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German Pages [411] Year 2000
Modelle der »Anwendung« von Ethik und Moral in verschiedenartigen Praxisbereichen sind notorisch umstritten. Dals die endlich praktisch wer-
dende Philosophie kraft der Vernunft ihrer Diskurse für die Bürgergesell-
schaft neue Sensoren in sensiblen Problemzonen entwickelt (z. B. in der
modernen Medizin, der Energie- und Umweltpolitik, der Wirtschaft),
hoffen die einen. Andere fürchten, daß jene gesellschaftliche Reformbewegung, die als »angewandte« oder »praktische« Ethik auftritt, auf nichts anderes hinausläutt als auf bürokratische Logik und Expertokratie, aut neue Arkan-Politik, auf ideologische Akzeptanzbeschaffung für soziotechnische Großprojekte, auf Entzauberung, Enttabuisierung und Entso-
lidarisierung im Dienst kapitalistischer Modernisierung. Damit wird angewandte Ethik zum Politikum. Zwischen den beiden extremen Einschätzungen entfaltet sich ein Spektrum von Versuchen in und außerhalb der Philosophie, bestimmte Theorie-Praxis-Verhältnisse (»Anwendungen«) aufgeklärten moralischen Denkens ihrerseits moraltheoretisch und vor allem demokratietheoretisch noch einmal aufzuklären. Die Autoren dieses Bandes brechen mit dem herrschenden Gestus angewandter Ethik, »Moralprobleme zu lösen«. Vielmehr erkunden sie zwiespältige Resonanzen, die der Diskurs der angewandten Ethik hervorruft, indem er sich in den politischen Raum demokratischer Rechtsstaaten ein-
schreibt. Das Spektrum der hier untersuchten Institutionalisierungen reicht von klinischen und nationalen Ethikkommissionen bis hin zu wirtschaftsethischen Unternehmensverfassungen, von Institutionen der Tech-
nikfolgenbewertung bis hin zu internationalen Konventionen, in denen
Bioethik und Biorecht sich verbinden.
Angewandte Ethik als Politikum Herausgegeben von Matthias Kettner
Suhrkamp
Die Deutsche Bibliothek - CIP-Einheitsaufnahme Angewandte Ethik als Politikum / hrsg. von Matthias Kettner. -
1. Aufl. -
Frankfurt am Main : Suhrkamp, 2000
(Suhrkamp-Taschenbuch Wissenschaft; 1458)
ISBN 3-518-29058-4
suhrkamp taschenbuch wissenschaft 1458 Erste Auflage 2000 © Suhrkamp Verlag Frankfurt am Main 2000 Suhrkamp Taschenbuch Verlag Alle Rechte vorbehalten, insbesondere das der Übersetzung, des öffentlichen Vortrags sowie der Übertragung
durch Rundfunk und Fernsehen, auch einzelner Teile. Kein Teil des Werkes darf in irgendeiner Form
ohne sch iliche die einristing oder anage Yeproduziers oder unter Verwendung elektronischer Systeme verarbeitet, vervielfältigt oder verbreitet werden. Satz: Jürgen Ullrich typosatz, Nördlingen Druck: Nomos Verlagsgesellschaft, Baden-Baden Printed in Germany
Umschlag nach Entwürfen von Willy Fleckhaus und Rolf Staudt
1234567-060504 03 02 01 00
Inhalt
Einleitung ..........................
7
1. Zur Theorie des moralischen Engagements Karl-Otto Apel First Things First. Der Begriff primordialer Mit-Verantwortung. Zur Begründung einer planetaren Makroethik. •
21
Bruce Jennings
Liberale Autonomie und bürgerliche Interdependenz:
Politische Kontexte angewandter Ethik . ..........
51
Marcus Düwell Die Bedeutung ethischer Diskurse in einer wertepluralen
Welt............................
76
II. Ethik-Komitees und ibre Moral Lene Koch, Henrik Zable Ethik für das Volk. Dänemarks Ethischer Rat und sein Ort
in der Bürgergesellschatt ................. II7 Klaus-Peter Rippe
Ethikkommissionen in der deliberativen Demokratie ...
140
Christopher Megone Demokratie, Liberalismus, Kommunitarismus: Bezüge zu lokalen forschungsethischen Komitees
...........
165
Will Kymlicka Moralphilosophie und Staatstätigkeit: das Beispiel der neuen Reproduktionstechnologien ..............
193
III. Politische Eingriffe
angewandter Ethik Thomas Murray Das Humangenomprojekt, das ELSI-Programm und die
Demokratie .............0000000.....
229
Jochen Vollmann Das Informed Consent-Konzept als Politikum in der Medizin. Patientenaufklärung und Einwilligung aus
historischer und medizinethischer Perspektive . ...... 253
Norbert Campagna Von der Bioethik zum Biorecht - Demokratietheoretische . .. Übersetzungsprobleme
280
IV. Strategien
der Moralisierung
Hans Schelksborn Zwischen prophetischem Uberlebenskampf und analytischer Distanz. Zum Theorie-Praxis-Problem einer Ethik
der globalen sozialen Frage. . . . . •
.....
3II
Ulrich Thielemann Angewandte, funktionale oder integrative Wirtschatts-
ethik? . . ........
342
Josef Wieland Globale Wirtschaftsethik. Steuerung und Legitimität von
Kooperation in der Weltökonomie. . ...........
365
Matthias Kettner Welchen normativen Rahmen braucht die angewandte
Ethik?..............................
388
Hinweise zu den Autorinnen und Autoren . . . . . . . . .
408
Einleitung: Die Beiträge im Überblick Die traditionelle Philosophie der Moral (»Ethik«) hat die Standards, nach denen sich Praktiken moralisch beurteilen lassen, nur verschieden interpretiert; es kommt aber darauf an, diese Praktiken
moralisch zu verbessern. - Diese einfache Formel erfaßt Erhebliches vom Engagement jener Ethik, die nicht mehr nur Philosophie der Moral, sondern »praktische« oder »angewandte Ethik« sein will. Der kritische, oft auch bloß optimistische Anspruch, zur vernünftigen Einrichtung gesellschaftlicher Praxis beizutragen, ist freilich
keine ideologische Erfindung der Aktivisten angewandter Ethik,
sondern eine neue, zeitgemäße Erschließung dessen, was einer
vergangenen Auffassung zufolge der gute Sinn überhaupt des
Philosophierens sein sollte. Aber daß dem wirkungsvollen aufklärerisch-kritischen Anspruch angewandter Ethik, der sich auch - und meist verständnislos - gegen die traditionelle Philosophie
der Moral kehrt, eine proportional angemessene Anstrengung der
Selbstaufklärung und Selbstkritik entspräche, werden selbst von den Befürwortern angewandter Ethik nur die wenigsten behaupten. Der Anwendungsbegriff selber ruft den Verdacht wach, angewandte Ethik sei bloß Philosophie (»Philosophie?«) aus dem angelsächsischen Geist des social engineering, oder womöglich bloiß die Neuinszenierung der (von Plato bis zu heutigen Kommunitaristen reichenden) Machtphantasie einer gesellschaftlichen Implementierung bestimmter, nämlich philosophisch approbierter, moralischer Gesinnungen. Modelle der » Anwendung« von Ethik und Moral in verschiedenartigen Praxisbereichen sind daher notorisch umstritten. Daß die endlich praktisch werdende Philosophie kraft der Vernunft ihrer Diskurse für die Bürgergesellschaft neue Sensoren in sensiblen Problemzonen entwickelt (z. B. in der Wissenschaft und der Heilkunst moderner Medizin, in der Energie- und Umweltpolitik, in Wirtschaft und Wirtschaftswissenschaft), das hoffen die einen. Andere fürchten, daß jene gesellschaftliche Reformbewegung, die als angewandte oder praktische Ethik auftritt, auf nichts weiter hinausläuft als auf vermehrte bürokratische Logik und Expertokratie, auf neue Arkan-Politik, auf ideologische Akzeptanzbe-
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schaffung für sozio-technische Großprojekte, auf Entzauberung, Enttabuisierung und Entsolidarisierung im Dienst kapitalistischer
Modernisierung.
Damit wird angewandte Ethik zum Politikum. Diesseits der beiden angedeuteten extremen Einschätzungen untersuchen die Autoren des vorliegenden Bandes eine Reihe von Versuchen in und
außerhalb der Philosophie, bestimmte Theorie-Praxis-Verhältnisse (»Anwendungen«) eines aufgeklärten moralischen Denkens ihrerseits moraltheoretisch, vor allem aber demokratietheoretisch
noch einmal aufzuklären.
Dabei brechen die Autoren mit dem ebenso bezaubernden wie albernen Gestus angewandter Ethik, gleichsam die Armel hoch-
zukrempeln und »Moralprobleme zu lösen«. Vielmehr erkunden
sie die zwiespältigen Resonanzen, die der Diskurs der angewandten
Ethik hervorruft, indem er sich in den politischen Raum demokratischer Rechtsstaaten einschreibt. Nach einigen theoretischen Klärungen, die die vernünftigen Grundlagen des moralischen En-
gagements betreffen (Apel, Jennings, Düwell), werden die folgenden Formen politisch folgenreicher Institutionalisierung moralischer Reflexion behandelt: lokale und nationale Ethikkomitees in verschiedenen Ländern (Megone, Rippe, Koch, Kymlicka) sowie behördliche Einrichtungen zur Technikfolgenabschätzung in großen Forschungsprojekten (Murray); professionsspezifische Auslegungen der Menschenwürde (Vollmann) sowie rechtliche Konventionen, in denen Bioethik und Biorecht sich verbinden (Cam-
pagna); ökonomistische Ideologien (Thielemann) und wirtschaftsethische Unternehmensverfassungen (Wieland); die an politisch relevante Öffentlichkeiten gerichtete Moralisierung der Beziehun-
gen zwischen Ländern der »Ersten« und »Dritten« Welt (Schelkshorn), und schließlich jene zivilgesellschaftliche Bewegung, die die
angewandte Ethik selber darstellt (Kettner).
Angewandte Ethik ist ihrer leitenden Absicht nach eine Intervention. Ihre situationsbezogene Berechtigung gründet darin, daß wir moralische Irritationen, die in bestimmten Bereichen unserer Pra-
xis auftreten, als gravierend wahrnehmen und uns zutrauen, mit sozialer Intelligenz die Verhältnisse in den betreffenden Bereichen
moralisch ein wenig weniger irritierend zu gestalten. Die »Anwendung«, von der die angewandte Ethik ihren (wie gesagt: mißverständlichen) Namen hat, ist eine kollektive Aktivität. Sie wird
von diversen Gruppen in der breiten sozialreformerischen Bewe-
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gung der angewandten Ethik gemeinschaftlich getragen, wenn
auch nicht von allen gleichsinnig entwickelt. Manifest und vor-
herrschend ist der Zweck dieser Aktivität, neuen und reflektierten
moralischen Überlegungen mehr praktisches Gewicht zu verschaffen - normalerweise gegen das praktische Gewicht, das die
schon vorhandenen moralischen Überzeugungen in den betreffenden Praxisbereichen zu haben pflegen.
1.
Die drei Autoren der ersten Gruppe widmen sich in ihren Bei-
trägen grundsätzlichen Fragen einer »Theorie des moralischen Engagements«, das in jedem der vielfältig ausdifferenzierten Be-
reiche angewandter Ethik gleichermaßen zirkuliert.
Im ersten Beitrag zieht Karl-Otto Apel aus der Situation einer heute schon in einigen ihrer funktional spezialisierten Teilsysteme globalisierten Weltgesellschaft einige Konsequenzen für das Praxisverhältnis einer Diskursethik, die sich transzendentalpragma-
tisch begründen läßt. Die erste Konsequenz besteht in der Einführung eines postkonventionellen Begriffs moralischer Verantwortung. Wie läßt sich begründen, daß es vernünftig ist, eine Form
moralischer Verantwortung anzuerkennen, die diejenige morali-
sche Verantwortung - scheinbar maßlos - übersteigt, welche im
Rahmen von schon existierenden relevanten Institutionen konventionalisiert und partikularisiert ist? Apels Antwort besteht im
Hinweis auf das vernünftigerweise nicht hintergehbare Selbstverständnis beliebiger Personen, die argumentative Diskurse tühren:
sich selbst ebenso wie allen anderen Personen, mit denen eine diskursive Gemeinschaft denkbar ist, müssen sie eine »primordiale
Mit-Verantwortung« für diskursive Problemlösungen zuschreiben. Diese verteilte, aber noch nicht konventionell aufgeteilte Verantwortung enthält auch den Rechtfertigungsgrund (so Apel) für ein moralisches Engagement, bei dem es darum geht, vernünftig reflektierten moralischen Uberzeugungen überall dort mehr praktisches Gewicht zu verschaffen, wo sozusagen der Schuh drückt. Dieses Engagement treibt auch die angewandte Ethik an. In einer zweiten Argumentationslinie behandelt Apel das fol-
gende Problem: Wie kann man auf eine Weise, die allseits moralisch
zumutbar und für politisch realistische Bürger demokratischer
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Rechtsstaaten auch praktikabel ist, aus der Anerkennung der zu-
nächst noch unbestimmten primordialen Mit-Verantwortung heraus gezielt für bestimmte institutionelle Neuerungen eintreten, die
im Vergleich mit bestehenden institutionellen Arrangements bessere Chancen dafür bieten, daß wir für gemeinschaftliche oder systemisch integrierte Aktivitäten - in Praxisbereichen wie Politik, Wirtschaft, Wissenschaft und Technik - wieder moralisch sinnvolle Formen konventioneller Verantwortung organisieren können? Bruce Jennings fragt skeptisch nach den Bewältigungsmöglichkeiten für die bioethischen Herausforderungen des 21. Jahrhun-
derts in der vorherrschenden, vom Liberalismus durchdrungenen
Bioethik. Wie der Liberalismus ist auch die moderne säkulare Moral der Bioethik großteils ein Diskurs über Freiheit und Verantwortlichkeit, über individuelle Selbst-Bestimmung und deren kulturelle Grenzen, über private Autonomie versus soziale Kontrolle. Der traditionelle liberale Argwohn gegenüber staatlicher Kontrolle hat sich in den letzten Jahrzehnten (so Jennings) in einen generellen zeitgenössischen Verdacht gegenüber allen Formen sozialer oder interpersoneller Kontrolle verkehrt, die den subjektiven Willen, existentielle »Projekte« oder »Lebenspläne« des Selbst blockieren könnten. Die libertäre Wendung des Liberalismus wiederholt sich im Rahmen der Bioethik als eine Uberwertigkeit von Autonomievorstellungen (»Kultur der Autonomie«) und komple-
mentär in der theoretischen Abwertung der menschlichen und moralischen Bedeutung von Abhängigkeitsverhältnissen. Zur allgemeinverbindlichen Rechtfertigung für Beschränkungen indivi-
dueller Freiheit bleibt dann nur die - wie Jennings meint: zu schmale - Basis der liberalen Grundintuition, daß es moralisch nicht erlaubt ist, anderen unnötig zu schaden. Jennings kritisiert den überdrehten »Autonomieliberalismus« anhand der Fragen, was Autonomie bedeutet und warum sie so attraktiv ist. Er unter-
sucht die Logik und die Grenzen des Schadensprinzips in der Bioethik und in liberalen Argumenten, um schließlich als ein mögliches Korrektiv eine Ethik der Interdependenz und bürgerlichen Verantwortlichkeit zu skizzieren. Die konkreten Themenfelder angewandter Ethik sind zu einem großen Teil aus den Veränderungen zu begreifen, die emergente technische und wissenschaftliche Handlungsmöglichkeiten mit sich bringen. Für Marcus Düwell gehört auch die Medizinethik 10
in den Rahmen einer umfassenden Wissenschafts- und Technik-
ethik. Wie jede Form angewandter Ethik muß sie unbeschadet der
Pluralität von Lebensformen in modernen Gesellschaften eine
allgemein verbindliche Beurteilungsgrundlage ausweisen können. Zugleich muß sie tief in die Empirie der neuen Handlungsfelder, in die sie interveniert, eintauchen. An vier einschlägigen Topoi me-
dizinischer Ethik deckt Düwell das komplexe Zusammenspiel verschiedener möglicher Ebenen moralischer Argumentation auf, dessen Beherrschung zum Führen vernünttiger »ethischer Diskurse« erforderlich ist. Düwell diskutiert die Vorzüge und Nachteile von vier idealtypischen normativen Auffassungen ethischer Diskurse. Um grundlagentheoretische Abgrenzung gegenüber der Diskursethik bemüht, plädiert Düwell für einen anderen
sehr bekannten vernunftmoralischen Ansatz, den Ansatz von Allan Gewirth. 11.
Die Beiträge der zweiten Gruppe (»Ethikkomitees und ihre Moral«) kreisen um diejenigen sozialen Organisationsformen der moralischen Urteilsbildung, die gegenwärtig wohl auch deshalb die politisch folgenreichsten sind, weil sie besonders gut in bürokratisch geprägte Institutionen hineinpassen: Rat, Komitee und KommissiOn.
Die bioethische Debatte ist nicht von der Art einer politischen Debatte, wie sie einer öffentlichen gesetzlichen Regulierung gewöhnlich vorausgeht. Die Arbeit an der Entwicklung einer neuen Bioethik ist in besonderem Maße an Komitees verwiesen worden, die relativ unabhängig von der politischen Ebene, jedenfalls von der der Staatstätigkeit (»public policy«), operieren. Entsprechend
hat man den Ethischen Rat in Dänemark sozusagen als einen formalen Rahmen für die öffentliche bioethische Diskussion in diesem Land institutionalisiert. Lene Koch und Henrik Zahle erläutern den politischen Hintergrund des Dänischen Ethischen Rats sowie verschiedene Modelle für die eigentliche Arbeit eines derartigen, aus Sachverständigen (Experten) und Nichtsachverständigen (Laien, Amateuren) zusammengesetzten Organs. Diese Arbeit besteht darin, die Diskussion von bioethisch problematisierten Themen in politisch relevanten und sonstigen Offentlich-
keiten anzuregen und argumentativ zu unterstützen, und zwar auf eine Weise, die möglichst wenig paternalistisch, dogmatisch und
expertokratisch ist. War ursprünglich vorgesehen, daß der 1987
eingerichtete Rat vor allem die - quasi parlamentarische - Aufgabe hat, normative Konsense in der Bevölkerung zu lokalisieren und zu artikulieren, so kamen im Streit der Auffassungen über die Funktionszuweisungen die Forderung nach einer (expertengebundenen) politikberatenden - quasi wissenschaftlichen - Tätigkeit
gegenüber den Behörden hinzu sowie die Forderung einer strikt
öffentlichen (nicht expertengebundenen) Aufklärungsarbeit.
Koch und Zahle zeigen, wie die letztere Aufgabe zur leitenden geworden ist und zu etwas Neuem geführt hat, das sich weder auf das parlamentarische noch auf das wissenschaftliche Arbeitsmodell reduzieren läßt. Besonders angesichts von neuartigen, noch kaum in lebensweltlichen Erfahrungen aufgeschlossenen Herausforderungen moralischer Art kommt die rationale Konsensbildung über moralische Meinungsverschiedenheiten schnell an ihre dissensuellen Gren-
zen. Klaus-Peter Rippe meint (ähnlich wie Norbert Campagna, s.u.), daß im demokratischen Rechtsstaat die Kapazität der Kon-
sensbildung durch wesensmäßig öffentliche Debatten gesteigert
werden muß - durch »Partizipation« -, und dies um so mehr, je deutlicher wir eine bestimmte Aktivität angewandter Ethik (z. B. die Bioethik) im Rahmen einer »deliberativen« Demokratie verstehen wollen. Um gute und schlechte Passungsverhältnisse zwi-
schen Arten von moralischen Herausforderungen und Formen der Bürgerbeteiligung an politischen Entscheidungsprozessen unter-
scheiden zu können, benutzt Rippe ein klassisches Denkmodell: das Geschworenengericht, eine Einrichtung, in der einst Alexander Tocqueville eine urdemokratische Institution der Vereinigten Staaten zu erkennen glaubte. Um die Vorzüge dieses Modells in dem ganz anders gelagerten Kontext der Verarbeitung von morali-
schen Irritationen in modernen demokratischen Rechtsstaaten zur
Geltung zu bringen, unterscheidet Rippe zwischen Konsensus-
konferenzen, Clearingkommissionen und Expertenkommissionen. Rippe plädiert beherzt dafür, die Expertenkommissionen
als die beste Form zu begreifen, in der sich moralische Reflexion auf einer nationalen Ebene institutionalisieren läßt. Forschungsethische Komitees sind heute ein fester Bestandteil des Gesundheitssystems. Sie bewachen dort die Schnittstellen zwi-
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schen medizinisch-therapeutischem und medizinisch-wissenschaftlichem Handeln. Christoper Megone beschreibt, wie sich in England ein System von lokalen forschungsethischen Komitees
herausgebildet hat. Ähnlich wie Jennings spürt auch Megone den zwiespältigen Auswirkungen nach, die mit der Moral des politischen Liberalismus in diesem Setting einhergehen. Megone argumentiert aporetisch: er zeigt ernsthafte praktische Schwierigkeiten mit den existierenden Komitees auf, die von der im wesentlichen liberalen Prägung dieser Institution herrühren, aber durch mehr Liberalismus bzw. mehr (liberal verstandene) Demokratie auch nicht zu lösen sind. Das scheint alternativ zugunsten einer kommunitaristischen Auffassung gerechter ethischer Regulierung zu
sprechen. Doch zeigt Megone auch, daß von dieser Seite kein besseres Alternativmodell zu erwarten ist. Muß, wer moralische Verantwortung ernst nehmen will, auch die Moralphilosophie ernst nehmen? Will Kymlicka, gewiß kein AntiTheoretiker, verfolgt diese brisante Frage, an deren Beantwortung sich auch die Alternative einer expertokratischen oder aber partizipatorischen Politik des Moralischen entscheidet. Seine negative
Antwort entspringt seiner Diskussion der moralischen Qualität der Arbeit von Regierungskommissionen, die sich mit den neuen Technologien der Fortpflanzungsmedizin auseinandersetzen. Die bei manchen Philosophen beliebte unbescheidene Vorstellung, eine Kommission könne durch Auswahl und Anwendung einer einheitlichen und richtigen Moraltheorie Konsens für ihre Urteile schaffen, ist weder realistisch - wegen des internen Pluralismus der Ethik selber - noch demokratietheoretisch wünschenswert - denn ähnlich wie gewählte Repräsentanten im Parlament (meint Kymlicka), sollen die Kommissionsmitglieder die Gemeinschaft insgesamt repräsentieren. Abzulehnen ist daher auch die allzu beschei-
dene Vorstellung, Philosophen seien als Kommissionsmitglieder
speziell nur für die Technik stringenten Argumentierens zuständig. Kymlicka plädiert für eine dritte, pragmatische Konzeption der Mitarbeit von Philosophen in ethischen Regierungskommissionen.
13
111.
Pragmatisch ist auch die Weise, wie Thomas H. Murray an die wichtige Frage herangeht, ob es Initiativen angewandter Ethik
gelingt, moralische Reflexion innerhalb wissenschaftstechnischer Großprojekte so zu situieren, daß von diesen Orten der Moral gute gestaltende Wirkungen auf das Gesamtprojekt ausgehen. Murrays Frage eröffnet darum die dritte Gruppe von Aufsätzen; sie behandeln »politische Eingriffe angewandter Ethik«. Murrays Fallbeispiel ist das amerikanische Humangenomprojekt
bzw. das begleitende Forschungsprogramm zu ethischen, rechtlichen und sozialen Fragen. Murray zeigt überzeugend, daß angewandte Ethik glückliche Wirkungen gehabt hat bzw. haben kann. Er fragt dann, ob derartige Begleitprogramme, die die Wissenschaftspraxis wirksam mitgestalten können, auch ein geeignetes Medium zur Mitwirkung an der Formulierung von Politiken sind, die sich mit der Regulierung der Ergebnisse der Wissenschaftspraxis befassen. Die vermittelnde Größe liegt Murray zufolge in der Herstellung eines optimalen Verhältnisses zwischen solchen Programmen und dem demokratischen Dialog in der zivilgesellschaft-
lichen Öffentlichkeit der Staatsbürger. Optimal ist das Verhältnis,
wenn die argumentativen Ergebnisse der Arbeit solcher Programme verschiedene Fachgrenzen durchdringen und auch für eine breite nichtakademische Öffentlichkeit nachvollziehbar ge-
macht werden können. Die amerikanische Bioethik hält sich zugute, eine moderne, die
Autonomie des Patienten oder Probanden gegenüber dem professionsgeschichtlich tief verwurzelten ärztlichen Paternalismus ins Recht setzende Konzeption der Aufklärung und Einwilligung (»informed consent«) gesellschaftlich folgenreich etabliert zu haben. Das ist nicht ganz falsch. Und in den letzten 30 Jahren hat sich
diese Konzeption als ein grundlegender medizinischer Standard der überall als ein verbindliches subjektives Recht auszugestalten ist, sogar globalisiert. Jochen Vollmann zeigt aber in einer sorgfältigen historischen Rekonstruktion, wie verschiedenartige Konzep-
tionen der Patienteneinwilligung schon im 19. Jahrhundert in Amerika und Deutschland Gestalt annehmen, immer wieder angetrieben von der rechtlichen, staatlichen und massenmedialen Beobachtung der chronique scandaleuse einer Medizin, die dem menschlichen Wohl dienen will, aber am liebsten diejenigen nicht
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fragt, die sie behandelt oder mit denen sie experimentiert. Aus der professionsinternen Beobachtung des Medizinsystems hingegen kommen nur vergleichsweise unbedeutende Anreize zur Reform; die vorherrschende Reaktionsweise auf aufgedeckte Skandale ist
defensiv. Und die professionsinterne Aufstellung von (ethischen) Richtlinien kann, das hat die Geschichte der menschenverachtenden Humanexperimente im Dritten Reich unbezweifelbar gezeigt,
Respekt für die Autonomie der Patienten und Probanden überhaupt nicht gewährleisten. Was passiert, wenn Meinungsverschiedenheiten über bioethisch relevante Entscheidungen bzw. Handlungsweisen in einer werte-
pluralistischen liberalen Gesellschaft nicht mehr »sich selbst überlassen« werden können, sondern allgemeinverbindlich geregelt
werden müssen? Der dann erforderliche, weil alternativenlose
Rückgriff auf das Rechtsmedium wirft eine Reihe von Problemen
auf, denen Norbert Campagna nachgeht. Die Übersetzung von
Bioethik in Biorecht muß sich an dem Anspruch des liberalen Staats brechen, das Rechtsmedium ethisch unparteilich zu programmieren, d. h. ohne daß die Vorstellungen einiger Bürger vom guten und moralisch richtigen Leben bevorzugt und zum Nachteil einiger anderer Bürger mit anderen Vorstellungen zum Zuge kom-
men. Darf oder muß der liberale Staat bestimmte Bereiche der Bioethik rechtlich regulieren? Welche Bereiche? Und auf welchen Rechtsebenen? Wenn diese Fragen beantwortet sind, bleibt immer noch die der konkreten Ausgestaltung des Biorechts. Wenn z. B.,
wie in Deutschland, Konsens über die Notwendigkeit besteht, Embryonenschutz auf Verfassungsebene zu verankern, mufs nicht
damit auch schon festgelegt sein, was für ein Schutzanspruch dies genau sein soll und aus welchen bioethischen Argumenten er sich rechtfertigt. Soll Biorecht auf der Grundlage (möglichst) allge-
meinverbindlicher moralischer Prinzipien einer Rechtsethik aus-
gestaltet werden? Oder kann auch auf Elemente einer Wertethik, womöglich sogar auf eine individuell oder kollektiv orientierte
Vollkommenheits- oder Glückseligkeitsethik zurückgegriffen
werden? Oder sollte das Biorecht von sozialutilitaristischen Überlegungen bestimmt sein, wie sie oft den Entscheidungen des Parlaments oder der Regierung zugrunde liegen? Campagna entwickelt die These, daß bei der Umschrift von bioethischen Überzeugungen in Biorecht im demokratischen Rechtsstaat kein Weg an realen
öftentlichen Diskussionsprozessen vorbeiführt. Biorecht kann
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nicht durch professionsinterne Normierungen ersetzt werden, es kann auch nicht als Richterrecht ausgebildet oder an interdisziplinäre Ethik-Komitees delegiert werden. Aber auch für die Parlamentarier, die legislativ gesehen höchstzuständig sind, bringt die
inhaltlich moralische Natur der biorechtlich regelungsbedürftigen
Materie besondere Schwierigkeiten mit sich.
IV. Die Beiträge in der vierten Gruppe behandeln »Strategien der Moralisierung«, Unter diesem Stichwort sind nicht nur verschiedene Methoden und Stile zu verstehen, moralische Irritationen als moralische Irritationen aufzugreifen und mit normativen Theorien zu belichten, sondern zudem die bereichsspezifisch abgestimmten Operationsweisen angewandter Ethik in solchen Praxisbereichen, für die wir realistischerweise eine vorwiegend an Formen strategischer Rationalität orientierte normative Infrastruktur annehmen müssen. Hans Schelkshorn diskutiert unterschiedliche Methoden, mit de-
nen verschiedene Autoren angewandter Ethik (u.a. Peter Singer
und Karl Homann) die globale Armutsproblematik zu einem moralisch engagierenden Thema machen. Schelkshorn unter-
streicht, daß eine kritische Moralphilosophie auf ihre ideologische Verstrickung in die herrschenden Verhältnisse reflektieren muß und dies ertordert, Ideologiekritik zu einem Bestandteil des Diskurses der (angewandten) Ethik zu machen. Eine »Ethik der globalen Frage« ist heute, da die universalistischen Horizonte europäischer Geschichtsphilosophien zerbrochen sind, vor allem mit den Realitäten einer interkulturell verfaßten Weltgesellschaft konfrontiert. Dies bedeutet, daß global-ethische Probleme nicht mehr monologisch, d. h. nicht mehr nur innerhalb der Grenzen des westlichen Diskurses verhandelt werden sollten. Eine ideologiekritische Selbstaufklärung des Theorie-Praxis-Problems einer westlichen Ethik der Dritten Welt, so Schelkshorn, ist auf den »langen Weg« eines interkulturellen Dialogs mit den neuerwachenden Philosophien in Afrika, Asien und Lateinamerika verwiesen, die bereits seit längerem die Kluft zwischen »arm und reich« aus ihrer eigenen Perspektive analysieren. Auf diesem Wegden Apel in der diskursethischen Gestalt von Dialogen mit den
I6
Betroffenen immerhin in einer gewissen Intensität führt - eröffnet sich möglicherweise auch eine neue Perspektive für eine politisch engagierte praktische Philosophie. Diskursethische Denkfiguren von Apel und Habermas haben bislang, das mag erstaunen, gerade in wirtschaftsethischen Diskussionen einen nicht unerheblichen Einfluß gewonnen. Am Sankt Gallener Institut für Wirtschaftsethik hat eine Arbeitsgruppe um
Peter Ulrich, zu der auch Ulrich Thielemann gehört, eine integrative Wirtschaftsethik auf diskursethischer Grundlage entwikkelt. Thielemanns Beitrag im vorliegenden Band kritisiert in Aus-
einandersetzung mit verschiedenen Spielarten heutiger Wirt-
schaftsethik das Vorurteil, die »angewandte« moralische Reflexion
der Wirtschaftsethik müsse sich von den faktisch vorhandenen Bedingungen des modernen Wirtschaftssystems den Spielraum moralisch erlaubter Veränderungen vorgeben lassen. Hierin liegt (so Thielemann) ein ideologischer Denkzwang zum Sachzwang. Angebliche Sachzwänge sind aber stets als Probleme der Zumutbarkeit von Normen, deren Anerkennung mit der anderer Normen konfligiert, zu entziffern. Thielemanns Strategie, marktwirtschaftliche Verhältnisse moralisch zu problematisieren, mag idealistisch erscheinen; sie hat ihr Vorbild aber in der robust kantianischen Prämisse, daß es moralische Verbindlichkeiten nur dort gibt, wo jemand das auch tun kann, was man tun soll. Josef Wieland entwickelt Überlegungen zu einer Wirtschaftsethik, die von der Faktizität einer globalisierten Marktwirtschaft ausgeht. Interessanterweise plädiert Wieland für eine methodische Einklammerung des Normativen. Moralanwendungen in der und durch die Wirtschaft, so Wieland, führen auf deskriptive und kontextuelle Ethik, genauer: auf Fragen der Herstellung »lo-
kaler Gerechtigkeit« (im Sinne von Jon Elster). Weder die ethische
Begründung ökonomischen Handelns noch die ökonomische Begründung ethischen Handelns sind die passende Ausrichung für die Analysen, die Wieland vorschweben. Ihn interessieren vielmehr die ökonomischen Konsequenzen moralischer Sachverhalte, insofern sie sich auf das Wirtschaften beziehen. Wirtschafts- und Unternehmensethik möchte Wieland von der Kooperationsproblematik her als Anwendungsgebiete lokaler Gerechtigkeit begreifen. Überraschend (und konträr zu Thielemann) kommt Wieland
zu dem Ergebnis, daß es in der Wirtschaft schlichtweg keine
Moralfragen gibt, die in ihren Konsequenzen nicht wirtschaftliche 17
Fragen sind. Unter Wielands Prämissen ist das bedeutendste Medium der »Moralisierung« marktwirtschaftlicher Verhältnisse de-
ren angestammte operative Keimzelle: die Firma. Mit diesem Ansatz kann Wieland auch die Beobachtung erklären, daß fast alle
großen transnationalen Unternehmen in den USA über Ethikab-
teilungen, Ethikprogramme und Ethikmanagement verfügen,
nämlich um die »interne und externe moralische Kommunikation der Firmen« zu gewährleisten. In dem abschließenden Beitrag stellt Matthias Kettner einige Ad-
äquatheitsbedingungen für ein Selbstverständnis angewandter Ethik auf, das die Defizite an Selbstaufklärung und Selbstkritik - die sich, wie vielfach bemerkt wurde, mindestens an den mehr aktivistischen Gestalten angewandter Ethik störend bemerkbar machen - nicht wiederholt. Er schlägt vor, im demokratietheoretischen Bezugsrahmen die Aktivität der angewandten Ethik als eine zivilgesellschaftliche Aktivität zu verstehen, deren bestmög-
licher normativer Bezugsrahmen die Menschenrechte (und weitere einschlägige Deklarationen mit juridisch-moralisch doppelwertigen Inhalten und normativ globalem Geltungsanspruch) sind. An dieser Stelle sei dem Kulturwissenschaftlichen Institut in Essen
und besonders Gertrud Koch für die Möglichkeit gedankt, eine
Tagung zum Thema des vorliegenden Bandes durchzuführen. Mein Dank gilt auch Ute Maetz für die aufmerksame und aufwendige Betreuung der Texte.
18
М. K.
1. Zur Theorie des moralischen Engagements
Karl-Otto Apel First Things First. Der Begriff primordialer Mit-Verantwortung. Zur Begründung einer planetaren Makroethik
1. Die Herausforderung der Gegenwart für eine neuartige Verantwortungsethik Zumindest als Problem ist in der Gegenwart die neuartige Herausforderung einer planetaren, zukunftsbezogenen Verantwortungsethik »für die technologische Zivilisation« wohl am prägnantesten durch das Buch von Hans Jonas Das Prinzip Verant-
wortung von 1979' herausgestellt worden. Doch die zentrale
Zumutung des Prinzips Verantwortung - daß »wir« bzw. der Mensch heute so etwas wie die metaphysische Verantwortung
für das uns ausgelieferte Sein, insbesondere für die Fortsetzung des Seins der Menschheit, übernehmen müsse(n) - erschien manchen als » Verantwortungsutopismus«?. Insbesondere die in der Tat für Jonas charakteristische Forderung, es komme heute erstmals darauf an, die Verantwortung für die möglicherweise irreversiblen und die conditio humana verändernden Folgen der kollektiven
Tätigkeiten der Menschen in Wissenschaft und Technik, aber auch in Politik und Okonomie im planetaren Maßstab zu über-
nehmen, wurde kritisiert. Gegen sie wurde z. B. eingewandt, was Arnold Gehlen in seinem letzten Buch Moral und Hypermoral von 1973 formuliert hatte: »Das Wort Verantwortung hat nur da einen deutlichen Sinn, wo jemand die Folgen seines Handelns öffentlich abgerechnet bekommt, und das weiß; so der Politiker am Erfolg, der Fabrikant am Markt, der Beamte an der Kritik der Vorgesetz-
ten, der Arbeiter an der Kontrolle der Leistung usw.«* Wollte jemand nach Gehlen »jenseits von Sanktion und Kontrolle« Ver-
I Siehe H. Jonas, Das Prinzip Verantwortung. Versuch einer Ethik für die technologische Zivilisation, Frankfurt am Main: Suhrkamp 1979. 2 Rezension, Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 7. 10. 1980.
A. Gehlen, Moral und Hypermoral, Frankfurt am Main: Athenäum 1973, 5.151.
2I
antwortung für unabsehbare Folgen kollektiver Tätigkeiten übernehmen, so liefe das auf »Hypermoral« hinaus.
Mir scheint, diese Stellungnahme zu Jonas' »Prinzip Verantwortung« ist in der Tat als Problemanzeige hoch bedeutsam. Und ich sage dies, obwohl ich Jonas' Forderung einer neuartigen und zeitgemäßen Ethik der Zukunftsverantwortung im Prinzip anerkenne und obwohl ich das letzte Buch von Arnold Gehlen, in dem dieser
seine bekannte Kritik am Humanitarismus der Intellektuellen fortsetzt, als zynisch empfinde. Die Bedeutsamkeit der zynischen Kritik an Jonas aber bezieht sich m. E. auf folgende Tatsachen: 1. Zunächst ist nicht zu übersehen, daß durch das Gehlen-Zitat der
traditionelle Begriff der individuell zurechenbaren Verantwortung in seinem üblichen Verständnis recht gut getroffen ist. Genauer gesagt, handelt es sich um den Verantwortungs-Begriff einer Moral der konventionellen Stufe 4 (»Law and Order«) im Sinne von Lawrence Kohlberg, das heißt um den Verantwor-
tungsbegriff einer Moral, in der alle Pflichten und zugehörigen Kontrollen im institutionellen Rahmen des modernen Staates auf Berufsrollen einer arbeitsteiligen Gesellschaft bezogen sind.+
2. Durch diese Zuordnung ist jedoch der Begriff einer individuell zurechenbaren Verantwortung in seinem Sinn nicht erschöpft.
Man könnte z. B. - immer noch mit Kohlberg - daraut hinweisen, daß auch in einer staatlich organisierten, arbeitsteiligen
Gesellschaft die älteren Verantwortungspflichten anerkannt
werden, die sich z. B. im Bereich der Familie oder der Verwandschafts- und Freundschaftsbeziehungen als Loyalitätspflichten
ergeben. Nach Kohlberg wären das die Verantwortlichkeiten im Sinne der vorstaatlichen Stufe 3 der konventionellen Moral
(die Hegel etwa als ›Pietätspflicht‹ der Antigone in der Tragödie des Sophokles zuordnet). Derartige Pflichten pflegen ja auch in
vielen modernen oder halbmodernen Gesellschaften mit den staatlich anerkannten Verantwortlichkeitspflichten in Konflikt zu geraten (z. B. unter Umständen als Verführung zu Korruption oder Vetternwirtschaft, aber auch als Schutzverantwortung für die nächsten Angehörigen, etwa in einem total geführten nationalistischen Krieg).
4 Vgl. L. Kohlberg, The Philosophy of Moral Development, San Francisco:
Harper & Row 1981. Dazu K.-O. Apel, Diskurs und Verantwortung, Frankfurt am Main: Suhrkamp 1988, S. 306ff.
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3. Andererseits kann man sich in modernen Gesellschaften aber auch individuell zurechenbare Verantwortungspflichten vorstellen, die den Einzelpersonen auf postkonventioneller Ebene zuwachsen: etwa aufgrund ihres besonderen Wissens und Könnens, ihrer Macht und ihres Einflusses in gewissen Bereichen des
gesellschaftlichen Lebens. In diesem Falle müßte man schon
unterstellen, daß Verantwortungspflichten auch jenseits von Kontrolle und Sanktionen bestehen könnten - einfach aufgrund
der Vernunft und Gewissenseinsicht derer, denen sie zuwachsen; und vielleicht auch aufgrund des Urteilsvermögens solcher
Menschen, die sie gut kennen. Mit dieser Vorstellung einer postkonventionellen, aber immer noch
individuell zurechenbaren Verantwortung käme man der von
Jonas den Menschen zugemuteten Zukunftsverantwortung schon näher als mit dem Begriff Arnold Gehlens. Dennoch bestünde meines Erachtens auch jetzt noch eine Kluft zwischen dem postkonventionell konzipierten Begriff individuell zurechenbarer Ver-
antwortung und dem Begriff der Verantwortung, der von Jonas -
und inzwischen auch von vielen anderen - implizit vorausgesetzt
wird, wenn von der Verantwortung des Menschen - oder von unserer Verantwortung - für die vielleicht irreversiblen Folgen
und Nebenfolgen unserer kollektiven Aktivitäten die Rede ist. Wer ist es eigentlich, dem hier die Verantwortung zugerechnet werden soll? Kann irgendein Mensch - oder vielleicht eine Gruppe von Menschen, ein Kollektiv - die Verantwortung tragen z. B. für die Vergittung der Atmosphäre und die Veränderung des Klimas durch die Industrie insgesamt, oder für die progressive Verarmung von Teilen der »Dritten Welt« aufgrund der bestehenden Weltwirtschaftsordnung, oder für die Interdependenz zwischen ökologischer Krise und Verschuldung der »Dritten Welt« und dem dadurch ökonomisch unvermeidlichen Raubbau der Armen an der Umwelt (z. B. den tropischen Regenwäldern), oder für die Bevölkerungsexplosion in der »Dritten Welt«, welche ihrerseits wieder
die ökonomische und ökologische Krise verstärkt? Ich habe hier nur einige Beispiele der Verantwortung für die Folgen
und Nebenfolgen der kollektiven Tätigkeiten der Menschen herausgegriffen: Beispiele, die das Neue und Unerhörte der heutigen
Verantwortungszumutungen besonders drastisch evozieren und
das verbreitete Gefühl der Verantwortungsohnmacht zumindest als verständlich erscheinen lassen. Tatsächlich gibt es ja heute auch
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in der professionellen Philosophie in Europa und in den USA gar nicht wenige Stimmen, die eine Makroethik planetarer Verantwortung für gänzlich unbegründbar und auch für unnötig halten: Stimmen, die dazu auffordern, sich an die Üblichkeiten der traditionellen Sittlichkeit der je eigenen Lebensform zu halten und
nicht - mit Kant - nach einem ethischen »Kompaß« für die Menschheit zu suchen, da es ja für die Orientierung in einer
zivilisierten Stadt (Polis) immer schon Straßenschilder gebe. Sollten diese Stimmen nicht letztlich recht haben? Ich meine, man sollte in einer Sache von dieser Wichtigkeit nicht so rasch autgeben. Gibt es nicht Anzeichen dafür, daß Menschen sehr wohl, über alle jetzt schon individuell zurechenbaren Verantwortlichkeiten hinausgehend, selbst die Initiative ergreifen in der Aufdeckung der täglich neu entstehenden Risikodimensionen unserer Welt - auch darin liegt ja schon Verantwortungsübernahme -; und daß sie auch bei der Organisation der neuen - auch institutionellen - Zurechenbarkeit von Verantwortung auf den Gebieten der Wissenschaft, der Technik, der Politik, des Rechts und der Wirtschaft zunächst einmal selbst eine - sozusagen informelle - Verantwortung übernehmen, die noch niemand in der Gesellschaft ihnen zurechnen
kann?
Worin liegt nun das strukturell Charakteristische solcher Initiativen postkonventioneller Verantwortungsaufdeckung und ihrer versuchsweisen Zurechnung? Der traditionelle Begriff individuell zurechenbarer Verantwortung geht zumindest in seiner konventionellen Form davon aus, daß Verantwortung, sogar die Neuubernahme von Verantwortung, immer schon soziale Institutionen oder funktionale Systeme und
Subsysteme - etwa die der Politik, des Rechts, der Wirtschaft, der Wissenschaft, der Technik, der Erziehung, auch immer noch der
Familie, der Ehe, der Freundschaft und dergleichen - voraussetzt. Darin liegt de facto stets auch eine Begrenzung der zurechenbaren Verantwortung. Denn es kann z. B. ein Politiker nicht dafür ver-
antwortlich gemacht werden, daß in der Gegenwart allenfalls An-
sätze einer globalen Rechtsgemeinschaft der Staaten bestehen s Vgl. K.-O. Apel, G. Bien und R. Bubner, »Podiumsdiskussion«, in:
Hegel-Jahrbuch 1987, S. I 3-48.
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(z. B. die UNO), so daß im zwischenstaatlichen Verkehr noch weitgehend strategische Bedingungen der Selbstbehauptung gerade verantwortungsethisch maßgebend sind. Ebensowenig kann ein Unternehmer oder Bankier in der westlichen Welt dafür verantwortlich gemacht werden, daß das Weltwirtschaftssystem, des-
sen Bedingungen auch ihm den Handlungsspielraum weitgehend vorschreiben, so weit wir sehen können, an der Verursachung der
Armut der Dritten Welt und damit auch der Umweltzerstörung in der Dritten Welt kausal beteiligt ist.
Dennoch kann gesagt werden, daß die Menschen heute - vor allem
die Menschen, die über mehr Wissen und Macht als andere verfügen
- nicht nur zurechenbare Verantwortung im Rahmen der Institutionen bzw. Sozialsysteme tragen, sondern auch Verantwortung oberhalb dieser traditionellen Grenze, nämlich Verantwortung für die Organisation von Institutionen und Sozialsystemen bzw. für ihre ständige Überprüfung und Umgestaltung im Hinblick auf die Vermeidung bzw. Abstellung bekannt gewordener Risiken und
negativer externer Wirkungen im globalen Maßstab. Robert
McNamara z. B., als er vom Amt des US-Verteidigungsministers
zu dem des Chefs der Weltbank hinüberwechselte, entwickelte bei dieser Gelegenheit auch eine neue »philosophy of responsibility«.
Zum Erstaunen derer, die ihn von trüher her kannten, wurde er unter dem Eindruck der Argumente der ökonomischen »Dependenztheorie« der Dritten Welt zu einem engagierten Kritiker des Weltwirtschaftssystems und der bisherigen Politik der Weltbank.
Derartige Verantwortungsinitiativen werden dauernd übernommen - und sei es nur auf der Ebene der Erkenntnissteuerung, z. B. der wissenschaftlichen Fragestellungen und Forschungsprojekte in Richtung aut die Aufdeckung von Risiken und potentiellen Verantwortlichkeiten. Ja, man kann sagen, daß die in demokratischen Staaten vorgesehene Dauerkritik aller Institutionen durch die politischen Parteien und durch die »räsonierende Öffentlich-
keit« (Kant) sozusagen als metainstitutionelle Ausübung von Verantwortung für die Formierung und die Kontrolle der kollektiven Funktionen der Institutionen fungiert. Die räsonierende Öffent-
lichkeit insgesamt ist sozusagen die verantwortliche Metainstitution aller Institutionen. 6 Vgl. V. Rittberger et al., Vereinte Nationen und Weltordnung. Zivilisierung der internationalen Politik?, Opladen: Leske + Budrich 1997.
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Mit diesen Hinweisen auf postkonventionelle Verantwortungsini-
tiativen ist jedoch die von mir aufgeworfene Frage nach dem hier vorausgesetzten Begriff der Verantwortung noch keineswegs beantwortet. Man könnte zwar meinen, es handle sich hier eben um den von mir schon erwähnten postkonventionellen Begriff einer individuell zurechenbaren Verantwortung. Die Zurechnung erfolge hier eben nicht offiziell und einklagbar von außen, sondern durch die Verantwortungsträger selbst, die nicht umhin könnten, sich innovativ nach Maßgabe ihrer neu gewonnenen Einsichten und ihrer faktischen Kompetenzen und gesellschaftlichen Macht auch persönliche Verantwortung zuzurechnen. Diese Antwort, wenngleich nicht ganz falsch, ist letztlich doch
unzureichend. Nehmen wir etwa das Beispiel des Begründers des
»Club of Rome« oder auch das der Wissenschaftler und Techniker, die in jüngster Zeit darangingen, Gemeinschaftsprojekte wie Wissenschaftsethik, Bioethik, Medizinethik, Technikfolgenabschät-
zung und Wirtschaftsethik zu organisieren?. Kann man sagen,
daß solche Initiatoren, auch wenn sie mit ihrer Initiative zunächst allein gewesen sein mögen, unter der Voraussetzung arbeiten, sich selbst eine individuell zurechenbare neue Verantwortung aufzu-
erlegen. Ich denke, das würde die Situation nicht treffen: die Grundsituation nämlich dessen, der zunächst einmal ein prakti-
sches Problem entdeckt - etwa ein von anderen noch nicht bemerktes Risiko kollektiver Tätigkeiten - und nun versucht, anderen seine Erkenntnis und auch seine Besorgnis mitzuteilen und mit ihnen eine Verantwortungsinitiative zu organisieren.
Ein solcher Mensch sieht sich gerade nicht in jener, von den konservativen Kritikern der postkonventionellen Verantwortung unterstellten Situation, daß er entweder als einsamer Einzelner oder als Einzelner im Rahmen einer schon unterstellten Institution
die Verantwortung für die von ihm neu entdeckten Folgen kollektiver Aktivitäten übernehmen sollte oder müßte. Er geht eher von vornherein davon aus, daß eine individuell zurechenbare (weil zugeteilte) Verantwortung noch gar nicht besteht, daß aber gleichwohl er selbst und alle, die er um Rat, Hilfe und Mitarbeit angeht,
sozusagen von Natur aus eine mobilisierbare Mit-Verantwortung
7 Vgl. M. Kettner, »Drei Dilemmata angewandter Ethik«, in: K.-O. Apel
und M. Kettner (Hg.), Zur Anwendung der Diskursethik in Recht,
Politik und Wissenschaft, Frankfurt am Main: Suhrkamp 1992, S. 9-28.
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tragen für die heute so brisanten Folgen und Nebenfolgen kollektiver Tätigkeiten. Insofern setzt er eine Solidarität menschlicher Verantwortung voraus, die ihn von der Zumutung allein zu tragender globaler Verantwortung von vornherein entlastet, ohne es ihm oder irgend jemandem zu gestatten, sich von der Mit-Verantwortung auch für neu entdeckte Risiken und für erst noch zu schaffende Institutionen zu dispensieren. Hier kommt ein neuer Begriff der Verantwortung qua Mit-Verantwortung in Sicht, der vom traditionellen Begriff individuell zurechenbarer Verantwortung paradigmatisch verschieden ist. Es scheint mir jedoch wichtig zu sehen, daß der hier tentativ eingeführte Begriff der immer schon vorausgesetzten Mit-Verantwortung aller Menschen den traditionellen Begriff individuell zurechenbarer Verantwortung keineswegs ausschließt oder überflüssig macht. Vielmehr wird die Mit-Verantwortung aller gerade für die immer wieder fällige Neuzuteilung von individuell zurechenbarer Verantwortung im Rahmen von Institutionen vorausgesetzt.
Eben darin erweist sich, daß die Menschen auf der Ebene der Diskussion, des Räsonierens über welche Probleme auch immer, eine metainstitutionelle Verantwortung tragen, wie das in einer Demokratie auch als letzte Selbstverständlichkeit vorausgesetzt
wird.
II. Diskursethik und die transzendentalpragmatische Begründung der Mit-Verantwortung Bis jetzt habe ich lediglich versucht, das Problem des heute benötigten und implizit auch schon vorausgesetzten, posttraditionellen Verantwortungsbegriffs quasi-phänomenologisch vor Augen zu stellen. Ich habe dabei das esoterische Problem der philosophischen Begründung einer Ethik der Mit-Verantwortung noch beiseite gelassen. Dieses Problem möchte ich aber jetzt explizit aufwerfen und auch gleich eine negative These aufstellen: Die rationale Begründung der Mit-Verantwortung kann meines Erachtens von keiner der klassischen Positionen postkonventioneller Moralbegründung geleistet werden - weder von einer utilitaristischen Ethik noch von einer deontologischen Ethik im Sinne des klassischen Kantianismus, und natürlich auch nicht von einer
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neoaristotelischen oder kommunitaristischen Ethik der Beschränkung auf eine partikulare Ethostradition. Die letztere Form von Ethik, die heute wieder sehr suggestiv vertreten wird, könnte allenfalls auf Mit-Verantwortung als selbstverständliche Implika-
tion der Gruppenloyalität bzw. Solidarität rekurrieren; aber sie
könnte und würde keine universale Gültigkeit im planetaren Maß-
stab in Anspruch nehmen. Gerade darum aber geht es heute, wie ich anzudeuten versuchte.8 Warum kann die Begründung des Begriffs der Mit-Verantwortung aber auch nicht im Rahmen einer der postkonventionellen Moralphilosophien mit universalem Gültigkeitsanspruch (Utilitarismus, klassischer Kantianismus) geleistet werden? Der Utilitarismus hat doch von vornherein den Vorzug einer besonderen Affinität zum
postkonventionellen Verantwortungsbegriff, sofern er auf die
nützlichen oder schädlichen Konsequenzen unserer Handlungen und kollektiven Aktivitäten abhebt. Doch der Utilitarismus führt,
wenn er keine stillschweigenden Anleihen bei anderen Positionen
macht, meines Erachtens in zwei wohlbekannte Aporien, die auch für unser Problem relevant sind: Er kann erstens nicht definitiv sagen, worin die Nützlichkeit, die ja
immer Nützlichkeit in bezug auf etwas ist, denn eigentlich be-
stehen soll. Uberdies kann er keinerlei Grund dafür angeben, warum bei der Maximierung des Nutzens die Interessen der jeweils
anderen - und zwar prinzipiell die Interessen aller Einzelnen in gleicher Wezse - berücksichtigt werden sollen.
Nun könnte man in unserem Problemkontext die erstgenannte Schwierigkeit vielleicht vernachlässigen, weil es sich bei der heute
aktuellen Mit-Verantwortung für die Folgen und Nebenfolgen kollektiver Aktivitäten ja primär um die Vermeidung von nega-
tiven Folgen handelt - bis hin zur Vermeidung der Zerstörung der vom Menschen vorausgesetzten Bio- bzw. Okosphäre. Bei der hier zu organisierenden Risikoeinschätzung und verantwortlichen Vor8 Vgl. K.-O. Apel, »A Planetary Macroethics for Human Kind: The Need, the Apparent Difficulty, and the Eventual Possibility«, in: E. Deutsch (Hg.), Culture and Modernity East-West Philosophic Perspectives, Honolulu: University of Hawai Press 1991, S. 261-278, sowie derselbe, »Das Anliegen des (anglo-amerikanischen) Kommunitarismus in der
Sicht der Diskursethik«, in: M. Brumlik und H. Brunkhorst (Hg.), Gemeinschaft und Gerechtigkeit, Frankfurt am Main: Fischer 1993,
S. 149-172.
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sorge ist ja in der Regel klar, was als schädlich und was als nützlich
für alle anzusehen ist. Angesichts der zweiten Aporie des klassischen Utilitarismus helfen sich kluge Utilitaristen (z. B. Henry Sidgwick' oder Richard Hare: Moral Thinking, Oxford 1981) damit, daß sie als zusätzliche Prämisse ein Universalisierungsprinzip voraussetzen. Damit machen sie aber eine kruziale Anleihe bei Kant, und so fragt sich, wie das von Kant aufgestellte Universalisierungsprinzip - der »kategorische Imperativ« - eigentlich zu begründen ist und wie es sich zum Prinzip universaler Mit-Verantwortung für Handlungsfolgen verhält. Stellen wir diese Frage also an Kant. Hier wäre nun zuerst daran zu erinnern, daß Kant die Frage nach dem Grunde der Gültigkeit des Sittengesetzes - das heißt für ihn:
der »transzendentalen Deduktion« des kategorischen Imperativs als eines »praktischen synthetischen Urteils a priori« - in der Kritik
der praktischen Vernunft als unbeantwortbar verabschiedet hat. Der Grund dafür war der, daß Kant in einen Zirkel geriet, wenn er
die Gültigkeit des Sittengesetzes aus der Freiheit als ratio essendi deduzieren wollte, zugleich aber die Gültigkeit des Sittengesetzes schon als ratio cognoscendi der Realität der Freiheit voraussetzen
mußte. Kant sah dies ein und erklärte, daß die Gültigkeit des Sittengesetzes nicht begründet werden müsse: dieses sei eben
gleichsam ein evidentes »Faktum der Vernunft, dessen wir uns a priori bewußt sind und welches apodiktisch gewiß ist«, 1º Kant hat
also keine transzendentalphilosophische Letztbegründung der normativen Ethik gegeben. Ich werde darauf noch zurückkom-
men.
Wichtiger in unserem Problemkontext ist der Umstand, daß Kants Konzeption des kategorischen Imperativs als des Sittengesetzes eine Verantwortung für die voraussichtlich zu erwartenden Handlungsfolgen weder vorsah noch vorsehen konnte. Kant wollte sie
nicht vorsehen, weil er bei den Handlungsfolgen primär an die vorteilhaften oder nachteiligen Folgen für den Akteur dachte. Diese Folgen aber sollten nach Kant die Orientierung des guten Willens an der unbedingten Gültigkeit des kategorischen Impera9 Siehe H. Sidgwick, The Methods of Ethics, London: Eyre and Spottiswoode 1963, S. 367. 10 Siehe I. Kant, Kritik der praktischen Vernunft. Akademie-Textausgabe, Bd. v, Berlin: de Gruyter 1968, S. 46.
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tivs gerade nicht beeinflussen. Daher war Kant bereit, das Prinzip pereat mundus, at justia zu akzeptieren'' und z. B. die Notlüge, die einem Unschuldigen das Leben retten könnte, als unerlaubt abzulehnen. 12 Seine Ethik ist insofern eine »Gesinnungsethik«, die
- wie Max Weber es formuliert - »die Folgen der Handlung Gott anheimstellt«. 13
Genau diese Einstellung zu den Handlungsfolgen mußte Kant aber auch aufgrund seiner metaphysischen Lösung des Problems der
Willenstreiheit einnehmen. Denn wegen der Beschränkung der Freiheit auf die intelligible Welt und der Unterstellung des unein-
geschränkten Kausaldeterminismus für die Erfahrungswelt konnte Kant gar nicht erwarten, daß aufgrund unserer Willensentschlüsse andere Handlungsfolgen in der Erfahrungswelt eintreten könnten,
als sie ohnehin aufgrund des Kausalnexus der Natur eintreten mußten.
Wollte man diese letzte Schwierigkeit beseitigen, so müßte man meines Erachtens den metaphysischen Dualismus der Kantschen Freiheits- bzw. Kausalitätslehre im folgenden Sinne transformieren: Man müßte davon ausgehen, daß gerade die Unterstellung, daß wir durch Intervention in die Natur - also durch eine Handlung Hein Ereignis E herbeiführen können, das ohne unsere Interventionshandlung nicht eintreten würde, und daß gerade diese pragmatisch notwendige Unterstellung zugleich den Grund dafür enthält, daß wir überhaupt eine kausal-notwendige Verbindung zwischen zwei Ereignissen in der Erfahrungwelt unterstellen dürfen. 14 Auch diese
Theorie entspricht auf ihre Weise dem »obersten Grundsatz« Kants, daß die Bedingungen der Möglichkeit der Erfahrung zugleich die Bedingungen der Möglichkeit der Gegenstände der Ertahrung sind. Aber sie rechnet natürlich nicht mit dem metaphysi-
11 Siehe I. Kant, »Zum ewigen Frieden, Anhang«, in: Akademie-Textausgabe, Bd. vin, Berlin: de Gruyter 1968, S. 379 ff. 12 Ebd., S. 423 ff. Vgl. hierzu M. Kettner, »Kant als Gesinnungsethiker«, in: Deutsche Zeitschrift für Philosophie 5 (1992), S.524-540. I3 Siehe M. Weber, »Politik als Beruf«, in: Gesammelte politische Schriften, Tübingen 21958, S. 493 ff. I4 Vgl. G.-H. von Wright, Explanation and Understanding, Ithaca: Cornell University Press 1971, Kap. II; deutsch: Erklären und Verstehen,
Frankfurt am Main: Fischer-Athenäum 1974. Dazu K.-O. Apel, Die Erklären: Verstehen - Kontroverse in transzendentalpragmatischer
Sicht, Frankturt am Main: Suhrkamp 1979, S. 97ff. und 129ff.
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schen Dualismus von Erfahrungswelt und intelligibler Welt der Dinge an sich. Sie hält diese Unterscheidung gerade nicht für nötig,
um die Vereinbarkeit von Freiheit und Kausalnotwendigkeit zu
erklären. Und sie stellt insofern eine transzendentalpragmatische Transformation der Kritik der reinen Vernunft dar.
Kommen wir nun auf die Lehre vom »Faktum der Vernunft« zurück, mit der Kant seine zunächst vorgesehene Letztbegründung der Gültigkeit des Sittengesetzes eher abbricht als zu Ende
führt. Kant weist darauf hin, dals es sich hier nicht um ein kontingentes, empirisches Faktum handelt. 15 Insofern kommt er, wenn
man es so sehen will, dem modernen Vorwurf der analytischen Philosophie zuvor, daß er das Sollensprinzip der Ethik auf ein bloßes Faktum gründen wolle. Doch dann entsteht die Frage, ob man die Rede vom nichtempirischen Faktum der Vernunft möglicherweise als Hinweis auf eine transzendentale Begründung des Sollensprinzips verstehen kann. Dieter Henrich hat im Anschluß an Fichte die Rede vom »Faktum der Vernunft« sozusagen transzendentalreflexiv dechiffriert, nämlich als apriorisches Perfekt im Sinne unserer je schon vollzogenen Einsicht in die Gültigkeit des Sittengesetzes.! Mir leuchtet diese
reflexive Deutung sehr ein, und ich sehe darin, wie ich noch
verdeutlichen werde, wiederum die Möglichkeit einer transzendentalpragmatischen Transformation des Kantischen Ansatzes der Transzendentalphilosophie. Doch ich möchte zunächst auf die Frage zurückkommen: Läßt sich das Kantische Faktum der Vernunft, wenn man es als apriorisches Perfekt versteht, eventuell auch
als Grundlage eines universalen Prinzips der Mit-Verantwortung
verstehen - dann nämlich, wenn man von den Schwierigkeiten Kants mit der Folgenverantwortung einmal absieht und versucht,
die Mit-Verantwortung ebenso wie die Anerkennung aller Menschen als gleichberechtigter Selbstzweckwesen als Inhaltsmoment des kategorischen Imperativs, des Kantschen Universalisierungsprinzips, zu verstehen? Is Siehe I. Kant, Kritik der praktischen Vernunft (siehe Anm. 10), S. 55. 16 Vgl. aber K.-H. Ilting, »Der naturalistische Fehlschluis bei Kant«, in: M. Riedel (Hg.), Rehabilitierung der praktischen Philosophie, Bd. 1, Freiburg: Rombach 1972, S. 113-132. 17 Vgl. D. Henrich, »Der Begriff der sittlichen Einsicht und Kants Lehre vom Faktum der Vernunft«, in: D. Henrich u. a. (Hg.), Die Gegenwart der Griechen im neueren Denken, Tübingen: Mohr 1960, 5-77-115.
3I
Geht man von dem Vernunftbegriff aus, den Kant explizit in der
Kritik der reinen Vernunft unterstellt, so ergibt sich hier eine
gravierende Schwierigkeit. Kant geht hier nämlich wie zuvor Des-
cartes und wie später noch E. Husserl von der subjektiven Autarkie der Vernunft im Sinne des Ich denke bzw. des transzenden-
talen »Ich-Bewußtseins« aus. Das besagt: jeder ist als Ich-Subjekt prinzipiell unabhängig von der Kommunikation mit anderen Subjekten zum intersubjektiv gültigen Denken und Erkennen befä-
higt. Die mögliche »Beistimmung« der anderen ist, wie Kant ausdrücklich erklärt, nur ein »subjektives« - ein psychologisch sehr wichtiges -, nicht aber ein prinzipiell notwendiges Kriterium der Wahrheit. 18 Insofern braucht Kant in der Kritik der reinen Vernunft überhaupt keine Mehrzahl aufeinander bezogener Subjekte in transzendentaler Funktion einzuführen. Das würde sich natürlich sofort ändern, wenn Sprache und sprachliche Kommunikation als Bedingung der Möglichkeit des intersubjektiv gültigen Denkens von etwas bzw. des Erkennens von etwas als etwas anerkannt werden müßte - wie Hamann es ansatzweise schon zu Kants Zeiten postulierte.
Doch welche Bedeutung hat der »transzendentale Solipsismus«19 der Kritik der reinen Vernunft für die praktische Philosophie Kants und für seine diesbezügliche Rede vom »Faktum der Vernunft«? Tatsächlich begnügt sich Kant in seiner praktischen Philosophie ja
nicht mit den transzendentalen Voraussetzungen der Kritik der reinen Vernunft. Er führt vielmehr als metaphysische Voraussetzung - auf der Linie von Augustinus und Leibniz - ein Reich der Zwecke ein, zu dem alle Vernunftwesen - nicht nur die Menschen -
gehören. Aufgrund dieser nicht transzendentalphilosophischen, sondern transzendent-metaphysischen Voraussetzungen ist es Kant überhaupt erst möglich, die ethische Problematik zu diskutieren; denn aufgrund allein der Subjekt-Objekt-Relation, welche die Vernunftkritik als Erkenntniskritik trägt, wäre nicht einmal der Sinn der ethischen Fragestellung verständlich geworden. Tatsäch18 Siehe I. Kant, Antbropologie in pragmatischer Absicht, 1. Teil, $ 53; ferner: Kritik der reinen Vernunft, transzendentale Methodenlehre, 2.
Hälfte, 3. Absatz; ferner: Nachlaß, in: Kants Gesammelte Werke, Aus-
gabe der Preußischen Akademie, Bd. 16, Reflexion 2128. 19 Vgl. E. Husserl, Cartesianische Meditationen und Pariser Vorträge,
herausgegeben von S. Strasser, Den Haag: Martinus Nijhoff 1963, S. 67f. und 121ff., $ I3 und v. Meditation.
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lich gibt es ja sittliche Freiheitsverhältnisse für Kant nur in der »intelligiblen Welt« des »Reichs der Zwecke«, denn in der Erfahrungswelt kann nach Kant sogar der rechtliche Umstand, daß der Apfel, den jemand in der Hand trägt, ihm, und nicht jemand anderem, der räumlich entfernt ist, gehört, überhaupt nicht als empirische Tatsache festgestellt werden. Es handelt sich ja in der Tat nicht um eine mögliche Tatsache im Sinne der Naturwissen-
schaft.20
Doch die Lehre vom intelligiblen »Reich der Zwecke«, das heißt der Vernunftwesen als Selbstzweckwesen, vermag allenfalls eine metaphysische Erklärung der Tatsache des Sittengesetzes zu liefern? Eine normative Begründung durch transzendentalreflexive Einsicht in das Faktum der praktischen Vernunft als apriorisches Perfekt, das heißt in das notwendigerweise immer schon Anerkanntsein des Sittengesetzes durch die Vernunft, wird dadurch nicht geliefert; schon gar nicht eine transzendentalreflexive Einsicht in das notwendige Anerkannthaben von so etwas wie a priori gültiger Mit-Verantwortung mit allen anderen Vernunftsubjekten als Bestandteil des Sittengesetzes. Wie aber läßt sich eine solche Begründung durch transzendentalreflexive Einsicht liefern? Welche Bedingungen müßten dafür erfüllt sein? Die entscheidende Bedingung ist meines Erachtens die, daß man durch transzendentale Reflexion müßte zeigen können, daß unsere Vernunft mit sich selbst in Widerspruch geriete, wenn sie bestreiten wollte, daß sie einerseits (wie Kant selber behauptet hat) in jedem Willenssubjekt autonom ist (indem das Willenssubjekt sich das Sittengesetz selbst auferlegt) und daß sie andererseits bei der
Geltendmachung des Sittengesetzes in der geschichtlichen Situa-
tion auf die Mit-Verantwortung aller anderen prinzipiell angewie-
sen ist.
Kant selbst konnte autgrund seiner metaphysischen Zwer-ReicheLebre durchaus nicht begreiflich machen, inwiefern das menschliche Willenssubjekt sich selbst in eigener Autonomie das moralische Gesetz auferlegen kann. Denn sofern das Willenssubjekt als 20 Vgl. I. Kant, Metaphysik der Sitten. Akademie-Textausgabe, Bd. VI, Berlin: de Gruyter 1968, S. 247f. 21 So mit Recht K.-H. Ilting, »Der naturalistische Fehlschluß bei Kant« (siehe Anm. 16), Bd. 1.
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intelligibles Ich autonom ist, mag es zwar als Gesetzgeber fungieren, bedarf aber keiner Auferlegung des Gesetzes als eines Sollens.
Sofern es aber als empirisches Ich durch seine Neigungen kausal
determiniert ist, taugt es weder als autonomer Gesetzgeber noch als Adressat eines Sollens. Auch hier zeigt sich wieder, daß die Kantische Metaphysik der Sitten überhaupt nicht geeignet ist, als
transzendentale Begründung des moralischen Gesetzes im Sinne
der von Kant zu Recht postulierten Selbsteinstimmigkeit der Vernunft zu fungieren. Dazu bedarf es einer radikalen Transforma-
tion.
Sie setzt ein mit der folgenden Frage: Gibt es eine für die transzendentale Vernunftreflexion nichthintergehbare Situation, in der man sowohl die Autonomie-Voraussetzung als auch die Voraussetzung der Mit-Verantwortung notwendigerweise anerkannt hat,
so daß man beides nicht ohne Selbstwiderspruch bestreiten
kann? Eine solche Situation - sozusagen die »original position« der Transzendentalphilosophie23 - gibt es in der Tat. Sie ist uns so
nahe, daß wir sie im Alltag der Lebenswelt übersehen. Sie ist
nämlich immer dann gegeben, wenn wir über welches Problem auch immer diskutieren, oder wenn jemand in empirischer Einsamkeit, aber - wie sich versteht - mit intersubjektivem Geltungs-
anspruch denkt. Denn solches Denken hat geltungstheoretisch
dieselbe Struktur wie das öffentliche Argumentieren. Kurz: die Situation des argumentativen Diskurses ist die gesuchte nichthintergehbare Position, in der die Vernunft sich durch transzendentalpragmatische Reflexion auf ihre nicht ohne Selbstwiderspruch bestreitbaren Bedingungen davon überzeugen kann, dals sie sowohl die Autonomie der moralischen Gesetzgebung wie auch die Mit-Verantwortung aller möglichen Diskurspartner voraussetzen muß. Ich werde im folgenden die angedeutete Situation des argu-
mentativen Diskurses, die transzendental nichthintergehbar ist,
auch primordial nennen; und ich werde dieses Prädikat auch auf
22 Vgl. A. Dorschel, Die idealistische Kritik des Willens. Versuch über die Theorie der praktischen Subjektivität bei Kant und Hegel, Hamburg: Felix Meiner 1992. 23 Im Unterschied zur »original position« der Gerechtigkeitstheorie von
J. Rawls, deren Bedingungen (wie z. B. »the veil of ignorance«), ja selbst
schon im quasi-kantischen Prinzip der Gerechtigkeit qua »fairness« begründet sind.
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die, ebenso wie die Argumentation selbst nichthintergehbaren und insofern nichtbestreitbaren, Präsuppositionen der Argumentation anwenden: so etwa werde ich vom »primordialen Diskurs«, der »primordialen Diskursgemeinschaft« und der »primordialen Mitverantwortung« sprechen.
Doch inwiefern läßt sich durch transzendental-pragmatische Reflexion zeigen, daß wir im argumentativen Diskurs sowohl die Autonomie der moralischen Gesetzgebung im Sinne Kants als auch
die Mitverantwortung aller möglichen Diskurspartner immer schon anerkannt haben? Die Autonomievoraussetzung im Sinne der Selbstauferlegung des moralischen Gesetzes erweist sich transzendentalpragmatisch aus
dem Umstand, daß man im primordialen Diskurs sich selbst der Andere ist, den man fragen kann und fragen muß, ob er moralisch
relevante Handlungsmaximen überhaupt und jeweils im einzelnen als universalgültig (als Gesetz für alle möglichen Mitglieder der
unbegrenzten, idealen Diskursgemeinschaft) wollen kann.
Daß moralische Handlungsmaximen überhaupt universalgültig sein müssen, kann jeder, der argumentiert, von sich aus (autonom)
bejahen - insotern, als er mit dem Willen zur Argumentation zugleich auch wollen muß, daß alle Geltungsansprüche der Argumentation, wenn überhaupt, als unversalgültig akzeptierbar sein
sollen. Und er kann und muß diesen Willen ber allen Diskurspartnern unterstellen, sofern er sich im primordialen Diskurs als Mitglied einer - kontrafaktisch antizipierten und als regulative Idee akzeptierten - idealen Argumentationsgemeinschaft verstehen muß. (Dies ist nichthintergehbar.) Insoweit ist hier eine tran-
szendentalpragmatische Begrundung des - bei Kant nur metaphysisch, aus der »intelligiblen Freiheit« der Mitglieder des »Reichs
der Zwecke« erklärten - Autonomie-Postulats der moralischen
Gesetzgebung erreicht. Und da schon diese - transzendentalpragmatische - Begründung des Autonomiepostulats als a priori konsensfähige die durch Selbstreflexion internalisierte und zu äußerster Allgemeinheit radikalisierte Struktur der kommunikativen Verständigung mit dem »verallgemeinerten Anderen« (George
Herbert Mead) impliziert, so begründet sie, zugleich mit dem Autonomiepostulat für Handlungsmaximen überhaupt, auch die 24 Vgl. G.H. Mead, Mind, Self, and Society, Chicago: University of Chicago Press 1934.
35
Gleichberechtigung aller möglichen Diskurspartner in der idealen Kommunikationsgemeinschaft. 25 Aus der soeben skizzierten Begründung des Anspruchs aut universale Gültigkeit der moralischen Handlungsmaximen überhaupt
ergibt sich nun aber die Konsequenz, daß für die konkrete Ermittlung der Universalisierbarkeit der einzelnen Handlungsmaximen als moralischer Normen die Feststellung ihrer Akzeptierbarkeit bzw. Konsenstähigkeit im realen Diskurs erforderlich ist. Insofern verweist die transzendentalpragmatische Letztbegründung der Diskursethik auf die praktischen Diskurse der Normenbegründung in der Lebenswelt außerhalb des primordialen, reflexiv nichthintergehbaren, aber insofern auch »handlungsentlasteten« Diskurses der Philosophie. In bezug auf die jetzt anstehende, konkrete Normenbegründung erweist sich der transzendentalpragmatisch begründete Universalismus der Diskursethik als ein bloß tentativer, hypothetischer, fallibler Universalismus; denn im Sinne der nicht mehr methodisch solipsistischen, sondern a priori kommunikationsbezogenen Interpretation des Autonomiepostulats kommt es jetzt darauf an, die im realen Diskurs zu begründenden Normen nicht im Sinne eines konventionellen Vorverständnisses, sondern im Sinne eines jeweils neu zu ermittelnden Verständnisses der voraussehbaren Konsequenzen ihrer universalen Befolgung aufzufassen und in bezug auf diesenicht ohne wissenschaftliche Expertisen explizierbaren - Normenvorschläge die Akzeptierbarkeit für alle Betroffenen - nicht nur für die am realen Diskurs Beteiligten- zu ermitteln. Aufder Linie dieser Bestimmungen ergibt sich für praktische Diskurse der Normenbegründung ein transformiertes Universalisierungsprinzip (U)26. 25 In der empirisch gegebenen realen Kommunikationsgemeinschaft, der ich durch Sozialisation auch immer schon angehöre, läuft die Inter
nalisierung der kommunikativen Verständigung mit den Anderen im Sozialisationsprozeß nach Freud bzw. nach Talcott Parsons zwar eher
darauf hinaus, daß ich die Normen des »Über-Ich« im Sinne der elterlichen Autorität bzw. der jeweiligen Moral der Gesellschaft als maßgeblich anerkenne. Nach Piaget gibt es jedoch in der »Peer-Group« die empirische Chance zur Entwicklung des Autonomie-Standpunktes der Moral und damit zugleich der universalisierten Reziprozität qua Anerkennung der Gleichberechtigung. Vgl. J. Piaget, Das moralische
Urteil beim Kinde, Frankfurt am Main: Suhrkamp 1973. 26 Das Prinzip (U) führt J. Habermas ein in: »Über Moralität und Sitt-
Aus der transzendentalpragmatischen Letztbegründung der Diskursethik ergibt sich aber nicht nur die Struktur von (U) als einer »Argumentationsregel« für praktische Diskurse, sondern auch die Forderung, die im Sinne des soeben skizzierten Verfahrens ermittelten Normen auf die Probleme der Lebenswelt anzuwenden, d. h. aber meines Erachtens: sie im Sinne der idealen Diskursmoral
in allen Fällen der Interaktion mit Anderen zu befolgen, in denen
die Befolgung zumutbar bzw. »reziprok verantwortbar« (Marcel
Niquet ist, sotern man erwarten kann, daß die Anderen fähig
bzw. bereit sind, ebenfalls an der diskursiven Ermittlung konsensfähiger Normen mitzuwirken und nach idealiter konsensfähigen Normen zu handeln. So weit die transzendentalpragmatische Transformation der Begründung des Kantischen Autonomie- bzw. Universalisierungsprinzips der Moral, d. h. der sogenannten deontologischen Ethik
der Gerechtigkeit. Inwiefern ist in dieser Transformation auch schon die Begründung eines primordialen (transzendentalen) Prinzips der Mit-Verantwortung mitangelegt?
Wenn für die konkrete Ermittlung der Universalisierbarkeit von
Handlungsmaximen bzw. Normen der Moral im Sinne der Diskurs-Ethik die Feststellung ihrer Akzeptierbarkeit bzw. Konsens-
tähigkeit im Diskurs erforderlich ist, dann muß vorausgesetzt werden, daß alle virtuellen Diskurspartner nicht nur gleichberechtigt sind (etwa bei der argumentativen Vertretung von Interessen), sondern auch gleich mit-verantwortlich, und zwar bezüglich der Aufdeckung bzw. Identifizierung und der anzustrebenden Lösung aller moralisch relevanten Probleme der Lebenswelt im argumentativen Diskurs (auch z. B. hinsichtlich der Interessen von Betroffenen, die nicht aktuell am Diskurs beteiligt sind). Diese primordiale Mit-Verantwortung aller, die noch keine individuell zurechenbare Verantwortung ist, muß vor allem deshalb vorausgesetzt werden, weil in der Diskursethik nur die regulativen lichkeit - Was macht eine Lebensform ›rationak?«, in: H. Schnädelbach (Hg.): Rationalität, Frankfurt am Main: Suhrkamp 1984, S. 218-235, ebd. S. 219; vgl. auch J. Habermas: Moralbewußtsein und kommunikatives Handeln, Frankfurt am Main: Suhrkamp, S. 75 f. und 103f. 27 Vgl. M. Niquet, »Verantwortung und Moralstrategie: Überlegungen zu
einem Typus praktisch-moralischer Vernunft«, in: K.-O. Apel und M. Kettner (Hg.), Die eine Vernunft und die vielen Rationalitäten, Frankturt am Main: Suhrkamp 1996, 5.42-57.
37
(d.h. die Prozedur bestimmenden) Prinzipien der geforderten
Problemlösungsdiskurse (der »praktischen Diskurse« der Moral), transzendentalpragmatisch begründet werden können (so eben die Prinzipien der Gleichberechtigung und der gleichen Mit-Verantwortung aller möglichen Diskurspartner- und das Konsens-Postulat), nicht aber aus diesen Prinzipien materiale Normen philo-
sophisch deduziert werden können. Die Begründung materialer Normen muß vielmehr, wie im vorigen angedeutet, Sache von »praktischen Diskursen« sein, in die außer der (eventuell advoka-
torischen) Vertretung der Interessen aller Betroffenen auch das verfügbare Wissen der Experten über voraussehbare Folgen von allgemeiner Normenbefolgung eingehen sollte. Insofern ist in der Diskursethik die - ohnehin stets fallible und insofern provisorische - Ermittlung materialer Normen nicht eine Sache der logi-
schen Deduktion, sondern eher Sache einer dialogischen Dialektik
von Frage und Antwort. Schon das ernsthafte Fragen im Diskurs setzt - wie sich meines Erachtens durch transzendentalpragmati-
sche Reflexion feststellen läßt - die Mit-Verantwortung aller Diskurspartner voraus. Insofern läßt sich auf die philosophisch radikale Frage (etwa eines »post-aufklärerischen« Adoleszenten): »Warum sollte ich prinzipiell Mit-Verantwortung übernehmen? Gibt es dafür einen rationalen Grund?« einfach in folgender Weise antworten: »Wenn Du jetzt ernsthaft fragst, dann hast Du die Antwort; denn Du kannst
durch Reflexion auf die Präsuppositionen Deines Fragens fest-
stellen, daß Du auf der Ebene Deines Diskurses bei Dir und allen
Diskurspartnern die primordiale Mit-Verantwortung voraussetzt.« Die transzendentalpragmatische Letztbegründung der Mit-Verantwortung als Moment der Diskursethik ist damit umrissen. Von diesem Punkt aus muß nun noch einmal die Brücke zu der vorausgegangenen Phänomenologie der heute aktuellen Praxis postkonventioneller Inanspruchnabme der Mit-Verantwortung geschlagen werden.
In. Zur mit-verantwortlichen Anwendung der Diskursethik in der aktuellen Lebenswelt Die transzendentalpragmatische Begründung der Diskursethik ergibt meines Erachtens zwei verschiedene Perspektiven der möglichen und nötigen Entfaltung der Mit-Verantwortung in der Welt.
Ich unterscheide zwischen dem - an der kontrafaktischen Antizipation einer idealen Kommunikationsgemeinschaft orientierten - Teil A und dem - durch die realen Verhältnisse der Lebenswelt erzwungenen - Teil B der Diskursethik.28 Dabei fungiert nicht etwa erst der Teil B als situationsbezogener Teil mitverantwortlicher Anwendung einer zuvor noch von der verantwortlichen Anwendung abstrahierenden Diskursethik. (Eine solche Meinung könnte allenfalls durch Habermas' Auffassung des Universalisie-
rungsprinzips der Normenbegründung als bloßer »Argumenta-
tionsregel« für »praktische Diskurse« nahegelegt werden.) Vielmehr ist schon im Begründungsteil A der Diskursethik eine situa-
tionsbezogene Anwendung der diskursiv zu begründenden Normen und in bezug darauf auch eine Verantwortung für die
Folgen der Normenanwendung durchaus vorgesehen. Abstrahiert wird im Begründungsteil A der Diskursethik lediglich - allerdings
- von der Möglichkeit, daß in der Lebenswelt das Ansinnen der Anwendung des Universalisierungsprinzips der Normenbegründung von den vorgesehenen Diskurspartnern nicht akzeptiert wird - etwa, weil diese eine strategische Lösung des Interessenkonflikts vorziehen (siehe Anmerkung 27). Der Begründungsteil A der Dis-
kursethik muß also deshalb durch einen Begründungsteil B erganzt werden, weil die im Universalisierungsprinzip vorausgesetzten idealen Anwendungsbedingungen von Teil A der Diskursethik in der realen Welt in gravierendem Maß (noch) nicht gegeben
sind. Doch betrachten wir zunächst die in A vorgesehene mit-
verantwortliche Anwendung der Diskursethik im Sinne einer Phänomenologie der aktuellen Verhältnisse unserer heutigen Le-
benswelt.
In einem gewissen Sinne kann man behaupten, daß die prozeduralen Spielregeln einer Diskursethik der Mit-Verantwortung heute
28 Vgl. besonders K.-O. Apel, »Diskursethik vor der Problematik von Recht und Politik«, in: Apel und Kettner, Zur Anwendung der Diskursethik (siehe Anm. 7).
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schon weltweit anerkannt sind: Zumindest in demokratischen Staaten, aber auch auf internationaler Ebene im Bereich der Medien wagt kaum jemand, die Verbindlichkeit dieser Spielregeln direkt in Abrede zu stellen oder für sich nicht in Anspruch zu nehmen. Ich denke hier an die tausend Gespräche und Konferenzen über Menschheitsfragen auf allen Ebenen der verschiedenen
Sozialsysteme, die in unserer Welt tatsächlich stattfinden: Gesprä-
che und Konferenzen, auf denen nationale und internationale Probleme unter der Voraussetzung - der institutionellen Fiktion - erörtert werden, daß es darum gehe, nur durch vernünftige Argumente, das heißt gewaltfrei, aber unter Beiziehung möglichst allen Expertenwissens, die Akzeptierbarkeit der Folgen und Nebenfolgen unserer kollektiven Aktivitäten zu ermitteln und, wie-
derum darauf bezogen, praktisch relevante Vereinbarungen, Ver-
träge und Resolutionen zu verabschieden. Dieses Spektrum reicht von interdisziplinären Tagungen philosophischer und wissenschaftlicher Art über parlamentarische Debatten bis hin zu inter-
nationalen Konferenzen über ökologische, ökonomische, interkulturelle und Menschenrechtsfragen.29 Nun ist allen Eingeweihten klar, daß die hier erwartbaren realen
Gespräche nicht wirklich den Charakter »praktischer Diskurse«-
im Sinne der diskursethisch begründbaren institutionellen Fiktion - haben können. In dem Maße, in dem sie zu praktisch relevanten, also vor allem politisch und ökonomisch effektiven Ergebnissen
führen sollen, werden sie zumindest auch den Charakter von Verhandlungen - also strategischer Kommunikation - haben. (Ver-
handlungen ihrerseits können natürlich fair, d.h. durch einen Rahmen akzeptierbarer moralischer Normen reguliert, oder unfair sein). Dennoch muß folgendes klar sein: Die von mir apostrophierten »tausend Gespräche« sind das einzige Medium, in dem und durch das die diskursethisch geforderte Organisation der MitVerantwortung sich in unserer Lebenswelt praktisch entfalten kann. Sie genau stellen die realistische Alternative dar zu jener
oft beschworenen Ohnmacht der Einzelpersonen angesichts der
29 Siehe z. B. F. Braßel und M. Windfuhr, Welthandel und Menschenrechte, Bonn: Dietz 1995; D. v. Messner und F. Nuscheler, Weltkonferenzen und Weltberichte. Ein Wegweiser durch die internationale Dis-
kussion, Bonn: Dietz 1996; E.U. von Weizsäcker, Erdpolitik, Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgemeinschaft 1994.
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heute charakteristisch neuen Verantwortung des Menschen für die zukunttsbezogenen Folgen auch seiner kollektiven Aktivitäten in Wissenschaft, Technik, Wirtschaft und Politik. Die »tausend Gespräche« auch auf der Ebene der Weltöffentlichkeit, primär freilich noch auf der Ebene der demokratischen Öf-
fentlichkeit der Einzelstaaten (auch der parlamentarischen und Wahlkampfdebatten), sind auch das wichtigste Medium, durch das die Mit-Verantwortung der Menschen als Staatsbürger bei der Zuteilung individuell zurechenbarer Verantwortung - hier der politischen Verantwortung - sich vollziehen kann. Insofern liegt im Prozeduralismus der Demokratien auch der bislang einzige Mechanismus institutioneller Art, durch den die Individuen als mitverantwortliche Kosubjekte des primordialen Diskurses sich von der individuell zurechenbaren Verantwortung entlasten können, ohne ihre Mit-Verantwortung aufgeben zu müssen bzw. zu dürfen. (In der europäischen Geistesgeschichte wird die Entstehung dieses Mechanismus durch den Ubergang vom »Gottesgnadentum« der Fürstenmacht zur institutionellen Fiktion der »Volkssouveränität« reflektiert.) In einem weiteren und prinzipielleren Sinne ist es ein Postulat der
Diskursethik schon in ihrem Teil A, daß sich die Menschen in einer
arbeitsteiligen und institutionell differenzierten Gesellschaftsorganisation von der - nicht tragbaren - individuell zurechenbaren Verantwortung für alles und jedes30 entlasten können, ohne die -
transzendental begründbare - Mit-Verantwortung für alles und
jedes zu verlieren. Der primordiale Begriff der Mit-Verantwortung zeigt insofern - deutlicher noch als sein begriffliches Komplement, die Gleichberechtigung aller möglichen Diskurstelnehmer -, dal
die Menschen im argumentativen Diskurs, der Reflexions- und Legitimationsform aller Kommunikation und Interaktion, a priori zur Solidarität verpflichtet sind. Doch der Begründungsteil A ist nicht selbstgenügsam. Schon die angedeutete konsensuell-strategische Zweideutigkeit aller wirklichen Gespräche verweist uns auf die Notwendigkeit eines Begründungsteils B. Noch deutlicher ist der Hinweis, den wir der 30 Oder für das »Sein«, das sich dem Menschen überantwortet hat, vgl. M. Heidegger, »Brief über den Humanismus«, in: ders., Wegmarken, Frankfurt am Main: Klostermann 1967, S. 145-194, und H. Jonas, Das Prinzip Verantwortung (siehe Anm. 1).
4I
Tatsache der offenen und latenten Gewalt innerhalb der Staaten (z.B. in Gestalt der Kriminalität) und auch immer noch zwischen den Staaten (z. B. in Gestalt der Kriegsbereitschaft als ultima ratio
der Politik) entnehmen müssen. Mit den Grenzen verantwortbarer
Anwendung des diskursethischen Universalisierungsprinzips (U) können wir die Grenze zwischen der Zuständigkeit des Teils A und der des Teils B der Diskursethik zunächst wie folgt charakterisie-
ren: Unter dem Gesichtspunkt der Diskursethik zerfallen die Interaktionspartner idealtypisch in solche, mit denen wir tatsächlich
Diskurse führen können, und in solche, mit denen wir keine Diskurse (und vielleicht nicht einmal Verhandlungen) führen können,
über die wir aber natürlich mit den ersteren Diskurse führen
können.
Manchmal wird diese Unterscheidung in der philosophischen Diskussion als ein schlagendes Argument gegen die Möglichkeit einer diskursreflexiven (also »transzendentalpragmatischen«) Letztbegründung der prozeduralen Prinzipien der Diskursethik verwendet: Zu dieser Argumentationsstrategie gehört z. B. der Hinweis auf den radikalen Skeptiker, der deshalb unwiderlegbar sein soll, weil er die Argumentation verweigert; oder - praktisch relevanter - der Hinweis auf den radikalen Zyniker, der die Argumentation verweigert, weil ihr mögliches Ergebnis ihm prinzi-
piell gleichgültig ist; oder - praktisch noch relevanter - diejenigen Kommunikationspartner, die zwar an moralischen Geltungsan-
sprüchen und ihrer diskursiven Einlösung oder Kritik uninteressiert sind, gleichwohl aber auf Diskurse eingehen, um sie strate-
gisch - im Interesse ihrer vorgefaßten Zwecke (etwa politischer
oder ökonomischer Art) - zu instrumentalisieren. Hierauf ist wie folgt zu antworten: 1. Als Argumente gegen die Möglichkeit der Letztbegründung der
Diskursethik sind alle drei Argumente irrelevant. Denn sie müssen ja selbst im primordialen philosophischen Diskurs
von einem Diskurspartner (dem Opponenten des Transzenden-
talpragmatikers) vorgetragen werden. Diesen aber kann der Proponent der Letztbegründung fragen: »Willst (oder kannst) Du Deine drei Argumente, oder eines von ihnen, auf Dich selbst
beziehen?«. Da der Opponent den Proponenten der Letztbegründung im philosophischen Diskurs widerlegen will bzw. muß, kann er die gestellte kruziale Frage nur negativ beantworten. Damit ist seine Argumentation gegen die transzenden-
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tale Letztbegründung ad absurdum geführt. Er hatte nicht verstanden, was es heißt, daß der aktuelle Diskurs der Philosophie unhintergehbar ist. 31
2. Mit der reductio ad absurdum ist aber keineswegs alle Relevanz
der drei vorgetragenen Argumente für die Begründung der Diskursethik bestritten. Alle drei Argumente nämlich lassen sich im Diskurs über diejenigen, mit denen man keine Diskurse führen kann, als Hinweise auf die Notwendigkeit eines ergänzenden
Begründungsteils B verstehen. In bezug auf radikale Skeptiker, die prinzipiell den Diskurs verweigern, müssen wir annehmen, daß sie auch in foro interno (also sich selbst als dem internalisierten Anderen gegenüber) den argumentativen Diskurs verweigern. 32
In diesem Falle aber haben wir allen Grund zu mitverantwortlicher Besorgnis über das mögliche Schicksal des radikalen Skeptikers."3 Im Falle des radikalen Zynikers müßte man wohl annehmen, daß der Betreffende bereit ist, ohne Rücksicht auf mögliche moralische Argumente nur die eigenen Interessen (bzw. die Interessen seiner Partei) in der Praxis strategisch zu vertreten.34 Aus dieser Unterstellung aber würde sich auf der Ebene derer, die den moralisch verantwortlichen Diskurs über den Zyniker führen müßten, die Notwendigkeit einer moralisch verantwortlichen 31 Es wäre ja a priori unsinnig, philosophisch dahin argumentieren zu wollen, daß der philosophische Diskurs vielleicht aus diesen oder jenen Gründen prinzipiell unmöglich ist. 32 Geht er nicht so weit, sondern möchte es nur vermeiden, widerlegt zu
werden, ist er meines Erachtens kein radikaler Skeptiker, sondern einfach jemand, der ein strategisches Verhalten vorzieht. Damit ergibt sich der Übergang zum Zyniker. Vgl. meine Auseinandersetzung mit E. Dussel in: »Die Diskursethik vor der Herausforderung der lateiname-
rikanischen Philosophie der Befreiung«, in: R. Fornet-Betancourt (Hg.), Konvergenz oder Divergenz. Eine Bilanz des Gesprächs zwi-
schen Diskursethik und Befreiungsethik, Aachen: Augustinus-Buchhandlung 1994, S. 17-38. 33 Dieser würde sich, falls unsere Unterstellung zutrifft, als Vernunftwe-
sen tendenziell zerstören, möglicherweise in einem psychopathologischen Prozeß, der im Wahnsinn endet.
34 So z. B. die Interpretation des Zynikers durch E. Dussel in: »Vom Skeptiker zum Zyniker (Vom Gegner der ›Diskursethik‹ zu dem der ›Befreiungsphilosophie‹)«, Typoskript 1992; vgl. dazu Ann. 32.
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»Strategiekonterstrategie«35 ergeben, womit schon ein charakteristisches Ertordernis von B eingeführt ist. Der Fall derer schließlich, die Diskurse zwar führen, sie aber tendenziell strategisch instrumentalisieren, hat für Teil B der Diskursethik die größte
praktische Bedeutung: Hier muß es prinzipiell darum gehen,
eine situationsbezogene Vermittlung zwischen diskursiv-moralischem und moralisch-strategischem Verhalten zu begründen, und zwar sowohl im Hinblick auf die Teilnahme an den konsensuellstrategisch zweideutigen Gesprächen und Konferenzen als auch im Hinblick auf moralisch-politische Handlungsstrategien. Letztere müssen zwar die Bereitschaft zur konsensuellen Lösung von Interessenkonflikten jederzeit einschließen, doch zugleich auch -
nach Maßgabe der Risikoverantwortung - die Bereitschaft zum strategischen Handeln.
Dabei muß - der regulativen Idee nach - das strategische Handeln wiederum in Zielsetzung und Durchführung konsensfähig sein für die mit-verantwortlichen Mitglieder der primordialen Kommuni-
kationsgemeinschaft, die ja - als kontrafaktische Antizipation einer idealen Kommunikationsgemeinschaft - auch für den Teil B der Diskursethik als existierende Instanz der Situationsbeurteilung vorausgesetzt bleibt. (Auch das Problem der Beurteilung der
Situationsangemessenheit des strategischen Handelns - selbst wenn es in foro interno mit Hilfe der Urteilskraft, etwa durch das »Augenmaß« eines Politikers, gelöst werden muß - muß ja in der Diskursethik prinzipiell als ein Problem der versuchten diskursiven Konsensbildung aufgefaßt werden). Praktisch bedeutet das aber, daß das strategiekonterstrategische Handeln im Sinne des Teils B der Diskursethik nicht einfach nur dem Maßstab der realpolitischen Zweckmäßigkeit im Sinne des erfolgreichen Krisenmanagements unterworfen ist. Vielmehr muß es gewissermaßen als Kompensation für die erzwungene Abweichung vom Prinzip der idealen Diskursmoral dem regulativen Prinzip einer langtristigen moralischen Strategie folgen: einer Strategie, deren Ziel jederzeit die Anderung der Verhältnisse im Sinne der besseren Ermöglichung rein diskursiv-konsensualer Problemlösungen sein muß. Wie verhält sich die begründungstheoretische A/B-Unterschei35 Vgl. M. Kettner, »Bereichsspezifische Relevanz. Zur konkreten Allgemeinheit der Diskursethik«, in: Apel und Kettner, Zur Anwendung der Diskursethik (siehe Anm. 7), S. 317-348.
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dung zu der Unterscheidung zwischen individuell zurechenbarer Verantwortung und primordialer (transzendentaler) Mit-Verantwortung? Um diese Frage realitätsangemessen zu beantworten, müssen wir zunächst einen kurzen Blick auf die Funktion der Institutionen bzw. der Subsysteme des gesellschaftlichen Handelns für die Implementation der Moral werfen. Es ist meines Erachtens im Sinne
des Teils B der Diskursethik nur scheinbar konkret, phänomeno-
logisch im Sinne der religiös inspirierten Tradition der Ethikbegrundung, von der unmittelbaren »Begegnung mit dem Anderen« im Sinne der personalen Ich-Du-Beziehung auszugehen. Es soll
nicht bestritten werden, daß hier in letzter Instanz der tiefste phänomenologische Orientierungspunkt der moralischen Verpflichtung gegeben ist - derart, dais der Anspruch des Absoluten im Anspruch des Anderen aufscheinen kann (wie Lévinas gezeigt hat).36 Doch der Einseitigkeit einer solchen Orientierung (die besonders deutlich wird, wenn etwa der unmittelbare Anspruch des »konkreten Anderen« gegen den durch die Gerechtigkeitsnorm vermittelten Anspruch des »verallgemeinerten Anderen« ausgespielt wird) steht zunächst einmal eine Einsicht der soziologischen Aufklärung entgegen: Auch die moralisch relevante Begegnung mit (dem) Anderen voll-
zieht sich im Alltag immer schon unter der stillschweigenden
Voraussetzung institutionell vermittelter Verpflichtungen von Status und Rolle (i.S. der Familien-, Freundschafts- und Nachbarschaftsbeziehungen, auch der Berufsrollen einer arbeitsteiligen Gesellschaftsordnung). Und diese Vermittlung der moralischen Verpflichtungen kann auch weitgehend als gerechtfertigt gelten, entspricht sie doch der immer schon geschehenen Zuteilung in-
dividuell zurechenbarer Verantwortung im traditionellen Sinn. Freilich sind wir - im Sinne der hier versuchten Vertiefung des Verantwortungsbegriffs - auch immer schon (diesmal in einem von keiner besonderen Institution abhängigen, transzendental begründeten Sinne) für die Zuteilung individuell zurechenbarer Verant-
36 Vgl. E. Lévinas, Totalität und Unendlichkeit. Versuch über die Exteriorität, Freiburg und München: Alber 1987. Dazu St. Mosès: » Gerechtigkeit und Gemeinschaft bei Emmanuel Lévinas«, in: Brumlik und Brunkhorst, Gemeinschaft und Gerechtigkeit (siehe Anm. 8), S. 364-
384.
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wortung mitverantwortlich, und insofern für die Erhaltung und Neubegründung aller Institutionen. Im Verhältnis der Personen zu den Institutionen sollten wir daher zwischen drei Ebenen unter-
scheiden: 1. der Ebene unterhalb der Institutionen, auf der - wie es scheinen kann - die meisten Menschen auch hinsichtlich der Implementation ihrer Moral von den bestehenden Institutionen ins-
gesamt abhängig sind (daher ist hier vor allem der Ort der vermeintlichen Verantwortungsohnmacht und des Rückzugs auf die Moral der Intimgruppe); 2. der Ebene der Institutionen selbst, auf der die Berufspflichten (z. B. die eines Arbeiters, eines Unterneh-
mers, eines Arztes, eines Ingenieurs, eines ernannten Beamten oder eines gewählten Politikers) maßgebend sind; 3. der Ebene oberhalb der bestehenden Institutionen, auf der - zufolge der Diskursethikalle Einzelpersonen auch noch einmal ihren Ort haben: diesmal als
Mitglieder der primordialen Kommunikationsgemeinschaft, die
für die Gestaltung der Institutionen selbst mitverantwortlich sind (z. B. in den schon institutionalisierten Konsensbildungsprozessen einer Demokratie). Betrachten wir nun die Bedeutung der Institutionen für die Vermittlung von diskursiv-moralischer und strategischer Interaktion
im Sinne des Teil B der Diskursethik. Die ganz abstrakte Antwort lautet: Gäbe es die Notwendigkeit des Teils B der Diskursethik nicht, das heißt, könnten wir alle moralischen Probleme der menschlichen Interaktion allein auf dem Wege praktischer Diskurse nach Maßgabe des Ideal-Prinzips (U) lösen, dann bedürfte es keiner Institutionen, zumindest nicht der sozialen Subsysteme von Politik, Recht und Wirtschaft. Positiv gewendet besagt dies: die Institutionen als auf Dauer gestellte Bedingungen der Implementation moralischer Interaktion zwischen den Menschen antworten realiter auf die Notwendigkeit, die sich im Kontext von Moralbegründung als Teil B der Diskursethik reflektiert.
Die utopische Phantasie, besonders die der Anarchisten, hat immer
darum gewußt, zugleich aber die darin liegende Notwendigkeit unterschätzt.
Die Beziehung der drei angedeuteten Dimensionen der Institutionen bzw. der sozialen Subsysteme zu der Problematik, die im Teil
B der Diskursethik reflektiert wird, läßt sich meines Erachtens etwa folgendermaßen spezifizieren:37 37 Zum Folgenden vgl. K.-O. Apel, »Diskursethik vor der Problematik
1. Die Notwendigkeit der Selbstbehauptung schlechthin und der darauf bezogenen Risikoverantwortung in der Interaktion mit Anderen führte zur Ausbildung politischer Institutionen im
Sinne der Ausdifferenzierung der Staaten als funktionaler
Selbstbehauptungssysteme. 2. Das über bloße Selbstbehauptung hinausgehende Bedürfnis, die
Durchsetzung der Gerechtigkeit im Falle der Konfliktregelung von der fragilen Prozedur praktischer Diskurse ebenso wie von der gewaltsamen Befriedigung von Rechtsansprüchen und der Vergeltung für erlittenes Unrecht zu entlasten, führte zur Ausbildung des Rechtsstaats. In ihm tritt die Macht der politischen
Selbstbehauptungssysteme in den Dienst der Gesetzgebung (»autoritas facit legem«) und der Durchsetzung des positiven Rechts mit Hilfe von Sanktionen (staatliches Gewaltmonopol). Im Schutze des Rechtsstaats, der seinen Bürgern einen wesent-
lichen Teil der Verantwortung im Sinne des Teils B der Moral
abnimmt, können sich die Menschen als Staatsbürger von der Risikoverantwortung her die Praktizierung der Diskursmoral im Sinne des Ideal-Prinzips (U) erstmals leisten. 3. Notwendig ist jedoch auch die Versorgung mit materiellen Gütern im Interesse der Selbsterhaltung. Von der Erfüllung dieses Bedürfnisses hängt selbst der Wert der staatlich eingeräumten Rechte (auch der Menschenrechte) für die Einzelnen ab (woraus ein heikles Problem der Menschenrechtsdiskussion in bezug auf die Armen in den Entwicklungsländern entspringt). Diese Notwendigkeit trieb die Ausdifferenzierung der ökonomischen Institutionen an, in der Gegenwart die Ausdifferenzierung des Systems der Marktwirtschaft im globalen Malstab. Ein charakteristisches Problem im Sinne von leil B der Diskursethik wird durch die Marktwirtschaft insofern aufgeworfen, als von Recht und Politik: Können die Rationalitätsdifferenzen zwischen Moralität, Recht und Politik selbst noch durch die Diskursethik normativ-rational gerechtfertigt werden?«, in: Apel und Kettner, Lur Anwendung der Diskursethik (siehe Anm. 7), S. 29-61, und ders., »Kann das Anliegen der ›Befreiungsethiks als ein Anliegen des ›Teils B‹ der Diskursethik aufgefaßt werden? (Zur akzeptierbaren und nicht akzeptierbaren ›Implementation‹ der moralischen Normen unter den Bedingungen sozialer Institutionen bzw. Systeme)«, in: R. Fornet-Betancourt (Hg.), Armut, Ethik, Befreiung, Aachen: Augustinus-Buchhandlung 1996, S. 13-44.
47
(nach Adam Smith) das moralische Interesse an der möglichst effizienten Versorgung der Menschen als Marktteilnehmer gebietet, den strategischen Konkurrenzkampf der Warenanbieter und das zugehörige Profitmotiv verantwortungsethisch zu bejahen.38
Wie ist nun endlich - nach dieser Skizzierung, wie Institutionen bzw. soziale Subsysteme im Rahmen des Teils B der Diskursethik thematisiert werden - die Bedeutung der Unterscheidung zwischen individuell zurechenbarer Verantwortung und primordialer
Mit-Verantwortung einzuschätzen? Man könnte versuchsweise von der Vorstellung ausgehen, daß die Demokratie als politische Staatsform, die zugleich den Rechtsstaat impliziert und als gesetzliche Regelung der Rahmenordnung (etwa im Sinne der sozialen Marktwirtschaft) auch der Wirtschaft die institutionelle Form vorschreibt, im Sinne ihrer idealen Prozeduren die primordiale Mit-Verantwortung der Bürger auch im Sinne
von Teil B gewissermaßen »aufhebt« und diese insofern von der
Mit-Verantwortung für die - selbst noch moralische - Vermittlung von moralisch-diskursiver und strategischer Interaktion restlos entlastet. (Dafür scheint auch der von mir schon hervorgehobene
Mechanismus der demokratischen Zuteilung individuell zurechenbarer Verantwortung zu sprechen, sofern er zugleich mit der Entlastung von dieser Verantwortung die Beibehaltung der universalen Mit-Verantwortung impliziert.) Doch die demokratietheoretische »Aufhebung« der primordialen Mit-Verantwortung (und insofern der von der Diskursethik spezifizierten Moral insgesamt) beruht meines Erachtens auf einer Illusion. Dafür gibt es meines Erachtens nicht nur akzidentielle Gründe der Mangelhaftigkeit der vorgestellten »Aufhebung«, son-
dern auch Gründe, die in der gegenwärtigen globalen Komplexion
der drei wichtigsten funktionalen Subsysteme der menschlichen
Gesellschaft angelegt sind. Kant hat einen Aspekt der Problematik im »7. Satz« seiner Ideen zu einer allgemeinen Geschichte in weltbürgerlicher Absicht an38 Zu dieser wirtschaftsethischen Problematik siehe die Aufsätze von P. Ulrich, K. Homann und vom Verfasser in dem von J.-P. Harpes und W. Kuhlmann herausgegebenen Band »25 Jahre Diskursethik Ein Symposion«, Münster: LIT Verlag 1997. Vgl. auch P. Ulrich, Integrative Wirtschaftsethik. Grundlagen einer lebensdienlichen Ökonomie, Bern: Haupt 1997.
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gedeutet. Es heißt dort: »Das Problem der Errichtung einer vollkommenen bürgerlichen Verfassung ist von dem Problem eines gesetzmäßigen äußeren Staatenverhältnisses abhängig und kann ohne das letztere nicht aufgelöset werden.«39 Aus dieser Einsicht hat Kant bekanntlich das Postulat einer durch einen »Völkerbund«
vertraglich zu begründenden Ordnung »Zum ewigen Frieden« entwickelt.4 In unserem Problemzusammenhang läßt sich die Pointe des Kantischen Problemhinweises wie folgt entfalten: Auch eine Demokratie (bei Kant: »Republik«) ist als Staat ein politisches Selbstbehauptungssystem unter anderen, und die Macht, die sie (als Rechts-Staat) im Sinne des Gewaltmonopols der Durchsetzung des Rechts zur Verfügung stellt, ist letztlich dieselbe, die sie nach außen zur politischen Selbstbehauptung unter Staaten einsetzen kann und muß. Das besagt aber: Solange es noch keine weltbürgerliche Rechtsordnung gibt, sondern der vorrechtliche »Naturzustand« im zwischenstaatlichen Verhältnis
im wesentlichen weiterbesteht, solange gibt es noch keinen
Rechtsstaat - auch keine Demokratie -, in der die politische Macht restlos im Dienste eines universal anschlußfähigen Rechts eingesetzt werden könnte. Es gibt daher - aller demokratietheoretischen
Rhetorik zum Trotz - auch noch keine Demokratie, in der die Prozeduren der Gesetzgebung und die sie begleitenden politischen
Diskurse der »räsonierenden Öffentlichkeit« vom Motiv der je-
weils partikularen »Staatsräson« entbunden sein könnten. (Das
Beispiel der Ausländer-, Asylanten- und Einwanderungsgesetzgebung genügt, um die Problematik der Zugehörigkeit bzw. Nichtzugehörigkeit zum Zuständigkeitsbereich der jeweiligen »Volkssouveränität« zu verdeutlichen).
Kurz: Wenn die Institution des demokratischen Rechtsstaats die Mit- Verantwortung aller tür die detinitive Indienstnahme der po-
litischen Macht für das Recht, und des machtgestützten Rechts für die Moral, »aufheben« soll, dann kann dies jedenfalls noch nicht auf der Ebene der heute existierenden Demokratien erreicht werden. Es stellt vielmehr auch heute noch ein moralisch aufgegebenes Problem der primordialen Mit-Verantwortung aller Menschen für
die politische Realsterung der von Kant postulierten weltbürger39 I. Kant, Kants Gesammelte Werke, Akademie-Textausgabe, Bd. 8, S. 15-32. Berlin: de Gruyter 1968, Bd. VII, S. 24. 40 Siehe unter Anm. 8.
49
lichen Rechts- und Friedensordnung dar,* das heißt aber im Sinne von Teil B der Diskursethik: ein paradigmatisches Problem der Vermittlung von diskursiv-moralischer und strategischer Rationalität.42
Dieselbe Problematik wird noch deutlicher, wenn man über die systemische Verschränkung von Recht und Politik hinaus deren Verschränkung mit der Globalisierung der Marktwirtschaft (und dieser mit der Kommunikationstechnologie?) ins Auge faßt. Hier ist zunächst einmal festzustellen, daß die sogenannte »Globalisierung« der technologisch ermöglichten Transaktionen des Finanzkapitals allem Anschein nach - ebenso wie die Problematik einer weltbürgerlichen Rechtsordnung - Probleme aufwirft, die über die moralisch verantwortliche Sozialpolitik der Einzelstaaten hinausreichen, deren Lösungsmöglichkeiten sie wohl schon definitiv hinter sich gelassen haben. Moralisch problemlos könnte diese Entwicklung nur dann sein, wenn man - mit dem extremen Neoliberalismus - davon überzeugt sein könnte, daß der deregulierte Markt von sich aus (etwa im Sinne der invisible hand) langfristig auch die durch ihn kurzfristig geschaffenen Probleme der Polarisierung von Arm und Reich, anders gesagt: der Ausschließung der Bedürftigen ohne Tauschpotenz von der - allerdings eftizienten Versorgung der tauschpotenten Bedarfsträger kompensiert. Kann man davon nicht überzeugt sein, dann ergibt sich hier wohl das
gravierendste Problem der primordialen Mit-Verantwortung angesichts eines Teil B-Problems der Diskursethik: ein Problem der uns vorauseilenden Globalisierung der zwischenmenschlichen Verhältnisse, dem die Ungewißheit der richtigen Lösung nichts von seiner Schärfe nimmt. 41 Vgl. K.-O. Apel, »Kants ›Philosophischer Entwurfs: Zum ewigen
Frieden als geschichtsphilosophische Quasi-Prognose aus moralischer Pflicht«, in: R. Merkel und R. Wittmann (Hg.), Zum ewigen Frieden, Grundlagen, Aktualität und Aussichten einer Idee von Immanuel Kant, Frankfurt am Main: Suhrkamp 1996, S. 91-124. 42 Ich gehe hier auf das von Kant nicht gelöste Problem, wie eine weltbürgerliche Rechts- und Friedensordnung ohne die Inkaufnahme der Sanktionsgewalt eines Weltstaates soll durchgesetzt werden können, nicht ein. Man könnte aber in der Ungelöstheit dieses Problems einen weiteren Hinweis auf die fortbestehende Angewiesenheit der Lösung von B-Problemen der Diskursethik auf die primordiale Mit- Verantwortung erblicken.
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Bruce Jennings
Liberale Autonomie und bürgerliche Interdependenz: Politische Kontexte angewandter Ethik! »Sie (die Verfassungsväter) haben uns gegen-
über der Regierung das Recht verliehen, in Ruhe gelassen zu werden - das umfassendste und von zivilisierten Menschen am höchsten geschätzte Recht.« Louis Brandeis (Olmstead v. United States)?
Die Bioethik, in ihrer derzeitigen Wiederbelebung, ist ein Kind des Liberalismus, entstanden aus der gräßlichen Gleichgültigkeit gegenüber Menschenrechten und Menschenwürde, die die mittleren Jahrzehnte dieses Jahrhunderts geprägt hat. Die Bioethik will zu-
allererst das Individuum vor der anmaßenden Macht eines professionellen Paternalismus und der biomedizinischen Technologie schützen, indem sie die Gesellschaft daran erinnert, daß in Sachen Medizin und Biowissenschaften technische Fertigkeiten immer nur begrenzt dienlich sind, uns zum richtigen Ziel und Nutzen unserer neu entdeckten Macht zu führen. Indem die Biomedizin unser Leben und Sterben neu gestaltet, präsentiert sie keine einzige
werttreie Entscheidung und kaum eine, bei der nicht mehrere
Werte miteinander konfligieren. Der Widerstand gegen einen unberechtigten Positivismus und Szientismus, die Klärung und Beurteilung von Wertkonflikten und Entscheidungen und generell I Auszüge dieses Essays sind in zwei anderen Veröffentlichungen des
Autors erschienen: »Beyond the Harm Principle: From Autonomy to
Civic Responsibility«, in: W. Lawson Taitte (Hg.), Moral Values: The Challenge of the 2 ist Century. The Andrew R. Cecil Lectures on Moral Values in a Free Society, Volume xvII, Austin: University of Texas Press 1996, S. 1-64; und The Perversion of Autonomy: The Uses of Coercion and Constraints in a Liberal Society, New York: The Free Press 1996 (Co-Autor Willard Gaylin). 2 »They (the framers of the Constitution) conferred, as against the government, the right to be let alone - the most comprehensive of rights and the right most valued by civilized men.« 51
der Widerstand gegenüber hypertrophen Ansprüchen professioneller Eliten und Technokraten, die solche Entscheidungen ohne öffentliche Debatten und Verantwortlichkeit treffen möchten dies sind seit den letzten 25 Jahren die Aufgaben der Bioethik gewesen.
Mir scheint, daß etwas daran zutiefst richtig und wertvoll ist, aber auch, daß etwas sehr schiefzugehen droht. Denkt man über die Probleme und fundamentalen Fragen nach, die der Bioethik des 21. Jahrhunderts begegnen werden, und über die Rolle der Bioethik im moralischen Diskurs einer freien Gesellschaft, so ist man versucht, die Agenda der Bioethik in Beziehung zu den vorhersehbaren technologischen Durchbrüchen in den Biowissenschaf-
ten zu umreißen, besonders in der Genetik und der Molekularbiologie. Mit der gleichen Stichhaltigkeit kann man auf die sich vertiefende Kluft zwischen Norden und Süden hinweisen, zwischen der entwickelten und der unterentwickelten Welt, auf die Gesundheitstolgen unserer globalen Unfähigkeit bei der Vertei-
lung von Bodenschätzen, bei der Bevölkerungskontrolle, beim Erhalt der Artenvielfalt, im Gesundheitswesen und bei Fragen nachhaltigen ökonomischen Wachstums. Dann gibt es natürlich die demographischen Statistiken, aus denen hervorgeht, dais die westlichen Gesellschaften und Gesundheitssysteme sich zumindest während der ersten Hälfte des nächsten Jahrhunderts mit den Problemen einer alternden Bevölkerung beschäftigen müssen, einer zunehmenden Verbreitung chronischer Krankheiten und Behinderungen, und einem intergenerationellen Konflikt über die Belastungen der Langzeit-Pflege. Ist die Biotechnologie prometheischer Triumph oder faustische Verführung? Wie weit geht die Moralgemeinschaft der Menschen und wie kann das Miteinanderteilen organisiert werden? Was ist der Sinn langen Lebens und was steht alten Menschen zu? Ich wage
zu behaupten, daß dies die drei wichtigsten Themen auf der zukünftigen Agenda der Bioethik sein werden. Doch hinter jedem
liegt eine viel fundamentalere Frage. Diese, und nicht spezifische Angelegenheiten der Bioethik und der Biomedizin per se, stehen im Mittelpunkt meiner Uberlegungen. Man kann diese Frage so stellen: Wie gut wird der Liberalismus- als moralisches Gerüst und politische Tradition - mit diesen Fragen zurechtkommen? Man kann auch fragen: Wie soll Freiheit verstanden werden und welche
Stelle nimmt sie in dem, was den Menschen das Gute ist, ein?
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Gesundheit, Medizin und Biowissenschaften bieten ein For-
schungsfeld, das sicher nicht der einzige Bereich ist, in dem die philosophische und moralische Lebensfähigkeit des Liberalismus herausgefordert wird, aber er ist ein besonders aussagekräftiges und fruchtbares Gebiet, um diese Herausforderung zu durchdenken. Themen wie Biotechnologie, Weltgesundheit und Ökologie und chronische Krankheiten in einer alternden Gesellschaft sind paradigmatische Fälle des Zusammenstoßes zwischen Freiheit und anderen Werten, denn sie beinhalten Grenzen des Strebens nach Macht und Profit, sie beinhalten die Umverteilung von Bodenschätzen und einen absinkenden materiellen Lebensstandard (für den Norden). Sie beinhalten auch die Erkenntnis, daß die Bedürfnisse anderer vielleicht einen stärkeren moralischen Anspruch in unserem Leben haben als die Neigung zu unseren eigenen Bedürfnissen und Interessen. Lu tragen, ob die Bioethik aut die Heraustorderung dieser Probleme des 21. Jahrhunderts antworten kann, heißt zu fragen, ob der
Liberalismus selbst sich anpassen und reagieren kann, denn die Bioethik ist, wie bereits gesagt, ein Kind des Liberalismus. Wie der Liberalismus ist auch die Bioethik größtenteils ein Diskurs über Freiheit und Verantwortlichkeit, über individuelle Selbst-Bestim-
mung und kulturelle Grenzen, über persönliche Autonomie und soziale Kontrolle. Bedenkt man die gesamte Geschichte der liberalen Tradition seit dem 17. Jahrhundert, könnte man sagen, daß der Liberalismus ein vernünftig ausgewogener Diskurs über diese Themen war. In den Werken solcher Persönlichkeiten wie Locke, Montesquieu, Tocqueville und selbst Mill hat er die Bedeutung der Werte
auf der Sollseite der Freiheit sehr wohl anerkannt - Verantwortlichkeit, Grenzen, Ordnung und Kontrolle. Doch wenn der Liberalismus die Bedeutung der Freiheit betont, dann nicht deshalb, weil er gesellschaftliche Ordnung für unwichtig oder unbedeutend hält, sondern weil er sie für allzu vorherrschend, mächtig und allgegen-
wärtig hält. In der politischen Vorstellung des Liberalismus ist Ordnung eher erstickend als trennend, sie beherrscht eher als auf-
zulösen. (Ich glaube, genau darin liegt der fundamentale Unterschied zwischen der liberalen und der konservativen Gesinnung.) Also muß die Freiheit des Individuums mit gesetzlichem Schutz, politischer Macht und moralischen Argumenten gestützt werden, besonders gegen jenen Ort der Ordnung, der die frühen modernen Liberalen vor allem beschäftigt hat - den Staat. 53
Im 19. Jahrhundert ist etwas mit dem Liberalismus geschehen, das sich in den letzten 30 Jahren enorm ausgebreitet und beschleunigt
hat. Aus politischem Liberalismus ist sozialer Liberalismus geworden. Die liberale Idee der Freiheit hat eine ausgesprochen libertäre Deutung erhalten, nämlich im Begriff der »Autonomie«.
Der traditionelle liberale Argwohn gegenüber staatlicher Kon-
trolle hat sich in einen generellen zeitgenössischen Verdacht gegen-
über allen Formen sozialer oder interpersoneller Kontrolle oder Zwänge verkehrt, die den subjektiven Willen, existentielle »Projekte« oder »Lebenspläne« des Selbst blockieren. Die Bioethik ist dieser libertären Wendung innerhalb des Liberalismus gefolgt, sie hat sich ihr in nicht geringem Ausmal gewidmet und mitgeholfen, das herauszubilden, worauf ich mich kurzerhand als die »Kultur der Autonomie« beziehen möchte. Ich glaube, daß die Bioethik im nächsten Jahrhundert ihre Schritte zurückverfolgen und diese libertäre Wendung kritisch überdenken muß. Wenn
wir den moralischen und sozialen Herausforderungen gerecht werden wollen, die durch Gesundheit, Medizin und Biotechnologie entstehen, muß die Bioethik eine Konzeption der Freiheit zurückgewinnen - und neu formulieren-, die sich bürgerlicher und gemeinschaftlicher orientiert als die Autonomie oder eine libertäre Freiheitskonzeption. Die Bioethik darf die Autonomiekultur nicht zu deren Bedingungen akzeptieren, sondern muß diese Kultur mit
einem ethischen Diskurs konfrontieren, der sich gut aut die
menschliche und moralische Bedeutung von Abhängigkeitsverhältnissen, Gegenseitigkeit und Reziprozität einstellt. Die Bio-
ethik muß insbesondere die moralische Rechtfertigung staatlichen Handelns und sozialer Zwänge in einem weiteren Rahmen erkun-
den als dem, den der Autonomieliberalismus bietet, in dem es einzig noch aus dem Grund möglich ist, politisch zu motivieren und Einschränkungen individueller Wahlmöglichkeiten ethisch zu rechtfertigen, um Schaden von anderen abzuwenden. Mein Ziel in diesem Essay ist es, das moralische Terrain hinter dem
Schadensprinzip zu erkunden. Um das zu tun, werde ich drei
Topoi aufgreifen. Erstens, was heißt Autonomie und was macht sie so attraktiv? Zweitens möchte ich die Logik und die Grenzen des Schadensprinzips in der Bioethik und in liberalen Argumenten untersuchen. Und schließlich werde ich, drittens, eine mögliche Ethik der Interdependenz und bürgerlichen Verantwortlichkeit skizzieren.
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Die Kultur der Autonomie Hinter den meisten der Public Policy Debatten in Amerika steht eine irrige Annahme. Sie lautet, daß die Gesellschaft sich vor allem
auf Anreize von Eigeninteressen und rationale moralische Ver-
pflichtungen verlassen kann und sollte, um Kooperation zu gewährleisten und das aufrechtzuhalten, was die Juristen »ein System der geordneten Freiheit« nennen. Von Geburtenkontrolle zu Strafzetteln, von Müllwiederverwertung zu Helmpflicht, Amerikaner favorisieren überzeugende Argumentation und freiwillige Befol-
gung. Darüber hinaus versucht diese Sichtweise internen Quellen von Einschränkungen und Zwängen ebensosehr zu entgehen wie sie externe Quellen verachtet. Autonome Selbstbeschränkung sollte aufgeklärt und prinzipiengeleitet sein. Sie sollte nicht auf
Emotionen, unreflektierten Gewohnheiten oder Traditionen beruhen. In einer Autonomiekultur besteht der moralische Fortschritt darin, ein Bewußtsein, das auf Scham, Schuld und Stolz beruht, hinter sich zu lassen, denn diese sozialen Gefühle gehören in die Kindheit der menschlichen Rasse. Idealerweise sollte die
soziale Ordnung durch Selbstkontrolle gewahrt werden, die auf rationaler Überzeugung, Überlegung und reflektierter Verpflichtung gegenüber vereinbarten moralischen Prinzipien, Regeln und Rechten beruht. Gegen den Autonomieliberalismus können zwei Haupteinwände erhoben werden. Der eine ist ein Klugheits- bzw. politisches Argument. Es lautet, das die Autonomiekultur keine angemessenen Rechtfertigungsmittel für soziale Kontrolle und Zwang zur
Verrugung stellt, wo diese benötigt werden. Obwohl der Autonomieliberalismus einen Weg bietet, Zwang und soziale Kontrolle
ethisch zu rechtfertigen, verfügt er über eine zu beschränkte Bandbreite moralischer Gründe und ist bezüglich der Formen sozialer Kontrolle, die er zuläßt, zu restriktiv. Um soziale Kontrolle so zu rechtfertigen, daß sie unseren sozialen Bedürfnissen besser entspricht, müssen wir über den Autonomiediskurs hinausgehen. Und wir müssen die hierfür nötigen Konzepte und Argumente finden - ein alternatives Vokabular der Beziehungen, Verantwortungen, Pflichten und des Gemeinwohls. Der zweite Einwand ist ein moralischer und philosophischer. Er lautet, dals die Autonomiekultur über kein akzeptables moralisches Verständnis des menschlichen Wohls oder über die Beschaf-
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fenheit unseres Lebens als moralische Wesen verfügt.? Das Vor-
haben der Menschheit, dem Bedürfnis nach Gefühlen der Scham,
der Schuld und des Stolzes zu entwachsen, ist biologisch und psychologisch gleichermaßen unrealistisch, denn diese psychologischen Kapazitäten sind Produkt der menschlichen Evolution und Nebenprodukt der Tatsache, daß unser Verhalten kaum durch den Instinkt geformt wird, sondern weitgehend durch soziale und kulturelle Prozesse der Identitätsbildung. Doch von Bedeutung ist
hier nicht sosehr, daß der Traum von der Autonomie psychologisch unrealistisch ist. Mindestens so bedeutsam ist die Tatsache, daß er ethisch und philosophisch inadäquat ist. Soziale Emotionen zugunsten eines prudentiell rationalen Eigeninteresses und zugunsten freiwillig gewählter Verpflichtungen abzuschütteln hieße, jen-
seits des Netzes aus Interdependenz und Beziehungen zu existieren, aus dem die menschliche, moralische Existenz geknüpft ist.
Autonomie kommt vom griechischen autos (selbst) und nomos (Regel, Gesetz). Wörtlich bedeutet Autonomie also den Zustand
der Selbst-Bestimmung oder der Selbst-Herrschaft; autonom zu leben bedeutet, unter einem Gesetz zu leben, daß man sich selbst
auferlegt. In anderen Worten: Autonomie ist das Recht, das eigene
Leben auf eigene Art und Weise zu leben. Der ursprüngliche Gebrauch des Begriffs war politisch und bezog sich auf den selbstbestimmten antiken griechischen Stadt-Staat. Städte hatten autonomia, wenn sie ihre Gesetze selbst machten und ihre Angelegen-
heiten selbst kontrollierten, statt von einer anderen Stadt oder einem anderen Reich kontrolliert zu werden. Im Lauf der Zeit ist der Begriff, vor allem in den Schriften Immanuel Kants, auch auf die Ethik und die individuelle Person angewandt worden. Kant
sprach hauptsächlich über die Autonomie des Willens oder der Absicht, während eine Generation später der englische Philosoph John Stuart Mill hauptsächlich über autonome Handlungen und Entscheidungen sprach. Sowohl Kant als auch Mill hatten enormen Einfluß auf den zeitgenössischen Liberalismus.4 3 In diesem Essay benutze ich die Begriffe »Ethik« und »Moral« austauschbar. Ich folge nicht der Konvention, nach der sich die Ethik auf das Leben und Verhalten in der Familie und der Privatsphäre bezieht, wäh-
rend sich die Moral auf Handlungen im öffentlichen Bereich bezieht. 4 Hier ist ein erklärendes Wort vonnöten, besonders für die deutschspra-
chigen Leser und jene, die mit Kants Ethik gut vertraut sind. Das Autonomiekonzept, das ich in dieser Arbeit skizziere und von dem
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Diese alten Ideen sind immer noch aktuell. Ein weitverbreitetes Lehrbuch zur Ethik lehrt die Studenten, Autonomie sei die »persönliche Herrschaft des Selbst, frei sowohl von der kontrollieren-
den Einmischung durch Andere als auch von persönlichen Einschränkungen, die wichtige Entscheidungen verhindern ... Das autonome Individuum handelt frei in Übereinstimmung mit einem
selbstgewählten Plan«5 Wie so viele englische Wörter, die aus dem Altgriechischen oder
dem Lateinischen stammen, wirkt »autonomy« öde und juristisch.
Philosophen mögen das Wort oft gebrauchen, aber nicht gewöhnliche Menschen. Es ist ein Wort, das offensichtlich in einem Gerichtsgebäude oder in einer Anhörung des Kongresses heimischer ist als in einem Radioprogramm, beim Abendessen in einem Vorort oder während der Mittagspause von Bauarbeitern. Jedoch: das Wort »autonomy« wird zwar in Alltagsgesprächen nicht oft be-
ich behaupte, das es so viel Einfluß auf den öffentlichen Moraldiskurs (und auf die privaten moralischen Ziele) des heutigen Amerika hat, ist sicher nicht das, was Kant mit Autonomie meinte. Bereitwillig anerkenne ich diesen Einspruch, der von zahlreichen Kollegen erhoben worden ist, als ich die Arbeit in Essen vorgetragen habe; der Einspruch
ist korrekt, trifft aber nicht den Punkt: ich biete eine Lesart einer amerikanischen, moralischen Sensibilität an (und zunehmend, so glaube ich, auch einer europäischen und sogar globalen), und nicht eine Lesart der Moralphilosophie Kants. Natürlich kann das, was ich hier diskutiere,
aus der Sicht der Ideengeschichte als eine Studie der Verzerrung und Verfälschung von Ideen innerhalb der amerikanischen Rezeption des kantianischen und neo-kantianischen Gedankenguts des späten 20. Jahrhunderts betrachtet werden. Tatsächlich haben die einflußreichsten ame-
rikanischen Philosophen, die eine Art neo-kantianische, mit der liberalen politischen Theorie kompatible Ethik entwickelt haben, Kant eine ausgesprochen individualistische und subjektivistische Wendung gegeben, und es wäre angemessen, sich mit dieser Lesart exegetisch zu beschäftigen. Ich denke besonders an den einflußreichen amerikanischen Philosophen Robert Paul Wolff, durch dessen Kommentare viele Amerikaner, die über angewandte Ethik arbeiten, gelernt haben, Kant zu
lesen.
§ »Personal rule of the self that is free from both controlling interterence by others and from personal limitations that prevent meaningful choice ... The autonomous individual freely acts in accordance with a selfchosen plan.« Tom Beauchamp und James Childress, Principles of Biomedical Ethics, 4. Ausgabe, New York: Oxford University Press 1994,
S.IZI.
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nutzt, aber die Idee, die es ausdrückt, ist allgegenwärtig. Amerikaner leben, atmen und träumen Autonomie. Es ist das Zeichen des Erfolgs im Leben einer Person; es ist, was wir an anderen belohnen
und bewundern und wonach wir selbst streben. Der Kurs der Aktie Autonomie steigt bei gewöhnlichen Menschen
und nicht nur bei akademischen Intellektuellen. Er hat Auf-
schwung erhalten (manche würden sagen, er ist aufgeblasen worden) durch die diversen Menschen- und Bürgerrechtsbewegungen,
die seit den 6oern prominent sind: Bürgerrechte für rassische Minderheiten, Frauenrechte, das Recht auf Abtreibung, Schwulenrechte, Konsumentenrechte, sogar Patientenrechte und das Recht zu sterben. Paternalismus - jemanden dazu bringen, das zu tun, was gut für ihn ist, selbst wenn er nicht möchte - ist
ziemlich out; wir mißtrauen paternalistischen Professionellen wie Ärzten und anderen Experten, und nicht zuletzt große Mehrheiten von Mittelschichtwählern wollen eine paternalistische Regierung loswerden. Einige Kinder verklagen jetzt ihre Eltern und »lassen sich von ihnen scheiden«, es kann also nicht mehr lange dauern, bis man den Paternalismus sogar Eltern nicht mehr durchgehen läßt. Außerdem ist die Autonomie in den goern durch viele mächtige Bewegungen wiedererstarkt, die sich auf dem rechten Flügel des ideologischen Spektrums betinden - ökonomische Konservative, die die Tugenden des freien Wettbewerbs preisen, philosophische Libertäre, die private Eigentumsrechte verteidigen und sich der Besteuerung widersetzen, und, die kompromißlosesten von allen, militante Anarchisten (wie die vielen Bürgermilizen), die so ziemlich jede Form staatlicher oder sozialer Autorität ablehnen. Es ist wohl wahr, daß diese heutigen Anarchisten die liberalen Verteidiger der Autonomie ganz schön nervös machen, aber man kann wohl kaum leugnen, daß der Wert, der auf persönliche Autonomie gelegt wird, der mächtige, motivierende Faktor hinter der anti-
staatlichen Gesinnung ist, die über das Land hinwegfegt. Die rechten Milizen sind einfach nur die extremste Manifestation
dieser Gesinnung. In einem nachdenklichen Artikel über die Ideologie und den Ethos
rechtsradikaler militärischer Gruppierungen berichtet Denis
Johnson von seiner eigenen Faszination durch die Unabhängigkeit
und das Selbstvertrauen, das diese Gruppen symbolisieren und verehren. Nachdem er das Vertrauen von Mitgliedern einer Miliz-
Bewegung in Alaska gewonnen hatte, wurden Johnson und seine Frau Cindy eingeladen, ihre Flitterwochen an einem entlegenen Ort in den Bonanza Hills südwestlich von Anchorage zu verbringen. Die Art, wie Johnson seine Erfahrung beschreibt, vermittelt ein gutes Gefühl für die Bedeutung von Autonomie auf der Alltagsebene. Autonomie bedeutet Selbst-Beherrschung (self-mastery). Sein eigener Herr sein heißt, sich selbst angehören. Denis
Johnson fängt diese Idee ganz gut durch seinen Gebrauch von
Possessivpronomen ein, um die Hochstimmung auszudrücken, die er empfunden hat, als ihm und seiner Frau allein in der Wildnis klar wurde, daß »wer wir sind, alles ist, was wir haben ... Wir reali-
sierten, daß unser Leben früher niemals zuvor unser eigenes ge-
wesen war - unser Leben«. Diese Selbst-Beherrschung geht einher mit einem enormen Gefühl
von eigenem Potential und einer Woge von Verantwortung. Aber Verantwortung ist hier ein individualistisches Konzept, kein soziales. Es ist die Verantwortung für einen selbst und das, was man
tut, keine Verantwortung gegenüber anderen. So wie der Rest der
Gesellschaft nicht in der moralischen Welt des Lagers in den Bonanza Hills enthalten ist, so gibt es dort auch keine soziale Pflicht. Die Verantwortung, die man dort fühlt, ist eine einsame;
Denis und Cindy sind verantwortlich in dem Sinn, daß sie, wenn etwas schiefgeht, niemand anderem die Schuld geben können. Einen anderen, überzeugenderen Ausdruck von Autonomie als Selbst-Beherrschung hat Toni Morrison in threm bemerkenswerten Roman Menschenkind erkundet. Morrison beschreibt die Erfahrung der Freiheit, die Baby Suggs, die Matriarchin der Familie, deren geschundenes Leben der Roman untersucht, das erste Mal spürt, als ihr Sohn Halle, ebenfalls Sklave, sie von einem mittühlenden Herrn freikauft, und sie von der Sweet Home Plantage in Kentucky den Fluß Richtung südliches Ohio überquert: »Als Mr. Garner Halles Plänen zustimmte, und als Halle deutlich machte, daß ihm ihre Freiheit mehr als alles aut der Welt bedeutete, ließ sie sich über den Fluß bringen ... Wozu? Wozu braucht eine über sechzigjährige Sklavin, die wie ein dreibeiniger Hund humpelt, die Freiheit? Und als sie den Fuß in die Freiheit setzte, konnte 6 » Who we were was all we had... We realized our lives betore had never before been our own - our lives,« » The Militia in Me«, in: Esquire, 124:1, Juli 1995, S. 40.
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sie kaum glauben, daß Halle wußte, was sie nicht gewußt hatte daß Halle, der niemals einen freien Atemzug getan hatte, wußte, daß es auf dieser Welt nichts Vergleichbares gab. Es erschreckte
sie.
Etwas ist los. Was ist los? Was ist bloß los? hatte sie sich gefragt. Sie
wußte nicht, wie sie aussah, und war auch nicht neugierig darauf. Aber plötzlich sah sie ihre Hände und dachte mit einer Klarheit, die ebenso einfach wie verwirrend war: Diese Hände gehören mir. Diese meine Hände. Dann spürte sie ein Klopfen in ihrer Brust und entdeckte noch etwas Neues: ihren eigenen Herzschlag. War es schon immer dagewesen, dieses klopfende Ding? Sie kam sich vor wie eine Närrin und begann laut loszulachen.«?
Autonomie als Selbst-Beherrschung hat in unserer modernen mo-
ralischen Vorstellung einen festen Platz eingenommen. Wer einmal mit Baby Suggs am Nordufer des Ohio angekommen ist, für den gibt es kein Zurück. Die Autonomiekultur hat tiefe Wurzeln und viele Verzweigungen. Sie ist allmählich aus den zugrundeliegenden Kräften des Individualismus entstanden, der Säkularisation, des Materialismus und des Rationalismus, die die westliche Moderne als solche definieren. Sie ist das führende Prinzip und explizites moralisches Ideal in den Ideologien des Liberalismus und des Kapitalismus geworden und
hat einen verfeinerten Ausdruck in einigen der einflußreichsten Arbeiten der Moralphilosophie, der politischen Theorie und der Literatur seit der Französischen Revolution erreicht. Schließlich hat sich die Autonomiekultur in den Vereinigten Staaten seit circa 30 Jahren wahrlich zur vorherrschenden Sensibilität und Weltanschauung entwickelt. Das war in der Vergangenheit nicht immer so, obwohl die Amenikaner schon immer ein ungewöhnlich individualistisches und antiautoritäres Volk waren. Aber sich klarzumachen, dals dies
geschehen ist, ist die aufschlußreichste und überzeugendste Art zu verstehen, was in den letzten drei Jahrzehnten in der amerikanischen Kultur und Politik geschehen ist. Autonomie ist die lingua
franca in dieser pluralen, gewissermaßen kakophonen Gesellschaft. In einer Zeit, in der alles Bindestriche hat, von Familiennamen bis zu politischen Loyalitäten, wenn alle Rechnungen geteilt werden, alle auf Nummer sicher gehen und alle Geschlechter 7 Toni Morrison, Menschenkind, Hamburg: Rowohlt 1992, S. 195.
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zweideutig sind, ist Autonomie der Zug, auf den jeder aufspringen kann. Sie ist das eine Ziel, das auf der Liste geblieben, nicht aus-
gestrichen worden ist, nachdem wir alle anderen Werte und Über~ zeugungen eliminiert haben, von denen man einst glaubte, sie seien
Gemeingut oder gemeinsamer Zweck in Amerika, es aber nicht mehr sind. Autonomie hat sich in 30 Jahren der Rechtsprechung und der Gesetzgebung, die die Staatsautorität geschwächt und subjektive Freiheitsrechte, Privatheit und Ansprüche gestärkt haben, tief in die Gesetze des Landes eingegraben. Nicht weniger tief ist die Autonomie in das Alltagsleben der Menschen eingedrungen, als sie
- und das ist weitgehend geschehen - zur moralischen Meßlatte geworden ist, an der gemessen wird, wie andere uns behandeln und wie befriedigend und erfolgreich unser eigenes Leben und unsere eigene Karriere ist. Wenn Menschen Beziehungen als einen Über-
griff wahrnehmen oder erfahren, disziplinierte Aktivität als
Zwangsjacke, die die Selbstdarstellung einschränkt, oder Pflichten
wie Mühlsteine um ihren Hals, dann ist dies die verführerische Stimme der Autonomie. Wenn Menschen öffentliche Politik und soziale Praktiken unterstützen, die die persönliche Entscheidungsfreiheit maximieren, ohne Rücksicht auf moralische oder finanzielle Kosten für die Gesellschaft und ohne Rücksicht darauf, wie selbstzerstörerisch das fragliche Verhalten ist, auch dann ist das Verführung durch Autonomie, die zum rechts- wie linkslibertären Dogma geworden ist. Autonomie ist eine sehr mächtige und befreiende Idee. Sie ist aber auch eine sehr einsame und negative Art zu leben. Es ist wichtig, daß das Gesellschaftliche nicht zur Gesellschaft hypostasiert und zu einer alles umspannenden Entität erhoben wird, die angeblich über dem Individuum als solchem steht und ihm entgegengehalten wird. Von dieser Denkungsart hat es im 20. Jahrhundert bereits genug gegeben. Die Bedingungen menschlichen Gedeihens können nicht von oben bestimmt werden und sie können nicht allein durch Nachdruck traditioneller Formen des Glaubens oder der Autorität wiederhergestellt werden. Diese Be-
dingungen müssen aus dem Gefühl und der Vernunft zugleich kommen, zugleich aus der Vorstellungskraft und dem Intellekt.
Sie beziehen sich auf Kräfte, die von größeren und älteren Verhältnissen herrühren als unser autonomes Ich - sie beziehen sich auf die menschliche Evolution und Kulturgeschichte. Und wir 61
dürfen gewiß nicht vergessen, daß diese Bedingungen menschlichen Gedeihens auch von den willentlichen Verpflichtungen abhängen, die jedes Individuum als moralisch Handelnder eingeht, als einzigartiges, individuelles Selbst. Diese Bedingungen können
solange nicht aufrechterhalten werden, solange wir nicht nach moralischen Idealen greifen, die über die Autonomie hinausgehen,
und solange wir nicht die Autonomie im Namen dieser Ideale in
bestimmten Fällen einschränken. Aber sie können auch nicht aufrechterhalten werden, wenn die Autonomie völlig umgangen wird.
Wir müssen lernen, Zwang zum Wohl der Autonomie zu benutzen und an die Autonomie zu appellieren, um eine Form moralischen Lebens zu erreichen, die reichhaltiger ist als Autonomie allein. Ich sage das auf absichtlich paradoxe Art. Denn ich glaube, daß in der amerikanischen Gegenwartskultur zwei gegenläufige Momente des Moralischen in scheinbare paradoxe Extreme auseinandergetreten sind. Man könnte von einer kulturellen - und für
Mitglieder moderner Gesellschaften: naturgemälen - Janusköpfigkeit des Moralischen reden. Es hat zwar in der Vergangenheit und sogar in der Gegenwart auch andere Gesellschaften gegeben, existentiell einfachere als unsere; sie blicken gleichsam auf einen einzigen Horizont. Aber ich glaube nicht, daß sie uns moralisch überlegen sind. Menschliche Individuen sind zugleich beides, unabhängig und wechselseitig abhängig. Sie können sich durch kritische Intelligenz und Vorstellungskraft zwar über die Gegebenheiten ihrer historischen Zeit und ihres Orts erheben, und doch sind ihre Gedanken und Gefühle durch und durch sozial geformt und befangen in den vorhandenen Vokabularen. Die moralische Identität des Individuums wird gegenwärtig bei uns als aus Rechten und negativen Freiheiten bestehend verstanden, wir können die Uhr nicht zurückdrehen, selbst wenn wir wollten. Doch völlig abgelöst von einer Lebensführung, die in positive Verpflichtungen, Verantwortungen und Beziehungen verstrickt ist, hätten diese Freiheiten überhaupt keine Bedeutung.
Das Schadensprinzip und die negative Freiheit Stellt die Autonomie eine moralische Basis für ihre eigene Ein-
schränkung bereit? Bis zu einem gewissen Ausmaß und auf charakteristisch individualistische Art. Die definitive Antwort auf
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diese Frage, was den traditionellen Liberalismus betrifft und später
die Kultur der Autonomie, hat John Stuart Mill in seinem Buch Uber die Freiheit gegeben. »Die Absicht dieses Essays ist es, ein sehr einfaches Prinzip geltend
zu machen, nach dem das Maß von Zwang und Kontrolle im Verhältnis zwischen der Gesellschaft und dem Individuum bestimmt werden sollte ... Dieses Prinzip lautet: Der einzige Zweck, der die Menschen, individuell oder kollektiv, berechtigt, in die Handlungsfreiheit eines der ihren einzugreifen, ist Selbstschutz.
Die einzige Absicht, um derentwillen Macht rechtmäßig über irgendein Mitglied einer zivilisierten Gemeinschaft gegen seinen Willen ausgeübt werden kann, ist die, eine Schädigung anderer zu verhindern. Sein eigenes physisches oder moralisches Wohl ist kein ausreichender Grund... Der einzige Teil seines Verhaltens, für den ein Mensch der Gesellschaft verantwortlich ist, ist der, der andere
berührt. In dem Teil, der nur ihn selbst berührt, ist seine Unabhängigkeit im rechtlichen Sinne absolut. Über sich selbst, über seinen eigenen Körper und Geist, ist das Individuum souverän. «8
Eine Einschränkung der individuellen Autonomie ist innerhalb der Autonomiekultur moralisch nur dann zu rechtfertigen, wenn
dies notwendig ist, um andere Individuen vor unfreiwilliger Schädigung zu bewahren oder um die negative Freiheit anderer Individuen zu schützen. So lautet im Kern die modernisierte Version von Mills Antwort. Heute beziehen wir uns darauf üblicherweise als auf das »Schadensprinzip«. Andere vor Schädigungen zu bewahren ist buchstäblich das einzige, was eine einschränkende Einmischung rechtfertigen kann, um die Entscheidungsfreiheit eines autonomen Erwachsenen zu begrenzen.
Wie wirkt das Schadensprinzip in der Praxis? Alles dreht sich darum, wie Schaden definiert wird, wer ihn definiert, und welche Kriterien benutzt werden. Mitunter scheint es, dals die Idee des Schadens sehr weit gedehnt wird, um bestimmte Verhaltensformen beschneiden und sich über Autonomie hinwegsetzen zu können,
wenn genügend großer sozialer oder politischer Druck hierzu nötigt. In New Jersey hat der Oberste Gerichtshof kürzlich das sogenannte Megan Law erlassen, das fordert, die Adresse von kürzlich verurteilten Sexualtätern öffentlich bekanntzugeben, 8 John Stuart Mill, Über die Freiheit, Frankfurt am Main: Europäische Verlagsanstalt Frankfurt 1969, S. 16 und 17.
wenn sie aus dem Gefängnis entlassen werden und sich in einer Gemeinde dieses Staates niederlassen. Die Idee ist, den Schutz der
Privatsphäre dieser Individuen einzuschränken, zu dem Zweck, die Gemeinde vor der Bedrohung zu bewahren, nicht zu wissen, ob ein verurteilter Sexualstraftäter oder Pädophiler mitten unter ihnen lebt. Stellt das eine Schädigung für die Gemeinde dar? Vielleicht, aber wenn wir Schaden so weit definieren, wo endet dann noch die Pflicht der Offenlegung von Risiken? Mills »einfaches Prinzip« sollte den Gebrauch von Zwang und sozialer Kontrolle in einer liberalen Gesellschaft zu einer intellektuell tadellosen und ordentlichen Angelegenheit machen. Alles
andere als das. Das Schadensprinzip könnte eine klare Linie ziehen, um zu wissen, wann wir uns über die individuelle Autonomie hinwegsetzen können. Doch diese Linie ist keineswegs so klar,
denn Menschen erkennen Schaden nicht immer, wenn sie ihn sehen, oder sie sehen ihn allzu bereitwillig, wo es vernünftig betrachtet gar keinen gibt. Die Autonomiekultur verlangt nach einem öffentlichen Diskurs und nach ethischen Argumenten über die soziale Kontrolle, die sich auf zwei Fragen einengen. Erstens, was ist Schaden? Wie eng oder wie weit und wie objektiv oder subjektiv sollte Schaden definiert werden? Zweitens, wann ist Schaden tatsächlich schädigend? Das heißt, sollte der Staat sich über die Autonomie nur dann hinwegsetzen, um Menschen vor Schaden zu schützen (oder vor dem Risiko, einen Schaden zu erleiden), den sie unfreiwillig erleiden, oder auch vor Schaden, dem sie sich freiwillig aussetzen? Die Schadensdefinition ist eine kritische Frage und ein schwieriges
Problem für die öffentliche Politik. Definiert man Schaden zu weitgehend, verkümmert die Autonomie. Wie ernsthaft muß der Schaden sein? Gilt nur ernsthafter physischer Schaden oder Verletzung oder gelten auch psychischer Schmerz und Leid? Wie ist die Abstufung zwischen Schaden, Angriff, Belästigung und Unannehmlichkeit? Wo sollen wir die Linie ziehen? Im Lauf der Zeit
hat die Autonomiekultur versucht, diese Dilemmata zu lösen, indem sie »Schaden« in Begriffen negativer Freiheit und negativer Rechte interpretiert hat. Eine Schädigung ist etwas, das auf meine
Privatsphäre übergreift, etwas, das ich nicht eingeladen habe. Geschädigt werde ich nicht durch die Unterlassungen anderer Menschen, sondern durch ihre Taten, die sie mir direkt antun. Mich vor Schaden zu bewahren heißt also, mich vor einer Einmischung von
außen zu bewahren, vor ungewolltem, unerwünschtem Kontakt jener, die mir Steine in den Weg legen. So sind die »Freiheiten von«
der Autonomie, verstanden als negative Freiheit, beschaffen. Argumentiert man zuerst, daß soziale Kontrolle moralisch nur ge-
rechtfertigt werden kann, um Individuen vor Schaden zu schützen, und definiert dann Schaden als die Verletzung negativer Freiheit, heißt das, die Mittel sozialer Kontrolle vor allem dafür einzusetzen, die Menschen auseinanderzuhalten. Das Private sticht Verpflichtung, Verbindlichkeit und Beziehung aus. Aber soll das so sein? Warum muß die gesellschaftliche Macht immer benutzt werden, um Mauern zu errichten, und niemals, um sie einzureißen?
Wie ich bereits bemerkt habe, zwängt die Autonomiekultur jeden moralischen Diskurs über die Rechtfertigung sozialer Kontrolle in den Begriff einer Schädigung. Das hat drei Konsequenzen, von denen keine gut ist. Erstens verschiebt es die Gewichte innerhalb der öffentlichen Politik zugunsten solcher Maßnahmen, die die Individuen davon abhalten, einander in die Quere zu kommen, im Unterschied zu Maßnahmen, die sie darin unterstützen, sich zu assozüeren und enger aufeinander zu beziehen. Die öffentliche
Politik eines liberalen Staats und einer Autonomiekultur zielt
darauf ab, Schaden zu begrenzen, und nicht, Hilfsbereitschaft zu wecken. Als zweites tendiert die moralische Rechtfertigung in Schadensbegriffen dazu, Fragen ethischer Vorschriften (oder Verbote) zu Fragen faktischer oder wissenschaftlicher Beschreibung zu machen. Die Schadensdefinition ist zuerst eine politische und philosophische Angelegenheit, aber einmal definiert, lautet die Frage: ist tatsächlich ein Schaden entstanden? Um moralisch gerechtfertigt und legitim zu sein, erfordert Zwang (z. B. Nichtrauchergesetze), dessen Rechtfertigung auf dem Schadensprinzip beruht, wissenschaftliche Belege, daß das Verhalten, das eingeschränkt werden soll, tatsächlich die Ursache des zu verhindernden Schadens ist. Die dritte Konsequenz aus der Verengung moralischer Rechtfertigung von Zwänge auferlegenden politischen Malnahmen aut das Schadensprinzip ist dann, daß ein enormer ethischer und politischer Druck auf der wissenschaftlichen Forschung lastet. Wenn ein Politiker einen moralischen Grund paternalistischer oder kom-
munitaristischer Art hat, die Autonomie einzuschränken, aber befürchtet, daß er seinen Fall auf diese Art nicht durchkriegt, dann wird er versuchen, das Argument in die Schadenssprache 65
zu übersetzen. Aber der Schaden muß empirisch nachgewiesen werden, und dann muß die Wissenschaft antreten, diesen Nachweis zu erbringen. Das Risiko, wissenschaftliche Forschung zu
politisieren und zu korrumpieren, ist sehr real Diese Gefahr betrifft beide Seiten. Sie kann auftreten, wenn mächtige Kräfte unbedingt beweisen wollen, daß ein Schaden existiert. Sie kann auch auftreten, wenn diese Kräfte beweisen wollen, daß er
nicht existiert, oder wenn sie nicht wahrhaben wollen, daß er auftreten könnte. Vielleicht ist das beeindruckendste Beispiel dieses »nichts von einem Schaden wissen wollen«-Syndrom die Re-
aktion auf eine Untersuchung aus den späten Goern über den Zusammenbruch der afro-amerikanischen Familie mit zwei Elternteilen, die Daniel Patrick Moynihan Senior durchgeführt hat, der damals Professor in Harvard und Regierungsberater war. Jahre später haben selbst Führer der afro-amerikanischen Gemeinschaft anerkannt, daß die Tendenzen, die Moynihan dokumentiert hat, und die Sorge über die Auswirkungen dieses Phänomens, die er geäußert hat, stichhaltig waren. Aber zu jener Zeit ist seine Arbeit
diffamiert und weithin diskreditiert worden, zumindest in libe-
ralen Kreisen. Nichts wurde unternommen, den Tendenzen, vor
denen Moynihan warnte, entgegenzuwirken. Die Kinder des
Moynihan-Reports sind jetzt erwachsen; Amerika fängt erst jetzt an, die Konsequenzen zu begreifen. Die angedeuteten Konsequenzen bedrohen nicht nur Freiheit und Autonomie, sondern auch die intellektuelle Integrität der Wissenschaft. Wenn die moralisch legitimierte und gerechtfertigte Staatsautorität vom Schadensprinzip geleitet wird, dann muß das öffent-
liche Vertrauen in die Glaubwürdigkeit und Objektivität von zumindest einigen Experten aufrechterhalten werden, die aufgerufen sind, über politische und moralische Uneinigkeiten zu entscheiden. Wenn wir wissenschaftliche Forschung und politische Analysen in einem solchen Ausmaß politisieren, daß deren Glaub-
würdigkeit verlorengeht, dann bleibt der Öffentlichkeit keine rationale Grundlage, um darüber zu entscheiden, wessen Rechte zu respektieren sind oder welche Politik zu unterstützen ist. Oder
sie werden wie die Leute, die der Junge, der »Wolf« schreit, austrickst, gleichgültig gegenüber echten Beschwerden von wirklich in ihren Rechten Verletzten, taub gegenüber berechtigten öffentlichen Kampagnen bezüglich Gesundheit, Sicherheit und Umwelt.
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Auf der Suche nach dem Guten In Die Kinder des Lichts und die Kinder der Finsternis macht Reinhold Niebuhr eine Beobachtung, die uns hilft, über den Au-
tonomieliberalismus und die Grenzen des Schadensprinzips hin-
auszukommen:
»Die Gemeinschaft bedarf der Freiheit ebenso wie das Individuum, und das Individuum bedarf der Gemeinschaft mehr, als bürgerliches Denken dies begriff. Demokratie kann daher nicht mit Freiheit gleichgestellt werden. Eine ideale demokratische Ordnung erstrebt Einheit innerhalb der Voraussetzungen der Freiheit
und hält Freiheit aufrecht im Rahmen der Ordnung.« So wie Niebuhr ihn benutzt, bezieht sich der Begriff »Demokratie« nicht nur auf eine Regierungsform, sondern auf einen größeren sozialen Rahmen und moralischen Horizont. Auch der Ausdruck »republikanisch« wird manchmal in diesem Sinne benutzt. »Republikanisch« ist eine Lebensart aus gerechten Regeln und gemeinschaftlichen Zwecken und aus gegenseitiger Hilfe und Re-
spekt. Sie ist diejenige kulturell bedeutsame und institutionell strukturierte Umgebung, von der eine lange Reihe von Politiktheoretikern glaubt, beginnend bei Aristoteles, sie sei das angemessene Setting für die Suche nach dem menschlichen Guten und dessen Verwirklichung. Aristoteles glaubte, der Mensch sei ein soziales und politisches Tier,
ein zoon politikon, deshalb sei seiner Natur die »Bürgerschaft«,
nicht die Autonomie im modernen Sinne, gemäß. Das heißt Mitgliedschaft in einer bürgerlichen Gemeinschaft; das Leben als Individuum gelebt, aber gemeinsam mit Gleichen, die man braucht,
um als menschliches Wesen zu gedeihen, und die einen selbst ebenso brauchen. Aristoteles charakterisierte das Leben in der Bürgerschaft als eine Art alternierender Strömung: »Bürger aber ist, wer an dem Herrschen und Beherrschtwerden teil hat, nach jeder Verfassung, wer zum Zwecke der Verwirklichung eines tugendgemäßen Lebens gehorchen und befehlen kann und will«, 10
Ich glaube, daß Aristoteles damit grundsätzlich recht hat. Ein 9 Reinhold Niebuhr, Die Kinder des Lichts und die Kinder der Finsternis, München: Chr. Kaiser Verlag 1947, S. 12. 10 Aristoteles, Politik, Hamburg: Felix Meiner Verlag 1981, 12842, S. 106, übersetzt von Eugen Roltes.
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solches Leben - das gemeinschaftliche, das gegenseitig voneinander abhängige Leben - hat einen distinkten Rhythmus. Er besteht darin, die eigenen Bedürfnisse mit den Ansprüchen anderer in Einklang zu bringen und die eigenen Ansprüche mit den Bedürfnissen anderer. Das wechselseitig abhängige Leben hat charakteristische Lebenszeichen. Es besteht aus der Systole der Selbstbehauptung und der Diastole der Selbstbeschränkung und Uber-
einkunft - das ist der Herzschlag des politischen Körpers. Das
Individuum »geht aus sich heraus«, um an Aktivitäten mit anderen teilzunehmen, und »kehrt zu sich zurück«, um sich wieder auf die
eigene, einzigartige Identität zu besinnen und für eine gewisse Zeit mit sich selbst zu befassen - der Atem bzw. die spirituelle Vitalität der moralischen Gemeinschaft. Das menschlich Gute umfaßt die
Autonomie, aber es ist reicher, tiefer und nuancierter als es die Autonomiekultur versteht.
Wenn die moralischen Ideale, die zum Ausdruck der Vorstellung des menschlich Guten als Interdependenz nötig sind, aus einem Guß oder aus irgendeinem vergangenen goldenen Zeitalter oder aus einer anderen Kultur eingeführt werden müßten, dann wären wir wirklich in Bedrängnis. Aber so ist es nicht. Die Konzeption des Guten, die verlangt, die Exzesse der Autonomiekultur abzumildern und in angemessenen Grenzen zu halten, liegt auf der Hand und steht uns zur Verfügung. Sie ist in unserem moralischen Gemeinsinn enthalten und eingebettet in dem Leben, das die große
Mehrheit gewöhnlicher Amerikaner - und auch die meisten Philosophen - tatsächlich führt. Hobbes wies vergangene und zukünt-
tige Könige an (wie Charles il, von dem er hoffte, er würde sein Buch lesen), ihr Leben zu prüfen, um zu erfahren und zu lernen, wie man darin die eher universalen Angste und Begierden der Menschheit finden könnte. In einer Demokratie ist jeder Bürger selbst ein kleiner Souverän und sollte Hobbes' Anweisung folgen.
Lassen wir uns von der moralischen Sensibilität und den mensch-
lichen Beziehungen um uns herum führen und nicht von abstrakten Theorien oder Laborexperimenten. Was könnte logischer sein, wenn man darüber nachdenkt? Wo sonst könnte man besser su-
chen?
Man wird mich daran erinnern, dals Amerika eine heterogene und pluralistische Gesellschaft ist, und so ist es. Aber ich glaube, dals die Liberalen in den letzten Jahren einen schwerwiegenden Fehler gemacht haben, als sie daraus geschlossen haben, dal dieser Plu-
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ralismus jegliche ernsthafte Erwägung des individuellen oder gemeinsamen Guten ausschließt. Diese Liberalen glauben, daß der öffentliche Moraldiskurs auf Gespräche über Rechte und Interessen beschränkt bleiben muß und somit etwas produziert, was
Daniel Callahan mit zynischem Blick treffend einen um sich
greifenden »moralischen Minimalismus« genannt hat.
Ich behaupte im Gegenteil, daß es um so wichtiger und wahrscheinlich einfacher ist, in einer pluralistischen Gesellschaft eine ottene, explizite Diskussion über Angelegenheiten gemeinschaft-
licher Interessen und der sozialen Moral zu haben, als in einer festgefügteren, homogenen. Afrikanische Pygmäen, die Bambuti, müssen nicht über Abtreibung, Todesstrafe oder Wehrpflicht diskutieren. Sie müssen noch nicht einmal debattieren, wen sie heiraten, wie sie teilen, wer jagen und wer sammeln oder wer kochen
soll." Wir tun das. Sie wissen, wo ihre Gemeinschaft und ihre Lebensweise steht. Wir nicht. Oder besser gesagt: Wir können wissen, wofür wir zu einem bestimmten Zeitpunkt einstehen, aber wir müssen immer daran arbeiten, wir müssen argumentieren.
Das bedeutet, wir müssen uns engagieren und wir kommen in Konflikte. Autonomie als negative Freiheit - Brandeis' Recht darauf, in Ruhe gelassen zu werden, oder Robert Frosts »gute Zäune machen gute Nachbarn« - reicht zum Erhalt einer bürgerlichen Gemeinschaft bzw. einer Lebensweise, die das menschlich Gute gedeihen läßt, nicht aus. Das bedeutet auch, daß wir ein moralisches Vokabular brauchen, das tiefgehend und reichhaltig genug ist tür substantielle und tür subtile Argumente. Eine Interdependenz-Ethik beleuchtet verschiedene Dinge, die die Autonomiekultur verdunkelt. So gesehen können wir uns an sie wenden als an einen Aspekt, der das Idiom des bürgerlichen und moralischen Diskurses bereichert. Erstens: Interdependenz verlangt Autmerksamkeit für menschliche Schwäche und Sterblichkeit. Robust und rauh, ist der Individualismus Amerikas kollektive Verleugnung dieser Realität gewesen. Jedes menschliche Wesen wird krank werden und sterben. Jede adäquate Konzeption des menschlichen Guten muß auf diesem kalten Stück Granit fußen. Das menschliche Gute kann nicht außerhalb einer sozialen Umgebung bestehen, die auf unseren Zustand der Bedürftigkeit und Il Colin M. Turnbull, The Forest People, New York: Simon and Schuster 1962.
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Verwundbarkeit reagiert. Fast ist es der Autonomiekultur gelungen, die Amerikaner davon zu überzeugen, daß es schlecht sei, sich
auf andere Menschen zu verlassen. Das ist Irrsinn. Eine Gesellschaft, die es schwierig macht, sich auf andere zu verlassen, ist schlecht.
Zweitens: Interdependenz erinnert uns daran, daß unterschiedliche Individualität, das eigene Selbst, tatsächlich jenseits oder in Opposition zu einer Zugehörigkeit keinen Sinn macht. An dieser Stelle ist es wichtig, zwischen Individualität oder Individuation und Individualismus zu unterscheiden. Individualität ist ein psychologisches Potential menschlicher Wesen und eine wirkliche Errungenschaft in der normalen Entwicklung. Individualismus ist eine normative Doktrin, die die Person als solche, in Isolation von anderen, idealisiert. Es ist logisch konsistent, Individualität
sehr hoch zu schätzen und zugleich die Doktrin des Individualis-
mus zurückzuweisen. Individualität, und das ist der kritische Punkt, kann nur aus der richtigen Art menschlicher Interaktionen,
Beziehungen und Verpflichtungen entstehen. Dies ist von Anfang an der Fall, wenn das Kind aus der Oszillation von Trennung und
Verbundenheit schrittweise eine eigene Identität erwirbt. Dies geht während des ganzen Erwachsenenlebens so weiter, denn der Prozess der Identitätsbildung endet nicht nur niemals, er ist auch immer unausweichlich sozial. Darüber hinaus leben wir auf dieser Seite der Bonanza Hills in einer Gesellschaft, die sich durch stärker, nicht schwächer wer-
dende Verbundenheit und Sich aufeinander verlassen Müssen auszeichnet. Auf unser Leben wirken mehr Menschen als jemals zuvor ein. Und normalerweise brauchen wir von mehr Menschen als
je zuvor Kooperation, um unsere Pflichten erfüllen und unsere Ziele erreichen zu können, selbst diejenigen Ziele, die wir nur uns selbst setzen. Das bedarf keines ausgefeilten Beweises; jeder verpestete Atemzug erinnert uns daran, und jedesmal wenn wir ein Flugzeug besteigen und daran denken, dals unser Leben von dem kompetenten, umsichtigen Verhalten von Dutzenden von Fremden abhängt.
Was kann unter solchen Umständen Autonomie als Selbst-Kontrolle oder Selbst-Herrschaft bedeuten? Eins steht fest: was auch
immer Selbst-Kontrolle heutzutage bedeutet, es ist jedenfalls
nichts, was eine Person auf sich allein gestellt erreichen kann. Das klingt paradox, ist es aber nicht. Um Kontrolle darüber zu 70
haben, was mir als Individuum geschieht, muß ich mit anderen in einen Prozeß involviert sein, der darüber entscheidet, was mir
selbst und meinen Mitbürgern gemeinsam geschieht. Wir können nicht länger die Qualität des persönlichen Lebens von der Qualität sozialen Lebens trennen. Um die Privatsphäre zu bewahren, müssen wir auch die gemeinsame Sphäre bewahren.
Das ist ein Grund, warum selbst in einer Gesellschaft, die der Verführung durch die Autonomie so erlegen ist und so an ihr hängt, viele Menschen jetzt genug haben von Handlungsweisen, die man nur als vandalistische Akte gegen die öffentliche Sphäre bezeichnen kann. Bedrohliche, respektlose, schamlose und offensichtlich selbstsüchtige Handlungen - vom Krieg der Crack Dealer und Gangs hin zu den junk-bond-Königen der 8oer Jahre - sind für jeden gefährlich und nicht nur für die direkt Betroffenen. Individuelle Selbst-Kontrolle ist bedeutungslos, solange wir keine kollektive oder bürgerliche Selbst-Kontrolle haben (oder wiedergewinnen, denn zu einem großen Teil ist sie verlorengegangen). Private Autonomie und aktive demokratische Bürgerschaft sind
durch einen Liberalismus ruiniert worden, der Bürgerschaft vor allem in Begriffen persönlicher Rechte, Schutzleistungen und Garantien versteht. Der Liberalismus hat vergessen, daß Bürgerschaft auch bürgerliche Verpflichtungen auferlegt und bürgerliche Tugenden erfordert. Bürgerliche Tugenden sind in der Tat diejenigen Charaktereigenschaften, die kooperative und kollaborative Handlungen effizient machen und einem zugleich Selbstrespekt und
Respekt vor anderen verschaffen. Würdigt man die Rolle, die die menschliche Interdependenz für Individuen in einem guten Leben spielt, dann stellt eine ethisch gute Gesellschaft eine leitende Orientierung zur Verfügung, indem sie Autonomie und soziale Kontrolle ausbalanciert. Eine Gesellschaft sollte so eingerichtet sein, daß sie auf die Bedürfnisse und Verwundbarkeit ihrer Mitglieder reagiert. Sie sollte jede Person vor Gewalt und Ausbeutung schützen. Sie sollte aktiv gegenseitige
Unterstützung fördern und sozial wohltätige Kooperation. Sie sollte jedem ihrer Mitglieder den gleichen Schutz durch das Gesetz
zukommen lassen und eine offene, tolerante Kultur wechselseiti-
ger Achtung und Rücksichtnahme sein. Öffentliche Politik sollte Institutionen unterstützen, die es den Menschen ermöglichen, das beste aus ihrer interdependenten Verfassung zu machen, um das gemeinsame moralische Leben für jede Person als Individuum
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erfüllend und zuträglich zu machen. Die Politik sollte Institutionen und Machtkonzentrationen, die diese Aktivitäten behindern,
reformieren und ihnen entgegenwirken. Besonders kritisch sind die Institutionen der Sozialisation und der
Charakterbildung - die Familie, elterliche und erzieherische Maß-
nahmen, sowohl formelle wie informelle. Diese Institutionen schaffen das, was die Griechen paideia genannt haben. Damit meint man das moralische Klima oder das Temperament der gesamten Gesellschaft, die Quellen, aus denen die Einzelnen ihre
prinzipiellen moralischen Verbindlichkeiten nähren und aus denen sie ihre präreflexiven Gewohnheiten und ihr Gewissen quasi osmotisch beziehen. Ohne Sozialisationsinstitutionen könnte sich keine Zivilisation oder moralische Ordnung reproduzieren; keine
lebendige Tradition könnte weiterbestehen. Es werden solange keine angemessenen Vorkehrungen für Interdependenz getroffen werden, solange Erwachsene nicht fähig sind, Kinder mit der Fähigkeit und der Motivation großzuziehen, diese Berufung weiterzugeben. Wie kritisch auch immer die Autonomie im Verhältnis zwischen Individuum und Staat sein mag, sie darf nicht so sehr verehrt werden, daß ihr erlaubt ist, zur Auflösung dieser Institu-
tionen beizutragen.
Sich Freiheit neu vorstellen, sich an die Gesellschaft erinnern Unsere Gesellschaft verharrt zwischen zwei konkurrierenden moralischen Visionen. Die eine ist die tief bewegende Transformation ihres menschlichen Seins, die Baby Suggs erfährt, wenn sie schließlich die Anziehungskraft der Autonomie fühlt und die Bedeutung,
eine Person an und für sich selbst zu sein. Die andere ist das Versprechen bürgerlicher Gemeinschaft und Gegenseitigkeit, das sich durch die westliche politische Tradition seit ihrem Ursprung im alten Griechenland zieht.
Wir alle verharren dort, und vielleicht ist das gar kein so schlechter Platz. Ich bin der festen Uberzeugung, daß diese beiden Visionen zusammengehalten werden können und daß auch im heutigen Amerika genügend soziale und moralische Vorstellungskraft verfügbar ist, um die richtige Balance und Symbiose zwischen beiden
zu erhalten.
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Und in der Tat, Toni Morrison und andere bringen uns genau
diesen, uns moralisch ermächtigenden Geistesakt nahe, der in der Gegenwart so lebendig ist. Die Passage über Baby Suggs erste
Erfahrung mit der Freiheit, die ich genommen habe, um eine
Bedeutung der Autonomie in ihrer ganzen Kraft darzustellen,
repräsentiert nicht die gesamte Botschaft aus Menschenkind. Baby Suggs Schwiegertochter Sethe wird auf der Flucht vor ihrem Besitzer von ihrem Ehemann Halle getrennt, und beide müssen unglaubliche Qualen erleiden. Halle muß beobachten, wie seine Frau vergewaltigt wird, während er sich versteckt und nicht wagt, sich zu bewegen. Sethe, zum Zeitpunkt ihrer Flucht schwanger, gebiert das Kind auf dem Weg in die Freiheit nach Ohio, während der Wehen hilft ihr ein kleines weißes Mädchen, das sie nie zuvor gesehen hat. Sie erreicht mit dem neugeborenen Mädchen den Fluß
und kann sich schließlich mit Baby Suggs und ihren anderen Kindern, die vorausgeschickt worden waren, wiedervereinen.
Halle wird gefangen und getötet, aber das erfährt Sethe erst Jahre später. Selbst in Ohio lebt die Familie in Angst. Als eine Gruppe Männer
aus dem Süden kommt, auf der Jagd nach entlaufenen Sklaven, versteckt sich Sethe mit ihren Kindern. Als sie glaubt, sie würde
entdeckt und in die Sklaverei zurückgeschickt, tötet Sethe in
völliger Panik und Angst ihre jüngste Tochter, damit diese nicht versklavt aufwachsen muß. Die örtliche Obrigkeit erlaubt den Jägern nicht, die Familie mitzunehmen. Sethe wird offiziell für ihr Vergehen freigesprochen. Einige Jahre später, als ihre Söhne erwachsen und fort sind, Baby
Suggs ist gestorben, wird Sethe von einem seltsamen jungen Mäd-
chen besucht, das Menschenkind heißt. Sie zieht in das Haus ein
und beeinflußt die Familie auf merkwürdige Weise. Menschenkind
ist eigentlich der Geist des getöteten Mädchens, und er verfolgt Sethe, indem er Sethe Schritt für Schritt von ihren anderen zwischenmenschlichen Kontakten entfernt - von ihrer Tochter Denver, von Paul D, einem früheren Sklaven von der Sweet Home Plantage, der gekommen ist, um zu helfen, und von den Freunden in der schwarzen Gemeinschaft der kleinen Stadt in Ohio. Langsam zieht der Geist Sethe aus der menschlichen Welt und zu ihrem eigenen, hungrigen Ich, das Sethe genauso mächtig unterdrückt und versklavt wie früher, nur auf eine andere Art. In einer Hinsicht ist Menschenkind die Geschichte der zweiten
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Flucht und der zweiten Emanzipation Sethes. Beinah siegt der Geist, als er versucht, den Geliebten Paul D und Denver zu ver-
treiben. Die Geschichten der Heimsuchung Sethes entfremden sie nachhaltig von ihren ängstlichen Nachbarn und Freunden. In einer dramatischen Szene versammelt sich die Gemeinschaft vor dem Haus, um Sethe zu drängen, sich von Menschenkind zu befreien und in die menschliche Welt zurückzukehren. Menschenkind wird zu einer Bedrohung, sie droht zu töten. Abermals trifft Sethe ihre Wahl, sie verläßt Menschenkind, um sich der Gemeinschaft der Lebenden anzuschließen. Menschenkind verschwindet. Aus der Perspektive des Geistes haben die Menschen, denen Sethe nachläuft, keine innere Struktur oder verbindende Kraft; sie sind nur eine Ansammlung vereinzelter Individuen, ein Haufen, ein Hügel. Aus der Erzählperspektive und schließlich auch aus Sethes
eigener, sind sie eine Gemeinschaft der Fürsorge und Liebe. Sie können füreinander sorgen, weil sie frei sind. Auch als sie Sklaven
waren, konnten sie natürlich einander helfen, sich umeinander
kümmern und all die universalen menschlichen Gefühle des Mit-
leids haben, der Sympathie, des Mitleids, der Zärtlichkeit und der Liebe. Aber sie konnten sich nicht in der strukturierten Aktivität der Fürsorge engagieren, als Gemeinschaft antworten, weil die aus Gesinnung, Gesetz und Peitsche geschmiedeten Ketten der Sklaverei sie der Umstände beraubt hatten, die notwendig sind, um ihre eigene Gemeinschaft zu bilden. Freiheit erst machte Gemeinschaft möglich. Aber sich umeinander kümmern, eine Person aus dem Stoff einer solchen Gemeinschaft zu sein, war, was ihrer Freiheit letztlich Sinn gab. Freiheit und Verpflichtung, Unabhängigkeit und Abhängigkeit, Rechte und Beschränkungen sind letztendlich keine Gegensätze. Das mit mehr als nur ihrem Geist zu lernen, mit ihrem ganzen Sein, ist der schwierige Weg, den Sethe zu gehen hat. Morrisons Beschreibung von Sethes erster Erfahrung mit der Freiheit ist ein aufschlußreicher Vergleich mit der Erfahrung von Baby Suggs. Sethe spricht mit Paul D, mit dem sie für ihre Verhältnisse ungewöhnlich offen über ihre Gefühle sprechen kann: »Ich habe es geschafft. Ich hab uns alle rausgekriegt. Auch ohne Halle. Es war das allererste, was ich in meinem Leben allein getan habe. Und allein entschieden. Und es ging gut, so wie es sollte. Wir waren hier. Alle meine Kinder und ich. Ich hab sie geboren, ich hab sie rausgeschafft, und das war kein Zufall. Das war ich. Natürlich hatte ich Hilfe, viel Hilfe, aber trotzdem - ich hab's getan; ich war die, die Los und Jetzt sagte. Ich diejenige, die
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aufpassen mußte. Ich diejenige, die ihren Verstand einsetzen mußte. Aber es war noch mehr als das. Es war eine Art Selbstsucht, die ich vorher nie gekannt hatte. Sie fühlte sich gut an. Gut und richtig. Ich war grois, Paul D,
und tief und weit, und wenn ich die Arme ausbreitete, paßten all meine
Kinder hinein. So weit war ich. Sieht aus, als hätt ich sie mehr geliebt, nachdem ich hierher kam. Vielleicht konnte ich sie in Kentucky auch nicht richtig lieben, weil es mir nicht zustand sie zu lieben. Aber als ich hierherkam, als ich vom Wagen sprang - da gab es auf der ganzen Welt niemand mehr, den ich hätt lieben können, wenn ich gewollt hätt. Weißt du, wie ich das meine?«12
Es ist interessant und sehr treffend, dals Morrison hier das Wort »Selbstsucht« gewählt hat und es, jedenfalls soweit ich es entdekken konnte, ohne auch nur den kleinsten Hinweis auf eine negative moralische Konnotation benutzt. Das ist nicht die Selbstsüchtig-
keit des Nehmens und des Habgierigen; es ist die Fähigkeit zu umarmen und einzubeziehen. Die normale Feld-, Wald- und Wiesen-Selbstsucht macht einen klein; diese Erfahrung der Freiheit
aber macht Sethe groß, so groß und weit wie Jesus Christus am Kreuz: »wenn ich die Arme ausbreitete, paßten all meine Kinder hinein.« Dies ist eine Freiheit, dem Menschen angemessen; eine Freiheit in Übereinstimmung mit den Grenzen, die die Natur uns auferlegt, und dem Potential, das sie der Kultur zur Erfüllung überläßt. Dies ist eine Freiheit, die unser soziales Sein ernst nimmt und unserem Wählen Wert verleiht, weil sie uns allererst Wählenswertes eröffnet. Dies ist, was die Kultur der Autonomie vergessen hat, woran sich aber der moralische common sense in Amerika und anderswo in seiner Vitalität noch immer erinnern kann. (Übersetzt von Iris Junker)
12 Morrison, Menschenkind (siehe Anm. 7), S. 223.
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Marcus Düwell Die Bedeutung ethischer Diskurse in einer wertepluralen Welt I. Situation Ethische Beratungen, ethische Diskurse und Ethik-Institutionen
finden zunehmend auch öffentliche Beachtung. Hintergrund für das gewachsene Interesse an ethischen Diskursen sind Veränderungen in den Gestaltungsmöglichkeiten des individuellen Lebens
wie auch des gesellschaftlichen Zusammenlebens, mit denen moralische Verunsicherungen verbunden sind.' Reflexionsbedarf erwächst jedoch nicht nur aus dem Gegenstand moralischer Beurteilungen. Auch die Maßstäbe, die den moralischen Urteilen zu-
grunde liegen, können als verbindliche Bezugsgrößen nicht
umstandslos vorausgesetzt werden. Strittig ist, welche Ansprüche die Mitglieder einer Gesellschaft legitimerweise aneinander richten können. Strittig ist ferner, ob für die Orientierung der Lebens-
führung allgemeine Verbindlichkeiten angenommen werden können. Zwar stellen weiterhin lebensweltlich geteilte Uberzeugun-
gen eine wichtige Grundlage für das Zusammenleben dar, jedoch
zeigen gerade die ethischen Auseinandersetzungen, daß diese Konsense nicht ausreichen, um praktisch-evaluative und morali-
sche Fragen, die bisweilen die Grundlagen des Zusammenlebens berühren und unser Selbstverständnis zentral betreffen, beantwor-
ten zu können.
Naheliegend wäre es, dem positiven Recht die Aufgabe der Regelung dieser Konflikte zu übertragen, denn zweifellos stellt die I Die folgenden Überlegungen sind im Zusammenhang meiner Arbeit als wissenschaftlicher Koordinator des Zentrums für Ethik in den Wissenschaften entstanden, das seit 1986 v.a. von Dietmar Mieth und Klaus Steigleder in Tübingen aufgebaut wurde. Sie stellen den Versuch dar, einige theoretische Hintergründe und Probleme dieser praktischen Ar-
beit zur Ethik in den Wissenschaften zu reflektieren. Sie verdanken sich einer langjährigen Auseinandersetzung im Diskussionskontext dieses Forschungszentrums. Daraus erklärt sich das Übergewicht an Literaturhinweisen auf Beiträge Tübinger Autoren.
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rechtliche Klärung eine unverzichtbare Regelungsform zum Austrag divergierender Verhaltenserwartungen dar. Das Recht ist jedoch einerseits nicht in der Lage bzw. bisweilen ungeeignet, alle moralisch strittigen Fragen zu regeln, andererseits sind die Verfahrensweisen des Rechts schon aus Gründen ihrer Funktionsfähigkeit auf eine zumindest grundsätzliche Ubereinstimmung mit den moralischen Überzeugungen der Bürger angewiesen. Zudem
wird im Bereich der Rechtssetzung in vielfältiger Weise auch
moralische Legitimation in Anspruch genommen. Insofern jedoch das Recht auf Moral zurückverweist, ist es auf eine vorgängige Verständigung über die Moral angewiesen. Obwohl das positive Recht in seiner Funktion alternativlos ist, kann es daher die Auseinandersetzung über moralisch strittige Fragen im ethischen Diskurs nicht ersetzen.
Strittige Verhaltenserwartungen entstehen vor dem Hintergrund von Differenzen in der Gestaltung der Lebenstührung. In einer pluralistischen Gesellschaft wird die Freiheit, sich für unterschiedliche Lebenskonzeptionen entscheiden zu können, positiv bewertet und als schützenswertes Gut angesehen. Aus dieser Wertentscheidung resultieren Fragen der Gerechtigkeit in der Verteilung von Ressourcen, welche eine Realisierung dieser unterschiedlichen
Lebenskonzeptionen erst gestatten. Die Verteilung wirtschaftlicher Güter und die Zugangsmöglichkeiten zu Ämtern und Erwerbsquellen sowie die soziale Absicherung vor Lebensrisiken beschäftigen Ethik, Sozialphilosophie und politische Philosophie verstärkt seit den 7oer Jahren. Die öffentliche Diskussion um die Moral und die akademische Diskussion in der Ethik wenden sich jedoch seit den achtziger Jahren verstärkt einem neuen Gegenstand zu: dem moralisch richtigen Umgang mit den Möglichkeiten von Wissenschaft und Technik. Wissenschaft und Technik sind als Gegenstand ethischer Reflexion in mehrfacher Hinsicht nicht selbstverständlich. Der wissenschaftliche Erkenntnisgewinn gilt traditionell nicht als ethisch bedenkenswert, sondern als Reflexionsgegenstand der theoretischen Philosophie. Darüber hinaus durchbrechen die wissenschafts, technik-, medizin- und umweltethischen Diskussionen Engführungen der ethischen Diskussion, insofern sie nicht vorrangig auf individuelles Handeln abzielen, sondern das Handeln in und die Gestaltung von Institutionen und Korporationen reflektieren.
Strukturen, Forschungsziele und Entwicklungen einzelner Wis-
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senschaften und ihre technischen Anwendungsmöglichkeiten beschäftigen die ethische Diskussion. Im Gegensatz zu älteren Auseinandersetzungen über die soziale Rolle der Wissenschaften diskutiert die Ethik nicht mehr die außergewöhnlichen Ereignisse
wissenschaftlicher Entdeckungen, sondern die Normalität der Wissenschaften und die Ausrichtung ganzer Forschungszweige.? Sie diskutiert nicht zweifelsfrei bedenkliche Entwicklungen, sondern ist gekennzeichnet von tiefer Verunsicherung darüber, wie diese Veränderungen moralisch zu beurteilen sind. Unstrittig ist
die eminente Bedeutung der Entwicklungen der Wissenschaften
für die Zukunftsgestaltung in ökonomischer, ökologischer und sozialer Hinsicht. Die Auswirkungen der mit neuen wissenschaft-
lichen Entwicklungen verbundenen Handlungsmöglichkeiten können die Lebensgestaltung der Menschen in bislang kaum ge-
kanntem Maß verändern und haben es bereits getan. Ein Gefühl
besonderer Beunruhigung erwächst daraus, daß die Folgen häufig kaum prognostizierbar sind. Mit diesen Veränderungen wird die
Reflexion auf den moralisch verantwortbaren Umgang mit diesen Möglichkeiten um so dringlicher.3
Die konkreten Themenfelder der Wissenschafts-, Technik- und 2 Eine Abgrenzung der Wissenschaftsethik von der ethischen Diskussion
stärker anwendungsbezogener Wissenschaften wird aufgrund der Ein-
bindung der Grundlagenforschung in die Entwicklung von Großtechnologien zunehmend weniger sinnvoll. Ich verstehe unter ›Ethik in den Wissenschaften‹ oder ›Wissenschaftsethik‹ daher die ethische Reflexion
auf die Entwicklung und die Folgen der Wissenschaften sowohl in bezug
auf ihre interne Forschungsentwicklung als auch auf ihre forschungsexternen Wirkungen.
3 Die ethische Re exion zum Umgang mit neuen Techniken ist auch für den schulischen Unterricht bedeutsam. Der Erwerb einer ethischen Reflexionsfähigkeit im Umgang mit neuen Techniken sollte als Bildungsgut aufgefaßt werden, das die Schule zu vermitteln hat. Der Er-
werb dieses Bildungsgutes kann im klassischen Fächerkanon nicht nur
einem Fach zugeordnet werden. Dennoch ist es sinnvoll, wenn diese
Reflexion im Ethikunterricht in besonderer Weise verankert wird. Zu dieser Thematik wird derzeit am Tübinger Zentrum für Ethik in den Wissenschaften ein Forschungsprojekt mit dem Titel »Schule - Ethik Technologie« (SET) durchgeführt. Vgl. dazu Julia Dietrich und Reiner Wimmer, »Schule Ethik Technologie« (SET) - ein interdisziplinäres Projekt am Zentrum für Ethik in den Wissenschaften der Universität Tübingen, in: Ethik und Unterricht, Nr. 3 (1997), S. 18f.
Umweltethik sind zu einem großen Teil aus den Veränderungen zu begreifen, die technische und wissenschaftliche Handlungsmöglichkeiten mit sich bringen. So werden derzeit in der Medizinethik in zunehmendem Maße Fragen diskutiert, die eine gesamtgesellschaftliche Lösung im Umgang mit neu auftretenden medizinischen Möglichkeiten im Auge haben. Im Zentrum der Diskussion steht nicht die moralische Bewertung konkreter, einzelner Situa-
tionen der medizinischen Praxis, sondern die Beurteilung der Entwicklung und des Einsatzes von Techniken, welche zukünttige Handlungsmöglichkeiten und die daraus erwachsenden potentiellen Konfliktsituationen weitgehend festlegen.
2. Beispiele ethischer Diskurse Der Zusammenhang zwischen den Entwicklungen in Wissenschaft und Technik und den moralischen Konfliktsituationen v.a. in der
Medizinethik kann an einigen Beispielen verdeutlicht werden.* Diese Themenwahl erfolgt nicht aus der Überzeugung, daß die Medizinethik der einzige Gegenstand ethischer Reflexion sein sollte, sondern aus der Annahme, daß auch die Medizinethik im umfassenderen Rahmen einer Wissenschafts- und Technikethik zu sehen sei. - Beispiel: Gen-Ethik. Die Erforschung des menschlichen Genoms und die Entwicklung von Techniken der Diagnose und Therapie genetischer ›Defekte‹ hat weitreichende Konsequenzen für die Identitikationsmöglichkeit von Krankheitsdispositionen, für unser Verständnis von Gesundheit und Krankheit,
für Entscheidungsmöglichkeit im Umgang mit diesen Dispositionen und für die daraus resultierenden Konfliktpotentiale.
Künstliche Befruchtung, Organ- und Hirngewebstransplantation hängen als reale moralische Probleme vollständig von den
technischen Möglichkeiten ab. Die Diskussionen um Hirntod und Sterbehilfe sind als moralische Probleme zwar nicht un4 Zu einem Überblick vgl. etwa Bettina Schöne-Seifert, »Medizinethik«, in: Julian Nida-Rümelin (Hg.), Angewandte Ethik. Die Bereichsethiken und ihre theoretische Fundierung, Stuttgart: Kröner 1996, S. 552-648.
5 Vgl. Elisabeth Hildt, Hirngewebstransplantationen - naturwissenschaftliche und medizinische Grundlagen, philosophische und ethische Aspekte am Beispiel von Morbus Parkinson, Berlin: Duncker und Humblot 1996.
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mittelbar als Konsequenz der technischen Entwicklung zu verstehen, hängen jedoch in ihrer Dringlichkeit und Dramatik von der Technikentwicklung ab. So ist kaum zu bestreiten, daß die technischen Möglichkeiten lebensverlängernder Maßnahmen
und der Organtransplantation den Hintergrund abgeben, vor dem auf die moralische Signifikanz verschiedener Phasen des Sterbeprozesses reflektiert wird. Die Behauptung, dais die Einführung des »Hirntod«-Kriteriums »das Resultat einer pragmatischen Entscheidung im Dienste des medizinischen Fortschritts
war«', ist aus der Einsicht in das Bestehen eines solchen Zusammenhanges jedoch nicht gedeckt. Die Fixierung der Diskussion um die Regelung der Organtransplantation auf das »Hirntod«-Kriterium hat zu einer vollständigen Verzerrung der Dis-
kussion geführt, insofern eine überflüssige und uneinsichtige Lagerbildung entstand. Der konkrete Diskussionsgegenstand war die Frage der rechtlichen Regelung und moralischen Beurteilung darüber, unter welchen Modalitäten es legitim sei, Organe zum Zwecke der Organtransplantation zu entnehmen. Die moralische Beurteilung der verschiedenen Regelungsmöglichkeiten hängt jedoch keineswegs allein mit der Akzeptanz des
»Hirntod«-Kriteriums unmittelbar zusammen. Mit der Annahme, daß mit dem Eintreten des Hirntodes eine moralisch signifikante Veränderung des moralischen Schutzstatus verbun-
den ist, ist noch nicht präjudiziert, ob eine (enge oder weite) Zustimmungs- oder Widerspruchslösung moralisch zu fordern sei. - Beispiel: Sterbehilfe. Auch die konkreten Diskussionen um die Sterbehilfe sind zu einem großen Teil von den medizinischen und technischen Möglichkeiten lebensverlängernder Maßnahmen mitbestimmt. Allerdings gibt es auch eine Reihe philo-
sophisch grundlegender Fragen danach, ob irgendeine Form
der Sterbehilfe überhaupt moralisch legitimierbar ist. Wird diese 6 Johannes Hoff und Jürgen in der Schmitten, »Kritik der ›Hirntod‹Konzeption. Plädoyer für ein menschenwürdiges Todeskriterium«, in: dies. (Hg.), Wann ist der Mensch tot? Organverpflanzung und Hirtodkriterium, Reinbek b. Hamburg: Rowohlt 1994, S. 153. 7 Vgl. Klaus Steigleder, »Die Unterscheidung zwischen dem ›Tod der Person‹ und dem ›Tod des Organismus‹ und ihre Relevanz für die Frage nach dem Tod eines Menschen«, in: Hoff und in der Schmitten, »Kritik der ›Hirntod‹-Konzeption« (siehe Anm. 6), S. 95-118.
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Frage bejaht, so ist die ethische Diskussion jedoch noch längst
nicht zu ihrem Abschluß gekommen. Wenn man sich etwa darauf verständigen kann, daß die freie Entscheidung der be-
troffenen Person zu achten ist, so sind Verfahren notwendig, die
sicherstellen, daß kein Mißbrauch in der Weise erfolgt, daß
indirekte (etwa ökonomische) Zwänge die Entscheidung beein-
flussen oder etwa Wertüberzeugungen anderer für einen Behandlungsabbruch ausschlaggebend sind.® Von der Möglichkeit,
ein Verfahren festzuschreiben, das Mißbrauchslücken zumindest im Rahmen rechtlich zulässiger Entscheidungsspielräume
minimiert, hängt ab, ob eine ethische Theorie, die von der Würde und Selbstbestimmung der Individuen her argumentiert,
eine bestimmte Regelung für legitim hält. Ein solches ›Mißbrauchsarguments ist zu unterscheiden vom ›Dammbruch-Argument oder dem › Argument der schiefen Ebenes. Während das Argument der schiefen Ebene die Zulässigkeit einer Regelung oder einer Technik davon abhängig macht, welche Wirkungen
sie für andere oder zukünftige Handlungsfelder haben wird, fragt das Mißbrauchsargument danach, ob es möglich ist, eine bestimmte Regelung aut den vorgesehenen Anwendungsbereich zu restringieren, ohne einen erwartbaren oder absehbaren Mißbrauch ebenfalls zu legitimieren?
8 Als Beispiel dafür, daß ein Plädoyer für die selbstbestimmte Entscheidung im Umgang mit Sterbehilfe von unterschwelligen und undurchschauten Wertannahmen über den Lebenswert von Menschen durchzogen ist, siehe Walter Jens und Hans Küng, Menschenwürdig Sterben. Ein Plädoyer für Selbstverantwortung, München: Hanser 1995. Zur Kritik vgl. die Rezension des Verfassers in: Universitas, sT.Jg., Juni 1996, Nr. 600, S. 619-621.
9 Die holländische Regelung sieht unter bestimmten Verfahrensvoraussetzungen eine Straffreiheit bei der Durchführung auch aktiver Sterbehilfe vor. Es gibt jedoch starke Hinweise darauf, daß diese Regelung keine geeigneten Schutzmaßnahmen gegen eine mißbräuchliche Ausdehnung vorsieht. Ten Have und Welie kommen auf der Grundlage
empirischer Untersuchungen zu dem Ergebnis, daß die »Behauptung,
daß Ärzte, die das Leben von Patienten ohne deren Bitte beenden, straffrei bleiben« nicht vollständig zu widerlegen sei: »Die jüngsten empirischen Daten beweisen das Gegenteil.« Vgl. Henk ten Have und Jos V.M. Welie, »Euthanasie - eine gängige medizinische Praxis? Zur Situation in den Niederlanden«, in: Zeitschrift für medizinische Ethik 39 (1993) S. 63-72, dort S. 71.
8I
Wenn sich die Ethik mit der moralischen Beurteilung neuer HandJungsfelder beschäftigt, so steht sie vor einem doppelten Erforder-
nis. Die angewandte Ethik muß zum einen, unbeschadet der Pluralität von Lebensformen, eine allgemein verbindliche Beurtei-
lungsgrundlage ausweisen können. Daher finden in der angewandten Ethik klassische Themen der Moralphilosophie und der politischen Philosophie ihren Niederschlag. Z.B. sind Fragen nach der Begründbarkeit moralischer Forderungen, dem
Verhältnis von individuellen moralischen Uberzeugungen und den
verbindlichen Handlungsorientierungen gesellschaftlicher und staatlicher Institutionen auch für die angewandte Ethik von Bedeutung. In den Ausweis dieser Beurteilungsgrundlage können dann auch Fragen aus anderen Bereichen der Philosophie Eingang finden (etwa Rechtsphilosophie, Wissenschaftstheorie, Anthropologie, Naturphilosophie oder Asthetik), jedoch stets in moralphilosophischer Interpretation.
Eine genaue Beschreibung der einschlägigen Handlungssituatio-
nen, um zu erfassen, auf welcher Ebene moralische Probleme
angesiedelt sein können, ist stets notwendig. Mögliche Ebenen sind etwa die (divergierende) Wahrnehmung von Handlungssituationen (z.B. aus der Perspektive von Wissenschaftlern der ver-
schiedenen Disziplinen oder betroffenen »Laien«), die Bestim-
mung von Handlungsalternativen oder die Bestimmung von mög-
lichen Mitteln zur Erreichung von Zielen. In zahlreichen Fällen beruhen Divergenzen auf unterschiedlicher Wahrnehmung objektiver Tatsachen und auf unterschiedlichen Konzepten vom Menschen, von der Natur und der Welt. Ein Streitpunkt kann jedoch auch auf Differenzen in der Wahl von Präferenzen oder auf moralisch-normativen Differenzen im engeren Sinne beruhen. Kontroverse moralische Beurteilungen können auf diesen verschiedenen Ebenen lokalisiert sein. Nicht jede moralische Auseinandersetzung berührt moralische Grundüberzeugungen. Daraus folgt jedoch nicht, daß moralische Auseinandersetzungen auf einen Streit um Fakten und technische Mittel reduziert werden können, sondern lediglich, daß der Gegenstand der Auseinandersetzung genau bestimmt werden muß. Auch eine moralisch-normative Beurteilung muß prüfen, ob technische Schwierigkeiten oder die
unvollständige Berücksichtigung von Handlungsalternativen in-
direkt auch moralisch bedeutsam sind. Diese Differenzierungsarbeit spielt besonders in der Umweltethik
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eine zentrale Rolle. In der Umweltethik gibt es zwar auch die Auseinandersetzungen um anthropo-, patho-, bio- oder ökozentrische Ausgangspunkte ethischer Argumentationen, 1º aber bedeutsamer scheint mir hier, den Status dieser Auseinandersetzun-
gen im Gesamt umweltethischer Diskussion zu sehen. In der Umweltethik gibt es zahlreiche Fragen, bei denen strittig ist, ob
überhaupt ein moralisches oder nur ein pragmatisch-technisches Problem vorliegt (etwa beim Einsatz von Techniken mit relevanten Auswirkungen auf Ökosysteme) oder Fragen, bei denen Beurtei-
lungsgrundlagen zwar weitgehend unstrittig sind (etwa die
Schutzwürdigkeit bestimmter Naturgebiete oder Ressourcen), aber die Konsequenzen für konkrete Handlungsoptionen nicht klar sind. Beide zuletzt genannten Dimensionen werden bisweilen als integrierter Bestandteil der Umweltethik ausgeblendet.
- Beispiel: IVF. Ein weiteres Beispiel für den Zusammenhang der
verschiedenen Ebenen ethischer Argumentation soll kurz erwähnt werden. Eine moralische Beurteilung der In-vitro-Fertilisation (IVF) mit anschließendem Embryotransfer (ET) ist unzureichend, wenn lediglich gefragt wird, ob die »Künstlichkeit«
der Befruchtung diese moralisch bedenklich erscheinen läßt. Eine komplexe moralische Beurteilung müßte das Spektrum der thematisierten Aspekte erweitern. Polemisch formuliert: Soll eine Technik mit einer Erfolgsrate von maximal 10-20%, die häufig bedeutende psychische Belastungen für die behandelten Frauen mit sich bringt, möglicherweise suchtähnliche Wirkungen hat und zu ihrer technischen Weiterentwicklung auf Embryonenforschung angewiesen ist, Paaren anempfohlen werden. Wenn ja, unter welchen Umständen und unter Zugrundelegung welcher Beratungsstandards." Die damit verbundenen 10 Vgl. die Sammelbände: Angelika Krebs (Hg.), Naturethik. Grundtexte der gegenwärtigen tier und ökoethischen Diskussion, Frankfurt am Main: Suhrkamp 1997; Dieter Birnbacher (Hg.), Okophilosophie, Stuttgart: Reclam 1997. II Vgl. Barbara Maier, »Ethische Wertvorstellungen zu assistierter Fort-
pflanzungshilfe und Reproduktionsmedizin im deutschsprachigen Raum«, in: Franz H. Fischl, Kinderwunsch. In Vitro Fertilisierung
und Assistierte Reproduktion - Neue Erkenntnisse und Therapiekonzepte. Möglichkeiten, Erfüllbarkeit und Machbarkeit in unserer Zeit,
Purkersdorf: Krause & Pachernegg GmbH Verlag für Medizin und Wirtschaft 1995, S. 15-27. Eine diskursethische Perspektive wird ent-
Probleme sind genau zu beschreiben. Es muß geklärt werden, welche Alternativen es gibt, und der Zusammenhang der verschiedenen Aspekte auf der Grundlage benannter und ausgewiesener Kriterien beurteilt werden. 12 Eine weitere Aufgabe der ethischen Diskussion wäre es, die Forschungsentwicklung und das Zusammenwirken der verschiedenen medizinischen Techniken stärker zu reflektieren. So ist unstrittig, daß eine Erhöhung der Erfolgsrate der In-Vitro-Fertilisation nur durch Forschung an menschlichen Embryonen möglich ist. Daraus kann nun versucht werden, eine moralische Legitimation der Embryonenforschung herzuleiten. Eine solche Argumentation würde die Existenz der Fortpflanzungstechniken und ihrer ungewickelt von ID. Schäfer, R. Baumann und M. Kettner, »Ethics and reproductive medicine«, in: Human Reproduction Update, Vol. 2, No. 5 (1996), S.447-456. 12 Es ist leicht erkennbar, welche Fülle von Teilaspekten hier einschlägig ist. Im Januar 1997 wurde versucht, auf der europäischen Tagung »IVF in the gos« eine Zusammenschau der verschiedenen Aspekte zu leisten.
Die Tagung war die erste Tagung des Europäischen Netzwerks zur biomedizinischen Ethik, das vom Tübinger Zentrum koordiniert wird. Die lagungsbeiträge wurden publiziert in: Elisabeth Hildt und Dietmar Mieth (Ed.), »In vitro Fertilization in the 8os. Towards medical, social and ethical evaluation«, Avebury, Cambridge 1998. Dabei wurde für mich deutlich, daß die ethische Diskussion die technikimmanenten und psychischen Probleme der IVF/ET noch weit stärker berücksich-
tigen sollte. Die Erfolgsraten der IVF/ET sind nicht nur denkbar
schlecht, sondern es ist auch der Versuch zahlreicher Reproduktionsmediziner festzustellen, das Problem dadurch zu verschleiern, daß nicht auf die für die Betroffenen relevanten Zahlen Bezug genommen wird, nämlich die Zahlen der erfolgreich durchgeführten Schwangerschaften (baby-take-home-rate), sondern andere statistisch erfaßbare
Größen. Vgl. den Beitrag von Urban Wiesing auf dem genannten Kongreß. Ferner: Ders., »Ethik, Erfolg und Ehrlichkeit. Zur Problematik der In-vitro-Fertilisation«, in: Ethik in der Medizin 1 (1986)
S. 66-82. Vgl. auch Dietmar Mieth, »Ethische Fragen der Fortptlan-
zungstechnologie«, in: Hans-Rudolf Tinneberg und Christoph Ottmar (Hg.), Moderne Fortpflanzungsmedizin. Grundlagen, IVE, ethische und juristische Aspekte, Stuttgart, New York: Thieme 1995, S. 10-20. Die
ethische Diskussion kann diese Aspekte jedoch nicht ausblenden und sich einfach auf die Frage beschränken, ob die medizinisch assistierte Herbeiführung einer Schwangerschaft moralisch grundsätzlich erlaubt sein soll.
lösten Probleme zur Legitimation eines anderen Forschungsgebietes nutzen. Eine solche Argumentation hätte zunächst zu zeigen, dals ein moralischer Anspruch darauf besteht, einen Kinderwunsch durch die entsprechenden technischen Möglichkeiten ertüllt zu bekommen, so daß diesem Recht eine Verpflichtung korrespondiert, die entsprechenden technischen Möglichkeiten
zu entwickeln. Bei technischen Entwicklungen dieser Relevanz
scheint mir eine solche Erwartung an den zu erbringenden Argumentationsaufwand nicht übertrieben zu sein. De facto wird jedoch häufig versucht, unter Ausblendung aller konkreten Schwierigkeiten dieser Technik zu argumentieren, daß man niemandem diese Technik vorenthalten könne, um dann auf diese Weise einen Anspruch auf Verbesserung der Technik durch Embryonenforschung zu erschleichen.13 Als ethische Argumentation ist das jedoch unzulänglich. Von besonderer Relevanz sind die Verbindungslinien der IVF zur genetischen Diagnostik. Die genetische Präimplantationsdiagnostik (PID) wird derzeit bereits in England, Dänemark und anderen Ländern praktiziert. Die Möglichkeit, nach der Befruchtung im Reagenzglas eine genetische Diagnostik durchzuführen um dann darüber zu entscheiden, ob ein Embryotransfer erfolgen soll oder nicht, kann einerseits die Möglichkeiten genetischer Selektion erheblich erhöhen, andererseits jedoch die Indikationen für den Zugang zur IVF entscheidend verändern. Nicht allein die Infertilität, sondern die Befürchtung genetischer Aberrationen begründet dann die Inanspruchnahme von IVF/ET.14 - Beispiel: Präimplantationsdiagnostik. Die PID gilt in Deutsch-
land aufgrund des Embryonenschutzgesetzes als unzulässig. 15
13 Vgl. Jean-Marie Thévoz, »Kommentar zum Entwurf einer BioethikKonvention des Europarates«, in: Bioethica Forum 17 (1995), S. 15-17.
I4 Einer der »Väter« der IVF, Robert Edwards, hat davon berichtet, daß
ein Zusammenhang zwischen der technischen Ermöglichung der Geburt eines Kindes und dem Ziel, für ein ›gesundess Kind Sorge zu tragen, bereits in den 7oer Jahren bei der Entwicklung der Technik eine entscheidende Rolle gespielt hat.
15 Vgl. Rolf Keller, Hans-Ludwig Günther und Peter Kaiser, Kommentar zum Embryonenschutzgesetz, Stuttgart u. a.: Kohlhammer 1992, S. 236.
Das Verbot der PID nötigt in der Binnenlogik des Gesetzes dazu, den Präembryo, der zum Zwecke der präimplantiven genetischen Diagnostik verbraucht wird, als individuellen Träger der Menschenwürde zu
Derzeit wird von einigen Medizinern eine Zulassung der PID angestrebt. Eine Zulassung hätte weitreichende Konsequenzen
nicht nur für die Möglichkeiten der Selektion, sondern auch tür
die Konstruktion des Embryonenschutzgesetzes. Ein Verbot der Embryonenforschung ließe sich in der gewählten Konstruktion bei Zulassung der PID wohl kaum aufrechterhalten. Zum einen, weil zumindest mit einigen Anwendungen der PID eine verbrauchende Nutzung einer vom Embryonenschutzgesetz als
früher Embryo interpretierten totipotenten Zelle zugelassen wird, zum anderen weil für die Verbesserungsmöglichkeiten von PID und IVF/ET Embryonenforschung notwendig voraus-
gesetzt werden muß. Nun kann man die Forschung an menschlichen Embryonen für legitim erachten, jedoch sollte diese Frage in einem offen geführten Diskurs zunächst geklärt werden. Weit weniger akzeptabel wäre es, durch eine Etablierung der entsprechenden Techniken eine Situation zu schaffen, in der die Zulas-
sung der Embryonenforschung als unabweisbar erscheint. Da-
bei ist zu beachten, daß mit dem Verweis darauf, daß der Prä-
embryo nicht als individueller Träger der Menschenwürde aufzufassen ist, noch keine zureichende Begründung der Legitimität der Präimplantationsdiagnostik und der Forschung an Embryonen geleistet ist. Die angeführten Detailfragen sollten die Komplexität des Problemzusammenhangs zumindest andeuten. Keiner der genannten
Aspekte muß für sich genommen ein moralisches Problem darstellen. Die Erfolgsrate der IVF/ET ist zunächst einfach ein technisches Problem. In einem komplexen moralischen Urteil jedoch können die technischen und sozialen Aspekte unter Zugrundelegung eines normativen Maßstabs eine relevante Rolle spielen. Erst
in der Zusammenschau dieser Aspekte wird eine umfassendere moralische Beurteilung möglich. interpretieren. Diese Interpretation ist rein juristisch nicht unumstrit-
ten. Zur biologischen Dimension dieser Frage vgl. Anne McLaren, »A note on ›totipotency‹«, in: Biomedical Etbics No. I, Vol. 2 (1997), S. 7f.
Vgl. auch: Marcus Düwell/Dietmar Mieth (Hg.), Ethik in der Humangenetik. Die neueren Entwicklungen der genetischen Frühdiagnostik aus ethischer Perspektive, Tübingen: Francke-Verlag 1998. Dies. (Hg.), Von der Prädiktiven zur Präventiven Medizin. Ethische Aspekte der Präimplantationsdiagnostik. Ethik in der Medizin, Bd. II, Supplement 1 (1999).
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3. Ethik in den Wissenschaften ein Forschungsprofil Das Vorgehen einer angewandten Ethik scheint sehr aufwendig und vielschichtig. Betrachtet man die Beschleunigungsdynamik wissenschaftlicher und technischer Entwicklungen, so scheint es unwahrscheinlich, daß irgendein ethischer Diskussionsprozeß dem gewachsen sein könnte. Nimmt man die Schwerfälligkeit von akademischen Institutionen hinzu und rechnet ferner mit der Möglichkeit von Diskussionsverzerrungen autgrund von strategischem Verhalten einzelner Diskursteilnehmer, so erscheint das Unternehmen einer angewandten Ethik aussichtslos. Da es jedoch zur rationalen Verständigung nur die Alternative eines ungebremsten Durchsetzens von Machtinteressen gibt, sollten die verschiedenen Möglichkeiten, ethische Diskurse durchzuführen, genauer geprütt werden. Die Fülle der für diese Diskussion relevanten Aspekte und Fachperspektiven kann leicht dazu führen, daß die ethische Fokussierung der Diskussion verlorengeht. So ist z. B. bei medizinischen Ethikkommissionen zu beobachten, daß in der Regel gar nicht der Anspruch erhoben wird, ihre Arbeit moralphilosophisch zu fundieren. Die Gefahr besteht dabei, daß moralische Fragen dann lediglich auf der Grundlage von ärztlichen Standesdeklarationen beurteilt werden. Bei einem solchen Vorgehen droht die Moral durch das Standesethos einer Berufsgruppe okkupiert zu werden, wofür es in bezug auf Fragen, die das Wohl des Patienten betreffen,
keine Legitimation gibt.16 In der Medizinethik muß daher zwischen der medizinischen Ethik und einem partikularen Standesethos unterschieden werden. Zahl-
reiche Fragen der Regelung des medizinischen Alltags können dadurch eine Klärung erfahren, daß auf übliche HandlungsregeJungen oder (teils kodifizierte) Wertüberzeugungen der medizinischen Profession zurückgegriffen wird. Das ärztliche Ethos wäre
zudem durch ein entsprechendes Ethos der Pflegekräfte zu erI6 Zur Konstruktion der medizinischen Ethik-Kommissionen vgl. Richard Toellner (Hg.), Die Ethik-Kommission in der Medizin: Problem-
geschichte, Aufgabenstellung, Arbeitsweise, Rechtsstellung und Organisationsformen medizinischer Ethik-Kommissionen, Stuttgart: Fischer 1990.
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gänzen. Das ärztliche Ethos ist zwar auch durch eine allgemeine
Ethik zu fundieren und z.B. durch das (häufig auch rechtlich
fixierte) Selbstbestimmungsrecht der Patienten begrenzt. Der Regelungsbereich des ärztlichen Ethos erstreckt sich vornehmlich auf den Alltag ärztlichen Handelns, und dieser sollte weitgehend von der Profession selbst geregelt werden. Das Standesethos rekurriert
auf Binnenüberzeugungen der Profession, die in ihrer Geltung auch auf diese Profession beschränkt sind, was bedeutet, daß sie für gesamtgesellschaftliche Regelungen moralisch strittiger Fragen weitgehend nicht maßstäblich sein können. Die medizinische Ethik hingegen behandelt Fragen, bei denen die moralische Beurteilung einzelner medizinischer Handlungstelder strittig ist. Bei diesen Fragen hat die medizinische Profession keine
besondere Beurteilungskompetenz, vielmehr sind die ganze Gesellschaft und staatliche Institutionen das Reflexionssubjekt, für welches die professionelle Ethik ausgeführte ethische Begründungsvorschläge zu erarbeiten hat. Die medizinische Ethik ist dabei - wie bereits gezeigt - vornehmlich mit jenen neuen Handlungsfeldern beschäftigt, die entweder aufgrund neuer technischer Möglichkeiten medizinischen Handelns erst einen Reflexionsbedarf hervorbringen oder alte medizinethische Fragen mit neuer Dringlichkeit aufwerfen. Parallele Unterscheidungen lassen sich auch für die anderen Felder ethischer Reflexion vornehmen. Für die Ethik in den Wissenschaften als Forschungsunternehmung sind m.E. zwei Voraussetzungen notwendig: die moralphilosophische Grundlegung eines ethischen Kognitivismus und eine interdisziplinäre Arbeitsweise. Ohne die theoretische Grundle-
gung der Moglichkeit ethischer Erkenntnis verhert die ange-
wandte Ethik ihren Forschungsgegenstand. Es muls wohl kaum eigens betont werden, daß die Notwendigkeit dieses Zusammenhanges nicht bereits die Möglichkeit des ethischen Kognitivismus begründet. - Ohne eine interdisziplinäre Arbeitsweise ist es kaum möglich, ethische Reflexion im Hinblick auf konkrete Praxistelder durchzuführen.' Eine Reihe von Ebenen und relevanten Unter17 Der Terminus ›Ethik in den Wissenschaften‹ betont die Notwendigkeit einer Ansiedlung der ethischen Reflexion zu wissenschaftsethischen Fragen in den Wissenschatten selbst, was bedeutet, dals es in besonderer Weise Autgabe der Wissenschaften ist, diese Ketlexion durchzutuhren, unbeschadet der Tatsache, daß die ethische Diskussion eine gesamtgesellschaftliche Aufgabe ist. Durch den Terminus wird die interdiszi-
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scheidungsgesichtspunkten sind bereits angedeutet worden. Die interdisziplinäre Arbeitsweise bedarf einer methodischen Reflexion darauf, in welcher Weise die Methoden und Forschungsergebnisse verschiedener wissenschaftlicher Disziplinen in einer komplexen ethischen Urteilsbildung zusammengeführt werden können. 18
In den bisherigen Überlegungen habe ich versucht, den ethischen
Diskussionsbedarf herauszustellen und die Vielschichtigkeit ethischer Urteilsbildung zu betonen. Uber die legitimen Erwartungen an ethische Reflexion besteht jedoch keineswegs Einigkeit. Das Meinungsspektrum reicht von hohen Erwartungen bezüglich der Orientierungsleistungen, die ethische Reflexion bieten soll, über
Skepsis an der Möglichkeit von Ethik überhaupt bis hin zu Ängsten, eine Institutionalisierung der Ethik könne die letzten morali-
schen Tabus brechen. In der öffentlichen Diskussion um die Moral
und im Versuch der Ethik, das moralisch Richtige argumentativ auszuweisen, scheinen mir ganz unterschiedliche Vorstellungen
unter dem Begriff »Ethik« versammelt zu sein. Im folgenden soll es darum gehen, verschiedene Leitbilder - ohne Anspruch
plinäre institutionelle und methodische Verankerung solcher Reflexion
betont: Diese interdisziplinäre Struktur bezieht sich sowohl auf das Subjekt der ethischen Reflexion als auch auf die Arbeitsweise. Es ist jedoch weder gemeint, daß ethische Reflexion ohne philosophischen Ausweis ihrer Fundamente allein Aufgabe der Einzelwissenschaften
sei, noch, daß die Ethik sich in philosophische Konsultation oder gelehrte Beratung der (natur-)wissenschaftlich Forschenden auflöst.
Ethik in den Wissenschaften ist eine Forschungsaufgabe. 18 Als Beispiel für Beiträge zu einer solchen interdisziplinären Arbeit sei auf folgende Publikationen verwiesen: Thomas von Schell, » Die Freisetzung gentechnisch veränderter Mikroorganismen. Ein Versuch interdisziplinärer Urteilsbildung«, Ethik in den Wissenschaften, Bd. 6, Tübingen: Attempto 1994; Albrecht Müller, Ethische Aspekte der Erzengung und Haltung transgener Nutztiere, Stuttgart: Enke 1995; Barbara Skorupinski, Gentechnisch veränderte Organismen für die biologische Schädlingsbekämpfung: eine ethische Bewertung, Stuttgart: Enke 1996.
Die Beiträge liefern Bausteine für eine moralische Beurteilung der
Gentechnik. Sie gehen von der konkreten Untersuchung der gentech-
nischen Forschung aus, indem die Realistik der anvisierten For-
schungsziele und der möglichen Alternativen untersucht wird, um aus einer Verbindung von Technikfolgenabschätzung und technikethi-
schen Überlegungen eine ethische Beurteilung vorzunehmen.
auf Vollständigkeit - kritisch zu diskutieren, an denen sich der
ethische Diskurs orientieren könnte. So kann der ethische Diskurs lediglich als ein etwas ausgeweiteter wissenschaftlicher Expertendiskurs ohne spezifisch normative Fragestellung (Modell 1), als Explikation und Transferleistung des lebensweltlichen Ethos (Mo-
dell 2), als philosophische Lebensberatung (Modell 3) oder als Prüfung konkurrierender normativer Ansprüche (Modell 4) aufgefaßt werden. Die einzelnen Modelle haben jeweils eine gewisse Berechtigung, es sollen jedoch auch ihre Grenzen aufgezeigt werden. Es sei im Vorgritf angemerkt, daß ich die rationale Begründung von Prinzipien, die einen Ausweis kategorisch gültiger moralischer Verpflichtungen ermöglichen, für möglich und notwendig erachte. Ethik oder Moralphilosophie verstehe ich im folgenden vornehmlich als Disziplin, welche den argumentativen Ausweis von moralischen Normen zu leisten hat. Allerdings ist das Ge-
samtfeld der ethischen Tätigkeit umfangreicher. Besonders die angewandte Ethik wird, um eine moralische Beurteilung konkreter Handlungstelder zu ermöglichen, eine Fülle von Perspektiven berücksichtigen müssen. Die Grundlegung einer normativen Ethik verschafft der ethischen Arbeit jedoch m. E. erst eine tragfähige Grundlage.19
9 Zur Terminologie sei nur das Folgende angemerkt: Man kann zwischen der moralischen Richtigkeit von Handlungen und dem Ausweis der Richtigkeit moralischer Urteile unterscheiden. Mit Steigleder kann man »den Gegenstand der Rechtfertigungsbemühungen ›Morak, die Ebene der Rechtfertigungsbemühungen selbst ›Ethik‹ nennen«. (Klaus Steigleder, Die Begründung des moralischen Sollens. Studien zur Möglichkeit einer normativen Ethik, Tübingen: Attempto 1992, S. 79) Dabei liegt in moralischen Vorschriften und lebensweltlich vorliegenden normativen Erwartungen bereits ein Geltungsanspruch vor, der allerdings zum Ausweis dieser Geltung auf die ethische Rechtfertigung angewiesen ist. Vgl. auch: Klaus Steigleder, Grundlegung der norma-
tiven Ethik. Der Ansatz von Alan Gewirth, Freiburg/München: Alber
1999.
90
3.1 Modell I: Die umfassende Expertise Wenn anerkannt ist, daß über die Handlungsorientierungen im Umgang mit neuen, durch Wissenschaft und Technik eröffneten Handlungsmöglichkeiten ein Reflexionsbedarf besteht, so kann man der Auffassung sein, dies sei nicht in erster Linie eine Her-
ausforderung an die Ethik, sondern eine Antrage an unterschied-
liche Zweige der Wissenschaften, handlungsrelevantes Wissen bereitzustellen. Eine solche Überlegung könnte von der Vorstellung geleitet sein: Wir wissen viel zuwenig, um einschätzen zu können, wie wir mit unseren Möglichkeiten umgehen wollen und sollen.
Entsprechend wäre dann die Bildung einer Expertenkultur zu fordern, die sich jedoch Enthaltsamkeit in normativen Fragen auterlegt. Eine idealtypische, von allen praktischen Schwierigkeiten abstrahierende Beschreibung einer solchen handlungsorientierten Ex-
pertenkultur könnte folgendermaßen aussehen: Die Sozialwissenschaften sind gefordert, zu ermitteln, wie gesellschaftliche Gruppen gewöhnlich entscheiden, welche Veränderungen von
Präferenzen zu beobachten sind, wie Institutionen in Entscheidungsprozessen verfahren und welche alternativen Entscheldungsprozesse denkbar und möglich sind. Sie beschreiben, welche
Handlungsspielräume der einzelne Forscher hat, welche Handlungsspielräume Standeskorporationen haben und welche bei staatlichen Institutionen liegen. Diese Beschreibung können sie mit alternativen Gestaltungsmöglichkeiten kontrastieren. Die Naturwissenschaften und die Techniktolgenabschätzung haben z. B. die komplexen Wirkungen, Nebenwirkungen und synergetischen Effekte von Natureingriffen in Szenarien zu ertassen, Alternativen zu beschreiben, Prognosen aufzustellen und die Grenzen des prognostischen Wissens herauszuarbeiten. Die Wirtschaftswissenschaften berechnen, welche ökonomischen Folgen die verschiedenen Handlungsoptionen haben. Die Aufzählung der relevanten
Aspekte ist damit sicherlich nicht erschöpft. Es ist weiterhin möglich, vor dem Hintergrund dieses Wissens verschiedene Optionen von Werthierarchien zu erarbeiten. Dieses Wissen über mögliche Beurteilungsaspekte wird dann in politische Entschei-
dungsprozesse hineingetragen, um fundierte Entscheidungen zu
ermöglichen. In gewissem Umfang geschieht dies schon seit lan-
9I
gem in Form von Anhörungen, Gutachten, Beratergruppen oder etwa durch die Vermittlungstätigkeit des Büros für Technikfolge-
nabschätzung beim Deutschen Bundestag. Gegen dieses Konzept werden jedoch demokratietheoretische Bedenken aufgrund der zunehmenden Bedeutsamkeit des Expertentums geltend gemacht. Eine Präjudizierung gesellschaftlicher Ent-
scheidungsprozesse ist häufig gegeben. Es ist kaum möglich, den
Experten auf die gutachterliche Tätigkeit zu beschränken, die
durch seine spezitische fachliche Kompetenz abgedeckt ist, zudem gehen in die Gewinnung handlungsrelevanten Wissens bereits in der Wahl der Beschreibungsparameter Wertungen ein. Der Gefahr der Expertokratie kann man jedoch, durch entsprechende Verfahrensregeln begegnen; undurchschaute Wertannahmen können im Prozeß wechselseitiger Kritik aufgedeckt werden. Eine im engeren
Sinne ethische Kompetenz wird dazu nicht benötigt.
Ein solches Verfahren der Berücksichtigung von handlungsrele-
vantem Wissen aus verschiedenen Fachperspektiven ist für eine komplexe Gesellschaft zweifellos unverzichtbar, um die verhan-
delten Probleme und möglichen Lösungen überhaupt verstehen zu können. Die angewandte Ethik muß die Ergebnisse einer solchen
Technikbeurteilung einbeziehen und moralisch beurteilen, wenn sie überhaupt verstehen will, was ihr Gegenstand ist.20
Die moralische Qualität einer auf diese Weise untersuchten neuen Handlungsmöglichkeit ist jedoch durch eine Expertenkultur im
dargestellten Sinne noch nicht bestimmt. Sie wäre es nur, soweit die
moralischen Beurteilungsgrundlagen unproblematisch und unstrittig sind. Sobald die moralisch-normative Beurteilung einer Handlungsmöglichkeit strittig wird, kann diese Expertenkultur nur noch der Dezision das Feld überlassen.
20 Dabei wurde bereits darauf hingewiesen, daß bei weitem nicht alle Probleme des gesellschaftlichen Umgangs mit neuen Handlungsfeldern
in den Kern moralischer Überzeugungen vorstoßen.
92
3.2 Modell 2: Ethik als Explikation lebensweltlich geteilter moralischer Uberzeugungen
Eine umfassende Beschäftigung mit Handlungskontexten, Handlungsmöglichkeiten und Handlungsoptionen ermöglicht erst ein Verständnis der Handlungssituation und der darin vorliegenden
(u.a. auch moralischen) Probleme. Ein Ergebnis der Untersu-
chung kann jedoch die Einsicht sein, dals der Untersuchungsgegenstand keine spezifisch ethische Reflexion erfordert, weil die moralische Beurteilung nicht strittig ist. Ein ethischer Reflexions-
bedarf ist allerdings nicht nur dann gegeben, wenn die moralischen Grundlagen berührt werden, sondern ebenso wenn die konkreten
Konsequenzen aus moralischen Prinzipien unklar sind. Bis zu
diesem Punkt der Uberlegungen betinden wir uns in jenem bereich der angewandten Ethik, in dem allererst das moralische Problem benannt und der Bedarf an grundlegender ethischer Re-
flexion erhoben wird.
Falls in der Diskussion um neue Handlungsfelder eine genuin
moralische Dimension strittig ist, so ist fraglich, auf welche Weise der ethische Diskurs geführt werden kann. Eine erste Möglichkeit, diesen Diskurs zu führen, besteht darin, auf Prinzipien mittlerer Reichweite zurückzugreifen, die in unterschiedlichen ethischen Konzeptionen vorzufinden sind, jedoch unterschiedlich begründet werden. Diese Prinzipien mittlerer Reichweite sind häufig in den moralischen Traditionen verankert, bisweilen tester Bestandteil des Standesethos und als moralische Überzeugungen in Selbstbindungen von Berutsgruppen oder in politischen Deklarationen
und Kodizes artikuliert. Solche Prinzipien sind im Sinne von Faustregeln häufig geeignet, moralische Alltagsprobleme zu regeln und auch für die politische Diskussion moralischer Probleme mag es häufig praktikabel sein, auf solche Prinzipien zurückzugreifen, da es Aufgabe der Politik ist, Kompromisse zu finden. Dieses Verfahren ist jedoch nicht nur für die Ethik unzureichend,
21 Man kann dabei etwa an die Verpflichtung für MedizinerInnen zur vollständigen Information über eine Diagnose, an die Rolle des intormed consent in Behandlungsentscheidungen denken. Ebenso jedoch auch an Prinzipien zur Beurteilung neuer Techniken wie Fehlerfreundlichkeit, Umwelt-, Gesundheits-, Friedens- und Sozialverträglichkeit.
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sondern bereits für die Praxis lebensweltlicher moralischer Diskurse, spätestens sobald die Frage geeigneter Realisierungswege für als richtig erkannte Ziele und geeigneter Regelungsformen konkreter Praxisfelder mitbedacht wird. Denn es ist wenig damit erreicht, wenn man sich etwa auf bestimmte Naturschutzziele
verständigen kann und bei der Frage ihrer Realisierung dann
das Problem entsteht, welche Einschränkung von Individualrech-
ten zur Realisierung dieser Ziele moralisch gefordert werden
kann. Spätestens dann treten jene Divergenzen erneut auf, die
in ethischen Theorien ausgetragen werden. Eine Verlagerung
theoretischer Divergenzen von der fundamentaleren auf die konkretere Ebene empfiehlt sich jedoch insofern nicht, als eine Klä-
rung theoretischer Divergenzen in bezug auf unübersichtliche Handlungszusammenhänge noch viel schwieriger ist als auf einer
abstrakteren Ebene. Die angewandte Ethik würde sich durch
Formelkompromisse ihrer Aufgabe entziehen und sich auf Dauer unglaubwürdig machen.22 Ein Streit über die moralischen Grundlagen liegt dann vor, wenn
strittig ist, ob in der Beurteilung von Handlungsoptionen bestimmte Optionen moralisch geboten sind oder nicht. Nun könnte versucht werden, strittige Beurteilungen durch Verweis auf tiefer-
liegende geteilte Uberzeugungen aufzulösen. Wenn Normen in bezug auf konkrete Handlungsoptionen strittig sind, kann man geteilte moralische Grundüberzeugungen suchen, die einen Kernbestand an moralischen Uberzeugungen abgeben, der durch genauere Explikation auch auf konkrete Handlungstelder bezogen werden kann. Man geht dabei bisweilen davon aus, daß es einen
Kern an nicht weiter begründungsfähigen und -bedürftigen mo-
ralischen Intuitionen gibt, eine letzte Bezugsgrundlage für moralische Beurteilungen. Damit wird unterstellt, daß eine Begründung
moralischer Forderungen jenseits der geteilten Überzeugungen nicht möglich ist. Häufig wird dabei die Konkretheit lebenswelt22 Auch wenn Prinzipien mittlerer Reichweite nicht von ethischen Begründungslasten entbinden, können sie doch eine pragmatische Relevanz für die Durchführbarkeit von Studien zur angewandten Ethik
besitzen, insofern in Forschungsbeiträgen zu konkreten Fragen der angewandten Ethik häufig eine Bearbeitung der philosophisch grundlegenden Fragen aus rein arbeitsökonomischen Gründen nicht leistbar ist.
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licher Überzeugungen der Abstraktheit von Prinzipienethiken entgegengehalten.23
Die geteilten Überzeugungen als Grundlage ethischer Beurteilungen zu wählen, gelingt zunächst soweit, wie dieser Konsens reicht. Für viele heftig umstrittene bioethische Fragen und für die moralischen Konflikte zwischen drastisch verschiedenen Kulturen ist ein
solcher Konsens jedoch nicht gegeben. Darüber hinaus gibt es moralisch relevante geteilte Überzeugungen in bezug auf ganz verschiedene Handlungsbereiche: geteilte Überzeugungen, die von der Annahme einer universalen Geltung von Menschenrechten über akzeptierte Standards des Sexualverhaltens bis hin zu anerkannten Umgangstormen reichen. Es bedarf eines Kriteriums, um jene moralischen Überzeugungen auszuweisen, auf die sich ein
moralisches Urteil zu Recht beziehen kann. Wie weit moralische
Dissense gehen können, kann man sich leicht vor Augen führen. Die Bedeutung der Menschenwürde ist z. B. ein interkultureller Streitpunkt. In bioethischen Fragen, etwa um die moralische Erlaubtheit der Sterbehilfe, sind die geteilten Uberzeugungen meist an ihre Grenzen gestoßen. In bezug auf Fragen, über die ethisch ein Streit entstanden ist, der sich auch nach genauerer Analyse nicht als
Streit um Fakten und Situationswahrnehmungen interpretieren läßt, sondern ein Streit um normative Fragen ist, ist es angesichts der faktischen Pluralität moralischer Überzeugungen nicht mehr möglich, Selbstverständlichkeit zu unterstellen. An der Grenze des Bereiches, der durch die Selbstverständlichkeit 23 Vgl. Christoph Demmerling, » Vernunft, Gefühl und moralische Praxis.
Überlegungen zur Kultur der praktischen Vernunft«, in: Christoph Demmerling, Gotttried Gabriel und Thomas Rentsch (Hg.), Vernunft und Lebenspraxis. Philosophische Studien zu den Bedingungen einer rationalen Kultur. Für Friedrich Kambartel, Frankfurt am Main: Suhr-
kamp 1995, S. 246-270. Zum Problem des Verhältnisses von Moralprinzipien zur konkreten Handlungssituation, auf die sich die angewandte Ethik bezieht, vgl. Wolfgang Wieland, Aporien der praktischen
Vernunft, Frankfurt am Main: Vittorio Klostermann 1989; Matthias Kettner, »Drei Dilemmata angewandter Ethik - Die Beiträge im Kontext«, in: Karl-Otto Apel und Matthias Kettner (Hg.), Zur Anwendung
der Diskursethik in Politik, Recht und Wissenschaft, Frankfurt am Main: Suhrkamp 1992, S. 9-28; Konrad Ott, »Strukturprobleme angewandter Ethik und Möglichkeiten ihrer Lösung«, in: ders., Vom Begründen zum Handeln. Aufsätze zur angewandten Ethik, Tübingen: Attempto 1996, S. 51-85.
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geteilter Überzeugungen abgedeckt ist, verbleibt für ein solches Vorgehen nur die Möglichkeit, Tabubereiche autzubauen oder es den politischen Krätteverhältnissen zu überlassen, welche Position sich durchsetzt. Die Bildung von Tabubereichen kann dann jedoch nur aufgrund paternalistischer Entscheidungen darüber erfolgen, was tabuisiert werden soll. Eine Ethik, die sich mit anspruchslosem Gestus darauf beschränkt, bestehende Überzeugungen zu explizieren, leistet - gewollt oder nicht. - eine Affirmation bestehender Verhältnisse und auch der darin vorliegenden Ungerechtigkeiten. Auch eine Ethik, die möglichst minimale Uberzeugungsbestände festschreibt, teilt diesen Gestus der Bescheidenheit, der gleichwohl, indem er die Möglichkeit moralischer Beurteilung auf die Schnittmenge geteilter Uber-
zeugungen restringiert, nicht nur dem moralischen Streit seinen
kognitiven Gehalt raubt, sondern zudem eine moralische Legiti-
mation für eine weitreichende Präjudizierung von bestimmten Handlungsoptionen leistet. Eine minimal restriktive Ethik bezieht
etwa im moralischen Streit um die Entwicklung neuer Techniken Partei, ohne diese moralische Option in ihrer moralischen Geltung
ausgewiesen zu haben. Denn durch die nicht-restriktive Option
werden die Wünsche derjenigen, die eine entsprechende techni-
sche Veränderung lebensweltlicher Handlungs- und Lebensräume anstreben, sanktioniert, ohne die Potentiale einer reflektierten
ethischen Prüfung der verschiedenen technischen Optionen zuvor genutzt zu haben. Solche moralische Bescheidenheit umgibt sich gerne mit einem liberalen Gestus, ohne ernsthaft zu reflektieren, welche Konsequenzen aus den technischen Veränderungen für die Möglichkeit der Einzelnen, Individualrechte in Anspruch zu nehmen und zu realisieren, erwachsen können.
Man kann die Schwierigkeiten der Pluralität von moralischen Überzeugungen dadurch aufzufangen versuchen, daß ein Kern von moralischen Überzeugungen ausgemacht wird, den alle Menschen teilen. Dieser Versuch ist zunächst einmal mit beträchtlichen Schwierigkeiten bei der empirischen Ertassung verbunden. Darüber hinaus ist jedoch fraglich, ob ein solches Kernethos material überhaupt noch gehaltvoll wäre. Aber selbst wenn dies der Fall wäre, besteht das Problem, dals mit einem solchen Kernethos das Bestehen von Übereinstimmungen lediglich konstatiert wird. Aus dem Vorhandensein von Überzeugungen folgt jedoch noch keine Handlungsverpflichtung.
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Im pluralen Spektrum der möglichen moralischen Überzeugungen
solche zu finden, die auch gültige moralische Verpflichtungen abgeben, setzt ein Prüfungskriterium voraus, das ausgewiesen werden muß. Der Anspruch, der mit diesen Überlegungen aufgestellt wird, ist hoch. Vertraute moralische Überzeugungen stehen auf dem Prüfstand. Aufgrund der Bedeutung der Moral für das Zusammenleben geht es hier um sehr viel. Man kann Zweifel
haben, ob unsere ethischen Diskurse den Anspruch erfüllen können, der ihnen daraus erwächst. Daher ist es nicht unberechtigt,
davor zu warnen, bestehende moralische Grenzziehungen leichtfertig zur Disposition zu stellen. Dauerhaft kann man sich einer
argumentativen Auseinandersetzung um die moralischen Grundlagen jedoch nur durch Tabuisierung und dogmatische Setzungen
entziehen. Diese sind im Kern fundamentalistisch, wobei eine fundamentalistische Fixierung moralischer Optionen und die Weigerung, sie der Argumentation auszusetzen, nicht nur in den traditionellen Formen eines religiösen oder ethnischen Fundamen-
talismus auftreten kann. Solche fundamentalistischen Optionen und dogmatischen Fixierungen sind jedoch als Garant zum Schutz von Menschenrechten wenig geeignet. Die kritischen Bemerkungen zum Rekurs auf lebensweltlich vorfindliche Moral ändert nichts an der Tatsache, dais es eine lebens-
weltliche Grundlage der Moral gibt, ohne die eine ethische Re-
flexion ihre Sinngrundlage verlieren würde. Zum einen ist es un-
sere leiblich-geschichtliche Existenz, die uns als Menschen
verletzbar macht und uns umgekehrt die Möglichkeit gibt, in unserem Handeln die Bedürftigkeit und Verletzbarkeit der anderen zu berücksichtigen. Erst aut dieser anthropologischen Grund-
lage sind moralische Regelungen und ethische Retlexionen überhaupt möglich und sinnvoll. Zum anderen jedoch gibt die Pluralität der vorfindlichen moralischen Überzeugungen erst den Grund dafür ab, warum nach Prinzipien richtigen Handelns gefragt wird.
Nur weil moralische Fragen strittig sind, besteht ein Bedarf an ethischer Reflexion. 24 Wenn man voraussetzt, daß ein Zusammenleben ohne einen Mindestkonsens an geteilten moralischen Überzeugungen nicht möglich ist, so scheint mir der theoretische Dezisionismus lebenspraktisch ebenfalls
ein Fundamentalismus zu sein, insofern der Dezisionist anderen Men-
schen Verhaltenserwartungen abverlangt, deren Berechtigung er nicht
ausweisen kann.
97
3.3 Modell 3: Ethik als Beratung zur gelingenden Lebensführung
Ist das Problem einer Pluralität moralischer Uberzeugungen als Problem anerkannt, das weder durch Rekurs auf geteilte Uberzeugungen noch durch die Herausarbeitung eines Kernbestandes
moralischer Überzeugungen beantwortet werden kann, so könnte man alternativ versuchen, in falschen oder unangemessenen Auf-
fassungen über die richtige Lebensführung den eigentlichen Grund für moralische Konflikte zu suchen. Aufgabe der Ethik wäre es dann, Aufklärung über die angemessene Form der Lebens-
führung zu bieten. Besonders in der Umweltethik wird häufig die Ansicht geäußert, daß durch eine Aufklärung über falsche Formen der Lebensführung bzw. durch einen Ausweis einer angemessenen Lebensführung eine Bescheidung bei der Erfüllung von Bedürfnissen und damit eine Entschärfung von ökologischen Konflikten
möglich sei.25 Ethik als Anleitung zu einer gelingenden Lebensführung kann von der Reichweite der Beratung her sehr umfassend auf das Gesamt der Lebensführung bezogen sein. Ein Vorzug einer solchen Beratung könnte zudem darin gesehen werden, daß
die Nähe der Beratung zur konkreten Lebenssituation der Menschen den Verpflichtungscharakter der Moral mit dem bereits vormoralischen Wollen des Menschen in der Weise vermittelt, daß der Graben zwischen dem Sein und dem Sollen nicht allzu tief wird. Scheinbar die anspruchsvollste Erwartung, welche an eine Ethik gerichtet werden kann, ist die Autgabe, in der Unsicherheit über die Lebenstührung umtassende Orientierung zu geben. Die Unsicherheit besteht zunächst darin, daß unter den unübersichtlichen Bedingungen der modernen Welt die Wege zu einer als gelungen erlebten Lebensführung unklar sind. In einer pluralistischen Ge-
seilschaft herrscht sogar Unsicherheit darüber, welche Lebensführung des Einzelnen und der Gemeinschaften überhaupt als gelun-
gen angesehen werden kann. Diese Frage ist kein völlig neues Problem der Moderne, sie hat jedoch durch die Ausweitung von Handlungsmöglichkeiten und gesellschaftlich akzeptierten Ver-
25 Vgl. Otfried Höffe, Moral als Preis der Moderne. Ein Versuch über
Wissenschaft, Technik und Umwelt, Frankfurt am Main: Suhrkamp 1993, S. 137ff.
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haltensweisen eine größere Bedeutsamkeit erhalten. Daher wird Beratung über gelingende Wege der Lebensführung nachgefragt. Eine philosophische Reflexion auf die unterschiedlichen Möglichkeiten der Lebensführung scheint mir ein sinnvolles Element der Gewinnung eines reflektierten kulturellen und individuellen Selbstverständnisses zu sein. Jedoch kann sie allenfalls ein Binnen-
element der Ethik sein. Sie kommt an ihre Grenzen, wenn die
Ethik sich mit normativen Dissensen beschäftigt, insofern es in der normativen Ethik nicht um das geht, was zu meiner gelungenen
Lebensführung notwendig ist, sondern darum, was als moralische
Verpflichtung anerkannt zu werden verdient.? Den Verpflich-
tungscharakter kann man jedoch aus der Reflexion auf die gelungene Lebensführung nicht gewinnen, wie zu zeigen sein wird. Eine Auffassung von Ethik als Beratung hinsichtlich der gelingenden Lebensführung steht in der Gefahr, die Ethik einerseits zu über-
fordern hinsichtlich ihrer konkreten Orientierungsmöglichkeit und andererseits ihren Verbindlichkeitsanspruch aufzugeben,
wenn eine solche ethische Beratung zugleich den Anspruch erhebt, auch die Klärung normativer Divergenzen leisten zu können, also die normative Ethik in die ethische Lebensberatung aufzulösen. Kann eine Beratung hinsichtlich des Gelingens der Lebensführung den Einzelnen überhaupt erreichen? Falls sie zu dieser Konkretion in der Lage wäre, wird jedoch fraglich, mit welchem Anspruch auf allgemeine Verbindlichkeit sie auftreten kann. Bedingungen gelingenden Lebens mögen benennbar sein, sie sind aber wohl nur im Sinne von Ausschlußbedingungen philosophisch ausweisbar?? 26 Ich verstehe Normativität hier im Sinne moralischer Normativität, ohne dies eigens kenntlich zu machen. Moralische Normen verdanken ihre Geltung weder einem Setzungsakt, wie etwa Rechtsnormen, noch handelt es sich bei ihnen lediglich um Üblichkeiten des Verhaltens, insofern mit ihnen ein die Konvention überschreitender Geltungsanspruch verbunden ist. Vgl. Ernst Tugendhat, Vorlesungen über Ethik,
Frankfurt am Main: Suhrkamp 1993, S. 47f.
27 Martin Seel hat versucht, allgemeine Bedingungen eines gelingenden und glückenden Lebens zu benennen. Er versteht diese Reflexion auf die Bedingungen und Implikationen des Glücks als vormoralische Reflexion. Ohne relative Sicherheit, relative Gesundheit und relative
Freiheit, so zeigt Seel, ist ein gutes Leben nicht zu führen, gleich welcher Vorstellung vom guten und gelingenden Leben man folgt. Martin Seel, Versuch über die Form des Glücks. Studien zur Ethik,
99
Ein grundsätzliches Problem einer Auffassung von Ethik als Beratung über die angemessene Lebensführung besteht darin, daß eine solche Ethik mit der besonderen Auszeichnung von einzelnen Lebensformen verbunden ist und somit nicht mehr eine Pluralität von Lebensformen anerkennen kann. Diese Schwierigkeit nötigt dazu, die Evaluation der angemessenen Lebensführung entweder auf recht allgemeine Gesichtspunkte zu beschränken, die für jede Lebensführung bedeutsam sind - wie Martin Seel dies versucht oder aber die ethischen Überlegungen auf konkrete Lebenstormen zu beziehen, jedoch lediglich eine kulturspezifische Geltung der ethischen Beurteilung anzunehmen. Die dritte Möglichkeit besteht darin, den Anspruch auf Anerkennung pluraler Lebenstormen aufzugeben. Mit der letzten Möglichkeit steht jedoch eine zentrale Errungenschaft der Moderne auf dem Spiel. Zwar ist jede Ethik in irgendeiner Weise restringierend (oder sie ist belanglos),
aber das zentrale Moment der Moral der Moderne besteht gerade darin, daß die Moral eine Verpflichtung zur Anerkennung diffe-
rierender Lebensformen impliziert. Eine Ethik der Beratung zu einer gelingenden Lebensführung steht
Frankfurt am Main: Suhrkamp 1995, S. 83 ff. Darüber hinaus kann er
überzeugend darlegen, daß einige notwendige Implikationen des Begritts eines »guten Lebens« anzunehmen sind, für deren Möglichkeiten
jede Konzeption des guten Lebens offen sein muß: Arbeit, Interaktion, Spiel und Betrachtung (ebd., S. 138ff.). Eine solche Benennung von minimalen Elementen guten Lebens schließt einige Elemente der Lebensführung aus. Erheblich weitgehender faßt Hans Krämer die Mög-
lichkeiten ethischer Beratung. Krämer versucht die Ethik aus einer Engführung in der Konzentration auf strikt normative Fragen herauszuführen und auf eine Beratung im Hinblick auf die gesamte Lebenspraxis zu öffnen. Diese Ethik versucht nicht nur moralische Verpflich-
tungen auszuweisen, sondern darüber hinaus für alle relevanten Aspekte der Lebensführung eine rationale Orientierung anzubieten.
Krämer entwirft daher eine ›Strebensethik‹, die einer »Sollensethik
korrespondiert und kontrastiert«. Hans Krämer, Integrative Ethik,
Frankfurt am Main: Suhrkamp 1992, S. 82. Die Verbindlichkeit der Strebensethik ist durchaus mehrdimensional zu denken. Während ei-
nige Aspekte der Strebensethik als Bedingung für jede Lebensform anzunehmen sind, beziehen andere Überlegungen ihre Verbindlichkeit
lediglich aus Verhaltenserwartungen, die gruppenspezifisch variieren oder nur auf spezifische Handlungssituationen oder Typen von Hand-
Jungssituationen bezogen sind (ebd., S. 127-212).
in der Gefahr, die Differenz zwischen moralischen Verpflichtungen auf der einen Seite und den Empfehlungen und Anratungen an eine kluge und dem individuellen Streben nach dem gelingenden Leben angemessene Lebensführung auf der anderen Seite zu nivellieren.28 Moralische Verpflichtungen erheben einen strikten
kategorischen Verbindlichkeitsanspruch, der seine Geltungs-
grundlage nicht in der Existenz rechtlicher Regelungen oder sozialer Konventionen hat. Sofern eine Ethik der Lebensberatung nun lediglich darüber aufklärt, wonach wir eigentlich streben, bleibt sie im vormoralischen Bereich, sofern sie jedoch auch die moralischen Verpflichtungen an ein über sich selbst aufgeklärtes Streben zurückbinden will, muß sie entweder einen eigens auszuweisenden Maßstab anführen, der für eine Grundlage zur Erkenntnis moralischer Verpflichtungen abgibt, oder sie gibt die Idee moralischer Verptlichtung aut und reduziert Moral aut eine Wert-
option."
Die relevanten Unterscheidungen finden sich bereits bei Kant. Kant unterscheidet zwischen kluger Mittelwahl, Anratungen zu
einer am individuellen Gelingen orientierten Lebensführung und
moralischen Verpflichtungen mit vorrangigem und uneinge28 Auf Seel trifft dies nicht zu. Er versucht zunächst, auf vormoralischer
Ebene eine ›Form des Glücks‹ durch Bestimmung der Bedingungen und Implikationen des guten Lebens auszumachen, die er in einem weiteren Argumentationsschritt als moralisch schützenswert auszuweisen versucht.
29 Die Gefahr, einer Nivellierung der Differenz zwischen dem Anspruch der Moral und Anratungen zu einer gelungenen Lebensführung scheint
mir auch bei Krämer vorzuliegen. Sie ist dann gegeben, wenn die
Verbindlichkeit der Moral in die Wertentscheidung einzelner oder bestimmter Gruppen zurückgenommen wird. Krämer betont zwar, daß die »kategorische Unbedingtheit und Verbindlichkeit der Moral« nicht in Frage gestellt werden soll (Krämer 1992, S. 252), behauptet jedoch, daß »die letzte Bewertung und Rangierung von Moral und Glück der Präferenzsouveranität und dem Ermessen der Einzelnen überlassen werden muß«. Es müsse »mit der Anerkennung von Autonomie und Pluralismus gerade moralisch auch die Höherbewertung des
guten Lebens als legitim hingenommen und toleriert werden« (ebd.,
S. 253). Damit wird jedoch sowohl der Verpflichtungscharakter der Moral als auch die Notwendigkeit, divergierende Lebensentwürfe anzuerkennen, als spezifisch moralischer Verbindlichkeitsanspruch, der eine Vorrangigkeit seiner Berücksichtigung impliziert, ausgehebelt.
IOI
schränktem Verbindlichkeitsstatus.30 Diese Unterscheidung scheint mir auch unabhängig von der spezifisch Kantischen Mo-
ralphilosophie von Bedeutung zu sein. Sie erlebt derzeit eine Renaissance etwa in der Rawls'schen Unterscheidung zwischen dem Guten und dem Rechten,'' die inzwischen auch von Habermas als Unterscheidung zwischen Fragen des guten Lebens und moralischen Fragen der Gerechtigkeit aufgegriffen wird. Diese Unterscheidung ist bedeutsam, um den unterschiedlichen Ver-
bindlichkeitsstatus praktischer Empfehlungen und Präskriptionen zu bestimmen. Wird die Unterscheidung vollzogen, so werden moralische Verpflichtungen zwar mit kategorischem Geltungsanspruch ausgestattet, sie stellen jedoch einen Raum des Handelns
und der Lebensführung unter moralischen Schutz, in dem die Frage nach dem Gelingen der eigenen Lebenstuhrung gestellt werden kann, und zwar in der legitimen Erwartung der Anerken-
nung der eigenen Wertentscheidungen, sotern diesen keine mora-
30 Immanuel Kant, »Grundlegung zur Metaphysik der Sitten«, in: ders.,
Werkausgabe, Band vII, Frankfurt am Main: Suhrkamp 1968, S. 40-44.
Kant unterscheidet entsprechend technische, pragmatische und mora-
lische Imperative. Unabhängig vom Kantischen Ansatz wäre anzumer-
ken, daß die genauere Bestimmung einer solchen moralischen Verpflichtung dabei auf ein ausgewiesenes Moralprinzip rekurriert, jedoch
im Ausweis konkreter moralischer Verpflichtungen zahlreiche Hand-
Jungsbedingungen, -kontexte und -alternativen einbeziehen muß. In komplexen Handlungssituationen kann daher im Einzelfall die Erkenntnismöglichkeit moralischer Verpflichtungen nur begrenzt möglich sein.
31 John Rawls, »Der Vorrang des Rechten und die Ideen des Guten«, in: ders., Die Idee des politischen Liberalismus, Frankfurt am Main: Suhr-
kamp 1994, S. 364-397.
32 Jürgen Habermas, »Vom pragmatischen, ethischen und moralischen Gebrauch der praktischen Vernunft«, in: ders., Erläuterungen zur Dis-
kursethik, Frankfurt am Main: Suhrkamp 1991, S. 100-118. Habermas
weist dieser Unterscheidung die Termini ›Moral und ›Ethik‹ zu. Während es der Moral um die Frage geht: Was soll ich tun?, geht es in der Ethik um die Fragen: Wer bin ich? Wer will ich sein? Wie möchte ich leben? (ebd., S. 103). Die Unterscheidung in der Sache wird mit diesen Termini jedoch insofern ungeschickt belegt, als ›Ethik‹ bei vielen Autoren die reflexive Prüfung der Moral bezeichnet, ein Verständnis, dem ich mich anschließe. Ich werde daher den Terminus ›Ethik des guten Lebenss vermeiden.
102
lischen Forderungen entgegenstehen. Die Unterscheidung zweier korrespondierender Dimensionen der praktischen Reflexion mus nicht gedacht werden im Sinne der Unabhängigkeit beider Dimensionen. So kann man moralische Beurteilungen als eine besondere Form der Evaluation von menschlicher Praxis mit einem besonderen Anspruch ansehen. Bei dieser Suche nach der gelungenen Lebensführung sind Empfehlungen und auch rationale Reflexionen möglich und sinnvoll. So kann versucht werden, die Angemessenheit von Partikularzielen im Hinblick auf weitergehende
Ziele der individuellen und kollektiven Lebensführung zu prüfen. Es können auch die langfristigen Zielsetzungen daraufhin untersucht werden, ob sie auf illusionären Voraussetzungen basieren und den biologischen, anthropologischen und sozialen Bedingungen der eigenen Existenz Rechnung tragen. 33
Für die individuelle Lebensführung sind ferner die kulturellen, gruppenspezifischen und individuellen Überzeugungen von der Sinnhaftigkeit der eigenen Existenz bedeutsam. Nicht in dem Sinne, daß ihnen der Status des faktisch oder rational Unhintergehbaren zukäme. Diese Uberzeugungen müssen in einer liberalen
Kultur thematisierbar und kritisierbar sein. Jedoch ist für den Einzelnen eine gelingende Lebensführung in der Regel nur dann möglich, wenn diese in Übereinstimmung mit diesen Überzeugungen oder in bewußter Abkehr von ihnen erfolgt. Sie sind für ihn nicht ignorierbar. Die Aufklärung und kritische Reflexion auf die
Ziele und Realisierungsmöglichkeiten der eigenen Lebenstührung sind jedoch auch insofern relevant, als moralische Konflikte in ihrer Genese von der Verfolgung divergierender Ziele abhängig sind. Eine kritische Prüfung der eigenen und gemeinsamen Lebensziele und ihrer Gelingensmöglichkeiten kann daher möglicherweise schon aut vormoralischer Ebene das Entstehen mora33 Vgl. Krämer, Integrative Ethik (siehe Anm. 27), v. a. S. 282-322; Seel, Versuch über die Form des Glücks (siehe Anm. 27). Aber auch: Reiner Wimmer, »Zur Eigenart moralischer Beurteilungen und ihrer anthro-
pologischen Begründung«, in: Jean-Pierre Wils (Hg.), Orientierung durch Ethik? Eine Zwischenbilanz, Paderborn u.a.: Schöning 1993, S. 149-167; sowie ders., »Anthropologische Ethik. Erkundungen in unübersichtlichem Gelände«, in: Christoph Demmerling, Gottfried
Gabriel und Thomas Rentsch (Hg.), Vernunft und Lebenspraxis,
Frankfurt am Main: Suhrkamp 1995, S. 215-245.
IO3
lischer Konflikte verhindern. Insofern ist die Reflexion über das Glück auch moralisch sehr bedeutsam. Die Klärung moralisch strittiger Fragen kann jedoch durch solche Überlegungen nicht ersetzt werden, sobald strittig ist, welche Verhaltenserwartungen wir im Sinne eines moralischen Anspruchs aneinander richten können. Denn diese normativen Fragen richten
sich nicht daraut, wie jemand oder wie abgegrenzte Gruppen leben wollen. Moralische Ansprüche zeichnen sich dabei dadurch aus, daß zum Beleg ihrer Berechtigung nicht auf soziale Üblichkeiten oder rechtliche Regelungen als letzte Geltungsgrundlage rekurriert werden kann. Die moralische Dimension ist mit der Frage nach der gelingenden Lebensführung weder zu identifizieren noch ein Teil derselben. Es mag zwar der Fall sein, daß mein Glück sehr eingeschränkt ist, wenn ich nicht Bedingungen achte, die auch moralisch geboten sind, z. B. werden Interaktionsmöglichkeiten sehr eingeschränkt, wenn diese nicht von einem gewissen Maß an Aufrichtigkeit getragen sind. Jedoch empfiehlt sich eine entspre-
chende Berücksichtigung unter Orientierung am Gelingen der
eigenen Lebenstührung nur so lange, wie dies dem eigenen Ziel wirklich förderlich ist.* Insofern kann weder davon ausgegangen
werden, daß die Moral das Gelingen und Glücken des Lebens
garantiert, noch stößt man bei der Thematisierung der Bedingun-
gen gelingender Lebensführung notwendig aut die Moral. Denn der besondere Charakter moralischer Forderungen besteht darin,
daß ihr Anspruch auch dann eine Befolgung verlangt, wenn dieses
nicht dem Gelingen des eigenen Lebens dient. Jedoch ist die Reflexion auf die eigene Lebensführung und das eigene Selbstverständnis auf eine Auseinandersetzung mit der Moral angewiesen. Die Frage danach, was für ein Mensch ich sein will, impliziert
die Auseinandersetzung damit, wie ich moralische Ansprüche in meine Lebensführung einbeziehen kann und will. 35
34 Vgl. Tugendhat, Vorlesungen über Ethik (siehe Anm. 26), S. 278; Seel, Versuch über die Form des Glücks (siehe Anm. 27), S. 206-215. 35 Diese Frage wird allerdings hinfällig, wenn man die Frage nach der Möglichkeit zur Erkenntnis des moralisch Richtigen negativ beantwor-
tet.
I04
3.4 Modell 4: Ethik als Diskurs über die Berechtigung normativer Ansprüche Trotz der Bedeutsamkeit, die eine kritische Prüfung der eigenen
und kollektiven Vorstellungen von einem guten Leben für unser kulturelles Selbstverständnis hat, ist auf diesem Weg keine Grund-
lage für eine moralische Beurteilung zu gewinnen. Es scheint mir
daher notwendig, daß die Ethik Prinzipien richtigen Handelns unter Anerkennung der Pluralität von Lebenskonzeptionen ausweist. Dabei greift die Ethik den öffentlichen Streit um die Moral auf und leistet zu ihm einen spezifischen Argumentationsbeitrag.
Häufig wird die Befürchtung geäußert, auf diese Weise werde versucht, eine ethische Expertenherrschaft auszuüben. Dies wäre insofern bedenklich, als dadurch einer kleinen Zunft ein privilegierter Zugang zur Erkenntnis des moralisch Richtigen eingeräumt (oder von ihr angemalst) würde. Mit der Etablierung ethischer Expertenkommissionen und der
Beachtung ethischer Fachleute, von denen nicht nur erwartet
wird, daß sie die philosophischen Traditionsbestände archivieren und verwalten, sondern deren Außerungen für die politische Mernungsbildung direkt oder indirekt von Gewicht sind, könnte die öffentliche Auseinandersetzung durch das autoritative Wort des
Experten in Sachen Moral ausgehebelt werden. - Für den fakti-
schen Ablauf ethischer Diskurse hat diese Kritik leider einige Plausibilität. Zum einen fungieren moralische Empfehlungen der Ethik-Experten häufig eher als Diskussionsabschluß denn als Diskussionsbeitrag; auch rechtliche Entscheidungen werden dadurch häufig präjudiziert. Zum anderen werden ethische Diskurse häufig von Lobbyisten funktionalisiert.36 36 Wenn es um medizinethische Beratung geht, ist es z. B. nicht ersichtlich, warum Medizinerinnen und Mediziner dazu eine besondere Kompetenz besitzen. Zwar ist unstrittig, daß Medizinethik nur interdisziplinär
möglich ist, aber nicht einsichtig ist, warum in vielen einschlägigen
Beraterkommissionen ebenso wie in der zentralen Ethikkommission der Bundesärztekammer mehr als die Hälfte der Mitglieder der medi-
zinischen Profession angehören. Aus der Perspektive der medizinischen Zunft ist ein solcher Okkupationsversuch des medizinethischen Diskurses zwar nachvollziehbar, jedoch ist ein Binnendiskurs der medizinischen Profession noch keine Medizinethik, die für gesellschaft-
I05
In einer Gesellschaft, die moralische Urteile im Hinblick auf
komplexe Handlungssituationen treffen muß, sind politische Be-
ratungs- und Konsultationsmöglichkeiten in bezug auf ethische
Fragen dennoch unverzichtbar. Für solche Beratungsvorgänge ergeben sich zwei Erfordernisse. Zum einen muß die Beratung vor dem Hintergrund ethischer Forschungstätigkeit erfolgen, denn es ist nicht ersichtlich, wie eine Handvoll Philosophen, Theologen, Mediziner und Juristen ohne Rekurs auf ethische Forschung zu fundierten Urteilen über die moralische Qualität neuer Techniken kommen kann. Zum anderen muß dieser Beratungsvorgang in eine
öffentliche Diskussion und Meinungsbildung einbezogen sein.
Die Diskussion um die ›Menschenrechtskonvention zur Biomedizin‹ des Europarates (besser bekannt als ›Bioethik-Konvention‹)
hat gezeigt, welche Defizite hier bestehen. Man hatte den Eindruck, daß eine öffentliche Diskussion von den Verantwortlichen
nur widerwillig betrieben wurde? Auch der Entwurf einer
UNESCO-Deklaration über das menschliche Genom, an dem seit 1993 gearbeitet und das 1998 verabschiedet wurde, erfuhr nicht die erforderliche Auseinandersetzung. Im März 1997 hat die deutsche UNESCO-Kommission einen kleinen Expertenworkshop veranstaltet, aber die breite Diskussion bleibt bislang aus. 38
Selbst wenn die Funktionalisierung des ethischen Diskurses durch Lobbyisten nicht gegeben wäre, mülste gefragt werden, welche Bedeutung die Stellungnahme des ethischen Experten im demo-
kratischen Streit um das richtige Handeln haben kann. Für die Erkenntnis des moralisch Richtigen besitzt er kein Privileg. Da Erkenntnis in der Ethik sich nur durch Argumente ausweisen läßt, liche Lösungen im Umgang mit neuen medizinischen Möglichkeiten von allgemeiner Bedeutung sein könnte. 37 Das Papier, das durch Indiskretion im Sommer 1994 an die Öffentlichkeit kam, sollte bereits im Oktober 1994 von der parlamentarischen Versammlung des Europarates verabschiedet werden. Die öftentliche Auseinandersetzung war also nicht eingeplant. Zur Menschenrechts-
konvention vgl.: Marcus Düwell und Dietmar Mieth, »Einige kritische
Punkte der ›Konvention Menschenrechte und Biomedizin«, in: Universitas, 51.Jg., September 1996, Nr. 603, S. 843-847:
38 Vgl. Marcus Düwell und Dietmar Mieth, »Ethische Überlegungen zur UNESCO-Deklaration über das menschliche Genom und die Menschenrechte«, in: Ludger Honnefelder und Christian Streffer (Hg.), Jabrbuch für Wissenschaft und Ethik, Vol. 2 (1997), S. 329-348.
106
mul der Weg des Ausweises einer moralischen Forderung nachvollziehbar sein. Nur eine moralische Verpflichtung, von der die Einzelnen nachvollziehen können, warum sie als gültig angenommen werden sollte, kann für sie überhaupt als moralisch verpflich-
tend eingesehen werden.39 Ethische Experten haben bestenfalls eine höhere Kenntnis der Möglichkeiten ethischer Urteilsbildung.
Die Aufgabe von Ethikern ist es, ethische Beurteilungen in argumentativ nachvollziehbarer Weise zu präsentieren. Das kann lediglich ein Beitrag zu öffentlichen Entscheidungsprozessen sein. Dieser Beitrag ist unverzichtbar, insofern zumindest bei komplexen Fragen eine argumentative Prütung anders nicht gewonnen
werden kann. Aus dem öftentlichen Entscheidungsprozeß jedoch kann sich der Ethiker nicht herausziehen; er ist ein Teil dieses
Prozesses, nicht einmal sein Moderator. Dieses Rollenverständnis
folgt zwingend aus dem Charakter ethischer Argumentation. Ethische Reflexion hat, wie alle Reflexion, die Eigenschaft, allein durch argumentative Überzeugungskraft zu wirken. Auf die Findung des richtigen Arguments hat jedoch niemand ein Privileg. Moralphilosophische Kenntnisse und Erfahrungen in ethischer Urteilsbildung sind zwar zur Explikation ethischer Argumente notwendig, jedoch die für die Moral notwendige Möglichkeit der Einzelnen zur Einsicht in die Gültigkeit einer bestehenden moralischen Verpflichtung unterscheidet den ethischen Diskurs von anderen Diskursen. Die Erkenntnis in die Funktionsweise einer Technik kann ich an den Techniker delegieren, und die meisten Menschen tun dies, solange sie nicht den Eindruck haben, getäuscht zu werden. Die Existenz einer gültigen moralischen Verpflichtung muß ich
selbst eingesehen haben, damit ich sie für mich als verbindlich
ansehen kann. Wenn also der Ethik eine hohe Kompetenz in moralisch strittigen Fragen beigemessen wird, so kann nur gemeint
sein, daß zur Klärung moralisch strittiger Fragen eine bestimmte
Art von Argumenten tauglich ist, nämlich ethische, nicht jedoch,
daß eine bestimmte Profession dadurch Entscheidungsgewalt erhalten sollte. Die Ethik sollte diese Rolle anerkennen, was bedeutet, daß sie sich darauf beschränken sollte, ethische Urteilsbildung
argumentativ zu entfalten. Sie kann sich aus dem ethischen Diskurs 39 Das Bestehen einer moralischen Verpflichtung fällt jedoch nicht notwendig mit der individuellen Möglichkeit, diese zu erkennen, zusammen.
107
weder durch Beobachtung oder Beschreibung des Diskurses noch
durch organisatorische Randfunktionen herausziehen. Sie ist
selbst Teil des Diskurses und sie muß ihre Arbeit der öffentlichen Beurteilung aussetzen. Ein Plädoyer für den öffentlichen Diskurs zu ethischen Fragen setzt die Möglichkeit eines ethischen Kognitivismus voraus. Nur wenn durch den Streit der Argumente das richtige Handeln erkennbar ist, macht ein ethischer Diskurs überhaupt Sinn. Ein ethischer Dezisionismus hingegen könnte zwar reine Mehrheitsentscheidungen in moralischen Fragen als praktikabel erachten, müßte jedoch den argumentativen Streit um normative Dissense als ausweglos ansehen. Zudem ist selbst eine moralische Verbindlichkeit, Mehrheitsentscheidungen zu achten, für den Dezisioni-
sten nicht begründbar. Von den bisherigen Ausführungen her dürfte hinreichend deutlich geworden sein, daß die ethische Er-
kenntnismöglichkeit nicht auf irgendwelche Eliten eingeschränkt
sein kann. Ein Plädoyer für den ethischen Diskurs ist keines für die Diskurs-
ethik. Jede ethische Theorie versucht argumentativ das moralisch
Richtige zu ermitteln. Da zum guten Argument niemand eo ipso einen privilegierten Zugang besitzt, muß sich jede ethische Posi-
tion im Streit der Argumente bewähren. Die Diskursethik behaup-
tet nun darüber hinaus, im Verfahren des moralischen Argumentierens zugleich eine Grundlage zum Ausweis gültiger Handlungs-
normen zu finden. Es ist nicht möglich, an dieser Stelle auf die verschiedenen Varian-
ten der Diskursethik und die umfangreiche Diskussion einzugehen. Es ist jedoch fraglich, ob das Faktum der Zustimmung aller
Betroffenen unter Bedingungen realer Diskurse einen Ausweis der Gültigkeit von Handlungsnormen leisten kann, insofern schon die Bestimmung des Kreises der Betroffenen zu erheblichen Schwierigkeiten führt. Die bislang weithin fehlende Anwendung dieses
Vertahrens auf konkrete moralische Probleme könnte auf theorieimmanenten Schwierigkeiten beruhen.4 Dahinter steht m. E.
40 Der Versuch etwa von Konrad Ott, eine diskursethisch fundierte Umweltethik vorzustellen, weist das Problem auf, daß die Diskursethik lediglich als Rahmentheorie fungiert, innerhalb deren moralische Argumente diskutiert werden. Der spezifische Beitrag der Diskursethik zur Prüfung dieser Argumente ist jedoch nicht recht erkennbar. Konrad
I08
das Problem, daß die Diskursethik nicht angeben kann, auf der Basis welcher Gründe die Betroffenen ihre Zustimmung erteilen sollten. Durch die Annahme, nur die Norm sei als gültig anzusehen, der alle als Diskursteilnehmer zwanglos zustimmen könnten, wird noch nichts darüber gesagt, wie die Gründe beschaffen sein können und nach Maßgabe welcher Kriterien eine solche Zustimmung erfolgen kann. Die Diskursethik beschränkt sich darauf, ein Verfahren anzugeben, innerhalb dessen Diskursvorschläge geprüft werden. Man kann bezweifeln, ob das ausreicht, im Streit unterschiedlicher normativer Ansprüche Beurteilungskriterien zu finden.41
4. Gewirths moralischer Kognitivismus Es bedarf also eines Maßstabes, der es gestattet, moralische Verpflichtungen auszuweisen. Er dient zum Ausweis des Bestehens moralischer Verpflichtungen. Ohne einen solchen Maßstab ist es nicht einsehbar, auf welcher Grundlage man die moralische Qualität von Handlungsfolgen beurteilen sollte. Der überzeugendste Versuch, eine solche Begründungsleistung zu erbringen, scheint
mir im Ansatz von Alan Gewirth vorzuliegen, der von Klaus
Steigleder rekonstruiert und erweitert wurde 42 Gewirth und Steigleder versuchen moralische Rechte und darauf gründende moralische Verpflichtungen mit Hilfe eines obersten moralischen, mate-
rial gehaltvollen Prinzips auszuweisen, welches ein Kriterium abgibt, um unter konkurrierenden Kandidaten für moralische Verpflichtungen gültige erkennen zu können. Bei dem Ansatz von Gewirth handelt es sich um eine reflexiv vertahrende Gestalt der Moralbegründung. Der Ansatz setzt bei einer Reflexion aus der Perspektive des Handelnden an. VorausOtt, Ökologie und Ethik. Ein Versuch praktischer Philosophie, Tübingen: Attempto 1993. 41 Zur Kritik an der Diskursethik vgl. v.a. Albrecht Wellmer, »Zur Kritik der Diskursethik«, in: ders., Ethik und Dialog. Elemente des moralischen Urteils bei Kant und in der Diskursethik, Frankfurt am Main: Suhrkamp 1986, S. 5I-113. 42 Alan Gewirth, Reason and Morality, Chicago: The University of Chicago Press 1978; Steigleder, Grundlegung der normativen Ethik (siehe Anm. 19).
109
gesetzt wird, daß der Handelnde über Freiheit (i. S. der Fähigkeit,
zwischen Alternativen zu wählen) verfügt und in der Lage ist,
Ziele zu verfolgen. Freiheit und Intentionalität sind die Momente,
welche das Handeln auszeichnen. Es wird bei der Handlungsfähigkeit angesetzt, weil ohne die Voraussetzung der Handlungsfähigkeit moralische Forderungen und moralische Reflexionen gegenstandslos sind.43 Auf dieser Grundlage wird eine Sequenz
notwendiger Urteile vorgelegt, die der Handelnde vornehmen muls. Gewirth nennt dieses Vorgehen »dialectically necessary me-
thod«. 4, Dialektisch‹ sind diese Urteile, weil sie im Unterschied zu assertorischen Urteilen nur aus der Binnenperspektive des Han-
delnden vorgenommen werden. Dialektisch notwendige Urteile sind solche dialektischen Urteile, die der Handelnde nicht sinnvoll bestreiten kann. Gewirth zeichnet in einem reflexiven Begründungsgang eine Urteilssequenz nach, die auf ein oberstes moralisches Prinzip führt, das er als Principle of Generic Consistency (PGC) bezeichnet. 45 Die
Geltung des Prinzips hängt notwendig damit zusammen, was es heißt, ein Handlungsfähiger zu sein. Zentraler Gegenstand des PGC ist es, die Bedingungen der eigenen Handlungsfähigkeit sowie derjenigen aller anderen Handlungsfähigen zu achten. Das Prinzip
lautet: »Jeder Handelnde soll stets in Ubereinstimmung mit den konstitutiven Rechten der Empfänger seiner Handlungen wie auch seiner selbst handeln«4 Die Argumentationsfigur sei nur in sehr groben Zügen nachgezeichnet. In einem ersten Schritt wird gezeigt, daß das Handeln notwendig eine evaluative Struktur besitzt.47 Jeder Handelnde bewertet die
eigenen Handlungsziele positiv. Diese positive Evaluation der
eigenen Handlungsziele läßt den Aktor sein Handlungsziel als ein Gut betrachten. Mit der (aus seiner Sicht) unverzichtbaren
Anerkennung des Handlungszieles als einem Gut werden auch
die Mittel, welche zur Erreichung dieses Ziels notwendig sind, 43 Gewirth, Reason and Morality (siehe Anm. 42), S. 31-42; Steigleder, Grundlegung der normativen Ethik (siehe Anm. 19), S. 27-31. 44 Ebd., S. 42 ff. 45 Steigleder übersetzt es mit »Prinzip der konstitutiven Konsistenz«; Steigleder, Grundlegung der normativen Ethik (siehe Anm. 19), S. 113.
46 Ebd., S. 127. 47 Gewirth, Reason and Morality (siehe Anm. 42), S. 48-62; Steigleder, Grundlegung der normativen Ethik (siehe Anm. 19), S. 37-63. 110
positiv evaluiert. Gewirth unterscheidet allerdings mögliche von wirklichen Handlungszielen. Ein Wunsch wäre nur ein mögliches Handlungsziel, während ein wirkliches Handlungsziel tatsächlich
angestrebt wird. Nur von wirklichen Handlungszielen wird behauptet, daß notwendig auch eine positive Evaluierung der er-
forderlichen Mittel erfolgt. Während bestimmte Güter lediglich zur Realisierung einzelner Handlungsziele notwendig sind und mit der positiven Evaluierung der entsprechenden Ziele bejaht werden, gibt es Handlungsbedingungen, die nicht in dieser Weise nur an einzelne Handlungsziele gebunden sind. Die Handlungstähigkeit ist eine notwendige Voraussetzung jeden Handelns. Daher ist die Handlungsfähigkeit, im Sinne einer generellen und nicht situationsbezogenen Handlungs-
fähigkeit, ein notwendiges Gut für den Handelnden.48 Zu den konstitutiven Gütern (»generic goods«) zählen die eigene »Freiheit« und die »(weiteren) Fähigkeiten und Voraussetzungen für Zweckverfolgung überhaupt«,4 worunter Gewirth auch das ›well-
being zählt. Unter der Voraussetzung, daß diese Güter gefährdet sind, ergibt
sich aus der Perspektive des Handelnden, daß eine Einschränkung der konstitutiven Güter negativ bewertet wird. Diese Bewertung führt unter der weiteren Voraussetzung, daß andere die konstitutiven Güter der Handlungsfähigkeit beeinträchtigen können, zu der Annahme, daß der Handelnde einen Anspruch auf diese Güter hat. Diese Ansprüche sind nicht einfach Hypostasierungen irgend-
welcher Güter. Vielmehr werden damit jene Güter bezeichnet, die
ein Handelnder immer will, solange überhaupt vom Wollen eines Handelnden die Rede sein kann. Aufgrund der kontingenten Tatsache, daß andere Handlungsfähige die konstitutiven Güter einschränken können, erhalten diese Güter einen fremdadressierten Verpflichtungscharakter. Jedoch auch auf dieser Ebene verbleibt
die skizzierte Argumentationssequenz zunächst in der Perspektive des Handelnden. Der Übergang von einem dialektischen Urteil zu einem assertorischen Urteil ist nur deshalb möglich, weil es sich hier um ein dialektisch notwendiges Urteil handelt, und für dieses gilt: »Der Handelnde muß davon ausgehen, daß ihm die konstitutiven
48 Steigleder, Grundlegung der normativen Ethik (siehe Anm. 19), S. sI ff.
49 Ebd., S. 51. III
Rechte aus dem zureichenden Grund zukommen, daß er ein Han-
delnder ist, der Ziele hat, die er verfolgen will. «50 Eine Ausweitung
auf alle anderen Handlungsfähigen erfolgt allein aufgrund des
logischen Universalisierungsprinzips. Da das Zukommen der konstitutiven Rechte für den Handlungsfähigen nur darauf basiert, daß er Handlungsfähiger ist, ist er genötigt, diese Rechte auch allen anderen Handlungsfähigen zuzuerkennen.
Die Argumentationssequenz konnte nur in sehr groben Zügen angedeutet werden.51 Eine Reihe von wichtigen Unterscheidungen zur näheren Bestimmung dieser Rechte habe ich übergangen. Im
Hinblick auf die vorhergehenden Überlegungen sollte gezeigt werden, daß vor dem Hintergrund pluraler Lebens- und Wertorientierungen Rechte aufgewiesen werden können, die moralischen Verpflichtungscharakter besitzen und dennoch die Pluralität von Lebensorientierungen nicht ausschließen. Nicht jede Lebensführung ist moralisch legitim, jedoch zielt der Ausweis moralischer Rechte darauf ab, daß nur dann in einem moralisch legitimen Sinne von einem anderen eine Verhaltenseinschränkung moralisch gefordert werden kann, wenn ein solches Recht tangiert wird.
Das Principle of Generic Consistency weist nicht nur negative Pflichten im Sinne eines Verbots der Schädigung aus, sondern ebenso positive Pflichten. Der Schutz der notwendigen Güter ist vornehmlich auch eine Aufgabe für gesellschattliches und institutionelles Handeln. Das moralische Prinzip soll wesentlich einen Maßstab zur moralischen Beurteilung institutionellen Han-
delns abgeben. Damit sind Ansprüche verbunden auf einen
Rechtsschutz,53 der nicht nur einen Schutz vor direkten Bedro-
hungen impliziert, sondern auch die Gewährleistung des langfriso Klaus Steigleder, »Gewirth und die Begründung der normativen Ethik«, in: Zeitschrift für philosophische Forschung, Bd. 51, Heft 2 (1997), S. 265.
51 Zur Diskussion dieses Ansatzes vgl. auch: Deryck Beyleveld, The dialectical necessity of morality. An analysis and defense of Alan Gewirth's argument to the principle of generic consistency, Chicago, London: The University of Chicago Press 1991; Edward Regis jr. (Ed.), Gewirth's ethical rationalism. Critical essays with a reply by Alan Gewirth, Chicago, London: The University of Chicago Press 1984. 52 Vgl. Gewirth, Reason and Morality (siehe Anm. 42), S. 272-365; Steigleder, Grundlegung der normativen Ethik (siehe Anm. 19), S. 165 ff.
53 Zur rechtlichen Bedeutung des Ansatzes von Gewirth vgl. Deryck
II2
stigen Schutzes der konstitutiven Güter gebietet. Da die konstitutiven Güter die Bedingungen der Handlungsfähigkeit zum Gegenstand haben, ergeben sich daraus in besonderer Weise Forde-
rungen nach einem Schutz der natürlichen Lebensgrundlage, und der Ansatz eröffnet daher eine Möglichkeit, Umweltethik als so-
zialethische Forderung zu denken.54
5. Abschließende Bemerkungen In unseren Gesellschatten wird die Möglichkeit, sich zwanglos über gemeinsame Ziele zu verständigen, immer geringer. Eine stark
individualisierte Gesellschaft hat zunehmend weniger Möglichkeiten, das Spektrum an möglichen Lebensformen zwanglos zu beschränken. Daher werden zur Regulierung unvermeidlicher Kontlikte fundamentalistische Ausgrenzungen vorgenommen, einzelne Gruppen werden marginalisiert, und viele Lebensmöglichkeiten werden durch Beschneidung der finanziellen Grundlage ausgetrocknet. In einer solchen Situation besteht die Gefahr, daß Lebensformen, die einzelne Gruppen präferieren, dogmatisch durchgesetzt werden. Da die friedlichen Regelungsmöglichkeiten schwinden, mehren sich Versuche, der Öffentlichkeit das Recht zur Mitsprache an der Gestaltung der eigenen Zukunft schrittweise zu nehmen. Im wissenschaftlichen Bereich ist z. B. die Tendenz zu beobachten, daß die Wissenschaftler die Forschungsfreiheit als Bollwerk gegen den öftentlichen Diskurs einsetzen. Um eine friedliche Verständigung in bezug auf solche Konflikte überhaupt zu ermöglichen, scheint mir die rationale Prüfung von Ansprüchen, deren Befolgung moralisch geboten ist, unverzichtBeyleveld and Roger Brownsword, Law as a Moral Judgment, Sheffield: Sheffield Academic Press 1994. 54 In seinem Buch The Community of Rights, Chicago: The University of Chicago Press 1996, hat Gewirth ausgeführt, daß aus dem PGC nicht nur soziale Rechte im Sinne eines ›Right to Welfare‹ folgen, sondern ganz wesentlich auch das Recht auf Bedingungen, die eine Partizipation
an ökonomischen und politischen Entscheidungen ermöglichen, ebenso jedoch auf die Voraussetzungen, die den Handelnden die Mög-
lichkeit zur Selbstverwirklichung geben. Besonders die Bedeutung eines Rechts auf Bildung, um die Ziele der eigenen Selbstverwirklichung verfolgen zu können, ist von großer Bedeutung. II3
bar zu sein. In Fragen der moralischen Orientierung unserer
Lebensgestaltung nach verbindlichen Begründungen von HandJungsverpflichtungen zu suchen, ist ein Beitrag, die politische Verantwortung der ethischen Forschung wahrzunehmen. Ob die Institutionalisierung solcher Reflexion eine Chance erhält, ob sie von Partikularinteressen funktionalisiert wird oder schlicht untergeht, ist eine offene Frage.
II4
II. Ethik-Komitees und ihre Moral
Lene Koch, Henrik Zable Ethik für das Volk. Dänemarks Ethischer Rat und sein Ort in der Bürgergesellschaft!
Die Bioethik gewinnt immer mehr an Bedeutung für die gesetzliche Regulierung der biomedizinischen Entwicklung und für die öffentliche Debatte über diese Entwicklung. Die bioethische Diskussion ist jedoch keine politische Debatte, wie wir sie vor jeder
anderen Gesetzgebung oder anderen öffentlichen Maßnahmen normalerweise führen. Die Arbeit an der Entwicklung einer neuen Bioethik wird nicht primär von den Politikern ausgeführt, die sich
erwartungsgemäß für die gesetzliche Regulierung gesellschaftlich
wichtiger Bereiche interessieren, und dazu gehört ja zweifelsohne das Gesundheitsressort. Die Arbeit ist an Komitees delegiert oder von ihnen in Angriff genommen worden, und sie sind relativ unabhängig von der politischen Ebene tätig. In Dänemark ist
der Ethische Rat somit ein formaler institutioneller Rahmen um das öffentliche bioethische Denken in diesem Land. Nach einer kurzen Einführung in die Gründe für die neue Bedeu-
tung der Bioethik, was das Verhältnis der Gesellschaft zu der
insbesondere darauf eingehen, wie verschiedene Vorschläge für dessen Zusammensetzung verschiedenartige Ansichten von dem Verhältnis zwischen biomedizinischen Experten, Sachverständigen anderer Art und den Laien widerspiegeln. Von besonderer Bedeutung ist das Problem der Zusammenarbeit in einem Organ mit Mitgliedern, deren Voraussetzungen ganz unterschiedlich sind. Sollen sie Konsens anvisieren oder lieber mehrere verschiedene Anschauungen zu den vom Rat zu behandelnden Themen darlegen? 1 Wir bedanken uns bei Bjern Elmquist, Seren Holm, Klemens Kappel und Nina Schultz-Lorentzen für nützliche Kommentare.
117
1. Die Rolle der Ethik in Medizin, Politik und Gesellschaft Was ist der Hintergrund für das gesteigerte Interesse an der Bioethik und für die Institutionalisierung der Ethik, die sich auch durch die Gründung ethischer Kommissionen und Komitees bezeugt? Wir begnügen uns mit der Darstellung einiger wesentlicher Hintergrundsverhältnisse. Mit der medizintechnischen Entwicklung erheben sich immer wieder neue Fragen in bezug auf zukünftige Wege der Forschung und die klinische Anwendung ihrer Ergebnisse. Diese Anwendung schafft neue ethische Probleme und fordert manchmal die Überwindung traditionsgebundener Tabus. In zunehmendem Maße ist klar geworden, daß die medizinischen Berufsgruppen keine ausreichenden Voraussetzungen haben, all diejenigen Entscheidungen reflektiert herbeizuführen, die hier getroffen werden müssen. Zu-
dem findet ein Teil der Entwicklung außerhalb der medizinischen
Berufe statt, z.B. in der Molekularbiologie. Außerdem ist die
medizinische Wissenschaft sowohl intern wie auch extern vom allgemeinen Mißtrauen der Laien gegenüber den Experten betroffen. Andererseits liegen bioethische Probleme, zu denen Stellung
bezogen werden muß, außerhalb der politischen Sphäre, d. h. sie
fügen sich nicht ohne weiteres der Parteienkonkurrenz als der Grundlage des parlamentarisch organisierten politischen Prozesses. Sieht man einmal von den christlichen Parteien ab, betrachten sich die politischen Parteien in Dänemark nicht als Vertreter bestimmter ethischer Standpunkte. Die nicht-christlichen Parteien überlassen es deshalb oft ihren Mitgliedern, »frei« zu entscheiden
bei Abstimmungen über bioethische Fragestellungen. Damit erkennt die politische Partei oder ihre parlamentarische Gruppe im
Folketing, dem dänischen Parlament, durchaus an, daß die ethischen Fragen mit Hilfe des Parteiprogramms oder anderer Beschlüsse nicht beantwortet werden können. Schließlich melden sich auch noch die Klienten mit der Forderung, an der Gestaltung der für sie gültigen Behandlung mitbeteiligt zu sein; dies kann auf zweierlei Weise verwirklicht werden: Erstens durch die Forderung, als individuelle Klienten anerkannt zu werden, die die Einwilligung zu Behandlung und Versuchen geben müssen; zweitens dadurch, daß die Bürger im Hinblick auf diese Entwicklung Anspruch auf Einsichts-, Kontroll- und Mitwirkungsrechte erheben. I I 8
In ihrem Zugang sind die Bürger untereinander gespalten: Einige sind - oft organisiert in Patientenvereinen - Verbündete der medizinischen Experten, andere sind Außenstehende und oft kritisch»konservativ«.
Somit stellt sich die Institutionalisierung der Bioethik als eine Antwort auf das Bedürfnis dar, Entscheidungen innerhalb neuer Problembereiche zu fällen, mit denen wir bislang nicht konfrontiert waren. Sowohl Politiker wie auch Experten haben ein Interesse daran, gerade diese Institutionalisierung mit einer Laienvertretung durchzuführen. Dadurch wird die Ethik ein neues Forum,
eine »Regulierungsform« oder ein Diskurs, der außerhalb der Theorien und Methoden der Fachleute angesiedelt ist und auch
außerhalb der traditionellen Ausdrucksform der Politik in Gesetzen und allgemein bindenden Regeln liegt. Die Ethik appelliert an die Reflexion des Einzelnen, es werden Ideen zu fundamentalen Wertfragen entwickelt, und in der Bioethik entwickelt sich eine Sprache, in der grundlegende Fragen zu der biomedizinischen Entwicklung allererst gestellt und erörtert werden können. Daß man es für politisch relevant hält, einen institutionellen Rah-
men für die bioethische Diskussion zu schaffen, mag mit der Vorstellung verknüpft sein, daß sich das Ethische vom Parteipo-
Iitischen unterscheidet, daß Streit vermieden werden kann und ein gewisser Konsens zu erreichen ist. Jene Auffassung führt mit sich, daß der Ethische Rat seine Aufgabe entweder darin sieht, einen vorhandenen, aber bisher nicht formulierten moralischen Konsens zu artikulieren - d.h. eine konsens-explizierende Funktion; oder die Aufgabe besteht darin, einen Konsens zu entwickeln, wo bislang unterschiedliche Ansichten oder keine unstrittigen biomedi-
zinischen Ansichten vorhanden waren - d.h. eine konsens-konstruierende Funktion? Ob man durch die Institutionalisierung der Bioethik versuchen soll, Konsens auf dem Gebiet der Ethik zu erreichen oder eher die Kontroversen möglichst klar formulieren sollte, ist eine die Natur ethischer Dilemmata berührende Fragestellung, deren Lösung nicht in Sicht ist. Die genauere Beurteilung 2 Diese Begriffe werden eingeführt von Jonathan Moreno in Deciding Together, New York, 1995, S. 82. Moreno fügt hinzu, daß Ethikkomitees eine dritte Funktion zugewiesen worden ist, nämlich die Blitzableiterfunktion für ein öffentliches Problem, für dessen Handhabung der gewöhnliche politische Prozels nicht geeignet war.
II9
dieser verschiedenen diskursiven Strategien - Konsens oder Kon-
troverse - setzt jedoch eine kurze Darstellung voraus, wie das Gesetz zur Gründung des Ethischen Rats zustande kam, und insbesondere, welche Überlegungen zur Zusammensetzung des Rats angestellt worden sind.
2. Hintergrund und Aufgaben Die wenigsten westlichen Länder haben eine Institution wie den Ethische Rat etabliert, der 1987 in Dänemark per Gesetz gegründet wurde. Dies geschah nach einer langwierigen politischen Debatte. Die Partei der Linkssozialisten (dänisch: Venstresocialisterne) stellte am 4. 4. 1984 einen Antrag dahingehend, die Anwendungspraxis neuer medizinischer Reproduktionstechnologien zwei Jahre lang nicht zu erweitern, um Platz einzuräumen für eine Debatte
über »die ethischen Aspekte und davon ausgehend die Regeln naher testzulegen ...«? Am Tag danach konstituierte der Innenminister eine Arbeitsgruppe, die im Oktober desselben Jahres einen Bericht mit dem Titel »Der Preis des Fortschritts« (dänisch:
Fremskridtets pris) vorlegte. Der Auftrag des Ausschusses lautete,
»den Bedarf für eine Regulierung bzw. Gesetzgebung in den Be-
reichen Gentechnologie, Fortpflanzungmedizin und Embryonen-
3 In: Folketingstidende (Publikation, die im Referat die Verhandlungen im Folketing wiedergibt sowie andere Mitteilungen aus dem Parlament, entspricht der Bundestagsdrucksache. Anm. der Übersetzerin) 1983-84,
Tillag (Beiblatt) A, Sp. 3885. Während der ersten Behandlung am 7.5.1984 erwähnte Alice Faber von der Sozialistischen Volkspartei die Möglichkeit der Etablierung einer (festen) Kommission mit einer breiten
Mitgliederzusammensetzung, siehe Folketingstidende 1983-84, Sp. 5651. Der Vorschlag der Linkssozialisten wurde am 16. 10. 1984 wieder vorgebracht, siehe Folketingstidende 1984-85, Tillag A, Sp. 695, wenige Tage nach dem Erscheinen von Der Preis des Fortschritts (1984). Vorher hatte die Christliche Volkspartei (dänisch: Kristelig Folkeparti) einen Vorschlag zum Parlamentsbeschluß über Retortenbabies vorgetragen, siehe Folketingstidende 1980-81, Tillag A, Sp. 4963, ungefähr ein Jahr nachdem Bjorn Elmquist an den Gesundheitsminister die Frage bezuglich Retortenbehandlung gestellt hatte, siehe Folketingstidende 1979-80 (2), Sp. 3808. I20
untersuchungen zu beurteilen«* Der Ausschulß, bestehend aus Ärzten und Juristen sowie einem Pharmazeuten, bestätigte die Frage nach dem gesetzlichen Regulierungsbedarf und stellte die Existenz »eines Grenzgebiets« fest zwischen dem interkollegialen, ärztlich gesteuerten, forschungsethischen Komiteesystem und
der Uberwachung ärztlicher Arbeit durch die Gesundheitsbe-
hörde, deren Aufsicht keine ethische Beurteilung mit einbezieht. Die praktische Anwendung neuer Behandlungen, wie sie im Auftrag des Ausschusses erwähnt worden sind, war nicht geregelt, außer bei Forschungsversuchen. Der Ausschuß befand, diese Aufgabe könnte einer der bereits bestehenden Instanzen nicht anvertraut werden, und schlug deswegen die Gründung eines neuen Organs vor, eines Ethischen Rats. Es wurde festgelegt, daß der Rat nicht in Gebiete vordringen sollte, wo die Kompetenz der Ärzte begründet sei, er dürfe sich mit der klinischen Arbeit nur insofern beschäftigen, »wie diese wesentliche, allgemeine, ethische Probleme angeht«. Betont wurden somit Prinzipien wie »Unabhängigkeit, gleichmäßige Verteilung in der Zusammensetzung von fachlicher und nicht-tachlicher Kompetenz, Ausgeglichenheit mit vorhandenen Systemen, Möglichkeit zügiger Ergänzung und
Anpassung in der Praxis von Funktion und Kompetenz«? Im Endergebnis schlug der Ausschuß ein inhaltlich offenes Rahmengesetz vor. Nach einer intensiven Debatte in der Öffentlichkeit und im Folketing® trugen zunächst die Sozialdemokraten am 10.4. 1985' und
dann später der Innenminister am 28. 10. 1985 einen Gesetzesvor-
schlag vor über die Gründung eines Ethischen Rats im Hinblick
darauf, »sicherzustellen, daß ›die technische‹ Entwicklung unter Berücksichtigung der ethischen Grenzen geschieht, die die Gesell4 In: Der Preis des Fortschritts (siehe Anm. 3), S. I.
, Ebd., S. 88. 6 Ebd., 5.90. 7 Ebd., S.91. 8 Ein Bericht des Innenministers, der am 10. 4. 1985 im Folketing bespro-
chen wurde, beinhaltete einen Vorschlag zu einem Ethischen Rat, siehe Folketingstidende 1984-85, Sp. 7736, 8590.
9 Siehe Folketingstidende 1984-85, Tillag A, Sp. 4271, F 4271, wieder vorgelegt am 29. I1. 1985, siehe Folketingstidende 1985-86, Tilleg A, Sp.
2279 und F 3554 und am 11. 11. 1986, siehe Tillag A, Sp. 1487, F. 2763.
121
schaft erwartungsgemäß respektiert haben möchte«. 1° Diese Formulierung enthüllt gewissermaßen die Annahme, daß »die Gesellschaft« bestimmte Erwartungen über den Inhalt der Bioethik hegt,
und die Aufgabe wäre insofern eine explizite Darstellung jener Erwartungen. Demnach wäre die Zielsetzung »konsens-artikulierender« Art. In dem Gesetzesvorschlag wurde der Bedarf so beschrieben: Es fehlt »ein Organ, dessen Zweck allein darin besteht, systematisch die Entwicklung zu vertolgen und zu beurteilen, indem sowohl gesundheitsfachliche wie auch weitere, nichtmedizinische, besonders auch ethische Gesichtspunkte mit einbezogen werden. Dies ist der entscheidende Grund, aus dem vorgeschlagen werden soll, einen Ethischen Rat mit nicht-fachgebundenen und professionellen Mitgliedern ins Leben zu rufen« 11
Der Themenbereich wurde ähnlich wie in der Schrift »Preis des Fortschritts« definiert durch die Abgrenzung von den üblichen
forschungsethischen Komitees'?, die die ethische Kontrolle der Forschung am Menschen sichern sollten, und durch die Abgrenzung gegen die Gesundheitsbehörden, die z. B. die Verantwortung für vertretbare Prioritäten in den Aufwendungen für das Gesundheitswesen tragen. Ausgeklammert waren auch Autsicht und Beschwerdebehandlung, und das übriggebliebene Gebiet wurde in den Bemerkungen zum 1986er-Vorschlag wie folgt definiert: »Der Arbeitsschwerpunkt des Rats umtalst die Probleme prinzipieller Art, die mit einer Methode als solcher einhergehen, sei sie klinisch oder diagnostisch.«13 Weiterhin: »Die Kompetenz des Rats darf 10 Bemerkungen zum Gesetzesvorschlag des Innenministers, siehe Folketingstidende 1985-86, Tillag A, Sp. 2283. Der Gesetzesvorschlag wurde
wieder vorgelegt am 12. II. 1986, siehe Folketingstidende 1986-87, Tillag A., Sp. 1569. II Siehe Folketingstidende 198s-86, Tillag A, Sp. 2284.
12 Das wissenschaftsethische Komiteesystem war 1984 noch nicht gesetz-
lich geregelt. Ein System für die ethische Kontrolle ärztlicher, wissenschaftlicher Versuche mit Menschen entsprechend den Intentionen der
war operativ, bis die Regierung durch Gesetz Nr. 503 vom 24.6.1992 eine Regelung fand. 13 Siehe Folketingstidende 1985-86, Tillag A, Sp. 2289, unsere Hervorhebung.
I22
sich auf die ethischen Probleme erstrecken, die damit verknüpft sein können - oder daraus entstehen -, daß die Verwirklichung einer bestimmten Methode auf Grund der Mittelknappheit zu Einsparungen auf anderen Gebieten führt, jedoch soll der Rat vor allem die bestimmten Methoden als solche beurteilen bzw. dazu Stellung nehmen.«14 Daß dem Rat diese Kompetenz bezüglich Diagnostik und Behandlung zugewiesen worden ist, hängt mit »den fließenden Grenzen zwischen insbesondere klinischen Ver-
suchen und der Anwendung neuer Behandlungen und der Diagnostik«' zusammen. Es wurde argumentiert, daß sich z. B. Gentherapie und Embryonen-Diagnostik nicht im Kompetenzrahmen
des Rats befunden hatten, ware diese Bestimmung nicht eingetuhrt worden, und man hob hervor, dals medizinische Neuentwicklungen, die keinen Versuchscharakter hätten, einen ständig steigenden Bedarf an ethischen Bewertungen hervorrufen würden. Als weiteres sinnfälliges Beispiel wurde das Gebiet der Transplantations-
chirurgie erwähnt.
Im Hinblick auf die Funktionen des Rats mußten zwei Haupt-
bereiche abgedeckt werden: Teils eine beratende Funktion gegenüber öffentlichen Behörden, z. B. forschungsethischen Komitees, Gesundheitsbehörden oder anderen öffentlichen Behörden, beispielsweise in Verbindung mit der Registrierung von Auskünften über Erbkrankheiten, und in diesem Zusammenhang sei darüber hinaus ein Beitrag zur eigentlich gesetzesvorbereitenden Arbeit zu leisten. Teils sollte der Rat eine meinungsaustauschfördernde und aufklärerische Tätigkeit übernehmen. 16
Wie bereits erwähnt - siehe Anmerkung 9 - legte eine Gruppe sozialdemokratischer Folketingsmitglieder einen alternativen Vorschlag vor, als der Gesetzesvorschlag des Innenministeriums behandelt wurde. Sie schlugen vor, dem Rat eine breitere, aus der allgemeinen Bevölkerung entnommene Zusammensetzung (siehe
unten) zu geben, und daß der Rat dem Folketing untergeordnet 14 Ebd., Hervorhebung von uns.
15 Ebd.
16 Der Auftrag des Rats erweiterte sich am 25. 1. 1994 mit dem Folketingsbeschluß, alle neuen Methoden zur Behandlung der Kinderlosigkeit dem Ethischen Rat und Gesundheitsrat vorzulegen - eine weitere Einschränkung gegenüber der Kompetenz der Ärzte, nach interner medizinisch-fachlicher Beurteilung frei neue Behandlungen einzuführen, siehe Folketingstidende 1993-94, Sp- 5406, 5434. 123
und seine Sitzungen öffentlich sein sollten. Hervorgehoben wur-
den die aufklärerischen Verpflichtungen des Rats, indem dieser Vorschlag explizit empfahl, die Mitglieder nicht an eine Schweigepflicht zu binden. Dieser Vorschlag war von wesentlicher Bedeutung für das 1987 beschlossene Gesetz.
3. Die ethische Grundlage Weder in dem endgültig beschlossenen Gesetz noch in den beiden vorausgegangenen Gesetzesvorschlägen gibt es eine allgemeine Beschreibung der Ethik oder der ethischen Prinzipien, die der Tätigkeit des Rats zugrunde liegen sollten. Aber bei der Behandlung der Gesetzesvorschläge entstand eine Kontroverse. Die Christliche Volkspartei, die bei der politischen Ratifizierung der Gesetzesvorlage die Mehrheit der Regierung sicherstellte, hatte im Gesetzesvorschlag vom Jahre 1985 von vorn-
herein eine ausdrückliche Bestimmung im fi durchgesetzt, daß die Arbeit des Rats »auf der Voraussetzung zu basieren hat, daß das
menschliche Leben zum Zeitpunkt der Befruchtung beginnt«. Obwohl es eine nicht unbedeutsame parlamentarische wie auch gesellschaftliche Kritik an dieser Formulierung gab - vorrangig weil man fürchtete, sie könne den Anfang einer restriktiven Wende
gegenüber der Abtreibung bilden -, blieb die Formulierung so stehen. Rückblickend wird man sagen müssen, dals sie in der Realität ohne Auswirkungen blieb. An der Tatsache, daß sich das Gesetz über die ethische Grundlage ausschweigt, ist in den späteren Äußerungen des Rats nur in einem sehr begrenzten Umfang gerüttelt worden, denn der Rat sieht es offensichtlich nicht als seine Aufgabe an, die bioethischen Hauptgesichtspunkte vorzulegen bzw. zu deren Entwicklung beizutragen. Trotzdem spielen diese Anschauungen in verschiedener Art und Weise eine maßgebliche Rolle dafür, wie die Mitglieder des
Rats und andere Personen zu den bioethischen Fragen Stellung beziehen.! In den Ratsdebatten der vergangenen Jahre sind auch keine Versuche angestellt worden, eine Orientierung innerhalb der 17 Der Rat hat eine Übersetzung einer schwedischen Einführung zur Ethik herausgegeben, Etik - en introduktion (Ethik - eine Einführung), Kopenhagen 1995.
I24
moraltheoretischen Grundlagenreflexion zu schaffen. Einzelne Berichte versuchen allerdings die eher prinzipiellen Haltungen darzulegen, vor deren Hintergrund eine konkrete ethische Stel-
lungnahme abgegeben wurde. Ein Bericht über künstliche Befruchtung z. B. stellt eine Reihe ethischer Ausgangspunkte vor,
die verschiedenen Minder- und Mehrheiten in den Emptehlungen des Rats zu diesem Gegenstand zugrunde lagen (nämlich eine am Respekt personaler Autonomie orientierte, eine humanistisch-helferische, eine individuell-konsequentialistische und eine gesell-
schaftlich-konsequentialistische Perspektive sowie die religiöse der christlich-konservativen Partei.) 18
4. Die Zusammensetzung des Rats Die Debatte über die ›richtige‹ Zusammensetzung des Ethischen Rats spiegelt eine Reihe grundlegender Vorstellungen über Ethik und Sachkenntnis wider. Die Idee, einen Ethischen Rat zu gründen, wurde, wie erwähnt, zum ersten Mal in der programmatischen Schrift »Preis des Fortschritts« öffentlich gemacht, hier wurde
der Wunsch geäußert nach »einem Organ - einem Ethischen Rat -, der für die Allgemeinheit die Entwicklung begutachten, an einer öffentlichen Auseinandersetzung teilnehmen bzw. diese
vermitteln und Regeln festlegen kann«lº Im »Preis des Fortschritts« schlug man folgende Zusammensetzung vor: 6 Mitglieder,
benannt vom »Medizinwissenschaftlichen Forschungsrat«, 6 La1enmitglieder und ein Vorsitzender, vom Minister benannt, insge-
samt also 13 Mitglieder. Man hob die Unabhängigkeit des Rats von bereits existierenden Organen hervor und setzte fort: »Die Unabhängigkeit des Rats und dessen repräsentativer Charakter im Ver-
hältnis zur Allgemeinheit sollten ... durch dessen Zusammensetzung sichergestellt werden. Bestehen sollte der Rat aus einer gleichmäßig verteilten Vertretung fachlich hochqualifizierter Mitglieder und Laien, die kraft Einsicht, Tätigkeit und Interesse dafür bürgen, daß führende Gesichtspunkte ethischer und gesellschaftlicher Art
mit den entsprechenden fachlichen in ausgewogener Form in 18 Kunstig befrugtning. En redegerelse., d. h. Künstliche Befruchtung. Ein Bericht, Kopenhagen 1995. 19 In: Preis des Fortschritts (siehe Anm. 3), S. 89. 125
der Arbeit des Rats zum Tragen kommen. «20 Als Vorbild wurde auf
die Forschungsräte hingewiesen, zu denen (damals noch) auch Mitglieder benannt werden konnten, die keine Forscher waren.2]
Diese Aufteilung in Wissenschaftler und Laien sollte dauerhafte Spuren hinterlassen. Das Augenmerk wurde darauf gerichtet, daß 1) die wissenschaftlichen Mitglieder »Qualifikationen« haben und daß ihre Beiträge »fachlicher« Natur sind, während 2) die übrigen Mitglieder mit einigen ethischen und gesellschaftlichen »Gesichts-
punkten« arbeiten, die »führend« sind, d. h. vermutlich auffällige
Themen in der Gesellschaft und in öffentlichen Debatten darstellen. Aus dem Vorschlag zur Benennung der wissenschaftlichen
Mitglieder ging hervor, daß man sich unter Wissenschaft in diesem Zusammenhang nur die biomedizinischen Wissenschaften vorzustellen hatte.2 In dieser Art und Weise sollten die biomedizini-
schen Sachkenntnisse konfrontiert und »ins Gleichgewicht gebracht werden« mit ethischen Gesichtspunkten, die aus dem sozialen Leben der Gesellschaft hervorgehen.23 Der Bericht charakterisierte nicht die Ethik, die bereits für die
»fachlichen« biomedizinischen Sachkenntnisse vorausgesetzt ist -
d.h. die medizinische Berufsethik, die die Handlungsweise der Arzte und Forscher normativ ein Stück weit bestimmt. Die Fachkenntnisse oder vielleicht sogar die wissenschaftlichen Vorausset-
zungen, die unter den nicht-biomedizinischen Mitgliedern vor-
handen sein sollten, wurden freilich genausowenig erörtert. Wie erwähnt, arbeiteten die Politiker mit zwei Vorschlägen bei der weiteren Diskussion über die Gründung eines Ethischen Rats: der eine wurde von einer Reihe sozialdemokratischer Folketingsmit-
glieder vorgelegt, ein anderer vom Innenminister vorgetragen. Diese beiden parallel vorgelegten Gesetzesvorschläge unterschieden sich nicht zuletzt in den Regeln zur Zusammensetzung des Rats. Laut Vorschlag des Innenministers von 1985 sollte der Rat aus 13 20 Ebd., S. 90. 2I Die Mehrheit sollten jedoch Forscher sein, siehe Gesetz Nr. 199 vom
24.5-1972, 83. 22 Biomedizin umfaßt hier nicht nur ärztliche, sondern auch »andere biologische und pharmazeutische Expertise«, siehe Preis des Fortschritts (siehe Anm. 3), S. 98. 23 Alle Zitate in diesem Absatz sind dem Preis des Fortschritts (ebd., S. 90), entnommen.
126
Mitgliedern bestehen, 4 vom Minister ernannt, die, wie die anderen Laien, Einsicht in ethische, kulturelle und gesellschaftliche Fragestellungen haben sollten; 4 waren vom Medizinischen Forschungsrat zu benennen, 4 vom Zentralen Wissenschaftsethischen Komitee, und zwar von dessen Laienmitgliedern, und noch eine Person
vom Gesundheitsrat. Mit diesem Antrag wurde somit der Vorschlag konkretisiert, das Gleichgewicht zwischen biomedizinischen Mitgliedern und anderen zu wahren. Im Folketing hob
der Innenminister die Notwendigkeit hervor, sich gegen die »Forschung«, d.h. die biomedizinische Forschung zu wappnen: »Meiner Meinung nach ist es wichtig, sich darüber im klaren zu
sein, dais heute ausschließlich die Forschung die Entwicklung
bestimmt. «24
Aber das Gleichgewicht würde sich vielleicht schnell verschieben, war doch damit zu rechnen, daß der Forschungsrat biomedizinische Experten benennen würde. Und - darauf wurde während der Verhandlungen hingewiesen - auch die Laienmitglieder in den Komitees könnten berufsmäßig durchaus dem Gesundheitssektor
entstammen. Dem sozialdemokratischen Vorschlag nach sollte der Rat aus 17 Mitgliedern bestehen, darunter 8 mit Fachkenntnissen in »Psycho-
logie, Biologie, allgemeinärztlicher Praxis, medizinischer Forschung, Krankheits- und Gesundheitspflege, biomedizinischer Industrie, Sozialpädagogik, Philosophie, Ethik und Jura«. Weitere 8 Mitglieder sollten Kenntnisse auf dem Gebiet der breiteren Gesellschaftsdebatte und der Gesichtspunkte in den Adoptions-, Ju-
gend- und Frauenorganisationen haben. Der Vorsitzende sollte sich gemäß der Forderung nach Integrität und Unpartellichkeit verhalten.25 Alle sollten vom Minister berufen werden. In diesem Gesetzesvorschlag ist der Begriff von Sachkenntnis oder Expertenwissen nicht der Biomedizin vorbehalten, sondern derart erweitert worden, daß er auch »Sachkenntnisse« auf anderen Gebieten umtait, darunter geisteswissenschatliche und berufsbezo-
gene. Die Laienkomponente wird durch die Anknuptung an Adoptions-, Frauen- und Jugendorganisationen definiert. Dadurch wird die Laienrolle begrifflich mit den Interessenorganisationen, mit Parteilichkeit und Engagement verbunden. 24 Siehe Folketingstidende 1985-86, Sp. 3558. 25 Siehe Folketingstidende 1986-87, Tillag A, Sp. 1487.
I27
1985-86 kam es zu keinem Beschluß. Nach langwierigen Verhandlungen kam jedoch ein neuer Vorschlag vom Innenminister, in dem
weitere 4 Mitglieder zu den ursprünglichen 13 hinzugekommen
waren; jene vier Mitglieder sollte das Folketing benennen. In den
Bemerkungen wurde daraut hingewiesen, dals die Latenkomponente u. a. durch die Mitglieder der ersten Gruppe reprasentiert sel,
die der Minister benannt hatte, mit Kenntnissen über Ethik, Kultur und Gesellschaft, sowie auch durch die Mitglieder, die von den Wissenschaftskomitees und, wie jetzt neu hinzugetügt war, vom Folketing gewählt würden. Dieser Vorschlag sollte ein Entgegenkommen gegenüber der Oppositionskritik darstellen, ging aber nicht weit genug. Im Ausschuß einigte man sich darauf, die erste Gruppe - also die vom Minister benannte - zu erweitern, von vier auf acht, dafür sollte das Folketing die übrigen 9 Mitglieder wäh-
len.26 Wissenschaftsethische Komitees und Forschungsräte sollten
nun am Ernennungsverfahren nicht mehr teilnehmen. Die Aufteilung des Ministers in verschiedene Typen von Sachverständigen und Laien verschwand somit. Insbesondere soll an
dieser Stelle darauf hingewiesen werden, daß die Forderung nach der Präsenz biomedizinischer Sachverständiger im Rat zurückgezogen wurde. Ein Gleiches gilt für die Sicht der Sozialdemokraten im Hinblick auf unterschiedliche Typen der Sachkenntnis,
und das, obwohl das Gesetz erstaunlicherweise gerade forderte,
daß nicht-biomedizinische Sachverständige repräsentiert sein sollten. Das Gesetz gibt den ernennenden Instanzen weitgehend treie Hand. Vermutlich wurde der Kompromiß vor allem dadurch er-
zielt, daß Minister und Folketing die Ernennung der Ratsmit-
glieder sozusagen unter sich teilen.27 Das gültige Gesetz, beschlossen 1987, überläßt dem Minister die
Ernennung von 8 Mitgliedern, die den nicht-biomedizinischen Sachverstand oder entsprechende Einsichten zu vertreten haben,
während das Folketing bezüglich der übrigen 9 Mitglieder freie Hand hat: Dabei wird wohl erwartet, daß das Folketing eher Laien mit Wissen und Erfahrungen außerhalb der Biomedizin bevorzugt, allerdings muß gleichzeitig sichergestellt sein, daß die Experten26 Gutachten vom 14.5. 1987, Folketingstidende 1986-87, Tillag B, Sp.
1897.
27 Das Gesetz wurde zu einem Zeitpunkt verabschiedet, als eine »alternative Mehrheit« quer zur Regierung regierte.
128
kompetenzen, die der Minister in seinen Ernennungen nicht abdeckt, insbesondere die Biomedizin, vertreten sind. Die Rollen
sind quasi vertauscht: Der Minister wählt Laien aus, das Folketing die Experten.28
Was läßt sich am Werdegang dieses Gesetzes im Hinblick auf die operative Meinung zum Experten-Laien-Verhältnis ablesen? In dem Vorschlag des Innenministers und in der Programmschrift »Preis des Fortschritts« werden Sachkenntnis oder Sachverständige als biomedizinische Sachkenntnis bzw. Sachverständige definiert. Philosophen, Historiker, Juristen mögen durchaus Gelehrte
und vielleicht sogar Spezialisten innerhalb des Themenbereichs des Rats sein: »Experten« sind sie jedoch nicht. Sie sind - das ist die
Alternative - Laien. Die Ethik aber wird - als negativer Effekt
jener Grenzziehung - als etwas vom Biomedizinischen Abgetrenntes behandelt. Daß auch andere als Biomediziner Mitglieder
des Rats werden, soll gewährleisten, daß auch Ethik Teil der
Arbeitsgrundlage ist. Der Innenminister beschrieb dies in seinem Bericht an das Folketing am 21. 3. 1985: »... unter Laien verstehen wir Personen mit Erfahrung und Verständnis für gesellschaftliche Aufklärungsarbeit. Aber auch Theologen, Philosophen und andere, deren Wissen für uns im betreffenden Zusammenhang nützlich sein kann.«29 Der sozialdemokratische Vorschlag stellt die verschiedenen Fachgebiete einander gleich, die als relevant für den Rat erscheinen. Auch
Philosophen und Historiker haben »Sachkenntnisse« wie die Mediziner, natürlich auf einem anderen Gebiet. Jedoch unterscheiden sich die organisierten Interessen der Sachverständigen. Die Gesichtspunkte der organisierten Interessengruppen nehmen eine besondere Position ein. Die Sachverständigen vertreten nicht - und sind vielleicht auch davon nicht geprägt - Interessen, die mit Geschlecht, Alter, persönlichen Erfahrungen zusammenhängen. 30 In beiden Vorschlägen ist die Ethik etwas der medizinischen Sach-
kenntnis Externes. Ausgeblendet wurde, daß die medizinischen Sachkenntnisse selbst mit einem ethischen Standpunkt verwoben 28 Dies verläuft nicht immer harmonisch, siehe Folketingstidende 199192, Sp. 1151 und Sp. 1164, wo ein Vertreter einer kleinen (christlichen) Partei die Mehrheit kritisierte, sie würde sämtliche freien Plätze für sich in Anspruch nehmen. 29 Siehe Folketingstidende 1984-85, Sp. 7738. 30 Siehe den Vorschlag in Folketingstidende 1986-87, Tillag A, Sp. 1569.
129
sind, der zum Teil aus der medizinischen Berufsethik stammt. Und das, obwohl die Themen, die überwiegend im Ethischen Rat behandelt werden, mit medizinischer Technologie zu tun haben, (Behandlungen, diagnostische Techniken u.a.), welche aus dem Einsatz medizinisch-biologischer Forschungsmethoden und der Entwicklung entsprechender Behandlung herrührt. Die Erörterungen des Rats beziehen sich somit auf Projekte, wo medizinischbiologische Sachverständige bereits aktiv waren und sich engagiert haben. Insofern Ärzte an dieser Forschung und Entwicklung teilgenommen haben, darf man weiterhin annehmen, daß medizinisch-ethische Überlegungen, wie die Ärzte sie anstellen, in den Entwicklungszusammenhang einbezogen worden sind. Demnach ist oft bereits das Vorfeld durch medizinische Ethik mitbestimmt. Zwar müssen es keine Standpunkte sein, über die sich alle Arzte oder Medizin-Ethiker einigen können, denn auch in diesem Kreis gibt es verschiedene Meinungen. Oft geht eine intensive medizinisch-ethische Debatte voraus, z. B. in internationalen Zeitschriften, bevor ein Thema auf der öffentlichen ethischen Tagesordnung erscheint, die der Ethische Rat gleichsam zu verwalten hat. Häufig zeigt sich in der Tätigkeit des Rats, daß die medizinischen Sachverständigen die medizinisch-technologische Entwicklung betürworten, es sei denn, sie handeln auf einer besonderen ethischen (z.B. christlichen) Grundlage. Das liegt nicht daran, daß die medizinischen Sachverständigen keine Ethik besitzen. Der Grund ist vielmehr, daß diese Ethik die Anwendung der neuen Technologie in der Regel nur denjenigen Restriktionen unterwirft, die bezüglich der Möglichkeiten der Behandlung des einzelnen Patienten als verantwortbar und angemessen erscheinen. Hält man fest an der üblichen Unterscheidung in Sachkenntnis (bei den Medizinern) und Ethik (bei den Laien), so erscheint die Verteidigung eines Projekts seitens der Mediziner als sachlich, während Kritik von anderer Seite als unsachlich (obschon »ethisch«)
präjudiziert ist. Bei einigen mag oft ein gewisses Interesse bestehen, den Sachverhalt in dieses Licht zu rücken. Diese Auffassung ist jedoch falsch. Wie erwähnt, sieht man, daß Arzte, die die Themen z. B. vom christlichen Standpunkt aus beurteilen, manchmal zu anderen Ergebnissen als andere Arzte (mit ihren herkömmlichen Auffassungen) kommen; der ärztliche, von Sachkenntnissen unterstützte Standpunkt entsteht nicht nur aus medizinisch-biologischer Einsicht, losgerissen von Ethik, Gesellschafts- und Welt-
I30
bild des Einzelnen. Ob eine bestimmte Problemdiskussion die Erörterung zum Konsens führt - oder hinführen sollte - oder nicht, läßt sich im voraus nicht entscheiden, und dabei ist es gleichgültig, ob Experten, Laien oder beide Gruppen zusammen die Überlegungen anstellen.
5. Einfluß oder Legitimation Durch seine Zusammensetzung ist der Ethische Rat als ein Forum konstruiert, in dem professioneller Sachverstand und Ethik sich begegnen, und in der Praxis funktioniert er auch in dieser Weise, sei es auch, wie aufgezeigt, anders als erwartet. Die Leitidee ist, daß die medizinisch-technologische Entwicklung einer ethischen Wer-
tung unterworfen werden soll bzw. durch diese eine Korrektur erfahre. Die ethische Bewertung mag negativ ausfallen, und bereits
die Existenz einer Kontrollinstanz kann vorbeugend oder abschreckend wirken. Allerdings kann die Funktion des Rats auch als eine rein legitimatorische betrachtet werden. Oft wurde hervorgehoben, daß die öffentliche Debatte der bioethischen Fragen dies ist ja eben ein Hauptanliegen des Ethischen Rats - die Leute an die Aspekte der biomedizinischen Entwicklung gewöhnt, die ansonsten als unheimlich oder unnatürlich von vielen spontan abge-
lehnt werden würden. Der Einwand ist also, daß sich die Leute während der öffentlichen Auseinandersetzung und Information nach und nach den technologischen Realitäten anpassen und sie langsam akzeptieren, obwohl sie am Anfang Abscheu und Widerstand hervorriefen. Allein die Tatsache, daß Themen wie »Retor-
tenbabies«, Organtransplantation und Kriterien zur Auswahl der zu befruchtenden Eier überhaupt einer »rationalen Debatte« unterworfen werden, entfremdet jene Themen der spontanen, emotionalen Sphäre und beheimatet sie an einem Ort des (angeblich) wohlüberlegten, vernünftigen Diskurses. Was diskutiert werden kann, sind bereits vorhandene, nur selten zukünftige Technologien. Nichtsdestoweniger geht es dabei um kontroversielle Technologien, die selten einstimmig begeistert aufgenommen werden, weder im Rat noch in der Bevölkerung. Wie erwähnt, wurde im Rat auch schon überlegt, was zweckmä-
ßiger sei: Den Konsens zu suchen oder die Kontroversen der Öffentlichkeit offen vorzulegen. In solchen Überlegungen spieIZI
geln sich einige Unterschiede in den Strategien wider, die im
Zusammenhang mit der Institutionalisierung der Bioethik in anderen Ländern ebenfalls erörtert wurden. Das Wünschenswerte (so wurde gesagt) der Konsens-Linie, die an eine liberale politische
Grundauffassung anknüpft, nach der der Staat sich neutral ver-
halten soll, ist, daß sie es den Individuen selbst überläßt, ihr Leben in den vom Konsensverständnis abgesteckten Grenzen zu entfalten. Dieses Modell, das danach strebt, den Wunsch nach indivi-
dueller Autonomie und politischem Konsens zu vereinen, gerät indessen bei der Bioethik in unlösbare Probleme. Wie können wir beispielsweise den Zugang zur aktiven Euthanasie gesetzlich regeln, wenn es so viele verschiedene Auffassungen über ein lebenswertes Dasein gibt? Oder: Wie läßt sich die Ressourcenverschwen-
dung im Gesundheitssektor verringern, wenn es doch so viele unterschiedliche Auffassungen darüber gibt, was eigentlich als
»Verschwendung« gelten darf? Die Frage ist angesprochen worden, ob Ethikkomitees mit gesetzgebenden Versammlungen gleichgestellt werden können, wo es selbstverständlich Raum für unterschiedliche Auffassungen gibt, oder ob sie nicht vielmehr mit Lobbies und anderen Gruppierungen gleichzustellen sind, die an der Debatte beteiligt sind. Dem letzten Gedankengang schließt sich der amerikanische Bioethiker Jonathan Moreno an, wenn er die Meinung vertritt, die bioethischen Komitees seien in ihrer Funktion »... a party of the debate rather than the rubric under which the entire social conversation takes place«? Man kommt zu einer ähnlichen Schlulstolgerung,
richtet man das Hauptaugenmerk auf die fehlenden Durchsetzungsmöglichkeiten des Ethischen Rats in formaler, autoritativer Hinsicht; der Rat kann nicht wie eine staatliche oder richterliche Behörde einen verbindlichen Beschluß fassen oder durchsetzen, der Effekt der Tätigkeit des Rats ist abhängig von dessen Über-
zeugungsfähigkeit, und es wurde behauptet, diese Überzeugungskraft sei um so größer, je größer der Rückhalt im Rat sel, also am größten bei Konsens.
Die Ansicht Jonathan Morenos steht im Gegensatz zu der des amerikanischen Philosophen Jay Katz, der betont hat, daß »mo-
rality ... requires the presentation of disparate views«32 Dieses
31 Moreno, Deciding Together (siehe Anm. 2), S. 85. 32 Jay Katz, zitiert bei Moreno, ebd., S. 84.
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Dilemma zwischen Konsens oder Kontroverse spiegelt sich in der Regelgrundlage des Ethischen Rats wider: Auf der einen Seite legt die Geschäftsordnung des Rats im § 4 fest, daß »der Rat ... bei seinen Vorschlägen Einigkeit anstreben ›sollte‹«. Auf der anderen Seite hat der Rat eine Informationspolitik beschlossen, nach der es
im Zusammenhang mit der öffentlichen Debatte »erstrebenswert ist, die Gegensätze herauszuarbeiten - um dadurch Ansporn der Debatte zu sein« 33 Somit ist es nicht eindeutig, ob der Rat in der
Ausführung seiner Berichte die Uneinigkeiten mäßigen und nach
Einigkeit streben oder eher eine kontroverse Diskussion unterstützen sollte, indem er die Unstimmigkeiten möglichst deutlich hervortreten läßt. Bei der Bewertung der Bedeutung des Konsenses für die Überzeugungskraft und weitere Eintluismöglichkeiten ware es reizvoll, den Sachverhalt einmal umzukehren und zu tragen, wer wohl wen
beeinflußt? Übt der Rat Einfluß aus, wenn sich die Politiker nach einem Vorschlag richten, der aus einer Modifikation entstanden ist,
wo die Anschauungen, die voneinander am weitesten entfernt lagen, zurechtgestutzt worden sind - wo demnach ein Kompromiß erzielt wurde, der dem entspricht, was die Gesetzgeber sowieso auch erreicht hätten? Und wäre dies überhaupt ein Einfluß, der in
bezug auf politische Beschlüsse und/oder die medizinische Praxis als ein qualifizierter Input aufzufassen wäre? Verläßliche Antworten auf diese Fragen gibt es nicht. Die Mehrheit des Rats war nur selten in Ubereinstimmung mit der
politischen Mehrheit im Folketing. Insofern es um bestimmte Fragen der Gesetzgebung ging, kann man nicht behaupten, der Rat habe »Einfluß« ausgeübt in der Art und Weise, daß die Einstellung des Rats, wie sie z. B. in den Ratsberichten zum Ausdruck gekommen ist, die Grundlage für den Inhalt der Gesetzgebung
gebildet hätte. Dies hängt zweifellos damit zusammen, daß eine große Gruppe im Rat (die nur selten die medizinischen Mitglieder
des Rats umfalt) häufiger der biomedizinischen Entwicklung kritischer gegenübersteht als die politische Mehrheit des Folketings. Demnach findet oft die Gruppe der medizinischen Mit-
glieder die stärkere politische Rückendeckung. Dieser Gegensatz nämlich zwischen einerseits der biomedizinischen, ärztlichen Wis33 Siehe Jahresbericht des Ethischen Rats (dänisch: Det etiske Rads arsberetning), 1994, S. 125 und 116.
I 33
senschaft und ihren Vertretern, andererseits kritischen Gruppen in der Mehrheit des Rats und in Teilen der kritischen Öffentlichkeit, zieht sich als roter Faden durch die Geschichte und die bioethischen Debatten des Rats. Trotzdem die Mitgliederschatt des Rats inzwischen schon dreimal erneuert wurde, scheint diese Konstellation stabil zu bleiben. Eine andere Art des Einflusses betrifft die Bedeutung des Rats als das Organ, welches für die ethische Tagesordnung der Öffentlich-
keit den Ton angibt. Diese Möglichkeit ist mit einer anderen Hauptfunktion des Rats direkt verbunden, nämlich der zur Dis-
kussion anregenden und aufklärerischen Tätigkeit. Es ist charakteristisch, daß das andere bioethische Organ in Dänemark, die Wissenschaftsethischen Komitees, denen per Gesetz 1992 auch die Aufgabe zugeschrieben wurde, sich diskussionsanregend zu betätigen, im großen Ganzen nur durch jährliche, kurzgefaßte und spärlich ausgeteilte Jahresberichte an die Öffentlichkeit tritt; somit hat dieses Organ gewählt, die Öffentlichkeit nicht in die bioethische Diskussion hineinzuziehen. Diese Komitees bestehen aus Laien, die jedoch manchmal eine berufliche Ausbildung haben, oft auch noch Kreis- bzw. Gemeinderäten angehören, in deren Obhut sich ja die Kreiskrankenhäuser befinden; der wichtigste Zweck jener Komitees ist die Kontrolle und Zulassung medizinischer Forschung, die Menschen als Versuchsobjekte involviert, eine Aufgabe, die im Wesentlichen darin besteht, die Prinzipien
der Helsinki-Deklaration in die Tat umzusetzen. Während die
Komitees in ihrer bioethischen Praxis eine Strategie gewählt haben, die kaum Dialog mit der Öffentlichkeit vorsieht, strebt der Ethische Rat eine andere Form des Einflusses an, und zwar - in Ubereinstimmung mit dem Gesetz - die Tagesordnung bestimmen zu können, d.h. in erster Linie die Ethik als eine zentrale Perspektive auf eine ganze Reihe von biomedizinischen Entwicklungen zu definieren, zweitens spezifische bioethische Themen zu benennen, die öftentlich zur Diskussion stehen sollen (z. B. Priontäten im Gesundheitswesen, Reproduktionsmedizin, Hirntodkriterium u. a.m.).
Durch die Darstellung und Veröffentlichung markanter ethischer
Standpunkte zu zentralen bioethischen Themenbereichen sind diese Themen eigentlich erst ans Licht der Öffentlichkeit gebracht
worden, weg von der Exklusivität des protessionsinternen Diskurses. Z. B. Forschung, die auf Registrierung und Datenbankein134
tragungen basiert. Hier hat der Rat zu der Legitimierung der Autfassung beigetragen, vor der Anwendung der registrierten
Auskünfte das Einverständnis einzuholen. Dies zeigt den Einflus des Rats auf die öffentliche Meinung, die in Dänemark eine lange Tradition aufweist, wo die Registrierung und Verwendung von personenbezogenen Daten sonst eher von den Bürgern toleriert wird. Bei der Organtransplantation und der gesetzlichen Einführung des
Hirntodkriteriums, die ein Mitwirken der Bevölkerung in der
Weise voraussetzen, daß der Verstorbene und die Hinterbliebenen
in die Organentnahme einwilligen, stellte sich heraus, daß die ziemlich kritische, wenn auch nicht ganz ablehnende Haltung des Ethischen Rats zum Kriterium des Hirntods einen nicht unbedeutenden Rückhalt in der Bevölkerung hatte. Es ist nämlich außerordentlich schwierig, ausreichend viele Organe zu beschaffen, da sich nur relativ wenige Menschen bereit erklärt haben, eigene oder die Organe der Angehörigen für die Transplantation
zu spenden. Diesen Sachverhalt hat man als einen Widerwillen in der Bevölkerung gegen den Hirntod als Kriterium interpretiert. Heute diskutiert man die Abänderung des Gesetzes in Richtung einer »Widerspruchslösung«: Organentnahme darf geschehen, es sei denn, der Verstorbene habe solchen Maßnahmen bei Lebzeiten ausdrücklich widersprochen.
6. Arbeitsmodelle für die Tätigkeit des Ethischen Rats Der Ethische Rat ist, wie gesagt, aus Mitgliedern zusammengestellt, die auf ganz unterschiedlicher Grundlage ausgewählt worden sind. - Vor diesem Hintergrund (siehe oben, Abschnitt 3) zeichnen sich zwei mögliche Arbeitsmodelle ab. 34
1. Ein demokratisches Modell, nach dem der Ethische Rat als ein
Mini-Parlament angesehen wird, bestehend aus Vertretern der in der bioethischen Debatte hervortretenden unterschiedlichen Standpunkte; die verschiedenen Anschauungen sollten mit einer Gewichtung vertreten werden, welche, auf die Mitglieder ver34 Diese Einteilung führte Anton Leist vor auf der Konferenz »Angewandte Ethik als Politikum« am K Wl Essen.
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teilt, die Verbreitung der Standpunkte in der Bevölkerung widerspiegelt. Bei vielen Themen ist es jedoch nicht möglich testzulegen, was die Bevölkerung meint - dies kennt man auch im nationalen Parlament. In dem Fall sollten die Vertreter lediglich
in den eher fundamentalen Bereichen eine repräsentative An-
schauung vertreten. Auf der Grundlage dieses Modells würde man es als unzweckmäßig betrachten und auch bemängeln, wenn der Rat Gesichtspunkte vertritt, die abweichend zur re-
präsentativen Bevölkerungsmeinung liegen, quantitativ oder qualitativ.
2. Ein wissenschaftliches Modell, nach dem der Ethische Rat als
eine Versammlung Sachverständiger verstanden wird, die auf der Grundlage ihres Sachverstands Ansichten zu den zu behan-
delnden Themen erarbeiten. Ausgehend von einem solchen Modell würden die meisten vermuten, daß das Ergebnis auf Einigkeit konvergieren würde, denn wissenschaftliche Tatsa-
chen können auf Grund der Objektivität wissenschaftlicher
Erkenntnismethoden ja nicht grundlos divergieren. Es stellt sich allerdings heraus, wie oben ausgeführt, daß der Konsens bei weitem nicht immer vorhanden ist, auch nicht bei den exakten Wissenschaften und schon gar nicht in den Gesellschafts- oder Geisteswissenschaften.
Das demokratische Modell wird mit gewöhnlichen Abstimmun-
gen verbunden. Beschlüsse werden durch Mehrheitsentscheidung getroffen, und es wird angenommen, daß die Stimmenverteilung die Verteilung der Gesichtspunkte in einem größeren Kreis widerspiegelt. Repräsentativität wird vorausgesetzt. Für denjenigen, an den sich der Rat wendet - oft der Gesundheitsminister oder das Folketing -, müßte es, geht es doch um eine demokratische Betrachtungsweise, von großer Bedeutung sein, welcher Standpunkt die Mehrheit hinter sich hat - im Folketing bestimmt ja die Mehrheit! Andererseits ist es nicht weiter verwunderlich, daß mehrere Auffassungen sich geltend machen, denn diese Unterschiede ent-
sprechen den in der Bevölkerung vorfindlichen verschiedenen Meinungen, Im Gegensatz hierzu führt das wissenschaftliche Modell (so erwarten es zumindest einige) zur Einigkeit, zum Konsens, aufbau-
end auf der gemeinsamen, wissenschaftlichen Erkenntnis. Da es möglich sein sollte, zur Einigkeit zu gelangen, sind Abstimmungen und die daraus resultierende Aufteilung in Mehrheiten und Min-
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derheiten ein Ausdruck des Mißlingens. Die Sachverständigen sind auf Grund ihrer Sachkenntnis benannt: Daher spiegelt die fehlende Einigkeit Lücken im menschlichen Wissen wider, die Begrenzung
der Sachkenntnis. Oder die Situation drückt aus, daß jemand Macht ausübt. Wissenschaftliche Standpunkte beruhen auf Vernunft und Empirie, sie werden nicht beschlossen - weder vom einzelnen Forscher noch von irgendeinem Kollegium. Es ist allerdings eine Tatsache, daß Wissenschaftler untereinander oft uneinig
sind. Die gleichen Fragen werden unterschiedlich beantwortet, und verschiedene Forscher aus demselben Gebiet stellen unter-
schiedliche Fragen. Deswegen gibt es Fragen, die in den Augen des einen Sachverständigen sinnlos und unwissenschaftlich sind, ein
anderer aber wird sie seriös behandeln. Ebenso mag die Antwort
auf eine Frage davon abhängen, welchen Sachverständigen man befragt. Die Vorstellung vom wissenschaftlichen Konsens ist nicht
nur unrealistisch und überspannt angesichts der Grenzen des
menschlichen Wissens, sondern auch theoretisch falsch. Denn
die wissenschaftlichen Kontroversen entspringen nicht nur den Grenzen unserer Erkenntnis (die ja eigentlich nur im Vorbehalt oder durch Wortlosigkeit ihren Ausdruck finden sollten). Im Ge-
genteil: sie sind ein bedeutsames wissenschaftssoziologisches Phänomen, sowohl was unser Verständnis der Beziehung der Sach-
verständigen untereinander wie auch das Verhältnis zwischen Sachverständigen und Laien betrifft.
Beide Modelle haben in der dänischen Debatte, wie der Rat funk-
tionieren soll, Spuren hinterlassen. Beide sind jedoch irreführend. Bei der Zusammensetzung des Ethischen Rats - so wie es im Gesetz von 1987 formuliert wurde - ist es erstens kein sichtbares Ziel, die Mitglieder als Vertreter unterschiedlicher Ansichten in der Bevölkerung zu ernennen. Auch in der praktischen Arbeit des Rats ist nicht spürbar, daß sich eine Verteilung der Standpunkte abzeichnet, die eine systematische Anknüpfung an einen politischen Standort widerspiegelt. Dies gilt für beide Teile des Rats, die »Sachverständigen« und die »Nicht-Sachverständigen«. Natürlich gibt es auch Ratsmitglieder, die während der Ratstätig-
keit »Haltungen« oder durchgehende Standpunkte äußern. Thre
Einstellungen sind auf eine ethische Grundlage zurückzuführen (z. B. eine christliche), oder es wird z. B. das Prinzip der Autonomie des Individuums hochgehalten. Es ist aber nicht ausgewie137
sen, wie verbreitet jene Anschauungen in der Bevölkerung sind, und diejenigen, die so Stellung nehmen, argumentieren nicht als Vertreter dieser Bevölkerungsteile. Es ist wichtig, daß keine Ratsmitglieder als Vertreter ihrer Partei argumentieren, obwohl einige von ihnen sehr wohl parteipolitisch organisiert sind, was auch bei
ihrer Ernennung zum Rat von Bedeutung gewesen sein mag. Eine
parteipolitische Argumentationsweise würde in den Fällen, wo sie überhaupt sichtbar wäre, wahrscheinlich ungehörig erscheinen, da die Funktion des Rats von der parlamentarischen Ebene getrennt 1St.
Demnach kann der Rat nicht - auch nicht bei der alleinigen
Betrachtung der Laienmitglieder - als ein repräsentatives Organ eingestuft werden, und dadurch verliert die Abstimmung ihren üblichen Legitimationscharakter. Es verhält sich nicht so, dals der Standpunkt der Mehrheit eine größere Gültigkeit oder mehr ethisches Gewicht hat als die eine oder andere Ansicht einer Minderheit (abgesehen natürlich von reinen Implementierungsbeschlüssen).
Dieser nicht-parlamentarische Charakter beruht geradezu darauf, daß bei der Gründung eines Organs wie des Ethischen Rats die Hoffnung im Spiel war, daß man durch die Definition der Probleme als »ethisch« jene Problemtelder den parteipolitischen Streitigkeiten im Parlament entziehen könnte - oder noch besser: sie davon fernhalten. Die ideologische und soziale Grundlage für die
parteipolitische Repräsentation reicht nicht aus, um Gesichtspunkte zu den Themen zu entwickeln, von denen hier die Rede ist. Indem man sie als ethische Problemtelder behandelt, erhofft man sich, einen Beschluß erzielen zu können, ohne sich mit inter-
essengebundenen politisch-parlamentarischen Gegensätzen auseinanderzusetzen. Wird es als parteipolitisch typisch aufgefalt,
daß die Politik strittige Themen behandelt - nur wenn wir uns nicht einigen können, landet der Fall bei den Politikern -, ist die
Hoffnung naheliegend, daß sich das Ethische vom Parteipolitischen unterscheidet und daß man sich darüber einigen kann - daß
hier Konsens herrschen würde. Das Ergebnis wäre dann, daß der parlamentarisch-politische Streit über Mehrheiten durch eine auf
Einigkeit zielende ethische Diskussion ersetzt würde. Aber Meinungsverschiedenheiten sind kein Vorrecht von Politikern. Obwohl der Rat nicht als ein Parlament angesehen werden kann, können sich auch hier verschiedene Anschauungen geltend
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machen. Man kann wie Jay Katz behaupten, daß »inevitable obfuscations emerge whenever commissions strive for a consensus report about complex moral dilemmas«,3» und daher Dissense als notwendig betrachten - nicht nur um die verschiedenen Meinun-
gen in einem Ethischen Rat auszudrücken, sondern auch, damit der Bevölkerung eine breite Argumentationsgrundlage für eine
eigene Stellungnahme zur Verfügung gestellt wird. Vielleicht kommt es auf Konsens gar nicht zentral an, sondern auf die Kontroverse. Und die öffentliche Debatte sollte vielleicht nicht nur unter dem Ziel der Konsensstiftung gesehen werden. Konsens setzt gemeinsame Verständigung und eine Einigkeit über grundlegende normative Fragestellungen voraus. Solche Voraussetzungen sind aber in einer pluralistischen Gesellschaft bei weitem nicht immer vorhanden. Statt mit zweifelhaftem Erfolg den Konsens
anzustreben, mag die Aufgabe vordringlicher sein, Gegensätze manifest zu machen, Unterschiede in den Wertvorstellungen, tatsächliche Verhältnisse zu formulieren sowie Vermutungen über Wirkungen und Nebenwirkungen und auch die relevanten ethischen Prinzipien und Theorien darzulegen. Wir können immer hotten, dals die öffentliche Diskussion eine Hiltestellung bietet und vernünftige Konsenslösungen der vielen bioethischen Probleme in unserer Zeit findet. Aber wir können uns nie dessen sicher sein. Und oft müssen wir uns damit begnügen, Einspruch erheben
zu können.36
(Ubersetzt von Irene Frandsen-Roeger)
35 Cardozo Law Review 6, 2, 1984, S. 246, zitiert nach Moreno, Deciding Together (siehe Anm. 2), S. 84.
36 Über Studien zur Kontroverse siehe z. B. Thomas Brante und Aant Elzinga in: VEST, Tidskrift för vetenskapsstudier (VEST, Zeitschrift für Wissenschaftsstudien) 1988, Nr. 5-6, S. 59f. Die Einführung des Hirntodkriteriums in Schweden und die Kontroverse darüber ist dargestellt
von Thomas Brante und Margareta Hallberg in VEST, Tidskrift för
vetenskapsstudier 1989, Nr. 10-11, S. 4f. Siehe auch Maja Horst, Jagten pä konsensus og offentlig debat om fosterdiagnostik. Utrykt speciale RUC 1996. (Die Jagd nach Konsens und die öffentliche Diskussion über Embryonendiagnostik. Ungedruckte Magisterarbeit der Uni Roskilde,
Dänemark 1996)
139
Klaus Peter Rippe Ethikkommissionen in der deliberativen Demokratie
Ethikkommissionen sind in Mode gekommen. So existieren inzwischen z. B. in den meisten europäischen Ländern Ethikkommissionen, die Politiker und Parlamente über ethische Fragen beraten sollen, die mit den Entwicklungen in Medizin und Technik zusammenhängen. Daß so viele Ethikkommissionen geschaffen werden, hat nicht unbedingt etwas damit zu tun, daß Politiker von der Notwendigkeit eines öffentlichen Diskurses über ethische
Fragen überzeugt sind oder bestehende Zweifel der Bevölkerung
wirklich ernst nehmen. Die Einrichtung von Ethikkommissionen
kann eine rein symbolische Handlung sein. Ethikkommissionen verschaffen Politikern Zeit. Die Politiker können demonstrieren,
daß sie den ethischen Bedenken der Offentlichkeit Raum gegeben haben, und sind doch der Pflicht enthoben, persönlich Stellung zu
beziehen. Die Etablierung von Ethikkommissionen kann also Entlastungsfunktionen haben. Aber Ethikkommissionen können
vielleicht neben ihrem tagespolitischen Nutzen noch andere, sinnvollere Eftekte haben. Indem der Diskurs um ethische Konflikte in Medizin und Forschung in bestimmte Gremien institutionalisiert wird, kann dies - so ein plausibler Gedanke - zu einer Rationalisierung des öffentlichen oder politischen Diskurses beitragen. Mir
geht es in diesem Aufsatz darum, das Potential eines Typs von Ethikkommissionen, der nationalen Ethikkommissionen, herauszuarbeiten. Ich werde für die These plädieren, daß solche nationalen Ethikkommissionen am besten auf die öffentliche Diskussion um ethische Fragen einwirken können, wenn sie als Expertenkommissionen gebildet werden. Zunächst beschreibe ich einige Schwierigkeiten der Verwirklichung deliberativer Demokratie. Insbesondere die Entwicklung und Ausübung von Bürgertugenden wird sich dabei als Problem erweisen. In einem zweiten Schritt werde ich eine von Tocqueville vorgeschlagene Lösung vorstellen, wie Bürgertugenden durch die Einführung partizipativer Verfahren verstärkt werden können. Bei der Toquevillschen Interpretation des amerikanischen Jurysystems 140
werden sich u.a. Vorzüge und Nachteile einer Interaktion zwischen Experten und Laien herauskristallisieren. Im dritten Teil wird es um die Ubertragbarkeit dieses Lösungsvorschlags auf Fragen der Ethik gehen. Abschließend wird die besondere Pro-
blematik ethischer Expertenkommissionen thematisiert.
Deliberative Demokratie Idee und Implementierung Ein am Modell des Marktes orientiertes Verständnis von Politik
geht von den (nicht kritisch befragten) Präterenzen von Personen aus. Die Entscheidungsfindung wird als Aushandeln und als Ausgleich dieser Präferenzen verstanden. Im am Modell des Forums orientierten Verständnis einer deliberativen Demokratie geht es dagegen darum, daß durch die gemeinsame Erörterung der Bürger Vorstellungen von dem erarbeitet werden, was zum Wohl aller ist (Elster 1986). Die Welt der politischen Entscheidungsfindung wird damit von der Sphäre des Marktes abgetrennt; für die Politik ist der Mensch nicht Konsument, sondern Bürger (Dagger 1997, Kap. 7). Der Gegenüberstellung von Konsumenten und Bürgern liegt eine wichtige Einsicht zugrunde: Im politischen Kaum argumentieren
Menschen anders als in anderen Bereichen. Dies zeigt sich insbe-
sondere bei öffentlichen Gütern, die die Bürger weder privat konsumieren noch präferieren, die sie aber doch als wichtig und bedeutsam einschätzen, um sich politisch für sie einzusetzen. Auch
wenn Frau A als Konsumentin nie in die Oper geht, weil sie lieber
Boxkämpfe ansieht, kann sie es als Bürgerin doch für wünschenswert halten, wenn in ihrer Stadt ein Opernhaus existiert. Bürge-
rinnen und Bürger sehen nicht nur das von ihnen privat Bevor zugte, sie wählen auch Institutionen, die sie unabhängig von ihren
eigenen Präferenzen für wünschenswert halten. Trotz ihrer privaten Vorlieben kann Frau A bei einem Referendum den Neubau der
städtischen Sporthalle ablehnen, den Umbau des Opernhauses aber befürworten. Bei solchen Fragen ist die Bürgerin und nicht die Konsumentin angesprochen. Aber diese Beschreibung ist noch nicht korrekt. Es scheint mir falsch, zu sagen, Bürger votierten für Opernhäuser, saubere Lutt und ein tunktionierendes Gesundheitswesen, well sie das Gemein-
wohl zu fördern suchten. Die Bewertung geschieht nicht notwen-
141
dig im Hinblick auf ein kollektivistisch verstandenes Gemeinwesen, dem ein eigenes Gut und Wohl zugeordnet wird. Auch die Bewertung der Gesellschaft erfolgt oftmals vor dem Hintergrund der jeweiligen Konzeption des individuellen Guten. Die individuellen Konzeptionen des Guten umfassen immer auch Vorstellungen über die Gesellschaft und die öffentlichen Güter. Die
Existenz von Opernhäusern oder einem funktionierenden Ge-
sundheitswesen sind insofern Teil des individuellen Guten, als deren Bestand und Qualität die Lebensqualität des einzelnen mitbestimmen. Lebensqualität bezieht sich dabei nicht auf jene in der Medizinethik gebräuchliche Bezeichnung für das subjektive physische und psychische Wohlbefinden, es geht um die alltagssprachliche Bedeutung, so wie wir sagen, daß die Stadt New York eine höhere Lebensqualität biete als Stadtallendorf. Durch das größere kulturelle Angebot, die besseren Möglichkeiten zur Freizeitgestaltung oder die besseren Möglichkeiten zur sportlichen Betätigung und zur Weiterbildung ergeben sich für den einzelnen Bewohner New Yorks eine Vielzahl von Optionen, von denen ein Einwohner von Stadtallendorf nur träumen kann. Das Maß der Lebensqualität eines Menschen hängt damit von zwei Faktoren ab, jenen Gütern, die er durch sein Einkommen privat konsumieren kann, und jenen Gütern, die nur kollektiv konsumiert werden können. Natürlich
bestehen Meinungsunterschiede darüber, welche kollektiven Güter
zur Lebensqualität beitragen. Ein Stadtallendorfer könnte sehr wohl sagen, seine Heimat stelle ihm wichtige Optionen zur Vertügung, die New York fehlen (schönere Landschaft, Nachbarschaften, man kenne sich noch untereinander). Es gibt also individuelle Werturteile darüber, was man für ein wünschenswertes kollektives Gut hält und was nicht. Und es gibt Meinungsunterschiede darüber, was in welcher Gewichtung zur Lebensqualität beiträgt. Aber es geht hier nicht um ein so schwer faßbares Wesen wie das Gemein-
wohl. Der Idee einer deliberativen Demokratie (Cohen 1989) zufolge geht es weniger um eine Verteilung privater Konsumgüter, sondern in einem primären politischen Sinne darum, welche kollektiven Güter hergestellt bzw. erhalten werden sollen. Doch die Diskussion der Bürger wird nur selten den Idealen einer durch unpartei-
liche Überlegungen und vernünftige Argumente geprägten Dis-
kussion genügen. Ich nenne vier Verwirklichungsprobleme: (I) Die rationale Ignoranz. Der einzelne Nutznießer der kollekti142
ven Güter bleibt in der Regel in Unkenntnis darüber, daß alle diese
Güter etwas kosten (Zeit, Aufwand oder Geld). Durch eine Re-
gelung des Zugangs, der Öffnungszeiten und der Benutzung fallen für den einzelnen Kosten an, es entstehen Kosten für die Wirtschaft, die sich durch die Höhe der Steuerzahlung und durch die Höhe der Preise indirekt auch auf den einzelnen Wähler auswirken. Da wir in einer Welt von knappen Gütern leben, ist die Herstellung jedes
kollektiven Gutes zudem damit verbunden, daß andere kollektive Güter nicht oder nicht im wünschenswerten Maße hergestellt wer-
den. Dieser Kosten werden die Bürger aber selten gewahr; und angesichts der Einflußlosigkeit der eigenen Stimme sowie der auf viele verteilten Belastungen ist es auch nicht rational, sich über die
Kosten zu informieren. Hier scheint der Konsument dem Bürger
überlegen. Es ist daher nicht verwunderlich, daß man von der Frau und dem Mann auf der Straße über Autos, Stereoanlagen, Garderobe und Dinge des täglichen Gebrauchs in der Regel informiertere Stellungnahmen hört als über Gentechnik, Xenotransplantation
oder die Reform des Gesundheitswesens. Denn bei Konsumgegenständen hat der Konsument die Folgekosten selbst zu tragen. Er hat den Arger, die Reparaturkosten, die Kosten für die Reklamation und Neuinvestition. Im politischen Raum bleiben die Folgekosten zwar ebenfalls nicht aus, aber da die Entscheidung auch im Schleier
des ökonomischen Nichtwissens geschah, ist es dem Bürger oftmals unmöglich, die Folgekosten mit seiner Entscheidung kausal in eine
Beziehung zu setzen. Er wird die Folgekosten also den Politikern anlasten oder andere Schuldige finden. Erst wenn der Verlust eines kollektiven Gutes unmittelbar das eigene Leben betrifft, wird es für
den einzelnen ratsam, sich in solchen Fällen zu informieren und zu
engagieren. Lokale Umweltschutzgruppen (Bürgerinitiativen gegen Autobahnen, Müllverbrennungsanlagen oder Flugplätze) sind das Musterbeispiel, wie der einzelne auf eine drohende Verände-
rung seiner Lebensqualität reagiert. Und hier reagieren die Betroffenen nicht nur als Bürger, die das Gemeinwohl für bedroht halten. Hier treten sie auch als Konsumenten kollektiver Güter dafür ein,
daß diese kollektiven Güter erhalten bleiben. Auch in Umweltfragen finden Menschen im Regelfall nicht als Bürger, sondern als Konsumenten Anreize, sich zu informieren und politisch zu be-
tätigen. Daß Bürger in lokalen Fragen oftmals informiert und
kompetent auftreten, liegt gerade an ihrem zusätzlichen Konsu-
mentenstatus.
143
(2) Expressive statt informierte Moral. Anderungen von Präferenzen in der politischen Entscheidungsfindung sind oft sehr ambi-
valent. Brennan und Lomasky (1993) verstehen Wählen und poli-
tische Informiertheit als expressive Akte. Es gehe um das Bild, das andere von einem selbst haben, mehr noch um Akte, um morali-
schen Einstellungen Ausdruck zu geben. Unter diesen beiden Bedingungen, in denen man gleichsam vor dem Gerichtshof des Nachbarn und dem inneren Gerichtshof bestehen will, werden moralisierende Überlegungen oftmals entscheidend. In der Low
cost-Situation der Wahlkabine kommen moralisierende Überle-
gungen leichter zum Zuge. Der demokratische Mechanismus freier Wahlen ist immer auch ein Nährboden des moralischen Ressenti-
ments. (3) Die Ausbeutung moralischen Wählens durch eine »neue Öffentlichkeit«. Selbst wenn der sich im politischen Alltag durchsetzende allgemeine Sprachgebrauch gemeinwohlorientiert ist, können Personen mit starken Präferenzen ihre Ziele einfach in eine gemeinwohlorientierte Sprache übersetzen. Wer staatliche
Subventionen will, spricht ja auch nicht von seinem Eigeninteresse, sondern wählt eine Argumentation, die vor drohender Arbeitslosigkeit warnt oder Strukturprobleme der jeweiligen Region in den Vordergrund rückt. Der Einfluß solcher scheinbar unparteilicher Argumente wie der Einfluß anderer öffentlicher Argumentationsstrategien wird durch professionelle Kommunikations-
spezialisten verstärkt. Der Sozialwissenschaftler Leon H. Mayhew spricht in diesem Zusammenhang von einer neuen Öffentlichkeit.' Interessengruppen aller Art wie auch Protestbewegungen sind immer stärker auf diese neue Offentlichkeit angewiesen. An Stelle
des Arguments, mit der über das moralisch Richtige gestritten
wird, tritt Public Relations. »Moralische Argumente« werden als bloße Instrumente genutzt. Das zur Moralisierung neigende Klima in der demokratischen Öffentlichkeit wird so für partikulare Interessen ausgenutzt.
(4) Rhetorik tritt neben die öffentliche Vernunft. Das an Kant
geschulte Bild von Diskursen, in denen allein die rationale Kraft des besseren Arguments zählt, ist zumindestens ergänzungsbedürftig. Nicht nur die Rhetorik von professionellen Kommunikatoren I Mayhew (1997). Vgl. hierzu auch die Analysen von Asard & Bennett (1997).
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ist zu beachten, Laien werden ihre Meinung oftmals nach rhetorischen Gesichtspunkten bilden. Die Wahl zwischen zwei gegensätzlichen Expertisen kann als gutes Beispiel dienen. Laien wird es schwerfallen zu entscheiden, welcher Experte die plausiblere und durchdachtere Position darstellt, hinter wem die Kraft des besseren Argumentes steht. Wenn Laien Expertenmeinungen hören, bewerten sie die Experten so nicht nach ihren Argumenten, sondern nach
Gesichtspunkten der Rhetorik.? Ist der Experte vertrauenswürdig? Unabhängig? In irgendeinem Sinne von privaten Institutionen bzw. von Interessengruppen abhängig? Durch rhetorische Abwägung wird der Laie freilich zu keiner aufgeklärteren Position gelangen.
Denn weder können Vorurteile rhetorisch überwunden noch Meinungen dadurch verfeinert und verbessert werden.
Diese Schwierigkeiten (daß sich Bürger zu wenig informieren, expressive Urteile fällen, durch Rhetorik beeinflußt werden und selbst zu rhetorischen Mitteln greifen) sind sicher nie zu über-
windende Probleme für die demokratische Willensbildung. Um
republikanischen Idealen zu genügen und eine deliberative Demokratie zu realisieren, bedürfte es Bürger mit besonderen Bürgertugenden. Teilnahme am politischen Leben müßte geteilte Konzeption eines guten Lebens sein. Beide Voraussetzungen sind nicht
erfüllt. Weder kann man in allen Ländern von der Verbreitung besonderer Bürgertugenden noch von der Akzeptanz oder Gel-
tung der republikanischen Ansicht vom guten Leben ausgehen. In modernen Gesellschaften darf nicht erwartet werden, daß die
beiden Voraussetzungen erfüllt sind. Bereits Benjamin Constant hat darauf hingewiesen, daß das republikanische Freiheitsverständnis mit der modernen Konzeption von Freiheit in Konflikt gerät (Constant 1814, 1972). In modernen Gesellschaften könne den Menschen die ständige, aktive Teilhabe an der kollektiven Gewalt nicht mehr »erfreuen«. Constant denkt dabei an den schwindenden Einfluß der eigenen Stimme, an die zunehmende stärkere Notwendigkeit der persönlichen Selbständigkeit und an
die in der modernen Kultur größere Hochschätzung der persönlichen Unabhängigkeit. Das Leben des einzelnen ist in der Moderne nicht mehr so stark in das politische Leben einbezogen wie in der Antike. Jeder Versuch, ein vom modernen Freiheitsverständnis absehendes, antikes Republikideal zu verwirklichen, 2 In diesem Abschnitt bin ich John O'Neill (1998) verpflichtet.
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gehe deshalb nicht nur an den empirischen Bedingungen der Moderne vorbei, es sei auch moralisch nicht zu vertreten. Im moder-
nen Freiheitsverständnis ist für den modernen Menschen insbesondere die Möglichkeit angelegt, Privatinteressen nachzugehen. Wenn man von einem solchen modernen Freiheitsverständnis ausgeht, kann die Nichtteilnahme am politischen Diskurs sogar als freiheitserhöhend verstanden werden. Der Bürger kann sich von der Informationsbeschaffung und Entscheidungsfindung befreien, wenn er die Beantwortung eines Teils der politischen Fragen an andere delegiert und sich nur die Möglichkeit der Korrektur und des Vetos offenhält. So gewinnt er Zeit, um sein Leben in die von
ihm gewünschte Richtung lenken zu können. Dennoch: Ein modernes Freiheitsverständnis ist mit republikani-
schen Tugenden zumindest vereinbar. Zum einen gibt es moderne Gesellschaften, in denen eine Teilnahme am öffentlichen und po-
litischen Leben tatsächlich gepflegt wird, zum anderen gibt es Möglichkeiten, republikanische Tugenden auf eine Weise (wieder) zu beleben, die im Einklang mit einer an einem modernen Frei-
heitsverständnis ausgerichteten politischen Kultur steht. Auch
wenn die moderne Freiheit Vorrang haben sollte, können sich eine größere politische Freiheit und größere Bürgertugend in Einklang mit ihr entfalten.3
Tocquevilles Analyse des Jurysystems als Modell? Heilmittel für die Demokratie ist (so nicht nur Constant) mehr Demokratie. Die positive Wirkung der Bürgerpartizipation wird auch von Liberalen wie Mill und Tocqueville gesehen. Berühmt ist Tocquevilles Diskussion einer der Spielformen der Bürgerpartizipation, des amerikanischen Geschworenengerichts. Es lohnt sich, hier einige längere Stellen aus Tocquevilles »Über die Demokratie in Amerika« zu zitieren. Das Kapitel über das Geschworenenge-
richt findet sich bezeichnenderweise im Teil »Was zur Milderung der Mehrheitstyrannei in den Vereinigten Staaten beiträgt«: »Das Geschworenensystem trägt unglaublich dazu bei, das Urteil des Volkes zu bilden und seine natürliche Einsicht zu fördern. Das ist meiner 3 Constant denkt dabei insbesondere an Möglichkeiten, die Teilnahme am öffentlichen Leben so attraktiv wie möglich zu gestalten.
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Meinung nach sein größter Vorzug. Man mul es als eine unentgeltliche und immer offene Schule ansehen, wo jeder Geschworene sich über seine Rechte unterrichtet, wo er täglich mit den gelehrtesten und gebildetsten
Mitgliedern der höheren Klasse verkehrt, wo er über Gesetze auf Grund
ihrer unmittelbaren Anwendung unterrichtet wird und wo sie ihm durch
die Bemühungen der Anwälte, die Ansichten der Richter und selbst die Leidenschaften der Streitparteien verständlich gemacht werden. Ich denke, die praktische Klugheit und der gesunde politische Sinn der Amerikaner ist hauptsächlich ihrem langen Gebrauch des Geschworenensystems in bürgerlichen Rechtsfällen zuzuschreiben. - Ich weiß nicht, ob das Geschwo-
renensystem denen nützt, die rechtliche Streitfälle haben, aber ich bin sicher, daß es denen, die sie beurteilen, sehr nützlich ist. Ich betrachte es als eines der wirksamsten Hilfsmittel der Gesellschaft zur Erziehung des Volkes« (Tocqueville 1835, 1987, Band 1, S. 412f.).
Allerdings - was bleibt von dieser Würdigung angesichts von Prozeßrealitäten wie im Fall Simpson? Die Bewertung heutiger Geschworenengerichte müßte ambivalent ausfallen - und dies in
einem Sinne, der - von der Jury über Bürgerforum und Konsensuskonferenz bis hin zur Referendums- und Initiativdemokratie alle Formen partizipativer Verfahren betrifft. Denn wie bei diesen
anderen Partizipationsformen werden die Vorzüge der Bürgerbe-
teiligung scheinbar aufgehoben durch den expressiven Charakter der Entscheidungen und die rhetorischen Elemente der Urteilsbildung. Gerade der Simpson-Prozeß hat gezeigt, wie sehr Geschworene nicht nur auf die Argumente achten, sondern auf die Geschicklichkeit und Verhandlungsstrategie der Anwälte reagieren. Auch wenn man die Geschworenen weitgehend von der
öttentlichen Diskussion um die Fälle fernhalten kann, sind ihre Entscheidungen oftmals nicht sachadäquat. Vorgefaßte Theorien über die Gesellschaft prägen die Einzelfallbeurteilung. Die Urteile haben expressiven Charakter, drücken persönliche moralische und
politische Meinungen aus. Doch Tocqueville hatte nicht jenes Geschworenengericht im Auge, das heute durch die öffentlich übertragenen Strafprozesse in die Kritik geraten ist. Auch im
obigen Zitat redet er explizit von Geschworenenprozessen in bürgerlichen Rechtsstreitigkeiten. Die Gründe, die er hierfür anführt, sind beachtenswert und erlauben Rückschlüsse auf die heutigen partizipativen Entscheidungsverfahren. Dal Tocqueville die Strafjustiz ausnimmt, hängt damit zusammen, daß der von ihm gelobte Bildungseffekt von Geschworenenge-
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richten seiner Ansicht nach nur eintritt, wenn Jurys bürgerliche Rechtsstreitigkeiten diskutieren. Er wirkt nicht bei Jurys, die in den seltenen und vom Geschehen her alltagsfernen Straffällen diskutieren. Drei Bedingungen sind zu erfüllen, damit partizipative Verfahren das Argumentationsniveau der Öffentlichkeit steigern können:
(1) Politische Entscheidungen als Teil des eigenen Alltags. Das partizipative Verfahren muß Teil des politischen Alltags sein. Nur dann (...) wird seine Verwendung fortwährend sichtbar; es berührt dann alle Belange; jeder nimmt an der Arbeit Anteil; es dringt bis in die Lebensgewohnheiten ein; es prägt dem menschlichen Geist seine Formen auf und verschmilzt gewissermaßen mit dem Gedanken der Gerechtigkeit selbst
(ebd., S.4II). Unter den oben genannten Spielformen der Bürgerpartizipation
haben nur Referendums- und Initiativdemokratie solche Vorzüge. Konsensuskonferenzen, an denen wenige Personen einmal in ihrem Leben teilnehmen, haben diesen erzieherischen Ettekt keines-
wegs. Denn es kommt gerade darauf an, daß die partizipativen Verfahren »in die Lebensgewohnheiten« eindringen. Nur dann können sie die öffentliche Diskussionskultur eines Landes ändern.
Auch Bürgerforen auf lokaler Ebene haben nur in sehr geringem
Maße diesen wünschenswerten Effekt. Denn sie treten ja nur in seltenen Fällen neben die lokalen Parlamente - und sie treten eben neben die Parlamente, was ihre Bedeutung ebenfalls schmälert. Wenn man eine repräsentative Demokratie verbessern will, bleibt
also auch auf lokaler Ebene nur ein Weg: Man mul direkt-demokratische Verfahren einführen, die Möglichkeit der Volksinitiative
und des Volksentscheids. In einigen deutschen Bundesländern gibt
es Entwicklungen in diese Richtung.
(2) Die Alltäglichkeit der Entscheidung. Die in Strafprozessen behandelten Fälle sind keine Alltagsereignisse. Es sind keine Ereignisse, die der Geschworene zu seinem eigenen Leben in Beziehung setzt. Der Bürger sieht sich in aller Regel nicht als jemand, der selbst einen Mord begehen könnte. Damit versagen hier aber Tocquevilles Ansicht nach die in der Bürgerpartizipation angelegten Bildungsmöglichkeiten. Zwar ist Tocqueville der Meinung,
daß Juroren in Strafprozessen zu einem sachadäquaten Urteil kommen würden. Straffälle beruhten nämlich auf eintachen lat-
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beständen, die der gesunde Menschenverstand leicht zu beurteilen vermag. Diese Meinung ist in Zeiten von wissenschaftlichen Ge-
richtsexperten, die Indizien deuten, gewiß überholt. Aber entscheidender ist in diesem Zusammenhang die Frage, wieso der Bildungseffekt ausbleibt. Der Bildungseffekt beruht darauf, daß die bürgerlichen Rechtsfälle die eigene Lebenspraxis der Juroren unmittelbar und unverkennbar berühren. Es lohnt sich für den einzelnen, sich über diese Fälle zu informieren, da sich die be-
handelten Fragen mit hoher Wahrscheinlichkeit auch in seinem eigenen alltäglichen Leben stellen können.4
Nur wenn man den Bürger als direkt Betroffenen der Entscheidung bzw. als Autor und Adressaten der Politik anspricht, nähert man sich einer informierten und sachgemäßen Urteilsbildung. Die positive Wirkung partizipativer Verfahren ist also von der Fragestellung abhängig. Sie darf nicht zu abstrakt sein, der Bürger muts wissen, dal die Frage ihn direkt und unmittelbar betrifft. In repräsentativen Demokratien spricht also viel für partizipative Verfahren in lokalen Angelegenheiten (wie Bürgerforen), wenig dagegen für Verfahren über abstrakte allgemeine Fragen. Entschei-
dungen, ob lokal unerwünschte technische Großeinrichtungen entstehen sollten, können durch Einbeziehung partizipativer Ver-
fahren sehr wohl fairer gestaltet werden. Konsensuskonferenzen
über allgemeine Fragen der Energiepolitik oder der Gentechnik
sind von der Fragestellung her aber mit demselben Problem verhattet, das Tocqueville für die Strafprozeßjurys ansprach. Sie stehen in zu großem Abstand zur Alltagserfahrung. Der spezifische und lokale Charakter der Fragestellung, den Bürgerforen bearbeiten, lindert dagegen die mögliche rationale Ignoranz der Diskus-
sionsteilnehmer. Bei jenen Themen, die Konsensuskonferenzen bearbeiten (z.B. »Pro und Kontra der Gentechnik«), muß man geradezu damit rechnen, daß die Teilnehmer eher moralisch expressiv als informiert und rational argumentieren. Denn es handelt sich ja gerade um jenen allgemeinen Typus von Fragestellung, bei 4 Tocqueville schreibt: »(Das Geschworenengericht) lehrt die Menschen, sich in Rechtlichkeit zu üben. Jeder denkt beim Richten über seinen Nachbarn daran, daß er selbst einmal abgeurteilt werden könnte. Das trifft vor allem für das Geschworenengericht in bürgerlichen Rechtsfällen zu: es gibt fast niemanden, der fürchtet, eines Tages wegen Verbrechen gerichtlich verfolgt zu werden; jedermann aber kann in einen bürgerlichen Rechtsstreit verwickelt werden.« (ebd. 412) 149
der die Diskursteilnehmer nicht in der Rolle möglicher Konsumenten gesehen werden. Bei Konsensuskonferenzen, die bereits in
der frühen Entwicklungsphase einer Technologie eingesetzt werden - wie es derzeit zum Beispiel in der Schweiz über die Xenotransplantation geplant ist - ist kaum zu hoffen, daß sachadäquate
oder vernünftige moralische Ergebnisse erzielt werden können.
Niemand kann sich vorstellen, daß er eines Tages Empfänger eines
tierischen Organs ist, und sein Urteil über Xenotransplantation wird daher expressiv ausfallen. Je näher die Fragestellung an die Lebenswirklichkeit des Bürgers heranreicht, desto eher werden auch Konsensuskonferenzen adäquate Lösungen ermitteln können. Müssen sie bei Grundsatzfragen zu Xenotransplantation oder transgenen Tieren versagen, werden ihre Urteile zu gentechnisch veränderten Lebensmitteln schon informierter ausfallen. Aber
auch hier sollte man vorsichtig sein. Natürlich kann der Bürger als potentieller Konsument gesehen werden. Aber solange ein
Produkt nicht Teil seines Alltags ist, nicht auch von anderen
Konsumenten benutzt wird, mit denen man in Erfahrungsaustausch treten kann - solange werden sich die Bürger mehrheitlich
nicht über diese Produkte informieren. Auf die Fragestellung ist auch in der direkten Demokratie zu achten. Zwar hat die direkte Referendums- und Initiativdemokratie gegenüber der repräsentativen Demokratie ähnliche Vorzüge wie das Geschworenengericht bei bürgerlichen Rechtsfällen gegenüber dem bei Strafprozessen. Da in der Referendums- und Initiativdemokratie über konkrete Fragen - und nicht über Par-
teien und Personen - entschieden wird, hat die direkte Demokratie das Potential einer Bildungseinrichtung. Der öffentliche Diskurs
kann sich Sachfragen und sachlichen Details zuwenden. Am Stammtisch und am Arbeitsplatz werden die konkreten zur Wahl stehenden Vorschläge in ihren Vorzügen und Nachteilen
diskutiert. Die Möglichkeit, durch politisches Wissen Anerkennung zu erwerben, ist somit direkt mit der Aneignung von Sachwissen verbunden. Dies ist in repräsentativen Demokratien nicht der Fall. Politische Diskurse sind dort Diskussionen über Lage und Stimmungslage einzelner Parteien, selten werden einzelne
Sachfragen thematisiert, und wenn dies geschieht, so oftmals nur
vor dem immer präsenten Hintergrund der Parteienmeinung.
Auch spielen Person und Persönlichkeit der Politiker eine unvergleichlich größere Rolle. Bisweilen werden die Bürger von den 150
Medien über die Abnahme des Schnauzbarts, eine Abmagerungskur oder über das Liebesleben von Politikern »besser« informiert als über deren Ansichten zu Sachfragen. Wenn sich das direktdemokratische Element nur auf Personen und nicht auf Sachfragen
beschränkt, dann entfaltet es keine erzieherische Wirkung. Die direkte Demokratie sollte sich auf spezielle Entscheidungen beziehen, nicht auf Politiker oder Parteien. Der sachorientierte Diskurs ist gewissermaßen die Glanzseite der direkten Demokratie. Doch auch der sachorientierte Diskurs wird (oftmals) rhetorisch geführt. Ängste spielen in der direkten Demokratie eine vielleicht größere Rolle, moralische Gesinnungen
spiegeln sich möglicherweise stärker in den Entscheidungen wider als in repräsentativen Demokratien. In direkten Demokratien gibt es starke beharrende Kräfte, die Änderungen verhindern. Schwellenängste, die Furcht vor dem Neuen, die Angst, Gewohnheiten ändern zu müssen, geben direkten Demokratien einen konservativeren Charakter. In direkten Demokratien schlagen sich moralisierende Argumente stärker nieder. Man kann Diskussionen von den Sachtragen lösen und gänzlich in eine moralische Richtung bringen und kann Abstimmungen als politische Fanale hinstellen, womit der Sachbezug verschwommener, die politische und moralische Gesinnung aber deutlicher wird. Diese beiden Faktoren geben der direkten Demokratie z. B. in der Schweiz teilweise einen progressiven Anschein (in Tierschutzfragen und Umweltpolitik), teilweise aber auch einen konservativen
(in Kulturförderung und Landwirtschaftspolitik.) Die Frage ist natürlich, wie man das Sonntagsgesicht wahren und das Alltagsgesicht verbessern kann. Eine Antwort haben wir bereits gegeben. Die zur Abstimmung stehenden Fragestellungen müssen auf den Alltag der Bürger bezogen sein. Die Betroffenen müssen wissen, was etwas kostet; sie müssen die Auswirkungen für sich vor Augen
haben - nur dann, wenn sie sich als Konsumenten der Politik sehen, die die Folgen und Vorzüge der Entscheidungen zu tragen bzw. zu genießen haben, wird ihr Urteil informiert ausfallen. Die
zweite Antwort findet sich im dritten Punkt, den Tocqueville
anführt, um zwischen bürgerlichen und Strafrechtsjurys zu differenzieren. Dieser betrittt die jeweilige Beziehung zwischen Laien
und Experten. Zusätzlich zu den demokratischen Heilmitteln für
die Demokratie werden von Tocqueville bewußt nicht-demokratische Heilmittel verordnet (Holmes 1993). ISI
(3) Eine Interaktion von Experten und Laien. Experten sind bei den partizipatorischen Verfahren, um die es Tocqueville geht, die Gerichtsbeamten. Sie werden in Strafverfahren aber anders wahrgenommen als in bürgerlichen Prozessen: In den Strafverfahren, in denen die Gesellschaft gegen einen Menschen
kämpft, neigt das Geschworenenkollegium dazu, im Richter das passive Werkzeug in der Hand der Staatsgewalt zu sehen, und es hütet sich vor dessen Ratschlägen (ebd., S. 413).
Da für Strafprozeßentscheidungen aber schon der common sense genüge, ist dies für Tocqueville nicht so schwerwiegend. Dort aber, wo common sense und wissenschaftliches Expertentum unterschieden werden sollten, spielt dieser Sachverhalt, das Mißtrauen gegen den Experten, eine wichtige Rolle. Doch sehen wir zunächst, wie Tocqueville das Wirken des Experten in bürgerlichen Streitfragen beurteilt: Anders ist es bei den Streitfällen bürgerlichen Rechts, da erscheint der Richter als unbeteiligter Schiedsrichter über den Leidenschaften der Parteien. Die Geschworenen blicken mit Vertrauen und hören mit Ehrfurcht auf ihn; denn hier beherrscht sein Geist den ihrigen völlig. Er ist es, der vor ihnen die verschiedenen Beweggründe ausbreitet, mit denen man ihr Ge-
dächtnis ermüdete, und er nimmt sie bei der Hand, um sie durch die Umwege des Verfahrens zu geleiten; er umgrenzt ihnen genau den Tatbe-
stand und belehrt sie über die Antwort, die sie auf die Rechtsfragen zu geben haben. Sein Einfluß auf sie ist fast unbegrenzt (ebd., S. 414).
Man könnte sagen, damit würde die Autonomie der Juroren ver-
neint, die Geschworenengerichte wären doch nur, wenn auch partizipativ verschleierte, Expertokratien. Dies ist zum Teil richtig.
Tocqueville spricht deshalb auch davon, Geschworenengerichte seien »scheinbar eine richterliche Körperschaft« (ebd.). Ich denke, Tocqueville sieht hier aber dennoch einen Punkt, der oft zu wenig beachtet wird. Es bestehen zwischen den Menschen unleugbare Gefälle bezüglich Wissen und Information. Es gibt Personen, die ihr Gedächtnis und ihre Vernunft schulen, um bestimmte
Fragen beurteilen zu können. Sie erlernen Methoden, wie man bei Sachfragen zu einer sachadäquaten Antwort gelangen kann. Daraus folgt nicht nur, daß diese Personen einen Diskurs geistig beherrschenkönnen. Es folgt auch, daß diese Personen einen privilegierten Zugang zu den Sachfragen haben. Vernünftige und sachadäquate Argumente werden nicht nur, aber doch eber von diesen vorgebracht als von Ungebildeteren. Der juristische Laie hat - selbst bei
I52
bürgerlichen Rechtsfragen - kaum ein Interesse daran, sich mit allen Einzelheiten des Prozesses auseinanderzusetzen. Warum sollte er
Humankapital investieren, um Beweggründe aller Beteiligten zu erforschen und zu memorieren? Er wird diese Last gerne an andere abgeben. Dies schränkt die Autonomie der Laien nicht ein. Die Autorität zu entscheiden liegt bei ihnen, den Bürgern und Geschworenen. Der Laie hat dabei allen Grund, die ihm vom Experten angebotene Kompetenz zu nutzen. Und dies hat dann wiederum positive Auswirkungen auf die öffentliche Diskussion, da nur im Austausch mit Experten das Wissen, vielleicht sogar die Kompetenz des Laien gesteigert werden kann. Hätten wir unbegrenzt Zeit auf
dieser Welt und unbegrenzte Mittel, würde die Sache anders aus-
sehen. Aber so ist der Laie in seiner Urteilsbildung aut Hilfen angewiesen. Expertenurteile stellen für die Meinungsbildung des einzelnen Katalysatoren dar.5
Hätte Tocqueville recht, käme Experten auch in anderen partizipativen Verfahren eine wichtige Rolle zu. Freilich stehen wir vor zwei Problemen: (*) Wenn der Einfluts des Experten so grois ist, wie Tocqueville sagt, klingt die Rede von der Autonomie der Geschworenen hohl. Man könnte sagen, es handele sich nur um eine Quasi-Autonomie. Dieses Problem wird noch deutlicher, wenn es im folgenden ausdrücklich um Deliberation über moralische Fragen geht. (ii) Die von Tocqueville für das Strafrecht beobachtete Einstellung gegenüber Richtern beherrscht heute große Teile der Bevölkerung. Der Wissenschaftsoptimismus ist durch eine wissenschaftskritische Grundstimmung abgelöst worden. Diese Skepsis greift auch auf die wissenschaftliche Ethik über, der teilweise vorgehalten
s Tocqueville schließt deshalb seine Austührungen mit den Sätzen: »Das amerikanische Geschworenensystem läßt vor allem dank des Geschworenengerichts für bürgerliche Rechtsfälle den Geist, den ich den rechts-
kundlichen nannte, bis in die untersten Schichten der Gesellschaft drin-
gen. So ist das Geschworenengericht als kraftvollstes Mittel, das Volk regieren zu lassen, zugleich das wirksamste Mittel, um dieses das Regieren zu lehren.« (ebd. 415) Die Beziehung zwischen dem Bürger - als Quelle staatlicher Macht - und den Experten ist dabei durch Reziprozität gekennzeichnet. Tocqueville schreibt: »Die Geschworenen verkünden das Urteil, das vom Richter gefällt wurde. Sie leihen diesem Entscheid die Autorität der Gesellschaft, die sie vertreten, und er leiht ihnen die der Vernunft und des Gesetzes« (ebd., S. 414).
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wird, sich auf die eilfertige Rechtfertigung wissenschaftlicher Entwicklungen zu beschränken. Der Rückblick auf Tocquevilles Analyse des Geschworenengerichts hat so ein ambivalentes Ergebnis erbracht. Der wichtigste
Schritt in Richtung einer durch eine Kultur der Bürgertugend getragenen deliberativen Demokratie wäre die Etablierung von partizipativen Verfahren. Liegen diese bereits vor (wie in der Schweiz), sind Schwächen dieser Verfahren entgegenzuwirken. Fehlen diese, sollten partizipative Verfahren zumindest auf lokaler Ebene geschaffen werden. Bürgerforen wären hier nur ein kleiner, erster Schritt. Sowohl für denkbare Reformen der Referendumsund Initiativdemokratie wie bei der Bildung von Bürgertoren gilt:
Partizipative Verfahren müssen sowohl von der Zahl der direkt durch den Bürger zu fällenden Entscheidungen wie von den speziellen Fragestellungen her Teil des (keineswegs nur politischen!)
Alltags werden. Nur wenn dies erfüllt ist, könnte auch die dritte von Tocqueville genannte Bedingung erfüllt werden, eine frucht-
barere Interaktion zwischen Experten und Laien. Da diese im Bereich der Ethik besonders problematisch ist, ist es sinnvoll, für diesen Bereich noch einmal drei mögliche Institutionen zu betrachten, die in der politischen Entscheidungsfindung oder dem öffentlichen Diskurs zu ethischen Fragen in den Bereichen der Medizin oder der Forschung eine Rolle spielen.
Burgerpartizipation und Ethikkommissionen Wenn ethische Fragen im Zusammenhang von Medizin und Tech-
nik von speziellen Gremien beraten werden sollen, bieten sich idealtypisch drei Typen von Kommissionen an: a) Kommissionen aus Bürgern, b) Kommissionen aus Vertretern einflußreicher gesellschaftlicher Grup-
pen,
c) Kommissionen aus wissenschaftlich kompetenten Personen.
Ich werde diese drei Typen im folgenden als Konsensuskonferenzen, Clearingkommissionen und Expertenkommissionen bezeichnen. Zur Evaluation der drei Kommissionstypen ist es wichtig,
den Aufgabenbereich von Ethikkommissionen zu beachten. Auf
6 Zur Begrifflichkeit und ausführlichen Diskussion Rippe (1. E.).
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der politischen Ebene angesiedelte Ethikkommissionen behandeln nicht einzelne moralische Fälle wie die Ethikkommissionen in den Bereichen der klinischen Forschung oder wie Tierversuchskommissionen. Sie arbeiten über ethische Fragenkomplexe, die sich in bestimmten Bereichen (wie der Präimplantationsdiagnostik, Gentherapie oder der Xenotransplantation) stellen. Solche Kommissionen stellen Institutionen dar, die die nationale wie internatio-
nale Entwicklung der Forschung verfolgen und unter ethischer Perspektive beurteilen, den generellen Regelungsbedarf ermitteln
und die öffentliche Diskussion zur Forschungsentwicklung fördern sollen. Die in politischen Ethikkommissionen behandelten Fragestellungen sind vom alltäglichen Leben der Bürger weit entfernt. Die oben ausgeführte Feststellung, daß es spezieller Anreize bedarf, damit sich Bürger informieren, gilt aber auch für den Bereich der Wissenschaft und der Medizin. Ein Anreiz, sich über medizinische Maßnahmen zu informieren, besteht zum Beispiel dann, wenn man sich in die Lage eines möglichen Nutznießers versetzen kann, sich also in der Rolle des potentiellen Konsumenten sieht. Solange sich jemand nicht vorstellen kann, jemals als Patient von
einer neuen Therapieform zu profitieren, wird es ihm leichtfallen,
auf die Zulassung dieser Therapieform zu verzichten. Als vermeintlich Unbeteiligter sagt man schnell, dals »wir« keine neuen Medikamente und neuen Therapien brauchen. Und solange man sich nicht in der Rolle eines möglichen Konsumenten sieht, hat man auch keinen Grund, sich über den Stand der Medizin adäquat
zu informieren. Als Bürger bleibt man so schnell auf einer medizinkritischen Schwelle stehen. Wenn man als Kranker, d.h. als
potentieller Konsument, mit der Wirklichkeit konfrontiert ist, sieht die Situation anders aus. Konsensuskonferenzen können so nur bedingt als ein sinnvolles partizipatives Verfahren bezeichnet werden. In repräsentativen Demokratien können Konsensuskonferenzen dennoch sinnvolle
Aufgaben übernehmen, sie können, z. B. als Analyseinstrument verstanden, dazu beitragen, daß parlamentarische Entscheidungen bürgernäher ausfallen. Wenn man schon daraut verzichtet, eine stärkere Bürgerpartizipation zu realisieren, kann man die Öffentlichkeit in solchen Konferenzen zumindest modellieren. Die der-
zeitigen Schweizer Bemühungen, Konsensuskonterenzen aus der repräsentativen in die direkte Demokratie zu importieren, müssen
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aber vom Ansatz her als verfehlt betrachtet werden. Eine direkte
Referendums- und Initiativdemokratie stellt bereits die beste Möglichkeit der Bürgerpartizipation dar, denn hier haben ja nicht nur einige Bürger einmal in ihrem Leben, sondern alle Bürger ihr
ganzes Leben hindurch Partizipationsmöglichkeiten, und es existiert bereits eine (wenn auch noch nicht ideale) öffentliche Dis-
kussionskultur über Sachfragen. In dieser gänzlich anderen Um-
gebung muß die Beurteilung der Konsensuskonferenz also gänz-
lich anders ausfallen. Der von der Fragestellung her zu erwartende
expressive Charakter der Urteile wird ein Manko der direkten Demokratie verstärken, statt ihm entgegenzuwirken. Sollten Kon-
sensuskonferenzen mediale Beachtung erhalten (was für die ersten
Konferenzen mit Sicherheit, für andere nicht ganz so wahrscheinlich zu erwarten ist), werden sie die Tendenz zu rein expressiven
und moralisierenden Urteilen sogar noch verstärken.
Eine Kommission wird diese Funktion, zu weniger expressiven und weniger moralisierenden öffentlichen Diskussionen beizutra-
gen, ebenfalls nur bedingt erfüllen können, wenn sie sich aus
Repräsentanten gesellschaftlich einflußreicher Gruppen (wissenschaftliche Akademien, Gewerkschaften, Unternehmer, Nichtregierungsorganisationen, Kirchen) zusammensetzt. Auch eine solche Clearingkommission hat aber Vorzüge. Die in eine Clearingkommission einbezogenen Gruppen vertreten eine moralische
Position, die sie in die öffentliche Diskussion und politische Entscheidungstindung einzubringen suchen. Eine solche Kommission könnte somit ein kleines Spiegelbild des öffentlichen und politi-
schen Diskurses darstellen. Kämen sie zu impliziten Konsensen (oder einem aufgeklärteren Dissens), müßte dies sehr wohl als
wichtiger Beitrag zur Meinungsbildung gelten. Die Einrichtung
solcher Clearingkommissionen ist aber mit schwerwiegenden Nachteilen verbunden. 1. Es ist fraglich, ob Vertreter von Körperschaften die Bürger
repräsentieren können. Das Eigeninteresse der Gruppe wird stets eine wichtige Rolle spielen, sei dies das Interesse an den
Auswirkungen der jeweiligen Regelung oder sei es das Interesse,
eine öffentlich einflußreiche Gruppierung zu bleiben. Ein
Nachteil der repräsentativen Demokratie, der größere Einfluß von Interessengruppen, würde durch Clearingkommissionen in
die direkte Demokratie importiert. 2. Die Vertreter dieser Körperschaften haben moralische Intuitio-
156
nen, und sie sind es gewohnt, diesen Intuitionen in der öffent-
lichen Diskussion Gehör zu verschaffen. Dabei befinden sie sich
freilich in Konkurrenz zu anderen Institutionen und deren professionellen Kommunikatoren. Auch sie übernehmen die
Methoden der »neuen Öffentlichkeit«. In der öffentlichen Diskussion und in der politischen Entscheidungsfindung mangelt
es aber nicht an moralischer Rhetorik, es mangelt an einem vernünftigen Diskurs über ethische Fragen.
3. Selbst wenn Clearingkommissionen einen solchen Diskurs anstrebten, würden sie etwas wiedererfinden, was seit geraumer
Zeit in der akademischen Sphäre existiert. Hier wurden Positionen und Argumente ausgearbeitet, die von den Clearing-
kommissionen erst gefunden oder rezipiert werden müßten. Wenn dies so ist, ware es aber ratsamer, gleich jene Personen
in die Kommissionen zu berufen, die auf der Höhe der zeitgenössischen moralphilosophischen Debatte miteinander diskutieren können. Da die gesellschaftlich relevanten Gruppen ja bereits institutionelle Möglichkeiten haben, sich Gehör zu verschaffen (wie Hearings, leichter Zugang zu den Massenmedien), kann nicht begründet werden, wieso sie auch noch eine Ethikkommission dominieren sollten. Es ist ratsam, hier Vertreter jener Wissenschaften einzu-
beziehen, welche über die relevanten Fragen arbeiten. Ethikkommissionen sollten sachlich kompetente Personen zusammenführen. Sie stellen ein Instrument dar, das den wissenschaftlichen
Diskurs mit dem öffentlichen Diskurs in Verbindung zu bringen sucht. Sie stellen eine Schnittstelle zwischen Wissenschaft und allgemeiner Öffentlichkeit dar. Damit könnten Ethikkommissionen aber auch dazu beitragen, öffentliche Diskussionen rationaler zu gestalten. Es scheint daher sinnvoll, in repräsentativen Demokratien neben Konsensuskonferenzen auch Expertenkommissionen einzurichten. In direkten Demokratien stellen Expertenkommissionen sogar den einzigen sinnvollen Weg dar, um die ethische Diskussion auf politischer Ebene zu institutionalisieren. Welche Fachvertreter müßten dann in eine Expertenkommission einbezogen werden? Auch bei dieser Frage ist die AufgabenstelJung solcher Kommissionen zu beachten. In Fachkommissionen wie den Tierversuchskommissionen oder den Ethikkommissionen in der klinischen Forschung geht es um spezielle Güterabwägun-
gen, bei deren Beurteilung ein hohes Maß an empirischen und
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naturwissenschaftlichen Kenntnissen erforderlich ist. Anders sieht es bei der Behandlung jener allgemeinen normativen Fragen aus, denen sich eine politische Ethikkommission zuwenden würde. Um z. B. die ethische Akzeptabilität des Klonens beurteilen zu
können, sind empirische und naturwissenschaftliche Kenntnisse nur sehr bedingt hilfreich. Die relevanten Fragen stellen sich in
einem anderem Bereich. Hier geht es um Fragen der Identität, der
Individualität, der individuellen Rechte, der normativen Bedeutung natürlicher Entwicklungen. Auch wenn man nicht über diese Fragen nachgedacht und die wissenschaftliche Diskussion nicht verfolgt hat, wird man zum Klonen und den genannten Fragen eine Stellungnahme abgeben können. Aber diese Art von Stellungnahmen sind dann oftmals durch Fehler, zweifelhafte Annahmen
und nicht zu Ende gedachte Positionen gekennzeichnet, die in der wissenschaftlichen Literatur längst herausgearbeitet wurden. Wenn man eine kompetente Diskussion in der Kommission wünscht, wird man so jene Personen beruten müssen, die auf dem neuesten Stand der wissenschaftlichen Diskussion sind -
und dies sind, wenn es um normative Fragen geht - professionelle Ethiker. Besteht die Aufgabe einer allgemeinen Ethikkommission darin, Entwicklungen in Medizin und Forschung unter ethischer Perspektive zu beurteilen, sollte man somit insbesondere jene Fachvertreter einbeziehen, die über normative Fragen arbeiten und die
eine wissenschaftliche Kompetenz zur Beurteilung ethischer Fragen ausgebildet haben. Dies werden im wesentlichen Philosophen,
Theologen und Rechtsphilosophen sein. Sie sollten durch kompetente Vertreter anderer Disziplinen ergänzt werden.
Da zu den Autgaben von Ethikkommissionen auch die Frage gehören würde, ob ein gesetzlicher Regelungsbedarf besteht, ist die Teilnahme von Juristen unabdingbare Voraussetzung dafür, daß eine solche Kommission zu adäquaten Ergebnissen gelangen wird. Da zur normativen Beurteilung möglicher Regelungen auch die
gesellschaftlichen Auswirkungen einbezogen werden sollten, müßten jene Fachleute einbezogen werden, die diese Folgen abschätzen können, nämlich Sozialwissenschaftler und Ökonomen. Zur Verfolgung der wissenschaftlichen Entwicklung und Klärung von naturwissenschaftlichen Einzeltragen sollte die Kommission schließlich durch Naturwissenschaftler ergänzt werden.
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Maßgebend für die Berufung eines Kommissionsmitglieds muß in allen Fällen die wissenschaftliche Kompetenz sein. Die Zugehörigkeit oder Nähe zu irgendwelchen gesellschaftlichen Gruppen ist ebensowenig relevant wie der öffentliche Bekanntheitsgrad der Kandidaten. Damit wirklich die Fachkompetenz zählt und keine politischen Gremien, ist es sinnvoll, die Berufung auf eine wissenschattliche Evaluation zu stützen.
Probleme mit ethischen Expertenkommissionen Gegen ethische Expertenkommissionen regen sich freilich schwerwiegende Bedenken. Kann und darf es überhaupt Ethik-Experten geben?
Ob es ethische Experten geben kann, hängt wiederum mit den Ebenen zusammen, auf denen sich die zu erörternden moralischen Fragen ergeben. Bei der Beurteilung von Einzelfällen gibt es viel-
leicht eine von Mensch zu Mensch unterschiedlich entwickelte
»Sensibilität«. Das relevante empirische Wissen wird sicherlich in
unterschiedlichem Grade vorhanden sein. Aber diese Unterschiede rechtfertigen nicht die Rede von ethischen Experten.
Der professionelle Ethiker ist nicht »sensibler« als der ethische Laie. Und die empirischen Kenntnisse sind ja gerade keine moral-
philosophischen. Der Moralphilosoph hat keinen privilegierten Zugang zur moralischen Beurteilung von Einzelfällen. Anders sieht es jedoch aus, wenn es um allgemeine normative Fragen geht, die sich in bestimmten Bereichen stellen. Man denke an die Fragen nach dem moralischen Status des Embryos, des inhärenten Werts nicht-menschlicher Lebewesen oder der Unterscheidung von Tun und Unterlassen. Gerade bei diesen abstrakten Fragen, die nicht in lokalen Kommissionen, aber in den politischen
Ethikkommissionen relevant sind, wirkt sich der Umstand aus, daß der professionelle Ethiker mehr Zeit und Aufwand investiert. Er nimmt an zwei ethischen Diskursen teil, dem wissenschaftli-
chen und dem öffentlichen. Da der wissenschaftliche dem öffentlichen Diskurs um bestimmte Fragenkomplexe vorausläuft, wird der professionelle Ethiker mögliche Argumente schon kennen, weiß er bereits von Gegenargumenten, den Grenzen von Argumenten, kontraintuitiven Folgen, die sich aus Positionen ergeben
usw. Der professionelle Ethiker betritt so den öffentlichen Dis-
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kurs bereits mit einer Landkarte möglicher Argumentationsverläufe.?
Auch wenn der professionelle Ethiker bei der Beurteilung bestimmter ethischer Fragen Kompetenzen hat, die Laien nicht haben, wird mancher sagen, daß er nicht als ethischer Berater wirken sollte. Jeder Bürger habe die Fähigkeit zum moralischen Urteilen, und er solle sie autonom ausüben. Deshalb dürfe es keine Experten geben, die die moralische Beurteilung abnehmen. Diese Ansicht, daß ethische Experten die Autonomie des Bürgers bedrohen, ist allerdings selbst wieder eine moralphilosophische Position. Und man mag fragen, wieso man denn jenen professionellen Ethikern glauben sollte, die eine solche Kantianische Autonomiekonzep-
tion vertreten, und nicht anderen Moralphilosophen, die andere Autonomiekonzepte verteidigen. Wäre nicht auch der Rat, es dürfe keine ethischen Experten geben, eine Verletzung der Autonomie? Schließlich soll doch jeder Bürger moralisch entscheiden, ob es ethische Experten geben dart oder nicht. Aber lassen wir diesen Einwand dahingestellt und gehen wir davon aus, daß die autonome Entscheidung des Bürgers wirklich etwas in sich Gutes
ist. Gehen wir zudem davon aus, daß eine Arbeitsteilung im moralischen Urteilen, wo professionellen Ethikern von anderen die Aufgabe übertragen wird, moralische Entscheidungen zu diskutieren und zu fällen, fragwürdig, ja nicht tolerierbar ist. Selbst
wenn man diese normative Position einnimmt, müßte man festhalten, daß die Einbeziehung von professionellen Ethikern in die
politische Entscheidungstindung nicht mit einer solchen Arbeitsteilung gleichzusetzen ist. Man muß zwei Möglichkeiten unterscheiden: Der professionelle Ethiker könnte eine Autorität sein, der man folgt, weil sie eine Autorität ist, oder der Ethiker könnte sein Fachwissen und seine Urteilsfähigkeit in Analysen einbringen, die er den Bürgern vorlegt, um ihnen eine informiertere Entscheidung zu ermöglichen (Willigenburg 1999). Nur im ersten Falle läge eine Autonomieverletzung vor. Im zweiten Falle kommt
dem professionellen Ethiker über die Kraft seiner Argumente
hinaus keinerlei Autorität zu. »Für die moralisch autonome Per-
son ist«, so Theo von Willigenburg, »nicht der Umstand von Interesse, daß der ethische Berater eine Handlung für moralisch 7 Vgl. zu diesem Bild vom Ethiker als Kartographen des ethischen Gebiets auch Crosthwaite (1995).
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zulässig hält, sondern die Argumente sind interessant, die zu dieser
Entscheidung führen (...). Es ist also nicht die Autorität eines
ethischen Beraters als solcher, sondern die Uberzeugungskraft der Gründe für diesen Rat, die für dessen Rat ausschlaggebend sind. Und dies paist in der lat pertekt zur Kantischen Vorstellung von Autonomie« (ebd. 294). Man mag allerdings einwenden, daß die Trennlinie zwischen der Autorität der Person und der Kraft der Argumente in der Realität
nicht gezogen werden kann. Sobald es Personen gibt, die als Ethikexperten ausgewiesen und anerkannt sind, erhalten diese eine Autorität, die über die Kraft ihrer Argumente hinausweist. Sobald ethische Experten oder Expertengremien am öffentlichen Diskurs teilnehmen, werden sie mit einer Autorität versehen, die
autonomiebedrohend ist. Dieses Bedenken ist sicherlich begrün-
det. Nicht zufällig spricht auch Tocqueville davon, daß der Einfluß des Richters auf eine Jury »fast unbegrenzt« sei. Man befindet sich
also in einem Dilemma: Durch den Rat von Experten würde die Entscheidung informierter, aber die Teilnahme von Experten am öffentlichen Diskurs verleitet den Laien dazu, sich auf die Informationen und das Urteil des Experten zu verlassen. Eine Möglichkeit, dieses Dilemma zu lösen, bestünde darin, daß sich der professionelle Ethiker eines eigenen Urteils zu enthalten sucht. Aber diese Lösung befriedigt kaum (Willigenburg 1999). Man dart
nicht übersehen, daß schon in der Art und Weise, wie man eine Analyse und Kartographie ethischer Fragen darstellt, eine Empfehlung liegen kann. Eine sinnvollere Möglichkeit liegt darin, sich den vernünftigen Pluralismus® der Ethik zunutze zu machen. Es ist
keineswegs von Nachteil für die angewandte Ethik, daß eine Theo-
rienvielfalt besteht oder daß die Moralphilosophie immer wieder auf die Existenz rational nicht auflösbarer moralischer Meinungs-
unterschiede verweisen mui. Im Zusammenhang mit der möglichen Autonomiebedrohung des Bürgers liegt hier gerade ein Vor-
zug der Moralphilosophie. Sobald Ethikkommissionen jenen vernünftigen Pluralismus abbilden, der sich in moralphilosophischen
Diskussionen auszubilden pflegt, besteht keine Gefahr, daß Bürger die Empfehlungen der Experten übernehmen. Vielmehr werden sie an einen Punkt geführt, wo sie autonom zwischen den einer vernünftigen Prüfung genügenden moralischen Alternativen zu wäh8 Zu dieser Begrifflichkeit Cohen (1993).
16I
len haben. Damit sie diese Alternativen aber wirklich sehen, ist es wichtig, daß mehrere Ethiker unterschiedlicher Provenienz in den
Kommissionen sitzen und ihre Sicht nicht-neutral vertreten. Zu-
dem ist entscheidend, daß die Berichte von Ethikkommissionen nicht nur deren Ergebnisse festhalten, sondern daß sie Argumenta-
tions- und Diskursschritte protokollieren. Auch Expertenkommissionen sind eine öffentliche Angelegenheit. Das bedeutet, daß die Offentlichkeit Zugang zu allen Sitzungen haben, Protokolle einsehen können und die Möglichkeit haben sollte, auf die Diskussion zurückzuwirken. Das Autonomieargument ist also, selbst wenn man seine starken normativen Voraussetzungen unterschreibt, nicht zwingend. Ethische Expertisen und Berichte von Ethikkom-
missionen könnten zwar Bürger verleiten, sich einfach ihrem Urteil anzuschließen. Hier teilen Ethik-Experten das Schicksal aller intellektuellen und moralischen Vorbilder. Bilden die Kommissionen aber den vernünftigen Pluralismus ab, der in der wissenschaftlichen
Moralphilosophie besteht, werden sie weniger autonomiebedro-
hend sein als andere intellektuelle und moralische Vorbilder. Das zweite Problem stünde damit noch offen, die Skepsis gegenüber Ethik-Experten. Soll eine Ethikkommission auf die Öffentlichkeit wirken und die Rationalität der öffentlichen Diskussion fördern, müßte sie als unparteiliches Gremium anerkannt werden.
Politische Ethikkommissionen dürfen nicht in Verdacht stehen, Instrumente irgendwelcher Interessengruppen oder moralischer Protestbewegungen zu sein. Auch hier gibt es einen pragmatischen Weg, das Ansehen einer Kommission zu steigern. Auch wenn beim Zugang zu einer Kommission die wissenschaftliche Kompetenz ausschlaggebend sein sollte, sollte moralischen Parteien ein Vorschlagsrecht zukommen. Eine solche, bei Tierversuchskommissionen bewährte Praxis sähe ein Vorschlagsrecht von Kirchen, Nichtregierungsorganisationen, Parteien, Verbänden oder anderen
gesellschaftlichen Gruppen vor. Im Gegensatz zu den Tierversuchskommissionen, bei denen die von Tierschutzverbänden vorgeschlagenen Experten stets eine Minderheit bilden, ist freilich an gleiche Vorschlagsrechte der unterschiedlichen Gruppen zu denken. Nur dann könnten solche Kommissionen dem vielleicht berechtigten, vielleicht auch nur rhetorischen Einwand ausweichen, sie seien nicht wirklich unparteilich.
Eine solche auf nationaler Ebene angesiedelte Expertenkommission hätte drei Aufgabenbereiche: 162
I. Die Kommission verfolgt selbständig die internationale Ent-
wicklung der Medizin und der Forschung und diskutiert sie unter einer ethischen Perspektive. Unter Umständen tritt sie selbst an die Öffentlichkeit oder an die politischen Gremien
heran, um dort eine weitere Diskussion bzw. politische Maß-
nahmen anzuregen. Dies wird insbesondere dann erforderlich sein, wenn die Kommission ethisch fragwürdige Entwicklungen und einen weiteren Regelungsbedarf sieht.
2. Die Kommission steht politischen Gremien als beratende In-
stitution zur Verfügung. Auf Anfragen politischer Gremien beschäftigt sie sich mit speziellen Mandaten oder weist diese zu einer weiteren Klärung anderen Expertengruppen zu. Sie sollte jedoch niemals bloßes Instrument der parlamentarischen Entscheidungsfindung sein. Ihre positiven Nebeneffekte auf die öffentliche Diskussionskultur kann eine Ethikkommission nur
entfalten, wenn sie sich als Teil der öffentlichen Diskussion sieht. 3. Erwachsen in den Fachkommissionen und aus der dortigen Behandlung einzelner ethischer Güterabwägungen allgemeine
normative Fragestellungen, so kann die weitere Diskussion dieser Fragen von den Fachkommissionen an die nationale Ethikkommission übertragen werden. Die nationale Ethikkommission beschäftigt sich nur mit einzelnen Forschungsprojekten, wenn diese allgemeine normative Fragen stellen. Eine
Güterabwägung im Einzelfall bleibt den durch eine andere
Fachkompetenz und Zusammensetzung gekennzeichneten Fachkommissionen vorbehalten. Die Ethikkommission sollte dabei auf zwei Ebenen wirken. Durch
die Partizipation am öffentlichen Diskurs verstärkt sie die Argu-
mentationskultur, und durch ihren Einbezug in die politische Entscheidungsfindung gibt sie ethischen Überlegungen eine grö-
ßere Bedeutung und ein größeres Gewicht. Sie könnte damit gleichermaßen ein Gegengewicht zu einer Tendenz zur Moralisierung und Emotionalisierung öffentlicher Diskurse bilden, wie sie der Vernachlässigung ethischer Überlegungen im politischen Diskurs vorbeugen könnte.
163
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164
Christopher Megone Demokratie, Liberalismus, Kommunitarismus:
Bezüge zu lokalen forschungsethischen Komitees
Mein Beitrag greift die Erfahrungen mit lokalen forschungsethischen Komitees (im folgenden: LFKs) in England auf. Ich behandele die Frage, ob diese eine angemessene institutionelle Form darstellen, in der die Gesellschaft darüber nachdenken und ent-
scheiden kann, ob Vorschläge zu medizinischen Forschungsprogrammen akzeptabel sind. Außerdem stelle ich eine Reihe von Fragen dazu, wie weit die Plausibilitat gewisser politischer Philosophien in ihrem Anwendungsbezug auf konkrete institutionelle Strukturen reicht.
Zunächst fasse ich die Entwicklungsgeschichte und Natur der
britischen LFKs zusammen. Dann rekonstruiere ich einige aktuelle
Debatten zu ihrer Arbeit, um klarzumachen, warum ich ihre
Arbeitsweise aus den im Titel genannten Perspektiven betrachten will. Das britische System der LFKs hat zu einer großen Variationsbreite von Verfahrensvorschriften und Beurteilungspraktiken geführt. Für ihre Mitglieder können LFKs einen beträchtlichen Aufwand an freiwilliger Arbeit bedeuten mit unzureichender verwaltungsmäßiger Unterstützung und oft nur sehr begrenzter Klar-
heit über die Zwecksetzungen der Komitees. Für Forscher kann die Anzahl und Verschiedenartigkeit der Komitees zu einer Herausforderung werden. Besonders bei multizentrischen Studien kommt auf die betreffenden Forscher, wenn sie ihre Vorhaben bis zu fünfzig Komitees vorzulegen haben, ein enormer zusätz-
licher Arbeitsaufwand zu. In den letzten Jahren sind deshalb Stimmen zugunsten der Einrichtung eines nationalen Forschungs-
ethik-Komitees laut geworden, zumindest was den Umgang mit multizentrischen Studien betrifft, aber gegenwärtig scheint dieser Vorschlag nicht realisierbar zu sein.
Diese und andere Probleme betrachte ich aus einer liberalen, einer kommunitaristischen und einer demokratischen Perspektive. Aus den ersten beiden Perspektiven heraus untersuche ich zuerst, in
welchem Ausmaß im britischen LFK-System liberale oder aber
165
kommunitaristische Auffassungen darüber, wie eine gerechte ethi-
sche Regulierung auszusehen hätte, konsistent zum Ausdruck kommen. Ich möchte behaupten, dals im gegenwärtigen System
eine liberale Regulationsweise vorherrscht; aber (so möchte ich weiter zeigen) einige der Verbesserungen, die LFK-Mitglieder und
auch Forscher vorschlagen, sind eher in einer kommunitaristischen Perspektive konsistent. Meine Argumentation aber wird ergeben, daß beide Vorstellungen von moralisch guter Regulierung problematisch sind. Eine dritte Perspektive führe ich dann - in
Abschnitt 8 - anhand der Frage ein, in welchem Ausmal LFKs
demokratisch sind oder sein sollten, diese Frage vertiefe ich aber nur noch mit Bezug auf die liberale Perspektive.
1. Eine kurze Geschichte der lokalen forschungsethischen Komitees in England Der ursprüngliche Impuls zur Einrichtung von LFKs in England geht auf Diskussionen über die Moral in der Forschung am Menschen zurück, die zuerst im British Medical Journal und ab 1962/3 auch in einer größeren Öffentlichkeit geführt wurden. Dabei ging
es um zwei Fragen. Ist in Krankenhäusern Forschung betrieben worden, die »nicht ersichtlich im Interesse der Versuchspersonen«
gelegen hat? Haben Patienten Behandlungen erhalten, ohne ihnen mitzuteilen, ob diese approbiert waren oder aber neu, experimentell?' In Reaktion auf einen Bericht des Medical Research Council 1963 und eine Erklärung seitens des Royal College of Physicians 1967 verbreitete das Gesundheitsministerium 1968 ein Memorandum zu diesen Fragen. In diesem Memorandum wurde verschiedenen Stellen innerhalb des Gesundheitssystems (Aufsichtsräte von Bezirkskrankenhäusern, Klinikmanagement-Ausschüsse
usw.) empfohlen, Ethikkomitees mit beratendem Status einzurichten.? Diese Einführung wirkte sich sowohl auf die Autorität der I Siehe S. 91 bei C.G. Foster (1992), »Research Ethics Committees in Britain«, in: C.J. Williams (Hg.), Introducing New Treatments for Cancer: Practical, Ethical and Legal Problems, London: Wiley and Sons, 5.91-102. 2 Siehe die Dokumente des Medical Research Council (1964), Responsibility in investigations on human subjects. Report of the MRC for the year 1962-3, London: HMSO. Des weiteren siehe Royal College of Physicians
166
Komitees als auch auf die Einheitlichkeit ihrer Praxis und Struktur
aus. Zwei Punkte verdienen Beachtung. Das Memorandum sprach nur eine Empfehlung aus, und die einzurichtenden Komitees sollten nur beratenden Status haben. Aus ersterem folgt, wie viele Kom-
mentatoren bemerkt haben, daß Ethikkomitees in Großbritannien
während des ersten Vierteljahrhunderts ihrer Existenz keinen rechtlichen Status hatten. (Inwiefern ihr rechtlicher Status auch
heute noch unklar ist, werde ich später erklären.) Was den zweiten Punkt betrifft, so gab es anfangs keinerlei spezifische Richtlinien für die Praxis solcher Komitees. Der offizielle Grund hiertür war, daß die Praktiken flexibel sein sollten, um lokal unterschiedliche Bedürfnisse befriedigen zu können, aber zweifellos ließ die Vor-
gabe, daß sie lediglich mögliche Quellen von Ratschlägen darstellen sollten, es weniger dringlich erscheinen, einheitliche Operationsweisen zu entwickeln. Den LFKs hat es also ursprünglich in zweierlei Hinsicht an Autorität gemangelt. Es war rechtlich nicht zwingend, daß Forscher ihre Versuchspläne zur Begutachtung einreichten; und selbst wenn ein Komitee einen Versuchsplan begutachtete, stellten dessen Er-
wägungen doch nur eine Art Ratschlag dar, der von der lokalen Institution des Gesundheitswesens beherzigt oder ignoriert werden konnte. Daher ist die Entwicklung von LFKs auf recht verschlungenen Wegen verlaufen. Die lokalen Gesundheitsämter reagierten unterschiedlich schnell. Es gab kein zentrales Register für LFKs und darum auch wenig Kommunikation zwischen ihnen. Auch nachdem endlich eine Reihe von Richtlinien zu ethischen Prinzipien, Problemstellungen und Aufbau von LFKs herausgebracht worden war (als Ergebnis der Bemühungen von ärztlichen Körperschaften, der Pharmaindustrie und dem Gesundheitsministerium), wurden diese Leitlinien oft ignoriert (oder übersehen?). Dennoch: Die LFKs verdanken ihre Existenz dem Memorandum
des Gesundheitsministeriums von 1968. Sie stellen die bislang (1967), Supervision of the ethics of clinical research, London: HMSO; Ministry of Health (1968), Supervision of the ethics of clinical research,
London: HMSO. Die wichtigsten Dokumente werden auf S. 1437 zitiert in C. G. Gilbert, K. W. M. Fulford und C. Parker (1989), »Diversity in the practice of district ethics committees«, in: British Medical Journal 289, S. 1437-1439.
167
einzige Form medizinischer Ethikkomitees in England dar. Sie befassen sich allein oder vorwiegend mit Fragen der medizinischen Forschung und bearbeiten fallweise die eingereichten Forschungsanträge. (In der Regel befassen sie sich also nicht mit »klinischen«,
auf Fragen der ärztlichen Behandlung bezogenen Moralproblemen.)
Nach diesen Bemerkungen ist es wohl nicht verwunderlich, daß erste Übersichten über LFKs in England in den 80er Jahren eine enorme Unterschiedlichkeit registriert haben. Z. B. hat eine von
Nicholson 1982-83 bei 174 LFKs durchgeführte Untersuchung nicht nur Unterschiede in der Anzahl (I bis 73 Mitglieder) und
Zusammensetzung (Arzte, Pflegepersonal, Laien) der Komitees festgestellt, sondern auch darin, ob ihnen von den lokal anfallen-
den Forschungsvorhaben alle oder nur einige zur Beurtelung vorgelegt werden mußten. Nicholson betand, LFKs seien im Ver-
ständnis ihres Auftrags unsicher, variabel in ihren Praktiken und
inkohärent in ihrer Zugangsweise.? Weitere Surveys Ende der 80er Jahre bereicherten dieses Bild noch um Daten über Unterschiede in der Häufigkeit der Sitzungen, in den erstellten Antragsformularen und den internen Leitlinien der Komiteemitglieder.4
Bemühungen zur Vereinheitlichung kamen nur langsam voran. Das Royal College of Physicians gab 1984 Richtlinien zur Arbeits-
weise von LFKs heraus, aber erst 1991 schrieb das Gesundheitsministerium für jeden Verwaltungsbezirk die Einrichtung eines LFKs vor und erstellte detaillierteres Informationsmaterial zur
Orientierung über ihre Zusammensetzung und Funktionsweise.
Doch auch dieses Material hat nur den Status einer Empfehlung ohne rechtliche Bindewirkung. Einheitlichkeit ist also selbst auf dieser formalen Ebene immer noch in weiter Ferne. Auch die Festlegung der Autorität der LFKs kommt nur langsam voran. Offiziell sind die LFKs an diejenigen Behörden des Gesund-
heitssystems, die für die Regelung der medizinischen Forschung 3 R. H. Nicholson (Hg.) (1986), Medical research on children: ethics, law
and practice, Oxford: Oxford Medical Publications.
4 Gilbert, Fulford und Parker, »Diversity in the practis« (siehe Anm. 2); Southampton Research Ethics Committee (1988), »Ethical Committees«, Southampton: Southampton Research Ethics Committees. 5 Research involving patients, London: Royal College of Physicians. K. G. M. M. Alberti (1995), »Local Research Ethics Committees«, in: British Medical Journal 3II, S. 639-640.
168
zuständig sind, lediglich beratend angeschlossen, obwohl es in-
zwischen für Forscher sehr schwierig geworden ist, sie zu umgehen. Zum Teil hat das damit zu tun, daß eine Reihe von Richtlinien
(zu Medikamenten-Wirkungsstudien und zu Forschungsvorhaben, die Krankenakten von Patienten auswerten) als Direktiven
der Europäischen Union hinzugekommen sind. Den EU-Richtlinien ist es zu verdanken, daß keine von der Pharmaindustrie
geförderte Forschung betrieben werden darf, ohne von einem LFK als zulässig beurteilt worden zu sein. Interessanterweise
wird die Vorgabe auf EU-Ebene und ihre nationale Implementie-
rung vielleicht mittelbar dazu führen, daß LFKs einen klaren rechtlichen Status erhalten.
Werfen wir noch einen Blick auf den Inhalt der Richtlinien, die das
Gesundheitsministerium 1991 erlassen hat. Sie schreiben für LFKs
eine Anzahl von acht bis zwölf Mitgliedern vor und begründen
dies damit, daß diese Größenordnung eine hinreichende Band-
breite von Sachverstand erlauben sollte, so dal »die wissenschaft-
lichen und medizinischen Aspekte eines Forschungsvorhabens ebenso wie das Wohlergehen der Versuchspersonen und weitere ethische Implikationen verschiedener Art in die Überlegungen einbezogen werden können«. Wichtig sind noch folgende Vorgaben: Für die empfohlene Zusammensetzung sollten Männer und Frauen verschiedenen Alters vertreten sein, an Berufen ärztliches Klinikpersonal, wissenschaftliche Mitarbeiter, Pflegepersonal, Allgemeinärzte und zwei oder mehr Laien. Diese Mitglieder dürfen durchaus mit bestimmten gesundheitsbezogenen Interessengruppen identifiziert sein, jedoch »sind LFK-Mitglieder keine Re-
präsentanten solcher Interessengruppen. Sie sind zu unabhängigen
Mitgliedern ernannt, die im LFK als Personen mit relevanten Er-
fahrungen und gutem Urteilsvermögen mitarbeiten sollen«? Außerdem enthalten die Richtlinien die Empfehlung, den Posten des Vorsitzenden oder seines Stellvertreters mit einem (nichtwissenschaftlichen, nichtmedizinischen) Laien zu besetzen. Bemerkenswert unter den weiteren Empfehlungen ist noch, daß jedes LFK einen der interessierten Öffentlichkeit frei zugänglichen Jahresbericht erstellen soll.
6 Department of Health (1991), Local Research Ethics Committees, Lon-
don: HMSO. 7 Meine Hervorhebung, C. M.
169
Doch auch die detaillierteren Richtlinien haben nur wenig Vereinheitlichung bewirkt, wie zwei neuere Untersuchungen gezeigt haben. Neubergers Übersichtsstudie von 1992 ergab Abweichun-
gen von der empfohlenen Zusammensetzung nicht nur in der Komiteegröße, sondern auch in allen genannten Dimensionen der Repräsentation. Ethnische Minderheiten waren kaum, Klinikärzte waren übermäßig in den LFKs vertreten. Foster beschreibt in
einem Artikel von 1995, daß ein Fünftel der Komitees keine
Jahresberichte veröffentlichen, daß die veröffentlichten zwischen
einer und 4o Seiten lang sind und daß nur in wenigen Berichten alle
vorgesehenen Informationen enthalten sind. Eine Analyse der Jahresberichte ergab, daß 199s immerhin die meisten Komitees zwei oder mehr Laienmitglieder hatten, die in 59 % der Komitees Vorsitzende oder stellvertretende Vorsitzende waren. Aber beide genannten Surveys belegen, daß es - von den Variationen in der Zusammensetzung und den Berichten einmal abgesehen - große Unterschiede zwischen Komitees in der Arbeitsmenge gibt. LFKs
beurteilten 1995 zwischen 13 und 3s1 Forschungsanträge. Neuberger registriert auch erhebliche Unterschiede in der Zeit, die sozusagen für das Anlernen neuer Mitglieder aufgewandt wird; Neubergers Survey bemerkt auch schon (wie neuerdings viele Autoren) den Mangel an speziellen Bildungsangeboten für LFK-
Mitglieder.® Zusammenfassend kann man sagen, daß LFKs formal betrachtet
zwar an Einheitlichkeit und Autorität ein wenig gewonnen haben, 8 Neubergers Survey basiert auf der Auswertung von 225 Komitees. Hier einige der Befunde: 43 % waren entweder zu klein oder zu groß (24 % hatten weniger als 8, 19 % mehr als 12 Mitglieder). 34 % hatten kein oder nur ein Laienmitglied (bei einem Gesamtanteil von 19 % Laien). In einer
erheblichen Anzahl von Komitees gab es weder einen Allgemeinarzt noch eine Schwester oder einen Pfleger. Obwohl ein Großteil der einge-
reichten Forschungsvorhaben sich auf Medikamente bezieht, gab es bei
44 % keinen Pharmakologen (wobei die Komitees allerdings auch externe Berater einschalten können). Nur die Hälfte der Komitees hatte
überhaupt weibliche Mitglieder, und bei diesen machen Frauen insgesamt nur ein Viertel der Mitglieder aus. Unter 337 Mitgliedern waren nur
2 Farbige. Bei 34 % der Komitees gab es 6 oder mehr Klinikärzte, die insgesamt $ 2 % aller Mitglieder stellten. Vgl. auch C. G. Foster, T. Mar-
shall und P. Moodie (1995), »The Annual Reports of Local Research Ethics Committees«, in: Journal of Medical Ethics 21, S. 214-219.
170
aber in ihrer Struktur und ihren Praktiken sehr auseinandergehen. Ihr »Personal« besteht großteils aus hart arbeitenden und engagierten, aber unausgebildeten Freiwilligen. Da die unterschiedlichen formalen Arrangements dazu führen, daß diese Freiwilligen mit den ihnen vorgelegten Forschungsvorhaben auf verschiedene Weisen umgehen, kann es nicht verwundern, daß sie zu divergenten Urteilen kommen, ob ein Vorhaben überhaupt akzeptiert
werden soll oder wie es gegebenenfalls zu verbessern sei.
2. Zur Effektivität der Komitees Die aktuelle Literatur über LFKs beschäftigt sich besonders mit zwei Problemdimensionen. Die eine bezieht sich auf die Perspektive der Mitglieder, die andere auf die Nutzer von LFKs. Was den Mitgliedern zu schaffen macht, ist ihr Arbeitsvolumen, ihr Mangel an spezieller Ausbildung und die Unklarheit über die Ziele der Komitees, während unter den Forschern, die die Komitees einschalten müssen, die Nervosität über die hierdurch entstehende Extraarbeit wächst. Letztere fordern Reformen zur Beschleunigung des Verfahrens speziell bei multizentrischen Studien. Vor diesem Problemhintergrund und der Beschreibung des aktuellen Zustands der LFKs drängen sich vier Fragen über dieses moralische Regulationssystem auf. (I) Wie effektiv sind LFKs als Institutionen, die autoritative Urteile über die moralischen Auf-
lagen von Forschungsvorhaben fällen sollen? Im Folgenden
möchte ich behaupten, daß die Antwort auf diese Frage von der Hintergrundauffassung abhängt, was eine gerechte ethische Regulierung sei. Die Beantwortung der ersten Frage kommt dem Nachdenken unmittelbar über die folgenden drei zugute. (2) Welches Modell gerechter ethischer Regulierung verkörpern die britischen LFKs am deutlichsten? (3) Was sagen uns die beobachteten Probleme der LFKs über das System, dem die LFKs am deutlichsten entsprechen? (4) Was sagen uns mögliche Verbesserungen im briti-
schen System über verschiedene Modelle gerechter ethischer Regulierung?" Die folgende Argumentation geht von der These aus, daß gegen9 Diese Fragen machen den Gedanken plausibel, daß Modelle gerechter ethischer Regulierung dem Nachdenken über LFKs nicht einfach nur die
17I
wärtig unsere LFKs im großen und ganzen einer liberalen Modellvorstellung ethischer Regulierung entsprechen. Diese Charakterisierung hat zwei Seiten. Zum einen besagt sie, daß nicht alle Aspekte unseres Systems von LFKs Ausdruck liberaler Ideale sind; das System ist also in dem Sinne intern nicht völlig kohärent,
daß es einem einzigen kohärenten Modell gerechter ethischer
Regulierung entsprechen würde. Zum andern zeigt sich, daß eine Deutung des aktuellen LFK-Systems mit Hilfe von kommunitaristischen Modellvorstellungen keinen besseren Sinn macht, da
die einzige derartige Vorstellung, die vielleicht anwendbar wäre, sich auf theoretischer Ebene als unplausibel erweist. Die liberale Deutung des Systems wird dessen Gegebenheiten daher noch am ehesten gerecht. Dementsprechend zeige ich im nächsten Punkt meiner Argumentation, daß einige der offensichtlichen Schwierigkeiten mit LFKs Standardprobleme der politischen Theorie des Liberalismus sind. Die Schwierigkeiten sind daher nicht nur solche der Praxis des LFK-Systems, sondern auch der liberalen Theorien gerechter ethischer Regulierung. Diese Argumentationslinie wirft Fragen auf, wie effektiv LFKs sein können (da sie mit Schwierigkeiten konfrontiert sind, die als Standardprobleme der theoreti-
schen Modelle, denen sie am ehesten entsprechen, bekannt sind). Sie stellt aber auch die Haltbarkeit einer liberalen Theorie gerech-
ter ethischer Regulierung infrage.
In einem weiteren Argumentationsschritt werden dann einige aktuelle Veränderungsvorschläge für das LFK-System unter dem Gesichtspunkt betrachtet, ob sie eher liberal geprägt sind oder ob
sie eine kommunitaristische Sichtweise voraussetzen. Die Reflexion dieser Vorschläge stellt eine liberale Auffassung einer gerech-
ten ethischen Regulierung noch mehr in Frage als eine kommu-
nitaristische. So hat das Argument praktische wie auch theoretische Implikationen, indem es zum einen Probleme beim Versuch, die Effektivität der LFKs zu verbessern, deutlich macht und zum andern auf Schwierigkeiten in zwei bekannten Theorien gerechter ethischer Regulierung hinweist.
Der vierte Schritt lenkt die Aufmerksamkeit in die demokratische
Blickrichtung. Es wird gezeigt, daß man von einem liberalen
Standpunkt aus erwarten dürfte, daß die LFKs auf eine ganz beMaßstäbe liefern, sondern auch ihrerseits in der Konfrontation mit der Erfahrung von LFKs einem Test ausgesetzt sind.
$72
stimmte Weise demokratischer werden sollten, als sie heute sind. Womöglich hätten solcherart demokratisierte LFKs dann allerdings mit Status- und Verantwortlichkeitsproblemen zu kämpfen. (Damit kämpfen sie natürlich auch jetzt schon; der Punkt ist, daß mehr Demokratie hier keine Abhilfe schafft.) So stellt sich die
Frage, wie demokratisch ein (liberales) System ethischer Regulierung überhaupt sein sollte. In gewissem Sinne argumentiere ich aporetisch: Ich zeige ernsthafte Schwierigkeiten im LFK-System auf, die dessen vorwiegend liberaler Prägung geschuldet und durch mehr Liberalismus bzw. mehr (liberal verstandene) Demokratie auch nicht zu lösen sind. Das scheint zugunsten kommunitaristischer Lesarten gerechter ethischer Regulierung zu sprechen. Doch ich behaupte auch, daß von dieser Seite kein besseres Alternativmodell zu erwarten ist.
3. Charakteristische Schwiergkeiten Aus der externen Perspektive der Forscher, die ihr Projekt einem LFK vorlegen müssen, ist der zu erwartende oder zu befürchtende
Arbeitsaufwand besonders bei Plänen für multizentrische, eine Anzahl von Einrichtungen an verschiedenen Orten einbeziehende
Vorhaben enorm, da die Versuchspläne von allen Komitees aller
Einrichtungen gebilligt werden müssen. In einer Untersuchung neueren Datums werden z. B. Versuchspläne beschrieben, die bis
zu 162 mal vorgelegt werden mußten. ° Eine Forschergruppe hatte 118 verschiedene Antragsformulare zu bearbeiten, in einer anderen unterschieden sich alle auszufüllenden Antrage inhaltlich und umtalsten zwei bis zehn Seiten. In einem fall varnerte die Leit bis
zum Bescheid des Komitees zwischen sechs und 161 Tagen, in einem anderen Fall lag von einem Viertel der einbezogenen Komitees nach drei Monaten noch keine Antwort vor. Auch die verschiedenen Veränderungen, die den Forschern seitens der Komitees zur Auflage gemacht wurden, variierten sehr stark. Eine Untersuchung kalkuliert einen Aufwand von sieben bis acht Wochen Personaleinsatz von einer Forschergruppe, um mit den Ethikkomitees zurecht zu kommen. 10 Für die im folgenden genannten Daten siehe Alberti, »Local Research Ethics Committees« (siehe Anm. 5).
173
Aber der Aufwand an Zeit und anderen Ressourcen, der für die
betroffenen Forscher hier noch im Vordergrund steht, führt über kurz oder lang dazu, daß ein anderes Problem akut wird. Angesichts der frustrierenden Unterschiedlichkeit der Verfahren und
Antworten werden immer mehr Forscher die Rolle der Komitees in Frage stellen. Dieses Problem hat eine theoretische Pointe, es
muß nämlich bei der Einschätzung der Effektivität der Komitees
berücksichtigt werden, in welchem Ausmaß ihre Urteile von der
Gemeinschaft der Forscher, mit der sie am direktesten zu tun
haben, als wohlbegründet wahrgenommen werden.
Was die schon angeführten Wahrnehmungen interner Schwierigkeiten betrifft - Arbeitsvolumen, mangelnde Ausbildung, Unklarheit über den Zweck der Komitees -, so ist zu den beiden ersten nichts weiter zu erklären. Die Mitglieder von LFKs sind grundsätzlich Freiwillige, haben aber in einigen Fällen mit hunderten umfänglichen Forschungsplänen pro Jahr zu tun - daß sie über ein derartiges Material sorgfältig nachdenken können, ist schwer vor-
stellbar. Hier wirkt das Fehlen einer speziellen Ausbildung zu-
sammen mit der aus der unklaren Zwecksetzung folgenden Un-
sicherheit bei den Mitgliedern über die Fähigkeiten, die sie haben sollten. Überhaupt läßt sich die Effektivität von LFKs kaum einschätzen, solange wir keine theoretische Klärung ihres Zwecks
zugrunde legen können. Wie diese Klärung ausfallen kann, ist wiederum nicht unabhängig von der jeweils zugrunde gelegten Theorie gerechter ethischer Regulierung.
4. Zum Zweck der Komitees Natürlich besteht auf einer abstrakten Ebene Einigkeit über den Zweck von Ethikkomitees, die Praxis medizinischer Forschung unter einer ethischen Perspektive zu regulieren. Die zwei entschei-
denden Fragen zur Zwecksetzung sind damit aber noch nicht beantwortet: Welche Gesichtspunkte müssen einbezogen werden,
um von einer umfassenden ethischen Perspektive sprechen zu dürfen (Q1)? Auf welche Weise sollte ein Komitee im Licht der Gesichtspunkte, die es für ethisch relevant hält, ein Urteil bilden (Q2)? Mit bezug auf diese beiden Fragen können Komiteemitglieder erstens Schwierigkeiten damit haben, was sie sich am besten als den Zweck ihrer Arbeit denken sollten in Anbetracht 174
dessen, wie die Komitees gegenwärtig tatsächlich funktionieren. Zweitens, und hiervon unabhängig, können sie Schwierigkeiten damit haben, die Zwecke zu bestimmen, die LFKs überhaupt verfolgen sollten. Ich setze nun bei der ersten Schwierigkeit an (wie die gegenwärtig existierenden LFKs am besten begriffen wer-
den sollten). Das wird dann eine Grundlage liefern für die im nächsten Abschnitt angestellten Überlegungen zu den Zielen, die sie in einem gerechten System haben sollten. Zu QI: Blickt man auf die zwei Gründe zurück, denen LFKs ihre Existenz ursprünglich verdanken (Patienten vor unzulässiger medizinischer Forschung zu schützen bzw. unzulässige Forschung zu
verhindern), dann versteht man sogleich, mit welcher Art von Argument diejenigen, die daran interessiert sind, medizinische Forschung zu betreiben, diesen Gründen begegnen: sie argumentieren nämlich, daß die medizinische Forschung Bedeutendes zum menschlichen Wohlergehen beitragen kann. So sagt z. B. die Voluntary Licensing Authority,"' daß Mitglieder von LFKs »den be-
ständigen Fortschritt der Reproduktionsmedizin und der medizi-
nischen Wissenschaft wertschätzen sollten«, Dieser Gesichtspunkt (des Beitrags zu menschlichem Wohlergehen) soll bei der Erwägung der Zulässigkeit von Forschung in Betracht gezogen werden; freilich könnte er auch als ein Gesichtspunkt zur Abwägung gegen
das Erfordernis, Patienten zu schützen, behandelt werden. Ein vierter Gesichtspunkt, der bei manchen Komitees im Spiel ist,
sind finanzielle Gründe: ob und gegebenenfalls wieviel der Forscher bezahlt bekommt und ob die Versuchspersonen darüber informiert werden sollen; ob und gegebenenfalls wie hoch die Versuchspersonen ihre Teilnahme honoriert bekommen. Doch nur wenige Komitees scheinen über substanzielle Fragen zu de-
battieren, etwa über die Verwendung abgetriebener Feten zu Forschungszwecken. Man kann ermessen, wie vage es für viele Mitglieder von LFKs bleibt, was nun eigentlich den Inhalt ihrer Debatten ausmachen soll. Unterm Strich kann wohl der Hauptzweck, dem die gegenwärtig bestehenden LFKs dienen sollen, als Schutz Il Voluntary Licensing Authority (1989), »IVF Research in the UK: A Report of Research Licensed by the Interim Licensing Authority for Human In Vitro Fertilisation and Embryology 1985-1989, London: Interim Licensing Authority, S. 38. 12 J. Neuberger (1992), Ethics Committees in the United Kingdom, London: King's Fund.
I75
der Versuchsperson angesichts nötiger Fortschritte der medizinischen Wissenschaft bestimmt werden. Nun zu Q2: Wie sollte in LFKs im Licht ihrer Zielsetzung eine Urteilsbildung erfolgen? (Q2 kann sich mit Qi überlagern, da man die Auffassung vertreten kann, daß mit Qz auch danach gefragt wird, wie ein LFK bestimmen sollte, welche Inhalte überhaupt zu diskutieren sind, und nicht nur, auf welche Prinzipien zu rekur-
rieren ist, um die Inhalte zu diskutieren.) Drei Möglichkeiten bieten sich an. Das Komitee kann mit seinen Urteilen gleichsam die Rolle einer Jury oder eines Wachhunds einnehmen; oder es
kann versuchen, Standards zu setzen; oder es kann versuchen, konsensuell validierte Urteile ohne Rücksicht darauf zu bilden,
mit Hilfe welcher Prinzipien (wenn überhaupt) der Konsens zu-
stande kommt.3 Ob ein LFK wie eine Jury oder wie eine Art
Wachhund begriffen wird, seine Rolle wird dann jedenfalls darin bestehen, zu kontrollieren, daß ein Forschungsvorhaben keines der Prinzipien, die dem LFK schon vorgegeben sind, verletzt. z. B. könnten sie, falls die Einhaltung dieser beiden Prinzipien vereinbart ist, sicherstellen, daß keine ungebührlich invasiven Methoden eingeplant werden und daß die mit der Durchführung eines Forschungsvorhabens betrauten Personen hierfür auch hinreichend
qualifiziert sind. Allerdings macht schon dieses Beispiel die Hauptschwierigkeit in diesem Verständnis der Urteilsbildung
klar: ihre Voraussetzung sind Richtlinien (Normen, Prinzipien), deren Einhaltung vereinbart ist; aber die Varianz in den Entscheidungen, zu denen LFKs kommen, scheint zu bezeugen, dals diese Voraussetzung nicht gegeben ist.!* Sollten LFKs ihre Arbeit also besser auf die zweite Weise deuten, nämlich als Versuch, selber klare ethische Standards zu setzen? Doch das könnte angesichts der beobachteten Varianz in den Entscheidungen als Anmaßung erscheinen. Warum sollte ein bestimmtes Komitee seine eigenen Standards für autoritativ halten, wenn andere Komitees anschei-
nend mit anderen Standards operieren? Tatsächlich ist dieses
Selbstverständnis wohl auch selten. Neuberger15 zitiert Mitglieder,
die meinen, daß ihre Komitees »sich nicht unbedingt darüber 13 Vergleiche Neuberger (ebd.), S. 37. 14 Beispiele bei Alberti, »Local Research Ethics Committees« (siehe Anm.
5).
I5 Neuberger, Ethic Committees (siehe Anm. 12).
176
sicher sind, daß sie moralische Urteile bilden sollten bzw. daß sie sich die Weise, wie sie ihre Urteile bilden, überhaupt explizit vor Augen führen sollten«. Vier seiner Interviewpartner geben an, daß »ein Großteil unserer Arbeit nach dem Motto läuft ›soweit ist das dann in Ordnung, wir haben keine Einwändes, statt nach klaren Kriterien für akzeptable bzw. inakzeptable Forschung«. Das scheint eher für die dritte, konsensualistische Auffassung der Urteilsbildung zu sprechen, wobei die Mitglieder sich dann wohl eher
darüber unsicher sind, ob dies die richtige Auffassung für ein Ethikkomitee ist.
5. Politischer Liberalismus Ungeachtet der im vorigen Abschnitt beschriebenen, für den gegenwärtigen Stand der LFKs charakteristischen Unsicherheiten zeichnet sich ab, daß die Zweckbestimmung, Patienten bzw. Versuchspersonen zu schützen, für die wichtigste gehalten wird. Für unsere weitere Beurteilung der so verstandenen LFKs ist es hilf-
reich, zu klären, welcher Modellvorstellung ethischer Regulierung sie unter den gegenwärtigen Operationsbedingungen am ehesten
entsprechen.! Die bislang beschriebenen Beobachtungen lassen sich gut mit der Auffassung vereinbaren, daß das britische LFKSystem grundsätzlich einem liberalen Regulationsmodell entspricht. Ich möchte deshalb jetzt eine Bemerkung einschalten,
was mit Liberalismus gemeint ist und wie man sich dementspre-
chend vorzustellen hat, wie ein Liberaler an Ethikkomitees »herangeht«. Rawls ist für mich der Hauptexponent des politischen Liberalismus; seine Position ist mit der »klassischen« von Mill kompatibel.! Rawls verteidigt eine »dünne« Auffassung vom Guten, derzufolge die Gesellschaft so organisiert sein sollte, daß alle Mit16 Überhaupt hängt die Klärung der Zwecke von Ethikkomitees davon ab, welche Auffassung man von einer gerechten ethischen Regulierung hat. Vergleiche hierzu M. Kettner, 1996, »Discourse Ethics and Health Care Ethics Committees«, in: Jahrbuch für Recht und Ethik 4, S. 24917 J. Rawls (1971), A Theory of Justice, Oxford: University Press; J. S. Mill
(1974), On Liberty (herausg. von G. Himmelfarb), Harmondsworth: Penguin.
177
glieder die größtmögliche Freiheit haben, ihre je eigenen Vorstellungen vom Guten zu verfolgen, in Einklang mit den Prinzipien der Gerechtigkeit. Rawls' erstes, lexikalisch vorrangiges Gerech-
tigkeitsprinzip, das Freiheitsprinzip, drückt diesen Gedanken aus.18 Der verwandte Gedanke bei Mill ist, daß der Staat in die Handlungsfreiheit seiner Bürger nur insoweit eingreifen sollte, wie
einigen durch die Aktivitäten anderer ein Schaden droht. Man
könnte meinen, daß ein Liberaler für unregulierte Forschungsfreiheit eintritt; daß es Forschern freistünde, ihre je eigenen Konzep-
tionen des Guten zu verfolgen, und im übrigen könnte jeder, der
dies wünscht, sich als Versuchsperson zu Verfügung stellen. Aber der politisch Liberale im Sinne von Mill und Rawls kann zugunsten von Regulierungen mit der Möglichkeit der Schädigung von Versuchspersonen durch bestimmte Forschungsaktivitäten argumentieren sowie damit, daß Patienten aufgrund ihrer Position womöglich gar nicht frei über ihre Teilnahme entscheiden können. 18 Rawls, A Theory of Justice (siehe Anm. 17), S. 60. Der hier wichtige Kontrast ist der zwischen »dünnen« und »gehaltvollen« Konzeptionen
des Guten. Wer, wie Rawls, für eine dünne Konzeption des Guten plädiert, ist überzeugt, daß es unmöglich ist, eine markante Konzeption
des für Menschen Guten zu begründen, die die geeignete Konstruktionsbasis für Prinzipien distributiver Gerechtigkeit abgeben könnte.
(Daher ist das Richtige dem Guten überzuordnen, was gerecht ist, muß
sich unabhängig von jeder Idee des guten Lebens bestimmen lassen; es
muß geklärt werden, bevor bestimmt wird, welche Konzeptionen des Guten verfolgt werden dürfen.) Der Staat sollte sich gegenüber ver-
schiedenen Konzeptionen des Guten neutral verhalten. - Wer eine gehaltvolle Konzeption des Guten verteidigt, ist überzeugt, daß sich eine bestimmte Auffassung des für Menschen Guten, mit der auch Prinzipien der Verteilungsgerechtigkeit konstruierbar sind, begründen läßt, und daß der Staat daher diese Auffassung (oder mit ihr konsistente Auffassungen) des Guten begünstigen muß. Da für Rawls das Richtige
Vorrang vor dem Guten hat, fügt er die Bedingung hinzu, daß nur diejenigen Konzeptionen des Guten verfolgt werden dürfen, die mit den Gerechtigkeitsprinzipien konsistent sind. Patriarchale Konzeptionen des Guten z. B. schließt er aus (siehe Rawls, ebd., S. 398 und 447), doch scheint er diesen Gedanken in späteren Arbeiten leicht modifiziert zu haben (siehe J. Rawls, Political Liberalism, New lork: Columbia University Press). Zum Neutralitätsgedanken im zeitgenössischen Liberalismus siehe auch W. Kymlicka (1989), »Liberal Individualism and Liberal Neutrality«, in: Ethics 99, S. 883. 178
Sobald LFKs die liberale Grundbedingung erfüllen und garantieren, dals die Teilnahme von Patienten als Versuchspersonen absolut
freiwillig und ohne unwillentliche Risiken erfolgt, könnte man
nun - mit Rawls - erwarten, daß sein zweites Gerechtigkeits-
prinzip, das Differenzprinzip, ins Spiel gebracht wird. Denn Gesundheit ist eines der von Rawls sogenannten Primärgüter, und er argumentiert, daß eine anfänglich gleiche Verteilung der Primärgüter nicht verändert werden soll, außer wenn durch die resultierenden Ungleichheiten alle besser gestellt werden. (Wie sich zeigen läßt, ist Rawls' Forderung von Pareto-Optimalität stärker, als sie sein muls, wenn man eine liberale Position beibehalten will.) So
gesehen gehört es zur Aufgabe von LFKs, dafür zu sorgen, daß die Teilnahme an medizinischen Versuchen niemanden schädigt, außer wenn mit der Teilnahme ungleiche Gesundheitsrisiken verbunden
sind, die letztlich allen zugute kommen. Tatsächlich aber unterscheidet Rawls zwei Arten von Primärgütern und zählt Gesundheit unter die natürlichen Primärgüter, wie körperliche Stärke und Intelligenz. Natürliche Primärgüter sind »nicht so direkt unter der Kontrolle [der Basisstruktur distributiver Gerechtigkeit]«! Ge-
sundheit fällt also tatsächlich nicht unter das Differenzprinzip. Wie dem auch sei - da das basale liberale Prinzip das der größtmöglichen individuellen Freiheit, durch die niemand geschädigt wird (Mill und Rawls), ist, und das Differenzprinzip (Rawls) nur hinzutritt, sollten LFK-Mitglieder aus liberaler Perspektive ihre Schlüsselaufgabe im Schutz von Versuchspersonen erblicken. Zu einem liberalen System für die Regulierung der Forschung am Menschen kann charakteristischerweise auch zählen, daß die Mitglieder ermuntert werden, auch bei ihren Beiträgen zu den Uberlegungen des Komitees ihre je eigenen Vorstellungen des Guten zu vertolgen. Denn im Liberalismus wird klassischerweise angenom-
men, daß der Wert der Freiheit darin liegt, dem Einzelnen zu erlauben, eine Vielzahl weiterer für wertvoll gehaltener Ziele zu
verfolgen. Und gewiß ist ein LFK ein Ort, an dem Personen weitere Ziele, die sie für wertvoll halten, verfolgen können. Ein Mitglied sollte sich in seinen Ansichten darüber, welche medizinische For-
schung stattfinden bzw. unterbleiben sollte, von seiner persönlichen Auffassung des Guten leiten lassen.20 19 Rawls, A Theory of Justice (siehe Anm. 17), S. 62, siehe auch S. 92. 20 Die liberale Position vermischt hier (in den klassischen Positionen bei
179
Unsere Bemerkungen gehen dahin, daß forschungsethische Komitees nach liberalem Begriff so verfaßt sein sollten, daß sie I. eine
Minimalregulierung (nur Schutz von Versuchspersonen) 2. mit einer lokalen institutionellen Ebene (auf der sich verschiedenartige
Vorstellungen des Guten zu artikulieren vermögen) verbinden.
Liberale würden dies einem auf nationaler Ebene angesiedelten Komitee vorziehen, das die für die Forschungsregulierung relevanten Werte definiert und landesweit durchsetzt. (Wir werden gleich auf die Spannung zwischen den beiden Bestimmungen zu sprechen kommen.) Die zweite genannte Bestimmung scheint auch 3. für eine konsensuelle Urteilsbildung in Komitees zu sprechen. Die liberale Ansicht, daß dem Einzelnen die Verfolgung konkurrierender Vorstellungen des Guten freigestellt sein muß,
beißt sich mit der Möglichkeit prinzipieller Werturteile über verschiedenartige Vorstellungen. Und so wird die Suche nach Konsens (ohne allzuviel Aufmerksamkeit auf seine Grundlage) die bevorzugte liberale Methode der Urteilsbildung und Entscheidungstindung sein. Das derzeitige britische System kommt nicht nur den ersten beiden liberalen Bestimmungen sehr nahe, sondern anscheinend auch der dritten: Die LFKs halten sich an jeweils eigene Vertahrensregeln und sind (wie die Zitate von Mitghedern belegen) miltrauisch gegen Moralexperten.21 Wie ein anderes Mitglied sagt, sind die Mill und Rawls sogar: untrennbar) zwei Ideen - den Wert der Freiheit
und die Bedeutsamkeit von Pluralismus -, die im Folgenden zwar miteinander verschränkt bleiben, im Prinzip aber auch getrennt behandelt werden könnten. Daß Individuen unterschiedliche Konzeptionen des Guten verfolgen, hat explizit für Rawls einen intrinsischen Wert (Rawls, ebd., S. 448f.). Auch Mill, On Liberty (siehe Anm. 17),
scheint Pluralismus für intrinsisch wertvoll zu halten, siehe Humboldts Diktum von der absoluten und wesentlichen Bedeutung menschlicher Entwicklung in reichster Vielfalt, das Mill als Motto seiner Freiheitsschrift voranstellt. Für eine detailliertere Diskussion von Mill siehe C. Megone (1992), »Truth, the Autonomous Individual, and Toleration«, in J. Horton und P. Nicholson (Hg.), Toleration: Philosophy and Practice, Aldershot: Avebury Press. 21 Der Begriff eines Moralexperten ist problemgeladen. (Siehe den Beitrag
von Rippe im vorliegenden Band.) Ich denke hier primär an eine
Person, die durch eine spezielle Ausbildung fähig ist, dem Komitee
zu helfen, zu moralisch richtigen (»korrekten«) Urteilen zu kom-
men. I80
Komitees »pragmatisch - sie zielen auf gemeinsame Zustimmung, auch wenn diese auf verschiedenen Ausgangspunkten beruht.« Diese Herangehensweise wird auch in den VLA-Leitlinien bekräftigt: »Es ist nicht nötig, daß die Mitglieder der Komitees Experten tür Moralphilosophie oder für andere besondere Disziplinen sind; nötig ist nur, daß es sich um Personen handelt, die guten Willens und fähig zum Nachdenken sind, und daß sie eine hohe Achtung für die menschliche Personalität aufbringen und Wahrhaftigkeit schätzen.«22 Die interne Reflexion des Komitees orientiert sich demnach an dem iberalen Ideal, Meinungsverschiedenheiten an-
gesichts potentiell konfligierender Vorstellungen des Guten durch Konsens aufzulösen.
LFKs weisen noch zwei weitere Züge eines liberalen Modells ethischer Regulation auf. LFKs haben bezüglich ihrer Urteile keine
Durchsetzungsmacht; auch nur die Implementierung ihrer Entscheidungen zu überwachen, vermögen nur sehr wenige. Es gibt auch keine generellen Sanktionen - von Ausnahmen abgesehen für Forscher, die ihre Vorhaben ohne Genehmigung durch ein LFK
durchführen. Allerdings ist die Forschung für Pharmaunternehmen heute auf der Ebene der europäischen Union reguliert. 23 Man kann das mit einem (irgendwie kommunitaristisch wirkenden) Regulierungssystem kontrastieren, in dem gewisse ethische
Grundwerte oder Prinzipien für die Forschung vom Staat definiert werden und die Gerichte dann im Einzelfall im Licht der verrecht-
lichten Werte oder Prinzipien entscheiden und gegen diejenigen, die sich diesen Urteilen entziehen, staatliche Sanktionsmacht eingesetzt wird.24 Bisher habe ich Züge hervorgehoben, die das liberale Gepräge des 22 Voluntary Licensing Authority (siehe Anm. II), S. 38. 23 Neuberger (siehe Anm. 12), S. 34. Daß die Komitees so wenig Macht haben sollen, mag freilich selbst aus liberaler Sicht verwundern, da ihre Belange (Schutz von Individuen) wichtig sind. Aber: Liberale möchten die Interventionsmacht des Staates so weit wie möglich einschränken und können daher Sanktionen in lokalen Binnengruppen vorziehen. Anscheinend verlassen sich die Komitees im allgemeinen (außerhalb der Pharmaforschung) auf solche Sanktionen. Ich danke Mark Nelson für diese Problematisierung. 24 Vielleicht ist das französische und deutsche System der forschungsethischen Komitees eher kommunitaristisch geprägt. Ich danke Aurora Plomer für Diskussionen über diese Frage.
18I
britischen LFK-Systems ausmachen. Es wird Zeit, einige wichtige Merkmale anzuführen, die nicht in dieses Bild passen.
Betrachten wir zunächst die Ernennung von Mitgliedern. Sie müssen offiziell von den Bezirksgesundheitsbehörden ernannt
werden, die sich freilich normalerweise beraten lassen. Diese Behörden bestehen aus einem Vorsteher und einem leitenden Beam-
ten, beide ministeriell ernannt, aus fünf von diesen ernannten Beamten mit leitenden Funktionen sowie fünf (ebenfalls ministe-
riell ernannten) Referenten. Von dieser Ernennungsautomatik wird man nicht erwarten, daß sie notwendigerweise zur Repräsentation pluralistischer Wertwelten führt, wie Liberale sich das wünschen. Es ist vielmehr durchaus vereinbar mit diesem Vertahren, wenn nur eine sehr enge Bandbreite von Werten im Komitee repräsentiert ist - was das System zwar nicht staatskommunitaristisch macht, aber doch von einem rein liberalen System entfernt, dem an der größtmöglichen Bandbreite artikulierter Vorstellungen des Guten gelegen sein würde. Eine zweite Abweichung von Idealen des politischen Liberalismus betrifft ebenfalls die Zusammensetzung der Mitglieder und Verengungen des Wertespektrums. LFKs müssen den wissenschaftlichen Wert eines Forschungsantrags in ihren Überlegungen berücksichtigen. Dafür sind auch einige rein wissenschaftliche Kriterien relevant, z. B. die Qualität des Forschungsdesigns und die Redundanz in der Replikation von anderswo schon erfolgten Untersuchungen. Hierzu muß medizinisch-wissenschaftlicher Sachverstand im Komitee repräsentiert sein, und hieraus erklärt sich der sehr hohe Anteil von Klinikärzten.25 Durch den übergroßen Anteil von Ärzten kommt aber strukturell ein Übergewicht zugunsten des wissenschaftlichen Fortschritts in die Zwecksetzung der Komitees, Versuchspersonen angesichts nötiger Fortschritte der Wissenschaft zu schützen. (Abgesehen davon, daß sich mit der Krankenhausmedizin ohnehin gewisse Forschungserwartungen ver-
knüpfen, sind Klinikärzte für die finanzielle Förderung und sonstige Annehmlichkeiten, die dem erfolgreichen Forscher win-
ken, besonders empfänglich.) Es wäre nicht erstaunlich, wenn
25 Natürlich ist dies nicht der einzige Faktor zur Erklärung des überpro-
portionalen Ärzteanteils. Wichtig ist auch, daß LFKs, wenn ihre Ent-
scheidungen überhaupt irgendwelche Autorität haben sollen, über Prestige innerhalb der Medizinergemeinschaft vertügen müssen.
182
gewisse Komitees sich einfach in der Rolle einer Forschungsförderungseinrichtung sehen - und offenbar tun das einige tatsächlich.26
Eine dritte Abweichung läßt sich anhand der Leitlinien des Gesundheitsministeriums verdeutlichen.? Dort heißt es, die Mitglieder von LFKs sollen »Personen mit relevanten Erfahrungen und gutem Urteilsvermögen« sein. Natürlich müssen Liberale nicht
bestreiten, daß »der öffentliche Ausdruck von Charakter und Urteil und der Austausch von Erfahrungen und Erkenntnissen« für intelligente Werturteile nötig sind. Ein Liberaler könnte die Empfehlung des Ministeriums so lesen, Gleichwohl wird jede liberale Position dem Anspruch, Werturteile über konkurrierende gehaltvolle (»dicke«) Konzeptionen des Guten zu fällen, enge Grenzen ziehen, und zwar aus dem (schon erwähnten) klassischen Grund, daß es dem Einzelnen freistehen soll, seine je eigenen Werte zu verfolgen. Urteilsvermögen als moralische Eigenschaft einer Person, dies liegt eher auf der aristotelischen Linie von
Phronesis. Möglicherweise hat man im Gesundheitsministerium
an diese reichere philosophische Tradition gedacht und gemeint, diese Art praktschen Urteilsvermögens befähige Komiteemitglieder dazu, in threr Urteilsbildung zwischen konkurrierenden Werten klare Verhältnisse herzustellen.2 Dann muß man aber eine Gemeinschaft voraussetzen, in der eine bestimmte reichhaltige
Konzeption des Guten Gemeingut ist, die sich im Urteil der
Weisen in ausgezeichneter Form erschließt. Doch das läuft der liberalen Position zuwider. Kurzum, im britischen System der LFKs finden klarerweise libe-
rale Modellvorstellungen Ausdruck; aber das System ist nicht
völlig konsistent mit liberalen Idealen. 26 Laut persönlicher Auskunft von Vorsitzenden von LFKS. 27 Department of Health, Local Research Ethics Committees (siehe Anm. 6), S. 3.
28 B. Crowley (1987), The Self, the Individual and the Community: Liberalism in the Political Thought of F. A. Hayek and Sidney and Beatrice Webb, Oxford: University Press, S. 285, zitiert auf S. 189 bei W. Kymlicka (1997), Politische Philosophie heute, Frankfurt am Main: Campus. 29 Die Andeutung, daß der phronimos, von dem Aristoteles spricht, diese Fähigkeit besitzt, könnte nur in detaillierter Auseinandersetzung mit der Nikomachischen Ethik verteidigt werden. 183
6. Kommunitarismus
Wie weit reicht eine kommunitaristische Lesart der LFKs? Wichtig
für die Zwecke unserer Diskussion erscheint mir die folgende Charakterisierung einer kommunitaristischen Perspektive: »In ei-
ner kommunitaristischen Gesellschaft (...) entspricht das Gemein-
wohl einer bestimmten Wertvorstellung, die die ›Lebensweise‹ der
Gemeinschaft bestimmt. An ihr werden die Wertvorstellungen der
Einzelnen und die möglichen Wertkonzeptionen öffentlich gemessen und erhalten so ihr Gewicht.« Kommunitaristen suchen »gemeinsame Ziele in historischen Praktiken«30 Demnach müßte institutionalisierte ethische Reflexion (wie in den LFKs), sofern sie Teil eines Systems gerechter ethischer Regulierung ist, immer auch
bezwecken, Werte, die in den Praktiken einer Gemeinschatt implizit schon enthalten sind, als allgemein geteilte Werte explizit zu
machen und als explizite Urteilsstandards für neue Fälle zu ver-
wenden. Vervollständigt würde dieses kommunitaristische Bild
durch staatliche Ethikkomitees, die definieren, was die für medizinische Forschung relevanten, in die historischen Praktiken der Nation eingeschriebenen Werte sind. - Es ist klar, daß unsere LFKs diesem Bild nicht entsprechen. Eine weniger steile kommunitaristische Variante ist der (scheinbar
viel plausiblere) Vorschlag, jedes LFK solle solche Werte explizit machen, die in der lokalen Gemeinschaft, in deren Horizont es operiert, geteilt werden - weit unterhalb der Nation. 31 Doch genau diese Prämisse läßt sich bestreiten. Warum sollten sich Praktiken, in denen eine geteilte Konzeption des Guten verkörpert ist, ausgerechnet in einem lokalen geographischen Format manifestieren? In Yorkshire z. B. gibt es eine große Zahl religiöser und säkularer Gemeinschaften, unterschiedlicher Sprachgemeinschaften und drastisch verschiedener (ländlicher, industrieller, künst-
lerischer, intellektueller usw.) kultureller Praktiken. Alle diese Praktiken überkreuzen sich in Yorkshire. Bei Licht besehen ist es wenig plausibel, LFKs die Rolle zuweisen zu wollen, geographisch lokal geteilte Werte auszubuchstabieren. Kommunitaristen kommen immer in Verlegenheit, wenn sie angeben sollen, was
30 Kymlicka, Politische Philosophie heute (siehe Anm. 28), S. 175f. und S. 194. 31 Siehe aber die Kritik bei Kymlicka (ebd.), S. 198f.
184
denn die Gemeinschaft sein soll, deren geteilte Werte explizit ge-
macht werden sollen. 32
7. Die liberale Konzeption gerechter ethischer Regulierung und die Schwierigkeiten der Komitees Bleiben wir also bei der plausibleren Auffassung, daß das System der LFKs liberale Ideale ausdrückt. Die nächste, auf die Effektivität
des Systems bezogene Frage ist dann, wie das System als ein liberales mit den schon beschriebenen Schwierigkeiten besser fertig werden kann, besonders mit jenen, die innertheoretische Probleme des Liberalismus widerspiegeln und deshalb besonders widerständig sind. Diese Schwierigkeiten sind für den Liberalen ein
Dilemma: entweder kann er sie nicht lösen oder er muß Verbesserungen akzeptieren, die eher kommunitaristisch geprägt sind. Vermutlich würden weder Liberale noch Kommunitaristen das dann entstehende, theoretisch zunehmend heterogene System effektiv
finden.
Zu denjenigen Schwierigkeiten, die ein Liberaler als verhältnismä-
Big triviale, verfahrensmäßig zu lösende Probleme betrachten kann, rechne ich die Arbeitsüberlastung, die unzureichende administrative Unterstützung und den Mangel an Ausbildung. Allerdings wird ein Liberaler die durch mehr Ausbildung erzielbaren Verbesserungen in der Fähigkeit eines Komitees, Konsense zu bilden, für sehr begrenzt halten müssen. Wenn nach der gängigen Ansicht die spezielle Ausbildung für die Mitarbeit in Ethikkomitees darin besteht, dem Kandidaten ein angemessenes Verständnis allgemein geteilter Moralprinzipien zu vermitteln, in deren Licht Komitees zu ihren Entscheidungen kommen, so wird der liberale Pluralist dagegenhalten, dals es keine derartigen Prinzipien gibt. Freilich braucht er nicht auszuschließen, daß sich nach ihrer Ausbildung unter den Komiteemitgliedern vielleicht eine geteilte Konzeption des Guten herausbildet. Doch ob das passiert, ist kontingent. Aus liberaler Sicht gibt es keinen guten Grund, warum von
der Ausbildung erwartet werden muß, daß sie Komiteemitgliedern
dazu verhilft, eine geteilte Konzeption des Guten zu entwickeln, in deren Licht eingereichte Anträge dann zu beurteilen wären. Die
32 Ein Problem, das Kymlicka aufwirft, aber nicht bewältigt.
185
erwartbaren Ausbildungseffekte beschränken sich für Liberale vielmehr auf die Verbesserung der Fähigkeit zur (nicht prinzipienfixierten) Konsensbildung. Die anderen, besonders in Abschnitt 3 beschriebenen Schwierigkeiten lassen sich auf drei Faktoren bringen: - Variationen in Inhalt und Umfang der Antragsformulare.
- Variationen in den Antworten auf und Kommentaren zu den gestellten Anträgen. - Variationen in der üblichen Bearbeitungsdauer.
Mag sein, daß auch die auf diese Faktoren zurückgehenden
Schwierigkeiten nur verfahrensmäßiger Art sind. Besonders der dritte Faktor scheint theoretisch sehr einfach. Aber in den ersten beiden Faktoren steckt ein tiefergehendes theoretisches Problem, eine Spannung innerhalb der liberalen Auffassung von den Zwekken von LFKs. Wir haben gesagt: Zum einen erwartet ein politisch Liberaler von solchen Komitees, daß sie sich ganz dem aus liberaler Sicht primären Anliegen widmen (Schutz der Versuchspersonen). Zum andern muß ein Liberaler einem LFK aber auch zugestehen, sich mit jeglichen Fragen, die varianten Konzeptionen des Guten
geschuldet sind, zu befassen. Doch durch die Artikulation verschiedenartiger Konzeptionen des Guten geraten Komitees womöglich in Debatten z. B. darüber, welche Art von medizinischer Forschung wertvoll ist, ob Feten als schützenswerte Versuchspersonen gelten müssen, ob die Grundlagenforschung unter Umständen die Forderung, daß Forschung am Patienten für diesen immer therapeutisch nützlich sein muß, übertrumpfen dart u.v.m.
Die Belange des Komitees gehen dann weiter, als Liberale gemäß dem Schadensvermeidungsprinzip zulassen wollen. Aber Liberale können den Fokus nur dadurch eng halten, daß sie die Bandbreite
der Konzeptionen des Guten, denen Komiteemitglieder anhängen
sollen, illiberal behandeln (indem sie nur liberale Konzeptionen zulassen). Hier zeigt sich auf ethischem Gebiet ein Standardproblem des Liberalismus, nämlich die Frage, in welchem Ausmaß ein Liberaler Anderen tatsächlich einräumen kann, nichtliberale Konzeptionen des Guten zu verfolgen. Für uns zeigt sich dieses Standardproblem im Licht der Frage, welchen Gesichtspunkten Ethikkomitees in ihren Deliberationen Aufmerksamkeit schenken sollen.33 Für die Mitglieder erscheint das Standardproblem in Form
33 Vgl. die Frage QI im 4. Abschnitt.
I86
von Unsicherheiten. Es hat aber auch praktische Konsequenzen für die Schwierigkeiten der Forscher im Umgang mit LFKs. Denn ob diese überhaupt innerhalb des Rahmens des politischen Liberalismus lösbar sind, läßt sich nun, da wir das theoretische Standardproblem im Hintergrund entdecken, bezweifeln. Wenden wir uns etwa den Variationen in Inhalt und Umfang der Antragsformulare zu, so scheint Standardisierung die offensichtliche Lösung zu sein. Wenn alle LFKs grundsätzlich mit dem Schutz
von Versuchspersonen befaßt sind - eine liberale Perspektive -, dann ist ein Standardformular wohl möglich. Aber mit welchen Fragen ein LFK es für nötig hält, sich zu befassen, wird die Konzeptionen des Guten (und somit auch: des Relevanten) widerspiegeln, die im Komitee zum Tragen kommen. Wenn aber (wie oben gezeigt) ein Liberaler zulassen muß, daß verschiedene Komitees verschiedene Konzeptionen des Guten artikulieren, dann erfordert das in den verschiedenen Komitees auch unterschiedliche Fragen. Daher kann man der Meinung sein, daß Versuche, die Antragsformulare (Fragebögen für die Forscher etc.) zu standardisieren, sich negativ - entgegen dem liberalen Neutralitätsideal - auf die Artikulierbarkeit distinkter Konzeptionen des Guten auswirken. Auch ein
»Standardtormular«, das eintach alle existierenden formulare
kombiniert, ware keine wirkliche Losung, sondern wurde tur Mit-
glieder wie Antragsteller neue praktische Probleme (Riesenformulare, unhandliche Antworten) heraufbeschwören. Der zweite Faktor hinter einigen charakteristischen Schwierigkei-
ten der LFKs - die drastischen Variationen in Antworten und Kommentaren zu den gestellten Anträgen - wäre nach liberalem Verständnis einfach als Konsequenz aus der Vielzahl der Komitees
zu begreifen. Und wieder scheint in der Forderung, daß alle Ko-
mitees ihre Überlegungen auf den Schutz von Versuchspersonen konzentrieren, der Schlüssel zu größerer Einheitlichkeit. Aber
wenn Liberale auch die Vielgestaltigkeit von Konzeptionen des
Guten zugestehen müssen, dann muß man damit rechnen, daß in
verschiedenen Komitees verschiedene Konzeptionen vorherrschen. Da Liberale zudem erwarten, daß die Urteilsbildung konsensuell erfolgt,'* ist es nicht verwunderlich, daß ein Versuchsplan, der bei einer großen Zahl von Komitees eingereicht wird, auch eine Vielzahl von Kommentierungen erfährt. Klarerweise böte die Um34 Vgl. die Frage Q2 im 4. Abschnitt.
187
leitung multizentrischer Studien auf regionale oder nationale for-
schungsethische Komitees eine Lösung - aber für Liberale eine höchst unattraktive. Denn auf diese Weise würden wahrscheinlich
die Artikulationschancen für einige Konzeptionen des Guten beschnitten. Eine Reduzierung von jetzt über 3 00o Komiteemitgliedern auf vielleicht so bis 100 würde die Repräsentation aller
möglichen Gesichtspunkte weniger wahrscheinlich machen, besonders diejenigen kleiner Gruppen.
Liberale haben also gute theoretische Gründe, einige scheinbar einfach zu behebende praktische Schwierigkeiten, über die Forscher klagen ( nanzieller und zeitlicher Aufwand usw.), wirklich
schwierig zu finden. Und es ist nicht erstaunlich, daß beide angedeuteten Lösungsvorschläge (vereinheitlichte Fragebögen, weniger Komitees) eher mit einer kommunitaristischen Konzeption ethischer Regulierung, wie im Abschnitt 6 beschrieben, zusammenstimmen.35 Aber da das gegenwärtige englische System von LFKs im großen und ganzen ein liberales ist, würde jeder Schritt in
diese Richtung nur die theoretische Inkohärenz des Systems vergrößern. Betrachten wir nun noch einmal den Problemfaktor der großen Variation in den Urteilen und Kommentaren. An diesen Faktor knüpft sich eine über den Aufwand an Ressourcen hinausgehende und theoretisch viel wichtigere Irritation vieler Forscher. Wie kann im liberalen Rahmen der Erfordernis, daß LFKs ihre Entscheidungen gegenüber den Forschern und der Öffentlichkeit rechtfertigen, besser entsprochen werden? Wenn LFKs zu einem ertolgreichen ethischen Regulierungssystem werden sollen, ist es wichtig, dals
ihre »Nutzer«, die Forscher, und in geringerem Maß auch die
Offentlichkeit, sie respektieren. Aber wenn die Urteile der LFKs über eingereichte Versuchspläne divergieren, treten Zweifel an der Gültigkeit solcher Urteile auf. Dieses Problem wird sich wahr-
scheinlich noch verschlimmern, wenn von den Komitees aus Gründen ihrer Verantwortlichkeit verlangt wird, thre Aktivitäten 35 Ich habe den Verdacht, daß die Medizinergemeinschaft, wo sie für regionale oder nationale Komitees votiert, stillschweigend von der Vorstellung ausgeht, daß diese »bessere« Urteile bilden und effizienter
arbeiten würden. Und der Grund, aus dem wahrscheinlich unreflektiert vermutet wird, die Urteile wären »besser«, ist die Annahme, daß solche Komitees fähiger wären, sie klarer an expliziten Prinzipien festzuma-
chen.
188
detaillierter zu dokumentieren. Damit sind wir in unserer Diskussion wieder bei der Frage nach dem Prozeduralismus der Urteilsbildung angekommen: Die liberale Gesinnung verlangt Konsensbildung, aber genau dies ist einer der Gründe, warum verschiedene Komitees zu verschiedenen Urteilen kommen. Fragen wir also nun genauer, wie die Vertahren der Entscheidungsfindung in den Komitees aussehen sollten.
8. Demokratisierung und das
ungelöste Grundproblem der Komitees Diese Frage, wie ein Komitee intern zu seinen Urteilen kommen sollte und wie diese Urteile mit Bezug auf eine externe Gemeinschaft validiert werden können, bringt uns auch endlich zur Frage,
wie demokratisch LFKs sein sollten.
Der Zusammenhang beider Fragen ist leicht zu begreifen. Im
liberalen Verständnis sind die Deliberationen eines LFKs ein Kon-
sensbildungsprozel; und es wird akzeptiert, daß es zumindest zwischen divergenten Konzeptionen des Guten gelegentlich keine rationale Lösung geben kann. (Daher argumentieren Liberale ja
mit einer »dünnen« und gegen eine reichhaltige Konzeption des Guten.) Wenn bei der Beurteilung von Versuchsplänen konfligie-
rende Meinungen auftreten, werden Urteile daher (dem liberalen Verständnis nach) auf persuasivem Wege erreicht.
Nehmen wir z. B. an, ein Forscher sei der Ansicht, daß der Wert
eines bestimmten Grundlagenwissens, das nur durch nichtthera-
peutische Forschung an Neugeborenen gewonnen werden kann, schwerer wiegt als jedes Risiko der möglichen Schädigung des Neugeborenen infolge der Forschung. Er reicht einen entsprechenden Versuchsplan ein, der aber von einem LFK abgelehnt wird, das intern zu dem Konsens gekommen ist, daß nichttherapeutische Versuche an nicht einwilligungsfähigen Menschen unter keinen Umständen zu rechtfertigen sind. Nehmen wir weiter an, daß im liberalen Verständnis der Widerstreit dieser zwei Meinungen rational nicht aufzulösen ist. Im liberalen Verständnis ist jede
Entscheidung in diesem Fall eine persuasive, d.h. auf überzeu-
gungskräftiger Rede beruhende. Dem Antragsteller kann keine rationale Grundlage vermittelt werden, auf der jene Konzeption des Guten, die seinen Versuchsplan für ihn rechtfertigt, vom Ko-
189
mitee verworfen wurde. Diese Struktur wird Forschern um so klarer werden, je mehr explizite Jahresberichte veröffentlicht werden, die außer den Entscheidungen der Komitees auch die Grundlagen, auf denen die bestimmten Entscheidungen zustande kamen, detailliert beschreiben. In den Fällen, in denen ein Antragsteller mit seinen Ansichten nicht durchkommt, das Komitee hierfür aber auch keine schlagende Begründung anführt, wird dann problematisch, warum Forscher die Urteile von LFKs überhaupt akzeptieren sollten. Mit anderen Worten: Das liberale Verständnis der Urteilsbildung und Entscheidungsfindung in LFKs hat dem Problem ihrer
Validierung gegenüber Antragstellern und der Öffentlichkeit kaum etwas entgegenzusetzen. Hier könnte man nun an eine Meta-Rechtfertigung politischer Art
appellieren: Erhielte das System der LFKs einen geeigneten Rechtsstatus, dann hätten seine Entscheidungen die Gültigkeit sozusagen
von ethischen Gerichtsentscheidungen, und die Antragsteller könnten sie ebenso akzeptieren wie andere gültige Rechtsentsche1-
dungen. Aber damit wäre die fundamentale Frage nur verschoben, nämlich: auf welcher ethischen Grundlage hat das Rechtssystem diese Form der Regulierung (LFKs) gewählt, statt eines einzigen
nationalen Ethikkomitees, oder statt die Entscheidung ganz bei den Forschern zu lassen?36
Ein anderer Grund, aus dem Antragsteller die Urteile von LFKS anerkennen könnten, bezieht sich auf die demokratische Natur der
Komitees - wiederum eine Art Meta-Rechtfertigung. Ruten wir uns noch einmal die Abweichungen der LFKs von einem liberalen
Regulierungsmodell in Erinnerung. (I) Das ministerial kontrollierte Ernennungsverfahren läßt eine Verengung der Bandbreite vertretener Werte zu. (2) Unter den repräsentierten Wertperspektiven überwiegt eine bestimmte partikulare Wertperspektive, näm-
lich die der medizinischen Wissenschaft. (3) Das Gesundheitsministerium warnt Komiteemitglieder davor, die Rolle von Repräsentanten einzunehmen statt ihre weise Urteilskratt walten zu lassen, eine Sichtweise, die zumindest in Spannung zur liberalen
Sicht steht. Eine liberale Reaktion auf diese Abweichungen wäre, die LFKs demokratischer machen zu wollen. Aber diejenige Form von Demokratisierung, die wohl am besten mit den bezeichneten
Abweichungen fertig wird, ist gegenüber den antragstellenden 36 Diesen Punkt verdanke ich Matthias Kettner.
I90
Forschern als Meta-Rechtfertigung für die Geltungsansprüche von
Urteilen der Komitees wenig hilfreich. Betrachten wir zwei Formen der Demokratisierung. In der einen Form müßte man die LFKs dahingehend ändern, daß ihre Mit-
glieder mit eintacher Mehrheit gewählt werden. Das würde die Erwartung rechtfertigen, daß sie die ethischen Werte, die Ansichten, den Willen der Mehrheit der lokalen Bevölkerung repräsentieren. Der Anspruch auf Geltung ihrer Urteile ließe sich dann den Antragstellern gegenüber mit dem Hinweis darauf rechtfertigen,
daß sie lokale Gemeinschaftswerte zur Geltung bringen - immerhin eine Meta-Rechtertigung! Doch diese kommunitaristische Denkfigur ist allen Einwänden ausgesetzt, die wir im 6. Abschnitt schon behandelt haben. Für Liberale ist der schlagendste theoretische Einwand, daß man einem skeptischen Antragsteller hiermit noch gar keinen guten moralischen Grund gegeben, sondern ihn nur dazu autgetordert hat,
Urteile zu akzeptieren, die sich von den Werten der Gemeinschaft, in der er operiert, herleiten. Warum sollte die Gemeinschaft der Forscher so etwas als ein gutes System gerechter ethischer Regulierung ansehen? Die Tatsache, daß eine Mehrheit ein Moralurteil billigt, ist kein guter Grund, aus dem jemand seine abweichenden Urteile, die sich aus seiner eigenen Konzeption des Guten ergeben,
für moralisch falsch zu halten hätte. Außer diesen allgemeinen
Gründen, die gegen die Erwartung sprechen, daß die erste Form
der Demokratisierung auf eine gerechte ethische Regulierung führt, ist auch zu bedenken, dais diese Form der Demokratisierung
die vermerkten Abweichungen vom Liberalismus nicht aufhebt. Die Komitees würden ermuntert, die Ansichten der moralischen Mehrheit zu repräsentieren statt ein möglichst breites Spektrum von Konzeptionen des Guten. Aus liberaler Sicht wäre eine zweite Form der Demokratisierung vorzuziehen, deren Pointe darin liegt, Konzeptionen des Guten auf größter, für forschungsregulierende Überlegungen noch rele-
vanterer Breite zu Wort kommen zu lassen. Hier würde von
Komiteemitgliedern gerade erwartet, den grolsten Querschnitt von Ansichten über das Gute, die sich in der lokalen Gemeinschatt
37 Ganz allgemein betrachtet ist - aus sokratischen Gründen - die bloße
Tatsache, daß bestimmte Werturteile Mehrheitskonsens haben, kein guter Grund, sie zu akzeptieren, siehe Platons Dialog Kriton (47c-48a).
191
finden, zu repräsentieren. Leider läßt sich aus dieser zweiten Form
der Demokratisierung kein Meta-Argument für die Anerkennungswürdigkeit der Geltungsansprüche von Urteilen der Komi-
tees beziehen. Jemand, dessen Versuchsplan zurückgewiesen wurde, würde mit Recht denken, daß er nicht artikuliert oder
persuasiv genug verteidigt wurde; er würde die Ablehnung weder darauf zurückführen, daß der Antrag mit Mehrheitswillen zurückgewiesen wurde, noch darauf, daß die Zurückweisung auf einer rationalen Begründung beruht.
9. Fazit Die liberale Auffassung von Deliberation macht es für die LFKs sehr schwer, ihre Entscheidungen rational zu rechttertigen. Werden die Komitees erst einmal so wahrgenommen, dals sie ihren Konsens eher persuasiv (d.h. durch überzeugungskräftige Rede) als vernunftmäßig (d. h. durch gute Gründe) bilden, dann haben
die Forscher weniger Grund, deren Urteile zu akzeptieren. Falls sich in der Öffentlichkeit durch die Jahresberichte der Komitees das liberale Bild von Deliberation durchsetzt, würde den Forschern dieses Rationalitätsdefizit noch bewulster; falls das passiert, kann dies die Autorität von LFKs in der Gemeinschaft der medi-
zinischen Forscher auf fatale Weise unterminieren. Weder die rechtliche Aufwertung des Status von LFKs noch ihre Demokratisierung (in den beschriebenen zwei Formen) kann dem gegenwärtigen, im großen und ganzen liberalen System in diesem Punkt helfen. Denn beide Strategien würden am Grundproblem vorbeigehen. Das Grundproblem besteht darin, für die Forscher ebenso wie für die Öffentlichkeit den Nachweis zu führen, daß dieses System ethischer Regulierung gerecht ist. So hängen praktische Probleme unserer LFKs letztlich mit dem theoretischen Problem
zusa inde, lat cine erel keiszipierte gerechte ethische Regulie-
(Ubersetzt von Iris Junker)
38 Ich möchte Tom Gough, Jennifer Jackson, Matthias Kettner, Mark Nelson und Aurora Plomer für Diskussionen und Ratschläge beim Schreiben dieses Aufsatzes danken sowie dem Kulturwissenschaftlichen Institut Essen für die Einladung zu einer Konferenz, die der Thematik des vorliegenden Bandes gewidmet war.
192
Will Kymlicka
Moralphilosophie und Staatstätigkeit: das Beispiel der neuen Reproduktionstechnologien I. Einleitung Ich möchte in diesem Aufsatz einige Vorbehalte gegen den Nutzen der Moralphilosophie für die Analyse von Aufgabenstellungen der Staatstätigkeit vortragen.' Doch gleich vorab möchte ich betonen, daß ich nicht die Bedeutung der Moral in Frage stellen will. Im Gegenteil, ich betrachte es als gegeben, daß Moral wichtig ist, daß moralische Bedenken bei Aufgabenstellungen in der Formulierung
öffentlicher Politik angemessene Bedeutung erhalten und sehr wohl Vorrang haben sollten. Politiker sollten, moralisch gesprochen, das Richtige tun. Darüber hinaus glaube ich, daß es steter
Wachsamkeit bedarf, um zu gewährleisten, daß moralische Erwägungen nicht von Eigeninteressen, Vorurteilen oder Trägheit übertönt werden und daß der moralische Standpunkt nicht von einem engeren wissenschaftlichen, ökonomischen oder politischen
Standpunkt erstickt wird. Meine Frage lautet, ob Moral ernstzunehmen bedeutet, Moralphilosophie ernstzunehmen. Dieser Aufsatz konzentriert sich auf einen bestimmten Kontext der Staatstätigkeit, nämlich auf Regierungskommissionen, die sich mit den neuen Reproduktionstechnologien (NRT) auseinandersetI Für hilfreiche Kommentare zu einer früheren Fassung möchte ich Susan
Donaldson, Wayne Norman, Wayne Sumner und Dan Wikler danken (Anmerkung des Autors). - Mit der Übersetzung von ›public policy‹ als ›Staatstätigkeit‹ folge ich der politikwissenschaftlichen Terminologie von Manfred G. Schmidt (Anmerkung der Übersetzerin). - Dem Londoner Routledge Verlag und Will Kymlicka sei an dieser Stelle für die freundliche Genehmigung gedankt, den Text, der zuerst in Bioethics 7 (I)
1993, erschien, in den vorliegenden Band in einer geringfügig veränder-
ten Fassung aufzunehmen (Anmerkung des Herausgebers). 2 Der Ausdruck »neue Reproduktionstechnologien« umfaßt oft drei ver-
schiedene Arten von Prozeduren oder Technologien: 1. Prozeduren, die Individuen oder Paaren helfen sollen, ein Kind zu empfangen (z. B. 193
zen, wie das britische Warnock Committee,' die australischen
Waller und Michael Committees, die kanadische Baird Commission' und viele andere. Diese Kommissionen haben eine Reihe gemeinsamer Merkmale: Erstens kommen die Kommissionsmitglieder, es sind üblicherweise zwischen sieben und 16, aus den verschiedenen Bereichen Recht, Sozialarbeit, Medizin und Kirche
und repräsentieren einen großen Umfang von Interessen und Perspektiven. Zweitens sollen sie die sozialen, rechtlichen, öko-
nomischen und ethischen Implikationen der NRT mit dem Ziel untersuchen, angemessene Empfehlungen für die Staatstätigkeit,
also für politische Programme zu entwickeln. Drittens: Während künstliche Besamung, In-vitro-Fertilisation und Leihmutterschaft); 2.
Prozeduren, die die Gesundheit des Embryos oder des Fetus nach der Empfängnis einschätzen oder erhalten sollen (z. B. Pränataldiagnostik,
Geschlechtswahl, Embryotherapie oder Operationen am Fetus und rechtliche Eingriffe in die Schwangerschaft); 3. die Benutzung mensch-
licher Keimzellen, Embryonen oder Feten für die Forschung (z. B.
Experimente mit Embryonen oder die Transplantation fetalen Gewebes zur Behandlung von Parkinson). Einige haben den Auftrag, sich mit diesen Prozeduren auseinanderzusetzen, andere konzentrieren sich vor allem auf 1. oder 3. Ich gebrauche den Ausdruck »NRT« für alle drei Prozeduren. 3 Department of Health and Social Security, Report of the Committee of
Inquiry into Human Fertilization and Embryology, London 1981.
4 Western Australia Government. Report of the Committee to Enquire into the Social, Legal, and Ethical Issues to In Vitro Fertilization and its
Supervision, Perth, 1986 (Michael Committee); Victorian Government, Committee to Consider the Social, Ethical and Legal Issues Arising from
In Vitro Fertilization, Report on Donor Gametes in IVF, Melbourne
1983, Report on the Disposition of Embryos Produced by In Vitro Fertilization, Melbourne 1984 (Waller Committee).
§ Der Report von Canada's Royal Commission into New Reproductive Technologies, Vorsitz Dr. Patricia Baird.
6 LeRoy Walters hat in der Zeit zwischen 1979 und 1987 85 Kommissionsberichte über NRT aus 25 Ländern gezählt, von denen er 15 weiter-
gehend untersucht hat (»Ethics and New Reproductive Technologies: An International Review of Committee Statements«, in: Hastings Center Report, Special Supplement, Juni 1987, S. 3-9). Die Zahl hat sich
seitdem mindestens verdoppelt. Bei den Recherchen für diesen Aufsatz
habe ich mich auf die Berichte der Regierungskommissionen aus Australien, Kanada, Großbritannien und den Vereinigten Staaten konzentriert, von denen es über 40 gibt.
I94
der Entwicklung einer Empfehlung führen die Kommissionen üblicherweise eine Form von öffentlicher Beratung durch und holen oft den Rat von Experten zu verschiedenen medizinischen, rechtlichen und ethischen Punkten ein. Moralphilosophen werden mitunter gebeten, an solchen Kommissionen teilzunehmen, entweder als Kommissionsmitglied, als Berater der Mitglieder oder als Sachverständige. Was können Moralphilosophen zur Analyse der Empfehlungen der staatlichen Regulierung der NRT beitragen? Ein Überblick über die Literatur legt nahe, daß es zu dieser Frage zwei Hauptsichtweisen gibt, eine davon ist ambitiös, die andere eher bescheiden. Die ambitiöse Sicht
geht davon aus, daß Moralphilosophen versuchen sollten, die Kommissionsmitglieder davon zu überzeugen, die richtige, umfassende Moraltheorie zu übernehmen (z. B. den Deontologismus eher als den Utilitarismus oder den Kontraktualismus) und dann
diese Theorie auf bestimmte Politikfragen anzuwenden. Die eher
bescheidene Sichtweise scheut davor zurück, eine bestimmte Moraltheorie anzupreisen, bedenkt man, daß die relativen Verdienste der verschiedenen Moraltheorien sogar unter den Moralphilosophen selber umstritten sind. Statt dessen sollten Moralphilosophen versuchen sicherzustellen, daß die Argumente der Kommission klar und konsistent sind. Die Philosophen sollten sich darauf konzentrieren, konzeptuelle Verwirrung oder logische Inkonsi-
stenzen innerhalb der Argumente der Kommission zu erkennen, und zwar ohne deren Wahl für die zugrundeliegende Theorie zu beeinflussen. Das scheint vernünftig. Klare, adäquate Moraltheorien sind inad-
aquaten vorzuziehen, und gültige Argumente sind ungültigen vorzuziehen. Darüber hinaus, wie die Autoren dieser Artikel betonen, neigen Regierungsberichte zu genau dieser Art von Fehler.
Eine Sondernummer des Journal of Philosophy and Medicine ist
der Kritik an der »amateurhaften« Weise gewidmet, mit der in
diesen Berichten die Ethik behandelt wird? Wenn also Regierungsberichte dazu neigen, ethische Angelegenheiten amateurhaft
zu behandeln, dann lautet die Lösung, daß sie mehr Input von
professionellen Moralphilosophen haben sollten, und das ent-
spricht genau dem, was diese Artikel befürworten. 7 »Symposium on Bioethics Commissions«, in: Journal of Philosophy and Medicine, Vol. I4, 1989.
195
Trotzdem bin ich diesen beiden Sichtweisen gegenüber skeptisch. Ich werde ihre Grenzen diskutieren und dann über einen dritten Weg nachdenken, moralisch verantwortliche Uberlegungen der Staatstätigkeit zu fördern.
2. Die ambitiöse Sicht die Wahl einer umfassenden Moraltheorie Vertreter der ambitiösen Sicht glauben, daß Regierungskommissionen eine umfassende Moraltheorie annehmen und sie auf die verschiedenen ethischen Fragestellungen anwenden sollten, die durch die NRT entstehen. Ein Überblick über die derzeitige Moralphilosophie und über Bioethik-Lehrbücher läßt vermuten, daß die folgenden fünf Theorien die Hauptkandidaten sind: 1. Utilitarismus 2. Deontologie 3. Kontraktualismus
4. Naturrecht
5. Fürsorgeethik (»ethic of care«) Es gibt natürlich noch andere Theorien (z. B. Tugendethiken), die man miteinbeziehen könnte, aber diese Liste reicht aus, um die
ambitiöse Sicht zu bewerten. Wäre es sinnvoll, wenn Regierungskommissionen versuchten, eine dieser umfassenden Moraltheorien zu übernehmen und dann auf
die verschiedenen ethischen Probleme anzuwenden, die durch die NRT entstehen? Sehen wir uns an, was das bedeuten würde. Um
eine Theorie auszuwählen und anzuwenden, müssen wir zumindest die folgenden drei Fragen beantworten: a) was zeichnet jede Theorie aus? b) welche Theorie ist am adäquatesten? c) welche praktischen Folgen hat jede Theorie für die NRT? Das heißt, wir müssen in der Lage sein, jede Theorie erkennen,
beurteilen und anwenden zu können. Ich glaube, daß alle drei Fragen so schwierig und/oder kontrovers sind, daß es völlig unrealistisch ist, von Regierungskommissionen zu erwarten, sie zu beantworten. Außerdem ist für Kommissionen der Versuch, sie zu beantworten, gar nicht angebracht. a) Die Unterscheidung von Moraltheorien. Erstens, was ist distinktiv für jede Theorie? Was z. B. unterscheidet den Kontraktualismus
196
von seinen vier Konkurrenten? Das ist eine überraschend schwer
zu beantwortende Frage. Für jedes Theoriepaar gibt es Leute, die glauben, diese Theorien
seien identisch oder zumindest konsistent. Daher würden sie die
Liste der Theorien kürzen, indem sie den Kontraktualismus unter
den Utilitarismus subsumieren oder das Naturrecht unter die
Deontologie usw. Selbstverständlich gibt es auch Leute, die darauf bestehen, daß gerade diese beiden Theorien vollkommen unterschiedlich sind (obwohl sie sich nicht einig sind, worin genau der Unterschied besteht).
Was können wir mit dieser Verwirrung anfangen? Als Philosoph finde ich es faszinierend, daß es soviel Unstimmigkeiten über die
Identifizierung und Klassifizierung von Moraltheorien gibt. Ich habe vier Jahre mit dem Versuch verbracht, zu bestimmen, ob diese
Theorien wirklich konkurrierende Lugange zur Moral darstellen
oder ob sie nur unterschiedliches Vokabular benutzen und/oder auf verschiedenen Ebenen operieren. (Und vier Jahre später bin ich
noch immer unsicher.)® Für Politiker jedoch ist diese Art von
Verwirrung nicht faszinierend. Sie haben weder die Zeit noch das Interesse, sie zu entwirren.
Darüberhinaus können diese fünf Typen der Moraltheorie zu
verschiedenen Mischformen kombiniert werden. Angenommen, man könne von jeder dieser Theorien behaupten, sie habe einige kontraintuitive Implikationen, so ist für Moralphilosophen der Versuch, die attraktiveren Elemente der verschiedenen Theorien zu einer einzigen, neuen Theorie zu verknüpfen, nicht unüblich. Deshalb gibt es Theoretiker, die sagen, wir sollten den Utilitarismus mit der Deontologie verbinden, oder die Fürsorgeethik mit der Gerechtigkeitsethik. Mathematisch gesagt gibt es 120 Möglichkeiten, wie man diese fünf reinen Typen verbinden kann, und auch
wenn nicht alle dieser Verbindungen plausibel oder auch nur kohärent sind, so würde doch eine genaue Überprüfung der Lite-
ratur ergeben, dal den meisten von ihnen zumindest ein Moraltheoretiker beipflichtet. Darüberhinaus herrscht Uneinigkeit über 8 Für vorläufige Schlußfolgerungen vgl. meinen Aufsatz »Rawls on Teleology and Deontology«, in: Philosophy and Public Affairs, Vol. 17/3, 1988
(über Deontologie); »The Social Contract Tradition«, in: Peter Singer (Hg.), A Companion to Ethics, Oxford: Blackwell 1991, S. 186-196 (über
Kontraktualismus); und Politische Philosophie heute, Frankfurt am Main: Campus Verlag 1997, Kapitel 7 (über Fürsorgeethik).
197
die Kohärenz der Kombinationen. Ist z. B. die Verknüpfung des Utilitarismus mit der Deontologie, vielleicht in einer lexikalischen Beziehung, kohärent (indem z. B. eine gewisse Anzahl von Minimalrechten auf deontologischer Basis garantiert wird, für alles andere aber gestattet ist, auf utilitaristischer Grundlage zu entscheiden)? Im Gegensatz zu anderen glaube ich nicht, daß eine solche Vermischung kohärent ist. Wenn solche Mischformen kohärent wären und wir das Projekt, die beste, umfassende Moraltheorie anzunehmen, ernst nehmen, dann könnten die Kommissionsmitglieder sie selbstverständlich auch in Erwägung ziehen,
weil die Mischformen versprechen, die kontraintuitiven Implikationen jeder reinen Theorie zu vermeiden. b) Die Beurteilung von Moraltheorien. Nehmen wir an, wir haben die Unterschiede zwischen den verschiedenen möglichen Theorien identifiziert (seien es nun fünf oder 120). Wie kriegen wir nun zehn oder mehr Kommissionsmitglieder mit verschiedenen Hintergründen dazu, eine auszuwählen? Die relativen Verdienste einer jeden Theorie sind seit Jahrhunderten Anlaß zu Diskussionen, und es scheint unausweichlich, daß vernünftige Leute auch weiterhin verschiedener Meinung darüber sein werden. Einige nehmen die Beharrlichkeit dieser Meinungsverschiedenheiten als Beweis, dals
es auf moralische Fragen nicht die eine richtige Antwort gibt. Mary Warnock z. B., die in den frühen 8oer Jahren den Vorsitz der britischen Regierungskommission für NRT geführt hat, behauptet: »Es kann nicht deutlich genug betont werden, daß es in Fragen der Moral, obwohl es bessere und schlechtere Urteile gibt,
so etwas wie eine korrekte Beurteilung nicht gibt.«* Ich stimme
dem nicht zu. Aber selbst jene, die glauben, daß es richtige Antworten gibt, müssen zugeben, daß es schwierig sein kann, sie zu finden. Die Moralphilosophen haben bislang noch kein schlagkräftiges Argument für oder gegen die verschiedenen Moraltheorien gefunden. Es werden zwar neue Theorien entwickelt (z. B. die Fürsorgeethik), aber die früheren Theorien werden deshalb nicht auf die Art widerlegt, wie man von Kopernikus glaubt, daß es ihm gelungen sei, eine dezidierte Widerlegung von Ptolemäus zu lei-
sten. Es hat verschiedene Versuche gegeben, Moraltheorien auf der logischen Ebene zu widerlegen (z. B. mit dem Versuch, zu zeigen, 9 Mary Warnock, A Question of Life, Oxford: Basil Blackwell 1985, S. 96.
198
daß eine Theorie selbstwidersprüchlich ist) oder auf der Gefühlsebene (z. B. mit dem Versuch, zu zeigen, daß eine Theorie unsere
Alltagsintuitionen von richtig und falsch verletzt). Aber die Tatsache, daß diese Theorien seit Jahrhunderten Anhänger gefunden haben, läßt doch vermuten, daß sie nicht offensichtlich unlogisch sind. Und obwohl es nicht schwer ist zu zeigen, daß einige Theorien (z. B. der Utilitarismus) manche unserer moralischen Alltagsintuitionen verletzen, ist dies dennoch kein schlüssiges Argument. Nicht alle haben die gleichen Intuitionen, und es scheint, daß jede dieser Theorien immer auch einige kontraintuitive Implikationen hat. So kann also weder die Logik noch das Gefühl ein schlüssiges Argument für oder gegen eine bestimmte umfassende Moraltheorie liefern. c) Die Anwendung von Moraltheorien. Nehmen wir an, wir seien uns über eine bestimmte Moraltheorie einig. Nun müssen wir wissen, wie sich diese Theorie auf die von den NRT aufgeworfenen Fragen anwenden läßt. Befürworter der Sicht, daß Kommissionen eine einzelne Theorie annehmen sollten, tun oft so, als sei mit der Wahl einer einzelnen Theorie der schwierigere Teil der Arbeit
bereits getan. Aber solange es noch keine klare, direkte und unkontroverse Linie gibt, die von den in Moraltheorien üblichen sehr allgemeinen Konzepten der »Ubereinstimmung«, »Nützlichkeit«,
»Fürsorge« usw. hin zu den konkreten Details bei bestimmten ethischen Entscheidungen führt, ist die Arbeit keineswegs getan.
Für keine dieser Theorien gibt es eine Zauberformel für ihre
Anwendung.
Wenn wir uns z. B. dafür entscheiden, daß Moral eine Sache der
Nutzenmaximierung ist, wie wissen wir dann, was den Nutzen maximieren wird? Soll Nutzen in Begriffen subjektiver Präferenzen gemessen werden, oder gibt es objektive Standards, mit denen
wir beurteilen können, welche Interessen wichtiger oder dringen-
der sind? Soll das Nützlichkeitsprinzip auf Handlungen, auf Re-
geln oder auf Motivationen angewandt werden? Ist es auf persön-
liche oder nur auf politische Handlungen anwendbar? Alle diese
Fragen müssen beantwortet werden, bevor wir eine Theorie anwenden können. Ahnliche Fragen stellen sich für alle diese Theorien. Das soll nicht leugnen, daß es bessere und schlechtere Interpretationen von
Nützlichkeit, Natur, Fürsorge oder Ubereinstimmung gibt.
Doch genauso wie vernünftige Menschen weiterhin keine Über-
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einstimmung darüber erzielen werden, welche Moraltheorie sie in
Anspruch nehmen sollen, so werden sie auch weiterhin keine Übereinstimmung darüber erzielen, welche Interpretation dieser Theorien die beste ist. Das verweist auf eine wichtige Tatsache über die Art und Weise, wie moralische und politische Philosophie in die öffentliche Debatte eingegangen ist. Die meisten Leute sehen wohl das Maß an Meinungsverschiedenheit zwischen den verschiedenen Moraltheorien. Wenn überhaupt, dann übertreiben sie diese Differenzen und nehmen an, daß die Vertreter der verschiedenen Richtungen automatisch in allen Punkten uneins sind. Andere wiederum scheinen nicht zu bemerken, wieviele Streitpunkte es innerhalb jeder Richtung gibt, und nehmen deshalb an, daß die Vertreter einer
Theorie sich automatisch in allen Punkten einig seien. Daher
glauben viele Leute, wir könnten eine Eins-zu-eins-Korrelation zwischen Moraltheorien und Politikoptionen herstellen. Im Fall der Leihmutterschaft z.B versuchen viele Leute die fünf Moraltheorien auf einem Kontinuum zu situieren: Von den Utilitaristen sagt man, sie glaubten an eine buchstäblich unbegrenzte kommerzielle Leihmutterschaft (da der Markt am effizientesten Güter verteilt); von den Kontraktualisten sagt man, sie glaubten an
eine straff geregelte kommerzielle Leihmutterschaft (um Ausbeu-
tung zu verhindern); von den Vertretern der Fürsorgeethik sagt man, daß sie Leihmutterschaft ablehnen, aber die Rückerstattung von Kosten für andere reproduktionsmedizinische Behandlungen erlauben; die Deontologen akzeptieren nur altruistisch motivierte Leihmutterschaft; und Vertreter des Naturrechts weisen jede Form der Leihmutterschaft zurück. Ähnlich verhält es sich im Fall von Experimenten am Embryo, wo man von den Utilitaristen sagt, sie glaubten, dal bis zur Geburt
nicht-therapeutische Experimente am Embryo oder am Fetus
akzeptabel seien (da der Fetus erst mit der Geburt moralischen Status erwirbt); von den Vertretern der Fürsorgeethik sagt man, sie ziehen die Grenze ab der ersten Bewegung des Fetus; Kontraktua-
listen ziehen die Grenze mit dem Empfindungsvermögen; Vertreter des Naturrechts ziehen die Grenze mit der Betruchtung uSW.
Genau das wollen einige Leute - eine Liste, die eine Eins-zu-einsKorrelation zwischen Theorie und Empfehlung herstellt. Aber so funktioniert die Moralphilosophie nicht. Utilitaristen sind sich 200
untereinander keineswegs einig, was die Akzeptabilität der Leih-
mutterschaft betrifft oder den Status des Embryos, sowenig wie die Vertreter der anderen Theorien.
Es wird oft behauptet, die Utilitaristen hingen der Sicht an, daß der Fetus erst mit der Geburt seinen vollen moralischen Status erwirbt, wohingegen die Vertreter des Naturrechts der Überzeugung seien,
daß der Embryo den vollen moralischen Status schon ab der
Befruchtung erhält. Das ist nicht richtig. Viele Utilitaristen argumentieren, dals der Embryo seinen moralischen Status erhält, wenn
er in der Lage ist, Schmerz oder Lust zu empfinden, und einige
haben sogar argumentiert, daß potentielle Embryos vor der Befruchtung moralischen Status haben, da sie, wenn befruchtet und
geboren, zum Gemeinwohl beitragen würden. Im Gegensatz dazu
gibt es in der Tradition des Naturrechts verschiedene Antworten auf den moralischen Status des Embryos. Die Haltung der katho-
lischen Kirche ist, daß der Embryo mit der Befruchtung zur Person wird bzw. daß diese Möglichkeit zumindest nicht ausgeschlossen werden kann. Doch andere Vertreter des Naturrechts,
die katholische Kirche vor 1859 eingeschlossen, haben argumentiert, daß vom Embryo/Fetus angenommen wird, er werde erst später zur Person. 1° Einige frühere katholische Ethiker haben die Möglichkeit vorgeschlagen, daß die Einnistung des befruchteten
Eis als Erlangung des Personenstatus gelten soll, da in diesem Moment die genetische Identität definitiv festgelegt ist. Eine ähn-
liche Bandbreite von Meinungen über die Definition des Perso-
nenstatus kann man unter den Vertretern des Kontraktualismus oder der Fürsorgeethik finden. Da es keine eindeutigen Verbin-
dungen zwischen den Moral- und den Personentheorien gibt, würde die Annahme einer Moraltheorie nicht die Debatte über den Status des Embryos entscheiden. Allein die Annahme einer Moraltheorie genügt daher nicht als Antwort auf eine dieser diffizilen Fragen. Sie bildet nur einen Rahmen, in dem man diese Fragen stellen kann. Die Utilitaristen neigen genauso zu Uneinigkeiten wie die Vertreter der anderen
Theorien. So ist also die Idee, eine Kommission könnte durch Auswahl und
Anwendung einer bestimmten Moraltheorie Konsens bilden, 10 Vgl. Michael Coghlan, The Vatican, the Laz, and the Human Embryo, London: Macmillan Press 1990, S. 86-88.
20I
schlicht unrealistisch. Darüber hinaus ist die Idee, eine einheitliche
Moraltheorie zu finden, tatsächlich ziemlich unangebracht. Die Tatsache, daß Kommissionsmitglieder sich nicht einigen, ist nicht einfach nur ein bedauerlicher Zufall. Bürger sind zu diesen Themen meistens unterschiedlicher Meinung, und die Kommissionsmitglieder sind dazu ausgewählt, verschiedene Gesichtspunkte zu repräsentieren." Deshalb sollen sie Empfehlungen aussprechen,
die so weit wie möglich für eine Reihe ethischer Perspektiven annehmbar sind. Mitglieder von Regierungskommissionen sind Instrumente innerhalb des Systems der repräsentativen Demokra-
tie. So wie gewählte Repräsentanten im Parlament sollen die Kommissionsmitglieder die Gemeinschaft insgesamt repräsentie-
ren; obwohl man von ihnen, im Gegensatz zu gewählten Repräsentanten, auch erwartet, daß sie vom alltäglichen Druck durch
Interessengruppen und Machtpolitik gewissermaßen abgeschirmt
sein sollen. Man erhofft sich davon mehr Raum für Flexibilität und für vernünftige (im Gegensatz zu rein politischen) Kompromisse und für politische Langzeitinitiativen (eher als für Kurzzeitinitiativen). Aber dieser erweiterte Raum für Argumentation und Fle-
xibilität kann und soll nicht das Bedürfnis nach Empfehlungen ersetzen, die für ein weites Spektrum von Standpunkten akzeptabel sind. Die Annahme einer bestimmten ethischen Theorie ist deshalb nicht eintach nur unrealistisch, sie durchkreuzt den Zweck der Kommission.
3. Die bescheidene Auffassung -
der Philosoph als Techniker Einige Philosophen nehmen die Unmöglichkeit, in der ethischen Theorie zu einem Konsens zu kommen, durchaus zur Kenntnis. Sie konzentrieren ihre Aufmerksamkeit auf das eher bescheidene II Natürlich behaupten außer Moralphilosophen nur sehr wenige Menschen von sich, sie seien »Kontraktualisten« oder »Utilitaristen«. Die
meisten Leute tragen eine Mischung aus Utilitarismus, Kontraktualis-
mus und anderen Ideen mit sich herum, die oft unreflektiert miteinander verbunden sind. Doch gleichwohl gibt es wichtige Unterschiede
in der ethischen Perspektive zwischen den verschiedenen Gesellschaftsgruppen, und eine Regierungskommission muß dies berücksichtigen.
202
Ziel, sicherzustellen, daß die Argumente einer Kommission klar und konsistent sind. Dan Wikler, der als Philosoph Mitglied in der Kommission des Präsidenten zur Untersuchung ethischer Probleme in der Medizin in den Vereinigten Staaten war, argumentiert z. B., daß Philosophen zur Gesundheitspolitik durch »konzeptuelle Klärung« und »logische Monitorierung« beitragen können, ohne eine bestimmte Moraltheorie vertreten zu müssen. In seinen Worten: »Bioethiker, die konzeptuelle Klärung erlangen wollen, vermeiden das Bedürfnis nach einer eigenen Theorie, denn das Ziel ist gewöhnlich nicht, eine positive Sicht darzulegen, sondern vielmehr, Begriffe, die in den Kreisen der Gesundheitspolitik gängige Münze sind, zu ›des-
ambiguierens.«12
Mary Warnock hat eine ähnliche Sichtweise. Nachdem sie bemerkt, dals man von Moralphilosophen nicht erwarten kann, sich die richtige Moralphilosophie auszudenken, fragt sie: »Wo ist dann der Platz der Philosophie in den Entscheidungstindungen der (Regierungs-)Kommissionen? Philosophen haben eine Rolle genau wie Spezialisten, scheint mir, die durch Studium und Ge-
wohnheit daran gewöhnt sind, gute Evidenz von schlechter zu unterscheiden, gute Argumente von Fehlschlüssen, Dogmen von Erfahrung. Sie sind als Spezialisten daran gewöhnt, Schlußtolgerungen und Gedankenskizzen intelligibel darzulegen. «13 Ahnlich empfiehlt Peter Singer, daß Philosophen mehr Einfluß auf Regierungskommissionen haben sollten, mit der Begründung, daß »die vornehmste Tugend des Philosophen das kritische Denken ist - die Fähigkeit, Argumente zu beurteilen, Fehlschlüsse zu entdekken und sie in ihrem eigenen Argumentieren zu vermeiden« 14 12 Dan Wikler, » What has Bioethics to offer Health Policy?«, in: Milbank Quarterly 69 (2) 1991, S.233-251. Wikler bemerkt auch, daß Philosophen sich gut darauf verstehen, »aus geteilten Prämissen zu begründen«. Das liegt dem Ansatz, den ich im nächsten Abschnitt verteidige,
möglicherweise näher, je nachdem, wie man ihn beschreibt und aus-
führt.
13 Warnock, »Embryo Therapy: the philosopher's role in ethical debate«, Vortrag auf der International Conference on Philosophical Ethics in Reproductive Medicine, April 1991, S. 15-16. 14 Pascal Kasimba und Peter Singer, »Australian Commissions and Committees on Issues in Bioethics«, in: Journal of Philosophy and Medicine, Vol. 14 (4) 1989, S. 403-424, hier S. 406.
203
Doch so wie die erste Auffassung der Rolle des Philosophen zu ambitiös ist, so ist diese zu bescheiden. Diese Autoren lassen die Rolle eines Philosophen zu sehr nach der eines Technikers aussehen, der dafür sorgt, daß sozusagen die Leitungen in einem Bericht gut verlegt sind. Das Problem ist natürlich, daß Argumente klar und konsistent sein können und zugleich moralisch verwerflich. Ein Argument kann klar und konsistent sein und moralischen Gesichtspunkten dennoch keinerlei Gewicht geben oder sie in ökonomischen oder Klugheitsüberlegungen ertränken. Ich bin sicher, daß die Vertreter der bescheidenen Sicht glauben, daß Moral wichtig ist und daß NRT nicht nur aus der wissenschaftlichen, der ökonomischen und der politischen, sondern auch aus der moralischen Perspektive untersucht werden sollten. Doch weder die bescheidene noch die ambitiöse Sicht trägt tatsächlich viel dazu bei, zu erklären, was es bedeutet, die Dinge aus einer moralischen Perspektive zu betrachten. Was heißt das, Dinge moralisch zu betrachten? Eine Möglichkeit, diese Frage zu beantworten, ist, zu unseren fünf Moraltheorien zurückzukehren und zu fragen, was sie zu Theorien der Moral macht im Gegensatz zu Theprien des Eigeninteresses oder der Asthetik oder der Okonomie. Und um diese Frage zu beantworten, müssen wir uns nicht ansehen, was diese fünf Theorien voneinander trennt, sondern was sie gemeinsam haben - nämlich eine Verpflichtung auf das, was wir den »moralischen Gesichtspunkt« nennen können. In allen fünf Theorien herrscht die Uberzeugung, daß es für bestimmte Probleme eine moralische Perspektive gibt, die sich von einer klugen, wissenschaftlichen oder ästhetischen Perspektive unterscheidet und durch irgendeinen Begriff von Respekt für Personen definiert wird. Von einem klugen Standpunkt aus ist das Leben vieler Menschen unbedeutend für uns, besonders wenn sie zu schwach oder zu weit entfernt von uns sind, um uns zu schaden oder zu nützen. Vom
ästhetischen Standpunkt aus interessiert uns das Leben bestimmter Menschen nicht, besonders dann, wenn wir (wie Nietzsche) glauben, nur wenige Menschen seien zu wahrer Größe im Denken oder Handeln fähig. Aber vom moralischen Standpunkt aus haben alle Menschen an und für sich selbst Bedeutung. Es ist bedeutsam, wie gut ihr Leben verläuft, und wir müssen berücksichtigen, wie unsere Entscheidungen ihr Wohlergehen beeinflussen. Einen morall-
schen Standpunkt einzunehmen verlangt also, die Interessen und 204
Umstände anderer Menschen mitfühlend zu beachten, um zu verstehen, wie diese von deren Standort aus aussehen, und ihrem
Wohlergehen angemessene Bedeutung zu verleihen. Einen morali-
schen Standpunkt einzunehmen verlangt, sich in den Anderen hineinzuversetzen und zu gewährleisten, daß unser Handeln sowohl vom Standort des Anderen aus akzeptabel ist wie von unserem. Das ist natürlich die wesentliche Idee, die Jesus' »Goldener Regel« zugrunde liegt (handele gegenüber anderen so, wie du von ihnen
behandelt werden möchtest). Diese Goldene Regel findet sich nicht nur in der christlichen Ethik, sondern auch Deontologen wie Kant beziehen sich auf sie, Utilitaristen wie Mill, Kontraktualisten wie Scanlon und »Fürsorge«-Theoretiker wie Gilligan. Sie liegt also allen fünf oben diskutierten Theorien zugrunde. Wenn diese Darstellung des moralischen Standpunkts richtig ist, können wir erkennen, was an der ambitiösen und der bescheidenen
Auftassung von der Rolle des Philosophen talsch ist. Beide gehen von der Annahme aus, daß Moral ernstzunehmen heißt, Moralphilosophie ernstzunehmen - ob es sich um eine philosophische Theorie handelt (vom ambitiösen Standpunkt aus) oder um philosophisches Handwerk (vom bescheidenen Standpunkt aus). Aber dem ist nicht so. Moral ernstnehmen heißt zuallererst, Menschen
ernstnehmen - Sorge tragen für das Leben von Menschen und ihren Interessen. Genauer gesagt heißt das, empfindungsfähiges Leben ernstzunehmen, menschliches oder tierisches.
4. Ein dritter Zugang Wie nehmen wir Menschen ernst? Erstens, indem wir feststellen, wer von den NRT betroffen ist. Zweitens, indem wir sicherstellen,
daß NRT so angewendet werden, daß sie deren legitime Interessen fördern und sie in keinem Fall verletzen. Das ist natürlich nur oberflächlich. Aber ich glaube, es hilft zu-
nächst einmal zu umreißen, wessen es bedart, um einen moralisch
verantwortlichen Bericht zu schreiben. Wir brauchen eine Liste der betroffenen Parteien (oder der »Betroffenen«, der »stakeholders«) und eine Liste ihrer legitimen Interessen.
Die erste Liste können wir unseren »Wirkungsmonitor« nennen. Der Wirkungsmonitor gibt uns Auskunft darüber, welche Aus-
205
wirkung jede Empfehlung auf die verschiedenen Betroffenen hat:
z.B. auf Frauen; Behinderte; sichtbare Minderheiten; Kinder;
Schwule und Lesben; Arzte und Patienten. Wie erkennen wir die Betroffenen? Sie identifizieren sich im öffentlichen Beratungs-
prozeß weitestgehend selbst, sei es direkt oder indirekt (z. B. durch Anwälte für Kinder oder für Behinderte). Wir können Betroffene erkennen, indem wir auf die Öffentlichkeit hören und erkennen, wer sich über die Auswirkungen von NRT Sorgen
macht.
Die zweite Liste können wir unsere »Leitprinzipien« nennen. 15 Die Leitprinzipien erkennen legitime Interessen und Ziele, die beim Nachdenken über die Wirkung von NRT aut die verschiedenen Betroffenen berücksichtigt werden müssen. Sie beinhalten: 1. Autonomie (einschließlich informierte Einwilligung, »informed consent«). 16
2. Verantwortlichkeit.
3. Achtung menschlichen Lebens.
4. Gleichheit (sowohl in dem allgemeinen Sinn, gleichen Respekt für alle Mitglieder der Gemeinschaft zu fördern durch die Bekämpfung von Vorurteilen und Diskriminierung, als auch im
spezifischeren Sinn des gleichen Zugangs zu medizinischen Leistungen).
5. Angemessene Nutzung von Mitteln (zur Sicherstellung, daß Finanzierungsentscheidungen sich wirklich an Prioritäten der Gesundheit orientieren).
6. Nicht-Kommerzialisierung der Fortptlanzung. 7. Schutz der besten Interessen des Kindes (und anderer besonders verletzlicher Parteien). An manchen Stellen überlappen die sieben Prinzipien.! Ich glaube Is Der Begriff »Prinzipien« ist vielleicht irreführend, da die sieben »Prinzipien« legitime Interessen oder Ziele benennen und keine Entscheidungsregeln. Für eine hilfreiche Diskussion siehe Bernard Gert und K. Danner Clouser, » A Critique of Principlism«, in: Journal of Philosophy and Medicine 15 (2) 1990, S. 219-236, hier S. 222.
16 Siehe hierzu den Beitrag von Vollmann im vorliegenden Band.
17 Z.B. ist das Prinzip der Nicht-Kommerzialisierung von Fortp anzung großteils eine Schlußfolgerung aus den anderen Prinzipien, wie etwa dem der besten Interessen des Kindes und der Gleichheit und dem Respekt vor dem menschlichen Leben. In ähnlicher Weise wird
die angemessenen Nutzung von Mitteln oft mit dem Verantwortungs-
206
jedoch, daß jedes Prinzip ein legitimes und distinktes Ziel der Staatstätigkeit darstellt. Woher stammen diese Prinzipien? Material aus den öffentlichen
Beratungen, die die kanadische Royal Commission durchgeführt hat, lassen vermuten, daß es tatsächlich Konsens über diese Ziele
gibt, zumindest in Kanada.18 Die Prinzipien sind von allen Gesellschaftsschichten, die vor der Kommission erschienen sind, akzep-
tiert worden, und ich glaube, das gleiche würde für die meisten anderen westlichen Demokratien gelten. Selbstverständlich zeigt die Tatsache, daß es einen Konsens über
prinzip verknüpft, und oft wird gleicher Zugang zu den NRT als ein Erfordernis für die Förderung der Autonomie betrachtet. Es ist mög-
lich, diese verwandten Prinzipien miteinander zu verbinden, obwohl womöglich um den Preis, wichtige Fragen dabei außer acht zu lassen.
Im Gegensatz dazu ist es auch möglich, einige dieser Prinzipien in etwas detailliertere Kategorien zu unterteilen. Während z. B. die mei-
sten Leute zustimmen, daß die Forderung informierter Einwilligung sich aus dem Prinzip der Autonomie ableitet, haben einige das Gefühl,
daß sie doch wichtig genug ist, um als separates (gleichwohl abge-
leitetes) Prinzip betrachtet zu werden. Das ist zum Teil eine Frage der Beurteilung, wann es angemessen ist, Prinzipien zu kombinieren oder aufzuteilen. Doch die sieben aufgelisteten Prinzipien scheinen ethische Gedanken wiederzugeben, die sowohl wichtig als auch relativ distinkt sind. Für eine detailliertere Diskussion über den Gehalt dieser Prinzipien und thre wechselseitigen Beziehungen siehe meine *Ap-
proaches to the Ethical Issues Raised by the Royal Commission
Mandate«, das in einer zusätzlichen Ausgabe der Royal Commission on New Reproductive Technologies Final Report, Ottawa 1992, erschienen ist. 18 Für eine Zusammenfassung der Sichtweisen, wie sie sich in diesen öffentlichen Anhörungen darstellen, siehe What we Heard: Issues
and Questions Raised During the Public Health Hearings, Royal
Commission on New Reproductive Technologies, Ottawa, September 1991. Von den 296 Individuen und Gruppen, die bei den öffentlichen
Anhörungen erschienen sind, haben 75 eine Liste bestimmter Leitprinzipien akzeptiert. Die sieben im Text aufgeführten Prinzipien
stellen unter diesen Beispielen eindeutig konsente Punkte dar und repräsentieren eine große Gruppe in der Gesellschaft. Für eine detaillierte Analyse dieser moralischen Argumente in öffentlichen Anhörungen unter besonderer Berücksichtigung der von den verschiedenen Schichten der Gesellschaft unterzeichneten Prinzipien siehe meinen Aufsatz »Approaches to the Ethical Issues« (Anm. 17).
207
diese Prinzipien gibt, nicht, daß sie moralisch vertretbar sind. Es könnte sein, daß sie lediglich Ausdruck willkürlicher kultureller Vorurteile sind. Doch man kann diesem Konsens aus zwei Grün-
den moralisch vertrauen. Erstens läßt die Tatsache, dal die
Prinzipien von so vielen Gruppen - Experten und Laien, Manner
und Frauen, Religiöse und Säkulare, sichtbare Minderheiten, Behinderte, Arzte und Patienten - unterzeichnet worden sind - ebenso wie in vielen internationalen Befragungen - vermuten, daß sie wichtige, moralische Werte umfassen. Die Tatsache, daß sie von Randgruppen und Behinderten genauso wie von Tonangebenden und Mächtigen bekräftigt werden, läßt annehmen,
daß sie nicht nur die Vorliebe einer bestimmten Gruppe oder
Tradition sind.19
Zweitens sind die Prinzipien mit dem moralischen Standpunkt konsistent. Haben wir uns z. B. in die Lage eines anderen hinein-
versetzt, dann ist es nur natürlich, daß wir die Bedeutung der
Achtung vor dessen Standpunkt (das Autonomieprinzip) bejahen und daß wir Schwache schützen (das Prinzip, die besten Interessen des Kindes zu schützen). Alle diese Prinzipien sind konsi19 Daher ist es wichtig, diese Art echten Konsens von der Idee der »Gemeinschaftsstandards« zu unterscheiden, auf die sich viele Regierungsberichte berufen, was oft nicht mehr heißt als die willkürliche und
prinzipienlose Voreingenommenheit der Mehrheit. Viele Berichte z. B. empfehlen, daß alleinstehenden oder lesbischen Frauen die Möglichkeiten der künstlichen Befruchtung verwehrt werden sollten. Dies wird
in einigen Fällen mit dem Argument verteidigt, daß Kindern, die in solchen Familien aufwachsen, ein Schaden zugefügt wird. Dieses Argument spricht ein von vielen geteiltes Prinzip an, das die Notwendigkeit betrifft, Kinder vor Schaden zu bewahren. Wenn dieser Vorwurf der Schädigung bewiesen werden könnte, dann hätten wir hier ein prinzipielles (wenn auch nicht unbedingt hinreichendes) Argument, den Zugang auf verheiratete Paare zu beschränken. Es gibt jedoch in der Tat, wenn überhaupt, nur eine schmale Basis für diesen Schädigungsvorwurt, und so sprechen andere Berichte einfach nur davon, daß die
Erlaubnis für alleinstehende oder lesbische Frauen die »Gemein-
schaftsstandards« verletzt. In diesem Fall sind die Gemeinschaftsstandards weder allen gemeinsam noch prinzipiell, sondern sie reflektieren einfach nur die Vorurteile einer Mehrheit gegenüber einer Minderheit. Für Beispiele dieser Art von Berufung auf die »Gemeinschaftswerte« siehe Kasimba und Singer, » Australian Commissions« (Anm. 14), S. 414 und 417.
208
stent mit der Überzeugung - und helfen in der Tat, sie auszu-
buchstabieren -, daß jede Person an und für sich selbst von Bedeutung ist.20
Einige denken vielleicht, wir würden den Prinzipien noch mehr zutrauen, Ausdruck genuiner moralischer Werte zu sein, wenn wir sie aus einer umfassenden Moraltheorie ableiten könnten. Wenn
überhaupt, dann tührt der Weg in die andere Richtung. Unser
Vertrauen in eine bestimmte Moraltheorie hängt weitgehend davon ab, ob sie Raum für die verschiedenen Prinzipien mittlerer Reichweite bietet, denen wir bereits stark verpflichtet sind. Leugnet eine Moraltheorie z. B., daß die Interessen eines Kindes Schutz
verdienen, dann neigen wir sehr viel mehr dazu, diese Theorie abzulehnen, als auf das Prinzip des Schutzes der Interessen des Kindes zu verzichten. Tatsächlich ist genau das der Grund, weshalb die meisten Leute Hobbesianische Theorien, die die Moral aus wechselseitigen Vorteilen erklären, ablehnen. Solange die Theorie wechselseitiger Vorteile nicht unsere Bindung an die Prinzipien des Schutzes der Schwachen und des Respekts vor dem menschlichen Leben erklären kann, verdient sie nicht, als Moraltheorie ernstgenommen zu werden. Man muß sich keiner bestimmten Moraltheorie verschreiben, um
bewerten zu können, was als ein guter Grund zählt. Wenn eine
bestimmte Politik die Interessen des Kindes fördert, so ist diese Tatsache ganz klar ein guter Grund, aus dem diese Politik Zustimmung verdient. Die Öffentlichkeit und die Politiker akzeptieren
dies selbst dann als guten Grund, wenn sie keine spezifische
Moraltheorie angenommen oder auch nur verstanden haben. Jedem, der daran zweifelt, ob die Förderung der Interessen von Kindern als ein moralisches Gut zählt, fehlt es an der grundsätzlichsten ethischen Sensibilität. Es ist ihm nicht gelungen zu ver-
20 Was wäre, wenn es einen Konsens gäbe über Prinzipien, die den moralischen Standpunkt verletzen (z. B. ein Konsens über rassische oder sexuelle Diskriminierung)? In diesem Fall sollte ein Moralphilo-
soph versuchen, Regierungskommissionen zu ermutigen, diesen Kon-
sens in Frage zu stellen. Solange Regierungskommissionen jedoch
politische Körperschaften sind, wäre es für jemanden, der den Konsens
als moralisch illegitim betrachtet, sinnvoller, außerhalb des ganzen politischen Systems zu arbeiten. An Regierungskommissionen teilzunehmen setzt bis zu einem gewissen Grad die Legitimität des politi-
schen Systems voraus.
209
stehen, was es bedeutet, etwas von einem moralischen Standpunkt aus zu betrachten.
Wir müssen also keine bestimme Moraltheorie annehmen, um unsere Leitprinzipien zu erhalten. Es stellt sich ohnehin heraus, daß alle fünf Theorien ungefähr dieselbe Menge von Prinzipien unterstützen. Weiter oben habe ich bemerkt, daß Konzepte wie
»Einverständnis«, »Nützlichkeit«, »Natur« und »Fürsorge«
schwierig zu interpretieren und anzuwenden sind. Aus diesem Grund müssen Theoretiker, die im Bereich der angewandten Ethik
arbeiten, oft eine Reihe konkreterer Prinzipien in ihren Überlegungen zu Hilfe nehmen. Viele Utilitaristen z. B., die auf dem Gebiet der angewandten Ethik arbeiten, argumentieren, daß es buchstäblich unmöglich sei, in einer gegebenen Situation den
»Gesamtnutzen« zu messen. Der beste Weg, den Gesamtnutzen zu fördern, sei, so glauben sie, einfach Regeln anzunehmen, die spezifische wichtige Interessen schützen. Und es stellt sich heraus, daß die Art von Regeln, die von den Utilitaristen gebilligt werden, ähnlich denen der Kontraktualisten sind und denen der Vertreter der Fürsorgeethik oder des Naturrechts. Sie alle stimmen Prinzipien zu, die die Interessen des Kindes schützen, Autonomie respektieren usw. Freilich besteht auf der Ebene der Leitprinzipien keine vollständige Konvergenz. Aber es scheint, daß sich jede Theorie, wenn praktische Entscheidungen gefällt werden müssen, weniger auf philosophische Nuancen stützt, die sie von allen anderen unterscheidet, sondern vielmehr auf grundsätzliche Prinzipien, die sie mit allen anderen gemeinsam hat. So ist das Streben, eine umfassende Moraltheorie auszuwählen, letztlich vielleicht unnötig. Denn bei dem Versuch, eine Theorie anzuwenden, enden wir oft damit, uns auf Prinzipien mittlerer Reichweite zu berufen, die allen Theorien gemeinsam sind. Wir haben also eine Liste von Betroffenen und eine Liste von Leitprinzipien, von denen keine der Annahme einer umfassenden Moraltheorie bedarf. Sie schaffen die essentielle Basis tür einen moralisch verantwortlichen Regierungsbericht, denn sie gewährleisten, daß eine Kommission das Leben der Menschen und ihre Interessen ernst nimmt. Indem sie diese beiden Listen benutzt, kann eine Regierungskommission die Interessen der Menschen mit
Empathie betrachten. Eine Kommission kann das Schicksal von Schwachen und Randgruppen genausogut berücksichtigen wie die
21O
legitimen Interessen der Tonangebenden oder Mächtigen. Eine verantwortungsbewußte Kommission wird tun, was sie kann, um sich in die Lage der von den NRT Betrotfenen zu versetzen, die Auswirkungen der NRT in ihren Empfehlungen zu berücksichtigen und eine kreative Politik zu finden, die ihnen, wann immer es möglich ist, entgegenkommt. Ich glaube, daß eine Kommission, die diese Dinge richtig macht, moralisch gesprochen nicht allzu falsch handeln kann, selbst dann,
wenn sie keinerlei philosophischen Anspruch verfolgt. Oder andersherum, Berichte, die diese Liste nicht benutzen, werden sehr wahrscheinlich moralisch fehlerhaft sein, egal wie hoch ihr philo-
sophisches Niveau ist. Genau das ist bei den meisten früheren Regierungsberichten schiefgelaufen. In einigen Berichten werden
relevante Betroffene und Interessen übergangen. Der Warnock Report z. B. hat die Auswirkung der NRT auf Frauen, Behinderte oder Kinder nicht berücksichtigt. Statt dessen nimmt er zu verschiedenen Fragen einen eng medizinischen Standpunkt ein. (Warnock hat später darauf hingewiesen, daß sie alle Themen ihres
Auftrags, verglichen mit der Frage der Embryonenexperimente, als »relativ trivial« betrachtet, eine Sichtweise, die gewiß eine bestimmte moralische Blindheit enthüllt.)21 Andere Berichte erkennen die relevanten Interessen und Betroffenen, aber sie finden
keinen kreativen Umgang, um die Konflikte zwischen ihnen zu
schlichten. Viele Berichte z. B., die kontroversen NRT zustimmen
(z. B. rechtlicher Intervention), erwägen nicht die Möglichkeit, daß die angestrebten Ziele auch auf andere Art erreicht werden können.
Natürlich löst das nicht alle ethischen Probleme, die durch die NRT entstehen. Einige potentielle Konflikte zwischen Prinzipien können nicht aus der Welt geschafft werden, egal wie kreativ wir 21 Gemäß Warnock gibt es zwei Arten moralischer Fragen bezüglich der
NRT: »Die erste konzentriert sich auf das Konzept der Familie; die zweite auf die Rechtfertigung, oder deren Fehlen, für Embryonen verbrauchende Forschung. Ich persönlich glaube, daß die zweite Art von Frage sowohl wichtiger als auch schwieriger als die erste ist.«
(»Moral Thinking and Government Policy; The Warnock Committee on Human Embryology«, in: Milbank Quarterly 63 (3) 1985, S. 504-
522, hier S. 506). Tatsächlich sagt sie, daß »alle anderen Fragen, die wir
zu behandeln hatten, relativ trivial schienen verglichen mit dieser einen« (Questions of Life, Anm. 9, S. xv1).
2II
sind, und dann stehen wir vor einer schwierigen Entscheidung hinsichtlich der relativen Gewichtung der konkurrierenden Prinzipien. Unter diesen Umständen müssen die Kommissionsmitglieder zwischen den konkurrierenden Prinzipien ein bestmögliches Gleichgewicht herstellen, indem sie jedes angemessen gewichten. Das ähnelt dem Prozeß des Ausbalancierens von Werten, mit dem Richter oft konfrontiert werden. In beiden Kontexten können wir halbwegs erkennen, wann das Verfahren unpartellich durchgeführt wird und wann jemand hinsichtlich bestimmter Interessen auf unzulässige Weise voreingenommen ist.
Unnötig zu sagen, daß dieser Akt des »Ausbalancierens« von
Werten oder der »angemessenen Gewichtung« von Prinzipien von einem philosophischen Standpunkt aus nicht besonders hilfreich ist. Ohne eine umfassende Moraltheorie scheint die Rechtfertigung dafür, in bestimmten Kontexten einigen Prinzipien Prio-
rität vor anderen zu geben, oberflächlich und unbefriedigend.
Einige Philosophen haben diese Tatsache aufgespießt und insistieren darauf, daß wir von Anfang an eine umfassende Moraltheorie annehmen sollten, weil die Möglichkeit besteht, mit einer be-
stimmten Art von Konflikt zwischen Prinzipien konfrontiert zu werden, und weil nur eine umfassende Moraltheorie eine volle befriedigende Erklärung bieten kann, warum manche Prinzipien Vorrang gegenüber anderen haben.
Es gibt zwei Gründe, weshalb man diesem Rat nicht folgen sollte. Erstens gehen die meisten Streitigkeiten über NRT nicht um die
Abwägung konfligierender Prinzipien. Sondern eher um Tatsachen und um Macht. Allgemein gesprochen heißt das, daß die meisten öffentlichen Bedenken bezüglich NRT von der Art der »Schiefe-Bahn«-Argumente sind. Das heißt, einige Leute glauben, daß die NRT (im Lauf der Zeit) den gesellschaftlichen Status der Frauen schwächen werden, die familiäre Stabilität unterminie-
ren, zur Eugenik und zur Intoleranz gegenüber Behinderten füh-
ren usw. Aus dieser Sicht wird der Gebrauch der NRT unausweichlich zu einem Mißbrauch der NRT führen. Andere denken,
daß die NRT nicht diese negativen Folgen haben und die Gesellschaft zur Regulierung aller möglichen Mißbräuche fähig ist. Hier herrscht zwar in der Gesellschaft tiefe Uneinigkeit, aber nicht über Werte. 22 Es wäre mißverständlich, zu behaupten, diese Uneinigkeit 22 Zu den tiefen Kontroversen zwischen technologischen Optimisten und
212
wäre rein faktisch. Man sucht oft nach »Fakten«, die eine Position unterstützen, die man aus anderen Gründen angenommen hat. Leute, die z. B. die heterologe Insemination wegen ihrer Unnatür-
lichkeit ablehnen, suchen vielleicht zum Zweck der öffentlichen Debatte die faktische Evidenz, daß diese auf die schiefe Bahn der Auflösung der Familie führt, teilweise deshalb, weil das letztere Argument in einer öffentlichen Debatte wahrscheinlich effektiver ist als das vorhergehende. Daher kann moralische Uneinigkeit
durch faktische ersetzt werden. Doch wie auch immer, selbst wenn Schiefe-Bahn-Argumente mitunter als Deckmantel für an-
dere Belange benutzt werden, so ist es immer noch wahr und wichtig, daß die öffentliche Debatte über NRT weitgehend empi-
risch ist. Leute halten sich nicht nur aus strategischen Gründen an Schiefe-Bahn-Argumente, sondern auch, weil sie bemerken, daß
die Staatstätigkeit einer pluralistischen Gesellschaft nicht auf Gründen der persönlichen Uberzeugung beruhen kann. Staatstä-
tigkeit muß auf nicht-sektiererischen Gründen und Argumenten, die von allen verstanden werden können, basieren. Die Vorherr-
schaft von Schiefe-Bahn-Argumenten in öffentlichen Debatten ist zum Teil Ausdruck der Tatsache, daß sie diesen Test bestehen, da sie von gemeinsamen Werten abhängig sind.23 Während die Auflösung Schiefer-Bahn-Dispute nicht jede moralische Uneinigkeit über NRT auflöst, holt sie doch viel von dieser Uneinigkeit aus der Arena der Staatstätigkeit in die Sphäre persönlicher Uberzeugungen. Es ist wichtig, sich klarzumachen, daß Schiefe-Bahn-Argumente beides können - das heißt, Technikoptimisten haben Sorge, daß die Beschränkungen in der Embryoforschung oder Leihmutterschaft auf eine schiefe Bahn kommen können, die zur pauschalen Einschränkung von Medizin- und Forschungsformen führt,
die von einigen Mitgliedern der Gesellschaft für »unnatürlich« gehalten werden. Jeder stimmt zu, daß Eugenik falsch ist, daß Vorurteile gegen Frauen oder Behinderte falsch sind, daß Fami-
Pessimisten siehe Max Charlesworth, Life, Death, Genes and Ethics, Australian Broadcasting Corporation Books, Crows Nest NSW, 1989, S. 24-33; Wibren van der Burg, »The Slippery Slope Argument«, in: Journal of Clinical Ethics 3 (4) 1992, S. 256-268, und die British CoJumbia Royal Commission on Familiy and Children's Law, Artificial Insemination, 1975, S. 7. 23 David Lamb, Down the Slippery Slope: Arguing in Applied Ethics, London: Croom Helm 1988, S. 5.
213
lieninstabilität unerwünscht ist usw. Die Uneinigkeit betrifft die Frage, ob NRT wirklich diese Auswirkung haben. Und diese Uneinigkeit ist Ausdruck von Machtdifferenzen - d. h. einige, die sich besonders besorgt über die Implikationen von NRT zeigen, haben das Gefühl, daß sie wenig Einfluß auf die zukünftige Entwicklung nehmen können.
Wir können der Lösung dieser Konflikte ein ganzes Stück näher kommen, indem wir zuverlässigere oder schlüssigere Evidenz fin-
den und indem wir Regulationsmechanismen finden, die allen Gruppen in der Gesellschaft das Gefühl vermitteln, daß sie eine
gewisse Mitsprache in der zukünftigen Entwicklung der NRT haben. Eine umfassende Moraltheorie anzunehmen ist weder notwendig noch relevant, um diese Konflikte zu lösen, da diese Konflikte sich nicht um konkurrierende fundamentale Prinzipien drehen. Hier ist unser Denken verzerrt. Ich glaube, durch die Abtreibungsdebatte. Die Abtreibungsdebatte geht um fundamentale Prinzipien, und Uneinigkeit würde bleiben, selbst wenn es ein allgemeines Einverständnis über die Tatsachen gäbe. Doch nur sehr wenige
der Debatten über die NRT sind so beschaffen. Sie enthalten eher
Unstimmigkeit über die tatsächliche Auswirkung von NRT aut verschiedene Gruppen und über die realistische Reichweite von Alternativen. Diese als Prinzipienstreit (falsch) zu interpretieren,
verringert die Chance zum Konsens.24
Natürlich existieren auch im Bereich der NRT einige unlösbare Prinzipienkonflikte. Doch nicht alle müssen von einer Regierungskommission gelöst werden. Wenn (wie ich vorgeschlagen habe) eine permanent beratende oder regulative Körperschaft errichtet wird, dann können ihr einige Konflikte überlassen bleiben. Da viele Angelegenheiten, die durch die NRT entstehen, neu sind und wir noch immer ihre Implikationen entdecken, ist das sicherlich ein weiser Vorschlag, der in anderen Rechtsprechungen gut funktioniert. Darüber hinaus haben viele dieser Konflikte keine allgemeine Lösung und müssen deshalb Fall für Fall behandelt werden, entweder von einer zukünftigen regulatorischen Körper24 Gemäß Martin Benjamin werden faktische Meinungsverschiedenheiten oft als moralische Meinungsverschiedenheiten wahrgenommen, die
»überflüssige Hindernisse auf den Weg zu allseits befriedigenden Zugeständnissen legen«. Splitting the Difference: Compromise and Integrity in Ethics and Politics, University Press of Kansas 1990, S. 16.
214
schaft oder von institutionellen Ethikkomitees, oder von einzelnen Patienten und Ärzten.25 Aus all diesen Gründen glaube ich, daß eine Regierungskommission über NRT in ihren moralischen Überlegungen auf der Grund-
lage relativ unkontroverser Leitprinzipien weit vorankommen kann. Das trifft möglicherweise nicht für Regierungskommissionen über andere bioethische Fragen zu, wo Konflikte zwischen Prinzipien zugleich allgemeiner und drängender sind. Doch viel-
leicht ist es unrealistisch, anzunehmen, Regierungskommissionen könnten in diesen Fällen sehr hilfreich sein. Deshalb hat in Kanada
niemand eine royal commission zum Thema Abtreibung vorgeschlagen. Wenn die einzige Frage auf der Tagesordnung konfligie-
rende Prinzipien sind, dann wissen wir im voraus, daß keine Kommission, die die Kanadier repräsentiert, zu einem Konsens kommen kann, sondern sich bekannte Konfliktlinien wiederholen
werden. Eine Kommission zum Thema reproduktiver Gesundheitsfürsorge ist nur dann nützlich, wenn es andere Arten von Fragen gibt, andere Arten, auf öffentliche Belange zu antworten, bei denen die Lösung kontroverser moralphilosophischer Prinzipienstreitigkeiten nicht vorausgesetzt wird. Und ich glaube, genau das ist der Fall bei öffentlichen Belangen hinsichtlich der NRT. Die Berufung auf Leitprinzipien mag in anderen Kontexten ein unangemessener bioethischer Ansatz sein.26 Aber für die Über25 Einige potentielle Prinzipienkonflikte werden auch deshalb nicht entstehen, weil die konfligierenden Prinzipien nicht immer in die Praxis implementiert werden können. Z. B. gibt es Leute, die sich prinzipiell
über ein Gesetz streiten können, das die Bereitstellung künstlicher Insemination für nicht-medizinische Zwecke illegitim machen würde, die sich aber praktisch einig sind, daß jeder Versuch, ein solches Gesetz zu erlassen, vergeblich wäre.
26 Für eine Diskussion über die Grenzen des »Prinzipalismus« in der Bioethik siehe Gert und Glouser (Anm. 15); Wikler (Anm. 12), S. II, und Paul Menzel, »Public Philosophy: Distinction without Author-
ity«, in: Journal of Philosophy and Medicine, 15 (4) 1990, S.411-424,
hier S. 415. In jedem Fall ist es wert, darauf hinzuweisen, daß die meisten dieser Kritiken sich auf eine bestimmte Form von Prinzipalismus konzentrieren, die sich aus der Arbeit von Beauchamp und Childress ableiten läßt, die nur sehr vage und unbestimmte Prinzipien benutzen (z. B. »Benevolenz«). Insofern als die Prinzipien, die ich hier vorstelle, bestimmter sind (z. B. »Nicht-Kommerzialisierung«), sind sie vielleicht als Orientierungen im Denken nützlicher und umgehen daher
215
legungen zur Staatstätigkeit in Fragen der NRT ist dies, wie ich glaube, außergewöhnlich angemessen. In diesem Kontext eine anspruchsvolle Moraltheorie zu erwarten ist unnötig und unrea-
listisch.
5. Philosophische Argumente in Regierungskommissionen Wenn das stimmt, dann sind hochgestochene philosophische Ansprüche weder notwendig noch hinreichend für einen moralisch verantwortlichen Bericht über NRT. Tatsächlich läßt ein Uberblick
über die existierenden Regierungsberichte annehmen, daß es keine
interessante Verbindung zwischen philosophischem Anspruch und moralischer Sensibilität gibt. Einige der Berichte, die in ihrer
Diskussion der Moraltheorie sehr amateurhaft sind, haben die moralisch relevanten Interessen am besten identifiziert und geschützt. Ich werde kurz zwei Beispiele aus kürzlich erschienenen Regierungsberichten darstellen: (a) Kommerzielle Leibmutterschaft. Die Entwicklung von NRT setzt voraus, daß es ein legitimes soziales Ziel ist, Paaren zu helfen, ein Kind zu empfangen und zu bekommen. Aber einigen Leuten ist jedes Mittel recht, um ein Kind zu empfangen. In den meisten
Ländern findet z. B. die Idee von Agenturen für kommerzielle Leihmutterschaft kaum Anklang, und die meisten Berichte haben empfohlen, diese nicht zu erlauben. manche Kritik dieser Autoren. Dennoch stimme ich zu, daß Prinzipalismus keine vollständige Theorie der Bioethik sein kann. Eine Checkliste von Prinzipien aufzustellen läßt einige der philosophisch interessantesten Fragen über die Bioethik ohne Antwort (z. B., wie soll man Fälle lösen, in denen einzelne Arzte oder Institutionen mit tragischen Entscheidungen zwischen konkurrierenden Prinzipien bezüglich der Behandlung von Patienten konfrontiert werden). Doch die interessantesten Fälle aus der philosophischen Perspektive sind nicht immer die interessantesten oder wichtigsten aus der Perspektive der Staatstätig-
keit. Während Prinzipien nicht für alle bioethischen Kontexte angemessen sind, sind sie doch besonders nützlich im Kontext von Regie-
rungskommissionen zu den NRT, deren Empfehlungen sich auf die allgemeine Struktur gewisser politischer Programme beziehen und nicht auf die Besonderheiten einzelner Fälle.
216
Verschiedene Berichte rechtfertigen diese Empfehlung auf verschiedene Weise. Doch die üblichste lautet, daß Kinder, die durch ein solches Arrangement der kommerziellen Leihmutterschaft geboren werden, geschädigt werden (d. h. die kindliche Selbstachtung könnte verletzt werden, wenn es entdeckt, daß es das Produkt
einer kommerziellen Transaktion ist). Also, wird argumentiert,
sollten diese Arrangements im Namen des Schutzes der besten Interessen des entstehenden Kindes beschränkt werden. 27
Aber das ist ein Blindgänger. Das Problem ist, daß das Kind ohne ein Leihmutterschaftsarrangement nicht geboren worden wäre.
Das daraus entstehende Kind mag relativ zu anderen Kindern benachteihgt sein, aber in benachteiligende Verhältnisse hinein-
geboren zu werden ist nicht gegen die Interessen des Kindes, wenn die Alternative wäre, überhaupt nicht geboren zu werden. Solange das Kind froh ist, am Leben zu sein, können wir nicht sagen, daß
seine Empfängnis und Geburt zu verhüten in seinem Interesse wäre. Solange wir nicht glauben, daß ein mittels Leihmutterschaft geborenes Kind tot besser dran wäre als lebendig, ist die Empfäng-
nis kein Schaden. Hier haben wir den Fall eines nicht stichhaltigen Arguments, das
die meisten Philosophen angreifen würden. Aber es ist keine
moralisch unvernünftige Schlußfolgerung - niemand hat das 27 Diesen Anspruch erheben eine Reihe australischer Regierungsberichte. Z. B. sagt der Waller Bericht, daß »das Komitee schwere Zweifel daran
hat, ob irgendeine Art von Arrangement von Leihmutterschaft im besten Interesse des Kindes ist, dessen Geburt so geplant wird«, Committee to Consider the Social, Ethical and Legal Issues Arising from In
Vitro Fertilization, Report on the Disposition of Embryo Produced by
In Vitro Fertilization, Melbourne 1984, S. 53-54. Ebenso Family Law
Council, Creating Children: A Uniform Approach to the Law and Practice of Reproductive Technology in Australia, Canberra 1986b, S. 16; Tasmanian Government, Report of the Committee to Investigate
Artificial Conception and Related Matters, Hobart 1985, S. 80; Western Australian Government, Report of the Committee to Enquire into the Social, Legal, and Ethical Issues Relating to In Vitro Fertilization and its Supervision, Perth 1986, S. 78: New South Wales Law Reform Com-
mission, Surrogate Motherhood (Report 3), Sydney 1988, S.3I-32; Jonathan Glover, Ethics of New Reproductive Technology: The Glover Report to the European Commission, Dekalb 1989, S. sI; und AustraLia's National Bioethics Consultative Committee, Surrogacy Report 1, Adelaide 1990, S. 20. 217
Recht, ein Kind oder seine reproduktiven Fähigkeiten zu kaufen oder zu verkaufen. Jede menschliche Gesellschaft hat den Warencharakter der Fortpflanzung begrenzt. Dafür gibt es eine Reihe bester Gründe: Schaden an anderen Kindern, Familienstabilität, Ausbeutung etc. Jeder, der den moralischen Gesichtspunkt sensibel einnimmt, kommt wahrscheinlich zum gleichen Schluß. Ich glaube, daß viele Regierungskommissionen in der Tat von diesen echten moralischen Überlegungen bewegt wurden, selbst wenn es nicht diese Überlegungen sind, die letztlich im Bericht genannt werden. Die Tatsache, daß ihr ethisches Argument amateurhaft ist,
ist, so glaube ich, kein Beweis, daß es ihren Uberlegungen an
moralischer Seriosität oder Sensibilität mangelt. (b) Embyronenforschung. Nehmen wir ein zweites Beispiel. Die meisten Leute glauben, das menschliche Leben verdiene in jedem
Stadium seiner Existenz Respekt, das Embryo-Stadium einge-
schlossen. Doch einige wenige Leute glauben, daß der Grad des
moralischen Schutzes, der dem menschlichen Embryo geschuldet
wird, genauso stark ist wie der Respekt gegenüber dem menschlichen Wesen nach der Geburt. Das wirft die Frage auf, welche Art von Forschung, wenn überhaupt, an in-vitro befruchteten Embryonen durchgeführt werden darf. Die meisten Regierungsberichte haben empfohlen, daß Forschung an in-vitro-Embryonen erlaubt werden darf, aber nur bis zum vierzehnten Tag nach der Befruchtung. Diese Empfehlung wird oft mit »Potentialitäts«-Argumenten verteidigt - d. h. Embryonen sind zwar keine vollwertigen Mitglieder der moralischen Gemeinschaft, aber sie haben das Potential, vollwertige Mitglieder zu werden, und dieses Potential gibt Grund, sie moralisch zu respektieren. Eine solche Referenz an die Potentialität scheint notwendig, wenn man, wie die meisten Berichte, argumentieren möchte, daß menschliche Embryonen größeren moralischen Schutz erhalten sollten als empfindungsfähige Tiere, da die
aktuellen Fähigkeiten letzterer über die der ersteren hinausge-
hen. Das Potentialitätsargument wird seit vielen Jahren von Philosophen diskutiert. Einige glauben, das ganze Argument sei unplausibel, denn es gibt keine generelle moralische Verpflichtung, Potentialität zur Verwirklichung zu bringen. Außerdem scheint das Potentialitätsargument gleichermaßen Keimzellen zu betreffen, obgleich doch nur wenige Leute glauben, es sei ethisch fragwürdig, 218
an Spermien zu forschen. Es sei angemerkt, daß keiner der Berichte
einen Versuch macht, diese traditionellen Einwände zurückzuweisen. Doch lassen wir sie beiseite, denn es gibt ein sehr viel offensichtlicheres Problem mit diesem Gebrauch des Potentialitätsarguments - es kann nämlich die vierzehntägige Forschungsbeschränkung nicht erklären.
Warum? Weil Embryonen ihr Potential, eine Person zu werden, nach 14 Tagen in der Tat verlieren. Im Fall der natürlichen Be-
fruchtung nisten sich die Embryonen im Uterus der Frau um den sechsten Tag herum ein. Die Möglichkeit einer erfolgreichen Im-
plantation in utero verschwindet bald nach diesem Zeitpunkt. So
würde das Potentialitätsargument hier annehmen, daß es mora-
lisch nicht verwerflich ist, an Embryonen in-vitro zu forschen, die älter als 14 Tage sind. Das Australian Senate Select Committee hat das so formuliert: Wenn Befürworter des Potentialitätsarguments Raum lassen möchten für nichttherapeutische Experimente an Embryonen, »dann scheint es sinnvoller zu sein, wenn solche
Experimente durchgeführt werden, nachdem keine Möglichkeit mehr für eine Zukunft in utero besteht. «28 Wenn wir glauben, es sei
gestattet, mit Embryonen zu experimentieren, solange sie wenig oder kein Potential haben, Personen zu werden, dann bedeutet das,
nach dem 14. Tag an Embryonen zu experimentieren, und nicht davor. Hier haben wir also ein weiteres nichtschlüssiges Argument. Doch die Schlußfolgerung kann wiederum durchaus vernünftig sein. Einerseits verdienen Embryonen in Hinsicht auf ihre Verknüpfung mit der menschlichen Gemeinschaft einen gewissen Respekt, aber sie haben kein Recht auf Leben; andererseits kann wissenschaftliche Forschung Wohltaten vollbringen, aber die Wissenschaftler haben kein Recht, mit menschlichem Leben zu experimentieren. Über die Gewichtung dieser beiden Belange hat man kein Einverständnis erzielt, und die vierzehntägige Beschränkung ist vielleicht ein guter Kompromiß. Eine wohlwollende Interpretation ist, daß die verschiedenen Kommissionen anerkannt haben, daß der Embryo einen gewissen Status hat dank seiner Kontinuität mit der menschlichen Gemeinschaft, aber diese Tatsache haben sie schlicht falsch beschrieben. Als Moralphilosophen wissen wir, 28 Senate Select Committee on the Human Embryo Experimentation Bill, Human Embryo Experimentation in Australia, Canberra 1986, S. 27.
2I9
daß Potentialität eine inkorrekte und unterkomplexe Beschrei-
bung dieser Kontinuität (14 Tage alter Embryonen) ist. Aber die grundlegenden Überlegungen können gleichwohl ganz vernünftig sein. Daher können wir nicht schließen, daß es den Kommissionen an moralischer Seriosität oder Sensibilität gemangelt hat. Vielleicht ist meine wohlwollende Interpretation dieses Beispiels falsch. Viele Kritiker glauben, die vierzehntägige Beschränkung sei bloß Ausdruck ärztlicher Interessen, da Embryonen nicht länger als 14 Tage in-vitro erhalten werden können. Nach dieser Sicht-
weise hat sich die Entscheidung allein auf die Interessen einer einzelnen Gruppe gegründet bzw. auf eine enge medizinische Sicht
der Fragen; das »Potentialitäts«-Argument wäre nur ein Vorwand - eine Möglichkeit, einer letztlich nur auf Eigeninteressen beru-
henden Entscheidung eine ethische Fassade zu geben.
Das ist natürlich möglich. Regierungsberichte sind von vielen Instanzen angeklagt worden, sie seien unzulässig durch die Medizin beeinflußt worden. Das zeigt, daß wir, wenn wir einem trugschlüssigen Argument begegnen, die Möglichkeit bedenken müssen, daß es den unzulässigen Einfluß partikularer Interessengrup-
pen ausdrückt. Aber das sollten wir immer tun, selbst wenn das Argument konsistent ist. Z. B. verteidigen einige Berichte das vier-
zehntägige Limit mit der Begründung, dals es dem Zeitpunkt entspricht, zu dem sich der Primitivstreifen entwickelt, der Vor-
läufer des Nervensystems, und daher die Basis für die den Menschen auszeichnende Fähigkeit des Bewußtseins und der Vernunft.
Hier gibt es keinen Trugschluß, gleichwohl könnten wir glauben,
daß der einzige Grund, weshalb der Regierungsbericht dieses Argument übernommen hat, der ist, daß dies einen Vorwand für die Interessen der Ärzte darstellt. Wir könnten glauben, dais die Kommissionsmitglieder nicht wirklich der Überzeugung sind, die
Entwicklung des Primitivstreifens sei für die Bestimmung des moralischen Status des Embryos wichtig, daß sie sich aber gleich-
wohl darauf berufen, um ein bißchen ethische Dekoration vorzuweisen.
Wir müssen immer wachsam sein gegenüber dem Einfluß gewisser Interessen, und wir müssen die Möglichkeit bedenken, daß schein-
bar ethische Argumente in Wahrheit nur ein Deckmantel für
Entscheidungen sein können, die aus ganz anderen Gründen gefällt werden. Aber das betrifft schlüssige ebenso wie untriftige Argumente. Selbst wenn also das Potentialitätsargument ein Vor220
wand ist, so besteht seine moralische Fehlerhaftigkeit nicht in seinem Mangel an philosophischer Stringenz, sondern in seinem bloß moralischen Anschein. Ich habe gerade zwei Beispiele philosophischer Fehler beschrieben, die keine moralischen Verfehlungen sind und die keinen Mangel an moralischer Seriosität oder Sensibilität bezeugen. Für dieses Phänomen gibt es viele Beispiele. (Z. B. glaube ich, daß viele Argumente für das Verbot der Klonierung philosophisch schwach sind, dals aber die Schlußfolgerung moralisch richtig ist.) Kritiker,
die sagen, die Kommissionen hätten moralphilosophisch »wie
Amateure« gedacht, haben durchaus recht.29 Aber sie haben unrecht, wenn sie annehmen, daß diese philosophischen Fehler Ausdruck dafür sind, dais sie das Moralische nicht ernst nehmen. Es ist
eine Sache, auf ein inkonsistentes Argument hinzuweisen, aber eine ganz andere, zu zeigen, daß dies tatsächlich zu einer moralisch
fehlerhaften Empfehlung führt; die Kritiker meinen allzu oft, ersteres beweise letzteres.
Natürlich ist es bedauerlich, wenn Regierungsberichte diese philo-
sophischen Fehler machen. So ist es z.B. unglücklich, daß in
Berichten die irretührende Idee der Potentialität gewählt wurde, um zu charakterisieren, wie 14 Tage alte Embryonen mit der menschlichen Gemeinschaft verbunden sind. Es wäre besser, wenn wir die richtige Beschreibung dieses Zusammenhangs hätten, zumal Regierungsberichte oft so etwas wie Präzedenzfälle
bilden, denen dann gefolgt wird. In solchen Situationen sollten Philosophen wohl in der Lage sein, die Qualität der Argumente durch so etwas wie konzeptuelle Klärung und Überwachung der Argumentationslogik (wie in Abschnitt 3) zu verbessern. Aber es ist wichtig, die Bedeutung und Reichweite philosophischer Feinabstimmung nicht zu übertreiben. Die Feinabstimmung
ist weniger wichtig als die grundlegende Struktur von Betroftenen und den angeführten Prinzipien. Wenn die grundlegenden Betrof-
fenen- und Prinzipien-Checklisten ordentlich spezifiziert und gewissenhaft angewendet worden sind, dann können sich eventuelle philosophische Verwirrungen gar nicht mehr allzu schlimm auswachsen. Umgekehrt, wenn die philosophische Feinabstim-
29 John R. Williams, »Commissions and Biomedical Ethics: The Canadian Experience«, in: Journal of Medicine and Philosophy 14 (4) 1989, S. 425444, hier S. 444.
22I
mung an Argumenten ohne derartige Checklisten ansetzt, wird sie wahrscheinlich moralisch nichts einbringen, denn womöglich ver-
bessert sie dann die Überzeugungskraft eines Arguments, das relevante Betroffene bzw. deren Interessen ignoriert.
Überdies wird man realistischerweise den Spielraum für philosophische Feinabstimmung gering veranschlagen müssen. So ist es z. B. sehr schwierig, die beste Beschreibung für das Kontinuitätsverhältnis von Embryonen mit der menschlichen Gemeinschaft zu finden, und es ist wohl lediglich eine Fantasie, zu glauben, daß eine Regierungskommission eine gute Antwort auf diese Frage herausbringen könnte. Kommissionen sind ja de facto so konstruiert, daß philosophische Klarheit eher unwahrscheinlich wird. Wie wir ge-
sehen haben, zwecken Kommissionen darauf ab, verschiedene ethische Standpunkte zu repräsentieren und eine gewisse Anpassung unter ihnen zu suchen. Das Bedürfnis nach einer solchen Anpassung konfligiert oft mit dem Drang nach begrifflicher Präzision. Der Warnock Report z. B. ist wegen mangelhafter Klarheit in seiner Diskussion des Moralstatus des Embryos beanstandet worden. Aber wie Warnock erklärt: »Über jeden Satz mußte dis-
kutiert werden. Einen Konsens über Schlußfolgerungen zu erzielen, war schwierig genug. Übereinstimmung auch noch über den Argumentationsgang zu erlangen, wäre unmöglich gewesen. «30 Angesichts dessen, daß es unmöglich war, sich auf ein bestimmtes Argument zu einigen, aber Konsens erwünscht war, war die einzige Lösung der unbestimmte und konfuse, gleichwohl allgemein annehmbare Verweis auf Potentialität. Bei dieser Art von Kompromissen philosophische Klarheit zu erwarten, wäre unreallstisch. Man kann es bedauerlich, nicht aber überraschend tinden, dals Regierungsberichte nicht zu großer philosophischer Klarheit gelangen. Es kann durchaus sein, daß wir keinen philosophischen Scharfsinn von Regierungsberichten erwarten können, egal wie moralisch engagiert die Kommissionsmitglieder sind. Moralisch ernsthafte Erwägungen in diesen Kontexten können oft zu philo30 »Every sentence had to be argued over. To reach agreement on conclusions was difficult enough. To have arrived at an agreed line of argument would have been impossible.« Warnock, zitiert in Michael Lockwood, »Warnock versus Powell (and Harradine): When Does Potentiality Count?«, in: Bioethics 2 (3) 1988, S. 187-213, hier S. 188.
222
sophisch oberflächlichen Berichten führen. Und umgekehrt können, wie wir gesehen haben, philosophisch ausgefeilte Berichte dennoch moralisch scheinheilig und unsensibel geraten.
So dürfen wir vermuten, daß sich, vom moralischen Standpunkt aus, ein vertieftes Verständnis von Moralphilosophie nicht not-
wendigerweise in besseren Regierungsberichten zu den NRT niederschlägt. Vielmehr glaube ich sogar, daß gerade Versuche, Poli-
tiker mit der akademischen Philosophie vertraut zu machen, teil-
weise verantwortlich sind für den Mangel an moralischer Seriosität und Sensibilität in vielen Regierungsberichten. Ein Grund dafür ist
schlicht der Mangel an Zeit und Energie. Die Zeit, die auf die Beherrschung der Komplexität der Moralphilosophie verwandt
wird, ist Zeit, die nicht darauf verwandt wird, den Auswirkungen von NRT auf das Leben der Menschen nachzugehen. Aber es gibt noch zwei eher spekulative Gründe für die These, daß philosophischer Ehrgeiz hier kontraproduktiv werden kann. Ich berürchte erstens, daß die Ausübung ihrer alltagspraktischen moralischen Sensibilität verhindert wird, wenn man Politiker dazu bringt, Moralphilosophie ernstzunehmen. Das Problem ist, wie schon bemerkt, dais viele Leute glauben, Moraltheorien und Empfehlungen stünden in einem Eins-zu-eins-Verhältnis, so daß die Übernahme einer bestimmten Theorie einen an eine vorweg bestimmte Reihe von Empfehlungen bindet. Viele glauben ja z. B., dals ein utilitaristischer Ansatz eine liberalisierte Einstellung zu kommerzieller Leihmutterschaft und Embryonentorschung impliziert, während die Annahme naturrechtlicher oder deontologischer Ansätze die Zurückweisung aller Formen der Leihmutterschaft und der Embryonenforschung impliziert. Je mehr jemand
an so enge Verbindungen zwischen Theorien und normativen Empfehlungen glaubt, desto unwahrscheinlich wird es, daß
noch das Bedürfnis verspürt wird, sich wirklich in die Lage anderer
Menschen zu versetzen und herauszufinden, wie deren Leben betroffen ist. Zweitens befürchte ich, daß Philosophie, wenn sie ernstgenommen wird, das Vertrauen der Menschen in ihr alltägliches moralisches Gespür zerrütten könnte. Das Problem, um es noch einmal zu sagen, ist, daß die fünf Moraltheorien hoch umstritten sind und die
Debatten zwischen ihnen ziemlich verwirrend sein können. Und solche Verwirrung auf philosophischer Ebene könnte das Vertrauen auf der Ebene der alltagsmoralischen Prinzipien erschüt223
tern. Ein interessantes Beispiel wird in einem der President's Commission gewidmeten Symposion der Zeitschrift Ethics 1987
diskutiert. Die Kommissionsmitglieder hatten die Einrichtung eines Fonds zur Entschädigung von Versuchspersonen beschlossen, denen im Verlauf einer medizinischen Studie ein Schaden entsteht. Die Redaktion hatte Dan Wikler, sozusagen der Philosoph vom Dienst, gebeten, einigen ethischen Implikationen dieser Entscheidung nachzugehen. Er gab bei anderen Philosophen ei-
nige Aufsätze in Auftrag, die eine Vielfalt von Standpunkten repräsentierten. Ein Text, aus einer libertären Perspektive ge-
schrieben, argumentierte gegen die Idee des Kompensationsschemas mit der Begründung, daß Leute, die freiwillig an Forschungsvorhaben teilnehmen, sich mit den Risiken einverstanden erklärt haben und somit auf ihr Recht auf Entschädigung verzichten. Die Kommissionsmitglieder hat dieses Argument nicht überzeugt, und die anderen Philosophen haben ihm auch widersprochen. Trotzdem verunsicherte die Tatsache des philosophischen Dissenses die Kommissionsmitglieder. Das führte zwar nicht dazu, daß sie ihre
moralischen Überzeugungen änderten, aber dazu, daß sie auf moralische Überlegungen überhaupt weniger Wert legten. Die
Kommissionsmitglieder begannen sich mehr auf ökonomische und politische Überlegungen zu konzentrieren, von denen viele
gegen den Entschädigungsplan sprachen. Am Ende hat die Kom-
mission den Plan weder gebilligt noch verworfen, sondern die Durchführung weiterer Untersuchungen empfohlen. Laut Auskunft eines Kommissionsmitglieds hinterließ die Tatsache philosophischer Meinungsverschiedenheiten bei der Kommission den Eindruck, »daß ethische Argumente konfliktiv und nicht schlüssig sind... Aufgrund dieses Eindrucks fühlten sich die Kommissionsmitglieder anscheinend von jeder moralischen Verpflichtung zu-
gunsten des Plans ›befreits und gingen daher zur Betrachtung anderer Faktoren über«31 Angesichts dessen, daß das moralische
Engagement ohnehin dauernd durch die Kräfte des Eigeninter31 »left with the impressions that ethical arguments were conflicting and inconclusive ... Given these impressions, Commission members apparently felt themselves › liberated from any moral obligation to support
compensation and therefore free to consider other factors«, Alan
Weisbard, »The Role of Philosophers in the Public Policy Process: A View from the President's Commission«, in: Ethics 97 (4) 1987, S.776785, hier S. 781.
224
esses, des Vorurteils und der Trägheit bedroht ist, sollte allem, was die Menschen entmutigt, der Moral ihren angemessenen Stellenwert zu geben, widerstanden werden, einschließlich der Moral-
philosophie. Aus diesen Gründen würde ich Kommissionsmitglieder nicht er-
muntern, eine sozusagen höhere philosophische Bildung bezüglich
kontroverser Moraltheorien zu erwerben. Vielmehr würde ich sie in ihrem Vertrauen auf geteilte Grundwerte bestärken, aber sicher-
stellen, daß diese Werte auf ernsthaftere und einfühlsamere Weise
angewandt werden - z.B. indem dafür gesorgt wird, daß jede eventuelle Empfehlung im Licht einer möglichst vollständigen
Liste aller von ihr Betroffenen und aller für sie relevanten Prinzipien gegengeprüft wird. Das würde sicherstellen, daß die Verletzbaren nicht übergangen werden und daß den Interessen von sozial Schwachen und Randgruppen nicht weniger Aufmerksamkeit ge-
zollt wird als denen der gesellschaftlich Tonangebenden und Mächtigen. Auf diese Art können wir Politiker dazu bringen,
das Moralische ernstzunehmen, ohne sie dahin zu bringen, Moralphilosophie ernstzunehmen.32
(Übersetzt von Iris Junker)
32 Genauer: Ohne sie dahin zu bringen, jene Art von Moralphilosophie ernstzunehmen, die heute in anglo-amerikanischen philosophischen
Fachbereichen dominiert. Soweit die Artikulation und Anwendung von Leitprinzipien als eine zum Teil auch philosophische Aufgabe
angesehen werden kann, soweit sollten Politiker natürlich die entsprechende »Philosophie der Moral« ernst nehmen.
225
III. Politische Eingriffe angewandter Ethik
Thomas H. Murray Das Humangenomprojekt, das ELSI-Programm und die Demokratie
»This is the only federal science program I've ever seen that feeds the dogs that bite it.«
Das amerikanische Humangenomprojekt wird von einem Forschungsprogramm begleitet, das ethischen, rechtlichen und sozialen Fragen gewidmet ist (ethical, legal, and social issues, ELSI). Im
Sprichwort vom Hund, der die Hand, die ihn füttert, nicht beißt,
drückt sich der häufig gegen ELSI geäußerte Verdacht einer unkritischen Affirmation des Projekts aus. Das Motto, das ich mei-
nem Artikel vorangestellt habe, stammt von einem Wissenschaftler, der Projektanträge zu begutachten hatte, die im Rahmen von
ELSI beim nationalen Zentrum für Humangenomforschung (jetzt:
National Human Genome Research Institute) des National In-
stitute of Health (NIH) eingereicht worden waren. Erstaunlicherweise haben also die »Hunde« - die im Rahmen von ELSI geförderten Rechtswissenschaftler, Moralphilosophen, Soziologen usw. - nicht nur ordentlich zugebissen, sondern die milliardenschwere Wissenschaftsbehörde, die angefangen hat, sie zu fördern, tut dies
auch weiterhin. Die Entstehung des ELSI-Programms ist schon oft beschrieben worden, so daß ich diese Geschichte nur kurz zusammenfasse. Vielmehr werde ich der Frage nachgehen, welches Licht
die Erfahrungen mit dem ELSI-Programm auf das Verhältnis von Wissenschaft, praktischer Ethik und der politischen Öffentlichkeit
werten. Kann Ethik überhaupt große Wissenschaftsprogramme mitgestalten? Ich glaube, man darf sagen, daß die angewandte Ethik sogar
Groisforschung, »big science«, deutlich mitbestimmt. Aber man
muß fragen, ob die Auswirkungen dieser Mitbestimmung gut bzw. so gut wie sie sein könnten - sind? Die zweite Frage, der ich nachgehen will, betrifft die Zukunft: Ist
es wünschenswert, großen Wissenschaftsprojekten ihre eigenen
ELSI-Komponenten bzw. -Programme zuzuweisen? Man hat dem NIH schon vorgeschlagen, ELSI-Programme auch für seine
229
anderen Institute und Projektschwerpunkte einzurichten. Was ist von dieser Idee für das NIH oder auch für andere staatliche Einrichtungen zur Forschungsförderung zu halten? Was läßt sich aus den bisherigen Erfahrungen mit ELSI für die Verbesserung zukünftiger Versionen lernen? Vor allem, wie sollten ELSI-Programme mit den Implikationen von Wissenschaft für die Staatstätigkeit (»public policy«) umgehen? Zur Beantwortung dieser Frage werde ich von den Erfahrungen einer besonderen, auf das Versicherungswesen spezialisierten ELSI-Arbeitsgruppe (»ELSI Insurance Task Force«) berichten. Die dritte Frage berührt einen Nerv angewandter Ethik als Politikum: Welche Rolle können und sollen Programme, die, wie das
ELSI-Programm, vorwiegend praktisch-ethisch geprägt sind, für
die Förderung des demokratischen Dialogs über die Implikationen der Wissenschaft spielen? Können und sollen Stimmen der Öffent-
lichkeit in ELSI-Programmen zu Wort kommen? Welche Rolle sollten ELSI-Programme und auf dieser Grundlage arbeitende Forscher in einer Demokratie überhaupt spielen? Stärken oder schwächen solche Programme die Demokratie?
Ethische, rechtliche und soziale Fragen im Rahmen des amerikanischen Genomprojekts Am 1. 10. 1988 verkündete James Watson, der Nobelpreisträger und erste Direktor des Nationalen Zentrums für Genomforschung am NIH, auf die Frage eines Journalisten nach ethischen Problemen im Zusammenhang mit dem Humangenomprojekt, daß drei
bis fünf Prozent des Budgets für die Begleitforschung solcher Probleme ausgegeben würden. Für das amerikanische Genompro-
jekt war ein Zeitraum von is Jahren veranschlagt worden, der genau zwei Jahre später, im Oktober 1990, offiziell beginnen sollte (obwohl die Ausschreibung des ELSI-Förderprogramms schon im
Januar 1990 erfolgt war). Ein Schwerpunktprogramm zu ethischen, rechtlichen und sozialen Fragen - das ELSI-Programm gehörte also von Anfang an ganz offiziell zum amerikanischen
Genomprojekt dazu. Entworfen wurde das ELSI-Programm von
einer ad hoc-Beratungsgruppe, der ELSI Working Group. Doch
bald schon bestimmten der Direktor und die Mitarbeiter des
Genom-Zentrums mehr und mehr das Programm. Diese Macht-
230
verschiebung, zusammen mit einer unaufgelöst ambivalenten Wahrnehmung der Rolle der Beratungsgruppe, besonders im Hinblick auf sozialpolitische Aspekte, erzeugte Konflikte zwischen dem Genom-Zentrum und der Gruppe. Bald wuchsen die Spannungen, der Vorsitzende der Beratungsgruppe trat zurück, und ein spezielles Komitee (mit einem sehr langen Namen) wurde eingesetzt, das die Arbeit der Beratungsgruppe (nicht, wie einige fälschlich annahmen, das gesamte ELSI-Programm) untersuchen sollte. Die Hauptaufgabe dieses Komitees wurde definiert als »Identifizierung jener Funktionen, die in Zukunft besondere Aufmerksamkeit verdienen, und die Entwicklung von Vorschlägen für geeignete leistungsfähige Strukturen, um diese effektiv zu erfüllen«!
Das Untersuchungskomitee stellte fest, wie problematisch die Unklarheit der Aufgabenstellung der Beratergruppe war, stellte aber auch die verdienstvollen Leistungen des Programms heraus und riet, sämtliche Funktionen der Beratungsgruppe zukünftig auf drei separate Körperschaften zu verteilen. Die eine, ein Evaluierungs-Komitee für die ELSI-Forschung, würde »sich auf die Bewertung der Qualität, die Einschätzung der Relevanz, auf die Planung und Koordination der Reichweite von ELSI Förderungs-
ausschreibungen konzentrieren«? Zweitens wurde dem Direktor des NIH empfohlen, »über die Einrichtung eines kontinuierlichen Koordinationsprozesses zum Informationsaustausch zwischen allen NIH-Instituten über ethische, rechtliche und soziale Implika-
tionen genetischer Forschung nachzudenken«. Im Bericht war zuvor festgestellt worden, daß die erwartbaren klinischen Anwen-
dungen genetischer Forschung viele Zweige innerhalb des Nationalen Gesundheitsinstituts betreffen würden, nicht bloß das Ge-
nom-Zentrum, so daß eine Mobilisierung des gesamten NIH nötig sein würde. Die dritte Empfehlung ging an ein Mitglied im Berater-
stab des Präsidenten, den Sekretär der Health and Human Servi-
ces. Empfohlen wurde die Einrichtung eines Beratungskomitees für Genetik und öffentliche Staatstätigkeit. Der Bericht des Untersuchungskomitees erschien zwei Monate nach der Eröttnungssitzung einer neuen Präsidialbehörde, der National Bioethics AdI Joint NIH/DOE Committee to Evaluate the Ethical, Legal, and Social Implications Program of the Human Genome Project, 1996.
2 Ebd.
3 Advisory Committee on Genetics and Public Policy. 231
visory Commission, zu deren Aufgaben unter anderem auch diverse auf Genetik bezogene Fragestellungen zählen. Im Bericht
wurde nicht angesprochen, welches Verhältnis das empfohlene Beratungskomitee und die neu eingerichtete Präsidialbehörde zu-
einander einnehmen sollten.
Mir kommt es manchmal so vor, daß die Rolle des Bioethikers im Verhältnis zur Wissenschaft grob gesagt so ist wie die desjenigen, der dem Elephanten in der Zirkusparade mit einer großen Schaufel folgen muß, um immer dann, wenn der Elephant etwas fallen läßt, schnell den Dreck wegzumachen. Mit dem ELSI-Programm wird nun die Person mit der Kehrschaufel - der Bioethiker - immerhin
eingeladen, neben dem Elephanten herzugehen. Nun ist ein Ele-
phant allerdings ein sehr großes Tier; ihn in eine Richtung zu bringen, in die er nicht gehen will, ist ziemlich schwierig. Aber immerhin haben wir jetzt die Chance, ihn von den Wegen, auf denen er großen Schaden anrichten könnte, in eine Richtung weg-
zustupsen, wo er sichtlich mehr Gutes bewirken als Schaden anrichten kann.
Eine Bemerkung über praktische Ethik in den Vereinigten Staaten ›Praktische Ethik‹, wie sie in Amerika aufgefaßt und praktiziert wird, weist zwei Züge auf, die außerhalb der Vereinigten Staaten vielleicht nicht sehr bekannt sind. Erstens ist Praktische Ethik kein exklusives Betätigungsteld von Philosophen und Theologen, sondern ein robust interdisziplinäres Feld,, in dem Vertreter aus Ge-
sundheitsberufen (Arzte, Pfleger, Sozialhelfer und anderes Kran-
kenhauspersonal, Manager und Juristen von Gesundheitseinrich-
tungen etc.), Sozial-, Rechts- und andere Wissenschattler mit
Theologen, Philosophen und anderen Geistes- und Kulturwissen-
schaftlern zusammenkommen, um bioethische Problemstellungen zu bearbeiten. Zweitens leitet sich für Amerikaner die praktische
Ethik weder aus den Schriften Kants her, noch fordert sie, daß man einen besonderen inhaltlichen, normativen Rahmen akzeptiert, wie ihn etwa Peter Singer ausgearbeitet hat. Praktische Ethik
bedeutet im amerikanischen Verständnis vielmehr konkrete Aufmerksamkeit auf bestimmte substantielle Moralprobleme, Prakti-
ken und Politiken. Sie ist insofern von Versuchen moralischer 232
Theoriebildung ebenso zu unterscheiden wie von solchen Konzeptionen »angewandter« Ethik, die eine bestimmte Sichtweise des Verhältnisses von Moraltheorie und praktisch-moralischem Den-
ken vorschreiben. Praktische Ethik ist, so verstanden, weder
gleichgültig gegen Moraltheorie, noch ihr feindlich gesinnt. Im Gegenteil sind viele, die praktische Ethik betreiben, sehr daran interessiert, wie sich ihre Untersuchungen über praktisch sich stellende moralische Fragen in ein systematisches Verhältnis zu den Arbeiten von eher theoretisch eingestellten Moralphilosophen setzen lassen. Aber für mich und viele andere, die im Bereich praktischer Ethik arbeiten, bleibt die genaue Bestimmung der Natur dieses Verhältnisses unausgemacht, ein offenes Thema wissenschaftlicher Forschung und Reflexion. Mit diesen Klärungen zum Selbstverständnis praktischer Ethik im amerikanischen Kontext können wir uns nun der Frage zuwenden, ob Ethik in nennenswertem Maß big science mitzugestalten vermag.
Sind wissenschaftliche Großprojekte durch Ethik gestaltbar? Eine Antwort auf diese Frage beginnt am besten mit Beispielen für
die Einflußnahme von Ethik auf die wissenschaftliche Arbeit. Weitergehend müssen wir dann natürlich auch fragen, ob wir solche Gestaltungswirkungen gutheißen dürfen, und wenn ja, ob sie so gut sind, wie sie sein könnten. Im ELSI-Programm haben wir schon zu einem frühen Zeitpunkt erkannt, daß die Erforschung von Genen, die mit erhöhter Anfäl-
ligkeit für bestimmte Krankheiten in Zusammenhang gebracht werden, ein Risiko bilden kann, über das sich weder die Forscher
noch die Probanden im klaren gewesen sein konnten: Das Risiko,
daß bestimmte Versicherungen, z. B. Gesundheits-, Lebens- und
Arbeitsunfähigkeitsversicherungen durch die Information über die Teilnahme der betreffenden Person an der Untersuchung teuer
oder sogar unzugänglich werden könnten. Versicherer könnten z. B. die Information über die Teilnahme von Personen als Pro-
banden in einem Forschungsprojekt über die Genetik von Brust-
oder Darmkrebs oder den Befund einer möglicherweise genetisch bedingten Anfälligkeit dafür als Grund nehmen, die Betreffenden
als Träger eines hohen - oder unannehmbar hohen - Risikos zu 233
klassifizieren. Das Bewußtsein über die Möglichkeit solcher Verwendung von Information scheint sich unter Forschern wie unter potentiellen Probanden sehr schnell ausgebreitet zu haben. Das hat zu einer drastisch erhöhten Aufmerksamkeit auf Fragen der informationellen Selbstbestimmung (»privacy of information«) in der genetischen Forschung geführt, sowie dazu, daß Informationen über mögliche Versicherungsrisiken nun als ein integraler Teil der Prozedur der informierten Patienteneinwilligung betrachtet werden.* Sogenannte »Familien-« oder »Stammbaumuntersuchungen« sind ein weiteres Beispiel für den Einfluß von ELSI. Wenngleich die ELSI-Arbeitsgruppe derartigen Untersuchungen keine thematische Priorität eingeräumt hat, ist der Diskussion ihrer moralischen Komplexität doch schon früh eine von ELSI angeregte Konferenz von Sachverständigen und Laien gewidmet worden. Die Diskussion ging darum, wie Familienmitglieder für solche Untersuchungen herangezogen werden, wie Risiken dargelegt, wie Vertraulichkeit gewährleistet und Forschungsergebnisse veröffentlicht wer-
den sollten. In einem hervorragenden Artikel schreibt Eric
Juengst, der erste Chef des ELSI-Programms am NIH, wie dieses
Tretten zur Gründung eines weiteren ELSI-Projekts führte, in dessen Verlauf sich zeigte, dal »Forschungsgruppen... Antworten auf jene Fragen hatten, die sozusagen auf ihrem eigenen Mist gewachsen und von deren Wert sie überzeugt waren. Aber anscheinend hatte niemand genau denselben Ansatz wie ein anderer, und einige dieser Differenzen hinterließen bei den Wissenschaftlern ein Gefühl tiefer Meinungsverschiedenheiten« (Juengst 1996,
S. 91). Daß diese Difterenzen ans Licht kamen, führte zu einer ganzen Reihe von Anderungen. Die Bundesbehörde, die für die Interpretation der Regeln für die Forschung am Menschen verantwortlich ist, richtete eine Arbeitsgruppe ein, die neue, zukünt-
tig anzubietende Richtlinien diskutieren und ein neues Kapitel in
ihrem Forschungsführer schreiben sollte (Ottice of Protection
from Research Risk, 1993). Die einflußreiche Koalition von Selbst-
hilfegruppen für Alzheimer-Patienten veröffentlichte eine Broschüre mit Vorschlägen, welche Fragen Familien den Wissen4 Murray (1993), American Society of Clinical Oncology (1996). Zur informierten Patienteneinwilligung generell siehe den Beitrag von Vollmann im vorliegenden Band.
234
schattlern stellen sollten, die sie zur Teilnahme an genetischen Forschungsvorhaben bewegen wollen (Alliance of Genetic Support Groups, 1993). Und eine Gruppe von Herausgebern biomedizinischer Fachzeitschriften, beunruhigt von der gängig gewordenen Praxis der »Maskierung« von Familienstammbäumen durch Veröffentlichung in bewußt fehlerhafter oder unvollständiger Form, verurteilte diese Praxis (International Committee of Medical Journal Editors, 1994). Bei einer anderen Gelegenheit erfuhr die ELSI-Arbeitsgruppe beiläutig, dals eine molekularbiologische Schlüsseltechnologie, die Polymerase-Kettenreaktion (PCR),5 ohne Erlaubnis des Patentbesitzers am NIH massenhaft angewandt wurde. Aus der Sicht der Forscher am NIH verlangte das betreffende Unternehmen unmä-
ßig hohe Lizenzgebühren. Außerdem konnten die benötigten
Reagenzien einfach beschafft bzw. hergestellt werden. Die ELSIArbeitsgruppe fand die Lizenzgebühren zwar ebenfalls unmäßig
hoch, fand es aber auch nicht in Ordnung, daß die im Land
führende Organisation für medizinische Forschung wiederholt und flagrant Gesetze verletzte. Das NIH wurde gebeten, mit dem Patentbesitzer zusammen eine vernünftige Vereinbarung zu treffen, und dies wurde erreicht. Zu den vielleicht wichtigsten Dingen, die das ELSI-Programm erreicht hat, zählt etwas, das auch für diejenigen von besonderem Interesse sein kann, die sich mit dem Verhältnis Wissenschaft und Öffentlichkeit beschäftigen. Dabei geht es um die eventuelle Ein-
tührung eines neuen genetischen Tests zur Identifizierung von Trägern einer der verbreitetsten rezessiven Erbkrankheiten, der zystischen Fibrose (ZF). Die Entdeckung des ZF-Gens wurde 1988
bekannt gegeben. Bald erfolgte die Entwicklung von Tests für Mutationen des ZF-Gens. Der ZF-Trägertest, so schien es, würde die erste »Frucht« des Humangenomprojekts für massenhafte Nutzung werden, ohne systematische Untersuchungen darüber, wer und aus welchen Gründen solche Tests will und welchen Nutzen, welche Lasten sie für die Getesteten haben. Als die Arbeitsgruppe nachforschte, warum weder das NIH noch andere Organisationen solche Untersuchungen förderten, hieß es, dals keines der NIH-Institute ein zwingendes Interesse an solchen 5 Eine Methode zur Identifizierung und Vervielfältigung von DNA-Abschnitten. (Anmerkung der Übersetzerin)
235
Untersuchungen hätte und daß andere Fördereinrichtungen, auch
direkt für ZF zuständige, sich mehr dafür interessierten, wie die Krankheit geheilt, als dafür, wie die Geburt von Menschen mit
dieser Krankheit verhindert werden könne. Durch unermüdliches Drängen wurde schließlich erreicht, daß mehrere Abteilungen am NIH ein gemeinsames Budget bewilligten, aus dem Untersuchungen über die Einführung von ZF-Trägertests finanziert werden konnten. Das Förderprogramm nannte als eines der Hauptziele »die Suche nach geeigneten klinischen Praktiken zur Verbesserung des Verständnisses, das Patienten vom
Testen auf Krankheitsgene und von den Testresultaten haben, und zum Schutz von Einzelnen und Familien vor testbezogenen psychologischen Schäden, vor Stigmatisierung und Diskriminierung«. Juengst notiert, daß der Einfluß, den ELSI hinsichtlich der ZF-Tests hatte, im weiteren bewirkt habe, daß das neuartige Kon-
zept einer Beurteilung gesellschaftlicher Auswirkungen (»social
impact assessment«) breiten Eingang in die biomedizinische Forschung gefunden hat. Sein Argument lautet: » Wenn beurteilt werden soll, wie erfolgreich genetische Tests und Beratung sind, dann muß dies aus der Sicht derer, die sich ihnen unterziehen, beurteilt
werden, und zwar mit Blick darauf, ob sie mit den Resultaten
etwas anfangen können, das ihr Leben bereichert« (Juengst 1996, S. 79). Ich werde weiter unten noch einen der ehrgeizigeren Versuche von ELSI diskutieren, politische Wirksamkeit zu erlangen: die Spezia-
lisierte Arbeitsgruppe für Genetische Information und Versicherungswesen (Task Force on Genetic Information and Insurance). Hat das ELSI-Programm eine gute gestaltende Wirkung auf die genetische Forschung gehabt? Gewiß gibt es einige Erfolge. Der
Schutz der Interessen von Versuchspersonen in der genetischen Forschung ist verbessert worden. Einige moralisch oder juristisch
fragwürdige, unter den Wissenschaftlern übliche Praktiken sind
ins Blickfeld geraten. Das Anforderungsprofil und das Verständnis
einer Reihe von staatlich zu regulierenden Aufgaben (wie: die Patentierung von Genomsequenzen, die genetische Erklärung von Verhaltens- und Gruppenunterschieden, die Implikationen von Gen-Tests für das Versicherungswesen) sind angehoben wor-
den.
Es ist eine Sache, die Wissenschaftspraxis zu beeinflussen, gewissermaßen den Elephanten zu lenken. Es ist eine ähnliche und doch 236
ganz andere Sache, die regulatorische Staatstätigkeit, die auf die ethischen, rechtlichen und sozialen Herausforderungen reagieren soll, die die Früchte jener Praxis sind, zu beeinflussen. Einfluß auf die Wissenschaftspraxis zu nehmen gehört zur legitimen Rolle des demokratischen Diskurses, z. B. wenn es um Entscheidungen über
die Art von Schutz geht, den Versuchspersonen bei Forschungs-
vorhaben am Menschen genießen sollen. Mindestens so bedeutend ist die Rolle des demokratischen Diskurses, wenn es darum geht,
wie Gesellschaften ihren Umgang mit den Ergebnissen wissenschaftlicher Forschung gestalten wollen. Eine mir wichtige Frage ist, ob ein ELSI-Programm, das die Wissenschaftspraxis, wie beschrieben, zweitellos wirksam mitgestaltet hat, auch ein geeignetes
Medium sein kann, bei der Formulierung von Politiken mitzuwirken, die sich mit den Früchten jener Praxis beschäftigen. Entscheidend ist des weiteren die Frage nach dem optimalen Verhältnis zwischen ELSI-Programm und demokratischem Diskurs. Einige der bissigsten Angriffe auf ELSI betreffen die Rolle dieses Programms im Prozeß der öffentlichen Politiktormulierung, wobei anscheinend eine positive Antwort auf die erste Frage vorausgesetzt wird (»Ja, ELSI sollte politischen Einfluß haben«) und eine
expertenfreundliche Antwort auf die zweite Frage (ungefähr so:
»Wen interessiert das schon - wenn nur die richtigen Experten Gehör finden«).
Auf die meisten Kritikpunkte zum möglichen Nutzen des ELSIProgramms für die Bildung demokratischer Diskurse gehe ich weiter unten noch ein. Einen Punkt aber will ich sofort behandeln. Das ELSI-Programm ist wiederholt unter Beschuß geraten wegen seiner angeblichen politischen Ineffektivität. So beschwerte sich
ein so berühmter Wissenschaftler wie Maynard Olson: »Warum
gibt es nach drei Jahren ELSI noch keinen sichtbaren Fortschritt in Richtung auf ein Bundesgesetz zum Schutz der genetischen Privatsphäre?« (Roberts 1993). Und eine sehr bekannte politische Kommentatorin trat in einem vom U.S. Institute of Medicine heraus-
gebrachten Band mit einer weit ausholenden Kritik am ELSI-
Programm hervor. Sie schrieb: »Sollten mit ELSI Politikempfehlungen im Stile der President's Commission, der Organisation für Technikfolgenabschätzung (OTA) oder der IOM angestrebt werden, so ist ELSI jedenfalls schlecht gerüstet, dies rechtzeitig zu tun.
Es fehlt an Diversität, an Mitarbeitern und an einem klar geschnit-
tenen Vermittlungsmechanismus für Empfehlungen« (Hanna
237
1995, S.447). Sie schließt: »Das ELSI-Programm in seiner derzei-
tigen Konfiguration läuft Gefahr, ein übermäßig akademischer, stark in sich selbst kreisender Mechanismus zu werden, der Probleme sozialer Auswirkungen breit ansprechen soll. (...) Es mul ein geeigneter Weg gefunden werden, die Ergebnisse der innerhalb von ELSI angestellten Überlegungen zu analysieren, zu synthetisieren und zu verbreiten. Andernfalls wird es in die Geschichte eingehen als eine weitere verpaßte Gelegenheit, die komplexen sozialen Fragen, die das Humangenomprojekt aufwirft, beherzt in Angriff zu nehmen« (ebd., S. 454). Was Olson dem ELSI-Programm ankreidet, setzt womöglich ein Politikmodell voraus, das weder realistisch noch wünschenswert ist. Unrealistisch ist die Vorstellung, sobald ein Problem identifiziert sei, könne und solle man einfach sofort ein Gesetz machen,
um das Problem zu regulieren. Wer die Gesetzgebung zur infor-
mationellen Selbstbestimmung von Patienten in den Staaten verfolgt hat, weiß auch, wie außerordentlich schwierig es war, den Kongreß für diese Belange zu interessieren. Die Sorge um die Selbstbestimmung von Patienten bezüglich genetischer Information macht es vielleicht etwas wahrscheinlicher, daß der Kongreiß sich ernstlich mit Gesetzen zum Schutz persönlicher Gesundheitsinformationen beschäftigt. Aber es braucht wohl mehr Zeit als drei Jahre und mehr als nur ein (in politischen Dimensionen gesehen:) winziges ELSI-Programm, um einen Wandel zu bewirken. Wenig wünschenswert an Olsons Ansicht ist, daß sie anscheinend ein
Politikmodell annimmt, in dem Experten Probleme identifizieren und Lösungen diktieren: die genetische Privatsphäre ist bedroht, stellen die ELSI-Experten fest, also muß ein nationales Gesetz zum Schutz der genetischen Information gemacht werden. Wer sich jedoch dem demokratischen Diskurs verpflichtet sieht, mag den Diskurs der Experten zwar willkommen heißen, aber nur als Teil einer viel umfassenderen öffentlichen Diskussion über die Bedeutsamkeit der Privatsphäre, die Natur genetischer Information und
die Ratsamkeit einer neuen Bundesgesetzgebung zum Schutz der Privatsphäre. Verpflichtung auf den demokratischen Diskurs bedeutet, daß man sich Expertenmeinungen nicht einfach anschließt, egal wie ehrenwert ihr wissenschaftlicher Ruf oder ihre persönlichen Motive auch sind. Kritiker des ELSI-Programms wie Olson möchten dessen Ettektivität daran messen, wie schnell und wie durchschlagend das Pro238
gramm die Staatstätigkeit beeinflußt - damit meinen sie typischerweise die Anregung oder Steuerung von Gesetzesentwürfen oder von Verordnungen und Richtlinien der Regierung. Organisationen und Individuen, die mit Geschick auf die Regierung Einfluß nehmen, gibt es viele. In Washington sind viele von diesen »inside the
beltway« ansässig, d. h. innerhalb des von der Stadtautobahn eingezirkelten Distrikts, in dem die Bundesregierung ihren Sitz hat. In
Hinsicht auf das ELSI-Programm lautet die Frage, ob es seinen direkten Einfluß auf die Politik der Bundesregierung überhaupt zu einem prinzipiellen oder auch nur zu einem maßgeblichen Stan-
dard seines Erfolgs machen sollte. Ein alternativer Vorschlag wurde provokativ das Modell der »Nichtkommission« genannt. In diesem Modell wäre das Hauptziel von ELSI keineswegs, als Expertenkommission Probleme zu identifizieren, Lösungen zu erwägen und spezifische Politikempfehlungen oder Gesetzesentwürfe zu machen. Vielmehr wäre Hauptziel des ELSI-Programms, Forschungen anzuregen und bei der Selbstorganisation einer Gemeinschaft von Wissenschaftlern zu helfen, deren Arbeit Kontexte und Konsequenzen der Humangenomforschung zu erhellen vermag. So etwa hat Juengst (1996) vorgeschlagen, das ELSI-Programm sollte gezielt Aufsätze in Auftrag geben und Konferenzen zu bestimmten Politiktormulierungen, deskriptive und normative
Untersuchungen sowie Bildungsaktivitäten (wie: Lehrerfortbil-
dungen und Stipendien) fördern, um einen Kader von Gelehrten
mit kritischem Verständnis für die Welt der Wissenschaft und die Welt der Politik heranzuziehen. Hat das ELSI-Programm die Wissenschaft auf die bestmögliche Weise mitgestaltet? Wohl kaum. Unklarheiten über den Auftrag von ELSI zusammen mit Führungs-, Budget- und Organisationsproblemen haben gewils ihren Preis gefordert. Mindestens einige Wissenschafter und Berater für Wissenschaftspolitik haben ELSI
mit den folgenden beiden Gründen kritisiert: (I) Das für Ethik autgewandte Geld hätte der Wissenschaft selber zugute kommen können. (2) Gelegentlich hat ELSI dem Gang der Forschung Hindernisse in den Weg gelegt. Das zweite Bedenken könnte man freilich gerade so gut für einen Beleg halten, daß das ELSI-Programm seine Zielsetzungen erfüllt. Mag sein, daß z. B. die Hereinnahme von Information über potentielle genetische Diskriminierung ins Verfahren der informier-
ten Einwilligung zusätzliche Zeit kostet und es vielleicht auch
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schwieriger macht, genug Probanden für eine Untersuchung zusammenzubekommen. Mag sein, dals das für die Forscher unbequem ist. Aber dies bietet Versuchsteilnehmern besseren Schutz und Respekt. Leicht lassen sich weitere Beispiele finden. Im großen und ganzen zeigen die einschlägigen Beispiele etwas ganz anderes als jene direkte und detaillierte Politikberatung durch Experten, wie sie sich viele Politikanalysten vorstellen. Sie zeigen
vielmehr, wie etwas als Problem eingekreist wird, wie darüber in
vielen relevanten Offentlichkeiten (Wissenschaftler, Patienten,
Probanden, die allgemeine Öffentlichkeit, manchmal auch: Poli-
tiker) kommuniziert und wie versucht wird, das Problemverständnis zu kontextuieren. Die Suche nach einer Lösung ist durch die relevanten Öffentlichkeiten vermittelt. Das, so scheint mir, ist eine
legitime Form demokratischen Dialogs. - Mit diesem Selbstverständnis eines ELSI-Programms vor Augen müssen wir nun fragen,
ob es mehr derartige Programme geben sollte.
ELSI für andere Spitzenforschungsprogramme? Schon bald nachdem das ELSI-Programm für das Humangenom-
projekt aus der Taufe gehoben worden ist, ist auch bei anderen Instituten am NIH reges Interesse erwacht, vermutlich mit Blick auf die Möglichkeit, eigene vergleichbare Programme einzurichten. Diese Möglichkeit hat sich aber bis heute nicht materialisiert, obwohl andere Institute Projekte im Rahmen von ELSI, gewöhn-
lich in Zusammenarbeit mit dem Genom-Zentrum, unterstützt
haben. Sollten andere wissenschaftliche Körperschaften ELSI-Programme haben? Mögliche Nachteile fallen einem leicht ein, man denke nur an die Opportunitätskosten für die Wissenschaft und an
die Ausdünnung unter den talentierten Ethikern, wenn der Bestand an Fachleuten mit der erforderlichen Bildung auf viele verschiedene Zweige der Wissenschaft verteilt werden muß. Aber hätten derartige ELSI-Programme auch Vorzüge? Fragen zu stellen fällt hier leichter, als klare Antworten zu geben. Hätte ein ELSI-Programm am Nationalen Krebsforschungszentrum mehr Aufmerksamkeit für die Disparität in der Forschung
bezüglich der Versorgung von Männern einerseits und Frauen andererseits aufgebracht? Hätte ein ELSI-Programm am Nationa-
len Institut für Herz-, Lungen- und Blutforschung die enorme 240
Disparität in der Auftrittshäufigkeit und Behandlung von Bluthochdruck bei Amerikanern afrikanischer Abstammung und bei Amerikanern europäischer Abstammung als Problem erkannt? Hier fällt die Antwort schwer. Aber die Geschichte des einzigen ELSI-Programms, das es bisher gab, läßt vermuten, daß derartige Programme Probleme entdecken können, die wichtig, aber für jemanden, der mit der Wissenschaft nicht vertraut ist, nicht sicht-
bar sind und die die betreffenden Wissenschaftler nicht als mora-
lisch zu thematisierende Fragestellungen verstehen.
Wir können nicht wissen, ob ein ELSI-Programm im Rahmen des
Manhattan-Projekts Auswirkungen auf die Entwicklung von Atomwaffen oder auf die Entscheidung, zwei Atombomben über Hiroshima und Nagasaki abzuwerfen, gehabt hätte. Persön-
lich neige ich zu der Ansicht, daß es keinen erkennbaren Unterschied gemacht hätte. Aber die Gründe hierfür sind informativ. Das Manhattan-Projekt wurde unter extremer Geheimhaltung durchgeführt; ELSI-Programme aber bedürfen nicht nur der freien Zugänglichkeit aller Informationen, sondern auch eines lebendigen und offenen Diskurses, und zwar nicht nur unter ein paar Moralgelehrten und Wissenschaftlern, sondern in Form einer brei-
ten Debatte nicht nur in und zwischen Forschergemeinschaften, sondern auch in der allgemeinen Öffentlichkeit und mit Politikern.
Zudem: ELSI-Programme sind dort ungeeignet, wo politische Entscheidungen schnell getroffen werden müssen. Am besten
pait zu ELSI-Programmen ein Diskurs der Reflexion und Kontextuierung - eine Form des Diskurses, die mit dem demokratischen Dialog sehr gut vereinbar ist, sofern der Versuchung, sich in gelehrten Solipsismus und Fachchinesisch zurückzuziehen, wider-
standen werden kann. Viele Zweige des akademischen Lebens, in den Geistes- nicht anders als in den Naturwissenschaften, scheinen es ja geradezu darauf anzulegen, nur noch für avancierte Eingeweihte verständlich zu sein. Einer der Vorzüge der Arbeit im Rahmen von ELSI ist ihre Interdisziplinarität. Sie zwingt die Wissenschaftler dazu, die Resultate ihrer Forschungen in einer Sprache mitzuteilen, die sie auch Leuten außerhalb der betreffenden hochspezialisierten Richtung verständlich macht. Wenn Soziologen mit Molekularbiologen oder Philosophen mit Historikern beiderseits verständlich diskutieren wollen, wächst die Chance einer auch für intelligente Laien nachvollziehbaren Kommunikation. Was wir an (angeblich) durch
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die Vorverständigung in Fachsprachen erzielter Effizienz aufgeben, das gewinnen wir an Zugänglichkeit für ein viel breiteres potentielles Publikum von Lesern - genau die Art von Publikum, die zum allgemeinen demokratischen Dialog sehr viel beiträgt. Ein Fallbeispiel -
Versicherungen und genetische Diskriminierung Die ELSI-Arbeitsgruppe hat anfangs viel Zeit darauf verwendet, die wichtigsten Fragestellungen, die das Genomprojekt wahrscheinlich aufwerfen würde, einzukreisen. Wir führten Gespräche mit Sachverständigen, aber auch mit einzelnen und Gruppen von Laien. Immer wieder tauchte dabei die Frage auf, wie Versiche-
rungen genetische Informationen verwenden würden. Die Arbeitsgruppe beschloß, eine spezialisierte Arbeitsgruppe einzurichten, die dieses Problem analysieren und Empfehlungen ausarbeiten sollte. Ich wurde Vorsitzender, ein weiteres Mitglied der Arbeits-
gruppe wurde zum stellvertretenden Vorsitzenden ernannt. Als weitere Mitglieder für die spezialisierte Arbeitsgruppe haben wir Personen mit substantiellem Interesse an unserer Fragestellung angeworben: Vereinigungen von Patienten mit bestimmten genetischen Krankheiten, Versicherungsanbieter sowie einige Experten u. a. für klinische Genetik, Ethik und Recht.
Die erste Herausforderung für die spezialisierte Arbeitsgruppe war, ihren eigenen Auftrag und Bezugsrahmen klarzustellen. Die Vorgaben seitens der Arbeitsgruppe waren bis auf den Zeitplan (Vorlage eines Berichts binnen zwei Jahren) nur vage. Weitschweifend wie unsere Diskussionen anfangs waren, wurde uns doch bald
klar, daß verschiedene Formen von Versicherungen (Lebens-, Kranken-, Invaliditätsversicherung) sich in ihren gesellschaftli-
chen Zwecken, ihren Kostenrechnungen und Aufnahmepraktiken
deutlich unterscheiden. Da die Frage der Auswirkungen der genetischen Information auf die Krankenversicherung die grölsten Sorgen machte und da die moralischen Gründe zugunsten eines allgemeinen Krankenversicherungsschutzes klarer und stärker zu sein schienen als für andere Arten der Versicherung, konzentrierte die spezialisierte Arbeitsgruppe ihre Aufmerksamkeit auf das Thema genetische Information und Krankenversicherung. Von Anfang an war klar, daß die spezialisierte Arbeitsgruppe eine
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nur sehr schwache Autorität hatte. Die ELSI Insurance Task Force
hatte keine Macht aus dem Inneren einer größeren Organisation.
Es war die ad hoc spezialisierte Arbeitsgruppe einer allgemeineren Arbeitsgruppe eines Beratungsorgans einer Abteilung innerhalb des NIH, deren Direktor einem Untersekretär des Department of Health and Human Services zu berichten hatte, der wiederum dem Sekretär dieser Stelle berichtete, der seinerseits dem Präsidenten Bericht erstatten konnte. Die spezialisierte Arbeitsgruppe erhielt keine Autorität über Politikformulierungen zur Genetik und zu Versicherungen. Trotzdem wurde die spezialisierte Arbeitsgruppe bald als die wichtigste Instanz des Nachdenkens über soziale, ethische und rechtliche Implikationen der genetischen Information für das Versicherungswesens wahrgenommen, und zwar m. E. aufgrund der Glaubwürdigkeit ihrer Mitglieder und der Bedeutsamkeit - und Ausgewogenheit - der durch diese Mitglieder repräsentierten Organisationen und Interessen. Die Autorität der
spezialisierten Arbeitsgruppe bestand in Expertenautorität plus der allgemeinen Wahrnehmung, daß eine vernünftige Auswahl von Stimmen getroffen worden war, die aus zwingenden Gründen im öffentlichen Diskurs über genetische Information und Versicherungswesen Gehör finden sollten oder aufgrund ihrer politischen und ökonomischen Macht auf Gehör bestehen können. Zwei wichtige Implikationen der beschriebenen Tatsachen für die Gestaltung der internen »Politik« und für den Stil des »Produkts« der spezialisierten Arbeitsgruppe - den Report on Genetic Information and Health Insurance - verdienen Hervorhebung. (1) Die Glaubwürdigkeit des Berichts, des Arbeitsergebnisses, hing sehr stark ab von der Aufrechterhaltung des Engagements aller zentralen Parteien während der Arbeit. An verschiedenen Punkten
hatten wichtige Teilnehmer mit ihrem Rückzug aus dem Prozeßs gedroht. (2) Da die spezialisierte Arbeitsgruppe unmittelbar keine
politische Autorität besaß, um via Gesetzgebung oder mittels anderer politischer Steuerungsinstrumente etwas bestimmtes
durchzusetzen - abgesehen davon, daß ihre Expertise und finanziellen Mittel dafür sowieso nicht hinreichend waren -, hätte es wenig Sinn gemacht, dem Bericht die Form von Gesetzesvorschlägen zu geben. Statt dessen entschieden wir uns für die Form eines recht knappen und bündigen Berichts, der eine Zusammenfassung der wesentlichen Tatsachenfragen, eine Diskussion der zentralen Moralprobleme und einen Satz von sieben Empfehlungen enthielt. 243
Der Bericht wurde bewußt so abgefaßt, daß er für ein breites Spektrum verschiedenartiger Öffentlichkeiten zugänglich sein sollte (Task Force on Genetic Information and Insurance, 1993).
Tatsächlich erreichte er in der Folge mehrerer Neuauflagen eine
sehr hohe Verbreitung; zudem druckten Konsumentengruppen und Fachzeitschriften den vielzitierten Bericht nach. An seinen Schlußfolgerungen und Empfehlungen ist abzulesen, daß er sich in
den Vereinigten Staaten für die Debatte über genetische Infor-
mation im Versicherungswesen als dauerhaft relevant erweist. In unserem Bericht sind wir schon 1993 zu dem Ergebnis gekom-
men, daß genetische Tests höchstwahrscheinlich immer er-
schwinglicher und erhältlicher werden. Daß wir mit dieser Prognose richtig lagen, ist heute kaum zu bezweifeln, obwohl damals einige Kritiker behaupteten, unsere Sorgen wären unrealistisch. Ein weiteres Ergebnis war, daß die moralische Logik des Angebots von Versicherungspolicen - das Prinzip der sogenannten versicherungsstatistischen Fairness - vorschreibt, genetische Information auf die gleiche Weise zu behandeln wie andere, für die Vorhersage notwendig werdender medizinischer Leistungen relevante Intormationen (Clifford und Iuculano, 1987). Auch das hat sich be-
wahrheitet. Schon zu einem frühen Zeitpunkt der Überlegungen
sahen wir, dals der Begriff der »genetischen Information« sehr weit oder sehr eng genommen werden konnte, und daß diese Differenz
eine große politische Bedeutung besitzt. Wir haben eine weite Lesart zugrunde gelegt, derzufolge auch Information über die
medizinisch relevante Familiengeschichte als genetische Information gelten darf. In der einschlägigen Gesetzgebung, die nur Dinge
wie z.B. die Ergebnisse direkter DNA-Tests abdecken soll, herrscht interessanterweise eine sehr enge Definition von genetischer Information vor, in deren Licht nicht einmal viele der übli-
chen genetischen Tests als »genetische Information« betrachtet
werden könnten, weil sie nicht an den Genen selbst, sondern an
Genprodukten ansetzen (Rothenberg, 1995). Unsere spezialisierte Arbeitsgruppe hat auch erwogen und dann verworfen, was ich später die »Zwei-Eimer-Theorie« der Krankheit genannt habe: die Vorstellung, daß Krankheit sozusagen aus
einem genetischen oder einem nichtgenetischen Eimer schöpft und alle Krankheitsrisiken auf diese beiden Eimer verteilt sind. Diese
Theorie funktioniert in einigen Fällen, z. B. mit Blick auf eine
Erbkrankheit wie Chorea Huntington oder auf das Risiko, von
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einem Laster überfahren zu werden. Aber für die meisten der gewöhnlichen ernsten Krankheiten und Risikofaktoren, etwa den Cholesterinspiegel im Blut, ist die Zwei-Eimer-Theorie un-
angemessen und mißverständlich. Bei den meisten Krankheiten
und Risikofaktoren sind genetische und nichtgenetische Faktoren kombiniert, und beide Faktoren spielen eine wichtige Rolle. Die ausschließliche Konzentration auf genetische Leiden und Risikofaktoren ist begnittlich schief, weil bei Krankheiten wie Krebs oder Herzleiden wahrscheinlich in der Mehrheit der Falle komplexe genetische und nichtgenetische Mischursachen ätiologisch entscheidend sind (Murray und Mendel, 1995). Verschlimmernd kommen zu diesen begrifflichen Schwierigkeiten noch praktische und moralische dazu, wenn alles Genetische
gleichsam unter einen Sonderstatus tällt (»genetic exceptionalism«), d.h, wenn genetische Krankheit und genetische Information so betrachtet werden, als wären sie etwas ganz anderes als andere Krankheiten und andere medizinisch relevante Informationen. Praktisch betrachtet ist genetische Information auch nur
ein Teil unter anderen in der Gesamtinformation, die in einer
Krankenakte steht. Und moralisch betrachtet zählt, daß womöglich für zumindest einige ihrer Krankheitsrisiken die Einzelnen einen gewissen Grad an persönlicher Verantwortung tragen, daß es aber viele nichtgenetische Krankheitsrisiken gibt, die sich sowenig
auf irgendwelche persönlichen moralischen Schwächen verrechnen lassen wie die genetische Ausstattung der betreffenden Perso-
nen. Wenn Grenzlinien hier überhaupt gezogen werden, dann
nicht zwischen Genetischem und Nichtgenetischem, sondern zw1schen dem, wofür der Einzelne als personlich verantwortlich gilt bzw. was jenseits seiner Verantwortlichkeit liegen soll (Murray, 1992a).
Wir waren uns darüber einig, daß medizinische Leistungen bedürfnisorientiert zugänglich sein sollten und daß dieses Prinzip der
moralische Grundsatz für das gesamte amerikanische Gesund-
heitssystem sein müßte (Daniels, 1996; Stone, 1996). Im Hinblick
auf Krankenversicherungen folgerten wir, daß nur ein System gerecht und zukunftsfähig wäre, das nicht von der Anzahl verkaufter Policen abhängig ist, sondern alle Bürger einbezieht.
245
ELSI-Programme und der demokratische Dialog Wie können Programme, die, wie ELSI, Fragen angewandter Ethik
in den Mittelpunkt stellen, den demokratischen Dialog über die Implikationen von Wissenschaft und Technik fördern? Es sollte klar sein, daß es unvernünftig wäre, von einzelnen solchen Pro-
grammen, wie auch immer sie im besonderen beschaffen sein mögen, die Lösung fundamentaler Probleme der Demokratie zu erwarten. Programme praktischer Ethik machen hier keine Aus-
nahme. Sogar Programme, die sich explizit mit dem sozialen Kontext beschäftigen, operieren ihrerseits innerhalb eines besonderen sozialen Kontexts. Realistischer wäre das Kriterium, ob die frag-
lichen Programme im großen und ganzen dem demokratischen Diskurs zugute kommen oder ob sie ihn vielmehr schwächen und aushebeln. Von den Bedenken bezüglich des ELSI-Programms
macht mir am meisten zu schaffen, daß sich die Öffentlichkeit und Politiker in einem falschen Eindruck von Sicherheit wiegen könnten, daß mit dem Humangenomprojekt schon alles in Ordnung sei, da sozusagen seine ethischen Hausmeister tüchtig bei der
Arbeit sind und keinen Alarm geben (Murray, 1992b).
Elitismus, Expertokratie, Vernachlässigung wichtiger Problemaspekte und mangelnde politische Anschlußfähigkeit gehören zu
den weiteren Einwänden gegen das ELSI-Programm. Bestätigen die Erfahrungen, die wir in Amerika mit ELSI gemacht haben, den Verdacht, hier entstehe nur eine neue Kontrollmacht
bestimmter Eliten? Gewiß, alle Mitglieder der ursprünglichen
ELSI-Arbeitsgruppe und nahezu alle von ELSI Getörderten waren
Akademiker. Soweit man Akademiker als eine Elite betrachten kann, ist der Verdacht nicht ganz unberechtigt. Aber die Arbeitsgruppe bestand nicht aus irgendwelchen Akademikern. Zu ihr gehörten vielmehr einige der tonangebenden Kritiker von Wissenschaftsmißbräuchen, insbesondere der Genetiks, Akademiker, die dafür bekannt waren, ihren Wissenschaftlerkollegen schwierige
Fragen zu stellen. Vertreten waren zudem Mitglieder rassischer Minderheiten, Personen mit hohem Risiko für schwere erblich bedingte Krankheiten und Personen mit angeborenen Behinderungen. Später sind auch Laien in die Arbeitsgruppe eingeladen worden. Hätte die Arbeitsgruppe aus passiven Leuten bestanden, die niemanden auf den Fuß treten wollen, dann ist durchaus vorstellbar,
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daß aus dem ELSI-Programm keine unabhängige kritische Kraft innerhalb des Humangenomprojekts geworden wäre. So aber be-
stand die Arbeitsgruppe zu einem guten Teil aus wohlbekannten Gelehrten, die nicht wegen ihrer Sanftmütigkeit ausgewählt wur-
den, sondern wegen ihres Rufs als nachdenkliche Kritiker und Kommentatoren der Wissenschaft. Fast völlig grundlos ist der Einwand, das ELSI-Programm gebe den
Wissenschaftlern nur noch größere Herrschaft über das Humangenomprojekt. Nichtwissenschaftler hatten in der Arbeitsgruppe die Vorherrschaft. Nur zwei von den ursprünglichen Mitgliedern waren Wissenschaftler - die Vorsitzende, Nancy Wexler, und der Molekularbiologe Jonathan Beckwith, einer der unermüdlichsten Kritiker der Genetik. Weil das ELSI-Programm und die Arbeits-
gruppe organisationsmalig innerhalb des Nationalen Zentrums
für Humangenomforschung, einer von Wissenschaftlern dominierten Organisation, angesiedelt waren, bestand immer die Mög-
lichkeit von Mißverständnissen, Verschleppungstaktiken und der Errichtung bürokratischer Hürden. Kommunikationsfehler gab es tatsächlich, ebenso wie einige Gelegenheiten, bei denen die Arbeitsgruppe gern schneller und offensiver vorangeschritten wäre. Diese Erfahrung unterstreicht noch einmal, wie wichtig Klarheit
über Autoritätsverhältnisse und Finanzen ist, zumal wenn das ELSI-Programm innerhalb einer größeren wissenschaftlichen Organisation arbeitet. Was ist von dem Bedenken zu halten, das ELSI-Programm be-
leuchte wie ein Punktstrahler nur gewisse Probleme und lasse andere, nicht minder wichtige, jedoch im dunkeln? Mir scheint, daß diese Gefahr ganz allgemein besteht und man immer auf der Hut vor ihr sein muß. Hierzu gibt es einige praktische Maßnahmen. Das amerikanische ELSI-Programm hat Vertreter der Öffentlichkeit mit einbezogen, um Problemstellungen zu identifizieren und auf die Tagesordnung zu setzen. Die Treffen waren öffentlich, die Teilnahme und Mitarbeit war auch für Laien möglich. Trotzdem gibt es gute Gründe für eine permanente Wachsamkeit gegenüber Tendenzen, Probleme nur verengt wahrzunehmen. Den Vorwurf mangelnder politischer Anschlußfähigkeit und Effektivität habe ich bereits diskutiert. Was politischen Kommentatoren »inside the beltway« wie eine Schwäche erscheint, ist vom
Standpunkt des demokratischen Diskurses aus eine Tugend. Die Auffassung dieser Kommentatoren ist auf die Bedürfnisse von 247
Gesetzgebern und ihren Hilfskräften zugeschnitten. Sie bezeugt eine hoch elitäre und instrumentelle Auffassung von Politik. Sie
setzt voraus, das Ziel von ELSI sei die schnelle und effiziente Lösung von Politikproblemen, und sie impliziert, daß der öftent-
liche Diskurs primär als Einschränkung für Politiker zu begreifen ist, anstatt in sich wertvoll zu sein und eine zentrale Rolle in der öffentlichen Ausgestaltung der Staatstätigkeit zu spielen. Besonders deutlich wird dieser Kontrast im Vergleich unserer Task Force on Genetic Information and Insurance mit den soviel ehr-
geizigeren Reformplänen der White House Task Force für das amerikanische Gesundheitssystem, einem von der Öffentlichkeit abgeschirmten Riesenunternehmen mit an die tausend Mitarbeitern, überwiegend Regierungsangestellte, das einen ausgefeilten,
komplexen Gesetzesvorschlag erarbeitet hat. Nota bene: Zu dieser
Sondereinheit des Weißen Hauses hat auch eine Bioethikgruppe gehört. Wie aus späteren Berichten dieser Gruppe hervorgeht, waren sich die Mitglieder untereinander zwar großteils über die
substantiellen Fragen einig, aber völlig zerstritten über die richtige Präsentation ihrer Auffassungen. Die Front verlief zwischen den-
jenigen, die größten Wert auf philosophische Klarheit legen woll-
ten, und denjenigen, die ein Dokument anstrebten, das in der amerikanischen Öffentlichkeit eine große Resonanz finden
sollte. Gegen die Gesundheitsreform eingestellte Organisationen haben mehr als 1o0 Millionen Dollar ausgegeben, um die Vorschläge des Weißen Hauses zu Fall zu bringen. Zu ihrer Taktik zählten Postwurfsendungen an ältere Bürger mit mißverständlichen Intorma-
tionen über die Auswirkungen der Reform aut ihre medizinische Versorgung sowie systematische Versuche, den öftentlichen Dis-
kurs über die Reformpläne zu verzerren. Wegen der Arkan- und »Insider«-Politik der White House Task Force war die Öffentlich-
keit anfälliger für solche rhetorischen Taktiken. Die »Insider«-
Methoden in der politischen Planung der Reform des Gesund-
heitssystems von 1993-94 erwiesen sich als Fiasko. Die Gesetzesvorschläge sind nicht durchgekommen und der öffentliche Diskurs über die wesentlichen und chronischen Probleme des amerikanischen Gesundheitssystems hat sich verschlechtert. Ironischerweise werden mit dem derzeit explosiven Wachstum von Managed Care im amerikanischen Gesundheitswesen viele Befürchtungen der Gegner der Reformpläne der Regierung Wirk-
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lichkeit, aber nun nicht unter der Kontrolle der Regierung, sondern unter der Kontrolle privater, profitorientierter Unternehmen
und ohne Rücksicht auf die Gerechtigkeitsforderung nach Zugang für alle, die ein Regierungsprogramm hätte beachten können.
Im Vergleich mit der Sondereinheit des Weißen Hauses hatte die
spezialisierte Arbeitsgruppe im Rahmen von ELSI ein äußerst bescheidenes Budget und ein relativ bescheidenes Ziel: allein durch die Förderung informierter und fokussierter öffentlicher Diskurse Einfluß auf die öffentliche Staatstätigkeit zu nehmen, im Hinblick auf die Zunahme genetischen Wissens über Krankheitsrisiken. Zu unserer Strategie gehörte es, einen relativ kurzen, für eine breite
Leserschaft verständlichen Bericht abzufassen; diesen Bericht ko-
stenlos und breit gestreut zu verteilen; Betroffenengruppen zur Verteilung des Berichts an ihre Mitglieder zu ermuntern; auf die Nachfragen der Massenmedien zu den im Bericht verhandelten Problemen zu antworten. Unser Bericht, Genetic Information and Health Insurance, ist keine akademische Standardpublikation. Er ist vielmehr Ergebnis des Versuchs, in klarer und allgemeinverständlicher Sprache den Tatsachenhintergrund zu beschreiben und die Moralprobleme, die durch genetische Information bezüglich der Zugangsbedingungen zum Gesundheitssystem aufgeworfen werden, auf eine ähnlich nachvollziehbare Weise zu diskutieren. Zu den wirklichen Ertolgsmaßstäben für diesen Bericht zählt, ob er geholfen hat, den Diskurs über Genetik und Krankenversicherung zu gestalten. (Ich meine, das hat er.) Zweitens, ob man über den Beitrag zur Gestaltung sagen darf, er sei ehrlich und moralisch gut ausgefallen. (Wiederum meine ich, daß man das sagen darf.) Drittens, ob er letztendlich zur Reform des amerikanischen Gesundheitssystems etwas beiträgt, das mit den im Bericht artikulierten Prinzipien übereinstimmt.
Zusammenfassung Ich habe versucht, die drei eingangs gestellten Fragen zu beantworten. Das ELSI-Programm innerhalb des Humangenomprojekts liefert deutliche Belege dafür, daß Ethik »big science« durchaus
mitzugestalten vermag. Erfahrungen mit dem Programm erhellen aber auch einige spezifische Schwierigkeiten, die aus seiner Situie-
rung innerhalb einer von Wissenschaftlern dominierten Großor-
249
ganisation herrühren. Dennoch darf man m. E. durchaus auf das ELSI-Programm stolz sein. Insgesamt sind die Erfahrungen mit ELSI vielversprechend genug, um auch anderen wissenschaftlichen Großprojekten zu empfeh-
len, daß sie der Erkundung ethischer, rechtlicher und sozialer Implikationen ihrer Aktivitäten mehr Aufmerksamkeit und Ressourcen widmen sollten. Am sinnvollsten wäre es, sich aus den Erfahrungen mit dem ELSI-Programm des Humangenomprojekts alles zunutze zu machen, was zu seinem Erfolg anscheinend am meisten beigetragen hat, und dann zur weiteren Verbesserung der Ettektivität gezielt mit organisatorischen und administrativen Veränderungen zu experimentieren. Zumindest würden wir mit Hilfe
dieser Strategie mehr darüber lernen, wodurch ELSI-Programme besser oder schlechter arbeiten. Für die dritte Frage - über die Rolle von Programmen angewandter Ethik innerhalb des demokratischen Diskurses - ist der Disput über den Stellenwert des ELSI-Programms innerhalb des Politikprozesses am aufschlußreichsten. Der prinzipielle Vorwurf lautet, daß ELSI nicht so funktioniert hat, wie professionelle Politikberater und -analysten es gerne sähen: Detaillerte Ratschläge, wie durch Gesetzgebung oder sonstwie die politische Regulation aussehen sollte, wurden keine gegeben; die Arbeitsergebnisse waren
nicht primär auf ihren Gebrauchswert für Politiker und Verwaltungsbeamte hin zugeschnitten, sondern Investitionen in die Bildung einer Gemeinschaft von Forschern und Nichtwissenschaftlern, deren Arbeit der Aufklärung über Kontexte und Konsequenzen des Humangenomprojekts zugute kommt. Meine Auttassung von der Natur des demokratischen Diskurses mag fehlerhaft sein. Ein ELSI-Programm mit dem Ziel, in engagierten Diskussionen über das Humangenomprojekt das Spektrum informierter Stimmen und Meinungen zu verbreitern - ein
Programm, das uns zu verstehen hilft, welche Interessen welcher Einzelnen und Gemeinschaften das Projekt auf welche Weise affiziert -, scheint mir aber der demokratischen Sache weit dienlicher zu sein als eines, das den Dialog auf Experten und aktive Politiker
beschränkt. Aufgrund einiger seiner Besonderheiten, allemal durch seine strukturelle Notwendigkeit von Kommunikation
über die Grenzen verschiedener Disziplinen hinweg, sind Arbeitsergebnisse, die auch für die breitere Öffentlichkeit verständlich und nützlich sind, hier eher zu erwarten als im üblichen akademi250
schen Rahmen. Aus meiner Sicht ist das ELSI-Modell dem demo-
kratischen Dialog förderlich und verdient, auf andere Wissenschaftsprogramme, womöglich auch auf andere soziale Reformprogramme ausgedehnt zu werden. (Übersetzt von Iris Junker und Matthias Kettner)
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252
Jochen Vollmann Das Informed Consent-Konzept als Politikum in der Medizin. Patientenaufklärung und Einwilligung aus historischer und medizinethischer Perspektive Einleitung Die Autklärung und Einwiligung (Informed Consent) des Patienten durch den Arzt gilt heute als grundlegender medizinethischer und rechtlicher Standard in der Medizin. Vor jedem medizinischen
Eingriff mul der betroffene Patient oder Proband hierzu seine ausdrückliche Einwilligung geben. Um selbstbestimmt entschei-
den zu können, muls der Arzt den Patienten über das Ziel, den
Nutzen sowie über die Risiken und möglichen Alternativen aufklären (Informationsvermittlung). Um diese Information für einen autonomen Entscheidungsprozel nutzen zu können, muß der Patient die Aufklärung verstanden haben, er muß einwilligungs-
fähig sein und frei, das heißt ohne äußeren Druck, Zwang oder Manipulation entscheiden können. Ein einwilligungsfähiger Patient kann die verstandenen Informationen auf seine persönliche
Situation anwenden, durch rationales und kausales Denken die Konsequenzen der Entscheidung erkennen sowie Vor- und Nachteile gegeneinander abwägen. Weiterhin muß er eine realitätsnahe
Einsicht in seine persönliche Situation (Krankheit) haben, die diagnostischen oder therapeutischen Möglichkeiten anerkennen und eine Entscheidung treffen und kommunizieren können (Appelbaum und Grisso 1995, S. 108-111). Eine gültige Einwilligung
nach Aufklärung (Informed Consent) setzt demnach 1. die Infor-
mationsvermittlung, 2. das Informationsverständnis, 3. die Einwilligungstähigkeit und 4. die freie Entscheidung voraus (Faden und Beauchamp 1986; Vollmann 1996). Durch das Informed Consent-Modell soll sichergestellt werden, daß der Patient nicht nur als Objekt der modernen Medizin, sondern als selbstbestimmte und eigenverantwortliche Person anerkannt wird, dessen Men253
schenwürde und Persönlichkeitssphäre respektiert wird. Juristisch
stellt eine sachgemäße Aufklärung die Voraussetzung für eine rechtswirksame Einwilligung des Patienten in eine Behandlung dar, die andernfalls als unzulässiger Eingriff in die Integrität eines Menschen, juristisch als Körperverletzung angesehen wird. Auf-
grund der Rechtsprechung hat die Aufklärung in der Praxis an Bedeutung gewonnen, weil sich in Arzthaftungsprozessen die
Beweislast eines Behandlungsfehlers bei unzureichender Aufklärung zu Lasten des Arztes verschiebt. Daher haben in den letzten Jahren bei der Aufklärung des Patienten durch den Arzt formale Aspekte wie z. B. die juristisch einwandfreie Dokumentation an Bedeutung gewonnen.
Historische Entwicklung Diese moderne Konzeption des Informed Consent in der Medizin wird in der bioethischen Literatur überwiegend als neue Entwicklung der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts diskutiert (Faden und Beauchamp 1986; Levine 1986; Veatch 1995, S. 5-12). In der traditionellen ärztlichen Ethik, wie z. B. dem Eid des Hippokrates, wird die Selbstbestimmung und Entscheidungstreiheit des Patienten bei einer medizinischen Behandlung kaum thematisiert. Vielmehr stellen tugendhaftes ärztliches Verhalten, Achtung des Patientenwohls (beneficence) und das Bewahren des Patienten vor Schaden (nonmaleficence) die Grundsätze ärztlichen Handelns dar (Winau 1993, S. 299-303; Wiesemann 1996, S. 13-24). Dabei kommt den Wünschen und Rechten des Patienten keine ausdrückliche ethische Bedeutung zu.' Dieses ärztliche Ethos hat sich bis in die zweite Hälfte des 20. Jahrhunderts fortgesetzt. Selbst die europäische Aufklärung hat an der medizinischen Realität einer paternalistischen ärztlichen Haltung nichts geändert. Die philosophische Aufklärung wurde zwar auch in der Medizin rezipiert, und die mangelnde Beachtung aufgeklärter und vernünftiger Gründe
I Im Eid des Hippokrates wird der Wunsch des Patienten nur an einer Stelle ausdrücklich erwähnt, um gleichzeitig nicht beachtet zu werden: Für den Arzt gilt auch bei ausdrücklichem Verlangen des Patienten bzw. der Patientin ein grundsätzliches Tötungs- und Abtreibungsverbot. 254
bei den Kranken kritisiert.? Doch von der Aufklärung im Sinne einer Information des Patienten durch den Arzt über seine Erkrankung und der vorgeschlagenen Behandlung als Zeichen des Respekts und der Achtung der Autonomie des Kranken ist dort ebensowenig die Rede wie von der Einwilligung des Patienten in
ärztliche Maßnahmen. Auch in der medizinischen Forschung am Menschen im 18. und 19. Jahrhundert, wie z. B. dem pharmakologisch-klinischen Versuch, wurde die Frage der Aufklärung und Einwilligung des Kranken nicht problematisiert (Winau 1995). Im bis heute gültigen »Genfer Arztegelöbnis« von 1948 des Weltärztebundes, das sich eng an den Eid des Hippokrates anlehnt, bleiben die ärztliche Pflicht zur Aufklärung des Patienten und eine autonome Entscheidung des Patienten (Informed Consent) unberücksichtigt.3
Während die ausschließliche Orientierung am vom Arzt definierten Patientenwohl ein Charakteristikum der klassischen ärztlichen Ethik darstellt, ist nach Veatch (1995, S. 5-12) die ethische Bedeutung der Patienteneinwilligung in eine ärztliche Maßnahme eine Errungenschaft der Medizinethik der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts. Bei genauerer Betrachtung der geschichtlichen Bedeutung von Aufklärung und Einwilligung des Patienten in der ArztPatient-Beziehung stellt sich dieser Sachverhalt jedoch vielschichtiger dar und muß differenziert betrachtet werden. Methodisch ist 2 So klagt z. B. der Nürnberger Arzt Osterhausen in seiner 1798.erschie-
nenen Schrift »Ueber medicinische Aufklärung«, »daß sich so viele Menschen, wenn es Gesundheit und Leben gilt, von Aberglauben, Vorurtheilen und Irrtümern blenden lassen« und sich einem »blinden Glauben hingeben, und die Hülfe gleichsam wie ein Wunder erwarten, das man nicht aus vernünftigen Prinzipien begreifen kann.« Im Gegensatz zu anderen Bereichen und Gegenständen würde sich das vernünftige Denken in der Heilkunde langsamer durchsetzen (Osterhausen 1798, Vorrede).
3 Auch der geltenden Berufsordnung für Arzte in Deutschland ist das Genfer Gelöbnis als Präambel vorangestellt. Darüber hinaus regelt § 2 der »Berufsordnung für die deutschen Ärzte«: »Der Arzt hat das Selbst-
bestimmungsrecht des Patienten zu achten. Zur Behandlung bedarf er der Einwilligung des Patienten. Der Einwilligung hat grundsätzlich eine Aufklärung im persönlichen Gespräch voranzugehen« (Bundesärztekammer 1994, S. 39-44). Der §z wird durch die »Empfehlungen zur Patientenaufklärung« von 1990 unter Berücksichtigung der bundesdeut-
schen Rechtsprechung ergänzt (Bundesärztekammer 1990, S. 940-942).
255
es problematisch, das zeitgenössische Informed Consent-Konzept unabhängig von seiner sozial- und geistesgeschichtlichen Entste-
hung auf andere historische Epochen und Zusammenhänge zu übertragen. Daher ist es notwendig, Kriterien festzulegen, die bei der Information und Einwilligung des Patienten in einer früheren historischen Epoche erfüllt sein müssen, um als Informed
Consent zu gelten. Dabei dürfen einerseits die Maßstäbe nicht zu hoch angelegt werden, um ein unreflektiertes Übertragen moderner Konzepte in frühere historische Epochen zu vermeiden und damit gar keine historischen Ansätze zu finden, andererseits müs-
sen konkret definierte Merkmale von Information und Einwilligung auf seiten des Patienten bzw. seiner Angehörigen erfüllt sein,
um dem Konzept inhaltlich gerecht zu werden. Faden und Beauchamp (1986, S. 54) haben zur Beschreibung und Interpretation der Patienteneinwilligung (consent) in der Medizingeschichte fol-
gende Kriterien vorgeschlagen:
1. Der Patient/die Versuchsperson muß einem Eingriff auf der
Grundlage von verstandener Information zustimmen. 2. Die Zustimmung darf nicht unter kontrollierenden Einflüssen
zustande kommen. 3. Die Zustimmung muß eine intentionale Erlaubnis für eine konkrete Intervention enthalten, das bedeutet, der Patient/die Ver-
suchsperson muß ausdrücklich und unmißverständlich zustim-
men.
Ein weiteres Problem bei der Suche nach historischen Wurzeln des Informed Consent in der Medizin stellt die beschränkte Quellenlage dar. Häufig reicht die Sachinformation nicht aus, um die o.g.
Kriterien anwenden zu können. Daher besteht hier ein großer Interpretationsspielraum (Faden und Beauchamps 1986, S. 5456). Zum Beispiel konnte ein chirurgischer Eingriff bei den eingeschränkten Anästhesiemöglichkeiten früherer Zeiten nicht ohne die Kooperation des Patienten durchgeführt werden. Doch kann
allein aus der Patientenkooperation nicht auf eine Zustimmung des Patienten im Sinne des Kriteriums 1 geschlossen werden. Weiterhin muß zwischen dem Bereich »Wahrheit am Krankenbett«, mit dem eine lange historische Diskussion verbunden ist, und infor4 Vgl. die amerikanische Kontroverse über die wahre Diagnosemitteilung im 19. Jahrhundert Der englische Arzt Thomas Percival argumentierte in seinem einflußreichen Buch über Medizinethik 1803, dals das Patienten-
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mierter Zustimmung unterschieden werden. Selbst wenn der Arzt dem Patienten die Diagnose und Prognose mitteilt, kann daraus noch nicht aut eine Mitwirkung des Patienten bei der Behandlungsentscheidung geschlossen werden, weil der Arzt ungeachtet der Informationsvermittlung allein über die Behandlung entschei-
den könnte, also nicht zwangsläufig eine ausdrückliche Patientenzustimmung vorliegen muß (Kriterien 1 und 3). Noch schwieriger ist der spezifische Einfluß der Institution bei hospitalisierten und psychisch Kranken oder Behinderten einzuschätzen (Kriterium 2), und nur in seltenen Fällen liegen Informationen über den Inhalt
der Autklärung vor. Häutig kann nur indirekt aus Arztetagebü-
chern, medizinischen Standesregeln und Eiden, Fachliteratur, Zeitungsausschnitten und Belletristik, kaum jedoch direkt aus Krankengeschichten, auf die jeweilige Aufklärungspraxis geschlossen werden. Dabei ist zu bedenken, ob die historischen Quellen wie z. B. medizinische Eidesformeln und Standesregeln die tatsächliche Handlungspraxis wiedergeben oder die Funktion idealistischer Leitlinien, standespolitischer Einigung oder professionellen Selbstschutzes erfüllten (Faden und Beauchamp 1986, S. 55). In der amerikanischen bioethischen Literatur wird als »Geburtsstunde des Informed Consent« häufig das Jahr 1947 (Nürnberger Kodex) bzw. das Jahr 1957 (erste höchstrichterliche Entscheidung in den USA, die Informed Consent-Doktrin wird im Case Law anerkannt) angegeben. Neuere historische Untersuchungen zeigen dagegen, daß die medizinethische Diskussion in der Ärzteschaft, in der Rechtswissenschaft, in der Politik sowie in der Offentlichkeit
über die Frage, was ein Arzt mit und ohne Einwilligung des Patienten tun darf, historisch früher nachweisbar ist. In diesen Diskussionen tauchen bereits Begriffe wie Wahrheit, Information,
Einwilligung, Zusammenarbeit in der Arzt-Patient-Beziehung insbesondere in der klinischen Forschung seit Ende des 19. Jahrrecht auf Wahrheit nicht gelte, wenn die Prognosemitteilung auf den Patienten oder seine Umgebung eine nachhaltig schädigende Folge habe.
Percivals medizinische Ethik prägte auch in diesem Punkt den ersten »Code of Ethics« der »American Medical Association« von 1847. Dagegen sprach sich Worthington Hooker, der als einziger amerikanischer Arzt des 19. Jahrhundert ein Buch über medizinische Ethik schrieb, gegen dieses Beneficence-Verständnis aus. Er argumentierte, daß diese paternalistische Bevormundung des Patienten in der Mehrzahl der Fälle mehr Schaden als Hilfe bringen würde (Lederer 1995, S. I3).
257
hunderts auf. In einer neuen Untersuchung zeigt die amerikanische Medizinhistorikerin Susan Lederer (1995), daß es bereits vor dem Zweiten Weltkrieg kritische ethische Diskussionen zu medizinischen Therapieversuchen innerhalb der Ärzteschaft sowie in den öffentlichen Medien gab. Sowohl die moderne therapeutische Forschung am Menschen als auch deren ethische Regulierung durch die Ärzteschaft sowie durch staatliche Stellen begann vor dem vielzitierten Nürnberger Kodex von 1947. Zwischen 1890 und 1940 fand eine innerärztliche Diskussion über »unethisch« durchgeführte therapeutische und nichttherapeutische Forschung in medizinischen Fachzeitschriften und auf Ärztekongressen statt,
die häufig durch öffentliche Kritik ausgelöst wurde. Lederers Forschungsergebnisse zeigen, daß das bisher vorherrschende Bild einer durch naturwissenschaftliche Erkenntnisse bereicherten, jedoch ethisch ungezügelten und unkontrolliert am Menschen experimentierenden Medizin vor dem Zweiten Weltkrieg wissen-
schaftlich nicht haltbar ist. Dabei stellten der Mißbrauch von Versuchspersonen und Patienten in der medizinischen Forschung und deren kritische Diskussion innerhalb der Ärzteschaft und der Öffentlichkeit wichtige Auslöser für Regulierungen und Richtlinien über die Aufklärung und Einwilligung des Patienten bzw. Probanden in der medizinischen Forschung dar.
Medizinethische Kontroversen 1874 verurteilte die »American Medical Association« in einer Resolution einen konkreten Fall unethischen medizinischen Experimentierens mit einer unheilbaren Patientin® und führte dazu 5 Die öffentliche Kritik an Menschenversuchen hing eng mit der Bewegung gegen Tierversuche zusammen (Winau 1986, S. 103). In den USA wird die Verbindung zu den »American Antivivisectionists« durch die synonyme sprachliche Verwendung von »human vivisection« mit »nontherapeutic experiments« bis in die goer Jahre des 20. Jahrhunderts deutlich (Lederer 1995, S. 101 ff.).
6 1874 wurde eine »geistesschwache« gojährige Hausangestellte in das »Good Samaritan Hospital« in Cincinnati, USA, mit einem suprainfizierten, bösartigen Tumor am Kopf aufgenommen. Nach chirurgischer Entfernung des Krebses wurde eine infauste Prognose gestellt und Dr. Robert Bartholow führte elektrophysiologische Experimente am offen258
aus, daß die Verletzung von Patienten im Namen der Wissenschaft für amerikanische Ärzte inakzeptabel sei, weil dadurch die kardinale ärztliche Pflicht verletzt würde, Schaden für die Patientin zu vermeiden (Lederer 1995, S. 7f.). In dieser Verurteilung wird allerdings nicht die fehlende Patientenaufklärung und -einwilligung, sondern die Verletzung des Nichtschaden-Gebotes betont. Vorher wurde die Arbeit in einer angesehenen medizinischen Fachzeit-
schrift publiziert, ohne daß die Herausgeber eingriffen. Die Aufmerksamkeit der amerikanischen Arztevereinigung erhielt der Fall erst nach heftiger Kritik britischer Arzte, die von dem Fall aus der
medizinischen Fachzeitschrift erfuhren. Insofern liegt es nahe, die ungewöhnlich scharfe und öffentliche Verurteilung der »American Medical Association« als Schadensbegrenzungsmaßnahme zu interpretieren.
In Frankreich bezeichnete 1891 die »Académie de Médicine« eine
medizinische Arbeit über die Ubertragbarkeit von Krebs' als »kriminell« und verweigerte eine wissenschaftliche Diskussion.
In Deutschland leitete das Ministerium der geistlichen, Unterrichts- und Medizinalangelegenheiten im Juli 1891 eine offizielle Untersuchung über die klinische Forschung der Chirurgen Eugen
Hahn und Ernst von Bergmann ein, die ähnliche Operationen, allerdings mit einer teilweise palliativen Absicht, durchgeführt
liegenden Gehirn der Patientin durch. Während der Einführung der Elektroden in die Hirnsubstanz klagte die Patientin über Schmerzen, weinte, erlitt epileptische Spasmen, Atemstörungen und Bewußtlosigkeit. Nachdem die Patientin wenige Tage nach dem Experiment verstarb, wurde als Todesursache Krebs angegeben, obwohl das Gehirn der Patientin durch die Versuche massiv geschädigt war. Die Untersuchungen wurden im American Journal of Medical Science 67 (1874), 5-305-313) publiziert. 7 Um die fragliche Ansteckbarkeit von Krebs zu klären, untersuchte der französische Arzt Victor Cornil das Brustgewebe von zwei Patientinnen mit Brustkrebs, die von »ausländischen Chirurgen« operiert wurden. Nach operativer Entfernung der erkrankten Brust transplantierten die
Chirurgen bösartiges Gewebe in die gesunde Brust der Patientinnen ohne deren Zustimmung. Innerhalb von zwei Monaten entwickelte sich
bei einer der Patientinnen ein mandelgroßer Tumor in der gesunden Brust, der zur histologischen Untersuchung operativ entfernt wurde.
Die andere Patientin verweigerte eine zweite Operation und suchte den Chirurgen nicht mehr auf. Ihr weiterer Krankheitsverlauf ist nicht be-
kannt.
259
hatten.® In diesem Fall wurde auf den drängenden Patientinnenwunsch nach einer (hoffnungslosen) Operation hingewiesen, wobei die Patientinnen nicht in das Experiment einwilligten. Hauptsächlich wird jedoch auf der Ebene der nicht vorhandenen Schädigung der Patientinnen (Nonmaleficence-Prinzip) argumentiert (Lederer 1995, S. 10f.). 1907 vertrat der bedeutende amerikanische Kliniker William Osler auf dem »Congress of American Physicians and Surgeons« den Standpunkt, daß die Grenzen zu rechtfertigender Humanexperimente gut und eindeutig definiert seien. Zwar sei in der klinischen Forschung eine Testung am Menschen unvermeidlich, sie sei jedoch erst nach ausführlichen tierexperimentellen Studien zulässig.
Nachdem durch die tierexperimentelle Testung ein Grad möglichst großer Sicherheit erreicht sei, dürfe der Arzt nach eindeutiger Zustimmung des Patienten (»full consent«) die neue Therapie am Menschen testen. Osler führte weiter aus, daß Ärzte kein Recht haben, ihnen anvertraute Patienten für Experimente zu benutzen, wenn diese davon keinen individuellen Nutzen hätten. Dagegen sei die nichttherapeutische Forschung (»medical experiments«) an gesunden Versuchspersonen mit einer anderen ethischen Verantwortung des Arztes verbunden. Solange die Versuchsperson vollständig über das Experiment informiert sei (»full knowledge of the
circumstances«) und sich freiwillig zur Teilnahme entschließt (»willingness«), seien diese Experimente nicht nur erlaubt, sondern zu loben, da sie trotz einzelner, bedauerlicher Uberschrei-
tungen einen unschätzbaren experimentellen Beitrag zur Medizin leisten würden (Lederer 1995, S. 1f.). Oslers Stellungnahme von 1907 ist bemerkenswert, da sie erstens die Forderung nach zuvor durchzuführender tierexperimenteller Testung beinhaltet, wie sie später im Nürnberger Kodex von 1947 sowie in der Deklaration von Helsinki des Weltärztebundes 1964 festgeschrieben wurde
und damit bis heute Gültigkeit besitzt (Bundesärztekammer
1991, S. 2927f.). Zweitens wird die bis heute aktuelle Ditterenzie8 Auf Drängen der hoffnungslos an Brustkrebs erkrankten Patientinnen führten die Chirurgen Mastektomien durch und übertrugen Brustkrebsgewebe wie im französischen Fall auf die gesunde Brust. Wegen der infausten Prognose der Patientinnen sei ihnen kein persönlicher Schaden zugefügt worden, jedoch eine eminent praktische und wissenschaftliche Frage angegangen worden, die anderweitig nicht zu beantworten gewesen ware.
260
rung in Heilversuche (therapeutical research) am Patienten mit potentiellem Nutzen für den Patienten und Human-Experimente (nontherapeutical research, bei Osler: »medical experiments«) vor-
genommen und dementsprechend unterschiedliche ethische Anforderungen formuliert. Weiterhin belegt Osters Stellungnahme,
daß bereits Anfang dieses Jahrhunderts medizinethische Fragen
des Informed Consent in der amerikanischen Ärzteschaft diskutiert wurden. In Deutschland verfügte das preußische Innenministerium als Reaktion auf die große Anzahl, teilweise fragwürdiger Tuberkulin-Versuche am Menschen bereits am 28. Februar 1891 einen Er-
laß, nach dem »die Anwendung des Professor Dr. Koch'schen Mittels bei tuberkulösen Gefangenen ... nicht gegen den Willen der Kranken angewendet werde[n]« durfte (Ministerial-Blatt 1891,
S. 27, und Journal of the American Medical Association 1891, S. 492, zitiert nach Vollmann und Winau 1996). Hierbei ist hervor-
zuheben, daß es sich um kranke Strafgefangene handelte, also um Patienten, deren Freiheit und freie Willensentscheidung durch die Gefängnishaft eingeschränkt war. Trotzdem, oder gerade wegen dieser Zwangsunterbringung wird von seiten des Ministeriums festgelegt, daß nicht gegen den Willen des Patienten Tuberkulin, eine damals experimentelle Therapie, verabreicht werden durfte. Hieraus kann jedoch nicht auf eine positive Willensäußerung des Patienten oder gar auf eine Patienteneinwilligung nach Aufklärung geschlossen werden.' Die zentrale Bedeutung des Patientenwillens als Legitimierungsgrund für ärztliche Eingriffe hebt auch das Urteil des Reichsgerichts vom 31. 5. 1894 deutlich hervor.'° Als wesentliche rechtliche 9 In der amerikanischen Literatur wird dieses Dokument fehlinterpretiert und überbewertet, da dessen Gültigkeit auf alle Tuberkulosekranken ausgeweitet wird. »No American legislature, however, went as far as the Prussian government, which, in 1891 enacted a regulation that insured that all tuberculin would ›in no case be used against the patient's will‹« (Lederer 1995, S. 13). 10 In diesem Revisionsverfahren hob das Reichsgericht eine Entscheidung des Landgerichts Hamburg auf. Der angeklagte Oberarzt der chirurgischen Abteilung des Vereinshospitals Hamburg führte nach erfolgloser
Teilresektion eine Fußamputation wegen Knochentuberkulose bei einer minderjährigen Patientin gegen den ausdrücklichen Willen des Vaters durch. Dieser sprach sich als Anhänger der Naturheilkunde
261
Voraussetzung für die Straflosigkeit von Körperverletzungen, wel-
che zum Zwecke des Heilverfahrens von Arzten bei operativen
Eingriffen begangen werden, wird der Patientenwille und nicht ein
wie auch immer zu definierendes besonderes Berufsrecht des Arztes angesehen. Das Reichsgericht'' erteilt der Ansicht, daß der Arzt ohne Berücksichtigung des autonomen Willens des Patienten bzw. seines Stellvertreters zum Wohl des autonomen Patienten handeln dürfe, eine klare Absage. »Daß jemand nach seiner
eigenen Überzeugung oder nach dem Urteile seiner Berutsgenos-
sen die Fähigkeit besitzt, das wahre Interesse seines Nächsten besser zu verstehen, als dieser selbst, dessen körperliches oder geistiges Wohl durch geschickt und intelligent angewendete Mittel
vernünftiger fördern zu können, als dieser es vermag, gewährt jenem entfernt nicht irgend eine rechtliche Befugnis, nunmehr nach eigenem Ermessen in die Rechtssphäre des Anderen einzugreiten, diesem Gewalt anzuthun und dessen Körper willkürlich zum Gegenstand gutgemeinter Heilversuche zu benutzen. Das Absurde einer solchen Unterstellung springt mit besonderer Schärfe in die Augen, wenn man erwägt, daß das hier behauptete, durch den vernünftigen Zweck begründete ›Rechts, will man demselben überhaupt einen Sinn beilegen, folgerichtig dahin führt, das subjektive Belieben, den rein subjektiven guten Glauben des Einzelnen an seine Fähigkeit und Geschicklichkeit im Wohlthun zum
rechtsbildenden, Rechte schaffenden und Rechtsnormen aufhebenden Faktor zu erheben« (Reichsgericht 1894, S. 378f.). Für das Zustandekommen einer konkreten Arzt-Patient-Beziehung und für die Behandlungsentscheidungen im einzelnen ist der individuelle Patientenwille entscheidend. Diesem »Auftrag zum Heilverfahren« sowie der »Anwendung jedes einzelnen Heilmittels« können jederzeit vom Patienten eine »rechtswirksam[e] Weigerung entgegen[ge]setz[t]« werden (Reichsgericht 1894, 5.382; Übersicht bei Elkeles 1989, S. 63-91). Diese Rechtsprechung gegen den chirurgischen Eingriff aus, der seine Tochter zum Krüppel machen würde. Trotz mehrfachen Widerspruchs des Vaters wurde die Fußamputation am 23. 6. 1893, nach Auskunft medizinischer Sachverständiger lege artis, vorgenommen. Nach der Operation sind die tuberkulösen Erscheinungen nicht mehr aufgetreten, die Kräfte des Kindes nahmen wieder zu und es entwickelte sich normal. II RG St 25, 375-
262
wurde vom Bundesgerichtshof übernommen, obwohl seit dem 19. Jahrhundert in der Rechtslehre die strafrechtliche Bewertung des ärztlichen Eingriffs in die Körperintegrität und die Rolle der Patienteneinwilligung umstritten ist (Held 1990, S. 29 ff.). In der europäischen und amerikanischen Medizingeschichte sind weitere Beispiele über ethische Diskussionen bei Humanexperimenten bekannt (Faden und Beauchamp 1986, S. 76ff.; Winau 1986, Lederer 1995, S. Iff.). An dieser Stelle kann nur auf zwei
wichtige europäische Regelungen hingewiesen werden, auf die trotz ihrer historischen Bedeutung in der neueren Literatur zur Medizinethik erst spätl hingewiesen wurde.
Die Anweisung des königlich preußischen Ministers der geistlichen, Unterrichts- und Medizinal-Angelegenheiten vom 29.12.1900 Die älteste bekannte staatliche Regelung, die eine »sachgemäße Belehrung« und eine »Zustimmung in unzweideutiger Weise« bei nichttherapeutischen Versuchen am Menschen forderte, stellt die »Anweisung an die Vorsteher der Kliniken, Polikliniken und son-
stigen Krankenanstalten« des o.g. Ministeriums vom 29. 12.1900 dar (Luther und Thaler 1967, S. 167f.; Vollmann und Winau 1996, S. 410). Dieses frühe Dokument zum Informed Consent kam nicht auf Initiative der Ärzteschaft oder von Forschungsinstitutionen zustande, sondern war die Folge öffentlicher Kritik von seiten der politischen Presse und des Parlaments über den Mißbrauch von Menschen 4 bei wissenschaftlichen Experimenten (Elkeles 1985, 12 BGH St 11, 112, und BGH St 16, 309.
13 Vgl. z. B. Sass (1983, S. 99-111).
14 Eine zentrale Rolle in dieser Auseinandersetzung spielt der Fall des Breslauer Venerologen und Entdecker des Gonococcus Albert Neisser. Auf der Suche nach einer Prävention der Syphilis injizierte er 1892 ohne
Informed Consent Patientinnen seiner Klinik, die meisten Prostituierte, zellfreies Serum von Syphilispatienten. Als daraufhin einige Pa-
tientinnen an Syphilis erkrankten, folgerte Neisser, daß die Impfung nicht wirke, aber auch nicht geschadet hätte. Die Patienten wären nicht durch das Experiment infiziert worden, sondern hätten sich als Prostituierte angesteckt. Später wurde Neisser wegen der fehlenden Patientinneneinwilligung zu einer Geldstrafe verurteilt. Staatsanwalt-
263
S. 135-148; Tashiro 1991, S. 98 f.). Diese frühe Form des Informed Consent entwickelte sich also nicht aus der Medizin, sondern stellt ein juristisches Modell dar, in dem bereits 1900 die Aufklärung und
Einwilligung als ein Rechtsanspruch des Patienten konzeptuali-
siert wurde. Die Verantwortungszuständigkeit war in der preußischen Anweisung hierarchisch geregelt. Allein der Chefarzt einer Krankenanstalt trug die volle und alleinige Verantwortung für alle
klinischen Forschungen am Menschen in seinem Verantwortungs-
bereich. Nur der leitende Arzt bzw. Arzte mit seiner besonderen Genehmigung waren berechtigt, Versuche am Menschen durchzuführen. Weiterhin wurde erstmals ein besonderer Schutz von Kindern, Minderjährigen und - für die Psychiatrie von Bedeutung - von Patienten, »die nicht vollkommen geschäftsfähig« sind, in der klinischen Forschung sowie eine schriftliche Dokumentationspflicht des Informed Consent festgelegt.
Die Richtlinien für neuartige Heilbehandlung und für die Vornahme wissenschaftlicher Versuche am Menschen vom 28.2. 193I In den zoer Jahren dieses Jahrhundert wurde der Informed Consent für jede Form der klinischen Forschung am Menschen in einem Rundschreiben des Reichsministers des Innern von 1931 erstmals differenziert geregelt (Sass 1983, S. 99-111; Winau 1986,
S. 104). Auslöser für den politischen Prozeß, an dessen Ende die
Reichsrichtlinien standen, war die Lübecker BCG-Impfkatastrophe, bei der insgesamt 68 Menschen, überwiegend Kinder starben.
In dem folgenden Gerichtsprozeß wurden Impfversuche ausdrücklich als medizinische Versuche eingeordnet, bei denen die informierte Zustimmung der Eltern der geimpften Kinder erforderlich gewesen sei. Die Reichsrichtlinien traten im Februar 1931 in Kraft und hatten für alle Ärzte im damaligen Deutschen Reich Gültigkeit, die sich schriftlich zur Beachtung dieser Richtlinie verpflichten mußten. Die Richtlinien erkennen zur Weiterentwicklung der ärztlichen Wissenschaft und Heilbehandlung wisschaft und das Parlament befaßten sich mit dem Fall, und die Regierung gab medizinische und juristische Gutachten in Auftrag, die zur Grundlage der ministeriellen Anweisung von 1900 wurden.
264
senschaftliche Versuche am Menschen als unverzichtbar an. Hieraus erwachse für den Arzt einerseits ein Recht zur Durchführung von Versuchen am Menschen, andererseits eine Pflicht und große Verantwortung für das Leben und die Gesundheit des einzelnen Versuchspatienten. Dabei wurde, wie bereits 1907 durch Osler,
zwischen therapeutischen (»neuartige Heilbehandlung«) und
nichttherapeutischen Versuchen (»wissenschaftliche Versuche«)
unterschieden und eine vorherige tierexperimentelle Testung so-
wie eine Schaden-Nutzen-Abwägung vorgeschrieben. Analog
dieser Differenzierung galten für wissenschaftliche Versuche strengere Durchführungsbestimmungen als bei neuartigen Heilbehandlungen. Für beide galt grundsätzlich die fachgerechte wissenschaftliche Durchführung nach »Regeln der ärztlichen Kunst und Wissenschaft«, die Risiko-Nutzen-Analyse und die Prinzipien des Informed Consent. Konkret wurde von einer »zweckentsprechenden Belehrung« und einer Einverständniserklärung in ein konkretes Vorhaben »in unzweideutiger Weise« gesprochen. Während der Einwilligungsteil eindeutig festgelegt war, blieb bei der Aufklärung ein Interpretationsspielraum, was eine »zweckentsprechende Belehrung« in der Praxis bedeutete. Der Begriff »Belehrung« deutet auf ein paternalistisches Arzt-Patient-Verhält-
nis hin, in dem der Arzt nicht nur einen medizinischen Wissensvorsprung hatte, sondern auch die moralische Autorität zur Belehrung des Patienten besaß. Wenn diese noch nach dem Ziel der Forschungsstudie »zweckentsprechend« ausgerichtet sein sollte, muß kritisch gefragt werden, ob es sich damals wirklich um eine patientenbezogene Aufklärung einschließlich der Information über Alternativtherapien gehandelt hat. Auf der anderen Seite wurde dem Patienten bei der Einwilligung eine eigenständige Entscheidung eingeräumt. Weiterhin wurde eine schriftliche Dokumentationspflicht des Arztes über die wissenschaftliche Unter-
suchung selbst (Forschungsprotokoll) und über den gültigen In-
formed Consent (Belehrung und Zustimmung) gefordert. Kinder
und Jugendliche unter 18 Jahren genossen besonderen Schutz, der Schutz von Patienten und Versuchspersonen bei der wissenschattlichen Publikation wurde beachtet und besonders bei Versuchen mit Mikroorganismen die Ansteckungsgefahr für die Bevölkerung hervorgehoben. Die Richtlinie berücksichtigte auch die sozialen und institutionellen Rahmenbedingungen, in denen Forschungsversuche stattfanden, und ging damit sowohl über den Nürnberger
265
Kodex als auch über die Deklaration von Helsinki hinaus. Im einzelnen wurde die Ausnutzung einer sozialen Notlage für die Durchführung von medizinischer Forschung am Menschen verurteilt.! Durch den Einzug naturwissenschaftlicher Methodik (insbesondere aus Bakteriologie und Immunologie) in die klinische Medizin nahm die experimentelle Forschung am Patienten in
der Institution Krankenhaus zu. In den geänderten Macht- und Verantwortungsstrukturen wurde die traditionelle Individualverantwortung des behandelnden Arztes gegenüber seinem Patienten durch die übergeordnete Verantwortung des leitenden Arztes für alle in seiner Institution stattfindenden Versuche am Menschen ergänzt. Diese hierarchische Strukturierung von ethischer Verantwortung in der klinischen Forschung, wie sie bereits in der preußischen Verordnung von 1900 auftauchte, steht im Gegensatz zur modernen, internationalen Entwicklung, wo ethische Verantwortung nicht innerhalb der Klinikhierarchie geregelt wird, sondern eindeutig beim zuständigen Forscher liegt, der durch interdisziplinär besetzte und unabhängige Ethikkommissionen 6 beraten wird. Abschließend fordern die Richtlinien von 1931, daß bereits im Medizinstudium auf die ethischen Pflichten des forschenden Arztes hingewiesen werden soll. Dennoch wurden diese Richtlinien in der bioethischen Diskussion des Informed Consent kaum berücksichtigt. Die Richtlinien von 1931, die auch während der NaziHerrschaft in Deutschland ihre Gültigkeit behielten, konnten die
grausamen Menschenversuche von deutschen Ärzten in Konzentrationslagern nicht verhindern. Erschreckenderweise wurden gerade in dem Land, das schon früh staatliche Richtlinien für kli-
nische Forschung am Menschen besaß, während der nationalsozialistischen Diktatur menschenverachtende Humanexperimente durchgeführt.
Is Würde diese Regelung gegenwärtig in den USA gelten, wo ein großer Teil der medizinischen Forschung an Kranken vorgenommen wird, die sich keine ausreichende Krankenversicherung leisten können und daher auf kostenfreie »Forschungsbehandlungen« angewiesen sind, müßten viele Forschungsprojekte eingestellt werden. 16 In den USA muß zwischen »Institutional Review Boards (IRB)«, die wie
deutsche Ethikkommissionen Forschungsprojekte am Menschen beraten, und »Clinical Ethics Committees« unterschieden werden.
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Aufklärung und Einwilligung in der Realität klinischer Versuche am Menschen Aus der Existenz dieser Richtlinien kann jedoch nicht auf die
alltägliche Praxis von Patientenaufklärung und -einwilligung geschlossen werden. Die wenigen Dokumente, die Hinweise auf die reale Praxis in der medizinischen Forschung am Menschen geben, zeichnen ein ganz anderes Bild. So verteidigt sich Neisser Ende des 19. Jahrhunderts gegen den Vorwurf, ohne Aufklärung und Einwilligung der Kranken experimentiert zu haben, indem er nicht nur die Gefährlichkeit des Experiments leugnet und die damit in Zusammenhang stehende Notwendigkeit eines Informed Consent abstreitet, sondern dieses Konzept grundsätzlich ablehnt. Er habe
die Patientinnen deshalb nicht autgeklärt und nicht um deren Einwilligung gebeten, »weil ich auf eine derartige Einwilligung gerade vom moralischen Standpunkt aus kein Gewicht gelegt habe
und nie legen würde. Wäre es mir um eine formale Deckung zu thun gewesen, so hätte ich mir die Einwilligung gewiss beschafft, denn es ist nichts leichter, als sachunverständige Personen durch freundliche Ueberredung zu jeder gewünschten Einwilligung zu bringen wenn es sich um solch harmlose tagtägliche Dinge handelt,
wie eine Einspritzung. Ich würde nur dann von einer Einwilligung sprechen, wenn es sich um Menschen handelte, die in der Lage wären, durch eigene Kenntniss und Beobachtung die ganze Bedeutung der eventuell vorhandenen Gefahren zu erkennen« (Neis-
ser 1900, zitiert nach Tashiro 1991, S. 93). Hier wird deutlich, welch geringer Stellenwert die Selbstbestimmung des Kranken aus der Sicht des medizinischen Forschers besitzt, und daß Patienten eine Einwilligungsfähigkeit mit dem Hinweis auf fehlendes medizinisches Fachwissen grundsätzlich abgesprochen wird.17 Diese paternalistische Bevormundung von Patienten ist sogar bei Ärzten zu finden, die die medizinische Forschungspraxis ihrer Zeit kritisch beurteilten und im allgemeinen eine Aufklärung und Einwilligung des Patienten fordern. So geht der Berliner Psychiater
Albert Moll in seiner »Ärztliche[n] Ethik« davon aus, daß alle »Geisteskranken« einwilligungsunfähig seien und daher stets die Einwilligung der Angehörigen einzuholen sei (Moll 1902, S. 246).
Aus heutiger Sicht erschreckend muß die Haltung von Psychiatern 17 Vgl. auch Kuttig (1993, S. 268-283).
267
bei der Behandlung von sogenannten Kriegsneurosen während des ersten Weltkrieges wirken. Wegen der Lebensgefährlichkeit einiger
der eingesetzten psychiatrischen Behandlungsverfahren'& be-
stimmte das Kriegsministerium in der Verfügung vom 6.12.1915, daß bei sehr gefährlichen Maßnahmen vorher die Einverständniserklärung des Soldaten vom Arzt einzuholen sei (Riedesser und Verderber 1985, S. 13). Dagegen wandte der Freiburger Psychiater Kehrer ein: »Im Zusammenhang zu behandeln ist noch die Frage der Wahlfreiheit des Kranken gegenüber der Art der anzuwendenden Methode. Erfreulicherweise sind wir hier nach oben hin in dieser Beziehung ebenso gedeckt, wie determiniert. Es ist durch kriegsministerielle Entscheidung festgestellt, daß nur erhebliche Eingriffe, zu denen jede Narkose, also auch der Chloräthylrausch rechnet, die Einwilligung des Kranken zur Voraussetzung hat.
Dennoch ist die Frage, ob das Einverständnis des Kranken für
die einzuschlagende Methode einzuholen sei, aufgeworfen worden. Ich kann angesichts dieser Entscheidung aber auch rein ärztlich keine Gründe mehr erkennen, die es uns nahelegen könnten, die Einwilligung des Kranken zu einer bestimmten Kur einzuholen. Ich glaube vielmehr, daß es dem Seelenzustand des Soldaten durchaus konform ist, wenn auch die ärztliche Kur, die unter allen Umständen von einem Vorgesetzten ausgeführt wird, vom Gesetz
des Gehorchenmüssens keine Ausnahme macht« (Kehrer 1917,
S. 18 f.). Das Zitat belegt, daß ein Psychiater der Selbstbestimmung des kranken Soldaten bei lebensbedrohlichen Eingriffen weniger Bedeutung zumißt als das Kriegsministerium. Hall (1996) konnte bei einer Analyse von 380 Publikationen über
psychiatrisch-klinische Arzneimittelversuche in deutschsprachigen Fachzeitschriften von 1844 bis 1952 nur 12 Arbeiten finden, in denen die Aufklärung und Einwilligung des Patienten bzw. Probanden überhaupt thematisiert wurde. Hierbei wurden besonders Schock-, Fieber- und Malariatherapie an Patienten in psychiatrischen Krankenhäusern getestet. In drei dieser Arbeiten wird eine Aufklärung des Kranken aus methodischen Gründen »natür18 Folgende Methoden wurden eingesetzt: elektrische Stromstöße, Chlor-
äthylnarkose, Scheinoperation in Äthernarkose, wochenlange Isolie-
rung und Röntgenbestrahlung im Dunkelzimmer, tagelange feuchtkalte Ganzkörperpackung, Hervorrufen von Erstickungsangst durch die sog. Muck'sche Kehlkopfsonde (Riedesser und Verderber 1985,
S. 13 f.).
268
lich« abgelehnt, um das Untersuchungsergebnis nicht durch Suggestivwirkung zu verfälschen. In einer Studie werden sogar gesunde Versuchspersonen meist nicht über die Art und Weise der zu erwartenden Wirkungen und Nebenwirkungen aufgeklärt. Im Zusammenhang mit der Fiebertherapie wird berichtet, daß die An-
gehörigen oder Vormünder der Kranken zwar um ihre Einwilligung angegangen würden. Ob dies nötig war, wurde von den Autoren ausdrücklich offengelassen. Die Einwilligung wurde sel-
ten versagt, doch trug diese Befragung nach Meinung der Arzte unnötig zur Beunruhigung der Angehörigen bei. Ein psychiatrisches Landeskrankenhaus entwickelte einen »Schemabrief für die Verständigung der Angehörigen«, durch den die Angehörigen über die geplante Insulinschockbehandlung informiert wurden. Dort heißt es, daß, weil »die Behandlung eingreifend ist und wenn auch in seltenen Fällen - Lebensgefahr mit sich bringen kann, möchten wir Sie von unserer Absicht unterrichten. Zu einer persönlichen Besprechung steht der Abteilungsarzt gern zur Verfügung. Wenn Sie uns binnen & Tagen keinen Bescheid geben, nehmen wir Ihr Einverständnis an« (Deussen 1937, zitiert nach Hall 1996). Ein anderer Psychiater berichtet: »In vielen Fällen stoßen wir bei der schriftlichen Erlaubniseinholung zur Kur bei
den Verwandten noch auf Schwierigkeiten und oft auf hartnäckige
Ablehnung. Bei mündlicher Aufklärung von seiten des Arztes jedoch wird fast nie die Erlaubnis verweigert. Es empfiehlt sich daher, wenn es eben geht, in einer mündlichen Rücksprache die Genehmigung zur Einleitung der Insulinschockbehandlung von den Angehörigen zu erwirken.« (Heuschen 1938, zitiert nach Hall
1996). Inwieweit das persönliche Gespräch zwischen Arzt und
Angehörigen das Ziel einer wirklichen Aufklärung hatte oder
vielmehr eine Manipulation des Verwandten mit dem Ziel der Einwilligung darstellte, kann aus dem vorliegenden Quellenmaterial nicht abschließend beantwortet werden. Die Formulierungen in den wissenschaftlichen Publikationen weisen jedoch auf eine »unterrichtende« und einseitige Aufklärung des Patienten bzw. der
Angehörigen im Interesse des Arztes hin, wobei der Selbstbestimmung des Kranken nur eine untergeordnete Bedeutung zu-
kommt.
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Historische Interpretation
Die historische Entstehung des Informed Consent wird in der Literatur kontrovers diskutiert. Der amerikanische Psychiater Jay Katz argumentiert in seinem grundlegenden Buch »The Silent World of Doctor and Patient« (1984), daß die Arzt-Patient-Beziehung in allen historischen Epochen bis heute durch eine unveränderte Konstellation gekennzeichnet sei: Der Arzt habe sich nie um die Rechte von Patienten gekümmert, sondern stets die Notwendigkeit gesehen, selbst die medizinischen Entscheidungen zum gesundheitlichen Wohl seines Patienten zu treffen. In der gesamten Geschichte der Medizin habe die Information des Patienten durch den Arzt und die Patientenzustimmung bei ärztlichen Maßnahmen nie eine große Rolle gespielt. Sie wurde meistens nur negativ
diskutiert, wie z. B. im Eid des Hippokrates (s.o.) oder wenn es um
die Unfähigkeit des Patienten zur Zustimmung einer ärztlich vorgeschlagenen Maßnahme gehe. In diesen Fällen habe der
Arzt es als seine moralische Pflicht angesehen, allein zum Wohl des Patienten zu entscheiden. Insgesamt sei die Geschichte der Arzt-Patient-Beziehung eine »history of silence with respect to patient participation in decision making« (Katz 1984, S. 3 f.). Dagegen zeigt der amerikanische Historiker Martin S. Pernick in seinen Arbeiten zur Medizingeschichte des 19. Jahrhunderts, daß Wahrheit am Krankenbett und das ärztliche Bemühen um eine Einwilligung des Patienten einen Teil der medizinischen Tradition darstellen. Dieses ärztliche Verhalten stützte sich auf medizinische Theorien, in denen die Beachtung von Information und Autonomie des Patienten nachweislich zu einer ertolgreichen Behandlung und damit zum Patientenwohl beitragen. Pernick räumt zwar ein, daß sich die Formen des Informed Consent in Inhalt und Zweck im 19. Jahrhundert von den modernen Konzepten unterscheiden, denn im 19. Jahrhundert war die Aufklärung und Einwilligung aufgrund unterschiedlicher sozialer Kontexte nicht rechtsorientiert (»right-oriented«), sondern basierte auf dem traditionellen Beneficence-Prinzip. Trotz anderer sozialer Kontexte, Rechtfertigungs- und Begründungsstrategien existierte nach Pernick bereits im 19. Jahrhundert eine ärztliche Praxis, die sich um eine aussagekräftige Patienteneinwilligung (»meaningful consent practices«) bemühte (Pernick 1982). Seine Argumentation wird durch eine breite rechtswissenschaftliche Diskussion und spätere Rechtspre270
chung gestützt. Dieses erkennt Katz zwar an, weist jedoch darauf
hin, daß juristische Entwicklungen wenig von der Realität der Arzt-Patient-Beziehung widerspiegeln. Vielmehr habe der Arzt im Patientengespräch nicht Informationen mitgeteilt, um das Einverständnis des Patienten zu erhalten, sondern um seine Mitarbeit bei der Behandlung zu ermöglichen. Es handele sich demnach nicht um eine gültige und aussagekräftige Patienteneinwilligung, weil dem Patienten kein Recht zur Entscheidung eingeräumt wurde (Katz 1984, S. 15-18).
Katz und Pernick stimmen darin überein, daß Patienten im
19. Jahrhundert über ärztliche Maßnahmen informiert wurden und sich diesen Behandlungen großteils freiwillig unterzogen. Ob es sich dabei um einen »meaningful consent« handelte, bleibt strittig. Weiterhin wird der sozialhistorische Kontext und der Einfluß von Rechtswissenschaft und Rechtsprechung auf die Arzt-Patient-Beziehung unterschiedlich interpretiert. Für die weitere Diskussion sind die unterschiedlichen Definitionen der Einwilligung von entscheidender Bedeutung. Katz spricht nur von gültiger Einwilligung, wenn dem Patienten gleichzeitig ein autonomes Entscheidungsrecht zugestanden wird, Einwilligung wird also konzeptionell an das Autonomie-Prinzip gebunden. Pernick sprich dagegen im historischen Kontext des 19. Jahrhunderts auch
dann von gültiger Patienteneinwilligung, wenn eine ausreichende
Information zugrunde liegt, der Patient bei der Behandlung kooperiert und die Behandlung zum Wohle des Patienten geschieht. Bei Pernicks Consent-Konzeption ist eine gültige Einwilligung nach Aufklärung also auch ohne das Autonomie-Prinzip innerhalb
des Beneficence-Prinzips möglich. Faden und Beauchamp (1986)
schließen sich Katz' historischer und sozialwissenschaftlicher Analyse der Arzt-Patient-Beziehung an und arbeiten auf dieser Grundlage heraus, was es genau für einen Patienten bzw. eine
Versuchsperson bedeutet, aussagekräftig und gültig zu wählen und einzuwilligen. Trotz dieser unterschiedlichen historischen
Interpretation des Informed Consent stimmen die genannten Autoren darin überein, daß spätestens nach dem Zweiten Weltkrieg
ein neues Konzept von Aufklärung und autonomer Einwilligung als Rechtsprinzip in die medizinische Ethik Einzug hielt.19
19 Dabei werden jedoch in der amerikanischen Bioethik frühere medizin-
ethische Ansätze, z. B. die positivistische Rechtsposition als Grundlage
271
Der Nürnberger Kodex von 1947 Im Rahmen des Nürnberger Kriegsverbrecherprozesses wurden 1946 20 Ärzte und drei Verwaltungsbeamte wegen menschenverachtender, häufig tödlicher Menschenexperimente in Konzentrationslagern des Naziregimes (Mitscherlich und Mielke 1947 und 1949; Annas und Grodin 1992) angeklagt. Was heute als Nürnberger Kodex bezeichnet wird, war Teil des am 19.8.47 ergangenen Urteils im Prozeß »Vereinigte Staaten gegen Karl Brandt«, der an medizinischen Experimenten während des zweiten Weltkrieges beteiligt war.20 Die Richter nahmen in einer naturrechtlich begründeten Argumentation auf universal gültige moralische, ethische und rechtliche Prinzipien Bezug?' und legten erstmals universal gültige und unveräußerliche Patientenrechte in der klinischen Forschung fest. Die freiwillige Zustimmung des Menschen (»voluntary consent«) sowie eine ausreichende Information und Verständnis des Patienten (»sufficient knowledge and comprehension«) wurden damit rechtliche Voraussetzungen für die Durch-
führung medizinischer Experimente am Menschen. Sie stellen einen Rechtsanspruch des Patienten/Probanden dar und sollen ihn vor Mißbrauch schützen. Damit zogen die amerikanischen Richter die Konsequenz aus der ärztlichen Mitwirkung an den Naziexperimenten und ergänzten das ärztliche Beneficence-Prinzip durch das Autonomie-Prinzip auf der Patientenseite. Andererder Arzt-Patient-Beziehung (Vertragsmodell) in der »Arztlichen Ethik« Albert Molls (1902), nicht zur Kenntnis genommen. 20 Bei der gegenwärtigen medizinethischen Diskussion des Nürnberger Arzteprozesses wird häufig übersehen, daß es damals nicht um die generelle Rolle der Medizin bzw. der Ärzteschaft im Nationalsozialis-
mus ging. Vielmehr wurde über Kriegsverbrechen und Verbrechen gegen die Menschlichkeit sowie Mitgliedschaften in verbrecherischen Organisationen geurteilt, die an nichtdeutschen Staatsangehörigen in erster Linie in Konzentrationslagern begangen wurden. Verbrechen, die Deutsche gegen Deutsche begangen hatten, gehörten ebensowenig zum Bereich des amerikanischen Militärgerichts wie die sogenannten »Euthanasie«-Verbrechen in Deutschland (Jäckel 1996). 21 Am 10. 12.48 verabschiedete die Generalversammlung der Vereinten Nationen die » Allgemeine Erklärung der Menschenrechte«, die ähnlich
abgeleitet und begründet wurden. Daher haben Autoren den Nürnberger Kodex als eine der ersten Festschreibungen von universalen Menschenrechten bezeichnet. 272
seits bleibt auf der Seite des Arztes die Pflicht zur sorgfältigen Durchführung der Untersuchung und die nicht delegierbare Verantwortung für das Experiment bestehen. Darüber hinaus werden, ähnlich wie in den deutschen Richtlinien von 1931, konkrete Festlegungen getroffen: Das Humanexperiment ist erst nach dem Tierversuch statthaft und muß fruchtbare Ergebnisse zum Wohl der Allgemeinheit erwarten lassen, die nicht mit anderen Methoden
erreicht werden können. Beim Experiment muß alles unnötige Leiden bzw. Schäden vermieden werden, es darf nicht durchgeführt werden, wenn mit Tod oder Invalidität gerechnet werden muß. Grundsätzlich darf das Risiko nie die humanitäre Bedeutung
des zu erwartenden Experimentergebnisses überschreiten, und bei der Durchführung besitzt die Sicherheit der Versuchsperson ober-
ste Priorität. Die Versuchsperson hat jederzeit das Recht zum Abbruch der Untersuchung, und die Wissenschaftler haben die Pflicht, während des Versuchsverlaufs das Experiment zu beenden, wenn die Versuchsperson schweren Schaden nehmen könnte. Im Nürnberger Kodex wurde die traditionelle ethische Verantwortung des Arztes für das Wohl des ihm anvertrauten Menschen (Beneficence-Prinzip) durch das Recht des Patienten auf autonome intormierte Entscheidungstreiheit erweitert. Konzeptionell soll zunächst auf seiten des Arztes eine verantwortliche Versuchs-
planung mit Risiko-Nutzen-Analyse erfolgen. Danach muß die
Versuchsperson um eine autonome und informierte Zustimmung zu dem aus ärztlicher Sicht verantwortbaren Experiment gebeten werden. Diese neue, durch Autonomie, Beneficence und Rechtsstaatlichkeit geprägte Informed Consent-Konzeption diente in den folgenden Jahrzehnten als Modell für verschiedene Richtlinien (Faden und Beauchamp 1986, S. 1$6). Besonders nachhaltige Wir-
kung zeigte der Nürnberger Kodex in den USA, wo das neue Intormed Consent-Konzept erstmals in den späten soer und frühen 6oer Jahren schrittweise umgesetzt wurde. Während von 19301956 in der amerikanischen Literatur nur neun Publikationen über
Einwilligungsfragen zu finden sind, kam es von 1960-1980 zu einer
exponentiellen Zunahme der Verötfentlichungen über den Informed Consent mit über 1000 Arbeiten allein im Jahr 1980 (Kaufmann 1983, S. 1657-1664). Nach Einschätzung von Faden und
Beauchamp (1986, S. 86-101) hängt diese rasante Entwicklung mit komplexen gesellschaftlichen Entwicklungen zusammen. Der moderne Informed Consent entstand außerhalb der Medizin
273
als juristisches Konzept, das sich in der amerikanischen höchstrichterlichen Rechtsprechung (Case Law) schnell durchsetzte. Mit der ersten Case Law-Entscheidung 1957 erlangte das moderne Konzept des Informed Consent in den USA Rechtsgültigkeit und fand danach im medizinischen Bereich verstärkte Beachtung. Durch die zeitgleiche Entwicklung der interdisziplinären »bioethics« in den USA wurde die rechtliche Perspektive des Intormed Consent schnell durch eine medizinethische erweitert. Gesell-
schaftspolitische Entwicklungen wie die »new rights movement«,
»civil rights« und »consumer movement« führten zu größerer Autonomie, Individualismus und politisches Selbstbewußtsein, was sich im medizinischen Bereich durch stärkere Patientenrechte23 zeigte. Außerdem wurden unethische medizinische Versuche von amerikanischen Ärzten, besonders während des Zweiten Weltkrieges und in der Zeit des »kalten Krieges« während der soer und boer Jahre bekannt, die in der Öffentlichkeit zu einer kritischen Haltung gegenüber medizinischen Experimenten tührten (Übersicht bei McCarthy 1994).
Die Deklaration von Helsinki von 1964 (in der Fassung von 1989) In Anlehnung an den Nürnberger Kodex beinhaltet die Deklaration von Helsinki des Weltärztebundes von 1964 in der gültigen Fassung von 1989 (Bundesärztekammer 1991, S. 2927f.) Empfehlungen für Ärzte, die weltweit in der biomedizinischen Forschung
tätig sind. Neben den bereits erwähnten Grundprinzipien des
Nürnberger Kodex werden erstmals Ethikkommissionen zur Begutachtung der Forschungsprotokolle gefordert und der Prozeß des Informed Consent genauer geregelt. Erstmals wird die Bestellung eines gesetzlichen Vertreters für »nicht voll geschäftsfähige«
Versuchspersonen gefordert und festgelegt, daß das Versuchspro22 Hier sind besonders die bahnbrechenden Gerichtsentscheidungen in den Fällen Salgo (1957), Natanson (1960) und Canterbury (1972) zu erwähnen. 23 Z. B. verabschiedete die »American Hospital Association« 1972 auf Druck der wachsenden und selbstbewußt öffentlich auftretenden Patientenorganisationen die »Patient's Bill of Rights«, die Patientenrechte bei einer Krankenhausbehandlung festlegten.
274
tokoll ethische Uberlegungen bezüglich der Versuchsdurchführung enthalten soll. Ähnlich wie in den bereits dargestellten Richtlinien von 1931 wird zwischen therapeutischen (»klinische Versuche«) und nichttherapeutischen Versuchen am Menschen unter-
schieden. Für letztere werden Versuchspersonen als gesunde Personen oder Patienten, bei denen die Versuchsabsicht nicht in
Zusammenhang mit ihrer Krankheit steht, definiert. Obwohl der
Weltärztebund das moderne Informed Consent-Modell in seine Empfehlungen aufnimmt, besteht für therapeutische Versuche am
Menschen eine Ausnahmeregelung: »Wenn der Arzt es für unentbehrlich hält, auf die Einwilligung nach Aufklärung zu verzichten, sollen die besonderen Gründe für dieses Vorgehen in dem für den
unabhängigen Ausschuß bestimmten Versuchsprotokoll niedergelegt werden.« Dadurch entsteht innerhalb der Deklaration eine Spannung zwischen der grundsätzlichen Forderung nach einem Informed Consent bei der medizinischen Forschung am Menschen und der sehr allgemein formulierten Ausnahmeregelung. Letztere wurde von Medizinethikern scharf kritisiert, weil ein Unterlaufen
des im Nürnberger Kodex festgeschriebenen Rechtsanspruchs des Patienten bezüglich eines uneingeschränkten Informed Consents zugunsten der Wiedereinführung eines ärztlich-paternalistischen
Beneficence-Prinzips in der klinischen Forschung befürchtet wurde. Diese Abschwächungstendenz ist auch in den internationalen ethischen Richtlinien für die biomedizinischen Forschung
am Menschen der Vereinigung der internationalen medizinischen Fachgesellschaften (CIOMS) und der Weltgesundheitsorganisation (WHO) von 1993 zu finden (Annas et al. 1997). Mehrheitlich wird die Deklaration von Helsinki jedoch als Meilenstein bei der Ak-
zeptanz des Informed Consent in der Forschung am Menschen durch die internationale Ärzteschaft angesehen (Faden und Beauchamp 1986, S. 157). Viele nationale Regelungen haben sich an der
Deklaration orientiert, wie z. B. die Bestimmungen der amerika-
nischen »Food and Drug Administration« von 1981 sowie der »National Commission for the Protection of Human Subjects of Biomedical and Behavioral Research« (Belmont Report 1979; Ubersicht bei Levine 1986). In Deutschland sind das Arzneimittel-
gesetz, die »Berufsordnung für die deutschen Ärzte« (Bundesärztekammer 1994, S. 39f.) sowie die »Empfehlungen zur Patien24 Gemeint sind Forschungs-Ethikkommissionen.
275
tenaufklärung« (Bundesärztekammer 1990, S. 940-942) zu nen-
nen.
Zusammenfassung Die traditionelle ärztliche Ethik, wie sie im Eid des Hippokrates zum Ausdruck kommt, stellt das tugendhafte Verhalten des Arztes
zum Wohl seines Patienten in den Vordergrund. Dabei wird Wohl und Schaden jedoch einseitig aus der professionellen Sicht des Arztes beurteilt, wobei das Selbstbestimmungsrecht des Patienten
vernachlässigt wird. Wie der behandelnde Arzt im Einzelfall zum
Wohl des individuellen Patienten handeln kann, ohne ihn nach seinen Werten und Wünschen zu fragen, bleibt offen. Erst seit dem
19. Jahrhundert kann historisch eine ethische Diskussion über die
wahrheitsgemäße Information des Patienten und die Patientenein-
willigung im Zusammenhang mit medizinischen Versuchen am
Menschen nachgewiesen werden. Schwere, oft tödliche Folgen medizinischer Forschung am Menschen hatten Gerichtsprozesse und öffentliche Kontroversen innerhalb der Ärzteschaft und in der Öffentlichkeit zur Folge. Diese juristischen und politischen Auseinandersetzungen führten zu einer Aufwertung der Patientenselbstbestimmung in der modernen Medizin. Das ethische und juristische Konzept von Aufklärung und Einwilligung (Informed Consent) des Patienten ist nicht aus der Medizin selbst hervorgegangen, sondern ist als gesellschaftliche Reaktion auf negative
Folgen der Medizin entstanden: Es wurde von Ärzten und medizinischen Wissenschaftlern lange Zeit als von außen verordnete Veränderung der Arzt-Patient-Beziehung kritisiert und abgelehnt. Uneinigkeit besteht darin, ob die in früheren historischen und
sozialen Kontexten stattgefundene Aufklärung und Einwilligung des Patienten bereits als Informed Consent bezeichnet werden kann. Vom Informed Consent im modernen Sinn wird von der Mehrheit der überwiegend amerikanischen Autoren erst nach dem Nürnberger Kodex gesprochen, weil dort der Informed Consent als ein rechtlich verbindlicher Anspruch des Patienten definiert wurde. Seit den soer Jahren dieses Jahrhunderts hat sich dieses juristische Modell schrittweise in der medizinethischen Diskussion und in ärztlichen Praxis durchgesetzt und gilt heute als grundlegender medizinethischer Standard in der medizinischen For276
schung am Menschen wie auch in der klinischen Patientenbehandlung. Am schnellsten schritt diese Entwicklung in den USA voran,
wozu eine breite biomedizinische Forschungstätigkeit, das amerikanische Fallrecht (Case Law) und eine ausgeprägte Autonomie-
tradition in der amerikanischen, pluralistischen Gesellschaft beigetragen haben.
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279
Norbert Campagna Von der Bioethik zum Biorecht: Demokratietheoretische Übersetzungsprobleme 1. Bioethische und biorechtliche Normen Bioethische Normen sind nicht institutionell verbindlich. Konkret heißt das, daß ein diese Normen verletzendes Handeln nicht institutionell, also vor allem mit Rückgriff auf das gesetzlich eingeschränkte und insofern legitimierte staatliche Gewaltmonopol, strafbar ist. Dies schließt allerdings nicht aus, daß die Mißachtung bioethischer Normen zu informellen gesellschaftlichen Sanktionen führt, z. B. zu allgemeiner Achtung durch die Gemeinschaft, wenn ein starkes (Un-)Rechtbewußtsein in der Moralgemeinschaft der Betroffenen existiert. Wird der Verstols gegen bioethische
Normen von Wissenschaftlern begangen, so ist auch eine der
wissenschaftlichen Gemeinschaft interne Sanktion nicht auszuschließen oder die als Sanktion einsetzbare Verweigerung der Förderung durch öffentliche Mittel. Doch weiter reichen die Sank -
tionsmöglichkeiten kaum. Wer bioethische Normen nicht befolgen will, braucht sie nicht zu befolgen und kann zu ihrer Befolgung auch nicht durch die sanktionsmächtigen gesellschaftlichen Institutionen gezwungen werden.
Liberale, pluralistische Gesellschaften sind durch eine Vielfalt unterschiedlicher bioethischer Positionen gekennzeichnet, wobei sich diese Positionen nicht nur bezüglich der konkreten Normen
bzw. der korrekten Anwendung dieser Normen auf konkrete
Fälle, sondern auch bezüglich der, einerseits, axiologischen und normativen, andererseits metaphysischen Grundannahmen wider-
sprechen. Wenn etwa Peter Singer und das katholische Lehramt unterschiedliche Ansichten über die ethische Zulässigkeit der Abtreibung haben, so fußen diese sich widersprechenden moralischen
Ansichten letztlich auf unterschiedlichen Ansichten über den Menschen und über den Wert des Lebens (bzw. darüber, was dem Leben überhaupt einen Wert gibt).
Prinzipiell ist gegen einen bioethischen Pluralismus nichts ein-
zuwenden, da man sich nur durch die Diskussion zwischen An280
hängern unterschiedlicher Positionen der ethischen Wahrheit -
wie immer man sie auch definieren mag - nähern kann.' Daß hundert verschiedene bioethische Positionen in einer liberalen Gesellschaft blühen, ist an sich noch nicht problematisch. Problematisch wird der bioethische Pluralismus allerdings, zumindest in einer liberalen Gesellschaft, wenn die Vertreter der einzelnen bioethischen Positionen verlangen, daß ihren Normen und Grundannahmen ein rechtlicher Ausdruck verliehen werden soll, wenn sie also eine rechtliche Verankerung der Bioethik im Biorecht
fordern. Und solche Forderungen wurden in den letzten zwanzig
Jahren immer öfter und immer lauter erhoben. Im Gegensatz zu bioethischen Normen sind biorechtliche Normen institutionell verbindlich, so daß ihre Mißachtung mit Strafe
belegt werden kann.? Mit den ihm zur Verfügung stehenden Mit-
teln kann der Staat die Menschen zwingen, ihr Handeln so zu gestalten, daß es mit den Verboten oder Forderungen der biorechtlichen Normen übereinstimmt. Durch biorechtliche Normen wird also die Freiheit des Einzelnen viel stärker und vor allem viel zwingender beschränkt als durch bioethische Normen. Dies wäre noch nicht allzu problematisch, wenn der bioethischen Vielfalt auch eine biorechtliche Vielfalt entsprechen könnte, wenn also jede
bioethische Position sich sozusagen ihr eigenes Biorecht institutionalisieren könnte, und wenn die Anhänger der jeweiligen bioethischen Positionen, und nur sie, nur den ihren Positionen ent-
sprechenden biorechtlichen Normen unterworfen wären. Aus dem Begriff des Rechts ergibt sich aber, daß eine biorechtliche Vielfalt nicht synchron innerhalb einer Rechtsgemeinschaft exi-
stieren kann. Ein Rechtssystem kann nicht zugleich die künstliche Befruchtung erlauben und verbieten, sondern nur entweder er-
lauben oder verbieten, wobei natürlich immer die Möglichkeit
bestehen bleibt, die künstliche Befruchtung unter bestimmten Bedingungen zu erlauben (oder zu verbieten). Doch sind diese Bedingungen gemäß den dafür vorgesehenen Prozeduren festgelegt, dann gelten sie für jedes Mitglied der betroffenen RechtsI Eine interessante Diskussion dieser Thematik findet sich bei Charlesworth (1993). Allerdings geht der Autor nicht genügend auf die politische Dimension der Frage ein.
2 Damit soll nicht gesagt werden, daß rechtliche Normen immer an Sanktionen gebunden sein müssen. Hierzu Lyons (1984).
28 I
gemeinschaft, also auch für solche Mitglieder, die ihnen, aus welchem Grund auch immer, nicht zustimmen. Ihnen bleibt höchstens
die Möglichkeit, über den Weg der dafür vorgesehenen legislativen
Prozeduren das herrschende Biorecht zu verändern. Die rechtlichen Normen bilden einen alle Mitglieder der betroftenen Rechtsgemeinschaft bindenden Rahmen, und sie stecken für jedes Mitglied die ihm zur Verfügung stehenden Freiheitsräume ab. Weder darf es diese Freiheitsräume überschreiten noch jemand von außen in diese Freiheitsräume eindringen. Konstitutiv für die Idee der liberalen Demokratie ist die ethische Neutralität des Rechts, wobei »ethisch« soviel bedeutet wie »das gute Leben betreffend«? Nur wenn das Recht sich neutral gegenüber den unterschiedlichen Formen des guten Lebens verhält, kann
es von jedermann anerkannt werden. Und das Recht verhält sich neutral gegenüber den unterschiedlichen Formen des guten Lebens, wenn es seine von Natur aus für alle Mitglieder der Rechtsgemein-
schaft bindenden Normen unabhängig von kontroversen ethischen
Normen und Grundannahmen sowie vor allem unabhängig von besonderen Idealen des »eigentlich menschlichen Lebens« begrün-
den kann. Dabei ist zu bemerken, daß die hier geforderte Neutralität in erster Linie eine begründungsbezogene Neutralität ist und nicht auch die kontingenten Auswirkungen der Implementierung der betroffenen Norm auf die Entfaltungsmöglichkeiten der einzelnen Formen des guten Lebens mit einschließt. Die Begründung einer biorechtlichen Norm muß von den Anhängern der unterschiedlichen bioethischen Positionen rational nachvollziehbar und akzeptierbar sein. Wo dies nicht der Fall ist, wird
gültig) behandelt werden können. Und wenn mehrere solcher Normen das biorechtliche Normensystem bilden, dann wird die Legitimität dieses gesamten Systems in Frage gestellt sein. Insofern
in einer pluralistischen liberalen Demokratie die Legitimität nur noch verfahrensbezogen definiert werden kann, muls auch das Biorecht einen großen Wert auf die Entscheidungsfindungsverfah-
ren legen, und zwar sowohl auf die Verfahren, in denen über
biorechtliche Normen entschieden wird, als auch auf die Vertahren, die durch biorechtliche Normen institutionalisiert werden. 3 Hierzu besonders Rawls (1994).
282
2. Drei Fragen Aus dem eben Gesagten dürfte klar hervorgehen, daß in unserer jetzigen liberalen Demokratie die Übersetzung bioethischer in biorechtliche Normen nicht selbstverständlich ist. Die Vielfalt der bioethischen Positionen und die Tiefe der Dissense zwischen diesen Positionen scheinen eine Übersetzung bioethischer Uberzeugungen in Biorecht nicht nur äußerst schwer, sondern vielleicht sogar unmöglich zu machen. Jede solche Ubersetzung scheint nämlich dem Vorwurf der Willkür ausgesetzt zu sein, da man sich sehr leicht vorstellen kann, daß eine beliebige bioethische Position P die rechtliche Implementierung der Normen einer bioethischen Position Q als illegitim ansehen wird. Die rechtliche Implementierung bioethischer Normen stellt die liberale Demokratie vor eine Reihe von prinzipiellen Fragen. Im Rahmen dieses Beitrags sollen nur einige dieser Fragen herausgegriffen und andiskutiert werden. Genauer sollen drei große Fragen zurückbehalten werden. (1) Die erste dieser drei Fragen betrifft, um den Titel eines Werkes Wilhelm von Humboldts aufzugreiten, die »Grenzen der Wirksamkeit des Staates« bezüglich der Angelegenheiten, die in der Bioethik diskutiert werden. Dabei läßt sich diese erste Frage in zwei Untertragen aufgliedern. Erstens wäre zu fragen, inwiefern ein liberaler Staat überhaupt ein Recht hat, jene Bereiche menschlichen Handelns rechtlich zu regulieren, mit denen sich die Bioethik betaist. Darunter fällt z. B. die Regulierung von Methoden künstlicher Befruchtung, von Euthanasieentscheidungen oder von Abtreibungsabsichten.* Fällt ein solches Handeln nicht sehr oft in den privaten Entscheidungsbereich der Individuen, also in jenen Bereich, in dem staatliche Eingriffe - bzw. Eingriffe eines liberalen
Staates - nicht zulässig sind und wo allein die ethischen Standpunkte der Betroffenen für die Entscheidungsfindung ausschlaggebend sein sollen? Wie weit darf der liberale Staat den privaten
Entscheidungsbereich »kolonisieren«, ohne zu einem totalitären
Staat zu werden? Ab wann werden vorpolitische - »natürliche« -
Rechte des Individuums verletzt? Zur angemessenen Beantwortung dieser Frage bedürfte es einer ausgearbeiteten Theorie der vorpolitischen subjektiven Rechte. Aus ihr wäre dann abzuleiten, 4 Zum letzteren siehe besonders die Einleitung von Kettner 1998.
283
welche bioethischen Entscheidungen vollkommen dem Individuum überlassen werden müssen. »Vollkommen« meint hier,
daß das Individuum keine biorechtliche Norm in seinen abwägenden Überlegungen zu berücksichtigen braucht. Zweitens müßte aber auch gefragt werden, inwiefern ein liberaler Staat eine Pflicht haben kann, jene Bereiche menschlichen Handelns zu regulieren, mit denen sich die Bioethik befaßt. Gefährdet
dieses Handeln nicht sehr oft fundamentale Rechtsgüter, verletzt es nicht manchmal Rechtszwecke, und ist es nicht die Aufgabe des Staates, auch des liberalen Staates, diese Rechtsgüter und Rechtszwecke zu schützen? Hier bräuchte man eine ausgearbeitete Theorie des liberalen Staates. Aus ihr wäre abzuleiten, welche für die unterschiedlichen Bioethiken relevanten Prinzipien ein liberaler
Staat nicht nur schützen darf, sondern sogar schützen muß, und inwiefern er, um dies zu erreichen, in den privaten Entscheidungs-
bereich der Individuen eingreifen dart, indem er biorechtliche Normen aufstellt, welche die Individuen nolens volens als einen zusätzlichen, ihre Entscheidung mitbestimmenden Faktor berücksichtigen werden. Man könnte also fragen, inwiefern der liberale Staat sich mit den
ihm eigenen rechtlichen Regulierungsmechanismen aus bestimmten Bereichen heraushalten muß, und inwiefern er eine Pflicht hat,
diese Mechanismen in anderen Bereichen einzusetzen. Wie sie hier gestellt wird, bezieht sich diese erste Frage nur auf das
Prinzipielle, und nicht auf kontingente Überlegungen für oder wider eine staatliche Regulierung. Gefragt wird also z.B., ob es mit den Prinzipien und Pflichten einer liberalen Demokratie vereinbar ist, wenn der Staat einen Bereich X rechtlich reguliert bzw.
eine solche Regulierung unterläßt. Neben diesen prinzipiellen Überlegungen gibt es selbstverständlich auch noch politische Klugheitsüberlegungen oder Überlegungen rechtstechnischer Na-
tur. So könnte etwa auf eine rechtliche Regulierung verzichtet werden, weil ihre Einhaltung sich nur schwer nachprüfen und deshalb praktisch kaum durchsetzen läßt. Es hätte keinen oder doch wenig Sinn, eine im Rahmen einer Präimplantationsdiagnostik (PID) durchgeführte embryonale Geschlechtsbestimmung zu verbieten, wenn man genau weiß, daß man nicht nachprüfen kann,
ob die Arzte sich an das Verbot gehalten haben oder nicht. Daraus folgt aber noch nicht, daß es einem liberalen Staat auch unerlaubt ist, ein solches Verbot rechtlich zu verankern. Ein anderer Grund 284
wären die möglichen »Nebenwirkungen« einer - zu strengen rechtlichen Regulierung, wie sie z. B. im Hinblick auf die ursprüngliche Fassung des Paragraphen 218 StGB festgestellt wurden. Oder es könnte auf eine Regulierung verzichtet werden, weil
sie nicht mit den vorherrschenden moralischen Ansichten der Bevölkerung in Einklang stehen würde bzw. den Mehrheitsparteien bei den nächsten Wahlen Stimmenverluste einbringen würde.
Auch wenn einige dieser Fragen wichtig sind und gestellt werden müssen - etwa Fragen der Effizienz und der »Nebenwirkungen« einer rechtlichen Regulierung -, sollten doch zunächst die prinzi-
piellen Fragen gestellt und beantwortet werden. (2) Eine zweite große Frage betrifft die Rechtsebenen, auf denen
eine rechtliche Regulierung stattfinden soll. Mit dem Begriff »Rechtsebene« soll hier zweierlei gemeint werden. Erstens ist zu
fragen, auf welche rechtlichen Mittel ein liberaler Staat zurück-
greifen darf, um jene Bereiche zu regulieren, mit denen sich die
Bioethik befaßt. Darf er hier nur auf ein zivilrechtliches Instrumentarium zurückgreifen, oder kann auch, zumindest in einigen Fällen, auf das Strafrecht zurückgegriffen werden? Werden nur zivilrechtliche Mittel gebraucht, dann stellt der Staat zwar die Regeln auf, aber nachdem er dies getan hat, zieht er sich sozusagen
zurück - sieht man einmal ab von den Richtern, die zwischen den
Interessen und Ansprüchen der Bürger zu vermitteln haben. Wird aber das Strafrecht eingesetzt, dann kann der Staat selbst zu einer
Partei im Prozeß werden und selbst die Initiative ergreifen. Der
Staat kann in seiner Regulierung aber auch über das Zivil- und Stratrecht hinausgehen bzw. einen allgemeineren Hintergrund für die zivil- oder strafrechtlichen Normen aufstellen. Das tut er, wenn
er bioethische Fragen im Rahmen des Verfassungsrechts rechtlich
zu regulieren versucht. Auf den allgemeinen Normen dieser verfassungsrechtlichen Regulierung ließen sich dann konkrete bio-
rechtliche Normen des Zivil- oder Strafrechts begründen.
Auch in diesem Fall muß zwischen den prinzipiellen und den § Ich verwende die Bezeichnung ›Bioethik‹ hier in einem weiten Sinne, in dem sie sich mit Medizinethik, Tierethik und einigen Fragestellungen der ökologischen Ethik überschneidet, ohne doch mit diesen Bereichsethiken zusammenzufallen. In einem terminologisch engeren Sinne wären alle moralisch irritierenden Fragestellungen zur Bioethik zu rechnen,
die unseren Umgang mit (menschlichem und nichtmenschlichen) lebendigen Organismen betreffen. 285
pragmatischen Fragen unterschieden werden. Denkbar ist, daß eine strafrechtliche Regulierung am effizientesten ist bzw. dal sie, aus welchem Grund auch immer, von einer großen Mehrheit der Bevölkerung gutgeheißen wird. Doch damit ist noch nicht gesagt, ob die bei dieser Regulierung eingesetzten Mittel - und vor allem: angesichts der Besonderheiten des regulierten Bereichs auch mit den Prinzipien einer liberalen Demokratie in Einklang zu bringen sind.
»Rechtsebene« soll hier aber auch noch in einem zweiten Sinne verstanden werden, und zwar so, daß der Begriff mit »Rechtsquelle« gleichgesetzt werden kann. Auch wenn in einer liberalen Demokratie der Souverän bzw. sein demokratisch legitimierter Vertreter, das Parlament, die erste und absolute Rechtsquelle
sein soll, so kann doch nicht geleugnet werden, daß auch die Regierung und die ihr unterstehenden Verwaltungen einerseits, die Richter andererseits, an der Ausgestaltung des Rechtssystems
mitbeteiligt sind. Besonders im Fall des Biorechts muß festgehalten werden, daß es während Jahren den Richtern oblag, die vom Gesetzgeber offengelassenen Lücken (zumindest provisorisch) auszufüllen. Die hier aufgeworfene Frage stellt sich selbstverständlich nicht nur für die rechtliche Ubersetzung bioethischer Normen. Doch die Reflexion über die einer liberalen Demokratie angemessene rechtliche Lösung bestimmter bioethischer Fragen verlangt auch eine spezitische Auseinandersetzung mit der frage,
wem eine rechtliche Regulerung überlassen werden soll, wobei
man die Besonderheiten der Biotechnologien und der Reproduk-
tionstechnologien mitberücksichtigen muß. Und auch hier sollten
die prinzipiellen und die pragmatischen Fragen wieder sauber voneinander unterschieden werden. Sieht man über die rein nationale Ebene hinaus, so wäre zu fragen,
ob die Ausgestaltung des Biorechts ausschließlich den nationalen
Parlamenten überlassen werden sollte, oder ob hier etwa EURichtlinien den nationalen Parlamenten der EU-Staaten allgemeine Ziele vorgeben bzw. sogar den einzelnen Mitgliedstaaten in allen Punkten bindende EU-Verordnungen den nationalen Parlamenten konkrete Vorgaben oktroyieren sollen. Auch wenn alle augen-
blicklichen EU-Staaten liberale Demokratien sind, so sind sie es
doch in unterschiedlichem Maße. Ihre Auffassungen über die »Natur« der liberalen Demokratie differieren. In Brüssel verabschiedete Texte müssen nicht immer mit dem liberalen und demo-
286
kratischen Selbstverständnis einzelner Mitgliedstaaten übereinstimmen, so daß durch eine Verstärkung der Macht der Brüsseler Kommission, vor allem was die rechtliche Regulierung bioethi-
scher Fragen betrifft, Konflikte zwischen der Kommission und
einzelnen Mitgliedstaaten entstehen können. Auch wenn solche Konflikte ebentalls bezüglich vieler anderer Fragen entstehen können, müssen sie doch für die rechtliche Regulierung der Bio-
ethik gesondert diskutiert werden. (3) Die dritte Frage, die hier aufgeworfen werden soll, ist eine legitimationstheoretische Frage. Wenn bioethische Fragen recht-
lich reguliert werden, dann muß diese rechtliche Regulierung begründet werden. Und zwar muß erstens begründet werden, daß eine rechtliche Regulierung überhaupt zulässig oder sogar notwendig war. Diese Begründung geschieht im Kontext der ersten der drei hier aufgeworfenen Fragen. Zweitens muß begründet
werden, warum eine Rechtsebene X einer Rechtsebene Y, und warum eine Rechtsquelle A einer Rechtsquelle B vorgezogen wurde. Diese Begründung geschieht im Kontext der gerade eben dargestellten zweiten Frage. Drittens muß aber auch der Inhalt der rechtlichen Regulierung begründet werden. So muß z. B. begründet werden, warum man im Falle der Abtreibung diese nur innerhalb der drei ersten Monate zuläßt und auch dann nur, wenn die abtreibungswillige Frau sich vorher in einem Gespräch über alle
möglichen Alternativen zur Abtreibung informiert hat. Auch
wenn diese Begründung des spezifischen Inhalts der rechtlichen Regulierung in einigen - und vielleicht sogar in vielen - Fällen zum Teil schon durch die zwei eben erwähnten Begründungen »vorentschieden« wurde, so muß doch die Frage nach der Begründung des konkreten Inhalts separat gestellt werden. Auch wenn Einigkeit darüber besteht, daß der liberale Staat einen bestimmten Bereich der Bioethik rechtlich regulieren darf oder sogar muß, muß noch lange kein Konsens darüber bestehen, wie - und das »wie« betrifft hier den Inhalt, und nicht die Form oder die Prozeduren diese rechtliche Regulierung aussehen soll. Das hängt zu einem großen Teil damit zusammen, daß kein Konsens über die Begründungskriterien einer angemessenen Ausgestaltung besteht. Soll die konkrete Ausgestaltung des Biorechts sich nur an allgemeinverbindlichen moralischen Prinzipien einer Prinzipien- oder Rechtsethik orientieren? Oder kann sie auch auf Elemente einer Wertethik zurückgreifen? Vielleicht sogar auf eine
287
individuell oder kollektiv orientierte Vollkommenheits- oder
Glückseligkeitsethik? Inwiefern dart sich die rechtliche Regulierung bioethischer Fragen von sozialutilitaristischen Überlegungen beeinflussen lassen, wie sie oft den Entscheidungen des Parlaments oder der Regierung zugrunde liegen?
3. Die Legitimation von rechtlichen Einschränkungen bei bioethischen Fragen Insofern sie die individuelle Handlungsfreiheit - und die Entscheidungsfreiheit gehört dazu - einschränken, bedürfen biorechtliche Normen einer Rechtfertigung. Diese Rechtfertigung mul besonders gegenüber denjenigen gesellschaftlichen Gruppen geltend gemacht werden, die von der rechtlichen Regulierung in ihrem Handeln betroffen sind, und sie muß besonders zwei Bedingungen erfüllen. Die beiden Bedingungen hängen eng zusammen, können aber unterschieden werden. Erstens muß die Begründung auch für diejenigen einleuchtend und
akzeptierbar sein, die durch die Handlungseinschränkungen direkt betroffen sind. Zweitens müssen die für die Begründung in Anspruch genommenen Inhalte (Gründe) auch stark genug sein, um die ihr entgegengehaltenen Interessen und Rechte zu »übertrumpfen«. Diese Interessen und Rechte werden nicht nur geltend gemacht, um den Inhalt einer bestimmten Regulerung in Frage zu stellen, sondern auch, um einen staatlichen Eingriff als solchen zu bekämpfen. Im folgenden sollen drei gesellschaftliche Gruppen angeführt wer-
den, die durch eine rechtliche Regulierung bioethischer Fragen betroffen sein können. Es handelt sich um die Unternehmer, die Wissenschaftler und die Bürger qua »Konsumenten«. Bei jeder dieser Gruppen wird zu untersuchen sein, was sie einer ihre Hand-
lungsmöglichkeiten einschränkenden rechtlichen Reguherung entgegenzuhalten hat.*
Die Wissenschaftler können sich in erster Linie auf ein ihnen
verfassungsmäßig anerkanntes Recht und auf eine, ihnen zumin-
dest implizit, nämlich gesellschaftlich aufgebürdete Pflicht berufen, um sich gegen eine rechtliche Regulierung bioethischer Fragen 6 Hierzu auch Campagna (199 5a).
288
zu wehren und um eine vollständige Entscheidungsautonomie in
diesen Fragen für sich zu beanspruchen. Das Recht, auf das sich die Wissenschaftler berufen können, ist das Recht auf Forschungstrei-
heit? Dieses Recht wird von ihnen so interpretiert, daß es dem Staat - direkt, oder durch ein von ihm eingesetztes Kontrollorgan verbietet, über die Ziele und die Modalitäten der wissenschaftlichen Forschung zu bestimmen. Die Entscheidungen betreffend
Ziele und Modalitäten der Forschung sollen einzig und allein den Wissenschaftlern überlassen werden. Dabei wird sehr oft auf das Verantwortungsgefühl der Wissenschaftler hingewiesen, so daß nicht nur behauptet werden kann, daß der Staat kein Recht hat, die Forschung einer biorechtlichen Normierung zu unterwerfen, sondern auch, daß eine solche Regulierung überhaupt nicht notwendig ist. Die Wissenschaftler werden des weiteren darauf aufmerksam machen, daß sie gegenüber der Gesellschaft, zumindest
implizit, verpflichtet sind, die Verbesserung der Lebensbedingungen und der allgemeinen Gesundheit voranzutreiben und daß dies nur gelingen kann, wenn sie frei forschen können.
Was die Unternehmer betrifft, so werden sie vor allem auf die ihnen verfassungsmäßig zuerkannte Wirtschaftstreiheit hinweisen,
sowie auf ihre ökonomischen Interessen, die sie zu verteidigen haben, und die auch für das gesamte Land von Bedeutung sein können. So werden sie sich z. B. gegen ein Verbot der Patentierung von Tieren (oder menschlichen Genen) wehren,® wenn sie fürchten, dadurch im internationalen Konkurrenzkampf Wettbewerbs-
nachteile zu erleiden. Wie vehement der Kampf der Industrie gegen eine - strikte - rechtliche Regulierung bioethischer Fragen geführt werden kann, hat in Deutschland die zu Beginn der goer Jahre durchgeführte Pro-Gentechnik Kampagne gezeigt. Die dritte Gruppe, der gegenüber eine rechtliche Implementierung bioethischer Normen begründet werden muß, sind die Bürger und Bürgerinnen, die auf die von den Wissenschaftlern entwickelten und von den Unternehmern oder Medizinern angebotenen Produkte und Vertahren zurückgreifen können und wollen. Genauso wie die Wissenschaftler und Unternehmer können auch sie Grundrechte geltend machen, um sich gegen bestimmte rechtliche Re7 Siehe hierzu besonders die Aufsätze von Markl, Lenk, Mohr und von Weizsäcker, im Sammelband von Lenk (1991). 8 Dazu Campagna (1996c).
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gulierungen zur Wehr zu setzen. So konnen sie z. B. auf das ihnen in der Verfassung zuerkannte Recht auf Gesundheit verweisen, um gegen eine restriktive Regulierung der Gentherapie zu protestieren. Eine den Zugang zu reproduktionsmedizinischen Behandlun-
gen (wie der künstlichen Befruchtung) erschwerende rechtliche Norm kann durch Rückgriff auf das Recht auf Kinder und auf eine freie Wahl bei der Familienplanung in Frage gestellt werden?
Die eben erwähnten Rechte sind vor allem Abwehrrechte, d. h.
Rechte, mit denen man sich gegen mögliche Übergriffe, in diesem Fall rechtliche Übergriffe, der öffentlichen Macht wehren kann.
Doch werden in der zeitgenössischen Diskussion nicht nur Abwehrrechte, sondern auch Anspruchsrechte geltend gemacht, und zwar besonders von seiten der Bürger. Insofern man Sterilität als Krankheit betrachtet, wird mit dem Rückgriff auf das Recht auf Gesundheit z. B. die Rückzahlung bestimmter reproduktionsmedizinischer Eingriffe durch die Krankenkassen verlangt. In diesem Kontext muß darauf hingewiesen werden, daß die Bürger ihre Rechte nicht nur gegen die rechtlichen Regulierungen durch den Staat geltend machen, sondern manchmal eine rechtliche Regulierung herbeiwünschen - und damit den liberalen Staat
an seine Pflichten erinnern -, man denke nur an den Fall der
Kennzeichnung genetisch manipulierter Lebensmittel. In solchen
Fällen kann es zu Konflikten zwischen den Interessen der Indu-
strie und denjenigen der Bürger kommen, wobei es dem Gesetzgeber obliegt, die sich gegenüberstehenden Interessen gegenein-
ander abzuwägen und dieser Abwägung entsprechend eine rechtliche Normierung vorzuschlagen. In einer liberalen Rechtsgemeinschaft ist es eine der Hauptfunktionen des Rechts, Konflikte autoritativ zu lösen, indem die Gren-
zen der Freiheitsräume der sich gegenüberstehenden Parteien
durch ein Gesetz bzw. durch eine richterliche Gesetzesinterpretation festgelegt werden. Das Recht soll bestimmen, wo »meine Freiheit anfängt« und wo demnach »die Freiheit des Anderen aufhört«, wobei der Andere sowohl eine privat-, wie auch eine öffentlich9 Siehe hierzu die Aufsätze »The Constitutional Aspects of Procreative Liberty« und »The moral right to reproduce and its limitations« in Hull (1990). Als Kollektivautor fungiert das Ethics Committee of the American Fertility Society. Siehe auch Delaisi de Parseval und Janaud (1983), Baudouin und Labrusse Riou (1987) und Testart (1990).
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rechtliche Person sein kann. Gäbe es keine Konflikte, so wäre das Recht weitgehend überflüssig. So fußt auch die Notwendigkeit des Biorechts in der Notwendigkeit, bestimmte Konflikte rechtlich zu regulieren. Diese Konflikte können sehr unterschiedlicher Natur sein. Man denke nur an Konflikte bei der post mortem-Befruchtung bei nicht vorliegenden testamentarischen Bestimmungen des Verstorbenen oder an Konflikte beim »Überlassen« von Kindern im Kontext der Leihmutterschaft, oder an die schon erwähnten Konflikte bei der Kenntlichmachung genetisch manipulierter Lebens-
mittel. Die Lösung dieser Konflikte muß über den Weg einer recht-
lichen Implementierung bioethischer Forderungen geschehen. Man kann sie nicht den mehr oder weniger informellen gesellschaft-
lichen Regulierungsmechanismen überlassen, auch wenn das die mit der rechtlichen Implementierung bioethischer Forderungen notwendigerweise auftretenden Probleme vermeiden würde.
4. Standesethik und persönliche Moral Blickt man auf die Geschichte der Gentechnologie zurück, so stellt man fest, daß die erste Regulierung - die im Rahmen der Asilomar-
Konferenz festgelegt wurde - eine rein standesethische Regulierung war. Die in Asilomar versammelten Wissenschaftler erlegten sich selbst Einschränkungen auf, um über die mit den neuartigen mikrobiologischen Verfahren entstehenden Risiken reflektieren und ihren in ihrer Forschungspraxis angemessen Rechnung tragen zu können. Auch später bekundeten Wissenschaftler immer wieder ihre sittliche Verantwortung. Daß einige von ihnen diese Bekundungen ernst nahmen, soll hier nicht angezweifelt werden. Es soll aber auch nicht verschwiegen werden, daß einige sich erhoff-
ten, durch eine solche öffentliche Bekundung einer - in ihren Augen heteronomen und somit untragbaren - rechtlichen Regulierung zu entgehen. Initiativen auf der Ebene von Standesethiken mögen lobenswert sein. Festzuhalten ist aber die immer nur begrenzte Wirksamkeit standesethischer Prinzipien.lº Auch wenn sie es möglich machen, ihnen zuwiderhandelnde Mitglieder der institutionalisierten scien1o Kritische Stellungnahmen zu den Grenzen der Standesethik finden sich z. B. bei Brunner (1990), Campagna (1996b) und Misrahi (1995).
291
tific community zu sanktionieren - etwa durch Kürzung der For-
schungsgelder oder (in schlimmen Fällen) Ausschluß aus dem öffentlichen Forschungs- und Lehrbetrieb -, so sind sie relativ um nicht zu sagen absolut - machtlos gegenüber denjenigen Wissenschaftlern, die für die Privatindustrie arbeiten. Bei diesen konkurrieren die standesethischen Prinzipien mit den privatwirtschaftlichen Optimierungsprinzipien des Betriebs, für den sie arbeiten. Dabei belegen die standesethischen Prinzipien meistens (oder immer?) nur den zweiten Platz. Wirksam können diese Prinzipien erst dann werden, wenn sie in biorechtliche Normen übersetzt werden, denn diese sind für die Forscher in öffentlich-rechtlichen und in privatrechtlichen Betrieben gleichermaßen bindend Was den von vielen Wissenschaftlern gemachten Hinweis auf das Recht auf Forschungsfreiheit betrifft, so ist zu bemerken, dals
dieses Recht nicht absolut gilt und daß es, wie jedes Grundrecht
übrigens, denjenigen auch verpflichtet, der es in Anspruch nimmt." Insofern öffentliche Forschung öffentliche Gelder ver-
zehrt, kann der Wissenschaftler, der in einer öffentlichen Forschungsanstalt Forschung betreibt, sich nicht absolut einer gesell-
schaftlichen Kontrolle seiner Forschungstätigkeit widersetzen. Außerdem muß die von ihm durchgeführte Forschung auf ihre Vereinbarkeit mit den übrigen Grundrechten überprüft werden. Wer ein Grundrecht in Anspruch nimmt, erkennt damit auch
implizit alle anderen Grundrechte an und verpflichtet sich implizit dazu, jede Handlung zu unterlassen, welche die Kultur der Grundrechte gefährden könnte. 12 Insofern aber diese Kultur ein Gemeingut ist, das allen Mitgliedern der Gemeinschaft gehört, muß der Wissenschaftler sich vor ihnen verantworten.
Forschungsfreiheit kann nicht heißen, daß der Wissenschattler II Jonas stellt zu recht fest, daß die Forschungsfreiheit heute vor einem
anderen wissenschaftspraktischen Hintergrund eingeklagt wird, als
dies noch vor 400 Jahren der Fall war: »Das Postulat der Forschungsfreiheit war aber wesentlich gegründet auf der klaren Unterscheidbarkeit zwischen Erkennen und Tun, Erwerb und Gebrauch der Wahrheit, reinem und angewandtem Wissen, kurz: Theorie und Praxis« (onas 1994, 5. 164). Im heutigen Wissenschaftsbetrieb sind Erkennen und Tun nicht mehr klar voneinander zu unterscheiden. Das Erkennen geschieht durch Eingreifen in die Wirklichkeit und ist meistens auch schon auf eine praktische Umsetzung ausgerichtet.
12 Dazu Campagna (1996d).
292
alles tun kann, was er will. Forschungsfreiheit heißt nur, daß
niemand dem Wissenschaftler vorschreiben kann, was als Wahrheit zu gelten hat bzw. welche Forschungsmethode die beste ist, um in
einem bestimmten Bereich zur Wahrheit zu gelangen. Die partikulare Inanspruchnahme eines Grundrechtes muß diskursiv legi-
timierbar sein. Und somit verweist die Inanspruchnahme des Rechts auf Forschungsfreiheit auf die diskursive Gemeinschaft, in der erst diesem Recht ein positiver Inhalt gegeben werden
kann.
Eine ähnliche Bemerkung gilt, wenn ein Wissenschaftler darauf hinweist, daß er implizit dazu verpflichtet ist, die Lebensbedingungen der Menschen und ihre Gesundheit zu verbessern. Auch wenn es eine solche Verpflichtung gibt, so sind es doch letzten Endes diejenigen, die von ihr profitieren - also die Bürger -, die über ihre konkrete Ausgestaltung und vor allem über ihre Grenzen zu bestimmen haben. Die Wissenschaftler sind nicht nur dazu verpflichtet, die Lebensbedingungen und die Gesundheit der Menschen zu verbessern, sondern sie unterliegen auch der Pflicht, die
Entscheidungsmechanismen, in denen über diese Verbesserungen entschieden wird, transparenter und demokratischer zu machen. Was für die Forschungsfreiheit der Wissenschaftler gilt, gilt auch
für die Wirtschaftsfreiheit der Unternehmer. Es ist kaum anzunehmen, dals Unternehmer sich an selbstauferlegte bioethische
Forderungen halten werden, wenn ein solcher Respekt sich ge-
schättsschädigend auswirkt. Auch hier muß also das Biorecht autoritativ Einschränkungen auferlegen und der Bioethik zu Hilfe kommen, wo diese über keine genügend motivierende Kraft mehr
verfügt - und wo dadurch gesellschaftliche Konflikte entstehen können. Für das Recht auf Wirtschaftsfreiheit gilt auch, daß es denjenigen verpflichtet, der es in Anspruch nimmt. Ein legitimer Gebrauch dieses Rechts kann auch nur im Rahmen der gesellschaftlichen Diskurse definiert werden. Die Inanspruchnahme des Rechts auf Wirtschaftsfreiheit verpflichtet dazu, die Entscheidungen über den Gebrauch dieses Rechts transparenter und demokratischer zu gestalten. Auch im Falle der Bürger hat eine rein bioethische Regulierung nur eine sehr geringe Wirkung. Angesichts vieler zum Teil irrationaler und unreflektierter Wünsche, wird der motivierende Einfluß moralischer Normen auf das Handeln schnell außer Kraft gesetzt. Dadurch wird für viele alles Mögliche zum (scheinbar) Erlaubten. 293
Unter diesen Umständen sind irrationale Entscheidungen und
Mißbrauch der zur Verfügung stehenden Möglichkeiten nicht aus-
zuschließen. 13 Dabei liegt das Problem nicht immer in einem Aspekt einer einzelnen Handlung - gegen die als solche oft nichts einzuwenden sein mag -, sondern im kumulativen Effekt der vielen einzelnen Handlungen. Hundert in-vitro-Befruchtungen jährlich sind nicht unbedingt problematisch, wohl aber hunderttausend. Ein unreflektierter Umgang mit den neuen Möglichkeiten kann sich vielleicht auf bestimmte Grundrechte berufen, doch gilt
auch hier, daß dieser legitimierende Rückgriff auf die Grundrechte zu einem verantwortungsbewußten Umgang mit dem in Anspruch genommenen Grundrecht verpflichtet. Wo die Bürger sich diese Verpflichtung in bioethischen Fragen nicht mehr selbst auferlegen,
muß ihr Handeln einer biorechtlichen Regulierung unterworfen werden, die bestehende Konflikte möglichst lösen und zukünftigen Konflikten entgegenwirken kann. Aus diesen Überlegungen ergibt sich, daß auch ein liberaler Staat das Recht und sogar die Pflicht hat, bioethische Forderungen in biorechtlichen Normen zu implementieren. Insofern eine bioethische Regulierung allein nicht mehr stark genug ist, um das Aufkommen von Konflikten zu unterbinden, muß das Biorecht einen Rahmen schaffen, innerhalb dessen die möglichen Konflikte einer
für alle Mitglieder der Rechtsgemeinschaft bindenden Lösung
zugeführt werden können. Dabei wird eine Einschränkung der Ausübung bestimmter Grundrechte in Kauf genommen werden müssen, und zwar immer dann, wenn durch die uneingeschränkte Ausübung eines solchen Grundrechts die Kultur der Grundrechte und die demokratische Grundstruktur der Gesellschaft selbst ge-
fährdet sind. Insofern die Wissenschaftler, die Unternehmer und
die Bürger Grundrechte in Anspruch nehmen, müssen sie zulassen, daß ihre jeweilige Ausübung der betreffenden Grundrechte derart eingeschränkt wird, daß sie die Kultur der Grundrechte, die
ihnen die Inanspruchnahme der Grundrechte erst möglich macht,
nicht gefährdet. Die jeweiligen Einschränkungen finden ihren Niederschlag im Biorecht der jeweiligen Rechtsgemeinschaft. Eine der zentralen Aufgaben eines solchen Biorechts besteht darin,
Institutionen und Prozeduren zu schaffen, die einen verantworI3 Hierzu vor allem Testart (1986) und Testart (1992). Letzteres Buch wird diskutiert in Campagna (1993).
294
tungsvollen Umgang mit den in Anspruch genommenen Grundrechten ermöglichen.
5. Biorecht als Richterrecht Wenn wir an das Recht denken, so denken wir in erster Linie an die vom Parlament verabschiedeten Gesetze oder an die Verordnungen der Regierung und der ihr unterstehenden Verwaltungen. Gesetze und Verordnungen zu bioethischen Fragen fehlten allerdings weitgehend, als sich die moderne Reproduktionsmedizin und die Gen-
technologie in den 7oer Jahren zu entwickeln begannen und die ersten Konfliktesich abzeichneten. Solange auf beiden Gebietennur Grundlagenforschung betrieben wurde, war das Fehlen eines Biorechts noch erträglich. Unerträglich wurde dieses Fehlen aber, als
die Grundlagenforschung sich zur angewandten Forschung entwickelte und als die »Produkte« der Forschung den »Konsumenten« auf dem Markt angeboten wurden. Hier tauchten die ersten Konflikte auf, die ersten Fragen, wer in einer bestimmten Situation X dazu verpflichtet werden sollte, seine Freiheit einzuschränken. Ein angemessenes Instrumentarium zur Lösung dieser Konflikte stand allerdings damals nicht zur Verfügung, sondern wurde erst im Laufe der Jahre geschaffen, oft als Antwort auf ganz konkrete
Probleme, die man nicht länger in einem rechtlichen Vakuum
schweben lassen konnte. Die Aufgabe, das rechtliche Vakuum zu füllen und damit die jeweiligen Freiheitsräume zu bestimmen, übernahmen zunächst die Richter, deren Rechtsprechung später zu
einem großen Teil von den nationalen Parlamenten in die demokratisch verabschiedete Gesetzgebung übernommen wurde. Das Problem der rechtlichen Umsetzung bioethischer Forderungen stellte sich also zunächst konkret den Richtern, was zu zwei demokratietheoretischen Einwänden Anlaß geben könnte. Auch wenn sie eng zusammenhängen, so sollen sie doch hier aus analytischen Gründen separat erwähnt werden. Zunächst wäre einzuwenden, daß das Richterrecht im Vergleich zum parlamentarischen Recht »demokratiedefizitär« ist, insofern die Parlamentarier von den Bürgern gewählt werden, nicht aber die Richter. Dieser erste Einwand ist eher prozeduraler Natur. Dann wäre einzuwenden,
daß sich im richterlichen Biorecht die bioethischen Ansichten des jeweiligen Richters ausdrücken, so daß der Rechtsgemeinschaft die 295
bioethischen Ansichten einer einzelnen Person aufgezwungen werden. Dieser zweite Einwand ist eher substantieller Natur.
Folgt man dem Rechtsphilosophen Ronald Dworkin, so gilt: »Jurisprudential issues are at their core issues of moral principle. «14 Mit anderen Worten: die Rechtsfortbildung im Rahmen der Jurisprudenz geschieht immer durch Bezugnahme auf moralische Kategorien. Somit stellt sich für das Richterrecht unweigerlich die Frage, auf welche bioethischen Kategorien der Richter sich beziehen soll, wenn er eine bioethische Frage rechtlich vorzuentscheiden hat. Dabei ist zu berücksichtigen, daß die Kategorien, auf die sich der Richter bezieht, nicht unbedingt spezifisch für die Bioethik sein müssen. Meistens handelt es sich um allgemeine Kategorien, auf die im Rahmen der bioethischen Problemdiskussion zurückgegriffen werden kann, um den auftretenden Problemen eine bestimmte Lösung zu geben. Dies gilt z. B. für die Kategorie der Autonomie oder die der Menschenwürde. In seinem Aufsatz »Hard Cases« macht Dworkin einen Unter-
schied zwischen den tatsächlichen, mehrheitlich akzeptierten moralischen Überzeugungen einer bestimmten politischen Gemeinschaft (»community's morality«) und den moralischen Uberzeugungen, die sich in der Verfassung dieser Gemeinschaft ausdrückt (»community's constitutional morality«). Diese kann unabhängig von jener definiert werden.! Dworkin weist darauf hin, dais nur
die in der Vertassung implizit enthaltene politische Moral die richterliche Rechtsfortbildung beeinflussen darf. Ausgeschlossen ist damit sowohl eine willkürliche Orientierung des Richters an seinen eigenen, idiosynkratischen Ansichten wie auch eine Orientierung an der »herrschenden Moral«. Wenn die Moral in der Verfassung in den Vereinigten Staaten auch
in erster Linie eine Prinzipien- oder Rechtsethik ist - die sich vor allem in den Zusätzen (»amendments«) der Vertassung ausdrückt -, so trifft das nicht unbedingt auf alle Länder zu. Dem deutschen Grundgesetz z. B. liegt eine Prinzipien- oder Rechtsethik ebenso wie eine Wertethik zugrunde. Der deutsche Gesetzgeber ist nicht nur dazu verpflichtet, bestimmte Rechte zu schützen, sondern auch bestimmte Werte zu verwirklichen.
14 Dworkin (1994, S. 7). Siehe auch Dworkin (1986) und Dworkin (1991) sowie Campagna (1996a, 1996e). Is Dworkin (1994, S. 126).
296
Auf den Unterschied zwischen Prinzipien bzw. Normen und andererseits Werten hat besonders Habermas aufmerksam gemacht. 16 Prinzipien besitzen eine absolute, Werte nur eine relative Verbindlichkeit. Gültige Prinzipien sind verallgemeinerbar, während Werte jeweils spezifische Auffassungen des guten Lebens
widerspiegeln, so daß ihnen in einer liberalen Demokratie nur sehr schwer, wenn überhaupt, eine allgemeinverbindliche Form
gegeben werden kann. Es entsteht somit ein sehr starkes Legitimationsbedürfnis, wenn ein Richter versucht, eine bioethische Wertethik aus der Moral in der Verfassung herauszudestillieren, um daraut sein Urteil zu gründen. In einer Demokratie müssen Wertfragen, um mit Höffe zu sprechen, im Rahmen sittlich-politischer
Diskurse entschieden werden und nicht autoritativ durch Richter. Die Gemeinschaft, nicht der Richter, muß darüber entscheiden, welche Werte, welche Formen des guten Lebens förderungswürdig sind. Dabei ist zu berücksichtigen, daß in einer liberalen Demo-
kratie das Recht nicht dazu mißbraucht werden darf, um eine
bestimmte Form des guten Lebens willkürlich zu bevorzugen. Bruce Jennings hat die in den westlichen Gesellschaften vorherrschende Kultur der Autonomie stark kritisiert, und zwar explizit
mit Bezug auf bioethische Entscheidungen.! Was Jennings mit dem Begriff »Autonomie« bezeichnet, sollte man lieber »Indivi-
dualismus« nennen. Es handelt sich nämlich um die heute weitverbreitete Tendenz, nur sich selbst und seine eigenen Interessen
vor Augen zu haben, wenn man eine Entscheidung zu tretten hat.
Auch wenn in der amerikanischen Gesellschaft kein Unterschied zwischen Autonomie und Individualismus gemacht wird, so sollte doch darauf hingewiesen werden, dals in der westlichen philosophischen Tradition der Begriff der Autonomie mit der Philosophie Kants in den Vordergrund gerückt wurde. Und bei Kant verweist
dieser Begriff immer auf etwas, das die eigenen Interessen des jeweiligen Individuums transzendiert, nämlich auf das allgemeine Gesetz, durch das man sich in seinem Handeln bestimmen läßt.
Was in einer Kultur der Autonomie bzw. des Individualismus verlorengeht, ist die Rücksicht auf die Gemeinschaft, auf das All-
16 Habermas (1992, dort besonders S. 311). Siehe hierzu auch Riedel (1979).
17 Jennings (1996). Siehe auch den Beitrag von Jennings im vorliegenden
Band.
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gemeine. Dabei ist nicht nur die nationale Gemeinschaft gemeint, sondern auch schon die Familie. Ein behinderter Jugendlicher, der,
sobald er großjährig ist, seine Eltern zwecks Schadensersatz vor Gericht zitiert, weil diese ihn nicht abtreiben wollten, obschon sie wußten, daß er mit einer Behinderung zur Welt kommen würde, nimmt keine Rücksicht auf die Familie qua Gemeinschaft. Er läßt diesen privaten Raum zu einem öffentlichen werden, indem er die Beziehungen zu seinen Eltern rechtlich mediatisiert. Er fragt sich nicht, inwiefern die Verfolgung seiner eigenen Interessen (oder dessen, was er dafür hält) die Gemeinschaft, in der er aufgewachsen
ist, und die ihm einen Halt bieten soll, gefährden kann. In der zeitgenössischen Kultur des Individualismus kommt es zu einer Inflation von Forderungen nach Anerkennung subjektiver Grundrechte. Ist etwas technisch machbar, so wird zunächst ein negatives Recht (»liberty right«) eingeklagt, überhaupt das tech-
nisch Machbare in Anspruch zu nehmen. Ist ein solches negatives Recht anerkannt, wird ein positives Recht (»claim right«) eingeklagt, das den Staat verpflichten soll, jedem die Möglichkeit zu geben, auf das technisch Machbare zurückzugreifen, indem er z. B. die Kosten der Inanspruchnahme übernimmt. Insofern die Richter durch ihre Rechtsprechung die Inflation von subjektiven Grundrechten mitproduziert haben, sollten sie sich fortan selbst beschränken, und zumindest die Anerkennung von neuen subjektiven Grundrechten mit bestimmten - vornehmlich prozeduralen - Verpflichtungen verbinden.18 Ganz abgesehen davon, daß eine Grundrechtsinflation die ursprünglichen, zentralen Grundrechte entwertet, kann sie auch zu einem Zusammenbruch der Kultur der Grundrechte führen.
Ein großer Vorteil des Richterrechts liegt darin, daß es dynamisch ist und daß es sich so den neuen Gegebenheiten ziemlich schnell anpassen kann. Auch wenn der Richter im Prinzip an die Präzendenzfälle und an die Gesetze gebunden ist, so kann er doch diese
Präzendenzfälle und Gesetze auf unterschiedliche Weisen konstruktiv interpretieren. Diese Interpretation darf sich allerdings
nicht nach den ethischen Auffassungen des Richters richten noch nach den ethischen Ansichten der »moralischen Mehrheit«. Thre Richtschnur sollte vielmehr die in der Verfassung unserer demoI8 Etzioni schlägt ein Grundrechtsmoratorium vor, um eine weitere Abwertung der Grundrechte zu vermeiden (Etzioni 1995).
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kratischen Rechtsstaaten implizit verankerte Auffassung von Demokratie sein. Das heißt, daß der Richter die Ausübung von neuen
subjektiven Grundrechten nur dann autorisieren darf, wenn die Demokratie durch diese Ausübung keinen Rückschlag erleidet. Meine Freiheit hört nicht nur da auf, wo die Freiheit des Anderen antangt. Sie hört auch da auf, wo das Grundgerüst, das sowohl die
Freiheit des Anderen wie auch meine Freiheit trägt, durch den Gebrauch der Freiheit zusammenzubrechen droht.
6. Die Parlamente und die rechtliche Regulierung bioethischer Fragen Wie wir weiter oben festgestellt haben, bestand das Biorecht lange (tast) nur in der Form von Richterrecht. Es sollte sich aber relativ schnell erweisen, daß ein ausschließliches Vertrauen auf das Richterrecht in vielen Fällen nicht befriedigend war. Einerseits ist das Richterrecht mit einer starken Rechtsunsicherheit verbunden, da unterschiedliche Gerichte - die nicht unbedingt, um mit Pascal zu sprechen, diesseits und jenseits der Pyrenäen tagen müssen -
gleichgestellte Fälle unterschiedlich beurteilen. Dies gilt nicht nur für die rechtliche Regulierung von bioethischen Fragen, wiewohl ber der rechtlichen Regulierung dieser Fragen größere Probleme auftauchen können als bei anderen Fragen. Andererseits schuf die rasche Entwicklung auf den Gebieten der angewandten Molekularbiologie und der Fortpflanzungsmedizin immer neue Probleme, so daß die Notwendigkeit einer Systematisierung des
Biorechts durch nationale Gesetze sich aufdrängte. Damit die gesellschaftlichen Akteure - Wissenschaftler, Unternehmer und »Konsumenten« - ihr Handeln angemessen organisieren können, benötigen sie klare Richtlinien. Und diese finden sie nicht in »atomisierten« Richterurteilen, sondern nur in nationalen Gesetzen. Die Systematisierung des Biorechts war das Werk der nationalen Parlamente. Wenn diese sich erst relativ spät am Gesetzgebungs- bzw. am Rechtsschaffungsprozeß beteiligten, so hat dies mehrere Ursachen. 1' Einerseits bestand bei vielen Parlamentariern ein »antizipatorisches Defizit«, so daß ihnen nicht immer klar war,
welche Probleme die Entwicklung der neuen Technologien mit 19 In diesem Zusammenhang siehe auch Theisen (1991).
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sich bringen würde. Dieses Defizit war vielleicht manchmal gepaart mit einem Vertrauen in die Verantwortung der Wissenschaftler, das viele Parlamentarier glauben ließ, es bestünde kein akuter
parlamentarischer, und d. h. politischer Regelungsbedarf, da die
Wissenschaftler, gestützt auf ihre Standesethik, verantwortlich handen würden. Andererseits war die zu regelnde Materie auch derart komplex, daß vielen Parlamentariern einfach die nötigen Kenntnisse fehlten, um angemessen mit dieser Materie umzugehen. Und viertens spiegelte sich der ethische Dissens in der Gesell-
schaft auch in der politischen Klasse wider, und zwar nicht nur zwischen den Parteien, sondern auch innerhalb der einzelnen Parteien. Insofern war eine biorechtliche Regulierung ein »heißes Eisen«, das man sich nicht anzufassen getraute, da man sonst die innerparteiliche Kohäsion - die vielleicht nur oberflächlich bestand - in Gefahr brachte. Erst ab Mitte der achtziger Jahre wurde die rechtliche Regulierung
bioethischer Fragen auch auf parlamentarischer Ebene zu einem politischen Thema.'* In vielen Ländern wurden permanente oder ad hoc-Ethik-Komitees eingesetzt, deren Autgabe darin bestand, eine politisch-rechtliche Regulierung der bioethischen Fragen beratend zu begleiten. Solche Ethik-Komitees waren aus Mitgliedern
der unterschiedlichen religiösen und philosophischen Denktradi-
tionen sowie aus Mitgliedern der unterschiedlichsten Fachrichtungen (Biologen, Ärzte, Juristen, Philosophen, Theologen usw.)
und in fortschrittlichen Ländern wie Dänemark zudem noch ge-
schlechtsparitätisch zusammengesetzt. Somit können sie als eine embryonale Institutionalisierung eines ethischen Diskurses der
Gesellschaft angesehen werden. Trotzdem muß man festhalten, 20 Bei der Diskussion über die Notwendigkeit oder Wünschbarkeit einer
Regulierung durch das Parlament ist es interessant, sich folgende Zah-
len zu vergegenwärtigen: »Un sondage récent montrait que 15 %
seulement des Français souhaitaient l'intervention du Parlement dans le domaine des procréations artificielles. C'est peu. En revanche, 35 % étaient en faveur d'une réglementation par les comités d'éthique, 24% par voie de référendum, 22 % par les médecins eux-mêmes. La part des médecins monte même à 42% lorsqu'on interroge les Français sur le diagnostic prénatal et les manipulations génétiques. 5 % des Français sont opposés à une intervention des parlementaires pour encadrer le pouvoir de la science sur l'homme contre 48 % favorables et 8% sans opinion (sic!)« (Magnard und Tenzer 1991, S. 114). 300
daß Ethik-Komitees, vor allem dann, wenn, wie in Luxemburg, ihre Mitglieder von der Regierung bestimmt werden, den gesamtgesellschaftlichen ethischen Diskurs nicht ersetzen können. EthikKomitees sollten in keinem Fall eine Alibifunktion erfüllen, wobei der Gesetzgeber sich einerseits hinter den Vorschlägen des Ethik-
Komitees versteckt, um kontroverse biorechtliche Normen zu verabschieden, und sich überdies auf die in den Ethik-Komitees stattgefundenen Diskussionen beruft, um weitere gesellschaftliche Diskurse überflüssig erscheinen zu lassen. Ethik-Komitees sollten in keinem Fall die bioethische und die biorechtliche Diskussion »monopolisieren«. Ihre Hauptautgabe sollte nicht (nur) darin be-
stehen, (vernünftig) zu urteilen, was ethisch erlaubt und was
ethisch verboten ist bzw. anzuraten, was rechtlich erlaubt bleiben
muß und was rechtlich verboten werden soll. Ethik-Komitees
sollten auch und vor allem darüber nachdenken, wie Individuen
und Kollektive dazu gebracht werden können, rationalere Ent-
scheidungen in bioethischen Fragen zu treffen. Und das heißt in erster Linie: Im Rahmen welcher Institutionen und mit welchen Prozeduren sollen solche Entscheidungen getroffen werden? Den gesamtgesellschaftlichen demokratischen Diskurs kann letzten Endes auch der im Parlament geführte Diskurs nicht völlig ersetzen. In einer repräsentativen Demokratie stehen die parlamentarischen Diskussionen allerdings stellvertretend für die Be-
ratungen des eigentlichen Souveräns, und abgesehen von bindenden Volksbefragungen sind es auch Parlamente, die letztendlich
über die politisch-rechtliche Regulierung der bioethischen Fragen zu entscheiden haben. Für die Parlamentarier stellen sich in diesem Kontext wenigstens zwei große Fragen. (I) Die erste Frage betrifft in erster Linie den einzelnen Parlamen-
tarier. Soll er, wenn es um die rechtliche Regulierung bioethischer
Fragen geht, so abstimmen, wie es ihm sein persönliches Gewissen
diktiert? Oder soll er vielmehr seine ethischen Bedenken verstummen lassen und sich, ähnlich dem Richter, nach Prinzipien einer politischen Moral richten? Oder soll er auch in diesen Fragen der Parteidisziplin treu bleiben und so abstimmen, wie es seine Partei von ihm verlangt?21
21 Das »office parlementaire« der französischen Nationalversammlung hält folgendes fest: »Les procédures parlementaires doivent être stric-
tement définies pour permettre un authentique débat démocratique et
30I
(2) Die zweite Frage betrifft die Gesetzesebene, auf der das Biorecht seinen Ausdruck finden soll. Genügen normale Gesetze, oder ist es notwendig, dem Biorecht - und das heißt hier auch in den meisten Fällen: den bioethischen Forderungen - ebenfalls auf Verfassungsebene Ausdruck zu verleihen und somit zukünftige
Gesetzgeber stärker zu binden als durch einfache Gesetze? Letzteres würde natürlich einen relativ klaren bioethischen Konsens voraussetzen, da Vertassungsänderungen nur mit qualifizierter
Mehrheit und im Falle von Normen mit »Ewigkeitsgarantie« überhaupt nicht möglich sind. Ein solcher Konsens besteht augenblicklich nur in wenigen Punkten, wie z. B. dem Verbot der genetischen Hybridisierung beim Menschen, das in einer Verfassungsnorm wie: »Das menschliche Genom ist geschützt. Menschliche
Keimzellen dürten nicht mit Keimzellen von anderen Lebewesen verschmolzen werden« seinen Ausdruck finden kann. Um eine sogenannte »Substantialisierung« oder sogar »Übersubstantialisie-
rung« der Verfassung zu vermeiden, wäre es angebracht, nur kon-
sensfähige Elemente von bioethischen Prinzipienethiken in die
Verfassung zu übernehmen. In Faktizität und Geltung hält Habermas fest, daß »im Gedränge
des parlamentarischen Betriebs moralische und ethische Fragen in verhandelbare, d.h. kompromißfähige Fragen umdefiniert wer-
den« 23 Um Dworkins Terminologie zu verwenden: Im parlamentarischen Betrieb kommt es oft vor, daß »matters of principle« zu »matters of policy« werden, daß also die sog, politischen Zwänge, die meistens sozialutilitaristischer Natur sind, mit in die Diskussionen einbezogen werden - was man noch akzeptieren kann -, und dort die Uberhand in der Argumentation gewinnen - was oft sehr problematisch, in einigen Fällen sogar illegitim sein kann. Hier sei nur ein Beispiel angeführt: In mehreren US-Bundesstaaten
wurden in den 8oer Jahren Gesetzesvorschläge unterbreitet, die auf eine Zwangssterilisierung von Sozialempfängerinnen abzielen profondeur. Cela implique: - l'absence du recours aux procédures
d'urgence, - un délai d'examen nécessaire à l'étude approfondie des textes proposés, avant leur inscription à l'ordre du jour, - le vote personnel et en conscience - l'examen des textes par une commission
spéciale, et l'organisation d'auditions publiques« (Sérusclat 1992, S. 423).
22 Dazu z. B. Vitzthum (1987). 23 Habermas (1992, S. 295).
302
ten, wobei man sich in diesen Gesetzesvorschlägen auf das Argument berief, daß dadurch die Sozialausgaben sinken würden, da man nämlich nicht mehr für die Kinder der Sozialempfängerinnen
aufzukommen bräuchte.24 Eine politisch-rechtliche Regulierung bioethischer Fragen läuft
Getahr, Rechte und Prinzipien zu opfern, und dies aus unter-
schiedlichen Gründen. Ein solches Opfer könnte z. B. für eine Koalitionsbildung notwendig sein. Auf dem Verhandlungstisch könnte eine Partei ein Prinzip opfern, wenn dies der Preis ist, um mitregieren zu dürfen. Ein solches Opfer könnte sich auch als notwendig erweisen, um bestimmte Ausgaben, etwa im Gesund-
heitswesen, zu vermeiden. Denkbar, daß ein Politiker z. B. vorschlägt, die Zwangseuthanasie bei unheilbar Kranken einzuführen,
um die Kosten einer weiteren »Behandlung« einzusparen. Ein Opfer könnte sich aber auch als notwendig erweisen, um der Forschung und der Industrie entgegenzukommen. Wirtschaftslobbyisten besitzen heute einen nicht zu vernachlässigenden Ein-
fluß auf die Entscheidungen der Politiker, und Drohungen mit Standortwechsel können manchen Politiker dazu führen, Prinzipien der politischen Moral zu opfern. In der heutigen Diskussion wird besonders die zweite Frage berücksichtigt, und die Idee, die bestehenden Grundrechte durch die Anerkennung von biologischen Grundrechten zu erweitern, ist schon vielerorts - und nicht nur in rechtsphilosophischen Semi-
naren - erörtert worden. Die Europäische Bioethikkonvention kann als ein erster Versuch angesehen werden, biologische Grund-
rechte zu kodifizieren. Solche biologischen Grundrechte sollten in erster Linie als Abwehrrechte verstanden werden, und sie sollten das Individuum in seiner körperlichen Integrität schützen. Wenn sie Ansprüche be-
gründen, dann nur solche auf rationalitätsverbürgende individuelle
und kollektive Entscheidungsprozeduren. Ausgeschlossen sind damit Ansprüche auf Rückzahlung von in-vitro-Befruchtungen, die irgendwie durch ein Recht auf Gesundheit oder freie Wahl der Familienplanungsmethoden begründet werden. Die Frage, ob die Ausgaben für Behandlungen zur künstlichen Befruchtung zurückgezahlt werden sollen oder nicht, ist keine »matter of principle«,
sondern eine »matter of policy«. Diese Frage sollte ihre Lösung
24 Dazu Blank (1990, besonders S. 125 ff...) sowie Lee und Morgan (1991).
3º3
nicht in einem Grundrechtskatalog finden, sondern in gesellschaftlichen Diskursen. Das führt dann vielleicht zu einer Zwei-KlassenGesellschaft bezüglich der künstlichen Befruchtung, aber insofern es m. E. kein überpositives »Recht auf ein eigenes Kind« gibt, liegt
zwar hier eine Ungleichheit vor, aber keine Ungerechtigkeit.
7. Biorecht und rationalitätsverbürgende
Entscheidungsprozeduren Bezüglich des Rechts kann man zwischen zwei großen Funktionen unterscheiden. Einerseits hat das Recht eine Schutztunktion, Diese Funktion übt es besonders dadurch aus, daß es bestimmte Hand-
lungen verbietet oder nur unter ganz bestimmten Bedingungen zuläßt. Andererseits kommt dem Recht aber auch eine Organisationsfunktion zu. Diese Funktion übt es besonders dadurch aus, daß es Institutionen und Prozeduren schafft, innerhalb oder gemäß deren die gesellschaftlich relevanten Entscheidungsfindungsprozeduren stattfinden sollen. Am Schluß dieses Beitrag soll die These formuliert werden, daß den rationalitätsverbürgenden individuellen und kollektiven Entscheidungsprozeduren im Rahmen des Biorechts einer liberalen Demokratie eine große Aufmerksamkeit geschenkt werden muß. Auch wenn die liberale Demokratie ihren Bürgern kein substantielles Menschenbild und keine spezifische Form des guten Lebens mit Hilfe des Rechts aufdrängen kann, so setzt sie doch das Ideal des rational entscheidenden Individuums bzw. der rational entscheidenden Gruppe aller Betroffenen voraus. Und auch wenn sie niemanden zwingen kann, diese Rolle zu übernehmen, wenn es um dessen rein private Angelegenheiten geht, so ist sie doch verpflichtet, individuelle und kollektive Entscheidungsprozeduren zu institutionalisieren, welche im Falle von gesellschaftlich relevanten Entscheidungen eine rationale Problemlösung wahrscheinlicher machen. Im individuellen Bereich sollen diese Strukturen der einzelnen Person autonome Entscheidungen über Fragen wie »Soll ich abtreiben oder nicht?«, »Soll ich auf eine reproduktionsmed1zinische Behandlung zurückgreifen oder nicht?«, usw. erlauben. Insofern ist z. B. eine Zwangsberatung im Vorfeld einer Abtreibung keine Einschränkung der Autonomie der abtreibungswilligen Frau, sondern eine Bedingung, welche die Entscheidung dieser
304
Frau - ob für oder gegen die Abtreibung - autonomer macht. Je mehr Gesichtspunkte in einen Entscheidungs ndungsprozeß hinein ießen, desto autonomer wird die Entscheidung. Im kollektiven Bereich sollen die Institutionen und Prozeduren erlauben, Fragen wie »Sollen auf einem Feld der Ortschaft O genmanipulierte P anzen freigesetzt werden?«, oder auch ethische Fragen
wie »Sollen Embryonen für Forschungszwecke gebraucht, wenn nicht sogar produziert werden«, oder politische Fragen wie »Sollen die Ausgaben für Behandlungsverfahrung künstlicher Befruchtung von den Krankenkassen, in allen Fällen, zurückerstattet werden?«, so zu lösen, daß allen konkurrierenden Interessen, Hal-
tungen, Gefühlen und wertenden Einstellungen Rechnung getragen wird.
Auf eine genaue Beschreibung dieser Entscheidungsstrukturen kann hier leider nicht eingegangen werden. An dieser Stelle sei nur gesagt, daß, erstens, die jetzt bestehenden Strukturen sehr oft
ein großes Demokratiedefizit aufweisen, und zweitens, daß die Strukturen nur dann sinnvoll sind, wenn die Menschen bereit sind,
rationale und transparente Entscheidungen zu erreichen bzw. (ein
bescheideneres Ziel) die Irrationalitätselemente in ihren Entscheidungen zu reduzieren. Solange eine genuine Demokratisierung der Entscheidungsstruk-
turen noch nicht stattgefunden hat, kommt das Biorecht nicht
daran vorbei, bestimmte kategorische Verbote zu formulieren.
Der Gesetzgeber kann sich dabei auf die diskursethische Kategorie der Strategiekonterstrategie berufen.? Dem strategischen Handeln der Wissenschaftler, Mediziner und ihrer »Konsumenten« wird ein bedingt-strategisches Handeln des Gesetzgebers entgegengestellt.
Dieses Handeln ist nicht absolut-, sondern nur bedingt-strategisch, weil es sich nicht als Zweck an sich, sondern nur als eine vorübergehend notwendige Bedingung der Möglichkeit zur Einrichtung eines wirklich konsensuellen Handelns begreift. Es ist sozusagen ein notwendiges Übel, das auf seine eigene Überwin-
dung hinarbeitet.26 Dieses Handeln findet seinen Ausdruck in bestimmten gesetzlichen Verboten oder Einschränkungen. Diese Verbote oder Einschränkungen gelten in erster Linie solchen Anwendungen der modernen Biotechnologien, welche mit ernsthaf25 Zu dieser Kategorie siehe Kettner 1992.
26 Dazu auch Campagna (1995b, 1996b).
305
ten Risiken für Einzelne oder die Gesellschaft insgesamt verbun-
den sind, seien diese Risiken konkreter oder abstrakter Natur.
Insofern nur in einem demokratischen Diskurs legitimerweise darüber entschieden werden kann, ob bestimmte Risiken eingegangen werden sollen oder nicht, und insofern ein solcher demokratischer Diskurs noch nicht besteht, darf der Gesetzgeber das
Eingehen dieser Risiken verbieten, und zwar selbst dann, wenn die
Teilnehmer eines solchen demokratischen Diskurses kontrafak-
tisch, d. h. wenn er geführt würde, ein Eingehen der Risiken befürworten würden. Die demokratische Legitimation kann nicht kontrafaktischer Natur sein, sondern ergibt sich nur aus tatsächlich
stattfindenden Diskursen. Allerdings muß die Entwicklung eines restriktiv-schützenden materialen Biorechts gleichzeitig durch die Entwicklung eines demokratischen prozeduralen Biorechts begleitet werden. Nur unter diesen Umständen lassen sich in einer liberal-demokratischen Gesellschaft die demokratietheoretischen Probleme lösen, die bei der Übersetzung der bioethischen in biorechtliche Normen entstehen.
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308
IV. Strategien
der Moralisierung
Hans Schelkshorn Zwischen prophetischem Engagement und analytischer Distanz. Zum Theorie-Praxis-Problem einer Ethik der globalen sozialen Frage Die soziale Frage der Gegenwart läßt sich immer weniger nach politischen Blöcken (»Dritte Welt«) oder geographischen Regionen (»Nord-Süd«-Konflikt) situieren. Armut und Verelendung
von Menschen sind Phänomene, die inzwischen in allen Welt-
regionen, auch in den reichen Metropolen des Westens, unverhüllt hervortreten. So ist der Begriff der »Dritten Welt«, der nach dem Zusammenbruch des kommunistischen Blocks bedeutungslos zu werden schien, jedoch mangels geeigneter Alternativen offenbar unentbehrlich bleibt, heute endgültig zum Synonym für den globalen Gegensatz zwischen »arm und reich« geworden. In diesem weiten Sinn ist die Problematik der »Dritten Welt« heute wieder
ein Thema euroamerikanischer Philosophie. Vor allem in den Arbeiten zu einer »angewandten« bzw. »praktischen« Ethik und der sogenannten »business ethics«, deren Wurzeln in den USA liegen, sind ethische Analysen zum Welthungerproblem, zu Praktiken
multinationaler Konzerne in Entwicklungsländern u.a. inzwi-
schen fester Bestandteil des Ethik-Diskurses. Auch die traditionell eher begründungstheoretisch angelegten Ethikentwürfe des deut-
schen Sprachraums suchen ihre Bewährung zunehmend in der Analyse konkreter Problemfelder, zu der auch die Problematik der Dritten Welt gehört.'
In den folgenden Überlegungen möchte ich jedoch nicht sosehr auf
inhaltliche Details, sondern primär auf das Theorie-Praxis-Problem einer Ethik der globalen sozialen Frage eingehen. In diesem
Zusammenhang sind zunächst zwei Problemebenen zu unterscheiden: Eine »praktische« Ethik muß erstens die Beziehung zwischen normativen Grundtheorien mit ihren jeweiligen moralischen Prin-
zipien und der anstehenden Problemmasse klären. In zahlreichen 1 Vgl. z. B. Apel und Kettner (1992); Hösle (1991, 1992).
3 II
Beiträgen zu einer »praktischen Ethik« ist dabei ein simples Anwendungsschema leitend. Da ethische Grundtheorien oft unter-
schiedliche normative Konkretionen zulassen, sucht eine angewandte Ethik zumeist nach mittleren Prinzipien, die auf konkrete Handlungssituationen appliziert werden.? Allerdings folgen nicht alle Arbeiten zu einer praktischen Ethik dem schlichten Applika-
tionsmodell; im Bereich der Wirtschaftsethik stehen applikative
Lösungsvorschläge für moralische Dilemmata zumeist im Rahmen einer grundsätzlichen Klärung des Verhältnisses von Ökonomie und Ethik. Daher verstehen sich vor allem im deutschen Sprach-
raum manche wirtschaftsethischen Konzeptionen primär als Be-
gründungstheorien, die von Modellen einer »angewandten« Ethik explizit abgegrenzt werden (Homann und Suchanek 1987). Neben dem thematischen Bezug zu konkreten moralischen Problemen steht eine philosophische Ethik zweitens vor der Aufgabe,
ihr Verhältnis zur gesellschaftlichen Praxis, d.h. ihre Rolle als Theorie innerhalb von Politik und Gesellschaft näher zu bestim-
men. In welcher Form sich Ethik in den politischen Raum einschreibt, hängt naturgemäß von ihren inhaltlichen und grundlagentheoretischen Prämissen ab. Aufklärerische Ethiken, die ge-
sellschaftliche Veränderungen primär von einer gelingenden Überzeugungsarbeit erwarten, definieren ihre gesellschaftliche Rolle im Rahmen der »raisonnierenden« Offentlichkeit entwikkelter Demokratien. Die Lösung konkreter Probleme ist vor allem Sache der richtigen Urteilsbildung, die möglichst überzeugungs-
fähig sein soll. Im Unterschied dazu definieren marxistische Philosophien die Funktion der »Theorie« primär im Licht einer macht-
wersoische ie salyse gesellsch hier mus die The der unh die ihre eigene Verstrickung in die herrschenden Verhältnisse ideologiekritisch aufklären. In marxistischer Perspektive resultieren gesellschaftliche Veränderungen weniger aus der Attraktivität ethischer Ideale als aus konfliktiven Auseinandersetzungen. Daher hat die Theorie, wie Marx in einem Brief an A. Ruge schreibt, »an wirkliche Kämpfe anzuknüpfen und [sich] mit ihnen zu identifizieren« (Marx 1968, S. 345). Die gesellschaftliche Funktion der Philosophie liegt somit in der »Selbstverständigung ... der Zeit = Zur einigen Dilemmata des »Anwendungs«-modells praktischer Ethik vgl. Kettner (1992).
312
über ihre Kämpfe und Wünsche« (ebd., S. 346). Die praxisphilosophische Bestimmung der Theorie wird allerdings schon bei Marx und vor allem im orthodoxen Marxismus durch eine deterministische Geschichtsphilosophie konterkariert; dadurch fiel der Marxismus in ein extrem dogmatisches » Anwendungsmodell« zurück, das die öffentliche Debatte über »richtige« Veränderungen durch die diktatorische Autorität des Proletariats bzw. seiner selbsternannten Führer ersetzte.
Die Arbeiten der »applied ethics« und der »business ethics« zur globalen Armutsproblematik verstehen sich als Alternative sowohl zum Dogmatismus marxistischer Gesellschaftsanalyse als auch zu (neo-)marxistischen Positionen, in denen die Praxis-Philosophie des frühen Marx aktualisiert wird. Prophetisch-revolutionäres Denken soll durch »sachliche« Analysen und eine nüchterne normative Orientierung ersetzt werden. Analytische Distanz und moralischer Pragmatismus stellen nach den hochemotionalisierten Nord-Süd-Debatten der Goer und 7oer Jahre gewiß keine Mängel dar. Dennoch bleibt die globale soziale Frage in eminenter
Weise eine Machtfrage. Interne und internationale Machtverhält-
nisse sind noch immer zentrale Ursachen für Armut und Elend in den Ländern der Dritten Welt. Damit steht auch eine »praktische
Ethik« de facto vor der Problematik des neomarxistischen Den-
kens, nämlich den Status und die inhaltliche Ausrichtung der eigenen Theorie im Licht realer Machtverhältnisse zu reflektieren.
Die Autgabe einer ideologiekritischen Selbstaufklärung ist jedoch
von praktischer Ethik bisher wenn überhaupt nur in Ansätzen erfüllt worden. Die folgenden Überlegungen versuchen daher in
einem kurzen Rückblick auf das revolutionäre Denken der 6oer Jahre und einer kritischen Diskussion aktueller Beiträge zur glo-
balen Armutsproblematik einige Koordinaten für eine zeitgemäße
Bestimmung des Theorie-Praxis-Verhältnisses einer Ethik der globalen sozialen Frage zu skizzieren. Dabei soll in exemplarischen Analysen zu einigen ethischen Ansätzen folgende These erläutert werden: Nach dem Niedergang der »Großen Erzählungen« kann sich eine philosophische Ethik der ideologischen Verstrickung in die herrschenden Verhältnisse selbstverständlich nicht mehr über den »kurzen Weg« der solidarischen Identifikation mit einem
»historischen Subjekt« der Revolution entziehen. Da die universalistischen Horizonte europäischer Geschichtsphilosophien zerbrochen sind, ist eine globale Verantwortungsethik heute vor allem 313
mit den Realitäten einer interkulturell verfaßten Weltgesellschaft konfrontiert. Dies bedeutet, daß global-ethische Probleme nicht mehr monologisch, d.h. innerhalb der Grenzen des westlichen Diskurses verhandelt werden sollten. Eine ideologiekritische Selbstaufklärung des Theorie-Praxis-Problems einer westlichen
Ethik der Dritten Welt ist daher auf den »langen Weg« eines
interkulturellen Dialogs mit den neu erwachenden Philosophien in Afrika, Asien und Lateinamerika verwiesen, die bereits seit längerem die Kluft zwischen »Arm und Reich« aus ihrer eigenen Perspektive analysieren. Vor diesem Hintergrund muß hinsichtlich der Frage, wie sich »die« angewandte Ethik als Politikum in »die« Öffentlichkeit einschreibt, zunächst einmal die Identifikation von »Ethik« mit der Ethik der euroamerikanischen Philosophie und die oft stillschweigende Reduktion »der« Offentlichkeit auf die westlich dominierte Weltöffentlichkeit verabschiedet werden. Die Problematik der Dritten Welt ist Thema von verschiedenen Ethiken in Nord und Süd, die ihre politische Funktion und ihr Theorie-Praxis-Verhältnis nicht nur im Rahmen der globalen Kommunikationsnetze, sondern auch in bezug auf ihren spezifischen soziokulturellen Kontext bestimmen müssen.
1. Enttäuschte Solidarität und ihre Folgen Im Rahmen der neomarxistischen Politisierung der westlichen Philosophie und der Kritik der lateinamerikanischen Dependenztheorien an der bestehenden Weltwirtschaftsordnung wurde in den Goer Jahren die Armut der Dritten Welt plötzlich ein wesentliches
Thema des euroamerikanischen Denkens. Im postmodernen
Klima der Gegenwart nimmt sich jedoch das Pathos, mit dem vor allem Sartre und Marcuse über ihre sachlichen Differenzen
hinweg an der Idee einer umfassenden sozialen Revolution, an der Abschaffung staatlicher Macht und der Uberwindung kapitalisti-
scher Produktionsformen festhielten, inzwischen mehr als befremdlich aus. Die Suche nach einem historischen Subjekt der Befreiung der Menschheit ist heute allerorts eingestellt. Auch wenn manche Gewißheiten der 6oer Jahre unwiderruflich verloren
sind, wäre es dennoch verfehlt, im Bann einer postmodernen
Dekonstruktionsmanie mögliche Errungenschaften des revolutionären Denkens einfach der Philosophiehistorie zu überlassen. Die
314
Hoffnungen nationaler Befreiungsbewegungen und der europäi-
schen Linken auf eine sozialistische Alternative in der Dritten Welt sind zwar in summa von der Geschichte als fatale Illusionen über-
führt worden; dennoch bleibt es ein Verdienst des neomarxistischen Denkens, insbesondere der Generation von Sartre, eine moralische Kritik an der imperialen und neokolonialen Politik des Westens formuliert zu haben, die in ihrer Intensität wohl nur mit der Kritik an der Conquista Amerindiens durch die spanischen Theologen um Bartolomé de Las Casas vergleichbar ist.
Sartre erkannte, dal eine Philosophie der Freiheit in einem
Land, das mit äußerster Brutalität einen anachronistischen Kolonialkrieg führt, Partei ergreifen muß. Das solidarische Engagement
politischer Philosophie galt nicht nur dem historischen Subjekt einer sozialistischen Weltrevolution, sondern auch den konkreten Opfern politischer Justiz und grausamer Folter. Der berühmte Artikel »Wir sind alle Mörder« (Sartre 1988, S. 46-48), der zur Kurzformel von Sartres Kritik am (Neo-)Kolonialismus geworden
ist, wendet sich daher nicht zufällig gegen das Todesurteil über einen algerischen Freiheitskämpfer und seine Frau, die an einem
unblutigen Sabotageakt beteiligt gewesen sind. Auf theoretischer Ebene entschlackt Sartre den Marxismus von einer materialistischen Metaphysik und einer deterministischen Deutung menschlicher Geschichte. Revolutionen sind nicht das Ergebnis anonymer Geschichtsgesetze, sondern entspringen einzig und allein der Freiheit der Unterdrückten. Daher weist Sartre einer revolutionären Philosophie die Aufgabe zu, die »großen
Leitthemen der revolutionären Haltung freizulegen und zu ausdrücklichen zu machen«; zu diesem Zweck muß sich die Philosophie allerdings selbst auf die revolutionäre Bewegung einlassen (Sartre 1989, S. 80). Das revolutionäre Denken, das sich seines Charakters als geschichtlicher Praxis bewußt ist, entsteht aus dem Handeln und wendet sich im Horizont der Veränderung der Wirklichkeit auf das Handeln zurück. Da jedoch Sartre eine bestimmte Gruppe von Unterdrückten, nämlich die sozialistisch organisierte Arbeiterschaft, als »die« Repräsentanten der »Uber
schreitung der Lage« auszeichnet, womit eine »totale Erhellung der menschlichen Lage« in einer »total« werdenden Philosophie möglich werden soll, entrinnt auch ein existentialistischer Marxismus nicht einem gewissen Dogmatismus mit eurozentrischen Untertönen. So wird den Kolonialvölkern der Status eines revolutio3I5
nären Subjekts der künftigen Revolution zunächst abgesprochen, da sie nicht die Uberwindung der Verhältnisse, sondern bloß die
Rückkehr zum früheren Zustand der Unabhängigkeit fordern (vgl. ebd., S. 78-80). Zugleich führt jedoch Sartre eine äußerst bedeut-
same Instanz für eine Kritik an eurozentrischen Verengungen eines
revolutionären Denkens ein. In dem berühmten Vorwort zu Fanons »Die Verdammten dieser Erde« (ebd., S. 141-I59) erkennt Sartre hellsichtig, daß die eigentliche Provokation Fanons nicht
sosehr in den inhaltlichen Analysen und Optionen liegt, sondern
in dem Umstand, daß sich Fanon an die Afrikaner wendet und
damit einen Diskurs unter den Kolonisierten über Europa initiiert: »durch diese Stimme entdeckt die Dritte Welt sich und spricht zu sich« (ebd., S. 143). Daher ist - so Sartre - der Diskurs der Kolo-
nisierten für die überfällige Neuorientierung Europas in einem postkolonialen Zeitalter von eminenter Bedeutung: » Als Europäer stehle ich einem Feind sein Buch und mache es zu einem Mittel, Europa zu heilen. Profitiert davon!« (ebd., S. 146).
So läßt sich auch im kritischen Rückblick auf die politisch äußerst
bewegten 6oer Jahre die Tatsache nicht übersehen, daß im Rahmen
des revolutionären Denkens vor allem von Sartre und Marcuse Armut, Unterdrückung und der Aufstand der Völker der Dritten Welt in der euroamerikanischen Philosophie ausdrücklich thematisch gemacht worden sind.? Der Enthusiasmus eines sozialistischen Universalismus mußte allerdings zusammenbrechen, als die Hoffnungen auf ein »Reich der Freiheit« von den siegreichen Befreiungsbewegungen gründlich desavouiert wurden. Enttäuschter Solidarisierung folgt in der Regel ein resignativer Rückzug auf das eigene Ich - die Philosophie bildet hier offenbar keine Ausnahme. Enzensbergers Denunziation des moralischen Universalismus als »letzte(r) Zuflucht des Eurozentrismus« ist ein spätes Zeugnis einer länger zurückreichenden Tendenz. Die Ernüchterung über den Überschwang eines revolutionären 3 Dies wird in extremer Form nicht zuletzt durch die frühen Arbeiten Lyotards in »Socialisme ou Barbarie« bezeugt, die über Jahre hindurch ausschließlich die Situation in Algerien behandeln; jetzt gesammelt in Lyotard ( 1989b).
4 Der Desillusionierung über die mißlungene Delegation der Weltrevolution folgt die pauschalierende Verurteilung. Die Befreiungsbewegungen der Dritten Welt haben sich - so Enzensberger - allesamt in bewaffnete Mobs aufgelöst, ihre Parolen seien von Anfang an bloße Staffage für 316
Denkens, das Horkheimer und Adorno ohnehin stets fremd ge-
blieben war, setzte bereits in den 6oer Jahren ein, spätestens mit Foucaults zunächst noch strukturalistisch motivierter »Absage an Sartre« (Foucault 1966). Am wirkungsvollsten besiegelte J.-F. Lyotard das Ende geschichtsphilosophischer Träume über die Betreiung der Menschheit. Auschwitz, Budapest 1956, der Mai 1968, die Wirtschaftskrisen von i911 und 1929 sind - so Lyotard - nur einige »Geschichtszeichen«, die das Scheitern der »Großen Erzählungen« zum untrüglichen Gefühl werden lassen. Die tiefe Krise der Moderne wird jedoch nicht zuletzt durch die ungelöste globale soziale Frage besiegelt: » Die Menschheit zerfällt in zwei Teile. Die
eine sieht sich der Herausforderung der Komplexität ausgesetzt, der andere der älteren, schrecklichen Herausforderung des eigenen Uberlebens. Das ist vielleicht der Hauptgesichtspunkt für das Scheitern der Moderne, das im Prinzip... für die gesamte Menschheit gelten sollte« (Lyotard 1987, S. 194). Die Hoffnungen Lyotards, des ehemaligen Algerienspezialisten von »Socialisme ou Barbarie«, liegen jedoch nicht mehr auf dem »Widerstand der dicht
um ihre Namen und ihre Erzählungen gescharten Gemeinschaften«; denn die »voller Stolz geführten Unabhängigkeitskämpfe münden«, wie Lyotard nun illusionslos festhält, »in junge reaktionäre Staaten« (Lyotard 1989a, Nr. 262). Dennoch führt die Erfahrung einer enttäuschten Solidarisierung keineswegs, wie Kriti-
ker der Postmoderne oftmals einwenden, zur vollständigen Absage an einen moralischen Universalismus. Als Staatsbürger sind -
so Lyotard - auch Philosophen verpflichtet, sich für die Achtung der Menschenrechte einzusetzen. Die Philosophie hat sich jedoch von Solidarisierungen, Manifesten und Deklarationen, in denen bloß eine »Politik falscher Übermenschen« inszeniert wird, fernzuhalten. Die »Verantwortung des Denkens« besteht nach Lyotard vielmehr darin, »die Fälle von Widerstreit aufzudecken« (ebd., Nr. 202), vor allem den »Widerstreit« zwischen der unendlichen »Idee« der Freiheit und den sie legitimierenden Erzählungen; darin liegt der Beitrag der Philosophie zur Bewahrung der Pluralität der Welten, in denen Freiheit überlebt. »Engagierte Intellektuelle«
Raub, Mord und Plünderung gewesen, vgl. Enzensberger (1993, Kap. II, Ix):
5 Vgl. dazu Lyotard (1993, S. 35); zu einer postmodernen Begründung der
Menschenrechte vgl. Lyotard (1993, S. 105-110).
317
empfehlen hingegen - so Lyotard - »bloß eine Diskursart« für die »politische Vorherrschaft«, und sei es auch die »Ekstase des Opfers« (ebd., Nr. 202).
Nicht minder radikal ist Michel Foucaults Destruktion der prophetischen Geste der Philosophie. Die sich organisierenden Mas-
sen brauchen - so Foucault - nicht die Intellektuellen, um sich
ihrer Situation bewußt zu werden; daher hat die Philosophie nicht das Bewußtsein der Unterdrückten, auch nicht der Revolutionäre, sondern vor allem sich selbst als Teil der Lage aufzuklären. »Heute
kommt es den Intellektuellen nicht mehr zu, an der Seite aller zu
stehen, um deren stumme Wahrheit auszusprechen. Vielmehr hat er dort gegen die Macht zu kämpfen, wo er gleichsam deren Objekt
und deren Instrument ist: in der Ordnung des ›Wissenss, der ›Wahrheits, des ›Bewußtseins‹, des ›Diskurses«« (Foucault 1987, S. 108). Die zur lokalen Praxis depotenzierte Theorie mul ihre Bewährung in den regionalen Konfliktzonen suchen, in den Gefängnissen, psychiatrischen Anstalten, Spitälern, Schulen u. a. Die Blickrichtung philosophischer Machtanalyse verengt sich merk-
lich auf europäische Schauplätze, zuletzt - in der »Ethik der Selbstsorge« - auf das Individuum. Im Unterschied zur französischen Postmoderne, die die Moderne über den schmerzvollen Weg der »Dialektik der Aufklärung« nur mehr indirekt fortschreibt, legen im deutschen Sprachraum Apel und Habermas Anfang der 70er Jahre noch einmal eine explizite
Rekonstruktion einer universalistischen Ethik vor. Dennoch zwingt auch die Frankfurter Diskurstheorie, die das revolutionäre
Denken der Goer Jahre auf den trockenen Boden einer nachmeta-
physischen Diskursrationalität stellt, die Philosophie zu einer rigorosen Bescheidung ihrer politischen Ansprüche. Da inhaltlich relevante Fragen ausnahmslos an die praktischen Diskurse der Betroffenen delegiert werden, erübrigt sich von vornherein eine
prophetische Funktion der Philosophie. Kritischer Theorie bleibt
vor allem die Aufgabe der Begründung normativ gehaltvoller Rationalitätskriterien für öffentliche Diskurse über moralische Probleme und gesellschaftliche Institutionen, in denen allerdings auch PhilosophInnen ihre Kompetenz einbringen sollen. Im Hinblick auf die globale soziale Frage läßt sich allerdings auch in der Diskurstheorie ein gewisser Rückzug auf den europäischen Kontext beobachten. So ist Habermas' Theorie der Moderne, die den gesellschaftstheoretischen Rahmen der Diskursethik absteckt, be318
wulst auf die Probleme hochentwickelter Gesellschaften zugeschnitten; die ökonomischen und kulturellen Schwierigkeiten der Völker der Dritten Welt sind zwar über die Idee einer weltbürgerlichen Rechtsgemeinschaft prinzipiell im Blick, bleiben jedoch merkwürdig äußerlich. Durch die Orientierung an den Realitäten westlicher Demokratien scheint in der Diskurstheorie auch das Verhältnis zwischen Philosophie und Macht entschärft. Fast erleichtert hält Habermas fest, daß in »unseren Breiten ... Fragen einer revolutionären Moral, die auch innerhalb des westlichen Marxismus niemals befriedigend beantwortet worden sind, glücklicherweise nicht aktuell« sind (Habermas 1986, S. 31).
2. Neue Sachlichkeit? »Praktische Ethik« und »business ethics« 2.1. Peter Singer über »Arm und Reich«
Nach dem Ende der »Großen Erzählungen« und der Reduktion der politischen Ansprüche von PhilosophInnen dominieren in dem seit längerem anhaltenden euroamerikanischen Ethik-Boom nicht zufällig utilitaristische und pragmatistische Theorieansätze, die sich schon früher gegen utopische Höhenflüge eines revolutionären Denkens weitgehend immun erwiesen haben. Ein pro-
minentes Beispiel für diese philosophische Auseinandersetzung mit der Problematik der Dritten Welt ist das Kapitel über »Arm und Reich« in der »Praktischen Ethik« von Peter Singer (1994, S.278-314). Da die globale Ungleichheit alle Züge eines welthistorischen Kampfes verloren hat, tritt in Singers Analyse gleichsam
die »nackte« Tatsache der Kluft zwischen absoluter Armut und absolutem Reichtum je eines Fünftels der Weltbevölkerung in den Vordergrund. In der Frage der normativen Bewertung des Phänomens absoluter Armut rekurriert Singer auf möglichst unverfängliche, für jede Moraltheorie wohl grundlegende ethische Prinzipien, nämlich auf einen formalen Begriff von moralischer Verantwortung und auf das Prinzip der Unparteilichkeit; mit O'Neill kann die normative Basis von Singers Abhandlung über »Arm und Reich« in folgender Formel zusammengefaßt werden: »starvation is bad; we ought to prevent bad things when we can do so without worse consequences; hence we ought to prevent starvation whe319
ther it is nearby or far off and whether others are doing so or not«
(O'Neill 1995, S. 268). O'Neill, die selbst eine kantisch orientierte Analyse des Welthungerproblems vorgelegt hat (O'Neill 1986), konzediert, daß Singers Hauptargument seinen speziellen konsequentialistischen Annahmen noch zugrunde liegt und daher als »a corollary of any nonbizarre ethical theory« gelten kann, »which has any room for a notion of rights« (ebd.). In der Anwendung des ethischen Grundprinzips auf die globale Armutsproblematik werden nun allerdings die Differenzen zw1schen dem Theorie-Praxis-Verhältnis, das Singers Abhandlung zugrunde liegt, und einem praxisphilosophischen Verständnis von Philosophie sichtbar. So ersetzt Singer zunächst Sartres Proklamation »Wir sind alle Mörder«, die auf einem bedenklichen Begriff totaler Verantwortlichkeit aufruht, durch eine nüchterne Diskussion des Unterschieds zwischen »Töten« und »Sterben lassen«. Wir sind zwar - so Singer - trotz aller Untätigkeit hin-
sichtlich der Linderung der Armut in der Dritten Welt keine
Mörder, jedoch aus gewichtigen moralischen Gründen zu wirksamer Hilfe auch gegenüber Notleidenden in fernen Ländern verpflichtet. Singer verteidigt daher inmitten einer weitverbreiteten Skepsis gegenüber den Zumutungen einer universalistischen Moral ein bestimmtes Maß an Solidarität mit den Menschen in der
Dritten Welt, das mit einem Spendenvolumen von rund 10% des Nettoeinkommens konkretisiert wird. An dieser Stelle treten nun allerdings die Defizite einer bloß applikativ verfahrenden Ethik hervor, die sich diffizile Reflexionen über ihren eigenen Praxisbe-
zug erspart. Singers Analyse bewegt sich fraglos innerhalb der Grenzen westlicher Offentlichkeit. Den Bürgern reicher Staaten
soll erklärt werden, wieviel sie unter welchen Bedingungen für die
Dritte Welt spenden sollten. Wie das Geld sinnvoll verwendet werden könnte', warum es überhaupt zur Kluft zwischen »arm 6 Die durchaus achtenswerte Forderung an die Bürger reicher Staaten, 10% ihres Einkommens für die Welthungerhilfe zu spenden, hängt solange gleichsam in der Luft, als nicht geklärt ist, wie, wenn tatsächlich alle Singers Forderung folgten, so gigantische Summen überhaupt sinn-
voll eingesetzt werden können. Empirische Studien zur Hungerbe-
kämpfung warnen jedenfalls vor allzu umfangreichen Direkthilfemaßnahmen. So belegen etwa A. Sen und J. Drèze mit eindrucksvollem Datenmaterial, daß Hungerkatastrophen de facto nicht sosehr durch Lebensmittelhilfe von außen, sondern durch öffentliche Beschäftigungs-
320
und reich« gekommen ist und sich die globale Ungleichheit ständig verschärft, ist offenbar nicht mehr Gegenstand einer »praktischen
Ethik«'. Ebenso bleibt der »Diskurs der Dritten Welt« ausgeblendet und damit die Frage, wie Menschen in den armen Ländern selbst ihre Situation innerhalb der herrschenden ökonomischen Strukturen deuten, welche Forderungen sie erheben u. a. Die Notwendigkeit eines politischen Engagements, das Sartres Denken als ganzes beherrscht und nüchterne Analysen zuweilen verdrängt hat, wird in Singers Ethik zum Nebensatz. »Vielleicht ist es sogar
wichtiger, die Interessen der Armen politisch zu vertreten, als ihnen persönliche Spenden zukommen zu lassen - aber warum
nicht beides tun?« (Singer 1994, S. 308). Die Frage muß an Singer zurückgegeben werden. Warum analysiert eine »praktische Ethik« nicht auch die Möglichkeiten eines politischen Engagements zugunsten der Armen? Dies hätte für den Aufbau einer »praktischen Ethik« vermutlich gravierende Auswirkungen. So wäre die Aufklärung der sozioökonomischen Zusammenhänge, der Koalitionen zwischen lokalen und global operierenden Mächten, kurz: eine
politische Analyse der Verhältnisse plötzlich ein integraler Bestandteil einer »praktischen Ethik«. In Singers Abhandlung über »Arm und Reich«, die sich offensichtlich jenseits des Machtsystems wähnt, schlägt hingegen die weitverbreitete Ernüchterung über die Möglichkeiten politischer Veränderungen durch; philosophische Ethik sucht nicht mehr die Konfrontation mit den politischen Instanzen, sondern appelliert an das Gewissen des einzelnen, für die Hungernden zu spenden.
programme und ein staatliches Gesundheitssystem vermieden werden.
Auf diesem Weg haben selbst Länder der Sahelzone wie z. B. Botswana
in den letzten Dürreperioden den Ausbruch von Hungerkatastrophen abgefangen und abseits westlicher Medienaufmerksamkeit Millionen von Menschenleben gerettet. Vgl. dazu Drèze und Sen (1989); zu Botswana (ebd., S. 152 ff.). 7 In dem Buch »Wie sollen wir leben?« verbindet Singer die individual-
ethischen Empfehlungen stärker mit politischen Analysen über die Entstehung und die Ideologien kapitalistischer Marktwirtschaft, die Folgen der Reagan-Administration u. a.; vgl. Singer (1996, Kap. 3 und
4). Die entwicklungsökonomische Diskussion über die Ursachen der
globalen Kluft zwischen »Arm und Reich« bleibt jedoch weiterhin
ausgeklammert. 32I
2.2. Wirtschaftsethik und Dritte Welt eine Anmerkung zu Karl Homann
Die zunächst in den USA entstandene »business ethics«, die inzwischen an einigen wirtschaftswissenschaftlichen Fakultäten als akademische Disziplin etabliert ist, hat ihre Wurzeln in der Moralisierung von Politik und Wirtschaft in den späten 6oer Jahren,
als Umweltskandale, die Vermarktung gesundheitsschädlicher Produkte, aber auch Rüstungsexporte und Praktiken von multinationalen Konzernen in Dritte-Welt-Staaten plötzlich öffentliche
Debatten über die Bedeutung von Moral im Wirtschaftsleben auslösten. Vor allem Großunternehmen sahen sich seitens der Öffentlichkeit und der sich organisierenden Konsumentenbewegung einem zunehmenden moralischen Druck ausgesetzt, der in unternehmerischen Entscheidungen nicht länger ignoriert werden konnte.® Eine der zentralen Aufgaben der »business ethies« ist
daher bis heute die normative Analyse moralischer Dilemmata in
Unternehmensentscheidungen. In diesem Kontext kommt die Problematik der Dritten Welt vor allem im Rahmen einer ethischen Analyse der Aktivitäten multinationaler Konzerne in den Blick. So entwirft die »business ethics« z. B. »guidelines«, in denen
moralische Verpflichtungen von global operierenden Konzernen in Entwicklungsländern konkretisiert werden. In zahlreichen Fall-
studien werden unter anderem folgende Fragen im Licht bestimm-
ter moralischer Prinzipien verhandelt: Wie gehen Konzerne mit Korruption, sozialer Ungleichheit und kulturellen Differenzen in
Entwicklungsländern um? Welche Rechte sind gegenüber ArbeiterInnen in Billiglohnländern zu respektieren? Ist ein wirtschaft-
liches Engagement in einem repressiven Staat wie z. B. im Apart-
heitsystem in Südafrika moralisch gerechtfertigt? Wem stehen die Nutzungsrechte der Ressourcen in Entwicklungsländern zu? Die Klärung dieser und vieler anderer Fragen führt gleichsam von 8 Zur Entstehung und den wichtigsten Ansätzen der »business ethics« vgl. De George (1987); Enderle (1989). Für den gesellschaftlichen Hintergrund der »business ethics« kommt - so De George (1995, S. 569ff.) der Konsumentenbewegung eine besondere Bedeutung zu. Der »consumerism« sei neben der kapitalistischen Unternehmung, der organisierten Arbeiterschaft und dem Staat zur vierten Säule im System der Marktwirtschaft geworden; die »business ethics reagiert daher auf ein neues Stadium kapitalistischer Wirtschaft.
322
selbst zu politischen Analysen der gesellschaftlichen Verhältnisse der Länder des Südens und des machtpolitischen Einflusses west-
licher Konzerne auf deren Regierungen (Donaldson 1990; De George 1995, Kap. 18-20). Die Themen der »business ethics« sind jedoch keineswegs auf eine »angewandte« Unternehmensethik beschränkt. Denn die Forderung, moralische Prinzipien in unternehmerische Entscheidungsprozesse zu integrieren, setzt eine systematische Theorie über die Beziehung zwischen Ökonomie und Ethik voraus. Grundlegungs-
fragen bilden daher einen zweiten Brennpunkt in der neueren
wirtschaftsethischen Diskussion, was angesichts der langen Vorherrschaft des Wertfreiheitspostulats neoklassischer Okonomik auch aus sachlichen Gründen unumgänglich ist. In begründungstheoretischen Diskursen wird nun die Problematik der Dritten Welt nicht mehr bloß im engen Blickwinkel einer möglichen Verantwortung westlicher Konzerne gegenüber Entwicklungsländern verhandelt, sondern im weiten Rahmen einer moralischen Rechtfertigung des globalen Systems der Marktwirtschaft. Damit stellen - nach dem revolutionären Denken der 6oer Jahre - manche wirtschaftsethischen Theorien die globale Armutsproblematik wieder in den Kontext einer ökonomisch-politischen Analyse kapitalistischer Weltwirtschaft. An dieser Stelle ist daher zu fragen, ob und wenn ja wie eine nichtmarxistische Wirtschaftsethik, die sich auch
der globalen sozialen Frage stellt, ihr Theorie-Praxis-Verhältnis näherhin bestimmt. Diese Frage soll im folgenden anhand der Wirtschaftsethik von Karl Homann exemplarisch geprüft werden, die neben den Ansätzen von Peter Ulrich, H. Steinmann, A. Löhr und Peter Koslowski zu den meistdiskutierten wirtschaftsethischen Theorien im deutschen Sprachraum gehört? 9 Vgl. Homann und Blome-Drees (1992); Koslowski (1987); Steinmann und Löhr (1991); Ulrich (1993; 1997). Hinsichtlich der Problematik der Dritten Welt verbindet Ulrich (1993, S. 386) seine Konzeption einer Wirtschaftsethik mit den Anliegen der Dependenztheorie. Koslowski
hingegen nimmt beinahe alle ethischen Kriterien, die zuvor für die
Marktwirtschaft allgemein begründet werden, auf der Ebene der Weltwirtschaft wieder zurück, vor allem die regulativen Ideen gerechter Preisbildung (Inklusion der Betroffenen, Internalisierung der Nebenwirkungen und die Erfüllung des Sachzwecks der Wirtschaft). Der Eindruck einer Zwei-Welten-Moral läßt sich hier nur schwer unterdrücken, vgl. Koslowski (1987, S. 261 ff., 28r ff.). 323
Homann stellt die Wirtschaftsethik wieder in einen geschichtsphi-
losophischen Horizont, allerdings nicht mehr in die Marxsche Vision einer Überwindung kapitalistischer Marktwirtschaft, son-
dern in Max Webers Theorie der europäischen Moderne, in deren Rahmen »das systematische Kernproblem der Wirtschaftsethik anzusetzen« (Homann und Blome-Drees 1992, S. 12) ist. Da alle Versuche, die funktionale Ausdifferenzierung gesellschaftlicher
Subsysteme zurückzunehmen, geschichtlich gescheitert sind, schlägt Homann vor, moralische Forderungen indirekt über eine demokratisch legitimierte Rahmenordnung in die Wirtschaft zu induzieren.10 Allerdings verlangt auch eine ordnungspolitisch ge-
bändigte Marktwirtschaft den Menschen viel ab; hohe Anpassungserfordernisse an die sich ständig wandelnden wirtschaftlichen Verhältnisse, das Risiko der Arbeitslosigkeit u.a. bringen viele Menschen an den Rand ihrer physischen und psychischen Kapazitäten." Der permanente Strukturwandel bringt zwar durch den Zwang zu ständiger Produktivitätssteigerung der Gesellschaft
insgesamt Vorteile, bürdet jedoch einzelnen schwere Opter auf. Daher kann das System der Marktwirtschaft - so Homann - nur durch ein System sozialer Sicherung moralisch legitimiert werden. Da die Allgemeinheit über sinkende Konsumpreise von den Wohlstandseinbußen der vom Strukturwandel Betroffenen profitiert,
sind sozialpolitische Umverteilungen nicht sosehr Sache der Barmherzigkeit, sondern eine Forderung der Gerechtigkeit (vgl. ebd., S. 58f.). Welche Konsequenzen zieht nun Homann aus dem skizzierten Grundansatz einer Wirtschaftsethik für die globale Armutspro-
blematik?12 Das System der Sozialen Marktwirtschaft ist, wie Ho-
mann unmißverständlich festhält, auch auf globaler Ebene die »beste bisher bekannte Option«; daraus folgt, daß »die Probleme innerhalb der Dritten und Zweiten Welt sowie die internationalen (Wirtschaft-)Beziehungen im Prinzip von derselben Struktur sind 10 Zu systematischen Defiziten von Homanns Wirtschaftsethik, die hier nicht diskutiert werden können, vgl. Kettner (1994). II Der Übergang zur modernen Gesellschaft wird daher ohne Beschöni-
gung als ein »Prozeß der schöpferischen Zerstörung« (Schumpeter) charakterisiert; vgl. Homann/Blome-Drees (1992, S. 77-81, Kap.: »Der Preis der Marktwirtschaft«).
12 Zur Problematik der Dritten Welt vgl. Homann und Blome-Drees (1992, S. 81-90); Habisch und Homann (1994).
324
wie die internen Probleme marktwirtschaftlich geordneter Volkswirtschaften« (ebd., S. 82; hervorgehoben von H.S.). Daher sind die ökonomischen Probleme des Südens nicht einfach durch »den« Kapitalismus verursacht, sondern durch mangelnde oder fehlgeleitete Modernisierungsprozesse. Als Institutionenökonom deckt
Homann vor allem die quasifeudalen, noch kaum marktwirt-
schaftlich orientierten gesellschaftlichen Strukturen in zahlreichen Entwicklungsländern auf, die ein breitenwirksames wirtschaftliches Wachstum zumeist im Keim ersticken. Der Kampf gegen die Armut kann daher im letzten nicht mit Spenden, aber auch nicht mit neuen Wirtschaftsprogrammen, sondern nur durch »politische
Reformen« gewonnen werden, die neben Investitionen in das
Humankapital auch »eine Machtbeschränkung der organisierten Interessengruppen, der Verteilungskoalitionen« (ebd., S. 83) um-
fassen müssen. Darüber hinaus erschwerte auch das internationale
Machtgefälle eine prosperierende Entwicklung in den Ländern des
Südens. 3 Dennoch sind Moralisierungen fehl am Platz. Da die
Ausweitung der Märkte und die Vertiefung der weltweiten Ar-
beitsteilung auch den Industrienationen neue Wohlstandspotentiale erschließen würden, geht es in den Nord-Süd-Beziehungen, wie Homann bewußt provokant vorschlägt, nicht so sehr um moralisch motivierte Hilfe, sondern vor allem um langfristige Investitionen, die allerdings durch strukturelle Dilemmata der individuell-strategischen Rationalität (prisoners' dilemma) blockiert sind. 4 Aus diesem Grund müssen neue weltwirtschaftliche Arran13 Die Schuld der Industrieländer gegenüber der Dritten Welt liegt allerdings - so Homann - nicht in ungerechten terms of trade, sondern in ihrer falschen Wirtschaftspolitik, z. B. in Importbeschränkungen oder in einer unsoliden Haushaltspolitik, die die Zinssätze weltweit in die
Höhe treibt und damit kapitalschwache Nationalökonomien besonders schwer trifft. »Aus den internen Problemen der Industrieländer resultieren so oftmals zusätzliche und größere Schwierigkeiten der Entwicklungsländer, weil die Industrienationen ihre Probleme auf
die Entwicklungsländer abwälzen können. Das ist wahre ›Ausbeutung‹, wenn man dieses Wort nicht scheut« (Homann und Blome-Drees 1992, S. 87).
I4 Homann leugnet zwar nicht die Realität ungleicher Machtverhältnisse; die Institutionenethik zielt jedoch nicht auf eine moralische Kritik
faktischer Ausbeutung, da es darin zumeist »bloß« um Verteilungs-
kämpte im Rahmen eines Nullsummenspiels gehe, sondern auf die
institutionelle Ermöglichung marktförmiger Kooperation, deren Nut325
gements vereinbart werden, die eventuelle opportunistische Trittbrettfahrer mit strengen Sanktionen belegen; dadurch würde das ökonomische Grundprinzip »allgemeine Entwicklung schattt allgemeinen Wohlstand« (ebd., S. 88) auch im globalen Rahmen Realität werden. Da jedoch in absehbarer Zukunft keine politische Instanz sichtbar ist, die den Ausweg aus den weltwirtschattlichen
Gefangenendilemmata durchsetzen könnte (ebd., S. 88), konzentrieren sich auch Homanns Hoffnungen letztlich auf die langfri-
stigen Interessen global operierender Unternehmen, die ihr Gewinnpotential in Entwicklungsländern nur ausschöpfen können, wenn sie sich auch am Aufbau des Bildungssystems, demokratischer Rahmenbedingungen u. a. beteiligen (ebd., S. 89).
Vor diesem Hintergrund ist nun zu fragen, wie Homanns Wirtschaftsethik, die im Gegensatz zu Singer die globale Armutsproblematik in aller Entschiedenheit auf der politisch-ökonomischen Ebene situiert, ihr Theorie-Praxis-Verhältnis genauer definiert. Die gesellschaftliche Funktion der Wirtschaftsethik ergibt sich für Homann aus folgendem Grundproblem moderner Gesellschaften: Nach dem Bedeutungsverlust religiöser oder metaphysischer Traditionen ruht der innere Zusammenhalt multikulturell vertaßter Massengesellschaften wesentlich in der Geltungskraft der formalen Regeln eines demokratischen Konsensprinzips. Daher sind Institutionen von demokratischen Verfassungsstaaten wesentlich auf die Zustimmung ihrer Bürger angewiesen. Andern-
falls droht eine moderne Gesellschaft am Widerstand gegenaufklärerischer Bewegungen anarchistischer, nationalistischer oder
fundamentalistischer Provenienz zu zerbrechen. Daraus ergibt
sich tür Homann die gesellschattliche Autgabe einer Wirtschatts-
ethik, die vor allem in einer realistischen Aufklärung über die grundlegenden Funktionszusammenhänge einer modernen Gesellschaft besteht, um dadurch. Perspektiven zu eröftnen, wie Menschen inmitten der Komplexität systemisch vermittelter gesellschaftlicher Strukturen eine geistig-moralische Identität ausbilden können. Im Unterschied zu einer »angewandten Ethik« zen die potentiellen Vorteile etwaiger Umverteilungsmaßnahmen bei
weitem übertreffe. Daher gelte: »Nicht die reale Ausbeutung des Schwächeren durch den Stärkeren (wie in der Dependenztheorie),
sondern die potentielle Ausbeutbarkeit des Stärkeren durch den Schwächeren stellt das virulente Problem dar.« (Habisch und Homann 1994, S. I30).
326
bietet Homanns Wirtschaftsethik keine Kasuistik oder »Patentlösungen« an; als »moralisch-politisch-ökonomisch tragfähige Ge-
sellschaftstheorie« hat eine Wirtschaftsethik vielmehr einen Beitrag zur notwendigen (!) Selbstaufklärung moderner Gesellschaften im Rahmen einer »Kultur der Begründbarkeit« zu leisten (ebd., S. 91). Wirtschartsethik setzt also auf Aufklärung, auf Veränderung durch Einsicht. Auch die Verantwortung der Industrieländer ge-
genüber der Dritten Welt muß letztlich durch eine Aufklärung über deren langfristige Eigeninteressen mobilisiert werden: »Bei
der Frage, was zu tun ist, können wir uns kurz fassen: Außer
Autklärung und dem - mit Schwierigkeiten'5 verbundenen - Versuch, die geschädigten Konsumenten aufzurütteln, scheint nichts in Sicht zu sein.« (ebd., S. 87f.). So überrascht es nicht mehr, daß auch Homanns Empfehlungen an die Adresse der Entwicklungsländer letztlich in einen allgemeinen
Imperativ zu »mehr Aufklärung« und zur »schnelle(n) Über-
nahme« moderner Marktwirtschaft münden, und zwar ungeachtet »der unausweichlichen Folge schwerer Kulturschocks« (ebd., S. 81). Homann bleibt damit nicht nur dem Geist der Aufklärung, sondern auch ihrem linearen Geschichtsverständnis verpflichtet,
in dem Zukunft als weltweite Realisierung eines ökonomischpolitischen »Prinzips« gedacht ist, das von der »Theorie« bloß auf den Begriff gebracht wird. In einer solchen Perspektive gibt es nur die schlechte Alternative zwischen dem irrealen Weg »Zurück
ins Paradies« oder der Intensivierung von Aufklärung, die mit beschleunigter Modernisierung zusammenfällt.
An dieser Stelle wird die Problematik des Theorie-Praxis-Verständnisses einer im klassischen Sinn »aufklärerischen« Wirt-
schaftsethik sichtbar. Homann rückt zwar die internen und globalen Machtfaktoren, die eine wirtschaftliche Entwicklung in zahlreichen Ländern des Südens blockieren, wieder in den Blick. Da Homann jedoch sozialpolitische Konflikte in aufklärerischer Manier primär als nicht durchschaute Gefangenendilemmata de15 Die Skepsis der Menschen der Industrieländer gegenüber den Segnun-
gen eines entschränkten globalen Wettbewerbs ergibt sich - so Homann - »aus vielerlei Gründen, vor allem auch, weil die einzelnen Wähler lieber einen ... Obolus für Subventionen und Entwicklungshilfe zahlen als das individuelle Risiko eines Arbeitsplatzes bei allgemeinem Strukturwandel infolge der Liberalisierung riskieren wollen. Hier haben auch wir keine Patentlösung«, (ebd., S. 87).
327
chiffriert, ist die Brisanz von Machtfragen zugleich merkwürdig entschärft. Daher bleibt auch die an sich richtige Forderung nach
politischen Reformen bzw. einer »Machtbeschränkung« der dominanten Interessengruppen in den Entwicklungsländern abstrakt. Denn Reformen fallen nicht vom Himmel, sondern müssen (oft blutig) erkämpft werden, zuweilen auch gegen die Macht westlicher Interessengruppen.16 Daher kämpfen auch heute unzählige Menschen in Asien, Afrika und Lateinamerikas auf lokaler oder nationaler Ebene in stets neu sich organisierenden Widerstandsbewegungen gegen die bestehenden Machtkonstellationen an. Allerdings finden nach dem Ende des Kalten Krieges mit Ausnahme von wenigen Gruppen (z. B. den Zapatisten in Mexiko oder der indischen Armenpartei) zumeist nur mehr fundamentalistische Bewegungen und terroristische Banden das Interesse westlicher Öffentlichkeit. Doch wie auch immer die Fäden der Macht genauerhin verknüpft sind, in Homanns Wirtschaftsethik sind Machtverhältnisse bloß »Objekt« der Analyse, nicht Medium, in dem sich auch die Theorie als eine bestimmte Form von Praxis noch bewegt. Daher fällt in Homanns Wirtschaftsethik eine ideologiekritische Selbstreflexion aus, in der zentrale Optionen der eigenen »Theorie« nochmals auf ihre Bedingtheit in partikularen Interessenzusammenhängen hin geprüft werden. Gewiß: Ideologiekritik steht heute nicht mehr eine substantielle Enttremdungs-
theorie zur Verfügung, womit die universalistische Uberhöhung bloß partikularer Interessen direkt überführt werden kann. Allerdings ist auch im postmodernen Klima der Gegenwart nicht jede Form von ideologiekritischer Selbstaufklärung obsolet. Gerade die postmoderne Einsicht in die Grenzen menschlicher Vernunft legt es nahe, Interessenzusammenhänge von Theorien im Licht der 16 Vor allem Agrarreformen - eine unerläßliche Voraussetzung für eine breitenwirksame Modernisierung - sind ohne tiefgreifende Umwälzungen der bestehenden Machtverhältnisse nicht durchsetzbar, Darin dürfte auch eine wesentliche Ursache für die unterschiedliche Entwick-
lung einiger asiatischer Lander wie lawan, Korea, Singapur u. a. und
den meisten Staaten Lateinamerikas liegen. So ist etwa in Korea die
soziale Ungleichheit bereits in den 4oer Jahren durch eine Argrarreform entschärft worden; dadurch kamen die Modernisierungsertolge im Laufe der Zeit auch breiten Bevölkerungsschichten zugute; vgl. dazu auch mit analogen Beispielen aus der europäischen Wirtschaftsgeschichte Senghaas (1982); zu Korea Messner (1994).
328
Interessen der »Anderen«, insbesondere der Armen, zu überprüfen.
Vor allem für global orientierte Theorien, die wie Homanns Wirt-
schaftsethik allen Völkern eine möglichst schnelle Übernahme der Marktwirtschaft empfehlen, ist die Interiorisierung der Erfahrun-
gen der Opfer des gegenwärtigen Weltwirtschaftssystems eine
unerläßliche Aufgabe. Daher kommen die Grenzen von Homanns
»Theorie«, in der »das« Problem »der« Wirtschaftsethik bloß im Ausgang von den Ertahrungen entwickelter Industriegesellschaften bestimmt wird, vor allem an den »Rändern« der Moderne bzw. an den Frontlinien der sozialen Kämpfe in den Ländern des Südens zum Vorschein. Denn die Menschen der Dritten Welt können nicht
auf die Idealwelt der Ökonomen warten, sondern müssen ihr Uberleben hic et nunc sichern. Wer jedoch im globalen Wettbewerb hoffnungslos unterlegen ist und von den nationalen Machtverhältnissen an den Rand gedrängt wird, für den ist ein möglichst schneller Übergang zum System der Marktwirtschaft ein Trapezsprung ohne Sicherheitsnetz. So versuchen Menschen am unteren
Ende der gegenwärtigen Weltgesellschaft die expansive Dynamik
des Kapitalismus einerseits zu begrenzen, andererseits für ihre Zwecke zu nutzen. Dabei sind traditionelle und moderne Wirtschaftsformen zumeist vielfach miteinander verschränkt.!? Das 17 Zur Illustration sei hier auf die CONNAIE (Ekuador) verwiesen, eine der zahlreichen indigenen Widerstandsorganisationen in Lateinamerika, die nach den marxistisch orientierten Guerilla-Bewegungen der
7oer Jahre heute in einigen Ländern den Kampf gegen ungerechte Verhältnisse anführen. Die CONNAIE ist eine Föderation verschiedener indigener Völker mit äußerst unterschiedlichen Interessen. So versuchen manche Gruppen wie z. B. die Shuar, die noch eine homogene Gesellschaftsstruktur aufweisen und ein abgegrenztes Territorium besiedeln, Landrechte über die CONNAIE durchzusetzen, um so ihre traditionellen Lebensformen zu bewahren. Die Shuar verweigern sich
jedoch keineswegs totaliter der Moderne; sie nehmen verschiedene Elemente der modernen Gesellschaft auf, andere lehnen sie bis dato
ab; zugleich werden eigene Traditionen teils bewahrt, teils abgelegt oder modifiziert. Andere Gruppen streben hingegen den Eintritt in die moderne Wirtschaft an und fordern z. B. die Ubergabe der Erdölquellen aut ihrem Gebiet; wieder andere Gruppen, die dem modernen Sektor bereits weitgehend eingegliedert sind, kämpfen um die Verbesserung ihrer Arbeitsbedingungen. An der CONNAIE, die auch Kontakte zur UNO unterhält, wird somit sichtbar, wie vielschichtig
329
Ziel ihres Strebens ist daher weder ein Zurück in bloß traditionelle Lebensformen noch eine vorschnelle Auslieferung an die Dynamik moderner Wirtschaft, sondern die Sicherung des Überlebens innerhalb der realen politisch-ökonomischen Verhältnisse. Ihr
Kampf gilt einem autonomen, »aufgeklärten« Umgang mit der modernen Weltgesellschaft, wenn Aufklärung heißt, die oft in
jahrhundertealten Herrschaftsverhältnissen auferlegte Unmündigkeit zu überwinden und die eigene Vernunft öttentlich zu gebrauchen.
In Homanns Wirtschaftsethik bleiben jedoch die Kämpfe der Armen weitgehend außerhalb der Mauern des theoretischen Diskurses, in dem entgegen ihres universalistischen Anspruchs primär
Erfahrungen von Bürgern in den Industrieländern verarbeitet sind.
Die Interessen all jener Menschen, die mit dem gegenwärtigen Weltwirtschaftssystem zwar unumgänglich konfrontiert sind, darin jedoch keine humanen Lebensmöglichkeiten vorfinden, werden auf eine ominöse Zukunft verwiesen; sie sind nicht Teil der ursprünglichen Problemmasse, von der »die« Wirtschaftsethik ausgeht, sondern allenfalls der Anwendungsbereich ihres »Prinzips«, wobei Homann selbst zugesteht, daß die von der »Theorie« aufgewiesenen »Bedingungen für Wachstum und Wohlstand... in den Ländern des Südens heute praktisch nirgendwo (!) vorhanden
sind« (ebd., S. 85). Damit entlarvt sich die institutionenökonomische »Theorie« selbst ungewollt als »Teil der Lage«. Konsequenterweise werden die jetzt brennenden »Probleme des Ubergangs zur Marktwirtschaft« nicht weiter verfolgt; dazu hat eine Wirtschaftsethik ohnehin, wie Homann versichert, »keine Patentlösungen« anzubieten (ebd., S. 82, 87). Doch vielleicht geht es hier nicht mehr um Patentlösungen, sondern um die gewiß schwierige Aufgabe, »an die wirklichen Kämpfe anzuknüpfen«.
die Beziehungen zwischen den Armen in der Dritten Welt und der Moderne inzwischen geworden sind. Vgl. dazu Frank (1992); Mader und Sharup (1993).
330
3. Ein Blick auf die lateinamerikanische »Philosophie der Befreiung« Die Grenzen des euroamerikanischen Diskurses können, wie Sartre an Fanons Schrift entdeckt hat, im Spiegel des »Diskurses der Dritten Welt« bewußt gemacht werden. Daher ist eine westliche Ethik der globalen sozialen Frage heute unumgänglich auf den Dialog mit außereuropäischen Philosophien angewiesen. Fanons
»Die Verdammten dieser Erde« ist natürlich nicht der einzige
Versuch von Intellektuellen in den Ländern des Südens, ihre Situation im Licht der eigenen Erfahrungen zu deuten. Neben den
asiatischen Denktraditionen, die seit jeher das europäische Denken
zutiefst herausfordern, unterbrechen inzwischen auch Philosophinnen aus Afrika und Lateinamerika den Monolog der euroamerikanischen Philosophie.
Im Blick über die Grenzen des westlichen Philosophiebetriebs wird zunächst die soziokulturelle und machtpolitische Zerklüftung der sogenannten »Weltöffentlichkeit« sichtbar, unter deren Schirm sich äußerst heterogene, lokale, öffentliche Räume befinden, in die sich Philosophien der Dritten Welt jeweils »vor Ort«
einzuschreiben haben. Die Suche nach einem adäquaten TheoriePraxis-Verhältnis, d. h. nach einer Balance zwischen organischer Integration und kritischer Distanz zum jeweiligen kulturellen und
politischen Kontext, bildet daher ein Grundproblem zahlreicher Philosophien des Südens, vor allem in Afrika und Lateinamerika. Zu den politischen und ökonomischen Schwierigkeiten einer gesellschaftlichen Situierung des philosophischen Diskurses, wie
z.B. den oft nur rudimentär vorhandenen Kommunikationsund Bildungssystemen, dem geringen Alphabetisierungsgrad usw., kommt noch das grundsätzliche Problem, daß eine afrikanische oder lateinamerikanische Philosophie in ihrem soziokulturellen Kontext im Verdacht steht, bloß ein Element der europäischen Kultur zu sein. Die Klärung des Theorie-Praxis-Verhältnis-
ses impliziert daher auch eine Präzisierung dessen, was im
jeweiligen kulturellen Umfeld überhaupt »Theorie« bzw. »Philosophie« heißen soll. Die spezitische Herausforderungssituation postkolonialer Philosophien kann exemplarisch anhand der lateinamerikanischen Philosophie der Befreiung illustriert werden, wo in den letzten Jahrzehnten die soziale Problematik ins Zentrum des Interesses ge-
33I
rückt ist. In Lateinamerika existiert neben den Weisheitstraditionen der indigenen Völker eine lange Tradition der Rezeption bzw. Fortführung europäischer Philosophien, die sich bis ins 16. Jahr-
hundert zurückführen läßt, als die Spanier die ersten Universitäten in der Neuen Welt gründeten. Allerdings ist die Geschichte dieses
abgelegenen Zweigs europäischer Philosophie bis vor kurzem weder in Europa noch in Lateinamerika selbst weiter beachtet worden. Erst nachdem mit der Katastrophe des Zweiten Weltkriegs die Krise der europäischen Kultur unübersehbar geworden war, begann sich eine kleine Gruppe von Philosophen um Leopoldo Zea von der traditionellen Fixierung auf Europa zu lösen und die Geschichte des lateinamerikanischen Denkens systematisch aufzuarbeiten. Die Frage der Bewertung des gesammelten Materials führte Ende der 6oer Jahre zu der berühmten Auseinandersetzung zwischen Augusto Salazar Bondy und Leopoldo Zea über die Authentizität des lateinamerikanischen Denkens, die als eine Schlüsseldebatte innerhalb der lateinamerikanischen Gegenwartsphilosophie gilt. Salazar Bondy hatte zunächst in einer kleinen Schrift »Existe una filosofía de nuestra América?« (1968) die Geschichte der lateinamerikanischen Philosophie als eine Geschichte von mehr oder weniger originellen Imitationen europäischer Denktraditionen disqualifiziert. Dem lateinamerikanischen Denken sei es nicht gelungen, den philosophischen Diskurs in der lateinamerikanischen Gesellschaft und Kultur authentisch zu verankern. Salazar Bondy führt die prekäre Situation der lateinamerikanischen Philosophie auf die neokoloniale Abhängigkeit Lateinamerikas von Europa und den USA zurück. Die lateinamerikanische Philosophie ist daher einerseits Opfer eines weitverzweigten Herrschaftssy-
stems, andererseits aber auch Täter, insofern durch die bloße Imitation westlichen Denkens die kulturelle Entfremdung der lateinamerikanischen Gesellschaften noch vertieft wird. Die erste
Aufgabe eines lateinamerikanischen Denkens besteht daher in Salazar Bondys Perspektive in der Befreiung der Philosophie aus ihrer fatalen Verstricktheit in die globalen Machtverhältnisse.
In der Replik auf Salazar Bondy, die 1969 unter dem Titel »La
filosofía americana como filosofía sin más« (Zea 1989) erschienen ist, verteidigt Zea hingegen die Authentizität der lateinamerikanischen Philosophie, die spätestens seit der Mitte des 19. Jahrhun-
332
derts westliche Denkmodelle bewußt an die eigene Realität adaptiert und gegebenenfalls auch transformiert. Da es jedoch nach der politischen Unabhängigkeit nicht wirklich gelungen ist, den durch die lange koloniale Herrschaft eingesenkten Eurozentrismus innerhalb der lateinamerikanischen Kultur zu überwinden, hat die
Philosophie trotz ihres Anliegens, eine eigenständige Entwicklung der lateinamerikanischen Gesellschaften zu fördern, de facto europäische Modelle zumeist unvermittelt der eigenen Realität übergestülpt. 18 Daher zerfällt die lateinamerikanische Geschichte in ein Nebeneinander von liberalen, monarchistischen, positivistischen
und marxistischen Experimenten, die der Bevölkerung jeweils schwere Kulturschocks zumuten und daher am passiven Widerstand der verarmten Massen scheitern. Dennoch läßt sich - so Zea - selbst in den zumeist unverbundenen Adaptationen europäischer Philosophie noch eine schrittweise Entdeckung der spezifischen Realität Lateinamerikas erkennen, so daß die Geschichte der lateinamerikanischen Philosophie auch ein bedeutendes Zeugnis dafür ist, wie bereits im 19. Jahrhundert postkoloniale Gesellschaf-
ten versucht haben, ihre Probleme eigenständig zu bearbeiten. Nicht im Bruch mit der Vergangenheit und im radikalen Neuanfang, sondern in der behutsamen und kritischen Annahme der eigenen philosophischen Traditionen sieht Zea daher die Möglichkeit einer Befreiung lateinamerikanischer Philosophie aus den Fangnetzen eines kulturellen Imperialismus.
Trotz der gemeinsamen Ausgangssituation legen jedoch Salazar
Bondy und Leopoldo Zea das Theorie-Praxis-Problem einer la-
teinamerikanischen Philosophie durchaus unterschiedlich aus. Nach Salazar Bondy kann das lateinamerikanische Denken seine Authentizität nur in einer kritischen und solidarischen Reflexion auf die Befreiungskämpfe der verarmten Massen finden. Die Philosophie muß also, um in der lateinamerikanischen Realität Wurzeln zu schlagen, in die sozialen Kämpfe eintauchen; diesen Weg hat nach Salazar Bondys frühem Tod vor allem Enrique Dussel mit dem Entwurf einer »Ethik der Befreiung«l' beschritten, die den 18 Dazu gehört vor allem die Modernisierungsstrategie der Positivisten im 19. Jahrhundert; vgl. dazu Zea (1989), in der die Entwicklung in Mexiko
aufgearbeitet wird, bzw. in gesamtlateinamerikanischer Perspektive
Zea (1976); zu den Strömungen des lateinamerikanischen Marxismus vgl. Fornet-Betancourt (1994; 1996). 19 Vgl. Dussel (1973, 1992); zur Einführung Schelkshorn (1992).
333
philosophischen Diskurs darauf verpflichtet, die ökonomischen und politischen Verhältnisse konsequent aus der Perspektive der Armen zu analysieren. Mit der Explikation der hermeneutischen und normativen Horizonte des Überlebenskampfes der Massen dringen so plötzlich Probleme ins Zentrum des ethischen Diskurses, die in euroamerikanischen Ethiken allenfalls am Rande auftauchen, wie z. B. der mühsame Prozel des Erwachens eines politischen Bewußtseins unter den Armen, das Problem des Lebensopfers angesichts des Terrors gegenüber Widerstandsbewegungen, die Frage nach dem Begriff ökonomischer Gerechtigkeit angesichts der Ausbeutung billiger Arbeitskraft u.a. Im Unterschied zu Dussel sammelt Zea vor allem die verstreuten Bruchstücke eines »Diskurses der (ehemals) Kolonisierten« und versucht damit einen kontinuierlichen Diskussionszusammenhang über die sozialen und kulturellen Probleme der lateinamerikanischen Gesellschaften zu etablieren. Eine lateinamerikanische Philosophie ist daher für Zea primär eine Philosophie der lateinamerikanischen Geschichte?, genauer eine kritische und ehrliche Aneignung der Vergangenheit, auch der Geschichte der gescheiterten Modernisierungsversuche. Dadurch sollen aus der eigenen Geschichte Elemente für eine kollektive Identität herausgeschält werden, die eine
organische Entwicklung der lateinamerikanischen Gesellschaft in
Zukunft tragen könnte. Der Philosophie wird damit die Autgabe zugemutet, zur Identitätstindung einer postkolonialen Gesell-
schaft beizutragen, eine Aufgabe, die Zea in Mexiko durchaus wirkungsvoll, wenn auch nicht unumstritten, erfüllt hat. Die befreiungsphilosophischen Entwürfe von 'Zea und Dussel stellen zwei zentrale Probleme lateinamerikanischer Gesellschaften, die politische Reformen immer wieder desavouieren, ins Zentrum des philosophischen Diskurses, nämlich die tiefen sozialen Gegensätze und die mangelnde Identifikation der Eliten mit der Kultur und Geschichte des jeweiligen Landes. Doch wie immer die inhaltlichen Akzente gesetzt werden, am Anfang aller betreiungsphilosophischen Ansätze steht - in sachlicher Antizipation von Foucaults Aufweis der Beziehung zwischen Macht und Wahrheit die Einsicht, daß der philosophische Diskurs selbst Teil der herr20 Vgl. dazu Zea (1987), das als Hauptwerk seiner Konzeption seiner »Philosophie der Befreiung« gilt, sowie Zea (1976), das Standardwerk zur Geschichte des lateinamerikanischen Denkens.
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schenden Verhältnisse ist. Daher ist die Befreiung der Philosophie unumgängliche Voraussetzung für eine »Philosophie der Befreiung«, die als politische Philosophie an die »wirklichen Kämpfe anknüpft« und sich dabei auch politisch für die Veränderung der gesellschaftlichen Verhältnisse engagiert. An dieser Stelle wider-
stehen jedoch - nicht ohne Einfluß von Sartre - weder Dussel noch
Zea der Versuchung, nach ihrer Kritik am dogmatischen Paternalismus der europäischen Linken der lateinamerikanischen Philosophie in gewissem Sinn eine prophetische Rolle im Rahmen einer kritischen Reflexion der Befreiungsbewegungen bzw. der Ausbildung kollektiver Identitäten zuzuweisen. Im prophetischen Engagement sind jedoch - wie schon bei Sartre - manche analytischen Reflexionsebenen verlorengegangen.?' Daher ist die lateinamerikanische Philosophie der Befreiung heute bevorzugte Zielscheibe
der gegenwärtigen Rezeption und Adaptation postmodernen
Denkens in Lateinamerika. Damit nimmt in der lateinamerika-
nischen Absage an den Befreiungsdiskurs der letzten Jahrzehnte der »Diskurs der Dritten Welt« eine neue Wende, ein Diskurs, den die Befreiungsphilosophie selbst maßgeblich mitbegründet hat, auch wenn die aktuelle Diskussion inzwischen ihre inhaltlichen Optionen einer kritischen Revision unterwirft.
4. Schlußbemerkung Eine Ethik der globalen sozialen Frage steht, um nochmals auf
Foucault zurückzukommen, immer schon im Zusammenhang der
Frage nach dem Sinn der Gegenwart, die jeweils ein bestimmtes Feld möglicher Erfahrungen eröffnet (Foucault 1987, S. 35 f.). Die
Frage »Worin liegt unsere Verantwortung für die Armut in der Welt« ist daher Teil der Frage »Was sind wir gegenwärtig?« Der 21 So zeigt sich etwa bei Dussel nach wie vor eine starke Orientierung an der dependenztheoretischen Kritik der Nord-Süd-Beziehungen, in der
die jüngere entwicklungstheoretische Diskussion nur mehr selektiv verarbeitet ist. Zeas Projekt einer mestizischen Integration der lateinamerikanischen Kulturen wird hingegen den neu erwachenden indigenen Bewegungen, die sich vom Mestizentum der »Ladinos« deutlich abgrenzen, nicht mehr gerecht.
22 Vgl. Castro-Gómez (1995); Ramos (1994); Herlinghaus und Walter (1994).
335
aktuelle Raum möglicher Erfahrungen ist heute vor allem durch die Ernüchterung über die großen europäischen Geschichtsphilosophien geprägt, die bis in die jüngste Vergangenheit hinein die ideologischen Auseinandersetzungen sowohl zwischen Europa und der Dritten Welt als auch innerhalb der Dritten Welt bestimmt haben. Mit den großen Theorien ist allerdings auch der Enthusiasmus weltverändernder Praxis weithin verflogen, das Pathos der großen Schuld und der revolutionären Umgestaltung der Verhältnisse nicht minder wie der Glaube an weltweiten Wohlstand durch Technik und ökonomisches Wachstum. Die westliche Philosophie hat daher zu Recht ihren prophetischen Habitus durch den Geist analytischer Distanz und pragmatischer Selbstbescheidung ersetzt. Allerdings sind die Grenzen zwischen nüchterner Bescheidenheit und einer Reduktion des Problemhorizonts fließend. Insofern aktuelle Ansätze einer »angewandten Ethik« suggerieren,
daß die Lösung konkreter Probleme bloß Sache der richtigen Anwendung der richtigen Theorie sind, unterbietet eine gegen-
wärtige Ethik trotz ihres Vorsprungs an Desillusionierung das
Reflexionsniveau des revolutionären Denkens der 6oer Jahre, das heute vor allem in Foucaults Machtkritik »aufgehoben« ist. Allerdings macht Foucault auch auf eine schmerzliche Grenze gegenwärtiger Philosophie aufmerksam. Die Zugehörigkeit zur Gegenwart kann - so Foucault - nicht mehr unmittelbar als Zugehörigkeit zur Menschheit als solcher, sondern bloß »zu einem bestimmten Wir«, als Zugehörigkeit zu einem begrenzten kulturellen Ganzen, ausgelegt werden, die im philosophischen Diskurs jeweils problematisiert wird. Die Segmentierung des sokratischen Dialogs schlägt daher auch auf die gegenwärtigen Ethikentwürte zur globalen sozialen Frage durch; so geben die Fragestellungen des partikularen »Wir«, in dem sich der philosophische Diskurs
jeweils bewegt, weithin die Horizonte vor, in deren Licht das Problem weltweiter Armut überhaupt verhandelt wird. Daher dominiert in den ethischen Beiträgen euroamerikanischer Philosophie weithin die Frage, ob bzw. wieviel Entwicklungshilfe unter welchen Bedingungen geleistet werden soll. Die unternehmens-
ethische Frage ist: Welche moralischen Auflagen sind für global operierende Unternehmen in ihren Aktivitäten in den Ländern der
Dritten Welt zumutbar? Gewiß: Keine Philosophie kann heute mehr den Anspruch einlösen, für die menschliche Gemeinschaft schlechthin zu sprechen. Daher arbeiten sich unterschiedliche 336
Philosophien in und außerhalb Europas jeweils von ihren spezifischen kontextuellen Ausgangspunkten her an die globale soziale Frage heran. Dabei sind naturgemäß jene Fragen leitend, die die Problematik weltweiter Armut in dem jeweiligen »Wir« auslöst. Die postmoderne Achtsamkeit auf die Zugehörigkeit der Philo-
sophie zu einem bestimmten »Wir« läßt jedoch Probleme der Verstricktheit in globale Machtstrukturen und damit die Frage grenzüberschreitender Solidarität often. Ohne in die Sackgassen vorschneller Solidarisierungen zurückzufallen, müßte daher eine westliche Ethik der globalen sozialen Frage die Macht, wie Foucault vorschlägt, zumindest auf der Ebene des Diskurses, des Bewußtseins bearbeiten; dies dürfte jedoch ohne eine Öffnung auf den »Diskurs der Dritten Welt« kaum gelingen. Außereuropäische Philosophien sind zwar nicht, wie Sartre etwas pathetisch proklamiert, »ein Mittel, Europa zu heilen«, aber sehr wohl eine Instanz, das eigene Problembewußtsein in globalethischen Fragen
im Licht der Erfahrungen der Betroffenen jenseits des eigenen sozioökonomischen Kontextes zu erweitern.23 Auf diesem Weg eröffnet sich möglicherweise auch eine neue Perspektive für eine politisch-engagierte Philosophie. Denn im Kampf gegen weltweite Armut mangelt es weniger an wohldurchdachten Programmen als an der Macht der Marginalisierten, ihre Interessen in Entscheidungsprozesse einzubringen. Daher ist nicht sosehr von Bedeutung, inwiefern die angewandte Ethik an euroamerikanischen Universitäten zu einem Politikum wird, sondern ob die Erfahrungen, die Kämpfe, aber auch die Niederlagen der Marginalisierten ein Politikum werden. Vielleicht kann dazu auch eine philosophische Ethik einen Beitrag leisten, allerdings nicht durch pro-
phetische Aufklärung. Denn die Armen bedürfen keiner Philosophie, die ihre Interessen paternalistisch vereinnahmt.
Doch wäre wohl auch für sie etwas gewonnen, wenn ihre Forderungen und Kämpfe, die nach dem Ende des Kalten Krieges an den Rand der Weltöffentlichkeit gedrängt werden, die Mauern des
Schweigens an einigen Stellen, vielleicht auch in der euroamerika23 In diesem Sinn hat sich z.B. Apel in den letzten Jahren auf einen intensiven Dialog mit der lateinamerikanischen Philosophie der Befreiung eingelassen, vgl. dazu die Dokumentationsbände von Fornet-
Betancourt (1992, 1993). Zu einem wirtschaftsethischen Dialog mit Vertretern aus Asien vgl. z. B. Minus (1993)
337
nischen Philosophie, durchbrechen. Da die großen Ideologien diskreditiert sind, müssen die Armen heute nicht mehr die geschichtsphilosophische Last »der universalen Befreiung der Menschheit« tragen. So ist eine Ethik, die sich in kritischer Solidarität mit den Opfern der gegenwärtigen Weltlage verbunden weiß, einen neuen Versuch wert. Denn wie José Marti gesagt hat: »pensar es seroir.«
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341
Ulrich Thielemann Angewandte, funktionale oder integrative Wirtschaftsethik? Die Befolgung ethischer Normen in und angesichts der Wirtschaft zwischen Unmöglichkeit, Notwendigkeit und (Un-)Zumutbarkeit
Wie lassen sich spezifische Handlungsbereiche ethisch thematisieren, ohne den moral point of view weder zu verfehlen noch den
Fokus des Thematisierens von vornherein und ohne Begründung einzuengen? Dies scheint mir die Grundfrage jeder bereichsspe-
zifischen Ethik zu sein. Im Zentrum der folgenden Überlegungen steht der Handlungsbereich der Wirtschaft, d. h. der Marktwirtschaft, sowie die wirtschaftsethische Diskussion, die diesen Bereich thematisiert. Es wird sich zeigen, daß trotz unterschiedlicher Ansätze hier zumeist stillschweigend vom verengten Modell der Ethik in der Wirtschaft ausgegangen wird - und nicht auch: der Wirtschatt. Die wirtschaftsethische Diskussion wird weitgehend von zwei
Ansätzen bestimmt: dem der angewandten Ethik und dem des ethischen Funktionalismus. Beide Ansätze kommen sich nicht allzusehr in die Quere; eine Kooperation ist relativ problemlos möglich', zumindest solange der eine Ansatz nicht allzu ›unrealistische‹ Forderungen stellt und der andere nicht allzu deutlich wird. Denn gemein ist ihnen der »Reflexionsstopp« (Sloterdijk 1983, S. 63) gegenüber den (wie Karl Homann gerne sagt:) »Bedingungen der modernen Wirtschaft«, derart, daß sie diese Bedingungen affirmieren - der angewandte Ansatz stillschweigend, der funktionalistische, der den Markt zum Prinzip erhebt, explizit.
Demgegenüber schlage ich in Anlehnung an Peter Ulrichs Programm (1990, 1995, 1997, 1998) einen integrativen Ansatz vor. 1 Als Beleg sei auf das von Georges Enderle, Karl Homann, Martin Honecker, Walter Kerber und Horst Steinmann gemeinsam herausgegebene Lexikon der Wirtschaftsethik (Freiburg u.a. 1993) verwiesen. Vgl. auch die kritische Rezension von Wolfgang Kersting (1995).
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Dieser steht zunächst nur für das offene Programm der Vermeidung und Aufdeckung von Reflexionsstopps. Die integrative Perspektive steht darum in enger Verbindung zum allgemeineren Programm der Diskursethik, so wie ich es verstehe. Reflexionsstopp und Diskursstopp sind im Grunde dasselbe.
1. Der Reflexionsstopp angewandter (Wirtschafts-)Ethik I. 1 Diskursethik als angewandte Ethik?
Ich beginne mit einer These bzw. einem Postulat: Ethik, ethische Vernunft, hat es nicht mit › Anwendungen‹ zu tun, sondern stets nur mit Begründungen. Und Begründung ist weder etwas dem
(legitimen) Handeln Vorgelagertes oder eine ›Voraussetzung‹ noch
etwas Nachträgliches, das auch noch erfüllt sein muß. Ethik ist vielmehr Begründung. So läßt sich m. E. der Kerngedanke der Diskursethik als einer kognitivistischen Ethik zusammenfassen. Und dabei ist darauf hinzuweisen, daß kognitivistische Ethiken nicht etwa einen speziellen Ethiktypus repräsentieren. Alle Ethiken sind, insofern sie normativ-ethisch Verstehbares und Gültiges
zur Geltung zu bringen beanspruchen, kognitivistische Ethiken.
Die Explikation der Moralperspektive ist ein kognitives Geschäft. Nur bringen einige Ethiken diesen Gesichtspunkt konsequenter und reiner zur Geltung als andere. Und dabei stellt die Diskursethik, die sich sozusagen auf das Zur-Geltung-Bringen selbst konzentriert, weshalb man sie auch als eine »Ethik der Logik« bezeichnen kann (vgl. Apel 1973, S. 397ff.), den m.E. bisher tref-
fendsten Versuch dar. Mit der Denkfigur des performativen
Widerspruchs, also der Demonstration, daß sich derjenige, der die Diskursivität des Denkens in Frage stellt, »mit seiner Frageabsicht, recht begriffen, bereits auf dem Boden eben dieses Prinzips
gestellt hat«, verfügt die Diskursethik über das wohl stärkste Argument, das sich philosophisch denken läßt. Aber wofür wird da eigentlich argumentiert? Worin liegt die diskursethische Pointe, etwa im Vergleich zu alternativen Entwürfen der rationalen Explikation des moral point of view? Wie ich meine, liegt sie in der 2 So die treffende Charakterisierung von Friedrich Kambartel (1974, S. 11); vgl. zum Zusammenhang von Fragen und (Mit-) Verantwortung auch Apel (1988, passim).
343
Einsicht, daß es in der Ethik keine Anwendungsprobleme gibt, sondern nur Begründungsprobleme oder schlicht: normativethisch bedeutsame Probleme.3
Das entscheidende Argument für diese Sicht ist unmittelbar epistemologischer Art: Wie sollten wir sonst, wenn wir also nicht jederzeit zugleich eine Begründungsperspektive einnähmen, wissen, daß wir es tatsächlich mit einem Problem und nicht mit einem
Scheinproblem zu tun haben? Begründung ist stets diskursive Begründung: Jeder kann die je meinige Auffassung kritisieren, und darin ist die Möglichkeit systematisch eingeschlossen, dals ich einsehe, daß meine bisher vertretene Meinung falsch war. Wenn wir hier, also bei der Bewältigung ethischer Probleme, mit dem Begriff von › Anwendung‹ operieren statt mit dem der Begründung, dann mißachten wir gerade die Kritikfähigkeit und die argumentative Kompetenz des ›Gegenstandes‹, auf den wir das von uns für richtig Befundene ›anwenden‹. Dieser Gegenstand‹ ist nämlich als diskursives Ko-Subjekt anzuerkennen, an das wir unsere Geltungsansprüche denknotwendigerweise (mit-)adressieren, zumindest insoweit, als sich die fragliche Aussage nicht allein auf einen physikalischen Wirkungszusammenhang bezieht. Im Anwendungskonzept von Ethik hingegen hat der Gegenstands
der ›ethischen‹ Anwendung systematisch nichts mehr zu sagen. Der Begriff der ›Anwendung‹ impliziert ja, daß über Fragen der Begründung bereits vorher entschieden wurde. Warum auch sonst
sollte man von ›Anwendung‹ sprechen - Anwendung wovon auf was? Wer von der ›Anwendung der Ethik‹ spricht, muß folgendes
meinen: Weder können bzw. sollen wir, die Anwender als die
einzigen moralischen Subjekte in diesem Konzept, die Auffassungen und Handlungen des ›Gegenstandes‹ der Anwendung kritisieren, wir müssen sie vielmehr in ihrer objektiven Widerständig3 Das Postulat der Zweistufigkeit der Ethik (vgl. Apel 1988, passim) ist einerseits Ausdruck dieser Pointe, andererseits verleitet es jedoch zu einer Fehlinterpretation: Das Postulat weist zum einen darauf hin, dals sich die normative Gültigkeit bzw. situative Angemessenheit konkret zu befolgender Normen nicht sozusagen vom Schreibtisch des Philosophen aus begründen und bestimmen läßt; vielmehr ist die Begründung von den Individuen selbst, von ›mir‹ und ›dirs, praktisch zu leisten. Andererseits legt der Begriff zweier Stufen doch auch ein deduktives Verhältnis nahe zwischen allgemein-philosophischer und besonderer, ›praktischer‹ Erkenntnis bzw. Begründung.
344
keit akzeptieren, so daß sich überhaupt ein Anwendungsproblem ergibt; noch kann dieser › Gegenstand‹ seine möglicherweise ja guten Gründe uns gegenüber zur Geltung bringen. Hierin, in
der stillschweigenden Reduktion des Kreises sowohl der Adressaten als auch der Adressierenden normativ-ethischer Ansprüche liegt der Reflexions- und zugleich der Diskursstopp des Anwendungskonzepts von Ethik. Ich möchte diesen Zusammenhang einen Moment weiter vertiefen. Das Problem sogenannter › Anwendung‹ scheint sich im Zusammenhang des klassischen Problems der Vermittlung von Theorie bzw. philosophischer Ethik und Praxis zu stellen. Unter pragmatischen Gesichtspunkten der Performanz innerhalb der sozialen Welt läßt sich philosophische Erkenntnis ja als Erkenntnis der Wenigen begreifen, die die Moralperspektive (angeblich) besser und genauer erfaßt haben und zur Geltung bringen können als der Common Sense der Vielen. (Ich halte diese Beschreibung für legitim und wichtig.) Wenn aber diese Vielen oder doch zumindest einige, gemeinhin ›die Praxis‹ genannt, noch nicht das Niveau philosophischer Erkenntnis erreicht haben und vielleicht zu ihren Lebzeiten niemals erreichen werden, dann liegt anscheinend die Auffassung nahe, daß
»die Bedingungen einer verantwortbaren Anwendung der idealen
Normen der Diskursethik nicht als gegeben unterstellt werden können« (Apel 1994, S. 392). An die logische Stelle des Diskurses
tritt dann etwas anderes - in der Apelschen Konzeption ein stra-
tegisches »Ergänzungsprinzip«. Dieses soll dem Ziel der »langfristigen, progressiven Realisierung der Anwendungsbedingungen des Diskursprinzips« dienen (Apel 1988, S. 466).
Es stellt sich allerdings die Frage, woher man begründet wissen können sollte, ob die angeblich nicht ›anwendbaren‹ Normen ansonsten ›verantwortbar bzw. legitim sind. Oder man könnte
fragen: Sind die »Anwendungsbedingungen des Diskursprinzips«
in diesem oder jenem Handlungszusammenhang nun gegeben oder nicht? Und wie wäre das eine oder andere zu entscheiden, d.h. zu begründen? Dazu müßten wir ja doch, folgen wir der Diskursethik bzw. der Diskurstheorie der Gültigkeit, von der aus ich hier argumentiere, die ›Anwendbarkeit‹ oder besser: die Verbindlichkeit just dieses Diskursprinzips schon als gegeben voraussetzen. Eine sich als angewandte Ethik verstehende Diskursethik gerät
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also in einen Widerspruch zwischen den diskursiv-universalistischen Bedingungen der Möglichkeit gültiger Urteile und dem Diskursabbruch gegenüber den »Anwendungsbedingungen«. Wir entgehen diesem Widerspruch, wenn wir die Diskursethik bescheidener konzipieren, und zwar sollten wir dies aus genuin moralischen Gründen tun. Strenggenommen läßt sich nämlich ›theoretisch‹ bzw. situationsunabhängig (sozusagen vom Schreib-
tisch aus) keine einzige Norm als für bestimmte (oder gar für alle)
Situationen legitim ausweisen - wie elementar uns diese auch
immer erscheinen mag.* Vielmehr läßt sich (transzendental) philosophisch nur ein formales Moralprinzip benennen, d. h. eine Per spektive aufweisen: die der Vernünftigkeit. Und diese Perspektive expliziert die Diskursethik als die Einstellung der Begründung, der Argumentation und des Diskurses. Normen sind Handlungsanweisungen für bestimmte Situationen; Prinzipien hingegen benen-
nen, warum eine Norm richtig (praktisch vernünftig) ist. Normen
und (normativ-ethische) Prinzipien sind gewils schwer zu unterscheiden; aber es ist auf die transzendentale Differenz hinzuweisen, die zwischen ihnen besteht. Normen lassen sich gegenständlich denken; Prinzipien hingegen sind intelligibler Natur. Sie benennen nichts, was in der Welt der Fall ist, sein könnte oder sein
sollte, als vielmehr unsere Einstellung der Welt gegenüber. Nicht umsonst beginnt der erste Abschnitt der Grundlegung zur Metaphysik der Sitten mit dem Satz: »Es ist überall nichts in der Welt, ja überhaupt auch außer derselben zu denken möglich, was ohne Einschränkung für gut könnte gehalten werden, als allein ein guter Wille« (Kant 1974, S. 18) und nicht etwa mit dem Satz: >... als
allein der im folgenden vorzustellende Normenkatalog.‹ Demgegenüber sind die ethischen Weichen, wie ich meine: falsch gestellt, wenn man, wie Habermas, »daran festhält, nur solche Normen ›moralisch‹ zu nennen, die im strikten Sinne universalisierbar sind,
also nicht über soziale Räume und historische Zeiten varieren« (Habermas 1994, S. 121). Es geht ethisch nicht darum, wie Haber-
mas und mit ihm eine Tradition, die man Regelethik nennen
4 Das ist eines der zentralen Themen in Peter Ulrichs erstem wirtschafts-
ethischem Hauptwerk, das er mit Bedacht »Transtormation der ökono-
mischen Vernunft« (1993) und nicht etwa: »die › Anwendungs der Diskursethik auf die Wirtschaft« genannt hat. (Vgl. Ulrich 1997, S. 225; vgl. auch ders. 1994, S. 247, 1996, S. 31f.).
346
könnte, meint, daß wir alle den gleichen Normen folgen sollen (d.h.: in bestimmter Hinsicht das gleiche tun oder auch unterlassen
sollen), sondern darum, daß wir alle einsehen können, daß eine spezifische Norm der Situation moralisch angemessen ist. Verallgemeinerungstähig sind nicht ›objektive‹, als beobachtbar vorstellbare Normen, sondern allein Prinzipien, Einstellungen und Beurteilungen. Wenn man hingegen von der Vorstellung ›universalisierbarers, an sich gültiger Normen ausgeht, ist der Weg zu einer
Anwendungs- oder Durchsetzungsperspektive von ›Ethik‹ nicht mehr weit. Auch der Diskurs ist, wenn er einen transzendentalpragmatischen Stellenwert hat, keine formale Obernorm, sondern eine Einstellung. Darum ist es verfehlt, ihn als ein (objektives) Verfahren oder
als eine (äußerliche) Methode zur Wahrheitsfindung zu begreiten. Diskurse lassen sich nicht als solche beobachten. Der Diskurs ist vielmehr als eine Denkungsart zu verstehen - die der Vernunft. Er ist auch keine ideale Vorstellung, wie es die Rede von der »idealen Kommunikationsgemeinschaft« (Apel) bzw. der »idealen Sprech-
situation« nahelegt, die ja Habermas zufolge »nicht durch die Persönlichkeitsmerkmale idealer Sprecher, sondern durch strukturelle Merkmale einer Situation möglicher Rede, ... zu charakterisieren (ist)« (Habermas 1971, S. 139). Der Diskurs ist vielmehr eine regulative Idee, der prinzipiell und nicht bloß annäherungsweise »nichts Empirisches korrespondieren kann« (Kant), weil er
nichts Empirisches ist, sondern - wenn denn eine ontologische Redeweise erlaubt ist - nur in unseren Köpfen Platz hat. Darum läßt sich diese Idee auch nicht, wie eine Vorstellung, ›realisieren‹ oder ›anwenden‹ - denn sie ist bei allem, was wir mit Gültigkeitsanspruch vorbringen, bereits als ›realisiert‹ zu unterstellen. Wir können sie nur als Orientierung treffen oder eben verfehlen. Viel-
leicht könnte man auch formulieren: Die »Anwendungsbedingungen einer Ethik der idealen Kommunikationsgemeinschaft« (Apel 1988, S. 392) sind spätestens gegeben, sobald wir sie, wie vorläufig
und unvollkommen auch immer, thematisieren und reflektieren,
wobei wir diese Bedingungen dann allerdings als Verbindlichkeits§ Es fragt sich dann natürlich, wie diese »strukturellen Merkmale«, die ja von den handelnden Personen und ihren Orientierungen zu unterscheiden sein sollen, in die Welt kommen bzw. praktisch werden können sollten.
347
bzw. Gültigkeitsbedingungen anzuerkennen haben. Angesichts des Gefälles zwischen philosophischer Erkenntnis und ›praktischer‹ bzw. empirischer Unkenntnis oder gar Ignoranz bedeutet dies, daß wir, die philosophisch sich einsichtiger Dünkenden, uns auch noch dem ›Diskursverweigerer‹ gegenüber argumentationszugänglich eingestellt zu verstehen haben. Auch Diskursverweigerung hat im Prinzip als ein Argument zu gelten - wenn es sich auch bald als ein widersprüchliches Argument herausstellt. Mir scheint auch, daß wir durchaus verpflichtet sind, uns »über die Gründe (sic!) ... die zur Diskursverweigerung derer, die nicht argumentieren, führen mögen ... Gedanken (zu) machen«, was Apel (1988, S. 449) bestreitet. Wir dürfen niemanden aus dem Diskursuniversum ausschließen, in dem wir, d.h. alle sprachund handlungsfähigen Subjekte, immer schon stehen oder, wenn sich das Gegenteil denn denken läßt, in das wir im Sinne einer pragmatischen Maxime zu stellen sind. Wir dürfen niemanden ›exkommunizieren‹ - auch nicht ›die Wirtschaft.‹ Aus dieser integrativ-diskursethischen Perspektive stellt sich schlechterdings kein Anwendungs- bzw. Durchsetzungsproblem. Selbst unter Erfolgsgesichtspunkten ließe sich ja fragen, warum die
Individuen denn nicht das tun sollten, was sie als richtig (ein-
schließlich legitim) eingesehen haben. Und wenn jemand faktisch
nicht entsprechend handeln sollte, dann sind die Gründe dafür ernsthaft unter Legitimitätsgesichtspunkten zu prüfen. Natürlich
ist eine Durchsetzung von als legitim anzuerkennenden Normen gegen den manifesten Willen eines Individuums nicht grundsätz-
lich unerlaubt. Aber dies ist darum doch kein Problem der Anwendung oder Durchsetzung ›der Ethik‹, sondern eine Frage danach, ob die Norm einschließlich ihrer Durchsetzung legitim ist, »so daß der Gestrafte ... selbst gestehen muß [d.h. als legitim anerkennen können muß, A.d.V.], es sei ihm recht geschehen, und
sein Los sei seinem Verhalten vollkommen angemessen« (Kant 1974, S. I50).
348
1.2 Angewandte Wirtschaftsethik: Das Unmöglichkeitstheorem Damit sind die Grundlagen gelegt, den Ansatz der Anwendung der
Ethik auf die Wirtschaft besser zu verstehen und zu kritisieren. Dabei lautet unsere erkenntnisleitende Fragestellung: Was tritt im Anwendungskonzept von Ethik an die Stelle der Begründung? In weiten Teilen des wirtschafts- und unternehmensethischen Diskurses ist die Neigung verbreitet, an diese Stelle, an die Stelle des begründungsbezogenen Sollens, ein Können oder Nicht-Können zu setzen. So z. B. formuliert Vittorio Hösle: »In einer auf Konkurrenz basierenden Wirtschaft ist es einem einzelnen Unternehmen nur im Ausnahmefall möglich, das dem Gemeinwohl Zuträg-
liche zu tun, wenn dies einen wirtschaftlichen Nachteil für es bedeutet« (Hösle 1991, S. 104, Hervorhebung von U. T.) Und Thomas Retzmann (1994, S. II, Hervorhebung von U. T.) fragt: »Ist dem Menschen ein ethisch legitimes Handeln generell und speziell in Unternehmen möglich? Es ist zu klären, ... ob [die moralische Urteils- und Handlungskompetenz] in Wirtschaftsinstitutionen mit ihren systemfunktionalen Zwängen anwendbar ist.« Die Aufzählung ließe sich verlängern."
Solchen (wo nicht prinzipiellen, so doch zumindest partiellen) Theoremen der Unmöglichkeit von ethischer Vernunft ist schon Kant energisch entgegengetreten, der darin eine Verletzung des
logischen Primats der praktischen Vernunft (als ethischer Rationalität) sah: »Es ist offenbare Ungereimtheit, nachdem man ... (dem) Pflichtenbegriff seine Autorität zugestanden hat, noch sagen zu wollen, dalß man es doch nicht könne« (Kant 1982, S. 228 f.). Natürlich kann man stets das moralisch Richtige tun, wie stark die personalen oder die »systemfunktionalen« Zwänge auch immer sein mögen - es fragt sich nur, was in und angesichts bzw. letztlich: gegenüber einer geschichtlich gegebenen Situation das moralisch Richtige ist. Und wenn man es hier und jetzt nicht ›kann‹, dann soll man es möglicherweise lernen. Darin, im Sollen, liegt ja gerade der Sinn des »Pflichtenbegriffs«. Allerdings thematisiert das unternehmensethische Unmöglich-
keitstheorem, wie es von Hösle, Retzmann und vielen anderen formuliert oder zumindest auf empirischer Grundlage erörtert 6 Vgl. zu weiteren Quellen Thielemann (1994, S. 9f.).
349
wird, einen höchst bedeutsamen Zusammenhang. Nur muß dieser begrifflich anders gefaßt und aufgefaßt werden. Prima facie gültige Normen zu befolgen kann »unter den Bedingungen der modernen
Wirtschaft« (Homann) selbst unzumutbar, also illegitim sein. Dann haben wir es aber nicht mit ihrer Nicht-Anwendbarkeit,
sondern mit einem Normenkonflikt zu tun, und dieser muß als prinzipiell auflösbar gedacht werden. Diese eigentümlichen Be-
dingungen sind also nicht etwa hinzunehmen und damit stillschweigend als legitim anzuerkennen, wie dies für Anwendungskonzeptionen von Ethik charakteristisch ist. So sehen Homann und Blome-Drees (1992, S. 14, Hervorhebung von U. T.), deren Ansatz ansonsten nicht der angewandten, sondern der funktionalistischen Wirtschaftsethik zuzurechnen ist, die Grundfrage der Wirtschaftsethik darin, »welche Normen und Ideale unter den Bedingungen der modernen Wirtschaft ... zur Geltung gebracht werden können«. Vielmehr sind, wenn ein Reflexionsstopp vermieden werden soll, diese Anwendungsbedingungen selbst legitimatorisch zur Disposition zu stellen. Sie sind das eigentliche Thema der Wirtschaftsethik, verstanden als Frage nach der Legitimität des Handelns nicht nur »in« bzw. »unter den Bedingungen«, sondern auch angesichts bzw. gegenüber der Wirtschaft. Systematisch betrachtet bedeutet dieses Verständnis von Wirtschaftsethik als ein (wie Ulrich sagt:) integratives Vorhaben nichts anderes, als daß die Argumentationszugänglichkeit und die Diskursivität auch dieser, trotz allem ja nun nicht natürlichen »Bedingungen« im Sinne einer pragmatischen Maxime zu unterstellen bzw. zu fordern ist. Moralische Forderungen sind an das Wirtschaften selbst zu adressieren, ebenso ist das Wirtschaften als ein moralischer Anspruch zu verstehen bzw. ernstzunehmen (was nicht zu verwechseln ist mit: akzeptieren). Moralische Fragen haben stets mit Normenkonflikten zu tun, sonst taucht schlichtweg
keine normativ-ethische Frage auf.
7 Ich sage nicht: ›... universal gültige Normen zu betolgen...‹; denn, wie
gesagt, gibt es aus Grunden der situativen Angemessenheit im Großen wie im Kleinen keine solchen Normen.
350
2. Funktionalistische Wirtschaftsethik als Ideologie Bevor wir diesen Faden im nächsten Abschnitt wieder aufnehmen, sei auf die zum Ansatz angewandter Ethik komplementär vereinseitigte Perspektive funktionalistischer Wirtschaftsethik eingegan-
gen. Diese weitaus verbreitetere, ja, so gut wie den gesamten
wirtschaftsethischen Diskurs bestimmende Position teilt mit jenem Ansatz ein objektivistisches Moralverständnis. ® Doch werden
die Wirkungszusammenhänge umgekehrt eingeschätzt: ›Ethik‹ ist in der Wirtschaft nicht etwa ›unmöglich‹, sondern im Gegenteil
notwendig (Notwendigkeitstheorem), und zwar notwendig, um eine dauerhafte bzw. ›langfristige‹ unternehmerische Gewinn-
bzw. Einkommenserzielung sicherzustellen. Denn schließlich»bedarf« ja »die Existenz von Unternehmen in der Gesellschaft der moralischen Legitimation« (Wieland 1993, S. 20, Hervorhebung von U. T.). Diese ist allerdings nicht kostenlos zu haben. ›Ethik‹
kostet also Geld, aber nur ›kurzfristig, nicht etwa ›langfristigs, denn es handelt sich ja um notwendige Kosten. ›Ethik‹ ist mithin eine gewinnbringende Investition (vgl. Wieland 1993, S. 20 ff.).°
Mehr als 98% der Unternehmer und Manager stimmen gemäß mehrerer international ausgerichteter Studien der Auffassung zu:
»Sound ethics is good business in the long run. «10
Prinzipienethisch gesehen, geht hier etwas ernstlich durcheinander. Die Frage, ob es der Fall ist, ob sich ›Ethik‹ langfristig auszahlt oder nicht, kommt einem Kategorienfehler gleich zwischen theo-
retischer und praktischer (ethischer) Vernunft, zwischen Dingen und Personen. Mit Begriffen moralischer Legitimität können wir jedoch nicht einfach so verfahren wie mit deskriptiven Merkmalen (z. B. einer Farbe). Moralität oder einfach ›Morak bzw. ›Ethik‹ läßt sich nicht in der intentio recta, sondern nur in der intentio obliqua zur Geltung bringen," nur in der Einstellung der ersten Person, die sich an eine zweite Person wendet - letztlich: an ein unbegrenztes Publikum. Von ›Morak‹ kann ohne moralisches Engagement, ohne mein moralisches Engagement, der ich von ›Moral‹ spreche, ohne 8 Vgl. zur Kritik Thielemann (1996, S. 132f., 263 1.). 9 Vgl. auch den Beitrag von Wieland im vorliegenden Band. 1o Vgl. zu einer Interpretation dieses Befundes Ulrich und Thielemann (1993, S. 77 ff.).
II Vgl. zu dieser Unterscheidung Böhler (1984, S. 323).
35I
die Beurteilungsperspektive einzunehmen, nicht die Rede sein. ›Morak‹ ist ein Urteil - nichts, was man hier oder dort gewinnbringend (oder auch verlustbringend) plazieren könnte. ›Morak ist ein Urteil über den und zugleich gegenüber dem ›Gegenstand der Beurteilung. Wenn hingegen »Moral« als ein »Faktor« (Wieland 1994a, S. 23), als etwas Objektives, vor uns Liegendes vorgestellt wird, dessen »Funktion ... in der Wirtschaft« oder dessen mögliche »Faktizität« analysiert werden kann; wenn von »moralischen Gütern« die Rede ist, die so eingesetzt werden können, daß »aus
der Perspektive der Wirtschaft optimale Moralmengen« generiert werden, 12 dann stellt sich die Frage, ob es denn wahrhattig »Moral«
oder »Ethik« (also ethische Vernunft) ist, die sich da auszahlen
können soll, oder ob hier bloß der Schein von Moralität erzeugt wird. Denn schließlich gilt, salopp gesprochen: Nicht überall, wo ›Ethik‹ draufsteht, ist auch wirklich Ethik drin. 13 Diese Frage aber
ist, sobald ›Moral‹ als ein (erfolgsrelevanter) ›Faktor wahrgenom-
men wird, suspendiert.
Doch selbst wenn wir unterstellen dürften, daß es tatsächlich ›Moral‹ ist, also moralische Normen, die diesen Namen zu Recht tragen, in die »Firmen ... investieren (müssen), wenn sie ihr Ver-
bleiben im Markt sicherstellen wollen« (Wieland 1994b, S. 228),
wenn es also tatsächlich legitime Normen sind, die unter den Bedingungen der modernen Wirtschaft und Gesellschaft verfolgt
werden, Anwendung finden, ›kommuniziert, kontrolliert und
durchgesetzt werden ›müssen‹, und zwar weil sich dies als langfristig vorteilhaft erweist, dann ist damit noch nicht gesagt, ob die Verfolgung, Anwendung, Durchsetzung, Kontrolle, das Sich-Auszahlen usw. ihrerseits legitim sind. Wenn »moralische Kommunikation für die Durchführung und Sicherung von Transaktionen in der Unternehmung und zwischen Unternehmen« von »Bedeu-
tung« ist (Wieland 19942, S. 17), dann stellt sich die Frage, ob die Durchführung und Sicherung dieser »Transaktionen« (i.e. reziprok vorteilhafter Tauschbeziehungen) ihrerseits überhaupt prinzipiell legitim sind. In der Unterstellung, dies sei so, liegt
die eigentliche und stillschweigende Pointe funktionalistischer
12 Alle Zitate aus Wieland (1993, S. 16f, 29f.). 13 Vgl. auch Kersting (1995, S. 327), der angesichts der vielen »wirtschafts-
ethischen Angebote« die Frage stellt: » Wie lassen sich seriöse Offerten von Mogelpackungen unterscheiden?«
352
Wirtschaftsethik. Durch das Präfix »Moral« soll das »controlling«,* überhaupt die tauschförmige unternehmerische Selbstbehauptung auf Märkten, gleich mitlegitimiert werden. Warum aber kann es überhaupt so erscheinen, daß es ethische Vernunft sei (wenn auch allenfalls bloß im äußeren Verhältnis der Individuen zueinander) die das Interesse derjenigen weckt -
oder wecken müßte, wenn sie nur Verstand haben -, die in der Wirtschaft Langfristig bzw. dauerhaft ein Einkommen erwirtschaften wollen? Der Antwort kommt man näher, wenn man sich den
Unterschied zwischen einer kurz- und einer langfristigen Interessendurchsetzung vor Augen führt. Dazu mag die Gefangenendilemmamatrix, die die allgemeine Situation wechselseitig vorteils-
orientierten Tausches beschreibt, hilfreich sein. Bei der Analyse wird sich zeigen, daß es nicht ›Moral ist, die sich da durchsetzt. Vielmehr ist das, was sich da durchsetzt, eben was auch immer sich durchsetzt.15
A Leistung
I
Leistung
B
keine Leistung
II
2/2
III
4/1 IV
keine Leistung
1/4
3/3
Abb.: Illustration des sogenannten ›Gefangenendilemmas‹ als Modell der Definition von Vor- und Nachteilen in der tauschförmigen Interaktion wechselseitig Desinteressierter16
Zelle I repräsentiert nicht nur die für jeden einzelnen vorteilhafteste Situation (denn die Situationen il und in sind nicht stabil), sondern wird im ethischen Funktionalismus auch mit Begriften wie ›moralisch‹, ehrlich, Versprechen halten, Vertrauen, Zuverläs14 » Wertemanagement und Moralcontrolling sind ein Mittel zur Kontext-
steuerung und Kontrolle komplexer Organisationen ...« (Wieland 19942, S. 24).
Is »That which emerges is ›that which emergess, and that is that« (Buchanan 1977, S. 236).
16 Die Ziffern in den Zellen (I) bis (iv) bezeichnen ordinal skalierte Nutzenprioritäten.
353
sigkeit usw. belegt. Situationen in und int scheinen hingegen durch
Begriffe wie Betrug, Täuschung, Opportunismus, Ausbeutung, Trittbrettfahren charakterisiert werden zu müssen. Glücklicherweise sind die diesen Situationen korrespondierenden, ›unmoralischen‹ Handlungsweisen jedoch nur ›kurztristig‹ vorteilhaft; Betrug, also die Vortäuschung eines anderen als des wahren Interesses
gegenüber einem Interaktionspartner, und Trittbrettfahren, der Genuß von Vorteilen auf Kosten eines anderen, zahlen sich lang-
fristig also nicht aus. Woran liegt das? Die Zellen il und ilI
repräsentieren Situationen, in denen eine Seite der Versuchung erlag, die für die Erlangung von Vorteilen notwendigen Kosten, d.h. die Investitionen für die Ausschöpfung der (wie Buchanan sagt:) »mutual gains from trade« einzusparen. Zum langfristigen und insofern wahren Vorteil bzw. Interesse gelangt man allerdings
nicht etwa, wie suggeriert wird, durch ›Moral, also über die
Achtung der legitimen Rechte anderer, sondern durch die Aner-
kennung der Macht bzw. der Gegenmacht anderer, und zwar ihrer Macht, eine (Gegen-)Leistung zu verweigern. Die Zeit, die zwischen der kurzfristigen und der langfristigen Interessenvertolgung
verstreicht, ist nämlich nichts anderes als die Zeit, in der die
Gegenmacht anderer wirksam wird. Und wer klug bzw. ›rational ist, der antizipiert, was in dieser Zeitspanne voraussichtlich ge-
schieht. Die angeblich ›gerechte‹ Situation I repräsentiert also nicht
etwa einen Zustand legitimer Konfliktbeilegung, sondern ein Machtgleichgewicht, und zwar unter Ausklammerung positiver
personaler Macht bzw. Gewalt. 17 Zelle 1, der Punkt beid- oder allseitigen, sozusagen for the time
being detinitiven Vorteils, hat systematisch nichts mit ethischer Vernünftigkeit zu tun. Dieser Zustand kann nämlich schon
darum Ansprüchen der Legitimität nicht genügen, weil er dem Gesichtspunkt der distributiven Gerechtigkeit ebensowenig wie 17 Diese positive personale Macht, in der Okonomik mit dem Begritt ›externer Ettekte‹ belegt, kann in Zelle IV, dem ›Naturzustands bzw.
dem Status quo, verborgen liegen, wie die Beispiele des Coase'schen Internalisierungsvertrages oder im Extremfall des Sklavereivertrages
zeigen. Vgl. eingehender Thielemann (1996, S. 183 ff., 234 ft.).
18 Davon geht allerdings Apel ganz selbstverständlich aus: Der Vertrag und damit seine Einhaltung repräsentiere das »allgemeine Interesse«, und das heißt wohl: das legitime Interesse eines jeden einzelnen; er ist Inbegriff »der Ethik«, Vgl. Apel (1997, S. 170, 197f.).
354
dem der Solidarität gerecht wird. Und da auch auf der Basis gewaltsamer Eingriffe reziprok vorteilhafte Geschäfte möglich
sind, wie Coase und vor ihm natürlich bereits Hobbes gezeigt hat, ist noch nicht einmal sichergestellt, daß er Kriterien negativer Gerechtigkeit (Gewaltfreiheit) genügt.
Warum »›müssen‹ Unternehmen in ›Moral investieren? Oder kurz: »Warum Unternehmensethik?«! Sie ›müssen‹ dies tun, weil Ihnen sonst die Mitarbeiter davonlaufen oder innerlich kündigen oder weil sich die Konsumenten in Abstinenz üben oder gar, bei eklatanten Fehltritten, einen Boykott vom Zaune brechen könnten. Zu denken ist auch an die Gefahr von Fehlinvestitionen, wenn eine neue Technologie keine gesellschaftliche Akzeptanz
findet und sich darum die Gesetzeslage ändert. Maßgeblich ist also nicht die Legitimität der involvierten Ansprüche, sondern die Akzeptanz, d. h. das Verhältnis von Macht und Gegenmacht, sei diese nun positiv oder negativ, latent oder manitest, explizit oder implizit. Es ist wahr, dals es ein Gebot der Klugheit ist, andere Individuen zu berücksichtigen (d.h.: deren Macht bzw. die Auswirkungen ihres Handelns und Unterlassens). Diese Berücksich-
tigung aber hat nichts mit der Anerkennung der legitimen Rechte anderer, nichts mit ›Moral oder ›Ethik‹ zu tun. Ansonsten müßte
ein Anspruch umso legitimer sein, je mehr er mit Macht aus-
gestattet ist. Ethischen Funktionalismus haben wir bisher als Instrumentalismus erörtert. Diesen definiere ich durch die Auffassung, daß sich
die Verfolgung dem Anspruch nach unabhängig und autonom definierter moralischer Normen - wie durch ein Wunder - auszahlt oder sonstwie für das moralische Subjekt von Vorteil ist und ›Morak sich darum durchsetzt. Instrumentalismus kann nicht oder allenfalls »zufällig« (Kant 1974, S. 14) - gelingen, denn letztich wird nicht Moralität, sondern das Verhältnis von Macht und
Gegenmacht zur Maßgabe des Handelns und der Interaktion er-
hoben. Konsequenterweise mündet er in reinen Ökonomismus. Dieser behauptet, daß das, was legitim ist, durch das, was sich auszahlt und durchsetzt, zu definieren ist. So formuliert Karl Homann zusammen mit Ingo Pies: »Unter den Bedingungen der Moderne schlägt die Implementierung einer Norm auf ihre Geltung durch« (Homann und Pies 1994, S. 5). Was sich nicht durch19 So der Titel von Wieland (1994b).
355
setzen läßt, ist auch nicht legitim. Man könnte auch gleich formulieren: Es soll das Recht des Stärkeren gelten.20
3. Integrative Wirtschaftsethik als Reflexion des Verhältnisses von marktexternen und -internen Effekten Kommen wir noch einmal auf das ›Unmöglichkeitstheorem‹ zurück, dem ja, bei entsprechender Umdeutung, wirtschaftsethisch
durchaus etwas abzugewinnen ist. Wenn wir nun danach tragen, welcher Typus von Normen denn genau als unter den »Bedingungen der modernen Wirtschaft« ›unmöglich‹ zu befolgen angenommen wird, so ist es systematisch die Unterlassung der Ausubung
externer Effekte, d.h. von im Prinzip personal zurechenbaren
Einwirkungen auf andere. Ein anderes Problem - abgesehen viel-
leicht vom Betrugsproblem, das sich aber auch aus der Logik erfolgsorientierten Handelns heraus von selbst löst, wie wir gesehen haben - scheint sich nämlich wirtschaftsethisch gar nicht zu
stellen. Wirtschaftsethischer und unternehmensethischer Handlungsbedarf besteht vor allem oder gar einzig, weil »mancher Unternehmer und Manager keine Veranlassung (sieht), die moralisch bedenklichen, aber kostenträchtigen Nebenwirkungen des eigenen Tuns in seinen Entscheidungen besonders mitzuberücksichtigen« (Steinmann und Löhr 1994, S. 6).21 Es sind also solche externen äußeren Folgen von ökonomischen Handlungen, nicht
dieses Handeln selbst, die bei der Frage nach der »Möglichkeit einer Unternehmensethik« (Steinmann und Löhr 1994, S.219) allein zur Debatte stehen. Ich habe eingangs bereits gezeigt, daß es prinzipiell niemals ›unmöglich‹ ist, das ethisch Gebotene auch zu tun. Es ist niemals ›unmöglich‹, auf die Ausübung externer Effekte zu verzichten. Das 20 Diese Auffassung muß letztlich auch die angewandte Ethik teilen. Der Unterschied zum reinen Ökonomismus besteht lediglich darin, daß
hier die Anwendungs- bzw. Durchsetzungsbedingungen stillschweigend auf die moralische Gültigkeit ›durchschlagen‹. 21 Vgl. auch Löhr (1991, S. 285): »Die praktischen Anlässe« für ein unternehmensethisches Engagement »sind vielfältigster Art und können zusammenfassend am besten mit dem Begriff ›externer Effekte‹ um-
schrieben werden«. 356
prima facie ethisch Gebotene kann aber unzumutbar sein. Die Integration dieses Zumutbarkeitsproblems in die wirtschaftsethi-
sche Reflexion sprengt aber unweigerlich die auf die Kategorie externer Effekte zugeschnittene bzw. verengte Problematik nicht. Worin könnte nun eine solche Unzumutbarkeit für die Unternehmen (bzw. allgemeiner: für die an der Erzielung von Einkommen interessierten Individuen) bestehen? Naheliegend ist wohl die
Annahme, daß ein unternehmensethisches Handeln notwendigerweise, wenn nicht früher, so doch später, zu Gewinn- bzw. Einkommenseinbußen führen muß - im negativen Grenzfall bis hin zu
Entlassungen und Konkursen. Darum konnte sich ja die Annahme oder überhaupt schon nur die Fragestellung nach der ›Möglichkeits
oder ›Unmöglichkeits von ›Ethik in der Wirtschaft‹ bilden: Ein
ethisches Engagement in der Wirtschaft hat (zumindest in be-
stimmten Fällen) Einkommenseinbußen zur Folge und führt daher unweigerlich irgendwann zum wirtschaftlichen Ruin der Firma. Die Unternehmen verfügen einfach nicht über die erforderlichen »Handlungsspielräume« 22
Allerdings ist ein solcher ökonomischer Determinismus ebenso wie
jeder andere (Handlungs-)Determinismus schon aus logischen Gründen des Primats der praktischen Vernunft nicht haltbar. Das zeigt sich etwa daran, daß die Befolgung ansonsten legitimer
Normen prinzipiell auch ohne Konkurse - und auch ohne eine
einzige Entlassung - prinzipiell ›möglich‹ ist. Dazu müßten, wie auch Löhr erkennt, bloß »die Spielräume für die Möglichkeit einer Unternehmensethik... erwirtschaftet werden« (Löhr 1991, S. 285, Hervorhebung von U. T.). Schließlich sind »dem Marktprozeß... Handlungsspielräume geradezu immanent« (Gerum 1992, S. 260). Dieser Prozeß besteht ja letztlich aus nichts anderem als aus der
›Schaffung‹ oder (wie Hayek gerne sagt:) ›Entdeckungs neuer Handlungsspielräume und Erwerbschancen. Und wenn die unternehmerisch Handelnden zusätzlich ›Ethik‹ in ihr Repertoire aufnehmen, was ja sicherlich zu begrüßen, wenn nicht zu fordern ist,
dann müssen sie eben zusätzliche unternehmerische Anstrengun-
gen auf sich nehmen; dann muß »der Unternehmer« eben durch ein frühzeitiges »ökonomisches Engagement soviel Substanz ... 22 Vgl. zur Denkfigur des unternehmerischen »Handlungsspielraums« auch Gerum (1992, S. 258ff.).
357
schaffen«, daß er »ethischen Ansprüchen jederzeit gerecht werden kann« (Löhr 199I, S. 286),23
Dieser Ansatz eines sozusagen ›moralischen Unternehmertums‹ stellt jedoch nicht eine Lösung des ›Unmöglichkeits- bzw. Unzumutbarkeitsproblems dar, sondern dessen Leugnung. 24 Wenn man das Problem so betrachtet, dann bedeutet dies nämlich, daß die Vermeidung externer Effekte durch eine Verschärfung interner
Effekte ›erkauft wird. Von internen Effekten ist zu sprechen,
wenn Interessen bzw. Bedürfnisse (also Kandidaten für legitime
Rechte) bloß durch Tauschhandlungen berührt bzw. verletzt werden. Hier ist zunächst an das Einkommen der Marktteilnehmer, vor allem aber auch an die Werte, die um der Einkommenserzielung willen geopfert werden müssen, zu denken, also sowohl an marktinterne als auch an marktexterne Werte 25 Auf das Problem, daß das Einkommen sinkt bzw. die Wettbewerbsfähigkeit Schaden nimmt, falls den ansonsten legitimen Normen gefolgt wird, antwortet der Ansatz eines ›moralischen Unternehmertums‹: Dann müssen eben die Anstrengungen zur Erhaltung bzw. Wiedererlangung der Wettbewerbsfähigkeit forciert werden! »Ethik kostet
Geld« (Löhr 1991, S. 284), und sei es in Form von Opportunitätskosten. Aber Geld kann man erwirtschatten. Welche Wirkungszusammenhänge es sind, die hier stillschweigend als legitim anerkannt werden, läßt sich erkennen, wenn wir versuchsweise eine weniger ›individualethisches, sondern eher ›diskursethische‹ Lösung anvisieren. Diese löst sich vom Konzept der 23 Vgl. zu einer solchen Position, die auf einer ›neuen‹ (dynamischen) wettbewerbstheoretischen Sicht basiert, auch Braun (1993, S.78f., 112ff., 122). Nach anfänglich markt-deterministischer Argumentation, der zufolge »the ethical firm is driven out of the market altogether«, erkennt auch Baumol (1991, S. 5, 15) daß dies offenbar nicht der Fall
sein ›muß‹. Schließlich bestehe auch die Möglichkeit, »to accept a
corresponding reduction in earnings or to offset it through harder work or some equivalent«. 24 Das gilt erst recht für den letztlichen Lösungsvorschlag Löhrs (vgl. 1991, S. 286 ff.), der auf der Annahme fuit, daß die Beziehung zwischen »Unternehmensethik« und »Gewinnprinzip« als Non-Beziehung zu deuten
ist, weil es ja keine »hinreichend genaue Prognostizierbarkeit« bzw. »Kalkulierbarkeit« zwischen beiden Größen gebe. Warum allerdings der »ethische Innovator« »wagemutig« sein muß, warum es des »Muts zum - ethischen - Risiko« bedarf, diesen Fragen geht Löhr nicht nach. 25 Vgl. zur Begriffsabgrenzung Thielemann (1996, S. 315 ff.).
358
Alleinverantwortung zugunsten des Konzepts der Mit-Verant-
wortung. 26 Die diskursethische Lösung bestünde naheliegenderweise darin, daß die moralisch gewillten Unternehmer im weiteren
Sinne nicht nur einen praktischen Diskurs mit den extern Betroffenen, sondern zugleich auch mit ihren Tauschpartnern führen.
Diese sind ja für deren Einkommensposition kausal (mit)verantwortlich und damit dafür, daß es schwierig, vielleicht unzumutbar schwierig ist, ›Ethik‹ und ›Erfolg‹ zu versöhnen. Den Tauschpartnern würde in einem solchen Diskurs also angesonnen, von einer
rigorosen ›Anwendungs des Prinzips von Leistung und Gegenleistung abzurücken bzw. gar nicht erst bis zu seiner Verabsolutierung vorzustoßen. Man könnte auch formulieren: Es ginge darum, die Wirtschaft wieder ein Stück weit in die Lebenswelt einzubet-
ten, so dals nicht bloß die bare Zahlung, d.h. die Macht des
Zahlungsfähigeren und des Wettbewerbsfähigeren für die Interaktion maßgeblich ist, sondern die Legitimität der involvierten Ansprüche den Ausschlag gibt. Genau dadurch ließe sich eine »embedded economy« definieren. Ein solcher, vielleicht ja oftmals implizit geführter Zumutbarkeitsdiskurs zwischen Tauschpartnern erlaubt es allererst, »betriebsfremde Interessen« (Weber 1972, S. 79) bzw. marktfremde Gesichtspunkte (Thielemann 1996,
S. 289ff.) ins Spiel zu bringen bzw. in die marktliche Interaktion zu integrieren. Allerdings stößt er schnell an seine Grenzen je weiter die marktliche Entwicklung voranschreitet, desto eher. Das wird sofort klar, wenn wir uns fragen, warum die Marktwirtschaft von ihrer Eigenlogik her nicht (oder systematisch immer weniger) lebensweltlich eingebettet, d. h. von prinzipiell moralzugänglichen Handlungsorientierungen der Marktteilnehmer getragen ist. Für die entwickelte Marktwirtschaft sind zwei Interaktionsformen konstitutiv, aber nur ein Handlungstypus. Der Handlungstypus ist der Tausch, die Interaktionsformen sind Tausch und Wettbewerb. Märkte bestehen aus nichts anderem als aus Tauschakten, deren Vollzug in der Regel im Interesse beider Seiten liegt. Das ist der 26 Vgl. Apels Beitrag im vorliegenden Band. 27 Damit sind nicht nur Kapitaleigentümer gemeint, sondern all diejenigen, die ein Einkommen erwirtschaften wollen bzw. müssen. 28 In Anlehnung an Karl Polanyi (1977, S. 68 ff., 79, 86, 93 ff.); vgl. auch Thielemann (1996, S. 276, 324).
359
Aspekt des Marktverkehrs, der die Rede von der ›freien‹ und allseitig vorteilhaften Marktwirtschaft rechtfertigt. Doch ergibt sich aus dem objektiven Zusammenspiel der Tauschakte eine weitere Interaktionsform: der Wettbewerb. Wettbewerb ist keine Handlungsform, auch keine Institution, sondern nichts anderes als der Umstand, daß bestehende Tauschvertragsbeziehungen, seien diese regelmäßiger oder dauerhafter Natur, notwendigerweise aufgelöst werden, sobald neue Tauschbeziehungen eingegangen werden. Es ist der Wettbewerb, der die allgemeine Vorteilhaftigkeit und ›Freiheit‹ des Marktverkehrs fraglich erscheinen lassen muß. Wettbewerb ist ein Prozeß »schöpferischer Zerstörung« (Schumpeter 1993, S. 314ff.); er schafft systematisch Verlierer. Doch bleibt das »Zerstörerische« des Wettbewerbs in seinen Ursachen weitgehend unerkannt. Denn der Wettbewerb, der zusammen mit dem Tausch das Marktgeschehen konstituiert, ist ›unsichtbar‹. Nicht die Poli-
tik, vielmehr der Wettbewerb steuert mit »unsichtbarer Hand« (A. Smith) die wirtschaftliche Entwicklung, die wir täglich in Form von Konjunkturlagen, Wachstumsniveaus oder Arbeitslosenstatistiken erfahren. Der Wettbewerb aber ist keine Instanz, die
zur Verantwortung gezogen werden könnte; denn er läuft schlechthin anonym ab, d. h. hinter dem Rücken aller Beteiligten. Er ist es, der aus dem ansonsten lebensweltlich (intentional) fundierten Tauschverkehr einen Systemzusammenhang macht, und zwar im essentialistischen Sinne.29 Die Bedingungen dafür, ob die Befolgung prima facie legitimer Normen die eigenen Chancen zur Einkommenserzielung erhöht oder senkt stehen niemandem zur Disposition, ebensowenig wie die ›Tatsaches, daß sich Konjunk-
turlagen verändern oder daß in die Wettbewerbsfähigkeit (der eigenen Person, der Unternehmung, des Standortes, der nationalen
Rechtsordnung) investiert werden ›muß‹. Darum nannte Weber die »Kapitalherrschaft« - bzw. die ›Marktherrschafts, die eigentlich keine Form personaler Herrschaft ist, sondern eine Form
der »Herrschaft kraft Interessenkonstellation« (Weber 1972,
S. 542 ff.), eine Herrschaft also, die sozusagen im interobjektiven ›Zwischen‹ der Interaktion ihren Sitz hat - eine »herrenlose Sklaverei« (Weber 1972, S. 708 f.). Diese systemische Macht, die »losgelassene funktionalistische Vernunft«, ist es, die sich »über den in
29 Vgl. zur Begriffsunterscheidung von System und Lebenswelt Habermas (1986, S. 379 ff.); sowie Thielemann (1996, S. 20 ft., 288 ff.).
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der kommunikativen Vergesellschaftung angelegten Vernunttanspruch hinwegsetzt und die Rationalisierung der Lebenswelt ins Leere laufen läßt« (Habermas 1981, S. 533). Angesichts des sich aus eigener Kraft bzw. eigendynamisch verschärfenden, zunehmend globalen Wettbewerbs, der alle Bereiche in seinen Bann zieht - auch die Politik -, ist die Frage also nicht nur,
wie wir innerhalb dieses Prozesses bzw. unter den Bedingungen der modernen Wirtschaft handeln sollen (bzw. ›können‹), sondern auch, ob und inwieweit wir uns dieser systemischen Kraft sui generis fügen sollen. Alles Handeln steht zunehmend unter dem Vorbehalt dieser »Bedingungen«, ob nun innerhalb oder außerhalb des Marktes im engeren Sinne, es sei denn, eine Markt- und damit eine Wettbewerbsbegrenzung wird ins Auge gefaßt. Die Instanzlosigkeit des Marktes qua Wettbewerb bedeutet also nicht etwa, dals wir das Marktgeschehen akzeptieren müßten. Nur ist die verantwortliche Instanz, letztlich die »räsonierende Offentlichkeit« (Kant), nicht im Wettbewerb zu suchen, sondern angesichts des Wettbewerbs allererst politisch zu schaffen. Es sind zwar die Wettbewerber, d. h. alle Marktteilnehmer, gefordert, aber nicht als dem Wettbewerb unterworfene und in ihn verstrickte, sondern als republikanisch gesinnte und autonome Bürger, also solche, die weder allein auf ihren Vorteil bedacht sind noch als bloße Mario-
netten der Marktlogik in Erscheinung treten.
Solange wir Wettbewerb ohne Begrenzung wollen, sind die Konsequenzen, ob nun mit oder ohne Unternehmensethik bzw. partiellem ›moralischem Unternehmertum‹, vorgängig bestimmt, wobei an diesen Konsequenzen auch eine ethisch gedachte ›Rahmen-
ordnung für den Marktverkehr logischerweise nichts ändern
kann: 30 Der »mächtige Kosmos der modernen ... Wirtschaftsord30 Durch für alle Wettbewerber einer Branche verbindliche Regeln kann das Zumutbarkeitsproblem zwar entschärft, aber nicht gelöst werden. Denn der letztlich entscheidende bzw. konstitutive Wettbewerb ist der,
der sich zwischen den Branchen abspielt (vgl. Mises 1961, S. 133).
Dieser, und nicht die politisch gesetzte ›Rahmenordnungs, ist datür ›verantwortlich‹, daß sich die Zurechenbarkeiten für marktliches Un-
gemach (Einkommenslosigkeit, Insolvenzen, Verlust an Wettbewerbsfähigkeit) im Dunkel des Weltmarktes verlieren und dal sich Konjunk-
turlagen ähnlich wie Wetterlagen zurechnungslos verändern. Der
Markst, obwohl alles andere als ein Naturereignis, bewegt sich im
Modus der Emergenz - d. h. er bewegt sich.
36I
nung« wird weiterhin den »Lebensstil aller Einzelnen, die in dieses
Triebwerk hineingeboren werden - nicht nur der direkt ökonomisch Erwerbstätigen - mit überwältigendem Zwang« bestimmen, und zwar, wie ich in Ergänzung zu Max Weber hinzufügen möchte, auch über den Zeitpunkt hinaus, »bis der letzte Zentner fossilen Brennstoffs verglüht ist« (Weber 1981, S. 188). Dies ist der
Zwang zum Unternehmertum als einer Lebensform, der Zwang zur ›lebenslangen‹ marktlichen Selbstbehauptung, der Zwang, zunehmend die ganze Aufmerksamkeit auf die Sorge um die Steigerung oder zumindest Erhaltung der eigenen Wettbewerbsfähigkeit zu richten, den ›der Markt‹ als ein Quasi-Subjekt auf uns ausübt. Dies zu thematisieren, wäre eine der zentralen Aufgaben einer alle Reflexionsstopps vermeidenden und die relevanten Zusammen-
hänge nicht verdunkelnden, sondern im Gegentell erhellenden, integrativen Wirtschattsethik, die an der Leit ist.
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364
Josef Wieland Globale Wirtschaftsethik. Steuerung und Legitimität von Kooperation in der Weltökonomie
I Die Herausbildung einer Weltökonomie und das »comeback« der Wirtschafts- und Unternehmensethik in den Gesellschaften des Westens sind zeitlich korrelierte Ereignisse. Existiert hier auch ein Zusammenhang in der Sache? Läßt er sich genauer bestimmen als jener richtige, aber unspezifische Hinweis, daß in Umbruchzeiten
auch die Frage »Wie soll ich handeln?« neue Antworten finden muß? Solche Fragen lassen sich nur beantworten durch die Konstruktion des Mechanismus, der die Dinge antreibt. Dies zu tun, ist das Ziel dieses Textes. Einen ersten Hinweis liefert die Inspektion der Phänomene, die
unter dem Stichwort Globalisierung der Ökonomie (Dunning 1995) rubriziert werden. Soweit ich sehe, handelt es sich dabei zwar um zusammenhängende, aber dennoch zu unterscheidende
Entwicklungen. Globalisierung meint - die Herausbildung weltweit standardisierter Konsumpräferenzen tür immer mehr Güterarten (etwa Autos, Informations- und Kommunikationstechnologien (IuK), Bekleidung), deren Produktion und Distribution sich damit von vornherein auf nichts weniger als die Welt als Markt bezieht; - die Bereitschaft und die Fähigkeit von Unternehmen, die eigenen Ressourcen mit dem weltweit jeweils fortschrittlichsten Produk-
tions- und Distributionswissen zu kombinieren, da in immer mehr Sektoren der Wirtschaft die Amortisationszeit für Produkt- und Verfahrensinnovationen schrumpft oder negativ ist;
- die Entwicklung und Nutzung neuer Iuk-Technologien, die sowohl Produkt als auch infrastrukturelle Voraussetzung globaler Transaktionen sind, so wie es der Kanal-, Eisenbahn- und Straßenbau sowie die Luftfahrt für die Nationalökonomie und deren Internationalisierung waren.
Diese drei Entwicklungen hängen voneinander ab und arbeiten
365
einander zu. In ihrer Konsequenz liegen eine ganze Reihe von Entwicklungen, welche die modernen Industriegesellschaften seit
einiger Zeit beschäftigen. Der Globalisierung von Arbeitsteilung und Arbeitsmarkt entsprechen lokal auftretende Beschäftigungslosigkeit und eine Veränderung der Parameter für die Sozialpolitik.
Der Globalisierung der Produktion entspricht die Entstehung neuer Organisationsformen wie Strategische Allianzen, Joint Ventures, Netzwerke, Franchisingverträge und so weiter, über die die Wertschöpfungskette »lean« verknüpft wird. (Sydow 1992, Grandori und Soda 1995, Picot 1996) Als Folge der Globalisierung des Kapitals läßt sich von immer weniger Unternehmen sagen, daß es sich um Organisationen handelte, die irgendeinem »Mutterland«
zugerechnet werden könnten. Ihr Kapital ist international, ihre Teams sind aus wirtschafts-, währungs- und kostenpolitischen Gründen dezentral auf viele Punkte des Globus verteilt. Der
Wohlstand einer Nation gründet sich zunehmend auf fremdes
Kapital und ökonomisches Wissen. Selbstverständlich trägt auch die Internationalisierung der Wirtschaft bereits viele Merkmale des globalen Zeitalters. Aber mit den Aspekten der weltumspannenden i) arbeitsteiligen Produktion, ii) Organisationsnetzwerken, iii)
Informations- und Kommunikationsmedien und iv) Kapitalbereitstellung ist dennoch ein neuer Entwicklungsschritt in die reale Weltökonomie markiert. Konkurrenzfähigkeit und Kooperationsfähigkeit sind jetzt rekursiv miteinander gekoppelt. Nur wer kon-
kurrenzfähig ist, ist kooperationsfähig. Nur wer kooperationsfähig ist, ist konkurrenztähig. Globalisierung ist in der Tat ein entscheidender Schritt im schon länger andauernden Abschied vom bisherigen Modell internationalen Wirtschaftens, nämlich national zu produzieren und international zu verkaufen. Es kommt nicht von ungefähr, dats die Deutschen als »Exportweltmeister« und eiserne Hüter kultureller (oder sagen wir lieber: nationaler) Identität dieses Entschwinden von Struktur lange Zeit nicht wahrhaben wollten. Aber das ist nicht unser Thema. Für dieses ist die Schlußfolgerung zentral, daß
die Globalisierung der Wirtschaft von deren Akteuren globale Kooperationsbereitschaft und Kooperationsfähigkeit verlangt. Globale Wettbewerbsfähigkeit setzt globale Kooperationsfähigkeit voraus. (Perlmutter und Heenan 1986) Nach Hauswirtschaft und Handwerk, Kameralismus und Merkantilismus, industrialisierter Produktion und Konsumorientierung wird die Wirtschaft 366
des 21. Jahrhunderts vermutlich durch die Ökonomisierung der Ressource Kooperation charakterisiert sein. Werfen wir jetzt einen Blick auf diejenigen Themen, die im Kontext der Globalisierung der Wirtschafts- und Unternehmensethik zugerechnet werden. (Donaldson 1989, 1993) Es handelt sich: - um die abnehmende Reichweite nationalstaatlicher Spielregeln für die Wirtschaft und damit korrespondierend die zunehmende Ubernahme tradierter, staatlicher Aufgaben durch private Unternehmen. Dahinter steht ein Zusammenhang, der sich wie folgt beschreiben läßt: Für die Wirtschaft und ihre Organisa-
tionen wird die Raumdimension des Handelns zunehmend irrelevant bei gleichzeitigem Bedeutungszuwachs für die Zeitdimension. Die Organisationen des Politik- und Rechtssystems
hingegen können sich entweder nicht vom Territorialprinzip lösen oder nur mit erheblichen Zeitbudgets und anderen Trans-
aktionskosten. Gerade dies aber läuft der Temporalisierung des Wirtschaftslebens und der Ökonomisierung der Zeit als Ressource diametral entgegen. Ökonomisch gesehen steigen durch
die ineffiziente Ausgestaltung der globalen staatlichen institutionellen Bedingungen die Transaktionskosten der weltweiten Tauschhandlungen. Privatvertragliche Arrangements oder die Delegierung von Aufgaben an Unternehmensorganisationen sind dann transaktionskostensenkende, funktionale Äquivalente. Davon ist heute praktisch kein Bereich der Innen- und Außenpolitik mehr ausgeschlossen. Selbst die Stabilisierung ganzer Regionen wird von der Wirtschaft erwartet.' Wo naive Beobachter eine finstere Verschwörung des internationalen Kapitals identifizieren könnten, geht es bei nüchterner Betrachtung um die Notwendigkeit funktionaler Komplexitätsreduktion für Wirtschaft und Gesellschaft. Diesem (realen oder nur erhofften) Zuwachs an gesellschaftlicher Steuerungs- und Regelsetzungskompetenz bei den Organisationen der Wirtschaft entspricht eine Progression in der Zurechnung von moralischer Verantwortung auf Unternehmen durch die Gesellschaft.? Die Erfah-
I Vgl. für die Reichweite dieser Entwicklung die Zusammenstellungen von Decornoy (1995), Winton (1995) und Hirsh (1995). Hirsh (1995, S. 39) notiert: »Indeed, it is possible to argue that the multinational
corporation is the most powerful social glue left in a world sundered
by unbridled nationalism, ethnic strife and an absence of ideology.« 2 Daß Gesellschaften zu allen Zeiten ein vitales Interesse an dieser Zu-
367
rungen des Shell-Konzerns in den letzten Jahren müssen hier als paradigmatisches Beispiel dafür reichen, wieviel ökonomisches Reputationskapital durch moralische Kommunikation von Entwertung bedroht sein kann;
- um die nach wie vor gegebene räumliche Begründung und Geltung moralischer Kulturen, die ebenfalls durch die ökonomische Entwertung der räumlichen Dimension zu dieser in ein
Spannungsverhältnis treten kann. Die Identifizierung und der
Umgang mit inkompatiblen religiösen und moralischen Stan-
dards, die Respektierung und Ablehnung von Kulturen in
»Gastländern«, all dies sind bekannte Themen der Internationalen Unternehmensethik, die ihren Ursprung in der Drift von
moralischem Raum und ökonomischer Zeit haben. Allerdings sollte man bemerken, daß diese Differenz nicht unbedingt die
Werte des »Mutterlandes« der Unternehmung von denen des »Gastlandes« ihrer Tochter unterscheidet. Das globale Unternehmensnetz ist heimatlos und erlebt diese Drift als intra- und interorganisationales Kommunikationsproblem; - folglich um den Umgang mit moralischer Diversifität in global
zusammengesetzten und operierenden Teams. Vor 10 Jahren mag es dabei um die Nichtdiskriminierung von Ethnien gegangen sein, heute geht es um viel mehr. Der Zwang des globalen
Zugriffs auf innovatives Wissen macht Diversifität der Akteure zu einer Quelle für Produktivitätsvorsprünge und Kostenminimierung. Damit handeln sich globale Unternehmen das Folgeproblem ein, Diversifität fördern zu müssen und gleichzeitig die Identifizierbarkeit und Identität der Organisation nicht autzugeben. Die Wertordnungen des kollektiven und des individuellen moralischen Akteurs werden damit deutlich unterscheidbar, und das Management dieser Differenz wird betriebswirtschattlich relevant. (Wieland 1996, S. 140 ff., 153f., 194) Moralische Kommunikation in global operierenden Wirtschaften kann demnach verstanden werden als ein Element im Prozeß der Herstellung und Sicherstellung von Kooperation in drei Sektoren: i) in Unternehmen, ii) zwischen Unternehmen und ill) zwischen
Unternehmen und allen potentiellen Interaktanten der Gesell-
rechnung haben, dafür vgl. Geser (1989). Mit der Enträumlichung des Wirtschaftens steigen hier die Ansprüche bei gleichzeitiger Abnahme ihrer Durchsetzbarkeit.
368
schaften. Ökonomisch gesehen wird in diesem Prozeß darüber entschieden, wie groß die Menge aller möglichen Kooperationschancen und damit die Tiefe der möglichen Arbeitsteilung ist.
Gegeben ist damit in der Folge die Größe des Betrages der »possible gains from trade«. (Buchanan 1991, S. 109-23) Äquivalent formuliert: Moralische Kommunikation als Element der Atmosphäre ökonomischer Transaktionen (Williamson 1975, 1985; Wieland 1996) kann einen produktiven oder unproduktiven Einfluß auf deren Anbahnung, Durchführung und Kontrolle haben.
Die soeben vorgeschlagene Einordnung globaler Wirtschaftsethik als Problem gelingender Kooperation hat Konsequenzen für die Architektur ihrer Reflexionstheorien. Ich setze daher in diesem und im nächsten Abschnitt die Diskussion globalen kooperativen Verhaltens mit der Skizzierung einiger Kernfragen zukünftiger ethischer und ökonomischer Theoriebildung fort. Wir beginnen mit der Ethik. In diesem Zusammenhang scheint es mir wichtig zu realisieren, daß es in der Geschichte des sozialphilosophischen Denkens stets strittig war und ist, ob der Mensch anthropologisch ein kooperatives Gemeinwesen sei oder nicht. Auf des Aristoteles (Politik 1.1253220) Feststellung, daß Polis
und Oikonomia dem Einzelnen naturgemäß vorausgehen, antwortete Thomas Hobbes (1651/1914), daß der Mensch nur aus Kalkül,
nicht aber entsprechend seinen Neigungen die Gemeinschaft mit
dem Anderen akzeptiere. Aber es läßt sich auch eine Einhelligkeit in der Geschichte des Denkens dahingehend feststellen, daß der Mensch, was auch immer er anthropologisch sei, die Fähigkeit zur Kooperation ausbilden, schützen und entwickeln muß. Wie unterschiedlich daher die Wirtschaftsethiken im europäischen Denken
auch angelegt sind, ihr Fluchtpunkt ist seit jeher das Kooperationsproblem.? Daraus, daß der aristotelische Mensch zur Ge3 Auch die Unterscheidung bzw. Nichtunterscheidung von kommutativer
und distributiver Gerechtigkeit lebt von diesem Problem. Während
Platon (und in der Folge die frühe Scholastik) diese Differenz ablehnt, weil er in ihr (speziell in der kommutativen Gerechtigkeit) eine Bedrohung gesellschaftlicher Kooperation durch die Freisetzung von Begierden sieht (Platon 1974, Gorgias, 5070-508a), plädiert Aristoteles (NE
369
meinschaft hin bestimmt ist, folgt noch keineswegs, daß er zur Etablierung dieses sozialen Körpers auch wirklich fähig ist.* Daraus, daß der Hobbessche Wolf eine Präferenz für einsame Streif-
züge durch die Welt hat, folgt noch nicht, daß er diese auch
unbeschadet realisieren kann. Bereitschaft und Fähigkeit zur Kooperation sind daher geeignete Punkte im Traditionsbestand des philosophischen Denkens, an denen eine moderne Wirtschaftsund Unternehmensethik andocken kann. Selbstverständlich mit
erheblichen Modifikationen in allem, was folgt. Ich möchte aut einige Punkte hinweisen, die mir wichtig scheinen. Die Plazierung der Wirtschaftsethik innerhalb der normativen Ethik hat eine respektable Herkunft. Es ist möglich, auf deduktivem Wege Leitwerte für Ökonomisches Handeln zu generieren. In der Folge sieht man sich dann allerdings gezwungen, nach Anwendungsfällen Ausschau zu halten, die nicht durch Paradoxien
und Dilemmata gekennzeichnet sind. Auch dieses Problem hat eine altehrwürdige Tradition. Besonders der franziskanische Strang der scholastischen Diskussion hat in dieser Hinsicht subtile Entparadoxierungsstrategien entwickelt, die direkt in die spätere
Theoriebildung der neuzeitlichen Ökonomik einflossen. Leider nicht in die der Ethik. Hier blieb die dominikanische Tradition, also Thomas v. Aquino, mit ihrer Strategie der Unterscheidung von
Regel (das Gute) und Ausnahme (das Gute/Böse, das aus dem Bösen/Guten folgt) dominant.' Dieses Verfahren wirkt indes nur, wenn die Ausnahmen von der Regel genau spezifiziert werden 1130b30-1133b8) und in der Folge Thomas von Aquino (1953) für die Differenzierung, weil er glaubt, daß nur die Anerkennung einer distink-
ten ökonomischen Gerechtigkeit die Kooperation in Wirtschaft und Gesellschaft dauerhaft stabilisiert. 4 Genauer sollte man vielleicht sagen, und das hat ja auch die sozialistische Version dieser politischen Idee gezeigt, daß eine solche Konzeption der menschlichen Natur gerade den Blick für die Fragilität der Kooperation
zwischen Menschen verschleiert. § So etwa die seit Aristoteles unbestrittene Bejahung des Privateigentums. Aus wohlfahrtstheoretischen Gründen auch vom christlichen Denken akzeptiert, war damit zugleich eine unablässig sprudelnde Quelle der Habsucht, einer Todsünde, offengehalten. Vgl. für diese Denkepoche die brillanten und materialreichen Studien von Langholm (1992). 6 Die Wirtschaftsethik seiner Summa Theologica (1953) in II, 2 ist der Prototyp dieser Argumentationsstrategie.
370
können. Im Umfeld lokaler Subsistenz- und Stadtwirtschaft
scheint dies durchführbar. In der globalen Weltökonomie nicht mehr. Deren Kontingenzniveau läßt nicht selten auch die Regel als Ausnahme erscheinen. In einer solchen Welt führt die Anwendung einer teleologischen Ethik mit kasuistischen Ausnahmen entweder zu prohibitiven Wohlfahrtsverlusten und/oder zur Erodierung der Ethik. Natürlich kann man dieses Problem mit deontologischen
Ethiken umgehen, aber damit eben leider auch die anstehenden und der Entscheidung harrenden praktischen Anwendungen? Moralanwendungen in der und durch die Wirtschaft führen nach meiner Überzeugung in den Bereich deskriptiver und kontextueller Ethik. Noch enger formuliert geht es um die Herstellung »lokaler Gerechtigkeit«, um auf ein Forschungsprogramm von Jon Elster (1992) zu verweisen. Hier wird eine Umkehrung der Frage-
stellung vollzogen. Weder die ethische Begründung ökonomischen
Handelns (Steinmann und Löhr 1992, Ulrich 1986) noch die öko-
nomische Begründung ethischen Handelns (Homann und BlomeDrees 1992) fokussieren die Analyse. Was interessiert, sind die
ökonomischen Konsequenzen moralischer Sachverhalte, insofern
sie sich auf das Wirtschaften beziehen. In dieser Perspektive ist Moral ein mit sich selbst identisches Ereignis in der Wirtschaft, aber kein Element der Wirtschaft. Die funktionalistische Trennung
von Moral und Ökonomie wird durchgehalten, und gerade deshalb kann gezeigt werden, daß Moral in der Wirtschaft ein Parameter ist, der dann positiv zählt, wenn er nicht ausschließlich
strategisch eingesetzt wird.8 7 So bringt es für die praktische Entscheidbarkeit eines Problems relativ wenig, wenn in Anwendungsdiskursen (Habermas 1991, S. 132 ff.; Günther 1988) das »Prinzip der Angemessenheit« die Rolle des Uni-
versalisierungsgrundsatzes übernehmen soll, da die Frage genau darin besteht, was das Angemessene je ist. Ich habe den Eindruck, daß die philosophische Diskussion auch deshalb Schwierigkeiten mit der neuen Wirtschafts- und Unternehmensethik hat, weil Anwendung hier Diskurs plus Entscheidung meint. Auch die Beiträge in Apel und Kettner (1992) umgehen das entscheidungstheoretische Problem anwendungsorientierter Moral, namlich die intuitive Herstellung von trade offs
zwischen verschiedenen möglichen Entscheidungslogiken (Ökonomie, Recht, Verfahren, Moral, Psychologie) bei unvollständigen Güterordnungen. 8 Vgl. für diese Argumentation ausführlicher Wieland (1996, S. 88 ff.) Man
371
Was aber wird aus der universalistischen Begründungsfunktion der
Moral? Begründung erfährt Moral im philosophischen oder theo-
logischen Diskurs. Es scheint mir die Funktion der Moralphilosophie zu sein, die Gesellschaft mit vertretbaren Begründungen für moralische Sätze oder für Verfahren zur Generierung moralischer Sätze zu versehen. Damit werden zugleich entweder Handlungsbeschränkungen oder Verfahren zur Produktion von Handlungsbeschränkungen in den Diskurs der Gesellschaft eingespeist. Ohne diese beiden Leistungen kann eine kooperative Gesellschaft nicht existieren. Die Sachlage verändert sich allerdings radikal, wenn diese hand-
lungsbeschränkenden Begründungen in lokalen Kontexten zur
Anwendung kommen. Denn hier sind sie ex ante nur eine durch
nichts ausgezeichnete Entscheidungslogik neben vielen anderen.
In der Wirtschaft heißt das etwa: Ökonomie, Recht, Technik, Organisation, Psychologie. Nicht mehr die Primäranwendung
von Moral steht jetzt auf der Agenda, sondern ein Entscheidungsproblem hinsichtlich der Balancierung diverser Logiken in einer Entscheidung. Technischer: Es geht um die Erzeugung eines intuitiven trade-offs bei unvollständigen Güterordnungen (vgl. Sen 1987, S. 68 ff.). Hier sind die scholastischen Ausnahmen die Regel. Gültig sind lokal daher nur solche Begründungen, die auch anwendbar sind. Lokal nichtanwendbare moralische Sätze behalten definitionsgemäß ihren Status als begründet und gehören somit weiterhin zum Bestand an potentiellen Entscheidungsmöglichkeiten einer Gesellschaft.
Zusammenfassend und pointiert: Die Begründung moralischer Werte ist die Aufgabe der Philosophie und der Theologie. In der Wirtschaft, vor allem in der Unternehmung, generieren moralische Werte kein Begründungs, sondern ein Entscheidungsproblem. Entschieden wird über die Verteilung der Relevanz verschiedener Werte in einer lokalen Entscheidungssituation. Ob man dann ex ante oder ex post noch begründen kann, warum man sich ganz oder teilweise für oder gegen bestimmte moralische, ökonomische, juristische oder organisatorische Werte oder eine bestimmte Balance zwischen ihnen entschieden hat, ist ein notorikönnte auch sagen, daß dies die moderne Reformulierung der platonischen Idee ist, daß man die Gerechtigkeit »um ihrer selbst und um ihrer Folgen willen lieben muß«. (Platon, Politeia, 357c)
372
sches Problem der Entscheidungstheorie. Mit geringen Aussichten
auf Klärung? Die Zumutung von ökonomischen Anwendungsdiskussionen für die Moral besteht demnach darin, daß sie etwas aufgeben muß, was
sie ohnehin in funktional differenzierten Gesellschaften nicht mehr besitzt: die zentrale Position der übergeordneten Referenz für alle anderen Entscheidungslogiken. In der Wirtschaft gibt es schlicht keine moralischen Fragen, die in ihren Konsequenzen nicht wirtschaftliche Fragen sind. Einen Primat der Ethik kann man dann immer noch kommunizieren, aber nicht mehr durchsetzen. Leitwerte werden in modernen Gesellschaften funktionsspezifisch zugeordnet. Im Falle der Wirtschaft und ihrer Unternehmen sind das Nachfrage/Angebot und Aufwand/Erlös, nicht aber Recht/Unrecht oder Gut/Schlecht. Damit ist nicht gesagt, daß alle Entscheidungen in der Wirtschaft entlang dieser Leitwerte gefällt werden müssen. Wohl aber müssen sich alle Entscheidungen, auch moralische, an ihnen messen lassen. Was die Moral durch diese Beschränkung gewinnt, ist Anwendungsrelevanz in der Wirtschaft und Erosionsschutz in der Gesellschaft. Denn nichts schadet der Moral mehr, als der auf Dauer gestellte Nachweis von Unanwendbarkeit (wegen prohibitiver Kosten) und Irrelevanz (wegen der Existenz effizienterer funktionaler Äquivalente). Die spontane Provokation, die heute von der Behauptung ausgeht, es gebe eine Ethik der Wirtschaft, ist in
dieser Hinsicht ein lehrreiches Beispiel. Sie speist sich aus dem Paradox, daß in weiten Bereichen des gesellschaftlichen Diskurses gleichzeitig Übereinstimmung darin besteht, daß es in der Wirtschaft moralisch zugehen sollte und daß dies nicht möglich ist. Auch scheint die häufig beklagte Moralerosion der modernen Gesellschaft weniger auf eine Präferenz für Dekadenz ihrer Individuen zurückzugehen als vielmehr auf alteuropäische Führungs- und Anwendungsansprüche der Ethik, die einfacher tormulierbar als durchführbar sind. 9 Allerdings existieren auch andere theoretische und praktische Optionen. Ein Unternehmen kann sich über Verhaltensstandards ex ante auf bestimmte moralische Werte festlegen und restringiert damit das Entschei-
dungsproblem. Veröffentlicht es diesen »code of ethics«, wachsen die moralischen Verpflichtungen aus Selbstbindung. Es ist dies genau der Vorgang, der zur Entstehung der modernen Unternehmensethik geführt hat. Vgl. hierzu Wieland (1993, 1994).
373
Dies alles gilt verstärkt in den multikulturellen Kontexten globaler Wirtschaftsmoral, weil hier offizielle Voraussetzung des Diskurses ist, was sonst nur unter der Hand zugegeben wird: Es gibt Zielkonflikte innerhalb der Moral, nicht nur zwischen Moral und Wirtschaft. Moral ist daher nicht nur friedenstiftend, sondern sie stiftet auch Streit (Luhmann 1989). Vielleicht erlaubt die strikte Trennung von Begründungs- und Anwendungsdiskursen die Alternative zwischen »moralischem Imperialismus« (die Werte der westlichen Muttergesellschaften zählen weltweit und ausnahmslos) und »moralischem Relativismus« (»business as
usual« im Rahmen der lokalen moralischen Üblichkeiten) zu vermeiden. Die Argumentation hierzu wäre dann wie folgt auf-
zubauen: Das Unternehmen als kollektiver moralischer Akteur
legt sich in seinem »code of ethics« auf (vorgängig universalistisch
begründete) Werte fest, die es in seinen wirtschaftlichen Transaktionen beachtet sehen will. Es kann dann zum Beispiel ankündigen, daß es die Kooperation mit Partnern, die Kinderarbeit nutzen, ablehnt.lº In der lokalen Anwendung dieser Regel muß die Kinderarbeit dann nicht nur in so unterschiedlichen Ländern wie Pakistan oder der Türkei, und dort in ziemlich abgelegenen Gegenden dokumentiert, sondern eben auch bewertet werden gegen kulturelle Standards, ökonomische Notwendigkeiten der
Familien und Entwicklungschancen der Kinder mit und ohne Arbeit. Die Erfahrung zeigt, daß man dann in manchen Fallen die Kooperation abbrechen, in anderen hingegen eher eine bessere Bezahlung oder Schulbesuch sicherstellen muls. Für die Anwendungsethik aber folgt daraus die Einsicht, daß die Kontingenz der
Anwendungskontexte eine ex ante Festlegung auf Lösungsmechanismen (sagen wir: Diskurs) und Resultate (sagen wir: keine Kinderarbeit) nicht zuläßt. In Anlehnung an Georg Simmel (1989, S. 172; 1991, S. 331ff., 348) kann man hoffen, daß sich
im Durchgang durch die in Anwendungskontexten unumgäng-
lichen »harten« und »tragischen« Entscheidungen ein gemeinsames moralisches Bewußtsein der involvierten Kooperationspartner bildet. Das Problem der Globalen Unternehmensethik scheint mir nicht darin zu bestehen, nach einem begründbaren Mix universalistischer und lokaler Werte oder Werttindungsver10 So etwa Levi Strauss 8 Co, aus deren Erfahrung dieses Beispiel stammt. Vgl. Harvard Business School (1994).
374
fahren zu suchen."' Es geht vielmehr um folgendes: Sind globale und lokale Werte hinsichtlich ihrer ökonomischen Konsequenzen indifferent, gibt es kein Problem. Sind sie different, aber kompa-
tibel oder komplementär, besteht die Chance auf produktive Diversifität. Herrscht aber zwischen differenten Standards In-
kompatibilität, muß man offenbar zu einer balancierten Entschei-
dung kommen, die moralische Lernprozesse in und zwischen Organisationen ermöglicht, ohne diese zu eleminieren. Es ginge dann weniger um die regelgesteuerte Identifizierung des anzuwendenden Wertemixes als vielmehr um die Etablierung einer Governancestruktur (Wieland 1996, S. 183 ff.) für die allseits gewünschte Transaktion, die sowohl deren ökonomische Durchführbarkeit als auch den Aufbau eines hinreichend homogenen
moralischen Bewußtsein bei allen Kooperationspartnern ermöglicht. Es ginge also nicht um die globale Durchsetzung universalistischer, westlicher oder anderer Wertesysteme (wo auch immer die Schwelle liegen mag), sondern um die Anfertigung einer
für alle Transaktionspartner zustimmungsfähigen Entscheidung. Deren moralische Begründung mag dann multikulturell divergent
bleiben, aber ihre praktischen Konsequenzen müssen für alle akzeptabel sein. Kürzer formuliert: Eine global wirksame Wirtschafts- und Unternehmensethik sollten wir nicht aus dem Be-
gründungs-, sondern aus dem Anwendungsdiskurs erwarten.
Dieser könnte den polemogenen Zug globaler Ethik entschärten und gleichzeitig die Herausbildung eines gemeinsamen, moralischen Bewußtseins fördern. Nur die Institutionalisierung, das heißt, das Andocken von Moral an organisationsökonomische Strukturen, kann diesen Prozeß initiieren und auf Dauer stellen. Darin liegt die Bedeutung der Organisationsform »Firma« für die globale Wirtschaftsethik.
Il So etwa Donaldson (1989, 1993) der zwischen universalistischen und daher unabdingbaren Schwellenwerten und lokalen Werten unterschei-
det.
375
III Der ökonomischen Theorie ist es bis heute nicht gelungen, die bedeutendste Organisationsform ökonomischen Handelns, die Firma, in ihr Theoriegebäude zu integrieren. (Coase 1972; Hart 1990) Dieser für unser Thema sicherlich nicht unbedeutende Sachverhalt läßt sich in zwei Hinsichten an Adam Smith's Werk festmachen. Einerseits präferierte Smith den atomisierten und über den Markt koordinierten Eigentümerkapitalismus. Tiefe Skepsis hegte er hingegen gegenüber dem aufkommenden Managerkapitalismus und
den organisierten Kooperationsformen innerhalb und zwischen Unternehmen (Smith 1776/1979, I.X.I. 17-44; V.i.e.18,30). Anderer-
seits ist da seine berühmte Bemerkung aus dem »Wealth of Nations« -»It is not from the benevolence of the butcher, the brewer,
or the baker that we expect our dinner, but from their regard to
their own interest. We address ourselves, not to their humanity but
to their self-love ...«. (I.II.2) -, die gegen Smith's Intention zum weithin akzeptierten Paradigma der Moralfreiheit unternehmeri-
schen Handelns in der Marktwirtschaft geführt hat. Smith thematisiert an dieser Stelle allerdings nur, und darauf hat Amartya Sen (1993) unlängst hingewiesen, daß rationales Eigeninteresse von Akteuren als Motivation zum Tausch hinreichend ist. Im Hinblick auf die Distribution von Gütern hingegen geht Smith von einem moralisch bestimmten Grenzpreis aus. (Wieland 1991) Was nun aber die Motivation zu organisierter Güterproduktion angeht, so traktiert Smith diese Seite der Ökonomie überhaupt nicht. Smith macht aus dem erwähnten gesellschaftstheoretischen Grund keinen theoretisch geführten Unterschied zwischen marktlich vermittelter (zwischen Firmen) und organisatorisch vermittelter Arbeitsteilung (Stecknadelproduktion in der Firma). Erst die Transaktionskostenökonomik (Coase 1937/1988; Wiliamson 1975, 1985) hat in den letzten Jahren gezeigt, daß die Frage, ob es über-
haupt zu einem Tauschgeschäft kommt, nicht nur und nicht einmal in erster Linie von der Motivation zum Tausch abhängt, sondern von den institutionellen und organisatorischen Bedingungen seiner Durchführung. Sind die Anbahnungs-, Durchführungs- und Kontrollkosten einer Transaktion aufgrund von Verhaltens- und Intormationsunsicherheiten prohibitiv, wird es auch dann nicht
zum Tausch kommen, wenn das egoistische Tauschmotiv vorhan-
376
den ist. Dazu bedarf es ex ante der Zuversicht beider Transaktionspartner, daß der Tausch zu einem Resultat führen wird, das ihren
Erwartungen entspricht.
Etwas formaler kann man festhalten, daß die Effektivität und
Effizienz der Durchführung ökonomischer Transaktionen i) von
der Tauschmotivation (Eigeninteresse), ii) von der Organisation (Produktion, Verteilung), iii) von der Existenz und der Durchsetzbarkeit formaler Institutionen (Recht, Regeln) und iv) von der Effektivität informaler Institutionen (Werte, Normen, Moral) abhängt. Während die Bedingung i) in der Tat vollständig amoralischer Natur ist (oder sein kann), sind es die Bedingungen ii) bis iv) keineswegs und in keinem Fall. Daß das Forschungsfeld der Wirtschafts- und Unternehmensethik in der Neuen Institutionen- und Organisationsökonomik und nicht in der Preistheorie seinen festen Platz hat, ist daher alles andere als zutällig. Diese Differenzierung liefert uns einen weiteren, und ich glaube
auch, einen wichtigen Gesichtspunkt. Die Organisierung und
Verteilung von Gütern (ii) ist eine Koordinations- und Kooperationsleistung von Akteuren. Die Unterscheidung beider Mecha-
nismen wird in der ökonomische Theorie nicht immer scharf
gezogen. Koordination ist ein sachlicher Prozeß der ex post-Abstimmung von Leistungen und Ressourcen auf Nachfragen durch abstrakte Regelmechanismen. Kooperation ist die Kunst, die Interaktion konkreter, individueller Personen entlang von Regeln zu ermöglichen, deren Einhaltung ex ante vereinbart und ex post zum Problem wird. Der Marktmechanismus und Organisationspläne sind Beispiele für Koordinationsinstrumente, Organisationsformen wie Unternehmen hingegen sind Kooperationsprojekte. Koordinationsmechanismen gehören zu den Randbedingungen gelingender Kooperation. Sie sind aber nicht diese selbst. Koordinationsarrangements können vorgängige moralische Erwägungen in der Art ihrer Gestaltung verkörpern, aber ihre Ziele sind
Ettektivität und Effizienz. Kooperationsprojekte können sich nicht auf diese Ziele beschränken: Mit ökonomischen Akteuren, denen man nicht traut (personale Unsicherheit), geht man solange keine investiven, langfristigen und damit ausbeutbaren Beziehun-
gen (situative Unsicherheit) ein, solange man nicht über diejenige
Menge von Informationen verfügt, die es erlaubt, eine befriedi-
gende Vorstellung über den wahrscheinlichen Verlauf der angestrebten Kooperation zu bilden. (North 1990) Dazu gehören auch 377
die Achtung der Person und die Würdigung ihrer Integrität. Die Signalisierung und glaubwürdige Versicherung moralischer Intentionen können und müssen Elemente einer Steuerungsstruktur für angestrebte Transaktionen sein, die dieses Gefangenendilemma umwandelt in ein Kooperationsspiel. Dies gilt für alle Kooperationssektoren einer Unternehmung: i) in der Unternehmung zur Formung eines Teams, ii) zwischen Unternehmen zur Formung
von Partnerschaften und iii) zwischen Unternehmen und der Gesellschaft zur Stabilisierung aktueller und potentieller Kooperationschancen. Wir können daher jetzt formulieren, daß die Unternehmung eine Organisationsform ist, deren Aufgabe darin besteht, amoralische Koordinationsmechanismen und moralische Kooperationsmechanismen so zu kombinieren und zu restringieren, daß organisatorische Stabilität und wirtschaftlicher Erfolg füreinander
Ertolgsvoraussetzungen werden. Ein Unternehmen, das seine Mitarbeiter nur über Marktpreise und rigide Durchsetzung formaler Regeln interagieren läßt, hat ebenso die Option zum Marktaustritt gewählt wie ein Unternehmen, das Moral maximiert. Koordination und Kooperation sind im negativen Grenzfall wechselseitig erodierende, im positiven Grenztall sich wechselseitig steigernde Mechanismen. Dazwischen spielt sich das ab, was man Unternehmensentscheidungen nennt. Dieses Oszillieren zwischen Koordi-
nation und Kooperation, und damit die der relativen Bedeutung
moralischer Kommunikation in der Wirtschaft, läßt sich an der
Geschichte der Organisation ökonomischer Produktion ablesen. Alle Gesellschaften in der Geschichte der Menschen, die Wirtschaften von der personalen Relation, also vom Kooperationsproblem her strukturieren, verstehen Moral als endogen leitenden Gesichtspunkt der Ökonomie. Griechische Oikonomia, frühneuzeitliche Hauswirtschaft und Handwerk und auch heute noch existierende traditionsgebundene Wirtschaften unterscheiden sich in diesem Punkt nicht. Mit dem Marktkapitalismus, den industriellen Produktionsverfahren und dem »scientific management« wird die Koordination zum entscheidenden Moment wirtschattlichen Handelns. Dahinter steht in allen Fällen die Idee, die Kon-
tingenzen menschlicher Kooperation auszuschalten durch die strenge Sachlichkeit der Koordination. Die Arbeit wird objektiviert zur Wissenschaft, und die Wissenschaft wird objektiv zur Arbeit. Entsprechend wird moralische Kommunikation aus den Operationen dieser ökonomischen Maschine ausgeschlossen und 378
findet ihren Platz entweder in den exogenen Präferenzen der
individuellen Akteure oder in der exogenen Rahmenordnung des kollektiven Akteurs. Seit etwa zwei Jahrzehnten zeigt sich nun die Renaissance der Kooperation. Ablesbar am Untergang
des Koordinationsalptraums »Sozialismus« und an der Konjunktur der Relevanz von »soft facts« im Kapitalismus: Strategische Planung, Strategische Allianzen, Netzwerke, Unternehmenskulturen und Unternehmensethik. Die Steuerung der Komplexität und Dynamik globaler Transaktionen hat vorläufig an die Grenzen der Koordination geführt. Diversifität und Initiative jedes einzelnen Teammitglieds müssen zugelassen und mobilisiert werden und
dürfen dennoch nicht aus dem Ruder laufen. Das ist der Grund, so meine These, warum heute und in absehbarer Zeit den atmosphä-
rischen Parametern (Kultur, Moral, Normen) wirtschaftlicher Transaktionen erhöhte Aufmerksamkeit in Theorie und Praxis geschenkt wird.
Mit der Oszillation zwischen Kooperation und Koordination hängt es auch zusammen, und dies ist der dritte Punkt unserer Erörterung, daß die Unternehmen der Wirtschaft zur Lösung ihrer
Autgaben über eine ganze Reihe von distinkten Präsentationsweisen von Sachverhalten und entsprechenden Entscheidungsalgorithmen verfügen. Wirtschaftlichkeit, technische Machbarkeit, rechtliche Zulässigkeit, organisatorische Erreichbarkeit und eben auch moralische Angemessenheit sind solche Weisen und Algorithmen. Es hängt wesentlich von der geschickten Zuordnung der zu lösenden Probleme auf solche Präsentationsweisen ab, in denen sie sich überhaupt bearbeiten und entscheiden lassen, ob ein Unternehmen erfolgreich ist oder nicht. Dies unterstreicht, daß Un-
ternehmen polylinguale und polykontexturale Organisationssy-
steme sind, die lokal balancierte Entscheidungen anfertigen müs-
sen. Ganz wie bei der Wirtschafts- und Unternehmensethik
potenziert sich die Komplexität des Entscheidungsbedarts in glo-
balen und dezentralen Unternehmensnetzwerken. Deterministische Lösungsvorgaben (etwa: immer Gewinnmaximierung) und Lösungsregeln (etwa: immer juristisch) sind nur unter Verlusten durchführbar.
379
IV An dieser Stelle wollen wir festhalten, daß unser anfänglicher Vorschlag, die Wirtschafts- und Unternehmensethik von der Kooperationsproblematik her als Anwendungsgebiet lokaler Gerechtigkeit zu konzipieren, nicht nur mit der philosophischen Tradition vereinbar ist. Er führt auch direkt in eines der Zentren der gegenwärtigen ökonomischen Theoriebildung und des gesellschaftlichen Umbruchs hinein. Die vor allen Dingen in Deutschland oft und mit Inbrunst gestellte Frage, ob Moral in der Wirtschaft denn möglich sei, erweist sich aus dieser Perspektive als hoffnungslos und abwegig. Es geht in Sachen »Ethik und Wirtschaft« nicht einfach um das Aufspüren und Ausloten von vorhandenen Handlungsspielräumen gegen die ehernen Gesetze von Markt und Profit. Es geht vielmehr um die Stabilisierung vorhandener und Generierung neuer Handlungsmöglichkeiten, also Kooperationschancen, in und für die Wirtschaft einer Gesellschaft. Je kleiner der Korridor möglicher wirtschaftlicher Handlungen ist, desto geringer sind die Kooperationschancen, desto geringer die Arbeitsteilung, desto geringer das für eine Gesellschaft erreichbare Wohlfahrtsniveau. Jede Erweiterung dieses Korridors stellt demgegenüber eine potentielle Chance für paretoeffiziente Verbesserungen dar. Genuine Moral in der Wirtschaft ist daher nicht nur möglich, sondern aus Stabilitäts- und Wohlfahrtserfordernissen heraus auch ein endogenes Ereignis. Was allerdings nicht möglich ist, ist Moral als exogener Leitwert ökonomischer Handlungen. Sie
kommt jetzt nicht mehr von außen als Korrektiv, Kritik oder Ermahnung zum Besseren, sondern ist integraler Bestandteil des ökonomischen Problems, die Knappheit der Güter durch kooperative Anstrengungen zu überwinden. Akzeptiert man diese Perspektive, ist es leicht zu verstehen, warum die Globalisierung des wirtschaftlichen Funktionssystems
die Unternehmensethik erneut auf die Agenda der westlichen Gesellschaften gespült hat. Alle Varianten kooperativer Unsicherheit (personale, situationale und informationale) zeigen in einer globalen Welt steigende Werte. Darin liegt kein Grund, sich über die Unstetigkeit der Welt zu beklagen. Der durchgreifende Gesichtspunkt ist vielmehr der, daß gerade die Zunahme der Unsicherheit, die aus multikultureller Diversifität entspringt, zugleich die Quelle der angestrebten Optionenvielfalt und Transak380
tionsgewinne ist. Ihre Abschaffung oder totale Kontrolle kann daher nicht angestrebt werden, sondern nur ihre produktivitätsfördernde Gestaltung. Mit einem Satz: Die Sicherstellung einer möglichst friktionslosen Koordination wird kombiniert mit den Ökonomisierungseffekten zufriedenstellender Kooperation. Auf der Ebene der Koordination geht es dann um die Implementierung neuartiger und moralsensitiver Steuerungsstrukturen in den Unternehmen. Auf der Ebene der Kooperation sind Inhalt, Form und Medium der Unternehmensmoral berührt. Diese Erfordernisse haben in den vergangenen Jahren dazu geführt, daß fast alle großen transnationalen Unternehmen in den USA über Ethikabteilungen,
Ethikprogramme und Ethikmanagement verfügen. Deren Aufgabe ist es, die interne und externe moralische Kommunikation der Firmen sicherzustellen und zu überwachen. 12 Ökonomisch lassen sich die organisationalen Steuerungsstrukturen als Mittel zur Senkung der Anbahnungs-, Durchführungs- und
Überwachungskosten wirtschaftlicher Transaktionen verstehen,
die aus der wachsenden Kontingenz globaler, vertraglicher Versprechungen resultieren. Organisationstheoretisch betrachtet sind sie der Versuch, die moralische Bindung der Teammitglieder an die Werte, für die der kollektive Akteur global steht, gegen die Erodierungseffekte globaler Arbeitsmärkte, die Temporalisierung von Organisationsstrukturen und die »Völkerwanderung« des Kapitals zu stärken. Der ethische Aspekt dieser Programme besteht hingegen darin, daß die intendierten Ökonomisierungseffekte nur erreicht werden können, wenn moralische Erwägungen wirklich zählen. Moral als PR-Kampagne ist ökonomisch und moralisch eine gefährliche Naivität. Im Aufdeckungsfall fallen massive Reputationsverluste an und der angestrebte Selbst- und Fremdbindungseffekt aller Kooperationspartner durch öffentliche moralische Kommunikation kann nicht erreicht werden.
12 Für eine empirische Untersuchung dieser neuen Mechanismen vgl. Wieland (1993). 381
V
Den Abschluß der hier vorgetragenen Überlegungen sollen einige eher gesellschaftstheoretische Spekulationen bilden. Es geht um
den Eindruck, daß sich in der neueren Entwicklung der Unternehmensethik eine Dimension der Organisationstorm »Unterneh-
mung« zur Geltung bringt, die deren Bedeutung als »gesellschaftliche Form« (Schmoller) in ein helles Licht stellt. Ich neige zu der
Vermutung, daß in dem Umfang, in dem tradierte Institutionen und Organisationen zur kulturellen und rechtlichen Sicherstellung von Kooperationsbereitschaft und -fähigkeit (die berühmten vier: Familie, Kirche, Schule, Staat) an funktionaler Ettektivität verlieren, Unternehmen funktionale Äquivalente bilden zur Übernahme der ausbleibenden, aber notwendigen Leistungen. Wenn die moralische Bindekraft einer Gesellschaft durch Individualisierung und Globalisierung erodiert, zugleich aber die »potential
gains from trade« von der Wirksamkeit informaler Handlungsbe-
schränkungen abhängen, dann müssen Unternehmen selbst in die Ressource Moral investieren und organisatorische Arrangements zu deren Sicherstellung treffen. Der doppelte Komplexitätszu-
wachs, den wirtschaftliche Transaktionen durch Individualisierung und Globalisierung erfahren, kann vielleicht am effizientesten in intermediären Organisationen (hier: Unternehmen) abge-
arbeitet werden, die nicht mehr an die nationale Raumdimension sozialer Handlungen gebunden sind. Dies könnte uns nötigen, die Rolle wirtschaftlicher Organisationen in einer ganzen Reihe von
Beziehungen neu zu bestimmen. Das Spektrum reicht von der Verhinderung globaler Katastrophen bis zur Übernahme supranationaler und nationalstaatlicher Aufgaben, von der Sozialisierung von Personen bis zur Produktion von Sinn. Indikatoren hierfür lassen sich schon seit einigen Jahren beobachten, und dies mit wachsender Geschwindigkeit. So wie die alteuropäische Oikonomia mit ihrer Herrschaft von Personen über Personen abgelöst wurde durch den Industriebetrieb, dem institutional die Herrschaft des Rechts als »third party enforcement« entsprach, so wird die globale Dezentralisierung von Produktion und Vertrieb neue institutionelle Arrangements zur Sicherstellung wirtschaftlicher Kooperation hervorbringen. Wirtschaften ist immer auch Vollzug von Gesellschaft. Wirtschaftsund Unternehmensethik, Ethikabteilungen und Ethikprogramme 382
können als Elemente dieser sich vollziehenden institutionellen
Evolution verstanden werden. Andere werden folgen.
Dies wird sich, wie bereits erwähnt, vor allen Dingen auf bisher noch der Politik und dem Staat übertragene Aufgaben beziehen, da
deren Territorialität und Zeitkosten an der Globalisierung der
Sachverhalte ihre Grenzen finden. Solange keine alternativen politischen Arrangements zur Vertügung stehen, die Probleme aber »gelöst« werden müssen, weil es weitergehen muß, wird sich die Tendenz, innen- und außenpolitische Aufgaben an Organisationen der Wirtschaft zu delegieren, verstärken. Ob sich dies unter Vorgabe von Konditionen oder als bedingungslose Übergabe voll-
ziehen wird, muß hier nicht geklärt werden. Uns werden statt
dessen zwei andere Aspekte noch kurz beschäftigen.
Es wurde bereits darauf hingewiesen, daß es sich bei den hier diskutierten Tendenzen um die Übertragung gesellschaftlich notwendiger Leistungen von politischen auf wirtschaftliche Organisationen handelt. Die Gründe liegen in Effektivitäts- und Effi-
zienzvorteilen hinsichtlich der Leistungserbringung. Effizienz meint hier Anpassungseffizienz des institutionellen Arrangements
an die spezifischen Bedingungen von Transaktionen. Diese Übertragung hat indes einen Steuerungs- und einen Legitimitätsaspekt.
Was die Steuerung angeht, so wäre zu klären, ob Unternehmen die
ihnen zugetrauten und zugemuteten Funktionen überhaupt erfüllen können. Hinsichtlich der Legitimität geht es um die Frage, wie eine solche Entwicklung demokratietheoretisch zu begründen und praktisch zu kontrollieren wäre. Denn auch die Demokratie
ist von der griechischen Polis bis zum modernen Nationalstaat räumlich definiert. Wie auch immer die Antworten auf diese Fragen ausfallen werden, die neue Wirtschafts- und Unternehmensethik wird in ihnen eine wichtige Rolle spielen. Steuerungstheoretisch können Unternehmen die notwendigen Leistungen nur erbringen, wenn sie Moral als explizite Managementautgabe in die Organisation integrieren. Dafür plausible Gründe anzuführen war ein Ziel dieser Analyse. Legitimationstheoretisch wird der dritte Sektor des ökonomischen Kooperationsproblems, die Kooperationen zwischen dem Unternehmen und der Gesellschaft an Bedeutung gewinnen. Privatvertragliche Regelungen sind hier nicht von vornherein als legitime Form der Rechtsetzung auszuschließen. (Homann und Kirchner 1995)
383
Anläßlich der Erörterung der Folgen der real existierenden Weltökonomie wurde in der internationalen Presse die Frage aufgeworfen: »Does Government Matter? The State is Withering and
Global Business is Taking Charge.« (Hirsh 1996) Es war eine
weitere Absicht der hier vorgetragenen Überlegungen, zu zeigen, daß »Government«, also ein Regime zur Steuerung globaler Ökonomischer Transaktionen, eine unabweisliche Notwendigkeit ist, daß es aber immer weniger Anlaß zu der immer schon falschen
Annahme gibt, daß »Government« und »State« Synonyme seien.
Diese Beobachtungsposition ließe sich gesellschaftstheoretisch absichern, wenn Gesellschaft nicht mehr als das umfassendste System
menschlicher Handlungen verstanden würde, sondern als die
Menge aller potentiell erreichbaren und organisierbaren Kooperationschancen. 13 Es wäre dann nicht mehr allein die Erforschung
der individuellen Präterenzen oder der kollektiven Strukturen
Gegenstand der Sozialwissenschaften und der Sozialphilosophie, sondern die Erforschung des Prozesses der Anbahnung, Durch-
führung und Sicherstellung menschlicher Kooperation. Kooperationschancen aber sind, so lehrte uns der anfängliche Überblick über die philosophische Tradition, immer auch Lebenschancen. Dies wäre also ein in der Tat interdisziplinäres Forschungsprogramm, das sich von Hobbes bis Rawls, von der Spieltheorie bis zur modernen Institutionen- und Organisationsökonomik auf nicht wenig an Theoriebestand beziehen könnte.
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Matthias Kettner Welchen normativen Rahmen braucht die angewandte Ethik? Das moralische Denken, das heute in verzweigten theoretischen und praktischen Aktivitäten der »angewandten Ethik« pulsiert,
erscheint wie ein gewaltiger Freisetzungsversuch desjenigen moralischen Denkens, das in der philosophischen Theorie der Moral (»Ethik«) in traditionellen Formen kultiviert worden ist. Angewandte Ethik ist die Fortsetzung normativer Ethik mit anderen Mitteln, anderen Zwecken und in anderen praktischen Kontexten.! Ich beschäftige mich im Folgenden nicht mit den Fragen, welche »Probleme« die angewandte Ethik mit welchen »Grundtheorien« und mit welchen »Methoden« traktiert oder traktieren sollte nicht etwa darum, weil diese Fragen nicht wichtig wären, sondern weil die vernünftige Behandlung dieser Fragen eine Voraussetzung hat, die meist? viel weniger durchdacht wird als Fragen, die im engeren Verstand als Methodenprobleme gelten und - tast möchte man sagen: ironischerweise - dem traditionellen »Geschäft« der
philosophischen Disziplin Ethik wieder sehr nahekommen. I Für eine Analyse wichtiger struktureller Dilemmata angewandter Ethik siehe M. Kettner (1992), »Drei Dilemmata angewandter Ethik«, in: K.O. Apel und M. Kettner (Hg.), Zur Anwendung der Diskursethik in Recht, Politik und Wissenschaft, Frankfurt am Main: Suhrkamp, S. 9-28. 2 Ausnahmen bestätigen die Regel. Was hier die Regel ist, läßt sich am besten den textbooks angewandter Ethik entnehmen, die in großer Zahl auf dem amerikanischen Buchmarkt sind, aber auch neueren deutschen Aufarbeitungsversuchen, z. B. siehe J. Nida-Rümelin (1996), »Theoretische und angewandte Ethik: Paradigmen, Begründungen, Bereiche«, in: ders. (Hg.), Angewandte Ethik. Die Bereichsethiken und ihre theoretische Fundierung. Ein Handbuch, Stuttgart: Kröner, S. 3-85; A. Pieper und U. Thurnherr (1998), Angewandte Ethik. Eine Einführung, Mün-
chen: Beck. Als Beispiele für Ausnahmen seien genannt A. Cortina (1993), Ética aplicada y democracia radical, Madrid: Tecnos; P. Ulrich (1997), Integrative Wirtschaftsethik, Bern: Haupt; A. Leist (1998), »Angewandte Ethik zwischen theoretischem Anspruch und sozialer Funktion«, in: Deutsche Zeitschrift für Philosophie 5, S. 753-779, sowie meh-
rere Autoren im vorliegenden Band.
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Diese Voraussetzung ist, dal das moralische Denken der angewandten Ethik über ein zu ihren Aktivitäten passendes normatives Selbstverständnis verfügt. Passend ist ein solches Selbstverständnis
nur dann, wenn es die Aktivitäten angewandter Ethik nicht nur praktisch ertolgversprechend macht, sondern auch erlaubt, sie unter Geltungsansprüchen zu kritisieren bzw. zu rechttertigen. Nennen wir ein solches Selbstverständnis einen »normativen Rah-
men«. Ich argumentiere im Folgenden für einen normativen Rahmen, der für die angewandte Ethik, die zur emergenten globalen
Zivilgesellschaft gehört, tauglich ist.
I. Moralisches Denken Als »moralisches Denken« möchte ich im Folgenden alle Formen und Fälle der Wahrnehmung moralischer Verantwortung verstehen, die sich auf die Mitglieder einer sozial irgendwie integrierten Gemeinschaft verteilen, also in deren Lebenspraxis eine Rolle
spielen. Inhalt und Umfang dieses Begriffs sind also denkbar
weit gemeint und nicht auf eine bestimmte Moral oder Moraltheorie eingeschränkt.
Inhaltlich meint der Begriff des moralischen Denkens eine Weise,
kollektiv ernstzunehmen, wie Verhaltensaktivitäten (= was getan
oder gelassen werden kann) und ihre Ergebnisse für die Akteure
selbst sowie für andere Wesen, an denen den Akteuren etwas liegt oder liegen müßte, zum Guten oder zum Schlechten ausschlagen. Dieses von den für es mitverantwortlichen Mitgliedern einer Moralgemeinschatt getragene Ernstnehmen läßt sich im Einklang mit
dem normalen Sprachgebrauch als ›moralische Verantwortung‹
bezeichnen, wenn es einige weitere Merkmale aufweist. Jede artikulierte Moral ist eine Textur, vermittels deren sich alle Adressaten dieser Moral »zwingend« - nämlich um den Preis von Furcht, Scham, Schuld, Selbstachtung oder Wertschätzung seitens anderer
Mitglieder einer Moralgemeinschaft - auferlegen, sich um bestimmte Arten des Guten von bestimmten Arten von Wesen zu kümmern und sich hierüber Rechenschaft zu geben. Es ist daher talsch, das Moralische insgesamt in Prokrustesbetten »moralischer
Rechte«, »moralischer Pflichten« oder gar von »Forderungen der Gerechtigkeit« zu zwingen. Des weiteren ist es falsch, anzunehmen, Moral oder moralische Verbindlichkeit sei per definitionem
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ohne Sanktionen und das sei ein wichtiger Punkt der Differenz zwischen Recht und Moral? Und schließlich ist auch die VorstelJung falsch, Moral sei bloß ein »System kulturellen Wissens«,+ Recht aber ein Handlungssystem. Moral ist beides: ein in Form von Deutungsmustern, die von Akteuren (z. B. natürlichen Personen) übernommen (z. B. internalisiert) werden können, kulturell reprasentiertes Wissen und. ., so übernommen, ein System von nor
mativen Texturen mit verhaltenssteuernder Kraft. Soviel zum Begriffsinhalt. Entsprechend weit ist der Umfang des Begriffs.
2. Charakteristika des moralischen Denkens
in der angewandten Ethik Einen Vorschlag für die Selbstaufklärung des moralischen Denkens
angewandter Ethik mit einer Begriffsdefinition zu beginnen, die
die Karten auf den Tisch legt, ist gewiß nicht falsch: Unter »ange-
wandter Ethik« möchte ich alle Versuche verstehen, moralisch normative Überzeugungen - auch (aber nicht notwendigerweise allein nur) die komplexen, in philosophischen Begründungsdiskur-
sen rechtfertigbaren normativen Moraltheorien - in bestimmten 3 Es gibt Recht ohne die für Recht weithin charakteristische Bindung an staatlich kontrollierte Sanktionsmacht, und es gibt Moralregeln, die mit hochgradigen informellen Sanktionen vor Verletzung geschützt sind. Außerdem gibt es, und das wird kaum (oder aus »Gründen begrifflicher Sparsamkeit«: nicht gerne) gesehen, das Phänomen der Einschreibung von Elementen einer besonderen Art normativer Texturen (z. B. moralischer Regeln) in Elemente einer anderen besonderen Art normativer Texturen (z. B. internationales Recht). Die 1948 allgemein deklarierten Menschenrechte sind ein Beispiel auf globaler, der Schutz der Intimsphäre in der deutschen Verfassung eines auf lokaler Betrachtungsebene. 4 J. Habermas (1992), Faktizität und Geltung, Frankfurt am Main: Suhr-
kamp§ Zum aktuellen Umtang des moralischen Denkens gehört also z. B. das, was die Mitglieder eines Ethik-Komitees in Lübeck tun, die sich Gedanken darüber machen, ob der Wunsch eines Paares nach Präimplanta-
tionsdiagnostik moralisch richtig und mit dem Embryonenschutzgesetz vereinbar ist, aber auch der ökoethisch engagierte Student, der im
Nachbargebäude vielleicht gerade eine Protestaktion ausheckt, um auf die Schädigung gewisser Pflanzenarten durch den Transitverkehr von Lastwagen hinzuweisen. 390
Praxisbereichen zu verwenden oder so verwendbare Moraltheorien zu entwickeln, um Problemlagen, die dort typisch anfallen und
eine moralisch irritierende Seite haben, besser, und zwar in einem moralisch qualifizierten Sinne von »besser«, zu bewältigen.6
Angewandte Ethik will moralische Orientierung im konkreten Einzelfall gewinnen (»im Einzelnen«) oder, wenn nicht dies, dann zumindest in bestimmten Klassen von konkreten Einzel-
fällen (»im Besonderen«). Reine Ethik hingegen sucht moralische Orientierung unter gezielten Abstraktionen von konkreten Pro-
blemsituationen, d. h. sie sucht sie allein »im Allgemeinen«. Nun besteht aber der eigentliche Praxisbezug aller Moral - und damit auch der eigentliche Gegenstand normativer Moraltheorie - in vollständigen (»konkret situierten«, »reich kontextuierten«) Aktiuitäten, Verhaltensweisen und Handlungen. Daher kann nur die angewandte Ethik, nicht die reine, den eigentlichen Gegenstand der Moral erreichen - freilich nur dann, wenn der vollständigen Handlung auch eine vollständige Reflexion seitens der angewandten Ethik entspricht. Zu dieser vollständigen Reflexion gehört auch, daß die angewandte Ethik, anders als der philosophische Rechtfertigungsdiskurs über normative Grundtheorien, Anwendungsbedingungen reflektieren muls, die durch die tatsächliche Verfassung bestimmter Praxisbereiche vorgegeben sind und sich der moralischen Legislation ent-
ziehen, jedentalls dann noch entziehen, wenn die angewandte Ethik die Bühne des betreffenden Praxisbereiches betritt. Das erfordert dann für die angewandte Ethik eine Reflexion auf -
für die Begründung von normativen Theorien ja unerläßliche -
Idealisierungen, besonders auf den Unterschied der hypotheti-
schen Geltung eines präskriptiven Gehalts P (z.B. einer Norm)
und dem Befolgtwerden von P unter den bestimmten Praktizier6 Sogenannte Moralprobleme sind nahezu nie reine Moralprobleme.
Menschliche Normativität ist vielgestaltig (siehe N.-N. Castañeda [1975], Thinking and Doing, Dordrecht: Reidel). Man muß sich also vor der Gleichsetzung von Normativität mit Moral (bzw. normativ = moralisch) hüten. Moralische Normativität ist eine spezifische Domäne des Normativen - unter vielen anderen normativen Domänen. 7 Ich habe diese Behauptungen begründet unter Verweis auf die adverbiale
Tiefenstruktur von Moralurteilen (M. Kettner [199$], »Idealisierung und vollständige Handlung. Modellierungsprobleme praktischer Ethik«, in: Initial 2, S. 46-54).
391
barkeitsbedingungen eines bestimmten Praxisbereichs, zu dessen normativer Textur P gehört. Die in die Anwendung hinein verlängerte Arbeit normativer Moraltheorie ist also keineswegs erledigt, wenn sie ein Verfahren angibt, mit dem bestimmt werden kann, was die gültigen moralischen Verbindlichkeiten wären in einer möglichen Welt von Vernunftwesen, die mit idealer Rationalität und vollkommen freiem Willen vorgestellt werden. Sie muß vielmehr Verfahren angeben, die gültige moralische Sollenstorderungen aufweisen können für Adressaten, die als konkrete Personen Handelnde in ganz bestimmten Praxisbereichen der wirklichen Welt sind.
(1) Regulativer normativer Universalismus. Die Frage, welche normativen Texturen für beliebige konkrete Personen in der wirk-
lichen Welt verbindlich sind, bewegt sich auf den Geleisen der traditionell philosophischen Frage nach normativen Universalien, oder enger moralisch gefragt, »nach der einen Moral, die alle teilen (können)«. Gewiß ist angewandte Ethik ein auf Globalisierung angelegtes Unternehmen - wem die ganze Richtung nicht palst, der
wäre wohl eher geneigt zu sagen: eine missionarische Bewegung oder eine Exportindustrie. Aber die Devise »eine Welt, eine Moral« bezeichnet nur eine zukünftige Möglichkeit, nicht den Stand
der Dinge. Damit ihre Kritisierbarkeit und Rechtfertigbarkeit unter verschiedenen Geltungsansprüchen überhaupt schritthalten kann mit der Globalisierung der Aktivität angewandter Ethik, darf
das moralische Denken der angewandten Ethik weder nur aut normative lexturen zurückgreiten, die in kulturell sich abgren-
zenden Gemeinschaften sozusagen lokal allgemeinverbindlich
sind - ein kommunitaristisches Selbstverständnis -, noch nur auf normative Texturen vorausgreifen, die allgemeinverbindlich wären unter allen vernünftigen Menschen, wenn dieselben in unein-
geschränkter Argumentationsgemeinschaft zueinander stehen würden - ein idealistisch-universalistisches Selbstverständnis. Jedenfalls kann kontrafaktischer Konsens® allein nicht alle Aspekte abdecken, unter denen angewandte Ethik ihre Aktivität rechtfertigen können muß. Das hängt mit der intervenierenden Natur des moralischen Denkens angewandter Ethik zusammen. 8 Jemandes Annahme, daß jemand unter bestimmten Bedingungen, deren Erfüllung hier und jetzt hypothetisch ist, einen Grund (zur Zustimmung zu etwas) zu seinem Grund machen und als gut genug beurteilen würde.
392
(2) Interventionismus. Angewandte Ethik interveniert in norma-
tive Texturen. Sie modelt sie um, macht sie zum Gegenstand von Reformen. Daß einzelne Normen traktiert (identifiziert, respezifi-
ziert, begründet, angewendet etc.) werden können, darf nicht darüber täuschen, daß die eigentliche Angriffsfläche für die Ratio-
nalisierung zum moralisch Besseren, die von angewandter Ethik (die, wie gesagt, vollständige Aktivitäten, Handlungen und Verhaltensweisen thematisiert) intendiert wird, keineswegs je ein-
zelne, gleichsam diskrete Normen sind. Direkte Angriffsflächen
angewandter Ethik sind vielmehr die normativen Texturen be-
stimmter, problematisch gewordener Praxisbereiche, in denen
die Quellen moralischer Irritation ausfindig gemacht werden, und indirekt sind es alle, wie entlegen auch immer scheinenden normativen Texturen, in denen die durch die Intervention bewirk-
ten Veränderungen mit moralisch bedeutsamen normativen Effekten zu Buche schlagen, »sich auswirken«' Alle Ethikanwendungs-
konzeptionen, die auf vorgegebene Problemstellungen angewiesen sind, ohne deren Genese nötigenfalls in größeren zeitlichen und gesellschaftlichen Zusammenhängen rekonstruieren zu können,
sind in eben dem Maße borniert. Gewiß, unter bestimmten
reformökonomischen Umständen mag angewandte Ethik auch sinnvoll an einzelnen Steinchen arbeiten, aber nie ohne doch wenigstens einen Ausblick auf das ganze Mosaik zu riskieren. 10 (3) Moralreflexive Verantwortlichkeit. Angewandte Ethik ist keine
freistehende und kontemplative, sondern eine engagierte und
transformative Theorie. Die interventionistische Verwendung moralischen Denkens (als eine Form diskursiver Macht) ist ein praktisches, kein »rein theoretisches« Verhältnis. So bedarf es oftenbar 9 Ein medizinethisches Beispiel ist die Deregulierung der Praktiken
vorgeburtlicher Diagnostik.Sie wirkt sich auch an entlegeneren »Orten« aus, im System der Krankenversicherung etwa so, daß für Personen mit bestimmten Behinderungen der Genuß bestimmter Schutzleistungen erschwert wird (R. Baumann-Hölzle und C. Kind [1998], »Indikationen zur pränatalen Diagnostik: Vom geburtshilflichen Notfall zum genetischen Screening«, in: M. Kettner [Hg.], Beratung als Zwang. Schwangerschaftsabbruch, genetische Aufklärung und die Grenzen kommunikativer Vernunft, Frankfurt am Main: Campus, 5.65-79).
10 Vgl. die kritische Diskussion von Peter Singers Anwendungsmodell »praktischer Ethik« bei Schelkshorn, im vorliegenden Band.
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seinerseits einer moralischen Normierung, wenn denn angewandte Ethik angewandte Ethik sein soll. Den Aktorinstanzen
angewandter Ethik fällt daher (ob sie dies' wahrhaben oder nicht) eine spezifische, nämlich moralreflexive Verantwortung zu. Es gibt bekanntlich iatrogene Krankheiten. Es gibt auch kontraproduktiv angewandte Ethik. Und es ist Unsinn zu glauben, daß die Moralvorstellung, die besser philosophisch zu begründen ist als eine andere, schon darum auch die in situ, in praxi vernünftigere Moralvorstellung ist. Da angewandte Ethik die normativen Texturen nicht erzeugt, in die sie interveniert, sondern sie »nur«
modifiziert - das Pathos des Aufräumens mit Problemen, die
Rhetorik von tabula rasa und einschneidenden Neuerungen, das sind in diesem Zusammenhang doch bloß unersprießliche Ideologeme - müssen Anwendungskonzeptionen, die ihre moralreflexive Verantwortung in sich aufnehmen und ihr gerecht werden wollen, vor allem die folgende Herausforderung vernünftig verarbeiten: Die kritische Hauptfrage reflektierter angewandter Ethik ist: Wie
können bestimmte Moralvorstellungen (MI.. Mn), die in den normativen Texturen eines Praxisbereichs bereits, wie konfliktiv
auch immer, gegeben, bereits in sie eingeschrieben sind, mit einer Moralvorstellung (M*), die aus der Sicht einer Anwendungskonzeption die »richtige« ware, um die moralischen Verhaltnisse in
dem betreffenden Praxisbereich zu verbessern, auf eine Weise zusammengebracht werden, daß nicht neue, womöglich moralisch irritierendere Problemlagen entstehen?
Aus den bezeichneten drei allgemeinen Charakteristika und einigen allgemeinen Annahmen über moralische Normativität lassen sich unschwer einige besondere Problemklassen verständlich machen: Aus der Tatsache, daß es überhaupt Moral gibt, entstehen der Moral Probleme der moralisch richtigen Abwehr ihrer moralisch falschen Instrumentalisierung, ihrer strategischen Indienstnahme für nichtmoralische oder unmoralische Zwecke. Aus der Tatsache, dais es viele Moralen gibt, entspringen der Moral Probleme des moralisch richtigen Umgangs mit moralischer Ditterenz. Aus der Tatsache, daß unser Moraldenken ohne den Phänomenen Gewalt anzutun nicht so systematisierbar ist wie z. B. unser mathematisches Denken, erwachsen der Moral Probleme der moralisch richtigen Handhabung moralischer Unbestimmtheit. So lassen sich drei Hauptgruppen von Herausforderungen unterscheiden, auf 394
die die Anwendungskonzeptionen einer nicht blindlings angewandten Ethik antworten müssen. Hier beginnen die im ergeren Sinne methodologischen Fragen angewandter Ethik, die ich aber hier, wie eingangs erklärt, nicht verfolgen will.11
3. Massenmedien und das Selbstverständnis angewandter Ethik Wenn wir (eine Denkfigur von Foucault variierend) unter »moralischer Problematisierung« die Prozesse verstehen, durch die in einer bestimmten geschichtlichen Situation bestimmte Praktiken als ein Problem wahrgenommen werden, das u. a. auch moralische Urteile und Antworten verlangt, dann kann man (wie ich es tue)
die tolgende These Ti zum Zusammenhang zwischen alten oder neuen Massenkommunikationsmedien und dem für angewandte Ethik charakteristischen moralischen Denken vertreten:
Il Ein diskursethisches Anwendungsmodell, das in Form »moralischer Diskurse« den bezeichneten Problemdimensionen besser gerecht wird als die bekannten Anwendungskonzeptionen, habe ich andernorts detailliert begründet (M. Kettner [1999], »Neue Perspektiven der Diskursethik«, in: A. Grunwald und S. Saupe [Hg.], Ethik in der Technikgestaltung. Praktische Relevanz und Legitimation, Heidelberg: Springer 1999, S. I53-195).
12 Ich begreife Massenkommunikationsmedien nicht technizistisch als »Apparate« oder »Technologien«, sondern pragmatistisch und kulturalistisch als sozio-technische Praktiken. (Vgl. M. Kettner [1996], »Medienmultis, Multimedia und Multiplex - Drei ›Megatrends unserer medialen Verständigungsverhältnisse?«, in: W. Loth et al. [Hg.], Jahrbuch 1995. Kulturwissenschaftliches Institut im Wissenschaftszentrum Nordrhein-Westfalen, Essen: KWI, S. 42-58.) Sie müssen zumindest eines leisten: sie richten die sie durchlaufenden Kommunikationen synchron an eine Öffentlichkeit von unbestimmt vielen Personen, denen die Möglichkeit unterstellt wird, sich als Interessenten zu posi-
tionieren (z. B. ein-, aus- oder umzuschalten, zu kaufen oder nicht zu kaufen, zu- oder wegzuhören etc.). Fernsehen, Hörfunk, Presse und diejenigen Nachrichtenpraktiken, die diese Standardmedien im neuen Hypermedium Internet emulieren, rechnen mit der Gegenwart unbestimmt vieler Interessenten an Unterhaltung, Meinungen, Informationen und Neuigkeiten.
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(Tr:) Massenmedien öffnen oder verschließen Resonanzräume des morali-
schen Denkens in Moralgemeinschaften, und diese Resonanzräume sind für ein recht verstandenes Theorie-Praxis-Verhältnis angewandter Ethik in
jedem ihrer Zweige notwendig.
Insofern gehört Medientheorie nicht an die Peripherie eines angemessenen (und auch theoretisch artikulierten) Selbstverständ-
nisses angewandter Ethik, etwa als eine weitere Bindestrich- oder Bereichsethik. Medientheorie gehört vielmehr zur Substanz eines angemessenen (und auch theoretisch artikulierten) Selbstverständnisses angewandter Ethik in Gesellschaften, die demokratisch-
rechtsstaatlich organisierte politische Gemeinwesen sind und über medial ermöglichte Öffentlichkeitstormen verfügen. 13
Nun zur Begründung von Tr. Ich meine, daß Medizinethik und andere angewandte Ethik, als die sozialreformerischen Bewegungen, die sie sind, jedenfalls unter Bedingungen des demokratischen Rechtsstaats, von den Medien ähnlich abhängig sind, wie andere zivilgesellschaftliche Nichtregierungsorganisationen von den Medien abhängig sind. Diese Abhängigkeit erscheint zunächst als eine Abhängigkeit ihrer gesellschaftlichen Akzeptanz nach. Das heißt: Weder die Ethikak13 Zum Zweck der medien- und moraltheoretischen Vertiefung von Ti wäre folgende Unterscheidung auszubauen: Zum einen Modifikationen von existierenden Gestalten moralischen Denkens, die durch relevante massenmediale Operationen eintreten; zum andern explizite Inszenierungen moralischen Denkens in Massenmedien (P.J. Rossi und P. A. Soukup [Hg.] [1994], Mass Media and the Moral Imagination, Kansas City: Sheed & Ward, S. 4). (Diese Unterscheidung schließt natürlich nicht aus, daß eine existierende Gestalt moralischen Denkens
auch dadurch modifiziert wird, daß sie massenmedial inszeniert wird.)
Im ersten Fall (Modifikationen von existierenden Gestalten morali-
schen Denkens durch Massenmedien) geht es darum, welchen Unter-
schied der Unterschied, ob es Massenmedien und ihre Operationen gibt oder nicht gibt, für das moralische Denken in seinen diversen Formen macht. (Vgl. die betont kritischen Fallstudien bei M. Jäger et al. [1997],
Biomacht und Medien, Wege in die Bio-Gesellschaft, Duisburg: Edel Druck.) Im zweiten Fall (Inszenierung moralischen Denkens in Massenmedien) geht es darum, ob und wie diverse Medien Moraldiskurse in ein medieneigenes Genre verwandeln, z. B. in Programme von moralisch denkenden Gruppen von Tierschützern (Veganern, Vegetariern usw.), von Umweltschutz-NROs (Greenpeace) oder von Menschenrechts-NROs (Amnesty International).
396
tivitäten selbst noch die normativen Ergebnisse, die sie zeitigen -
man denke z. B. an die europäische Bioethikkonvention! -, werden von weiten Teilen der Bürger, die sich dafür interessieren oder
interessieren lassen, als legitim und sinnvoll wahrgenommen,
wenn diese Aktivitäten und normativen Ergebnisse nicht durch
geeignete Formen von Öffentlichkeit hindurchgegangen sind, geeignet in dem Sinne, daß diese Formen von Öffentlichkeit betroffenen oder potentiell betroffenen Bürgern die betreffenden Moralprobleme verständlich (und zwar als Moralprobleme verständ-
lich!) machen und zudem die bestimmten Antwortversuche
(wiederum: als Antwortversuche auf Moralprobleme!) plausibilisieren können. Die erhebliche Bedeutung von massenmedialer politischer Kommunikation - und dementsprechend: von Medientheorie - für das Theorie-Praxis-Verhältnis angewandter Ethik entsteht also dadurch, dals das moralische Denken der angewandten Ethik im Kontext einer demokratischen Gesellschaft stattfindet.15 Denn
14 Als das Dokument mit dem langen Titel »Entwurf einer Konvention zum Schutz der Menschenrechte und der Menschenwürde im Hinblick
auf die Anwendung von Biologie und Medizin: Bioethik-Konvention
und erläuternder Bericht (Bioethik-Konvention)« in der europäischen politischen Öffentlichkeit bekannt gemacht wurde, verriet es auf seiner ersten Seite bereits, woran es bis zur letzten Seite krankt, nämlich eine bloß nachholende und nachlaufende Publizität. Siehe hierzu M. Kettner (1997), »Beispiel Bioethik-Konvention. Wie ist demokratische Willensbildung über Moral (un)möglich?«, in: M. Kerner (Hg.), Aufstand der Laien - Expertentum und Demokratie in der technisierten Welt, Aachen: Thouer Verlag, S. 269-292. Die endgültige Fassung der Konven-
tion, die seit April 1997 in der EU zur Ratifizierung freisteht, ist als
Europarat-Dokument ETS No. 164 (oder unter www.ccne-ethi15 Die Bedeutung von Kommunikationsmedien und -theorie für angewandte Ethik in modernen Demokratien wäre besonders an zwei empirisch sehr weit ausgearbeiteten kommunikationswissenschaftli-
chen Theoriestücken genauer darzulegen. Die Stichworte (die ich an dieser Stelle nicht weiter ausführen kann) sind: mediales »AgendaSetting« (das Auf-die-Tagesordnung-Bringen von Themen durch die Massenmedien: The media do not tell us what to think but what to
think about«) sowie das Medienwirkungsmodell des »Two Step Flow«. Zum ersten siehe M. McCombs et al. (1995), »Issues in the News and
the Public Agenda: The Agenda-Setting Tradition«, in: I.L. Glasser
397
in diesem Kontext muß jedes Anwendungsmodell nicht nur im engeren Sinne moraltheoretisch befriedigen, sondern zusätzlich zur vernunftmoralischen Rechtfertigung der durch es geltend ge-
machten Ansprüche diese Ansprüche auch politisch, nach Maß-
gabe von Bewertungsgründen für die demokratische Gültigkeit 6 von politischen Handlungen, befriedigend zu rechtfertigen erlau-
ben. Meine These Ti von der Medienmodalität angewandter Ethik in demokratischen Gesellschaften enthält zugleich eine begründete Auffassung darüber, wie die diversen Aktivitäten, die wir gewöhn-
lich »angewandte Ethik« nennen, demokratietheoretisch über-
haupt zu begreifen sind. Diese Auffassung möchte ich nun explizieren und in die Form einer zweiten These bringen. Sie betrifft
Standards demokratischer Gültigkeit und geht daher über Tatsa-
chen der Akzeptanz hinaus.
4. Demokratie und das Selbstverständnis angewandter Ethik Meiner Auffassung nach ist angewandte Ethik im wesentlichen eine bürgergesellschaftliche Aktivität, eine besondere unter vielen
anderen Formen der Selbstorganisation einer civil society, genauer:
der Zivilgesellschaft in demokratischen, aber nicht z. B. in totalitären Staaten. 17
Die im vorigen Abschnitt eingeführte These Ti ist in normativem, und C. T. Salmon (Hg.), Public Opinion and the Communication of Consent, New York: The Guilford Press, S. 281-300; N. Luhmann (1996), Die Realität der Massenmedien, Opladen: Westdeutscher Verlag; G. Ruhmann (1994), » Ereignis, Nachricht und Rezipient«, in: K. Merten et al. (Hg.), Die Wirklichkeit der Medien, Opladen: Westdeutscher Verlag, S. 237-296. Zum letzteren siehe G. Weimann (1994), The Influentials. People Who Influence People, Albany: State University of New York Press. 16 Die übrigens - pace Habermas - mit dem engeren Sinn der Gültigkeit des Rechts nicht identisch ist.
17 Diese Einschränkung ist nötig, da der Begriff der Bürgergesellschaft in einer seiner Lesarten auch spezifisch in den historisch-kulturellen Kon-
text der aufstrebenden Demokratiebewegungen in diversen realsozia-
listischen, inzwischen untergegangenen Staaten hineinreicht.
398
d. h. standardetablierendem Sinne gemeint. In diesem Sinne ist in To die Rede von einem »recht verstandenen« Theorie-Praxis-Verhältnis. Dieser Vorgriff sollte nun konkreter geworden sein, nämlich als Vorgriff auf ein demokratisch situiertes und selbstkritisches Selbstverständnis angewandter Ethik. Meine zweite normative These zum Selbstverständnis einer angewandter Ethik, die ihren Namen verdient, lautet deshalb: (T2:) In modernen Demokratien sind die Aktivitäten angewandter Ethik
zivilgesellschaftliche Aktivitäten, und die Akteure der angewandten Ethik müssen für ihre Aktivitäten den Anspruch erheben, demokratisch gültig zu sein.
Nun zur Begründung von T2.18 Was die Demokratietheorie an-
geht, so beziehe ich mich auf jenen Hintergrund von empirischer und normativer Demokratietheorie, den Habermas beschrieben hat, also z. B. nicht auf sogenannte ökonomische Demokratietheorien.1' Man kann diesen komplexen Hintergrund20 einfach durch die normative Prämisse charakterisieren, daß in allen wichtigen
Bereichen der Willensbildung, aus denen Festlegungen hervorgehen, für die mit Blick auf alle Bürger eines demokratischen Gemeinwesens Allgemeinverbindlichkeit in formell durchsetzba-
ren Formen beansprucht wird, unter verfügbaren alternativen
Governance-Strukturen die deliberativen, die verschiedenen
Überlegungskapazitäten der Betroffenen weit einbeziehenden
Governance-Strukturen politisch vorzuziehen (und deshalb auch: zu fördern und zu fordern) sind.
In diesem Rahmen kann man theoretisch sinnvoll von deliberativen Politikprozessen sprechen. Deliberativ heißt hierbei, daß
Input-, Output, und operative Prozesse des demokratischen Regierens so weit, wie es beim gegebenen Stand möglich wäre, an-
gekoppelt werden sollen an Uberlegungen und Gründe, die allgemein teilen zu können alle Bürger eines bestimmten demokratiI8 Natürlich gibt es innerhalb der Bewegung angewandter Ethik ganz unterschiedliche, weder mit Ti noch mit T2 kompatible Selbstverständnisse. Ich bestreite nur (im Einklang mit allen Beiträgen im vorliegenden Band), daß sie vernünftig besser vertretbar sind als ein auf TI und Tz sich berufendes Selbstverständnis.
19 Die m. E. überzeugende Kritik an Theorien dieses Typs kann ich hier nicht entfalten.
20 Habermas (siehe Anm. 4).
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schen Gemeinwesens einander zumuten wollen. Im Zweifelsfall ist
der entscheidende Test, auf den man in einem demokratischen Gemeinwesen zurückgreifen können muß, die erreichte Zustimmung einer (qualifizierten) politischen Mehrheit in einem fairen
Repräsentationssystem, das sich auf alle zustimmungskompeten-
ten Staatsbürger erstreckt. Davon, wie weit die Ankopplung an
politisch sinnvolle Überlegungen und Gründe im konkreten Fall gelingt,? bemißt sich die demokratische Gültigkeit einer im konkreten Fall zustande gebrachten, die politische Gemeinschaft als solche (oder mit Bezug auf politische Sub-Gemeinschaften - 7. B. Professionen - in ihr) kollektiv bindenden Entscheidung auch dann, wenn diese einen Inhalt von spezifisch moralischem Eigensinn hat - wie z. B. ein neues Gesetz (oder neue Richtlinien der
Arztekammer) zur Regelung der ärztlichen Sterbehilfe, die Erweiterung der Verfassungsnorm des Schutzes menschlicher Würde
um eine Bestimmung der »Würde der Kreatur«, die Regelung oder Neuregelung des Schwangerschaftsabbruchs, die Einführung von Ethikkommissionen verschiedener Art, * die Vereinbarung eines Moratoriums bezüglich Keimbahntherapie oder der Klonierung von Menschen, oder die Selbstverpflichtung von Firmen und Banken auf Regeln zur Eindämmung des »Terrors der Ökonomie«,25 Zur Erläuterung des Begriffs eines »Alteurs angewandter Ethik«
muß ich etwas weiter ausholen. - Tausende kleiner und großer, lokaler, nationaler und transnationaler Gruppen tummeln sich 21 Für eine Analyse des Zusammenhangs zwischen demokratischer Gel-
tung und den auf sie zugeschnitten Gründen, die ich »res publica Gründe« nenne, siehe M. Kettner und Maria-Luise Schneider (2000),
*Öffentlichkeit und entgrenzter politischer Handlungsraum: Der Traum von der ›Weltöffentlichkeit‹ und die Lehren des europäischen Publizitätsproblems«, in: H. Brunkhorst und M. Kettner (Hg.), Globalisierung und Demokratie, Frankfurt am Main: Suhrkamp. 22 P. Balzer, K. P. Rippe, P. Schaber (1997), Die »Würde der Kreatur«, Freiburg: Alber. 23 M. Kettner (1998), »Zum Kontext von Beratung als Zwang«, in: ders. (siehe Anm. 9), S. 9-46. 24 Vergleiche die zweite Gruppe von Beiträgen im vorliegenden Band. 25 Hierzu siehe M. Kettner, »Globalisierung, Diskursethik und der Terror der Ökonomie«, in: T. Maak und Y. Lunau (Hg.), Weltwirtschaftsethik.
Globalisierung auf dem Prüfstand der Lebensdienlichkeit, Bern:
Haupt, S. 77-96.
400
inzwischen unter dem vom Verwaltungsapparat der Vereinten Nationen in den 7oer Jahren geschaffenen und weltweit dankbar aufgegriffenen Etikett der »NRO«, der Nichtregierungsorganisation. Aus der äußerst heterogenen Menge sogenannter NROs lassen sich die zivilgesellschaftlichen unter den zwei normativen Filtermerkmalen der Gemeinwohlorientierung und des sozialreformerischen Engagements herausgreifen. Denn die diversen Begriffe von Zivil- oder Bürgergesellschaft, die derzeit im Schwange sind, variieren ein semantisches Minimum, das man - mit Charles Taylor - so ausdrücken kann: Zivilgesellschaft meint bzw. meint immer auch so etwas wie ein Netz selbständiger, vom Staat relativ unabhängiger Vereinigungen, die die Bürger in gemeinsam interessierenden Dingen miteinander verbinden und die durch ihre bloße Existenz oder Aktivität Auswirkungen auf die Politik haben können. Eine Geschichte speziell des zivilgesellschaftlichen Segments der
sehr breit gefächerten NRO-Bewegung wäre eine Geschichte der Lernprozesse von Bürgern, die erfahren, wie die Handlungsmacht
staatlicher und wirtschaftlicher Akteure in vital bedeutsamen Belangen zurückbleibt hinter den normativen Ansprüchen und Versprechen, die die politische Idee der Demokratie in der Moderne so attraktiv gemacht haben. Gewerkschaften bilden die erste Phase,
Bürgerbewegungen alten Stils die zweite, die »neuen sozialen Bewegungen« seit dem Ausgang der 6oer Jahre die dritte Phase
dieser Geschichte. In der vierten Phase entfaltet sich ein unüber-
sichtliches Netz von unterschiedlichsten Hilfswerken, LobbyGruppen und Protestbewegungen (action groups). Dieses Netz
ist vertikal nicht besonders hoch organisiert - NROs haben keinen Weltdachverband -, aber horizontal sehr ausgebreitet, über Tausende von Gruppen in fast allen Weltgegenden.26
Solche NROs ziehen Konsequenzen daraus, daß es weder genügt, nur demonstrativ an die politische Offentlichkeit zu appellieren, 26 Beispiele für die erstaunliche Mobilisierungsfähigkeit in dicht vertikal
organisierten NROs beschreibt A. Sreberny (2000), »Feministischer Internationalismus: Zur Imagination und Konstruktion globaler Zivilgesellschaft«, in: H. Brunkhorst und M. Kettner (Hg.), Globalisierung
und Demokratie, Frankfurt am Main: Suhrkamp, S. 289-309. An die
politische Effizienz auch von mehr formal organisierten Politiknetzwerken glaubt D. Messner, » Weltwirtschaftliche Entwicklung und gesellschaftliche Steuerungsprobleme«, ebd., 5.90-127}.
40I
Beschwerde zu führen, Eingaben bei staatlichen Stellen zu machen oder als Parteimitglied lange durch die Institutionen zu marschieren; noch auch, auf die systemische Intelligenz und Problemlösekraft einer entfesselten kapitalistischen Marktwirtschaft zu hoffen.
Diese altmodischen und neumodischen Politikrepertoires haben jedentalls wenig gefruchtet in den drei Praxisbereichen, in denen die Aktivitäten zivilgesellschaftlicher NROs heute am deutlichsten wahrgenommen werden: in der Umweltschutzbewegung, in der Entwicklungspolitik und im Menschenrechtsschutz.
Mit meiner These Tz behaupte ich nun, daß die Aktivitäten angewandter Ethik dort, wo sich ihre »kommunikative«? und
»diskursive«28 Macht zusammenhängend organisiert, so daß sie eine politisch nicht einfach zu ignorierende Einflußgröße überschreitet - wie die Bioethik innerhalb der Biowissenschaften und die Medizinethik innerhalb des Medizinsystems - in demokratietheoretischer Perspektive am besten nicht anders beschrieben und bewertet werden sollten, als andere zivilgesellschaftliche NROs.
Angewandte Ethik ist, kurz gesagt, eine historisch neue zivilge-
sellschaftliche Aktivität, eine kulturelle Erfindung der Bürgergesellschaft. Von einigen anderen Aktivitäten dieser Art (etwa den sogenannten »neuen sozialen Bewegungen«) unterscheidet sie sich nicht unwesentlich durch die Besonderheit, daß sie überwiegend von Mitgliedern von Professionen getragen wird, und zwar von Professionen im soziologisch engen Begriff, also von
Geistlichen, Ärzten, Juristen, Wissenschaftlern und Hochschullehrern.29 Die Göttinger » Akademie für Ethik in der Medizin«, das Tübinger
»Interfakultäre Zentrum für Ethik in den Wissenschaften«, die »Europäische Akademie zur Erforschung von Folgen wissenschaftlich-technischer Entwicklungen«, das Bonner »Institut für Wissenschaft und Ethik«30 in Deutschland, in den Vereinigten 27 In Anlehnung an H. Arendt: Habermas (siehe Anm. 4), S. 183 f. 28 Im Spagat zwischen Apel und Foucault: Kettner (siehe Anm. 11). 29 Insofern würde ich auch diejenigen Philosophen als professionalisierte Mitglieder zählen, die Medizinethik betreiben, ohne selber zugleich
Arzt zu sein, und nicht nur die medizinethisch philosophierenden
Ärzte, die schon qua Ärzte Professionsmitglieder sind. 30 Programmatische Selbstbeschreibungen unter (www.gwdg.de/~ukee), (www.uni-tuebingen.de/zew), (www.europaeische-akademie-aw.de), (http://ibm.rhrz.uni-bonn.de/iwe/iweframe.htm).
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Staaten Institute wie das »Hastings Center« und das »Kennedy Institute of Ethics«31 würde ich also idealtypisch, d. h. ungeachtet
aller realen Größen- und sonstigen Unterschiede, in eine Reihe mit
zivilgesellschaftlichen NROs stellen, die im Bewußtsein euro-amerikanischer Öffentlichkeiten als besonders verdienstvoll (oder besonders skandalös) wahrgenommen werden, z. B. »Amnesty International«, »Greenpeace«, »Care«, »Oxfam«, »Ärzte gegen den
Atomtod«, »Germanwatch« usw.32 Freiwillige Zusammenschlüsse zu vergleichsweise »unvermachteten« Teilöffentlichkeiten, die zur Wahrung ihrer begrenzten öf-
fentlichen Autonomie auf Distanz zum Regierungssystem wie zum ökonomischen System bleiben wollen - das kennzeichnet NROs als zivilgesellschaftliche Aktivitäten. Die Sorge um die Wahrung ihrer politischen Unabhängigkeit in Abgrenzung gegen den Einfluß von Wirtschaft und Staat, auf deren (nicht nur finanzielle) Unterstützung sie gleichwohl angewiesen bleiben, läßt viele NROs umgekehrt eine bisweilen symbiotische Nähe zu den Massenmedien suchen. Da viele NROs gewissermaßen durch Abstim-
mung mit dem Spendenzettel auf die Zustimmung einer hinreichend breiten Öffentlichkeit angewiesen sind, jedoch das, was die hinreichend breite Öffentlichkeit über die Aktivitäten der NROs
31 Siehe (www.georgetown.edu/research/kie). 32 Zum Vergleich: Das einschlägige mission statement eines der bekanntesten Institute für angewandte Ethik lautet: »The Hastings Center is an
independent nonpartisan, interdisciplinary research institute that addresses fundamental ethics issues in the areas of health, medicine, and the environment as they affect individuals, communities and societies« (http://hastingscenter.org). Die Selbstbeschreibung einer der bekanntesten NROs lautet: »Amnesty International is a worldwide campaigning movement that works to promote all the human rights enshrined in the Universal Declaration of Human Rights and other international standards. (...) Amnesty International has around a million members and supporters in 162 countries and territories. Activities range from public demonstrations to letter-writing, from human rights education to fundraising concerts, from individual appeals on a particular case to global campaigns on a particular issue. Amnesty International is impartial and independent of any government, political persuasion or religious creed. Amnesty International is financed largely by subscriptions and donations from its worldwide membership« (www.amnesty.org).
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erfährt, massenmedial vermittelt ist, hängen solche NROs stark von den Beachtungsreaktionen der Medien ab. 33 Die Analogisierung, die ich gerade vorgenommen habe, dient dem Zweck, die Wahrnehmung für den hervorspringenden demokratietheoretischen Vergleichsaspekt zu schärfen: Was ihre Legitima-
tionstrage angeht, haben alle genannten NROs ein Entscheidendes
gemeinsam, nämlich die Tatsache, daß sie der Wahrnehmung vieler
politisch relevanter Öffentlichkeiten ausgesetzt sind, um deren Gunst sie konkurrieren und deren kollektive Meinungs- und Willensbildung sie ebenso anregen wie sie ihr ihrerseits standhalten müssen. Solche NROs - auch die, deren medienverstärkte Sichtbarkeit sie unter besonderen Umständen sehr einflußstark macht, 3*
unterliegen dadurch einer kontextuellen demokratischen Legiti-
mation, egal wie demokratisch oder undemokratisch ihre Entscheidungs- und Mitgliederstrukturen intern auch verfaßt sein mögen. In Deutschland z. B. wäre ein gemeinnütziger Verein - und jeder gemeinnützige Verein könnte im Prinzip zumindest versuchen, als
NRO aufzutreten - schon durch das Vereinsrecht zumindest auf ein Minimum von demokratischen Mitbestimmungsmöglichkeiten seiner Mitglieder festgelegt. Die in einem Land organisierte
Aktivität angewandter Ethik ist, wie andere NROs eines Landes,
ein Abbild der politischen Kultur dieses Landes, die globalen Netzwerke angewandter Ethik gleichen insofern politisch-kultu-
rellen Flickenteppichen. Da die Aktivitäten von NROs nicht weiter aus rechtlichen Rahmenbedingungen ausscheren können, als dies
z.B. für Fälle zivilen Ungehorsams gemeinhin anerkannt und gebilligt wird, konnen thre Aktivitäten nicht, oder zumindest auf Dauer nicht, undemokratischer sein, als die demokratische Qualität des Gesetzgebungsprozesses selber dies zuläßt.
33 Dieses Vermittlungsverhältnis ist an sich schon interessant. Inwiefern es besonders auch für Moraldiskurse interessant ist, kann ich hier nicht weiter ausführen. 34 Man denke an die Greenpeace-Shell-Episode von 1996.
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5. Angewandte Ethik im normativen Rahmen von Menschenrechten Mit der These Tr habe ich einen notwendigen Zusammenhang zwischen medial konstituierten Öffentlichkeitsformen und dem moralischen Denken angewandter Ethik behauptet. Der Akzent liegt hier auf dem, was es braucht, damit angewandte Ethik erfolgreich ist, und zu ihren Anwendungsbedingungen gehört notwen-
digerwese ihre ottentliche Akzeptanz (sowie einige weitere Etfekte von Offentlichkeit). Mit der These T2 habe ich behauptet, daß angewandte Ethik eine sehr moderne Aktivität der Zivilgesellschaft ist und daß deshalb ihre Akteure zu den Perspektiven, unter denen sie mit Kritik oder Rechtfertigung von erhobenen Geltungsansprüchen rechnen, auch die Perspektive demokratischer Gültigkeit zählen müssen. Hierbei liegt der Akzent auf der Rechtfertig-
barkeit. Mit einer dritten These möchte ich nun zwar keinen
notwendigen, aber doch einen naheliegenden und wichtigen Zusammenhang behaupten, zwischen Idealisierungen35 - die auch im Selbstverständnis der Aktivität angewandter Ethik nicht vermieden werden können, sondern vielmehr unerläßlich sind, soweit ein
Unternehmen angewandter Ethik normativ gemeint ist - und
moralisch normativen Texturen mit globaler Allgemeinverbind-
lichkeit. »Global allgemeinverbindlich« ist eine Verbindlichkeit, wenn es eine Tatsache ist, daß von allen Akteuren, die dem inhaltlichen Sinn der Verbindlichkeit nach diese ernstzunehmen hätten,
in der Tat viele Akteure sie ernst nehmen und es keinen ver-
nünftigen Grund gibt, aus dem sie wollen könnten, daß sie nicht
von allen sinngemäß gemeinten Akteuren ernst genommen werde. Globale Allgemeinverbindlichkeit ist also nicht auf moralisch normative Gehalte eingeschränkt. Auch eine akzeptierte Weltverfassung, wenn es sie gäbe, wäre global allgemeinverbindlich, hätte
aber einen politischen, nicht einen allein moralischen Geltungssinn.
In Abschnitt 2 (Punkt 1) habe ich das moralische Denken angewandter Ethik als regulativ normativ universalistisch charakteri-
siert. Dieses Charakteristikum gründet darin, daß angewandte 35 Genauer: Idealisierende Annahmen über Aktor- und Adressateninstanzen von interpretierter moralischer Verantwortung. 36 Bei Akteuren, die natürliche Personen sind: sich mit ihr identifizieren.
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Ethik ihre Aktivitäten unter verschiedenen Geltungsansprüchen kritisierbar und rechtfertigbar halten muß, infolge ihrer eigenen Globalisierung dies aber gewiß nicht kann, wenn sie sie zu lokal oder zu idealistisch ansetzt. Auflösbar ist dieses Dilemma, wenn im normativen Rahmen angewandter Ethik auf zumindest einige normative Texturen zurückgegriffen werden kann, die global allgemeinverbindlich sind. Die traditionelle Ethik, wo sie auf normative Universalien abstellt, neigt dazu, nur normative Universalien exklusiv moralischer Art zu suchen. Da sich solche Universalien nur schwer finden lassen, verlegt sich die Suche auf immer abstraktere normative Universalien exklusiv moralischer Art keine Moralregeln; auch keine (»höheren«) Moralnormen; dann auch keine (»dahinter liegenden«) Moralprinzipien mehr.38 Zuletzt bleibt als der heiligen Gral des Abstraktions-Universalismus nur noch »die Perspektive der Moral« (»the moral point of view«), ein metaethischer Ausdruck, den Kurt Baier populär gemacht hat. Man kann die Debatte darüber, wie sinnvoll die Annahme einer
singulären ausgezeichneten Moralperspektive ist, lange fortsetzen. Man kann aber auch den Versuch aufgeben, nur nach normativen Universalien exklusiv moralischer Art zu fahnden. Dann wird der
Blick frei für die Möglichkeit normativer Universalien von polymorpher normativer Art - für Universalien, die z. B. einen moralischen Geltungssinn und (mindestens einen) Geltungssinn anderer,
nicht moralischen Art vereinen. Die erklärten Menschenrechte sind global allgemeinverbindlich. Und sie sind polynormative Universalien: die meisten Elemente ihrer normativen Textur haben einen moralischen und juridischen
Doppelwert. Und zumindest ihr moralischer normativer Anspruch (wenn nicht auch ihr positiv rechtlicher normativer Anspruch) verbindet seinem Eigensinn nach alle Menschen.39 37 Siehe aber B. Gert (1998), Morality, Its Nature and Justification, Oxford: University Press. 38 Eine in der Bioethik übliche, aber ersichtlich unbefriedigende Rückfallposition ist die Annahme von »Prinzipien mittlerer Reichweite«;
auf die Kritik an dieser Art »Prinzipalismus« kann ich hier nicht
eingehen: es handelt sich um Debatten im engeren Sinn von Methodologie, die ich eingangs ausgeklammert habe. 39 Diese Behauptung ist natürlich stark begründungsbedürftig. Sie wird verteidigt in M. Kettner (1999), »Menschenwürde und Interkulturalität. Ein Beitrag zur diskursiven Konzeption der Menschenrechte«, in:
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Die letzte meiner Thesen, mit denen ich die Frage zu beantworten versucht habe, welchen normativen Rahmen die angewandte Ethik benötigt, möchte ich daher folgendermaßen formulieren: (T3:) Um ein Dilemma zwischen dem Rekurs auf kommunitaristische oder idealistisch-universalistische normative Quellen zu vermeiden, empfiehlt es sich für Akteure der angewandten Ethik, die Kritisierbarkeit und Rechtfertigbarkeit ihrer Aktivitäten soweit wie möglich von dem polynormativen Rahmen der erklärten Menschenrechte (sowie weiterer einschlägiger Deklarationen mit juridisch-moralisch doppelwertigen Inhalten und globaler Allgemeinverbindlichkeit) her aufzubauen. Gegen T3 liegt der Einwand nahe, daß für viele Problemstellungen
angewandter Ethik solche normative Texturen wie die erklärten
Menschenrechte keine oder nur zu wenig Relevanz haben. Dieser Einwand verdient Beachtung. Er zehrt aber m. E. von einem falschen Eindruck. Weil in den etablierten Diskursen der angewand-
ten Ethik von Menschenrechten wenig die Rede ist, kann der
Eindruck entstehen, diese hätten für die einschlägigen FragestelJungen keine Bedeutung. Doch bei genauerer Betrachtung mangelt es nicht an Belegen, die für I3 sprechen. 4º Mit I3 muß ich auch nicht behaupten, daß alle Aktivitäten angewandter Ethik hinreichend konkret an normative Texturen wie die der Menschenrechte anzudocken sind. Vielleicht sind sie das nicht. Aber was sind die Alternativen?
T. Göller und G. Paul (Hg.), Interkultureller Menschenrechtsdialog, Würzburg: Königshausen + Neumann. 40 Siche z. B. European Scientific Co-Operation Network (Hg.) (1998), The human rights, ethical and moral dimension of bealth care, Straßburg: Council of Europe Publishing; F. Furkel und H. Jung (1993) (Hg.), Bioethik und Menschenrechte, Köln: Carl Heymanns Verlag.
Siehe auch die Universal Declaration on the Human Genome and Human Rights des UNESCO Bioethik-Komitees (www.unesco.org/ ibc/uk/genome/index.html).
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Hinweise zu den Autorinnen und Autoren Karl-Otto Apel (*1922); Lehrtätigkeit in Mainz (1961 dort Habilitation), Kiel, Saarbrücken, seit 1973 bis zur Emeritierung 1990 an der j. W. Goethe-Universität in Frankfurt. Forschungsschwerpunkte: Sprachphilosophie, Transzendentalpragmatik, Rationalitätstheorie, Begründungs- und Anwendungsfragen praktischer Philosophie, speziell der Diskursethik. Wichtigste Buchveröffentlichungen: Die Idee der Sprache in der Tradi-
tion des Humanismus von Dante bis Vico (1963); Transformation der Philosophie, Bd. I: Sprachanalytik, Semiotik, Hermeneutik; Bd. II: Das
Apriori der Kommunikationsgemeinschaft (1973); Der Denkweg des Charles Sanders Peirce - Eine Einführung in den amerikanischen Prag-
matismus (1975); Sprachpragmatik und Philosophie (Hg., 1976); Die »Erklären : Verstehen«-Kontroverse in transzendentalpragmatischer Sicht (I979); Funkkolleg Praktische Philosophie/Ethik: Studientexte, Bd. I-il (Mithg., 1984); Diskurs und Verantwortung. Das Problem des Übergangs zur postkonventionellen Moral (1988); Zur Anwendung der Diskursethik in Politik, Recht und Wissenschaft (Mithg., 1992); Mythos Wertfreiheit? (Mithg., 1994); Auseinandersetzungen. Die Position der Transzendentalpragmatik in der Diskussion (1998). Norbert Campagna (*1963). Studium der Philosophie und Anglistik in
Heidelberg und Cambridge. Promotion in Trier. Bereitet derzeit eine Habilitation an der Sorbonne vor. Forschungsschwerpunkte: Politische Philosophie und Angewandte Ethik. Wichtigste Buchveröffentlichungen »Démocratie, religion et vertu«, Luxembourg 1997; »La pornographie, le droit et l'éthique«, Paris/Montréal 1997; »Hobbes«, Paris 1999. Zahlreiche Aufsätze in Sammelbänden und Fachzeitschriften. Seit 1990 Gemeinderatsmitglied. Mitglied des Institut Grand-Ducal des sciences morales et politiques. Marcus Düwell (* 1962) hat in Tübingen und München Philosophie, Germanistik und katholische Theologie studiert. Seit 1990 ist er wissenschaftlicher Mitarbeiter am Zentrum für Ethik in den Wissenschaften der Universität Tübingen, seit 1993 dessen wissenschaftlicher Koordinator. 1998 Promotion im Fach Philosophie zum Thema »Asthetische Erfahrung und Moral«. Arbeitsschwerpunkte: Ethik, angewandte Ethik, Ästhetik, politische Philosophie.
Bruce Jennings ist Politologe und Vizepräsident des Hastings Center (Garrison, New York), eines der traditionsreichsten bioethischen For-
schungsinstitute der Vereinigten Staaten. Außerdem ist er Dozent an der
School of Public Health der Yale Universität. Er ist Autor bzw. Herausgeber von 13 Büchern und zahlreichen Fachartikeln zu sozialen, ethischen und politischen Fragen. Zuletzt sind erschienen Ethics in
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Hospice Care (1997); The Perversion of Autonomy (hg. mit Willard Gaylin 1996); Coercive Contraception: Moral and Policy Choices of Long-Acting Birth control (hg. mit Ellen Moskowitz 1996). Matthias Kettner (*I955) studierte Philosophie und Psychologie in Frankfurt, Heidelberg und Madison/Wisconsin. Gastdozenturen in Norwegen, USA und Argentinien. 1994-1999 Fellow am Kulturwissenschaftlichen Institut (KWI) des Wissenschaftszentrums Nordrhein-Westfalen, dort in der Forschungsgruppe »Demokratie, Öffentlichkeit, Medien«, dann »Politische Theorie der Massenkultur«, Deutscher Idealismus,
Rationalitätstheorie, Diskursethik und Medientheorie sind seine philosophischen, Methodenprobleme der Psychoanalyse und der kognitiven Verhaltenstherapie seine psychologischen Arbeitsschwerpunkte. Veröffentlichungen: Hegels »sinnliche Gewißheit«. Diskursanalytischer Kommentar (1990); Zur Anwendung der Diskursethik in Recht, Politik und Wissenschaft (hg. mit K.-O. Apel 1992); Transzendentalpragmatik. Ein Symposion für K.-O. Apel (Mithg., 1993); Mythos Wertfreiheit? Neue Beiträge zur Objektivität in den Sozial- und Humanwissenschaften (hg. mit K.-O. Apel 1994); Die eine Vernunft und die vielen Rationalitäten (hg. mit K.-O. Apel 1996); Beratung als Zwang, Schwangerschaftsabbruch, genetische Aufklärung und die Grenzen kommunikativer Vernunft (hg. 1998); Globalisierung und Demokratie (hg. mit H. Brunkhorst 2000). Lene Koch (* 1947) ist Medizinhistorikerin am Institut für Gesundheitspolitik (Institute of Public Health) der Kopenhagener Universität. Sie hat über In-vitro-Fertilisation und Pränatale Diagnostik gearbeitet und forscht seit längerem über die Geschichte der Eugenikbewegung sowie über Neo-Eugenik in der Humangenetik. Sie ist parlamentarisches Mitglied im Nationalen Dänischen Ethikrat. Will Kymlicka promovierte 1987 in Oxford in Philosophie und ist Professor im Fachbereich Philosophie der Queens University und Direktor des Queens forum on P'hilosophy and Public Policy. Mehrere Bücher über aktuelle politisch-philosophische Themen: Liberalism, Community and Culture (1989); Contemporary Political Philosophy (1990, deutsch 1996: Politische Philosophie heute); Multicultural Citizenship (1995); Finding Our Way: Rethinking Ethnocultural Relations in Canada (1998). Er ist Herausgeber von Justice in Political Philosophy (1992), The Rights of Minority Cultures (1995), Ethnicity and Group Rights (1997). Kymlicka
hat in der Canadian Royal Commission on New Reproductive Technologies mitgearbeitet und wurde dann Forschungsleiter am Canadian Centre for Philosophy and Public Policy an der Universität von Ottawa.
Gegenwärtig baut er ein Forschungsnetzwerk zu Fragen von Bürgerrechten und Demokratie in multiethnischen Staaten auf. Christopher Megone studierte Philosophie und klassische Literatur an der
Universität von Oxford und ist heute Dozent für Philosophie an der
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Universität von Leeds. Er ist Mitglied des dortigen Universitätsinstituts
für Wirtschafts- und Professionsethik und forscht über Fragen der praktischen Vernunft und der angewandten Ethik. 1996 nahm er eine Forschungsprofessor an der Rhodes University in Südafrika wahr. Gegenwärtig leitet er zwei von der EU unterstützte europaweite verglei-
chende Untersuchungen über die Regelung der Patientenzustimmung in der medizinischen Forschung an Neugeborenen sowie über Forschungsethik-Komitees.
Thomas H. Murray (* 1946) war bis 1998 Direktor des Center for Bio-
medical Ethies an der Case Western Reserve University School of Medicine in Cleveland Ohio und ist nun Direktor des Hastings Center (Garrison, New York). Er gehört zu den Gründungsmitgliedern der Ethical, Legal and Social Issues Working Group for the US Human Genome Project. Überdies ist er Mitglied der National Bioethics Advi-
sory Commission; in dieser Regierungskommission ist er Vorsitzender des Ausschusses für Genetik. Zuletzt erschien von ihm The Worth of a
Child (1996). Klaus Peter Rippe (* 1959) studierte Philosophie, Geschichte und Ethnologie in Göttingen. Nach Stationen als wissenschaftlicher Mitarbeiter in Saarbrücken und Mainz ist er seit 1993 an der Universität Zürich tätig, derzeit als Oberassistent am dortigen Ethik-Zentrum. In einem Forschungsprojekt über »Angewandte Ethik in der pluralistischen Gesellschaft« beschäftigte er sich insbesondere mit dem Thema Ethikkommissionen. Neben Aufsätzen zur angewandten Ethik und politischen Philo-
sophie veröffentlichte er Ethischer Relatzvismus. Seine Grenzen, seine Geltung (Paderborn 1993); Menschenwürde vs. Würde der Kreatur? Begriffsbestimmung, Gentechnik, Ethikkommissionen (Freiburg 1998, hg. mit Philipp Balzer und Peter Schaber); Tugendethik (Stuttgart 1998, hg. mit Peter Schaber); (Hg.) Angewandte Ethik in der pluralistischen Gesellschaft (Fribourg 1999). Hans Schelkshorn (* 1960); studierte Theologie und Philosophie in Wien und Tübingen; 1989 Dr. theol, 1994 Dr. phil; seit 1990 Assistent am Institut für Christliche Philosophie in Wien. Seine Arbeitsschwerpunkte sind praktische Philosophie, Diskursethik, lateinamerikanische Philosophie, philosophischer Nord-Süd-Dialog. Er ist Mitherausgeber von polylog-Zeitschrift für interkulturelles Philosophieren (seit 1998) und hat u. a. veröffentlicht: Ethik der Befreiung. Einführung in die Philosophie Enrique Dussels (1992); Diskurs und Befreiung. Studien zur philosophischen Ethik von K.-O. Apel und E. Dussel (1997); »Geschichte aus der Sicht der Marginalisierten. Zur geschichtsphilosophischen Heraustorderung der lateinamerikanischen Philosophie der Befreiung«, in: HegelJahrbuch 1996; »Zwischen Postmoderne und Neoliberalismus. Vorüberlegungen zu einer Kritischen Theorie der globalen sozialen Frage«, in: Dialektik 2 (1997).
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Ulrich Thielemann (* 1961), Dr. oec., Studium der Wirtschaftswissenschaften an der Bergischen Universität-GHS Wuppertal, dann wissenschaftlicher Assistent an der Universität St. Gallen. Thielemann ist Autor des Buchs Das Prinzip Markt. Kritik der ökonomischen Tauschlogik (Bern 1996). Jochen Vollmann (* 1963), Dr. med., Dr. phil., Facharzt für Psychiatrie und
Psychotherapie, ist Professor an der FU Berlin am Institut für Geschichte der Medizin. Studium der Medizin und Philosophie in Gießen, Liverpool, Chicago, Zürich, 1990 Approbation als Arzt, seit 1996 Professor für Sozialmedizin, Sozialpsychiatrie und Medizinethik an der Evangelischen Fachhochschule Berlin. Seit 1997 Vorsitzender der Ethik-
kommission des Berliner Zentrums für Public Health der drei Berliner
Universitäten. Mehr als 80 Veröffentlichungen im Bereich klinische
Publikationen, Psychotherapie und Medizinethik. Josef Wieland (*I951), Studium der Ökonomie und Philosophie an der Universität-GHS Wuppertal. Abschluß zum Diplom-Ökonomen 1985, Promotion zum Dr. rer. oec. 1988. Habilitation im Fach Volkswirtschaftslehre 1995 an der Privatuniversität Witten/Herdecke; seitdem Professor für Allgemeine Betriebswirtschaftslehre mit Schwerpunkt Wirtschafts- und Unternehmensethik an der Fachhochschule Konstanz. Privatdozent für Volkswirtschaftslehre an der Universität Witten/Herdecke. Arbeitsschwerpunkte: Neue Institutionen- und Organisationsökonomik, Empirische Gerechtigkeitsforschung, Ökonomische Theo-
riegeschichte. Henrik Zable (* 1943) ist Jurist. Seit 1979 ist er Professor für Verfassungs-
recht und seit 1986 Professor für Rechtstheorie an der Kopenhagener Universität.
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