefühlen verwoben sind und deshalb nicht im offiziellen Teil der Begutachtung besprochen werden können, ohne gegen das Selbstverständnis von Wissenschaft zu verstoßen, bedürfen die Gutachter einer anderen sozialen Situation, die einen informellen Austausch fördert.“ (Ebd.: 258)
Eine Schlussfolgerung daraus ist, dass Mahlzeiten ein zentrales Element dieser Verfahren sind, obwohl bzw. gerade weil sie eine informelle Situation darstellen. Dabei ist jedoch in den von Barlösius beschriebenen Situationen klar, dass beim Essen keine Arbeiten oder Themen aus dem offiziellen Verfahren besprochen oder bearbeitet werden. Diese klare Trennung, wenn sie denn von allen Anwesenden beachtet wird, führt hierbei dazu, die Arbeit in der Gruppe zu sichern, und wäre ein Plädoyer dafür, formelle und informelle Aspekte nicht in einer Mahlzeit zu kombinieren. Die einleitend zu diesem Kapitel geschilderte Situation des Empfangs und mein Befinden in dieser Situation beschreiben mich in einer ähnlichen Situation, in der sich beispielsweise die Teilnehmenden des vierten Taktsinn-Dinners auf dem 40. Kongress der Deutschen Gesellschaft für Volkskunde befanden. Ähnlich in dem Sinne, als dass die dort Teilnehmenden sich ebenfalls nicht in der vorgefundenen Konstellation wohlfühlen konnten. Die Gründe hierfür waren zum Teil ähnlich, zum Teil aber auch andersartig: So waren die Anwesenden nach dem Kongressvormittag ebenfalls in der Situation, dass sie Hunger hatten und sich vor den nachfolgenden Programmpunkten stärken mussten. Hier wurde ihnen das Essen jedoch – vorerst – vorenthalten, da sie erst einem Vortrag folgen mussten, während die nicht beteiligten Kongressteilnehmenden um sie herum bereits vor ihren Augen aßen. Andererseits war klar, dass sie etwas zu essen bekommen würden. Ein grundlegender Unterschied lag darin, dass die oben angesprochene Situation für Smalltalk und Vernetzung in einer dafür bekannten Situation (KongressMittagspause) unterbunden wurde, indem die Gäste nicht sprechen
298 | Essen mit und als Methode
und in dieser Situation auch noch mitforschen (mussten). Zwar hatten sich die Anwesenden selbst für das Forschungsdinner angemeldet, allerdings waren vorab nur wenige Details zu Ablauf und Inhalt bekannt gewesen. Hinzu kam, dass die Kongressveranstalter und ich während der Planung nicht bedacht hatten, dass die akustische Situation im Foyer, in dem das Forschungsdinner stattfand, ein derartiges Setting eigentlich unmöglich machen würde. Diese unkomfortable Situation für die Teilnehmenden lässt sich u. a. in den Notizen auf der Tischdecke wiederfinden, in der sich neben einigen positiven auch viele negative Äußerungen zur Situation aber auch zum Essen wiederfinden: „Konzept unterbricht spannende entstehende Gespräche, isolierendes Erlebnis, wenig Gespräche, auf selbst konzentriert, Nebenbei von Essen im Normalfall →Gespräche“ „Strafe nur zuhören dürfen, schmeckt nicht/warum? Kauen beobachten, heiß lange müde faul“ „Salat: viel zu bitter, fettiges Dressing, mühsamer, nicht zu viel essen →Platz für den Hauptgang, langes Kauen, Futterneid auf Forschungsexterne“ „zu faul zu schreiben, fühlt sich wie Arbeit [an, d. Verf.]“ „Löffel wäre gut, verordnetes Schweigen wirkt skurril angesichts des lauten Raumes . Habe Mitteilungsbedürfnis, schreibe mehr als ich esse, Gedanken schweifen ab – weg vom Essen und fehlende Achtsamkeit, Schokolade: Forschungsdinner ist aufgrund der Reflexion ‚anstrengender‘ als normale Essen, tolles Projekt, aber Raumlautstärke extrem störend“ (Tischdecken Taktsinn IV)
▶ Kap. 2.1 Forschung zwischen Kunst und Ethnographie/Gruppenbasierte Reflexion und Analyse
Das Unwohlsein war auch in der Forschungssupervisionsgruppe, die die Notizen auf der Tischdecke gelesen hat, spürbar. Auch hier dominierten Gefühle der Anspannung. Viele der Gruppenmitglieder waren genervt und angespannt von bzw. bei der Lektüre der Kommentare auf den Tischdecken. Es herrschte Unverständnis darüber, warum sich die Gäste zu diesem Forschungsdinner angemeldet hatten, wenn viele von ihnen sich nun den Anweisungen widersetzten oder in der Wahrnehmung der Deutungsgruppe „an allem nur rummäkeln“. Die Leser*innen der Notizen kamen schließlich zu dem Schluss, dass der Fehler im Setting selbst bzw. dessen Inszenierung liegen musste. In der Tat lag ein Problem bereits darin, welche Erwartungen ein Dinner weckt (kommunikatives, gemütliches Essen am Abend). Solche Erwartungen lassen sich auch ohne schlechte (akustische) Rahmenbedingungen, wie sie beim vierten TaktsinnSetting herrschten, kaum realisieren, wenn man genaugenommen kein Dinner, sondern ein Lunch veranstaltet. Im Gegensatz zu einem Dinner, das am Abend stattfindet und in der Regel die Zeit nach
7.6 Pause oder Arbeit? | 299
der Arbeit einläutet, ist ein Lunch von der Arbeitszeit davor und danach eingerahmt. Dementsprechend befinden sich die Essenden hier in einer anderen Grundspannung als bei einem Dinner. Insofern ist für Veranstaltende aber auch Teilnehmende an EssSettings, in denen es ja immer Essen und eine Aufgabe gibt, der Grat zwischen nützlicher Ergänzung und Zumutung ziemlich schmal. Wie am Beispiel des vierten Taktsinn-Settings deutlich wird, hängt dieses Austarieren zwischen Gelingen und Störung auch davon ab, inwiefern organisatorische Dinge wie Akustik und Abläufe im Vorfeld durchdacht werden und dadurch für die Gäste der Eindruck entsteht, dass den zwei Aspekten Rekreation und Produktion ein ausreichender räumlicher und zeitlicher Rahmen eingeräumt wird. Insbesondere die Dauer eines Settings spielt eine zentrale Rolle für die Frage, inwiefern Überlagerungen tolerierbar und gewollt sind, und ob das Essen eher ein sozialer Rahmen oder zum Aufrechterhalten der Produktivität zwingend notwendig ist. Dies lässt sich am Beispiel der Universität der Nachbarschaften auch über die Hotel/Restaurantformate hinaus zeigen. Viele Veranstaltungen und Präsentationen der hier angesiedelten Projekte fanden als ganz- oder mehrtägige Workshops statt, bei denen eben auch gegessen werden musste, um produktiv zu bleiben. Aus dieser Situation heraus wurden Küchen-/Kochgruppen zum festen Bestandteil sämtlicher UdNVeranstaltungen. Diese zentrale Position des Essens und Kochens wurde nach Projektende bei einer Retrospektive auf die Universität der Nachbarschaften im Rahmen der Lehrveranstaltung „Replay the Unstable“62 des Studiengangs Urban Design noch einmal eindrucksvoll re-inszeniert. In diesem Kontext wurden im „Happening-Format“ u. a. eine „cooking session“ und unterschiedliche Vorträge veranstaltet. In ihrem Beitrag „UdN as collective“ gaben zentrale Akteur*innen des UdN-Projekts (Bernd Kniess, Ben Pohl und Tabea Michaelis) Einblicke in eben dieses. Parallel dazu wurde im gleichen Raum Essen zubereitet. „Das Kochen und der Vortrag finden gleichzeitig statt. Es ist aber ganz deutlich, dass der Vortrag die Hauptrolle spielt, das Kochen findet eher im Hintergrund statt. Das Essen soll nur so laut sein, dass es nicht stört. Die Kommunikation beim Kochen über die Arbeitsschritte läuft flüsternd ab. Dennoch soll das Kochen und insbesondere auch das gleichzeitige Kochen Bestandteil des Ganzen sein. Zum einen hat das den Vorteil, dass direkt im
62 Die Veranstaltung fand im Rahmen des Urban-Design-Seminars „Transformations 2“ (HafenCity Universität Hamburg) am 17. Juni 2015 im Kunsthaus Hamburg zum Thema Improvisation statt.
300 | Essen mit und als Methode
Anschluss an die Vorträge bereits Essen fertig ist. Somit ist diese Arbeitsteilung auch das Ergebnis eines effizient gestalteten Ablaufs. Darüber hinaus wird das Kochen aber in den Raum des Wissens, der Wissensproduktion hereingeholt und eingebettet und ihm (vermeintliche?) Wichtigkeit verliehen. Außer auf der sinnlichen (insbesondere auditiven und olfaktorischen) Ebene berühren sich diese Prozesse (Produktion von Essen, Produktion von Wissen) allerdings nicht oder kaum. Die Kochenden nehmen nicht oder wenig an der Wissensproduktion teil, zB. indem sie Fragen stellen. Die Aufmerksamkeit für Vortrag und Diskussion dürfte auch nur relativ eingeschränkt möglich sein. Gleichzeitig können sich die Zuhörenden des Vortrags kaum gegen die sinnlichen Wahrnehmungen des Kochens wehren (im Augenwinkel passiert etwas, Gerüche sind im Raum, die Geräusche überlagern den Vortrag).“ (Feldnotiz „Replay the Unstable“ 2015)
Das Kochen vor Ort ist hier als eine Art Zitat und Reenactment der im Vortrag dargestellten Situation (UdN) zu sehen und ergänzt die sprachliche Vermittlung um sinnliche Aspekte. Zudem zeigt sich in der Feldnotiz das Verhältnis zwischen Wissensproduktion und Kochen, da dies eben nicht als untergeordnete Tätigkeit inszeniert wird, die sich den Augen der Anwesenden entzieht. Vielmehr teilen sich Wissensproduktion und Nahrungszubereitung einen Raum und werden somit nicht hierarchisiert. Interessant an dieser Inszenierung ist, dass das Verschwimmen von Grenzen zwischen Wissensproduktion und alltäglicher Praxis nicht nur erzählt wird, sondern von den Anwesenden multisensorisch erlebt werden kann.
8 Synthese
Nach der in den drei vorangegangenen Kapiteln vorgestellten Analyse der vorliegenden Forschung möchte ich an dieser Stelle die Hauptthemen und -erkenntnisse noch einmal zusammenfassend betrachten. Denn wie bereits einführend erwähnt, stehen die narrative Figuration von Essen, die leib/körperliche Wahrnehmungsebene bei Mahlzeiten und die soziokulturellen, gesellschaftlichen Aspekte von Essen in einem reziproken Verhältnis. Eine getrennte Betrachtung dieser Perspektiven bedingt, dass übergreifende Aspekte und Wechselwirkungen wenig oder gar nicht dargestellt werden können. Somit möchte ich in diesem synthetisierenden Kapitel noch einmal die Perspektive auf kollektives Essen auf der Grundlage des erhobenen Materials ändern. Im Folgenden stelle ich somit Kategorien vor, die in allen drei Analysekapiteln eine zentrale Rolle gespielt haben, aber in der getrennten Darstellungsweise nicht deutlich werden konnten. Durch diesen Perspektivenwechsel und die daraus abgeleiteten Erkenntnisse entsteht zum Ende dieser Arbeit mehr und mehr ein Konstrukt, das als Multiple Ess-Setting bzw. weiter gefasst als Multiple kollektiven Essens und Kochens bezeichnet werden kann. Bevor das Multiple um die weiteren Kategorien ergänzt wird, möchte ich das dieser Arbeit zugrunde liegende Format des EssSettings in den Blick nehmen. Darauf folgend gebe ich Antworten auf die anfangs gestellte Frage, ob und inwiefern Essen und Kochen nicht nur Gegenstand, sondern auch Methode ethnographischer Forschungen sein können.
▶ Kap. 3.2 Konzepte sinnlichleiblicher Wahrnehmung/Arbeitsbegriffe
8.1 DAS ESS-SETTING: EINE FORMATKRITIK Zu Beginn dieser Arbeit wurden kollektiv eingenommene und teils auch gemeinsam zubereitete Mahlzeiten, die erkennbar mit einem Thema und/oder Zweck verknüpft wurden, als Ess-Settings definiert. Diese Definition ergab sich aus den vorgefundenen Situationen des Essens, die bei mir durch eben diese Verknüpfung von Produktion und Rekreation Irritation erzeugten und somit zum Startpunkt dieser Arbeit wurden. Im Verlauf der Forschung wurde dieses
▶ Kap 2 Methoden, Felder Rollen
302 | Essen mit und als Methode
Konstrukt des Ess-Settings zum Teil durch den Besuch verschiedener Settings und zum Teil über das eigene Veranstalten von Forschungsdinnern ausgestaltet. Abschließend soll diese kurze, forschungsleitende Definition an dieser Stelle noch einmal reflektiert und gezeigt werden, was die hier thematisierten Ess-Settings leisten konnten und was nicht und welche Rolle das Essen dabei spielte. Informalität
▶ Kap. 7.6 Pause oder Arbeit?
Alle thematisierten Ess-Settings stellten informelle Situationen in dem Sinne dar, als dass es sich entweder um Abendveranstaltungen handelte, die nach getaner Arbeit besucht wurden, oder, wenn sie einen direkten Bezug zu Arbeitskontexten hatten, so war die Situation des Essens zumindest als Pausensituation gekennzeichnet. Dennoch gab es immer einen Bezug zu ehrenamtlicher und Erwerbs- bzw. Projektarbeit sowie der Arbeit am Selbst, was auch in den Ess-Settings eine Rolle spielte. Dies war der Fall, wenn an den Settings Kolleg*innen teilnahmen oder das Publikum einem Feld entstammte, mit dem man in verschiedenen Projekten ohnehin kooperierte bzw. potentiell kooperieren könnte. Dem Element des gemeinsamen Essens wurde hierbei die Rolle zugeschrieben, den Rahmen für eben diese Auszeit zu schaffen, in der Entspannung möglich ist. Trotz dieser nicht klar zu ziehenden Grenze zwischen Arbeit und Freizeit, markieren Ess-Settings zeitlich und in den Handlungsbedingungen Ausnahmesituationen, in denen sonst gängige Regeln außer Kraft gesetzt werden können oder ‚andere‘ Dinge mach- und sagbar sind. Dies geschah zum Beispiel, wenn hierarchische Unterschiede über ein „Mahlzeit-Du“ kurzzeitig überwunden wurden (Taktsinn III), wenn abseits der geltenden Normen mit den Händen gegessen werden durfte (Taktsinn III) oder die Teilnehmenden sich gegenseitig fütterten (Taktsinn II). Insbesondere die Veränderung der Ansprache zeigt, dass während solch besonderer Mahlzeiten ein vertrauensvoller und teils auch intimer Rahmen benötigt wird, welcher Sicherheit bietet. Das Vereinbaren eines kurzzeitigen Duzens ist gängige Praxis im Kontext von Unkonferenzen und Barcamps 63. Im eigenen Umfeld habe ich erlebt, dass die Ansprache nach den Barcamps meist nicht wie-
63 Barcamps zeichnen sich dadurch aus, dass die Themen nicht, wie bei herkömmlichen Konferenzen, im Vorfeld feststehen, sondern erst zu Beginn der Konferenz festgelegt und danach in kleineren Gruppen (Sessions) bearbeitet werden. Die Ergebnisse aus den einzelnen Sessions werden am Ende der Veranstaltung wieder dem Plenum vorgestellt.
8.1 Das Ess-Setting: Eine Formatkritik | 303
der zum „Sie“ zurückkehrte und somit tatsächlich durch die Teilnahme an einem solchen Format eine Transformation der Beziehungen stattgefunden hatte. Doch auch eine Rückkehr zum Siezen, wie es in Hinsicht auf das dritte Taktsinn-Dinner im Fall einer Professorin und ihres Studenten beschrieben wurde, ist hier eine reale Option. Somit lassen sich Ess-Settings, hier mit Blick auf die begrenzte informelle Situation, einmal mehr als Versammlungen auf Probe beschreiben (Peters 2016), die während der Zusammenkunft Situationen durchspielen und erproben, welche dann über die Versammlung hinaus bestehen bleiben können, aber nicht müssen. Gerade in dieser Offenheit bzw. Ungezwungenheit, dass ein Setting etwas verändern kann, im Zweifel auch nichts aus der Situation zurückbleiben muss, liegt ein großes Potential. Dieses spielerische Erkunden der Regeln, Bedingungen und auch Atmosphären kann, wenn es glückt, als anregend und leicht empfunden werden, was am ehesten beim ersten Taktsinn-Dinner und in Teilen des Diskursiven Dinners der Fall war. In der Paarung von Informalität bzw. dem Moment der Auszeit und der Anregung, Dinge anders zu machen oder zu denken, entstand hierbei zum einen eine positive produktive Spannung, die Ess-Settings wie das Olympia Gastmahl oder die Taktsinn-Dinner ausmachte. Zum anderen bewegten sich die Ess-Settings aber auch auf einem schmalen Grat, wenn die erhoffte Entspannung durch ein ‚zu viel an Thema und Zweck‘ in den Hintergrund trat. Gerade dann, wenn der organisatorische Aufwand der gemeinsamen Zubereitung von Mahlzeiten hinzukam, stellten sich teils Überforderung oder Abwehr ein. Trotzdem wurde der kulinarische Beitrag von den meisten Teilnehmenden und auch Organisator*innen als „die halbe Miete“ (Emailinterview A.P.) beschrieben, welcher insofern Sicherheit vermitteln konnte, als dass er eventuelle Defizite im Programm oder in der Zusammensetzung der Teilnehmenden kompensieren konnte. Im Vorfeld der Ess-Settings wirkte eine Abendaktivität mit Essen, das man ohnehin hätte zu sich nehmen müssen/wollen, wie ein Pluspunkt gegenüber Veranstaltungen ohne Essen. Genauso beinhaltet die Ergänzung eines Abendessens außerhalb der eigenen Wohnung um ein Thema oder ein Programm das Versprechen auf ein besonderes Erlebnis. Hierbei wurde das gemeinsame Essen häufig gleichzeitig in seiner Alltäglichkeit adressiert (vgl. Reckwitz 2018), was im Folgenden insbesondere in Bezug auf Ess-Settings im Kontext von Partizipationsprojekten und -prozessen thematisiert werden soll.
▶ Kap. 7.2 Tischregeln/Das Kuratieren außeralltäglicher Gastlichkeit
▶ Kap. 7.6 Pause oder Arbeit?
▶ Kap. 7.4 (Selbst-)Inszenierungen über Essen und Kochen
304 | Essen mit und als Methode
Mahlzeiten als Anlässe und Gestaltungselemente Die Ess-Settings, die Teil von Beteiligungs- und Nachbarschaftsprojekten waren (UdN-Restaurant, Über den Tellerrand, Hallo Festspiele), nutzten die Mahlzeit und das gemeinsame Kochen als zentrales Element, um Menschen niedrigschwellig zu versammeln. Sie fungierten hier vor allem auf der narrativen Ebene in Einladungstexten oder Projektbeschreibungen als universeller gemeinsamer Nenner, der Vertrauen wecken und Sicherheit suggerieren sollte. In diesen und ähnlichen Projekten ist auffällig, dass Essen und Kochen einen festen Baustein darstellt neben verschiedenen weiteren Alltagspraktiken wie Urban Gardening (Müller 2011), Handwerks- und Bauprojekten wie Möbelbau aus Europaletten oder Baumhausbau für Kinder (Berlinische Galerie 2015/Universität der Nachbarschaften 2013a) sowie Handarbeitsprojekten (Universität der Nachbarschaften 2013b). Auch die Über-den-Tellerrand-Initiativen gingen häufig über das gemeinsame Essen und Kochen hinaus und erweiterten somit den Kreis der Angesprochenen. Teilweise wurden auch verschiedene dieser Tätigkeiten miteinander kombiniert. Dabei verfolgten im Über-den-Tellerrand-Kontext all diese Aktivitäten das übergreifende Ziel, die Beteiligten näher zusammenzubringen und somit soziale Netzwerke zu schaffen und zu erweitern (Über den Tellerrand 2016c). Über die Funktion einer sozialen und kulturellen, Orientierung bietenden Institution fungieren Mahlzeiten hier auch als flexibles Gestaltungselement von Beteiligungsprozessen, indem sie sich plausibel in unterschiedliche Abläufe und Formate integrieren lassen. Dabei können gemeinsame Mahlzeiten, die in einem kollektiven Partizipations- oder Protestkontext stattfinden, auch im Nachhinein als zentrales Moment identifiziert und als politische Handlungen eingeordnet werden (vgl. Bendix/Fenske 2014). So beschreibt Christoph Schäfer für die GeziPicknicks auf dem besetzten Taksim-Platz zwischen 2013 und 2015 den „Gezi Spirit“, der seine Grundlage und Kraft aus Alltagshandlungen wie zum Beispiel dem gemeinsamen Picknick zieht, wenn diese in politische Kontexte gesetzt werden. „But it’s not only the tactics, the impressive size, the differences of class and faith that come over here, that constitute the Gezi Spirit. Much rather, it is a new type of moving, of action, which marks the deep change that is announcing itself in the Gezi-Taksim-movement: Its power is rooted in everyday activities, which people place in political contexts.“ (Schäfer 2015)
8.1 Das Ess-Setting: Eine Formatkritik | 305
Das gemeinsame, beiläufige auch miteinander Essen erzeugt laut Schäfer eine Kontextverschiebung und dabei eine einmalige Atmosphäre in einer Ausnahmesituation. Gleichzeitig beschreibt er mit dem Bild dieses Settings auch die Atmosphäre und macht sie somit greif- und nachvollziehbar. Christoph Schäfer stellt hierbei einen Zuwachs an Bedeutung und Wirkmacht fest, wenn die zugrunde liegende Situation des kollektiven Protests im Ausnahmezustand in eine private, alltägliche Sphäre überführt wird. Da es in diesen politischen bzw. partizipativen Prozessen zu einem großen Teil um Kontinuität in der Arbeit an Beziehungen und einem Thema geht, ergibt die Ergänzung der Ess-Settings um weitere Elemente wie Urban Gardening etc. auch deshalb Sinn, weil das Gärtnern eine längerfristige Perspektive eröffnet als eine einzelne Mahlzeit. Dies war auch der Fall, wenn Ess-Settings wie im UdN-Restaurant und zum Teil auch bei den Über-den-TellerrandAbenden seriell angelegt wurden. Beide Varianten zielten darauf ab, die Spannung in einem Partizipations- bzw. Arbeitsprozess aufrechtzuerhalten, indem es Anlässe gab, zu denen sowohl eine feste Gruppe von Menschen als auch neue Personen zusammenkommen konnten. Insbesondere während der Hallo Festspiele stellten die regelmäßigen Mahlzeiten, die für alle Beteiligten angeboten wurden, auch eine Struktur für dieses Zusammenkommen und Auseinandergehen dar, die laut Konzept nicht nur von den Organisator*innen bespielt werden sollte, sondern offen für die Beteiligung aller Akteur*innen war: „Diese [Hallo Festspiele, d. Verf.] sind ein Spielraum für künstlerische Raumentwicklung und nachbarschaftliche Begegnung. Es geht darum, zusammen vor Ort etwas aufzubauen, um ein großes Fest zu veranstalten, das Spaß macht. Dabei haben die Hallos [die Organisierenden, d. Verf.] nicht die typische gastgebende Rolle, die alles vorbereitet und zur Verfügung stellt – es ist eher wie ein Familienfest, mit einer Familie, die man noch nicht kennt.“ (Hallo Festspiele, Webseite 2016)
Wurden die Ess-Settings seriell angelegt, sei es dadurch, dass im Rahmen einer Festivalwoche mehrere Mahlzeiten anfielen, oder dadurch, dass in einem bestimmten Rhythmus unterschiedliche Settings veranstaltet wurden (Über den Tellerrand, UdN-Restaurant), ergab sich die Möglichkeit, Variablen zu verändern und aus Problemen für die folgenden Settings zu lernen. Dies zeigte sich auch in meinen sehr von organisatorischen Aspekten geprägten Feldnotizen zu den Über-den-Tellerrand-Settings, in denen ich am Ende immer Details und Aufgaben notierte, die es für die folgenden Events zu verbessern galt.
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Diese hier festgestellte Kontinuität der Ess-Settings stellte insbesondere für die Beziehungsarbeit in den jeweiligen Kontexten einen wichtigen Aspekt dar. Gleichzeitig waren die bearbeiteten Fragen groß und die Zeitrahmen klein genug, als dass Themen wie Nachbarschaft in Hamburg-Wilhelmsburg oder das Schaffen einer Willkommenskultur in einem Setting immer nur angerissen werden konnten. In dieser Unvollendetheit liegt wiederum eine Potentialität. Denn wenn etwas noch nicht vollendet ist, ist man auch noch nicht fertig damit. Es muss weiter an der Gemeinschaft oder einem Thema gearbeitet werden, was dieses eben weiter interessant erscheinen lässt und weiter motiviert. Kipppunkte Wie vorangehend und in dieser Arbeit insgesamt gezeigt wurde, spielten in den Ess-Settings Aushandlungen zwischen Gegensätzen wie zeitliche Begrenzung und Kontinuität oder Offenheit und Struktur eine wichtige Rolle und ermöglichten während der Ess-Settings den Aufbau einer als bereichernd empfundenen Spannung. Gleichzeitig war diese Spannung fragil und konnte leicht zum Kippen der Stimmung oder der negativen Bewertung des Settings insgesamt durch die Teilnehmenden führen. Das Arbeiten mit diesen Spannungen war somit also Potential und Risiko zugleich. Einer dieser Kipppunkte wurde erreicht, als das Essen später als erwartet oder angekündigt fertig war und der Hunger der Gäste dementsprechend stieg. Alle Gäste kamen demnach zu einer gängigen Abendessenszeit, zu der die meisten Settings stattfanden, mit der Erwartung, auch etwas essen zu können. Daraus ergab sich scheinbar eine gewinnbringende Synergie, wenn sich Rekreation und vermeintliche Freizeitaktivitäten wie zum Beispiel der Besuch einer Ausstellung, eines Vortrags oder einer Performance zusammenlegen ließen. In der Feldforschung zeigte sich jedoch, dass die abendliche Erschöpfung eine nicht unerhebliche Rolle in der Dynamik und Atmosphäre des Abends spielte. Vielfach waren Teilnehmende gerade nach dem Essen nicht mehr gewillt, sich auf komplexe Aufgaben und schwierige Situationen einzulassen, sondern demonstrierten beim oder nach dem Essen vor allem den Wunsch nach Austausch mit den Tischgenoss*innen. Dies spielte insbesondere beim dritten Taktsinn-Dinner eine Rolle, als die Teilnehmenden beim Essen nicht mehr in andere Rollen schlüpfen, sondern sich schlichtweg über ihre Eindrücke von der vorangegangenen Performance austauschen und dabei essen wollten.
8.1 Das Ess-Setting: Eine Formatkritik | 307
Ob die produktive Spannung bei den Ess-Settings kippte und als Überforderung wahrgenommen wurde, hing maßgeblich mit Entscheidungen und Planungen hinsichtlich Infrastruktur und Ablauf zusammen, die häufig in ihren Auswirkungen auf den Abend unterschätzt wurden. Hierbei spielte die Idee, dass ein kulinarischer Beitrag ein „Selbstläufer“ sei, eine wichtige Rolle. An dieser Stelle entstand häufig eine Diskrepanz zwischen den u. a. von Narrativen geprägten Vorstellungen von Mahlzeiten und einer tatsächlichen gastlichen Situation, die vorbereitet und kuratiert werden musste. Auch wenn bei den Taktsinn-Settings das Essen meist so rechtzeitig serviert werden konnte, dass diese nicht maßgeblich vom Hunger der Gäste geprägt wurden, gab es doch organisatorische Entscheidungen, die mir im Nachhinein unpassend oder nicht durchdacht erschienen. So verwendete ich für alle Taktsinn-Settings den Begriff des Dinners, der impliziert, dass das Essen am Abend stattfindet und somit den Ausklang eines Tages bildet. Allerdings war insbesondere das vierte Taktsinn-Setting ein Lunch, da es in der Mittagspause eines Kongresses stattfand und somit stark zeitlich eingeschränkt war, so dass Teilnehmende kaum Entspannung und Erholung erlebten. So notierte ein/e Teilnehmende/r auf der Tischdecke: „zu faul zu schreiben, fühlt sich [an] wie Arbeit“ (Tischdecken Taktsinn IV). Zusätzlich zu der Lautstärke, die das Setting in der geplanten Form mit Vorträgen meinerseits eigentlich unmöglich machte, war auch der Raum insofern ungünstig gewählt, da es keine Distanz zum Arbeitskontext ‚Kongress‘ gab und so den Teilnehmenden einiges abverlangt wurde. Zwar war das experimentelle Setting mit all seinen beschriebenen Schwächen sehr erkenntnisreich für mich als Forscherin, mit Blick auf die Teilnehmenden würde ich das Setting im Sinne einer gastlichen Situation im Nachhinein jedoch als fragwürdig bezeichnen. Ich hatte mir schlichtweg im Vorfeld zu wenig Gedanken darüber gemacht, was es bedeutet, Teilnehmenden eine angenehme Situation zu bereiten, und hatte vielmehr eigene Belange wie meine Forschung in den Vordergrund gestellt. Die hier beschriebenen Dissonanzen zwischen Forschungsinteresse und der Frage nach der Zumutbarkeit bestimmter Elemente für die Teilnehmenden in den Ess-Settings stellt sich auch, wenn es um die Übersetzung populärer Narrative auf die Handlungsebene geht. So gibt es Ideen von und über das Essen, die der Erprobung in der Praxis nicht standhalten. Dies zeigte sich besonders deutlich im Rahmen des zweiten Taktsinn-Dinners, bei dem im Vorfeld die Vorstellung kommuniziert worden war, dass einem Gericht wie einer Nudelsoße Erinnerungen anhaften und diese beim gegenseitigen Füttern hervorgebracht und wiederum einverleibt werden könnten,
▶ Kap. 6.5 Zwischen Anspannung und Entspannung
308 | Essen mit und als Methode
was für die Eingeladenen und mich als Einladungstext vielversprechend und stimmig klang. Während der Durchführung des Experiments „Erinnerungen füttern“ stellte sich diese Anordnung jedoch eher als Zumutung dar und es zeigte sich in der abschließenden Diskussion, dass Erinnerungen hier weniger verfüttert als vielmehr beim Essen verbalisiert worden waren. Was ist ein gelungenes Ess-Setting?
▶ Kap. 7.4 (Selbst-)Inszenierungen über Essen und Kochen
▶ Kap. 2.1 Forschen zwischen Kunst und Ethnographie
Wenn Ess-Settings die Bedürfnisse der Gäste, das (Forschungs-)Interesse der Gastgebenden und die damit zusammenhängenden organisatorischen Details ausreichend berücksichtigen, sind die Grundlagen für eine wertschätzende und inspirierende Situation gelegt. Es reicht hierbei also nicht, neben Programmpunkten wie Vorträgen, Aufgaben oder Diskussionen ein kulinarisches Angebot zu bieten, das sich im Verlauf des Settings nicht mit den Themen, den Akteur*innen, dem Ort und der Atmosphäre verbinden lässt. Um ein als gelungen empfundenes Ess-Setting zu kuratieren, müssen sich demnach Ästhetik und Diskurs schlüssig miteinander verbinden. Dies kann und muss zu einem großen Teil anhand gastlicher Kriterien und gastronomischen Wissen durch die Organisierenden vorbereitet werden. Einen nicht zu unterschätzenden Anteil hat hier jedoch auch der Zufall, der als Offenheit ebenso einen Platz in gelungenen Ess-Settings erhalten sollte, und so besondere Momente ermöglicht. Diese wirken dann für die Teilnehmenden in besonderem Maße, wenn es zum Beispiel in (Abschluss-)Diskussionen möglich ist, diese Wahrnehmungen und Erkenntnisse in der Gruppe zu teilen. Dabei stellt die zeitliche Begrenzung der Settings eine Möglichkeit dar, Situationen zu verdichten und gleichzeitig Entlastung zu schaffen, indem die Teilnehmenden sich nicht verpflichten, über diesen Abend hinaus teilzunehmen. In diesem Sinne können sie als „incubation“ angesehen werden, welche Michael Guggenheim im Kontext seiner experimentellen Settings wie folgt definiert: „[…] an incubation is a socio-technical device that uses situational, social and time-based pressure to form new objects and interactions by using knowledge, interactions and objects“ (Guggenheim et al. 2012: 1). Das hier zu erahnende Verständnis von Ess-Settings als experimentellem Aufbau soll an dieser Stelle überleiten zur folgenden Reflexion der hier mit dem Ess-Setting verbundenen Methoden.
8.2 Methodologisches Fazit | 309
8.2 METHODOLOGISCHES FAZIT Nach der hier einleitenden Schärfung der Definition von Ess-Settings und der Reflexion, wo deren Potentiale liegen, möchte ich an dieser Stelle näher auf die in dieser Arbeit zentrale Frage eingehen, inwiefern Ess-Settings als ethnographische Methode eingesetzt werden können bzw. welche bisher kaum genutzten Potentiale die Situation der Mahlzeit darüber hinaus für ethnographische Forschungen bietet. Dafür wird vorab noch einmal ausführlicher auf die Herausforderung eingegangen, sinnlich-leibliche Erfahrungen und routinierte Abläufe zu verbalisieren und damit intersubjektiv verhandelbar zu machen. Als Antwort auf die Frage nach der Verbalisierung schließen verschiedene methodologische Vorschläge an, die u. a. noch einmal näher auf die Rolle von Störungen, Interventionen und Verfremdungen in den Ess-Settings und darüber hinaus eingehen. Geschmack und Erfahrungen verbalisieren Wie insbesondere im Kapitel zur sinnlich-leiblichen Wahrnehmung in den Ess-Settings deutlich wurde, stellt die Verbalisierung von Wahrnehmungen und Gefühlen neben Teilnahme und Beobachtung durch die Forschenden einen Kernaspekt einer Forschung dar, die mit Wahrnehmungen, Emotionen und Erinnerungen umgeht. Denn auch wenn das Miterleben und Mitfühlen für ein Verständnis der Situation nach wie vor den ethnographischen Königsweg beschreibt, kommen Forschende nicht ganz ohne textliche Mittel aus, gerade dann, wenn sie Erfahrungen dokumentieren, rückkoppeln und veröffentlichen müssen. In der Forschung selbst werden Wahrnehmungen, Erinnerungen und Gefühle vor allem im Sprechen über sie intersubjektiv erfahr- und greifbar und können im Kollektiv wirksam werden. Aus diesem Grund soll im Folgenden noch einmal gezielt der Fokus auf die Rolle von Sprache und Verbalisierung in der vorliegenden Forschung gelegt werden. Die sprachliche Äußerung wird hier nicht nur als das Ergebnis einer (Geschmacks-)Wahrnehmung angesehen, sondern als Teil einer Wechselwirkung zwischen Wahrnehmung und Verbalisierung. So bezeichnet Harald Lemke es als gastrosophischen Grundsatz, dass „wir so viele Geschmäcke wahrnehmen, wie die Differenziertheit unserer Geschmacksbegriffe reicht“ (Lemke 2005: 149f). Demnach müssen Eindrücke einerseits mindestens einmal bewusst wahrgenommen werden, bevor sie differenziert bezeichnet werden können. Gleichzeitig geben die Bezeichnungen für eine (Ge-
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schmacks-)Wahrnehmung dieser eine Form und erzeugen Verbindungen zu anderen Sinnesmodalitäten. Welche Geschmacksbeschreibungen dabei als allgemein gültig angenommen werden, unterliegt einem historischen Wandel (vgl. Korsmeyer 1999: 76). So galten Ende des 16. Jahrhunderts neun Grundgeschmäcke als anerkannt (süß, sauer, scharf, herzhaft, rau, fettig, bitter, fade und salzig), während im westlichen Kulturraum heute von fünf Geschmacksrichtungen die Rede ist (süß, sauer, bitter, salzig, umami). Die sprachliche Bezeichnung von Grundgeschmäcken ist also das Ergebnis eines gesellschaftlichen und kulturellen Konsenses und damit wandelbar. Das bedeutet aber nicht, dass hiermit auch alle wahrnehmbaren Geschmäcker bezeichnet werden können. Alle nicht in diese Grundeinheiten einordbaren Wahrnehmungen werden entweder sprachlich unterschlagen oder mit anderen Mitteln und Kategorien beschrieben. Michael Hauskeller hält hierfür die Verwendung von emotionsbeschreibenden Epitheta, also das Hinzuziehen von weiteren Attributen für erforderlich (vgl. Hauskeller 1995: 74f). So wird beispielsweise der Geschmack eines Weins als weich oder rund bezeichnet oder der Geruch von Abgasen als stechend. Um das Wahrgenommene im Rahmen der Forschung zugänglich und verhandelbar zu machen, ist die Verbalisierung hier unumgänglich. Eine direkte, vermeintlich unmittelbare Aufzeichnung wie sie zum Beispiel bei Audiodaten gängig ist, ist für Geschmacksund Geruchswahrnehmungen nicht möglich. Auch visuelle Eindrücke können in Form von Fotos oder Videos dokumentiert und somit unabhängig vom Erhebungsmoment zugänglich gemacht werden. Damit sind auch die Möglichkeiten, wissenschaftlich zu publizieren und im gleichen Medium zu bleiben, fast ausschließlich für Ton-, Film- und Textdokumente gegeben. Geruch, Geschmack und taktile Erlebnisse bedürfen stets der Übersetzung, wie auch der Soziologe Michael Guggenheim feststellt: „For smell and taste, no mechanical recording yet exists. […] If the social sciences need to use smell and taste as media, they cannot resort to mechanical objectivity, but have to resort to other forms of representation.“ (Guggenheim 2011: 71)
Eine Möglichkeit, sich u. a. Geschmack über Messung und Quantifizierbarkeit zu nähern, beschreibt Anna Mann in ihrem Artikel zu Laborexperimenten über Geschmack. Allerdings sagen diese Geschmacksmessungen unter Laborbedingungen weniger etwas über die Wahrnehmungen und Wirkungen in der Situation aus, als vielmehr über Vorstellungen von Geschmack und das Verfahren selbst (Mann 2018b).
8.2 Methodologisches Fazit | 311
Aufgrund dieser Schwierigkeiten, den Gegenstand ‚Geschmackswahrnehmung‘ intersubjektiv verhandelbar zu machen, haben der Geschmackssinn als erkenntnisstiftender Sinn in der Forschung und die Praxis des Schmeckens als Forschungsverfahren bisher kaum eine Rolle gespielt. Möglichkeiten, Geschmack vermeintlich objektiv aufzuzeichnen und damit auch dokumentieren und teilen zu können, wären im Umgang mit diesem Problem sicherlich hilfreich, lösen jedoch auch nicht das Problem, die richtigen Worte zu finden, weshalb die Versprachlichung weiterhin der zentrale Zugang zu Geschmacks- und Geruchswahrnehmungen bleibt und differenziert ausgearbeitet werden muss. Rückblickend ist es auch für die hier vorliegende Forschung bezeichnend, dass während der Ess-Settings kaum – über die obligatorischen Bekundungen, dass das Essen gut schmeckt, hinaus – über den Geschmack der servierten Speisen gesprochen wurde. Das schließt auch meine Feldnotizen mit ein, was ich nicht ohne Schuldgefühle bei der Analysearbeit feststellte, es eben auch nicht besser/anders gemacht zu haben. Ich schließe daraus, dass das Schmecken und der Austausch über den Geschmack der Speisen in den untersuchten Settings weniger auf einer leiblichen Ebene stattgefunden hat, auch weil es ungewohnt und unüblich ist, im Alltag ausschweifend über Geschmack zu sprechen. Vielmehr wurden Äußerungen über Geschmack während des Essens auf der sozialen Ebene im Sinne einer Anerkennung für die Leistung des/der Köch*in hervorgebracht (vgl. Mann 2018a). Hierbei ging es meist auch weniger um individuelle Wahrnehmungen, sondern eher darum, dass von einem ‚guten‘ Gast erwartet wird, das Essen zu loben, was in der Regel auch zu einem festen Zeitpunkt passiert – nämlich direkt nach dem ersten Probieren. Hierfür wurden durchaus andere Gespräche abgebrochen oder unterbrochen. So zum Beispiel beim Servieren des Essens beim Olympia Gastmahl, das während meiner Vorstellung in der Runde stattfand: „Dann schaltet sich Heidi ein und sagt, dass wir nun Suppe essen sollten, bevor sie kalt wird. Damit ist meine Vorstellung unterbrochen, weil alle erstmal bekunden, wie die Suppe schmeckt. Ich bin unsicher, ob ich noch weiterreden soll und sage dann noch kurz etwas dazu, dass ich eben solche Ess-Settings wie diese im Rahmen meiner Doktorarbeit beforsche. Das wird kurz scherzend (‚Ess-Setting, hahaha!‘) aber auch interessiert aufgenommen, aber nicht weiter behandelt. […] Während wir essen, erläutert Jan auf Nachfrage aus der Runde seinen Bezug zu allen Gästen.“ (Feldnotiz Olympia Gastmahl)
312 | Essen mit und als Methode
Die Fokussierung des sozialen Aspekts in dieser Situation bedeutet nicht, dass die Personen, die den Wohlgeschmack der Speisen äußerten, nicht auch auf besondere sinnliche Qualitäten des Essens wie bestimmte Gewürze oder Texturen eingingen. Allerdings stand dies nicht im Vordergrund, da, wie oben beschrieben, die Gespräche nach dem „schmeckt gut“ schnell wieder zu den vorab behandelten Themen zurückkehrten. Somit geben Äußerungen über sinnliche Wahrnehmungen nicht zwangsläufig nur Aufschluss über das Befinden der sich äußernden Personen, sie können durchaus auch auf soziale oder kulturelle Zusammenhänge verweisen. Sinnlich-informierte Ethnographien Für die ethnographische Forschung bedeuten die vorangehend beschriebenen Erkenntnisse, dass es in einem ersten Schritt gilt, sinnlich-leibliche Wahrnehmungen überhaupt als relevant für den Erkenntnisgewinn anzunehmen – auch wenn es nicht explizit um Forschungen zu sinnlicher Wahrnehmung geht, was ich hier mit dem Begriff der sinnlich informierten Ethnographie bezeichnen möchte. Allerdings gibt es nach wie vor nur wenige Ansätze, die systematisch und vor allem methodologisch (ethnographisch) das Verhältnis von Leib/körper, Material, Kontext und Wahrnehmung erläutern. Hannah Göbel sieht in den bisherigen Versuchen in diesem Feld eine Tendenz „zu einer recht impressionistischen Herangehensweise […], die letztlich ihren Gegenstand eher vernebelt als wissenschaftlich zugänglich macht“ (Göbel/Prinz 2015: 13). Kaspar Maase merkt allerdings im Hinblick auf das Problem der Vagheit in der empirischen Forschung an, dass begriffliche Unschärfen und Uneindeutigkeiten häufig durch die Erkenntnisgegenstände selbst bestimmt seien und durchaus produktiv sein können. So „können EmpirikerInnen aus der Not der Quellen die Tugend induktiven und vor allem abduktiven Erkenntnisgewinns machen“ (Maase 2017: 21f), denn Begriffe seien eben nur so lange forschungsleitend, wie sie auch etwas zu wünschen übrig lassen. Wie bereits in Zusammenhang mit dem Erinnern von Geschmack und Geruch angesprochen, geschieht das Wahrnehmen und Vergegenwärtigen von Geschmack immer in einem Kontext. In diesem ist auch die kommunikative Fähigkeit einer Mahlzeit selbst zu sehen, wie Regina Bendix beschreibt: „Essen übersteigt in seiner kommunikativen Fähigkeit die gesprochene Sprache, da beim Essen Körper und Nahrung eine gemeinsame Symbolik schaffen, die in ihrer Handhabung, wenn auch nicht ihren Inhalten universellen Charakter hat. Was ich esse, wie viel ich esse, wie ich esse, wo und
8.2 Methodologisches Fazit | 313
mit wem ich esse (oder auch nicht esse) eröffnet eine große Spannbreite an Kommunikation. Vor dem Hintergrund von sozial und kulturell etablierten Normen rund um Nahrung und Mahlzeiten entfalten Abweichung und Regelbruch hier eine besonders plakative Wirkung.“ (Bendix 2014: 22)
Somit ist es bei der Untersuchung von Mahlzeiten zentral, nicht nur das verbal Geäußerte, sondern auch Handlungen in ihrem kulturellen Kontext zu analysieren. Versteht man Essen und Kochen in den beschriebenen Settings als Emotionspraktiken nach Monique Scheer, ist auch hier stets habituelles, implizites Wissen mit leib/körperlicher Handlung verknüpft und wird über „materielle Anker sinnlich erfahrbar und somit verstärkt und gefestigt“ (Scheer 2016: 28). Unter materiellen Ankern versteht Scheer u. a. Körperbewegungen oder eben Sprache. Dabei stellt Sprache hier nicht das einfache Verbalisieren von Gewusstem dar, sondern einen performativen Sprechakt (vgl. Reddy 2001), in dem Ausdruck und Erfahrung verschränkt sind. Somit werden Erfahrung, Wahrnehmung oder eben Emotion nicht einfach im Sprechen ausgedrückt, sondern durch das und beim Sprechen gleichsam evoziert:
▶ Kap. 3.2 Konzepte sinnlichleiblicher Wahrnehmung/Emotionspraktiken
„Woher wissen wir, was wir fühlen, bevor sich das Gefühl materialisiert? Ohne eine Materialisierung im Körper ist eine Emotion kaum von einem Gedanken zu unterscheiden; ohne die Materialisierung in Sprache bleibt Emotion diffus, ich kann sie nicht im vollen Sinne des Wortes erfahren. Diese beiden Modi lassen sich nicht trennen: Körperliche Aktivierung wird erst durch Versprachlichung sinnvoll; emotionale sprachliche Äußerungen verweisen auf körperliche Zustände, evozieren sie, werden erst durch sie verständlich. Deshalb bleibt Emotion sowohl an Sprache als auch an Körperlichkeit gebunden und entfaltet sich als eine Praxis, die mit anderen Praktiken verbunden sind.“ (Scheer 2016: 28f)
Wie Monique Scheer hier beschreibt, ist Sprache bzw. das Sprechen nicht als rationaler Gegensatz zum leiblich-emotionalen Handeln zu verstehen, sondern stellt eine Form leib/körperlicher Äußerungen dar. Wenn Sprache dabei als eine Form von Materialisierung beschrieben wird, liegt ein erweitertes Materialverständnis zugrunde, das nicht ausschließlich feststoffliche Artefakte einbezieht. Materialisierung wird hier vor allem als Prozess innerhalb einer Interaktionssituation begriffen, in der etwas Implizites explizit wird. Beispielsweise materialisiert sich eine Vorstellung von Erinnerung während des zweiten Taktsinn-Dinners, an der entlang sich konkrete, subjektive Erinnerungen (wieder-)erleben und erzählen lassen. Das Gericht sowie das Narrativ dazu bilden hier einen Kristal-
▶ Kap. 6.3 Früher waren die Pfirsiche aromatischer
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lisationspunkt, der einerseits Wissen und Erfahrung aufruft und andererseits eine Möglichkeit bietet, diese anzudocken und damit greifbar zu machen. Dieses Vorgehen bietet sich dann an, wenn eine vielstimmige, kollektive Form von Wissensproduktion zum Beispiel in Gruppendiskussionen oder Workshops erwünscht und möglich ist. Bei den von mir im Rahmen der Taktsinn-Dinner durchgeführten Gruppendiskussionen fanden direkt im Anschluss an die experimentelle Erhebungssituation derartige Diskussionen statt. Dabei gingen Mahlzeit und Diskussion fast nahtlos ineinander über, so dass es kaum Veränderungen in der vorab hergestellten Vertrautheit und Informalität gab. Die Situation des Ess-Settings, die hier reflektiert werden sollte, war zudem zeitlich sehr nah an der Diskussion, so dass die zu diskutierende Situation noch sehr präsent für die Teilnehmenden war. Dies unterscheidet die Taktsinn-Gruppendiskussionen von herkömmlichen Gruppendiskussionen, bei denen die Teilnehmenden sich erst zur Diskussion an einem Ort und somit auch in das Thema einfinden müssen. Ein großer Vorteil von situativen Gruppendiskussionen insgesamt ist die kollektive Annäherung an eine gemeinsame Wahrnehmungsposition anstatt der Rekonstruktion dieser von nur einer Forschenden aufgrund von eigenen Erinnerungen und Gesprächen. Dies gilt umso mehr, wenn es um Wahrnehmungsdaten geht, die schwer beobachtbar sind, und wenn sie es sind, zwangsläufig von der Wahrnehmung der beobachtenden Person beeinflusst werden. Das umfängliche Dokumentieren und Reflektieren der Forscher*innenperspektive kann jedoch auch eine Möglichkeit sein, sich einem Forschungsgegenstand zu nähern, der schwer zu explizieren ist. In vielen nicht-experimentellen Feldforschungssituationen ist die/der Forschende vor allem auf die eigene leibliche Perspektive und die Deutung dieser Situationen angewiesen und hat nicht immer (sofort) die Möglichkeit, diese Perspektive mit den Akteur*innen im Feld rückzukoppeln. Die Forschenden müssen vor allem auf das eigene Erleben und Verbalisieren dieses Erlebens in Form von Autoethnographien zurückgreifen (Antony 2015, Stadelbauer/Ploder 2013). Ein weiterer Grund für die beschriebenen Schwierigkeiten, leibliche Praktiken und alltägliche Routinen zu verbalisieren, liegt in der Paradoxie begründet, dass insbesondere biologisch unabdingbare Phänomene (Essen, Schlafen, Sprechen) im Alltag wenig Beachtung finden, gerade weil sie so basal sind. Die Einordnung als trivial und banal wird hierbei häufig gleichgesetzt mit unbedeutend und somit vor allem in den sozialwissenschaftlichen Disziplinen als nicht erforschenswert oder zumindest nicht der Theoretisierung wert (vgl. Gugutzer 2014: 89). Auch wenn die Wertschätzung des
8.2 Methodologisches Fazit | 315
Alltags und der damit verbundenen Themen in der europäischen Ethnologie/Kulturanthropologie sicherlich eine andere ist, so bleiben auch Kulturanthropolog*innen mit dem Problem der „Sprachlosigkeit des Körpers“ konfrontiert. Irritationen der Wahrnehmung Laut Gugutzer ist der Leib eine fraglos gegebene Grunderfahrung, die erst durch Störungen in der „leiblichen Selbstkonfrontation“ (ebd.: 54f), wie zum Beispiel im Erleben von Schmerz oder in dieser Forschung auch Hunger, gegenständlich wird und sich dabei im oben genannten Sinne materialisiert (ebd.: 28). Was routiniert abläuft, gerät in den Hintergrund und findet sich dabei eher in unserem Tun als in unserem Reden wieder. Auf dieser Handlungsebene setzt mein Vorgehen in der Forschung mit Essen an. Indem das alltägliche, unhinterfragte Handeln (= Essen und Schmecken) gestört wird, wird es bewusst und damit zum Verhandlungsgegenstand. Die Forschungsfrage kann sich dabei entweder an die Handlungen und Situationen selbst richten oder an damit zusammenhängende Aspekte wie kulturelle Prägung oder soziale Konflikte. Störungen, Interventionen und Verfremdungen spielen dabei in der vorliegenden Forschung auf zwei Arten und Weisen eine Rolle: Erstens als Irritation oder Störung der Wahrnehmung, die sowohl ich als Forschende als auch die Teilnehmenden in den Ess-Settings erlebten. Im Reflektieren dieser Momente lag meist ein wichtiges Erkenntnispotential, das nachfolgend beschrieben wird. Zweitens wurden Verfremdungen und Interventionen – auch aufgrund dieser Erfahrung – bewusst eingesetzt, um Hypothesen zu testen oder die Wissensproduktion in der Gruppe anzuregen. Mit Blick auf die Methodologie haben Sebastian Mohr und Andrea Vetter jüngst für die Explikation von Körpererfahrung in der Feldforschung die drei hier erwähnten Strategien erarbeitet, wobei sie insbesondere die Feldkonstruktion in den Blick nehmen und diese mit Forschungssituationen in Laboren vergleichen. Der Körper (der Forschenden) stellt für sie hierbei gleichermaßen Instrument und Grenzobjekt dar, „an und in dem Grenzen verschiedener Bedeutungsräume verlaufen und sich überkreuzen“ (Mohr/Vetter 2014: 105). Neben der Strategie der Authentifizierung, die am ehesten dem herkömmlichen Verständnis von Feldforschung entspricht, führen sie hierbei die Strategien der Verfremdung und der Intervention an (vgl. ebd.: 102). Bei der Verfremdung wird demnach eine Sinneswahrnehmung wie Riechen oder auch eine technische Aufzeichnung im Erhebungsprozess in den Vordergrund gestellt und
▶ Kap. 2.1 Forschen zwischen Kunst und Ethnographie
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somit die „ganzheitliche“ Wahrnehmung des Feldes bewusst manipuliert. Als Interventionen betrachten Mohr und Vetter auch nicht intendierte Beeinflussungen des Feldes zum Beispiel aufgrund von Unsicherheiten. In der bewussten Anwendung von Interventionen machen sich Forschende „das performativ-konstruktivistische Moment von Feldforschung zunutze“. Entscheidend ist dabei, dass die Körper der Forschenden „hier direkt und meist entgegen der Logik des Feldes zum Einsatz [kommen]“. Dabei können über die Störung von Abläufen und Wahrnehmungen in die Körper eingeschriebene normative Strukturmomente des Feldes identifiziert und reflektiert werden (vgl. ebd.: 112ff). Bei den von mir veranstalteten Taktsinn-Dinnern kamen somit sowohl die Strategie der Verfremdung als auch der Intervention zum Tragen. Die Interventionen in den Taktsinn-Dinnern begannen bereits dann, wenn beispielsweise die von mir organisierten Taktsinn-Dinner selbst geschaffen und inszeniert wurden. Hierbei versuchte ich zum einen, den experimentellen Charakter in dem Sinne zu realisieren, als dass die Handlungen und Abläufe im Setting sich relativ frei entwickeln und ereignen konnten und es ebenfalls Raum für Widerständiges und Ungeplantes geben konnte. Zum anderen erforderte das Schaffen dieses Rahmens ein hohes Wissen über den Gegenstand und die Idee des Settings, welches sich teilweise auch erst im Laufe der Forschung entwickelte. Dies beinhaltete zum Beispiel ein Abwägen, wie viel Struktur ein solches Setting benötigt, damit sich die Teilnehmenden nicht verloren fühlen, und wie viel Offenheit erforderlich ist, damit sich Unerwartetes entwickeln kann. Oder aber auch ein Gespür dafür, wie lange ein Essen bzw. die einzelnen Programmpunkte wie das Kochen dauern dürfen, um das Wohlwollen und die Geduld sowie den Hunger der Anwesenden nicht überzustrapazieren. Darüber hinaus handelte es sich zum Beispiel auch um eine Expertise zu den verarbeiteten Lebensmitteln und Tischsitten und einem Wissen über die Funktionsweise von Erinnerung (Taktsinn II, Essen und Erinnerung). Dieses Wissen über die Eckpunkte eines solchen Settings und deren Skalierung (zwischen Offenheit und Struktur) ist in erster Linie ein Erfahrungswissen, das zu einem großen Teil leiblich und implizit ist. Die Beeinflussung dieser Rahmenbedingungen liegt vor allem bei der/den gastgebenden Person/en und weniger bei den Teilnehmenden, die vielmehr die Auswirkungen dieser Entscheidungen rezipieren. Konkret können das Entscheidungen sein, die beispielsweise zeitliche Vorgaben und deren Durchsetzung betreffen, oder auch inhaltlich-organisatorische Setzungen wie das Einführen einer Vorstellungs- oder Diskussionsrunde. Wenn in meinen Feldnotizen zu den
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Über-den-Tellerrand-Abenden mehrfach mein Ärger darüber vermerkt ist, dass keine Vorstellungsrunde zustande gekommen war, sagt das etwas über ein von mir empfundenes Missverhältnis von Offenheit und Struktur und somit mein eigenes Verständnis von Gastgeberschaft aus, die sich als leibliches Wahrnehmen von Spannung materialisiert. Dieses Aufspüren von Spannungen und Störungen ist insbesondere auch bei der Erforschung komplexer Situationen wie einer Atmosphäre eine Möglichkeit, eine bessere Greifbarkeit herzustellen. So stellt auch Anna Ionescu in ihren Überlegungen zur Konzeptualisierung von Atmosphären fest, dass Forschende neben der Analyse der materiellen Gegebenheiten vor der Herausforderung stehen, den präreflexiven Charakter von Atmosphären durch die Akteur*innen verbalisieren zu lassen, was laut Ionescu möglicherweise in der Variation bzw. Störung von Atmosphären liegt (Ionescu 2011: 5f). Die empfundene Störung des Atmosphärischen führte bei Teilnehmenden des ersten Taktsinn-Dinners zu einem Nachdenken über Formate, in denen Denken und Wahrnehmen möglich sind bzw. ob und wie in welchem Format sich dieser vermeintliche Gegensatz vereinen lässt: „Ich hab mich zwischendurch gefragt, ob so klassische wissenschaftliche Vorträge in so nem Rahmen nicht irgendwie zu krass sind, weil das irgendwie diese Sinnlichkeit so durchbricht. Und genau deshalb habe ich so viel drüber nachgedacht, welches Medium es braucht, um dann dieses Wissenschaftliche in so nem Kontext einzulassen. Das fand ich insgesamt interessant. Weil diese Vortragsatmosphäre ja auch was mit der gesamten Atmosphäre macht. Und die macht dann natürlich dieses sinnliche Essen immer. Da gibt es dann immer so ne harte Unterbrechung.“ (Gesche, Interviewtranskript Taktsinn I)
Hier zeigt sich, dass die Teilnehmerin eine bestimmte Vorstellung vom Ablauf eines wissenschaftlichen Vortrags oder auch eines gemeinschaftlichen Essens erlernt und verinnerlicht hatte, welche in dem Setting gestört und im Nachgang dazu reflektiert wurde. Diese Normen und Logiken wurden im Wechsel von formellen und informellen Teilen des Settings für alle Anwesenden leiblich spürbar und wurden im Zuge dessen in nachgehenden Reflexionen auch expliziert. Ethnographische Experimente Die hier aufgeworfenen Fragen hinsichtlich des Zusammenhangs zwischen Sprechen und Wahrnehmen beim Essen versuchte ich in
▶ Kap. 7.2 Tischregeln
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den nachfolgenden Taktsinn-Dinnern mithilfe von Verfremdung und Intervention zu untersuchen. Diese eigenen Settings waren als ethnographische Experimente angelegt, die insbesondere von Michael Guggenheims Verständnis einer „incubation“ (Guggenheim 2012) und von einem von Anna Mann et al. durchgeführten EssExperiment unter dem Titel „Mixing Methods, Tasting Fingers“ (2011) inspiriert worden waren. Beide Vorgehensweisen ordnen ihre Experimente im Sinne eines Experimentalsystems an (vgl. Rheinberger 1993), in dem zwar ein (‚künstlicher‘) Aufbau geschaffen wird, dann aber weniger Ursache und Wirkungen getestet werden, sondern vielmehr offen beobachtet wird, was sich ereignet. In diesem Sinne sind ethnographische Experimente in der hier verwendeten Auffassung Aufführungen bzw. Inszenierungen von Realität (vgl. Mann et al. 2011: 227). So wurde beispielsweise beim schweigenden Essen (Taktsinn II und IV), beim Füttern und Gefüttertwerden (Taktsinn II) oder beim Essen mit den Händen (Taktsinn III) eine entrückte Alltagssituation als Forschungssetting inszeniert, um eben den Elementen dieser Alltäglichkeit auf die Spur zu kommen. Auch bei den Taktsinn-Settings gab es neben den genannten Handlungsanweisungen und Vorgaben zum Beispiel in Bezug auf die Sitzordnung auch ungeplante Elemente, die sich in diesem Aufbau ereigneten und von den Teilnehmenden im Verlauf des Settings wahrgenommen und als sinnhaft identifiziert wurden. Diese ungeplanten Elemente fanden sich zum Beispiel beim ersten Taktsinn-Dinner, als abgespielte Soundcollagen in Vorträgen zur Rolle des Auditiven in der Forschung sich mit Kinderstimmen und Glockenläuten außerhalb des Raums vermischten, oder als das bereits angesprochene „leise Licht“, dass sich zum Ende des Abends hin zu einer wichtigen atmosphärischen Komponente entwickelte. Darüber hinaus steht insbesondere auch das zweite Taktsinn-Dinner für einen solchen experimentellen Aufbau, bei dem ich zwar starke Setzungen vorgegeben hatte (schweigend Essen, sich gegenseitig füttern), aber ansonsten keine Vorannahmen oder konkrete Fragen eingebracht hatte, die es an diesem Abend zu beantworten galt. Dies führte auch zur Verweigerung von Aufgaben und somit zu einer Verunsicherung in der Gruppe, was so weit ging, dass die Teilnehmenden (insbesondere Kolleg*innen) nach dem Dinner besorgt auf mich zukamen und fragten, ob ich das Setting als gescheitert empfunden hätte. Solche Fragen konnte ich zwar direkt im Anschluss noch nicht konkret beantworten, aber gerade diese Offenheit und Irritation, wie auch die Vorgaben führten dazu, dass sich dieses Taktsinn-Setting im Nachhinein als (methodologisch) besonders erkenntnisreich erwies.
8.2 Methodologisches Fazit | 319
Ein Beispiel aus diesem Setting stellt das Problem der Vermittlung zwischen subjektiver Wahrnehmung und deren Vermittlung nach außen dar. Wurde zum Beispiel beim Gefüttertwerden und Schmecken des Essens zeitgleich der Versuch unternommen, das Erlebte zu teilen und zu vermitteln, also zu verbalisieren, fühlten sich die Beteiligten in den meisten Fällen überfordert. Eine Reaktion auf diese Überforderung war die Verweigerung der Aufgabe/n. So behielten nicht alle Teilnehmenden des zweiten Taktsinn-Dinners das Füttern während des gesamten Essens bei, sondern wechselten wieder zum Essen des Nudelgerichts vom eigenen Teller. „Inga: […] Aber wie fandet ihr das mit dem Füttern? Frauke: Ganz schlimm. Anna: Fürchterlich doof. Frauke: Anna und ich waren artig, wir fanden das ungefähr gleich doof. Wir haben das gemacht, ungefähr 4 Mal oder 6 Mal, und dann haben wir beide gesagt, wir machen jetzt Schluss damit. Und dann hat jeder für sich gegessen. Aber ich hab dann ihre Soße überwiegend gegessen und sie meine und dann haben wir noch einmal Teller getauscht. Anna (gleichzeitig): Dann haben wir schön getauscht. Frauke: Was für mich auch ne Herausforderung war, für sie nicht, weil sie das aus der Familie kennt. Bei uns nicht, bei uns hat jeder seinen Teller gegessen.“ (Diskussion Taktsinn II)
Durch diese leibliche Erfahrung des Füttern und Gefüttertwerdens und die daraufhin gespürte Abwehr entstand bei einer Teilnehmerin die zentrale Erkenntnis, dass sich die Vorstellung des Essens als kollektives Ereignis nicht mit der soeben gemachten Erfahrung des Essens als „totale Privatsache“ zusammenbringen ließ. In anderen Fällen wurden die Widrigkeiten der Situation bzw. die Frustration darüber und die damit verbundene Überforderung direkt verbalisiert. So notierte eine Teilnehmerin des vierten Taktsinn-Dinners ihre Zerrissenheit in der Situation zwischen Schweigen, extremer Lautstärke, achtsamem Essen und Wunsch nach Kontemplation in der Pause wie folgt auf der Papiertischdecke: „Löffel wäre gut, verordnetes Schweigen wirkt skurril angesichts des lauten Raumes . Habe Mitteilungsbedürfnis schreibe mehr, als ich esse, Gedanken schweifen ab – weg vom Essen und fehlende Achtsamkeit, Schokolade: Forschungsdinner ist aufgrund der Reflexion ‚anstrengender‘ als normale Essen, tolles Projekt, aber Raumlautstärke extrem störend, Schweigen empfand ich eigentlich ganz angenehm, weil ich nicht so gut bin/mich nicht so wohl fühle in der Konversation mit vielen fremden Leuten.“ (Tischdecken Taktsinn IV)
320 | Essen mit und als Methode
Nach dem hier beschriebenen unmittelbaren Erleben der Situation stand in einem zweiten Schritt bei allen Taktsinn-Dinnern die Vermittlung des Erlebten im Vordergrund. Diese Äußerungen geschahen vorwiegend verbal in (Gruppen-)Diskussionen, als schriftliches Feedback, schon während des Essens beim Notieren auf der Tischdecke oder beim Erzählen von Erinnerungen. In einem metaphorischen aber ganz praktischen Sinne wird der Mund hier mitsamt Zunge und Zähnen zur Schnittstelle von Essen und Worten: Speisen gehen in ihn hinein und Worte aus ihm heraus (vgl. Diaconu 2005: 349). Das bedeutet in der Situation des Essens, dass es – neben der Sitte, nicht mit vollem Mund zu sprechen – zu Konflikten beim gleichzeitigen Sprechen und Essen kommen kann. So konnten beim zweiten Taktsinn-Dinner Erinnerungen nicht gleichzeitig verbal vermittelt und Nahrung aufgenommen werden, was eine Teilnehmerin irritiert wie folgt beschrieb: „Kathrin: Und außerdem konnte man sich dabei auch nicht so gut unterhalten. Ich hatte immer das Gefühl, wenn ich gerade rede, dann denke ich, möchte ich jetzt gerade was essen und dann hab ich angefangen was zu sagen und dann (unverständlich) äh ja: Willst du jetzt nicht, dass ich noch weiter von meiner Oma erzähle.“ (Diskussion Taktsinn II)
Diese hier beschriebene und erfahrene Schnittstelle kann somit auch zu einer Konfliktstelle in dem Sinne werden, dass hier Verstand und leiblich-sinnliche Wahrnehmung miteinander konfrontiert sind. Beim Sprechen als meist interaktive Praxis ist der Fokus nach außen gerichtet. Beim Schmecken und Kauen hingegen richtet sich die Konzentration auf die subjektive Wahrnehmung dieser Vorgänge, weshalb das Tischgespräch immer auch eine Vermittlungsleistung zwischen Körper, Geist und sozialer Situation darstellt. Bestrebungen, Schmecken, Sprechen und beispielsweise Erinnern in einer Situation zu konzentrieren, führen somit relativ sicher zu Überforderung, was, wie bereits erwähnt, produktiv sein kann, indem Implizites expliziert wird oder aber zu Abwehr führen kann. Mahlzeiten als Erkenntnissituationen: Eat alongs Wenn hier gezeigt wurde, dass sich beim Essen und Kochen nicht nur etwas über das Essen und Kochen herausfinden lässt, sondern beide Tätigkeiten und Situationen auch etwas über andere, übergeordnete Aspekte wie Beziehungen, Vorstellungen und Konflikte in sozialen und kulturellen Systemen in der Mahlzeit selbst herausfinden lassen, möchte ich an dieser Stelle den Blick nicht nur auf Forschungen über Essen und mögliche Interventionen lenken, sondern
8.2 Methodologisches Fazit | 321
noch einmal übergeordnet auf Mahlzeiten als Erkenntnissituationen verweisen. So wäre es beispielsweise denkbar, in qualitativen Forschungen zu Familienstrukturen, Flucht und Migration, Alltagsorganisation oder Fragen des Lebensstils ein stärkeres Augenmerk auf das Einkaufen und Zubereiten von Lebensmitteln sowie den Situationen und Orten der Nahrungsaufnahme zu legen. Forscher*innen sollten im Rahmen dessen verstärkt an diesen Alltagssituationen teilhaben und diese über die Praktiken und Narrative des Essens hinaus untersuchen. Hierfür wäre es interessant, die Idee des Go-Alongs (Kusenbach 2003) weiterzuführen und auf eine Methode des EatAlongs anzuwenden, wie es kürzlich auch von Anke Strüver für ihre Studie zu „Gutem Essen“ im Alltag beschrieben wurde (Strüver 2020). Kusenbach beschreibt Go-Alongs als eine Mischung zwischen Beobachtungs- und Befragungsverfahren, welche im Rahmen einer Feldforschung dann zum Einsatz kommen können, wenn es um die Situiertheit des Erzählten und Beobachteten in einer Umgebung geht. Demnach wäre ein Eat-Along in der Lage, Forschenden auf der Ebene der Praktiken und atmosphärischen Aspekte durch Beobachtung und eigene Wahrnehmung einen Zugang zum Thema zu ermöglichen und die diskursiv-narrative Ebene in den gleichzeitig geführten Gesprächen einzubinden. Das bedeutet, dass sich die hier beschriebenen drei Analyseperspektiven in einem Eat-Along verbinden lassen. Margarethe Kusenbach beschreibt für die Methode des Go-Alongs zwei unterschiedliche Modi des Örtlichen: Zum einen den Go-Along in der „natürlichen“, alltäglichen Umgebung und zum anderen den Go-Along in einer unbekannten Umgebung (Kusenbach 2003: 463f), der übertragen auf den Eat-Along durchaus auch experimenteller Art sein könnte, was diese Methode wiederum anschlussfähig an die hier beschriebenen Ess-Settings macht. Neben der Erforschung der Wahrnehmung sowie der räumlichen Verortung von Praktiken hebt Kusenbach hierbei insbesondere auch noch einmal das besondere Potential von Go-Alongs im Evozieren von Erinnerungen durch die Präsenz im Raum und die Präsenz von Objekten hervor. Ähnlich wie mit Bezug auf das zweite Taktsinn-Dinner in dieser Arbeit beschrieben, wäre es auch für Eat-Alongs fruchtbar, durch die Anwesenheit des Essens bzw. durch das Kommentieren der eigenen Praxis Erzählanlässe zu schaffen und somit (implizites) Wissen zu explizieren.
322 | Essen mit und als Methode
8.3 VERBINDUNGEN
▶ Kap. 5.4 Kochen als natürliche Kulturhandlung
Ein Thema, das sich im Laufe der Analyse unter den drei vorgestellten Perspektiven als zentral herausgestellt hat, ist das der Verbindung, was beim Thema Essen nicht verwundern mag. Es ist jedoch bemerkenswert, in wie vielen verschiedenen Dimensionen es bei den Ess-Settings eine Rolle gespielt hat, weshalb diese im Folgenden noch einmal gesammelt dargestellt werden sollen. Da es die naheliegendste Form des Verbindens beim Essen ist, beginne ich mit der sozialen Dimension, die sich aus der Auffassung von Mahlzeiten als soziale Institution ergibt (Barlösius 2011: 173). So stellt die Mahlzeit einen Rahmen und Kontext dar, in dem sich Personen versammeln können und auf kulturelle Regelwerke zurückgreifen können. Indem diese Regeln angewendet und somit bestätigt werden, festigt sich die Gruppe der Essenden wiederum, was durch die Inszenierung dieser Tischgemeinschaft als exklusiv weiter verstärkt werden kann. In dieser sozialen Dimension der Verbindung ist die körperliche Präsenz der Essenden zentral, was zu körperlichen und sinnlich-leiblichen Verbindungen beim Essen führt. Der menschliche Körper stellt während einer Mahlzeit und auch für Forschende ein Grenzobjekt dar, das Außen und Innen, Subjekt und Kollektiv miteinander verbindet (vgl. Vetter/Mohr 2014: 105). Die Nahrung wird einverleibt und verbindet sich mit dem Körper (vgl. Mol 2008). Mimik, Gestik und verbale Kommunikation geben hierbei den Anwesenden Auskunft über den Geschmack der Speisen oder Ansichten über die behandelten Themen. Gerade im Sprechen über das Essen und der damit verbundenen Vergewisserung, dass gemeinsames Essen zentral für das Schaffen und Pflegen von Verbindungen ist, werden diese Verbindungen erst hergestellt und damit gestärkt. Dabei spielen narrative Figuren, wie sie in dieser Arbeit vorgestellt werden, eine wichtige Rolle. Diese Narrative des Essens verbinden die enthaltenen „Elemente zu einem konsistenten, erzählbaren und wahrnehmbaren Gebilde als Weltzustände, die über ihre performative Wirkung, das heißt den sprachlichen Vollzug der Erzählung geschaffen werden“ (Kiefl 2014: 438). Die verbindende Wirkung bestimmter narrativer Figuren wie dem Esstisch oder dem Feuer stellt sich dabei sowohl über die Erzählung her als auch über die Dinge selbst. Denn sowohl der Esstisch als auch ein Feuer enthalten eine kulturell erlernte Anweisung, dass sich Menschen um sie versammeln, anordnen und zu einer (Tisch-)Gemeinschaft verbinden. Insbesondere anhand der narrativen Figur des Feuers wurde in dieser Arbeit gezeigt, wie Essen und Kochen bzw. Diskurse des Essens und Kochens in der Lage sind, auch Verbindungen zwischen Gegenwart und Vergangenheit
8.3 Verbindungen | 323
herzustellen. Dies geschieht zum einen auf einer individuellen Ebene, wenn zum Beispiel der Geschmack eines Gerichts uns in die Kindheit zurückversetzt oder im Rahmen von Flucht und Migration die Heimatküche eine Möglichkeit darstellt, sich mit einem früheren Lebensabschnitt und -ort zu verbinden. Zum anderen wurde diese Verbindung von Vergangenheit und Gegenwart genutzt, um eine jetzige Gegebenheit plausibel zu machen und als kulturübergreifend gültig zu erklären. Dies geschah meist im Modus eines „schon immer“ bzw. „seit der Steinzeit“. Diese Erzählungen, die Essen und Kochen zu einem universellen und essenziellen Gegenstand menschlicher Kultur erheben, sind dabei nur ein Teil des zirkulierenden und vermittelten (Alltags-)Wissens über Essen. Neben dem Alltagswissen kursieren andere Wissensformen wie zum Beispiel (natur-)wissenschaftliches oder gastronomisches Wissen, welches sich in Inhalten, Sprache und Zugangsmöglichkeiten grundlegend voneinander unterscheiden kann. Dennoch fungiert hier das Essen mit allen zugehörigen Praktiken, Vorstellungen und Dingen als Boundary Object im Sinne der allgemeinen Definition von Susan Leigh Star und James Griesemer: „Boundary objects are both plastic enough to adapt to local needs and constraints of the several parties employing them, yet robust enough to maintain a common identity across sites. They are weakly structured in common use, and become strongly structured in individual-site use. They may be abstract or concrete. They have different meanings in different social worlds but their structure is common enough to more than one world to make them recognizable, a means of translation. The creation and management of boundary objects is key in developing and maintaining coherence across intersecting social worlds.“ (Leigh Star/Griesemer 1989: 393)
Die in diesem Konzept den Boundary Objects zugeschriebene „interpretative Flexibilität“ (Leigh Star 2017: 214) ermöglicht eine Deutung, warum dem Essen eine derart universelle Kraft des Versammelns zugeschrieben wird, und nimmt dabei die in dieser Arbeit wichtige Erkenntnis auf, dass in Ess-Settings ein ausgewogenes Verhältnis zwischen Struktur und Offenheit wichtig für das Gelingen ist. Noch wichtiger als die diskursive Konstitution des Essens als Boundary Object ist mit Blick auf die Ess-Settings, dass das Boundary Object Essenspraktiken strukturiert und damit organisiert, dass und wie „man Dinge zusammen tun kann“ (ebd.), und darüber hinaus ganz konkret: Dass man zusammen essen und kochen kann, obwohl und weil die einzelnen Beteiligten unterschiedliche Erwartungen an dieses Setting, unterschiedliche Vorlieben oder Hintergründe haben. Wichtiger ist hierbei die Verbindung, die
324 | Essen mit und als Methode
(temporär) entsteht, ohne dass es einen Konsens über die Vorlieben und Erwartungen geben muss.
8.4 TRANSFORMATION
▶ Kap. 7.2 Tischregeln/Gastlichkeit als Schwellensituation
Wie alle Mahlzeiten enthalten Ess-Settings rituelle Komponenten, die handlungsleitend und stabilisierend wirken und in Bezug zum kulturellen und sozialen Hintergrund der Essenden stehen. Darüber hinaus sind Speisen und Mahlzeiten Teile von Ritualen wie Hochzeiten, Gottesdiensten oder Opferriten. Obwohl das Ritual narrativ eine untergeordnete Rolle im Forschungsmaterial dieser Arbeit spielte, möchte ich es an dieser Stelle dennoch aufgreifen, denn die für (Übergangs-)Rituale (van Gennep 2005) typische Transformation eines Zustands zwischen Beginn und Ende des Essens spielte in der Praxis der Ess-Settings eine wichtige Rolle. Darüber hinaus hatten dabei rituelle Elemente von Mahlzeiten wie Vorstellungsrunden (Olympia Gastmahl, Über den Tellerrand), Begrüßungen durch die Gastgebenden (Taktsinn, Über den Tellerrand) oder das Aussprechen von Lob für die Köch*innen und Gastgebenden (Olympia Gastmahl, Über den Tellerrand) eine strukturierende und stabilisierende Rolle. Viele der Veränderungen und Verwandlungen, die sich in jedem Ess-Setting vollzogen haben, beschreiben eher kleine, erwartbare Veränderungen während einer besonderen Mahlzeit. Dazu gehört die Veränderung des leib/körperlichen Zustands, indem die Teilnehmenden hungrig und ggf. angespannt in das Setting hineintraten und sich im besten Fall gesättigt, entspannt und inspiriert wieder auf den Heimweg begaben. Oder die Verwandlung von Lebensmitteln zu einem Gericht, indem mit allen Mitteln der Kochkunst/-kultur Aggregatszustände verändert oder Geschmäcker kombiniert wurden (vgl. van der Meulen/Wiesel 2017). Auch wenn diese Veränderungen wenig thematisiert werden, tragen sie doch zu einem großen Narrativ der Mahlzeit bei, der hierbei ein Potential zugeschrieben wird, beim Essen zu einem „besseren Wir“ (Über den Tellerrand e.V. 2016c) oder einer „besseren Welt“ beizutragen (Link 2016). In Settings wie den Über-den-Tellerrand-Abenden wird die gewünschte Transformation direkt in den Einladungen kommuniziert, indem hier aus Fremden Freunde werden sollen (ebd.). Dieser Wandel vollzieht sich jedoch nicht einfach aufgrund der Situation der Mahlzeit und gemeinsamer Aktivitäten, denn insbesondere in diesem Beispiel entspricht die Transformation auch einem Tausch: So bringen Geflüchtete hier eine persönliche Geschichte und besondere Rezepte ein und erhalten im Gegenzug die Möglichkeit zu Begegnungen und dem Aufbau eines Netzwerks. Dabei gleicht der Aufbau
8.4 Transformation | 325
dieser Settings in besonderem Maße einem Übergangsritual (vgl. Shields-Argelès 2016), indem es erstens um das Beweisen bestimmter (Sprach-)Kenntnisse oder auch von Offenheit geht, was nicht nur auf die Geflüchteten, sondern auch auf die Locals zutrifft. Denn zweitens werden die Rollen und sozialen Grenzen der Anwesenden im Konzept der geteilten Gastgeberschaft aufgelöst, so dass sich die angestrebte Welt, in der sich alle Menschen auf Augenhöhe begegnen, für den Zeitraum des Settings erproben lässt (Über den Tellerrand). Neben diesen Wandlungen auf der leiblichen und der Handlungsebene spielt auch die narrative Figuration von Verwandlung und Transformation im Rahmen von Essen und Kochen eine wichtige Rolle. Das dominante Narrativ ist hier, dass sich der Mensch über die Fähigkeit zu kochen zivilisieren konnte. Diese Geschichte der Zivilisierung des Menschen durch die Erfindung von Werkzeugen und Accessoires des Essens und Kochens wird dabei auch als Geschichte der Entfernung vom Essen selbst erzählt, indem Menschen (in einem westlichen Verständnis von Zivilisation) nicht mehr am Boden, sondern am Tisch sitzen, nicht mit den Händen, sondern mit Besteck essen, und keine Gemeinschaft mehr für Jagd und Zubereitung brauchen, um sich zu ernähren, sondern sich ohne großen Aufwand selbst ernähren können. Dass sich aufgrund dieser stereotypen und vereinfachten Darstellung menschlicher Nahrungsund Zivilisationsgeschichte Trends entwickeln, in denen es um (vermeintliche) Rückbesinnung auf frühere Formen des Essens und Kochens und ein unvermitteltes Erleben dessen geht, ist dabei keine Überraschung. Insofern sind Ess-Settings als nicht alltägliche Mahlzeiten für die Teilnehmenden auch immer ein Angebot, sich temporär oder auch dauerhaft verführen und verwandeln zu lassen. Diese Verwandlung kann sich auf eine Grundstimmung, eigene Ansichten, geschmackliche Vorlieben oder soziale Verbindungen beziehen. Wie auch Kristina Bennewitz in ihrer Arbeit zu besonderen Mahlzeiten feststellt, spielt es dabei eine untergeordnete Rolle, wie langfristig und nachhaltig diese Verwandlungen sind (Bennewitz 2013: 172). So stand bei den Ess-Settings vielmehr die Lust auf und an der Verwandlung im Vordergrund, bei der sich Veränderungen manifestieren können, aber nicht müssen. Für die in einer Transformation implizierte Flexibilität stellt sich dann Stabilität ein, wenn die Ess-Settings wiederholt werden oder es Anschlussformate gibt, wie zum Beispiel im Fall der Über-den-Tellerrand-Sprachtandems. Diese Polarität zwischen Wandel und Stabilität soll neben anderen Polaritäten im Folgenden noch einmal eingehender thematisiert werden.
▶ Kap. 7.3 Herzlich Willkommen/Geteilte Gastgeberschaft
▶ Kap. 5.4 Kochen als natürliche Kulturhandlung, ▶ Kap. 5.5 Zurück zu den Wurzeln
326 | Essen mit und als Methode
8.5 POLARITÄTEN UND DAS DAZWISCHEN
▶ Kap. 6.4 Leib, Performanz und Raum in den Atmosphären der Ess-Settings/Improvisation
Bei der Analyse der einzelnen Settings fiel schnell auf, dass Gegensätze wie innen und außen, privat und öffentlich in den Settings prägend waren. Diese werden hier aber nicht als gegensätzliche Dualismen betrachtet, sondern als Polaritäten, bei denen es um die Beziehung der beiden gegensätzlichen Pole zueinander geht. Polarität wird hier mit Hegel aufgefasst als „Unterschied[e], in welchem die Unterschiedenen untrennbar sind“ (Hegel 2008: 11). Sie schließt direkt an das vorangehende Kapitel an, denn letztlich beinhaltet die Vorstellung zweier Pole auch immer eine Bewegung zwischen diesen, deren Dynamik und Themen in den untersuchten Settings vorgestellt wurden. Besonders deutlich wird dies zum Beispiel bei den Polaritäten Außen und Innen sowie Fremd und Freund. Hier nimmt das Essen als Praxis bzw. soziale Situation eine Brückenfunktion ein, wenn beispielsweise das Essen einverleibt und eine Geschmackswahrnehmung kommuniziert wird oder der Austausch über das Essen zu einem besseren Kennenlernen führt. Dies bedeutet dabei nicht, dass sich ein Pol zugunsten des anderen auflöst, es handelt sich eher um eine sich wiederholende Annäherung, wenn zum Beispiel bei jedem Gang Speisen aufs Neue gegessen und geschmeckt werden oder bei einem durch einzelne Gänge strukturierten Dinner wie dem ersten Taktsinn-Dinner die Wahrnehmung immer wieder zwischen dem privaten Gespräch mit der/dem Sitznachbar*in, dem aktiven Rezipieren von Redebeiträgen, der öffentlichen Diskussion in der Gruppe und dem intimen Schmecken des Essens ausgerichtet wird. Bei anderen Polaritäten, die im Rahmen der Beforschung der Ess-Settings identifiziert wurden, geht es weniger um diese Bewegung zwischen den Polen, sondern vielmehr darum, diesen Raum des Dazwischens auszugestalten und sich gerade nicht einer der beiden Seiten zu stark anzunähern. Besonders deutlich zeigte sich dies in den Ess-Settings, wenn – bewusst oder unbewusst – mit der Aushandlung von Strukturierung und Offenheit gespielt wurde, was vorab als Improvisation beschrieben wurde. Hierbei geht es um ein ‚Einpendeln‘ zwischen der Wahrnehmung und Praxis von erlernten Mustern und Wissensvorräten wie Tischregeln oder Zubereitungswissen und dem sich Öffnen für Variationen dieser Regeln oder gänzlich neuen Erfahrungen, indem die Gäste sich beispielsweise gegenseitig fütterten (Taktsinn II), sich auf eine besondere Atmosphäre einließen (Taktsinn I) oder durch das Weglassen gewohnter Komponenten wie dem Sprechen das Format Mahlzeit insgesamt reflektiert wurde (Taktsinn IV). Nähert sich das Ess-Setting hierbei zu stark einem der beiden Pole, wird dies entweder als langweilig
8.5 Polaritäten und das Dazwischen | 327
oder als überfordernd, flüchtig oder chaotisch wahrgenommen. Der Rückgriff auf diese kollektiven, erlernten Routinen und Regelwerke des Essens erklärt auch, warum insbesondere in der Kommunikation über Ess-Settings Alltag und Alltäglichkeit eine wichtige Rolle spielen, auch wenn diese eindeutig als außeralltägliche Mahlzeiten zu verstehen sind, in denen das Besondere gesucht und meist auch gefunden wird. Eine weitere Polarität, die insbesondere in der diskursiven Konstitution von Essen und Kochen eine zentrale Rolle spielte, war die zwischen Natur und Kultur. Hierbei wurden Argumente über die biologische Notwendigkeit des Essens mit Argumenten zur kulturellen Ausgestaltung des Essens und Kochens miteinander verknüpft. Besonders eindrücklich ist die Verquickung von natürlichen und kulturellen Aspekten in Narrativen über das Feuer, welches in diesen Erzählungen disziplinenübergreifend als Startpunkt für die (kulturelle) Menschwerdung beschrieben wird (vgl. Wrangham 2009, Lévi-Strauss 1976, Wojtko 2018, Vilgis 2018). Das Aufgreifen der Entwicklungsgeschichte um das Feuer wurde in dieser Arbeit bereits als narrative Figur beschrieben, die Gegenwärtiges (Essen) durch die sprachliche Herleitung als biologische oder historische Entwicklungslinie plausibel macht. Diese ist äußerst wirkmächtig, was sich auch in dem hier analysierten Material zeigt, indem sie einer Logik des „schon immer“ bzw. „nicht nur bei uns“ folgt.
▶ Kap. 4.4 Kochen als natürliche Kulturhandlung
„Viele Normierungen und Institutionen des Essens gelten deshalb als soziale Urformen oder gesellschaftliche Grundmodelle, wie die Mahlzeit als Urform der Vergemeinschaftung und der sozialen Distanzierung […]“ (Barlösius 2011: 48).
Insbesondere im zweiten hier vorgestellten Verständnis von Polaritäten, in denen sich im Spannungsfeld zwischen den Polen ein alternativer Raum für alternative Denkweisen und Praktiken eröffnet, ist das hier vorgestellte Format des Ess-Settings interessant – vor allem dann, wenn die Frage aufgeworfen wird, wie dieses auch als Forschungssetting oder in den hier thematisierten Beteiligungskontexten weiter operationalisiert werden kann. Eine Antwort darauf wurde unter der Analyseperspektive der gesellschaftlichen Dimensionen kollektiven Essens und Kochens im Kapitel zu Gastgeberschaft gegeben. Hier wird das im Rahmen der Über-den-TellerrandSettings verwendete Format der geteilten Gastgeberschaft beschrieben, bei dem es zwar Gastgeber*innen gibt, welche die Settings organisatorisch vorbereiten und sich um Einladungen und weitere administrative Aufgaben kümmern, in der gastlichen Situation selbst
▶ Kap. 7.2 Tischregeln
328 | Essen mit und als Methode
übernehmen jedoch Gäste und Gastgebende eine geteilte Verantwortung für den Verlauf des Settings. Während in den Über-denTellerrand-Settings hauptsächlich eine vorher eingeweihte, rezeptgebende Person der/diejenige ist, die/der den Abend aktiv mit dem Organisationsteam mitgestaltet, und die anderen Gäste vor allem Aufgaben wie die delegierte Zubereitung der Speisen übernehmen, wäre ein Weiterdenken und Übertragen dieses Formats auf andere Ess-Settings in Beteiligungs-, Forschungs- und Stadtentwicklungsprozessen denkbar und wünschenswert. Dieser Third Space (Bachmann-Medick 1998), der damit eröffnet und etabliert werden kann, sollte dementsprechend auch einem Third Place – also öffentlichen, geteilten und hierarchiearmen Orten ohne Konsumzwang – entsprechen, um einen Möglichkeitsraum für Verhandlung, Verwandlung, Scheitern, Wissensproduktion sowie Genuss und Erlebnis zu schaffen, der eine noch größere, diversere Zielgruppe anspricht und versammelt, als es bei den hier behandelten Ess-Settings der Fall war.
8.6
AUSBLICK
Mit diesem Wunsch ist auch die Anregung verbunden, mit den vorgestellten Erkenntnissen und Ideen in unterschiedlichen Feldern weiterzuarbeiten und dabei insbesondere die methodologischen Anregungen zu erproben und weiterzuentwickeln. Womit auch, analog zur einleitenden Frage, wann eine Forschung beginnt, gefragt werden kann, wann eine Forschung endet: Mit dem Moment des Feldaustritts, mit der Niederschrift und Abgabe eines Texts an Prüfungsämter oder Verlage? Auch wenn das Interesse an und die Expertise für ein Forschungsfeld auch nach dem Ende einer Forschung bestehen bleiben, gibt es einen Zeitpunkt, an dem der oder die Forschende erkennt, dass es im eigenen Forschungsfeld nach wie vor offene Fragen gibt, die durch weitere Forschungen geklärt werden müssen. Gerade die Anwendungen und Modifikation von Erkenntnissen und Angeboten dieser Forschung in anderen Feldern und Settings werden dabei helfen, die inhallichen und methodologischen Ansätze dieser Arbeit weiter zu schärfen und zu entwickeln. Damit ist auch ein Plädoyer für mehr sichtbare Multiperspektivität und Experimentierfreude in allen Stadien von Forschung verbunden. Diese Arbeit entwickelt dafür mit dem Ess-Setting ein Feld und ein Format, mittels derer kollektives Essen und Kochen aus eben dieser Multiperspektive analysiert, gestaltet und getestet werden können. Dabei versteht sich diese Forschung als Beitrag zur empirischen Ausgestaltung einer sinnlich-informierten Ethnographie
8.6 Ausblick | 329
und ethnographischen Methodendiskussion, die auch über die hier be- und verhandelten Felder hinausweisen soll.
Literatur- und Quellenverzeichnis
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ABBILDUNGSNACHWEISE Abbildung 1: vierter Über-den-Tellerrand-Abend © Inga Reimers Abbildung 2: Diskursives Dinner „Open Futures“ © Inga Reimers Abbildung 3: Olympia Gastmahl © Daniel Killy Abbildung 4: Hallo Küche © Inga Reimers Abbildung 5: UdN-Restaurant © Archiv der Universität der Nachbarschaften Abbildung 6: Lass uns zusammen was essen, Park Fiction © Margit Czenki 2013, Courtesy: Park Fiction Abbildung 7: Galerie linksrechts © Janina Kriszio Abbildung 8: Taktsinn I © Jan Reimers Abbildung 9: Taktsinn II © Jan Reimers Abbildung 10: Taktsinn III © Thies Rätzke Abbildung 11: Taktsinn IV © Inga Reimers
Ethnologie und Kulturanthropologie Victoria Hegner
Hexen der Großstadt Urbanität und neureligiöse Praxis in Berlin 2019, 330 S., kart., 20 Farbabbildungen 34,99 € (DE), 978-3-8376-4369-5 E-Book: PDF: 34,99 € (DE), ISBN 978-3-8394-4369-9
Bernd Kasparek
Europa als Grenze Eine Ethnographie der Grenzschutz-Agentur Frontex Juni 2021, 382 S., kart., Dispersionsbindung, 27 SW-Abbildungen 38,00 € (DE), 978-3-8376-5730-2 E-Book: PDF: 37,99 € (DE), ISBN 978-3-8394-5730-6
Dieter Haller
Tangier/Gibraltar – A Tale of One City An Ethnography June 2021, 278 p., pb., ill. 32,00 € (DE), 978-3-8376-5649-7 E-Book: PDF: 31,99 € (DE), ISBN 978-3-8394-5649-1
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Ethnologie und Kulturanthropologie Philipp Schorch, Daniel Habit (eds.)
Curating (Post-)Socialist Environments April 2021, 344 p., pb., ill. 40,00 € (DE), 978-3-8376-5590-2 E-Book: PDF: 39,99 € (DE), ISBN 978-3-8394-5590-6
Gerdien Jonker
100 Tage Lockdown Ethnographische Wanderungen durch Berlin während des Corona-Stillstands April 2021, 254 S., kart., Dispersionsbindung, 55 SW-Abbildungen 29,00 € (DE), 978-3-8376-5618-3 E-Book: PDF: 34,99 € (DE), ISBN 978-3-8394-5618-7
Michaela Fink, Reimer Gronemeyer
Namibia's Children Living Conditions and Life Forces in a Society in Crisis April 2021, 196 p., pb., col. ill. 35,00 € (DE), 978-3-8376-5667-1 E-Book: PDF: 34,99 € (DE), ISBN 978-3-8394-5667-5
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