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German Pages [327] Year 2016
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Nikolaus Knoepffler Peter Kunzmann Ingo Pies Anne Siegetsleitner (Hg.) Einführung in die Angewandte Ethik
ANGEWANDTE ETHlK
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Über dieses Buch: Diese Einführung gibt einen Gesamtüberblick zu den wichtigsten Grundlagen und Disziplinen Angewandter Ethik. In den Grundlagen werden das Verhältnis von Politik und Ethik sowie Recht und Ethik bestimmt und damit verbundene ethische Fragestellungen thematisiert. In den Disziplinen Angewandter Ethik geben die Autoren einen Überblick zu den wesentlichen Fragestellungen des jeweiligen Bereichs und zeigen an exemplarischen Fällen auf, inwieweit die Angewandte Ethik zu Lösungen oder Bewertungen verhelfen kann. Die Herausgeber: Nikolaus Knoepffler, geb. 1962, Lehrstuhlinhaber für Angewandte Ethik an der FSU Jena und Leiter des dortigen Ethikzentrums. Peter Kunzmann, geb. 1966, außerplanmäßiger Professor für Philosophie an der Universität Würzburg und wissenschaftlicher Mitarbeiter im Ethikzentrum der FSU Jena. Ingo Pies, geb. 1964, Inhaber des Stiftungslehrstuhls für Wirtschaftsethik an der Martin-Luther-Universität in Halle-Wittenberg und Leiter des Wittenberg-Zentrums für Globale Ethik. Anne Siegetsleitner, geb. 1968, wissenschaftliche Mitarbeiterin und Dozentin am Lehrstuhl für Angewandte Ethik an der FSU Jena.
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Nikolaus Knoepffler Peter Kunzmann Ingo Pies Anne Siegetsleitner (Hg.)
Einführung in die Angewandte Ethik
Verlag Karl Alber Freiburg I München
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ANGEWANDTE ETHIK Herausgegeben von Nikolaus Knoepffler, Peter Kunzmann, Ingo Pies und Anne Siegetsleitner Wissenschaftlicher Beirat: Reiner Anselm, Carlos Maria Romeo Casabona, Jürgen Simon, LeRoy Walters Band 1
Originalausgabe Gedruckt auf alterungsbeständigem Papier (säurefrei) Printedon acid-free paper Alle Rechte vorbehalten- Printed in Germany © Verlag Karl Alber GmbH Freiburg I München 2006 www.verlag-alber.de Druckvorlage: Robert Ranisch, Jena Einbandgestaltung: SatzWeise, Föhren Druck und Bindung: AZ Druck und Datentechnik, Kempten www.az-druck.de ISB~-13:978-3-495-48142-4 ISB~-10:3-495 - 48142 - 7
E-ISBN-978-3-495-86081-6
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Vorwort
In öffentlichen Debatten wurde und wird um Maßnahmen gerungen, wie
wir unsere Umwelt nachhaltiger und unsere Mitwelt gerechter gestalten können. Verbände ganz unterschiedlicher Herkunft äußern sich zu Themen wie Stammzellforschung, Präimplantationsdiagnostik, Abtreibung und aktiver Sterbehilfe. Abfmdungen von Managern finden ein gewaltiges Medienecho. Begriffe wie Rußpartikelfilter gehören mittlerweile zum allgemein bekannten Wortschatz. Wir eröffnen mit diesem Buch die Reihe "Angewandte Ethik", in der sowohl (einführende) Lehrbücher zur Augewandten Ethik bzw. zu Bereichen der Augewandten Ethik als auch Spezialuntersuchungen zu ihren Grundlagen und zu bestimmten Themenfeldern veröffentlicht werden.
Der Band "Einführung in die Angewandte Ethik" kann als Lehrbuch für Studierende dienen, aber ebenso interessierte Laien mit den Grundlagen und wichtigsten Disziplinen der Augewandten Ethik vertraut machen. Er gibt zugleich einen Überblick über das Lehrprogramm, wie es im bundesweit ersten Magisterstudiengang für Angewandte Ethik an der Friedrich-Schiller-Universität Jena durchgeführt wird. Es lag von daher nahe, als Autoren zumeist diejenigen Fachvertreter der Grundlagenfächer und Disziplinen zu gewinnen, die hier in Jena das jeweilige Fach unterrichten. Herr Trabert vom Alber Verlag hat die Anregung zu diesem Band gegeben und die sorgfältige Betreuung durch den Verlag ermöglicht. Frau Scherf hat die oft mühsamen und zeitraubenden Korrekturarbeiten übernommen. Frau Schmidt hat hierbei tatkräftige Unterstützung geleistet. Herr Ranisch hat sich der Layoutgestaltung angenommen und das Buch druckfertig gemacht. Ihnen allen sei herzlich gedankt.
Jena, im November 2005 Die Herausgeber
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Inhaltsverzeichnis Vorwort .................................................................................................... .5
Nikolaus Knoepjjler Projekt: Allgewandte Ethik: ........................................................................ 9
Grundlagen
Klaus Dicke I Florian Weber Politische Ethik ........................................................................................21 Ralf Gröschner I Oliver Lembke Ethik und Recht Grundlegung einer republikanischen Verfassungsstaatslehre ............... .47
Disziplinen
Nikolaus Knoepjjler Umwelt- und Tierethik (Bioethik D ........................................................75 Heiko Ulrich Zude Medizinethik (Bioethik II) .................................................................... 105
Stefan Lorenz Sorgner Grundlagen der Medienethik (Medienethik I) ....................................... 13 5 Martin Leiner Medienethik in der Gegenwart (Medienethik II) ................................... 15 5 Anne Siegetsleitner Feministische Ethik................................................................................ 195 Reyk Albrecht Sportethik .............................................................................................. .223
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Einführung in die Angewandte Ethik
Peter Kunzmann TechnikethikoooooooooooooooooooooooOOooooooooOOOOOOOoOOOOOOOOoOOOOOO oOOOoooooooooooooooooooooooooooooo 249
Ingo Pies I Martin Sardison Wirtschaftsethik
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Walter Schweidler Wissenschaftsethik ooooooooooooooooooooo ooooooooooooooooooooooooooooooooooooooooooooooooooo oooooo oo299
Systematische Bibliographie
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Autorenverzeichnis OOOOOOOOOOOOOOOOOOOOOOOOOOOOOOOOOO OOOOOOOOOOOOOO ooOOoooOoooooooooooOoooooo oooo 325
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Projekt Angewandte Ethik Nikolaus Knoepffler
Die Allgewandte Ethik als Titel fiir eine universitäre Disziplin ist neuesten Datums. So ist in Deutschland beispielsweise erstmals im Jahr 2002 an der Universität Jena ein Lehrstuhl fiir Allgewandte Ethik eingerichtet worden. Ebenfalls als eine ganz neue Entwicklung gibt es an mehreren deutschsprachigen Universitäten das Studienfach "Angewandte Ethik". Wichtige Lexika und Sammelbände zur Allgewandten Ethik sind erst im letzten Jahrzehnt verfasst worden. Dabei ist bereits umstritten, was "Angewandte Ethik" eigentlich sei. Das gilt sowohl fiir die Frage, was unter "Ethik" zu verstehen ist, als auch, was "angewandt" bedeutet. "Ethik" (griechisch: ethos = Sitte, Gewohnheit) kann synonym mit dem Begriff der "gängigen moralischen Überzeugungen" (lateinisch: mos = Sitte, Gewohnheit) verwendet werden. Dieser Sprachgebrauch fmdet sich in den Feuilletons vieler Zeitungen. "Moralisch" und sein Synonym "ethisch" bezeichnen dann das "sittlich Gute". Die Gegenbegriffe sind "unmoralisch" bzw. "unethisch".ln diesem Sprachgebrauch ist das Unmoralische bzw. Unethische das sittlich Schlechte. "Ethik" und "Moral" können auch je spezifisch definiert werden. Je nach Sprachspiel können die Begriffe dann unterschiedlichste Bedeutungen annehmen, die nur aus den jeweiligen Texten selbst zu erschließen sind. Der Soziologie nahe stehende Philosophen wie Habermas ordnen dem Ethischen Fragen der individuellen Lebensführung und des guten Lebens sowie damit verbundene Werte zu, dem Moralischen dagegen das Rechte mitsamt der Dimension der Gerechtigkeit und damit verbunden die Normen des sozialen Zusammenlebens: ,,Ethisch-politische Fragen stellen sich aus der Perspektive von Angehörigen, die sich in lebenswichtigen Fragen darüber klar werden wollen, welche Lebensform sie teilen, aufwelche Ideale hin sie ihr gemeinsames Leben entwerfen sollen. . .. Bei moralischen Fragen tritt der
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teleologische Gesichtspunkt, ... ganz hinter dem normativen Gesichtspunkt zurück, unter dem wir prüfen, wie sich unser Zusammenleben im gleichmäßigen Interesse aller regeln lässt" (Habermas 1992, 198-200).1
In der gegenwärtigen akademischen philosophischen und theologischen Ethikdiskussion hat sich im Unterschied hierzu weitgehend durchgesetzt, "Moral" als Bereich des menschlichen Lebens zu verstehen, der "die Gesamtheit der moralischen Urteile, Normen, Ideale, Tugenden, Institutionen" (Ricken 2003, 17) umfasst. "Moral" ist damit ein Ordnungsbegriff. Der Gegenbegriff zu "moralisch" ist darum in dieser Begriffsbestimmung nicht "urunoralisch", sondern "außermoralisch". "Ethik" auf der anderen Seite ist bezeichnet eine Fachdisziplin, die, je nachdem, ob es sich um philosophische oder theologische Ethik handelt, auch synonym "Moralphilosophie" bzw. "Moraltheologie" genannt werden kann. 2 Ihr Gegenstandshereich umfasst die Metaethik, die Allgemeine Ethik und auch die Allgewandte Ethik. Die Metaethik untersucht die Moralsprache, z. B. die Bedeutung des Begriffs "gut", und reflektiert auf die Methoden, mit denen inhaltliche moralische Aussagen begründet werden. Insbesondere in der Tradition sprachanalytischer Ethik wird Ethik von nicht wenigen Autoren auf Metaethik reduziert. Ethik als Fachdisziplin hat sich dann auf die Reflexion ethischer Begriffe, Kriterien, Normen oder Handlungsprinzipien, um diese in ihrer Bedeutung zu klären, zu beschränken. Sie begründet keine Normen und Werte, ist also strikt nicht-normativ. 3 Davon zu unterscheiden ist eine Ethik, die deskriptiv hermeneutisch arbeitet. Zwar erhebt auch sie keinen Anspruch darauf, Normen zu entwickeln oder die Moralität von Geltungsansprüchen zu bewerten. Aber im Unterschied zur Sprachanalyse geht es darum, "das im alltäglichen Selbstverständnis von Menschen enthaltene Normen- und Wertesystem im Zusammenhang mit typischen Situationen, Verhaltensweisen und Redewendungen unter verschiedensten Gesichtspunkten" (Pieper 2003, 250) zu beschreiben (lateinisch: describere = beschreiben) und auszulegen (griechisch: hermeneuein = auslegen). Im Unterschied zu diesem Verständnis von Ethik bemüht sich eine Ethik, die nicht rein sprachanalytisch oder deskriptiv-hermeneutisch arbeitet, darum, gerade derartige Begriffe, Kriterien, Werte, Normen und Hand-
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Einen Versuch, kontingenteWerte und die Universalität von Normen zusarnrnenzudenken, hat Joas (1999) vorgelegt. So gibt es im renommierten "The Oxford Companion to Philosophy" keinen eigenen Eintrag zu "ethics", sondern hier wird sofort auf "moral philosophy" verwiesen. Ein klassisch zu nennender Beitrag ist Ayers (1954) "On the Analysis ofMoral Judge-
ments".
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Projekt: Angewandte Ethik
lungsprinzipien zu entdecken bzw. zu entwickeln. Ob es sich um Entdeckungen oder Entwicklungen handelt, entscheidet sich vor dem Hintergrund der zu Grunde liegenden Theorie. Diese Ethik hat also ein normatives Anliegen. Die klassischen, wohl am meisten diskutierten Ansätze in dieser Richtung, die in kaum einer Einfiihrung in die Ethik fehlen, sind die antiken Konzeptionen von Platon und Aristoteles, ihre christliche Weiterfiihrung (meist exemplifiziert an der Ethik eines Thomas von Aquin), Vertragstheorien, der Ansatz von Immanuel Kant und utilitaristische Konzeptionen als Untergruppe konsequenzialistischer Ansätze. Darüber hinaus sind in der deutschen Diskussion insbesondere die Ansätze von Habermas und Rawls von großer Bedeutung. 4 Die antiken Konzeptionen Platons und Aristoteles gehen ebenso wie ihre christliche Weiterfiihrung bei Thomas davon aus, dass eine objektive transzendente Wirklichkeit, die Idee des Guten schlechthin (Platon), Gott philosophisch gedacht (Aristoteles) bzw. Gott als die sich in Geschichte offenbarende Liebe (Thomas) das Gute und damit die Richtigkeit der Normen und der ihnen korrespondierenden Handlungen verbürgt. 5 Die Aufgabe des Menschen besteht darin, sich von dieser Wirklichkeit ergreifen zu lassen, um, ergriffen von dieser Wirklichkeit und strebend nach dieser, das Gute zu tun und das Böse zu unterlassen. Darin findet die menschliche Natur ihre Erfiillung. Deshalb können diese Ansätze auch als Naturrechtslehren verstanden werden, wobei sie sich in den konkreten Normen teilweise fundamental widersprechen. Man denke hierbei nur an die unterschiedlichen N ormen bezüglich der SexualmoraL Dennoch ist das gemeinsame Band stärker als die Unterschiede in "Detailfragen". So sind bei allen drei Denkern die Tugenden der Klugheit, Gerechtigkeit, Tapferkeit und Mäßigung zentral für ein sittliches Leben. Sie heißen deshalb auch Kardinaltugenden, weil sie als Angelpunkt (lateinisch: cardo =Türangel, Angelpunkt) des moralisch guten Lebens gelten (vgl. Pieper 2004). Theologisch wurzeln diese Tugenden in den Tugenden von Glaube, Hoffnung und Liebe. Neben Unterschieden im Verständnis dessen, was der menschlichen Natur im Handeln entspricht, legt Aristoteles anders als Platon Wert darauf, dass das Glück (eudaimonia) als Ziel des Handeins konkret verstanden wird. Es ist ein durch menschliche 4 5
Es ist klar, dass sich die Ansätze darin nicht erschöJ?.fen. Zu einer vollständigeren Übersicht vgl. man entsprechende Einführungen und Ubersichten, z. B. Andersen (2005) oder Bimbacher (2003). Die ethischen Hauptwerke der betreffenden Autoren sind Platons Werke "Politeia" sowie ,,Nomoi" (Platon 1990 und 1977/1990}, Aristoteles' "Nikomachische Ethik" und ,,Politik" (Aristoteles 1894 und 1957) sowie die "Summa Theo1ogiae" II (2 Teilbände) von Thomas von Aquin (1963).
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Praxis erwirktes Gutes, das am meisten der menschlichen Natur entspricht. Thomas unterscheidet sich sowohl von Platon als auch von Aristoteles insbesondere dadurch, dass er theologisch den Gedanken einbringt, dass alles Handeln von Gottes Wirken im erlösenden Christusereignis umfangen ist (Rechtfertigungsgnade) und das letzte Ziel allen Handeins die niemals endende Gemeinschaft mit dem Gott der Liebe (bildlich ausgedrückt: himmlische Seligkeit) darstellt. Dagegen sind sich alle drei Denker methodisch darin einig, dass in ethischen Fragestellungen nicht dieselbe Präzision erreicht werden kann wie beispielsweise in der Logik. Vielmehr hat die konkrete Situation eine besondere Bedeutung fiir die Bewertung. Im Unterschied zu den Konzeptionen von Platon, Aristoteles und Thomas setzen vertragstheoretische Ansätze keine transzendente Wirklichkeit voraus. Die Religionskriege, bei denen sich die unterschiedlichen Parteien bei ihren Taten auf eine transzendente Wirklichkeit beriefen, fiihrten Hobbes im 17. Jahrhundert dazu, eine Ethik zu entwerfen, die ohne eine transzendente Begründung auskommt und insbesondere die Selbsterhaltung der einzelnen Subjekte sichert. Sein Ausgangspunkt ist hierbei die Überzeugung, dass im Naturzustand jeder Mensch ein Recht auf alles hat (vgl. Hobbes 1996 [ 1651 ], 91 ). Das fuhrt abernotwendigerweise zu einem Krieg aller gegen alle, da die Menschen oft dieselbe Sache begehren. Nur durch eine
wechselseitige Aufgabe von Rechten kann das grundlegende Recht aufLeben gesichert werden. Dies geschieht in einem Vertrag. Damit verbürgt nicht mehr die Idee des Guten, sondern ein Vertrag zwischen den Rechtssubjekten das Wohlergehen der Menschen. Es ist zugleich abzusichern, dass dieser Vertrag eingehalten wird. Bei Hobbes geschieht dies durch die Abtretung der Rechte an den Souverän, der nur die Pflicht hat, das Lebensrecht der ihre sonstigen Rechte Abtretenden zu gewährleisten. Die Begründung, die konkrete Ausgestaltung und die Durchsetzbarkeit eines derartigen Vertrags sind bis heute wesentliche Fragen vertragstheoretischer Ansätze. Dabei besteht eine wesentliche Unterscheidung in der Grundkonzeption moderner Ansätze diesen Typs darin, dass einige in hobhesseher Tradition davon ausgehen, dass der Vertrag aus dem Selbstinteresse am eigenen Leben motiviert ist (vgl. z. B. Gewirth 1998). Dieser Typ wird in der Fachliteratur als "contractarianism" bezeichnet. Andere dagegen begründen den Vertrag auf einem moralischen Ideal von Gerechtigkeit als Fairness. Dieser Typ wird als "contractualism" bezeichnet. Das bekannteste Hauptwerk hierzu ist "Eine Theorie der Gerechtigkeit" von John Rawls (2002 [1971]). 6 6
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Siehe dazu die kurzen Ausführungen.
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Während bei Platon, Aristoteles und Thomas das objektiv Gute im Mittelpunkt steht, bei Hobbes dagegen der Vertrag, bildet bei Immanuel Kant der gute Wille den Ausgangspunkt der Überlegungen. Der gute Wille erweist sich als ein Handeln aus Pflicht, weswegen diese Ethik auch deontologisch (griechisch: to deon = das der Pflicht entsprechende; das, was sich ziemt) genannt wird. Maßstab dieses Handeins aus Pflicht ist der kategorische, d. h. der ohne jede Bedingungen geltende Imperativ: "Handle nur nach derjenigen Maxime, durch die du zugleich wollen kannst, dass sie ein allgemeines Gesetz werde" (Kant 1968 [1785], 421, gesperrt im Original).
Dabei ist das allgemeine Gesetz strukturell als Naturgesetz zu denken. Dieser Imperativ kann nach Kant deshalb auch so lauten: ,,Handle so, als ob die Maxime deiner Handlung durch deinen Willen zum allgemeinen Naturgesetze werden sollte" (ebd., 421, gesperrt im Original).
Dabei ist dieser Imperativ nicht von außen an den Einzelnen herangetragen, sondern entspringt der eigenen praktischen Vernunft, dem eigenen Willen, nicht aber den eigenen Neigungen. Kant spricht deshalb auch von Autonomie (griechisch: Selbstgesetzgebung): Der Wille ist autonom (griechisch: autos =selbst), weil die Regeln gemäß dem kategorischen Imperativ der eigenen Vernunft entspringen. Sie ist autonom (griechisch: nomos = Gesetz), weil diese Regeln in derselben Ausnahmslosigkeit wie Naturgesetze geltend eben Gesetzescharakter haben. Diese Autonomie nennt Kant auch Freiheit: "was kann denn wohl die Freiheit des Willens sonst sein als Autonomie, d. i. die Eigenschaft des Willens, sich selbst ein Gesetz zu sein" (Kant 1968 [1785], 446f). 7 Als Gegenentwurf zu dieser auf dem guten Willen und der selbstgesetzgebenden praktischen Vernunft, damit der Gesinnung und den damit verbundenen Pflichten beruhenden kantischen Ethik setzen utilitaristische Ethiken (lateinisch: utilis =nützlich) bei den Handlungsfolgen an. Utilitaristische Ethiken sind also konsequenzialistisch (lateinisch: consequi = folgen), da die Konsequenzen der Handlungen im Zentrum der Überlegungen 7
Die beste Einflihrung in Kants Ethik bietet seine eigene auch hier zitierte "Grundlegung zur Metaphysik der Sitten".
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stehen. 8 Der Maßstab fiir die gewünschten Handlungsfolgen ist dabei in Benthams klassischem Dilctum die Maximierung des größtmöglichen Glücks der größtmöglichen Zahl (vgl. Bentham 1968ff [1789], 199). John Stuart Mill (1963 [1863]) hat diesen Utilitarismus modifiziert, indem er den Begriff des Glücks und der Lust (pleasure) neu bestimmte. In der grundlegenden Abwägung der zu maximierenden Lust sind einige Formen von Lustempfinden höher zu gewichten als andere. Heutige utilitaristische Ansätze, wie beispielsweise der Präferenzenutilitarismus Peter Singers (1994), fordern die Maximierung der Realisierung von Präferenzen bzw. Interessen, die je nach der Empfindungsfahigkeit der Lebewesen gewichtet werden. In der heutigen Diskussion spielen insbesondere im deutschsprachigen Raum die Ansätze von Habermas und Rawls eine sehr große Rolle. Habermas (z. B. 1983) hat in seiner Diskursethik ein formales Kriterium fiir das Auffmden von Normen erarbeitet: In einem herrschaftsfreien Diskurs sind diejenigen Normen zu akzeptieren, die alle Betroffenen einschließlich der damit verbundenen Folgen akzeptieren können. Rawls' (2002 [1971]) Ansatz ähnelt in gewisser Weise der Diskursethik. Auch Rawls geht es darum, dass alle Betroffenen zustimmen können. Im Unterschied zu Habermas geht es allerdings nicht um einen realen Diskurs. Vielmehr wird die Diskurssituation sozusagen in einen fiktiven Urzustand zurückprojiziert. Dieser Urzustand ist dabei so konstruiert, dass sich aus dem Diskurs Gerechtigkeitsprinzipien ergeben. Insofern Rawls auf diese Weise Prinzipien aufstellt, karm man seinen Ansatz in gewisser Weise auch als eine Form von Prinzipienethik verstehen. Insofern diese Prinzipien zumindest in seinem Hauptwerk "Eine Theorie der Gerechtigkeit" universalistisch verstanden werden, beansprucht seine Ethik universelle Geltung. Darüber hinaus ist der Ansatz auch materialiter gefiillt. Die Betroffenen sollen größtmögliche Freiheit genießen und darüber hinaus auch sonst einen möglichst großen Gewinn aus gesellschaftlichen Arrangements ziehen, wobei freilich 8
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Der Begriff ,,Konsequenzialismus" wird teilweise terminologisch mit "Utilitarismus" synonym gebraucht, teilweise jedoch auch als Oberbegriff, sodass beispielsweise nicht nur der Nutzen, sondern andere Zielgrößen zu erreichen wären. In diesem Sinn ist der Begriff mit "teleologische Ansätze" synonym (griechisch: telos = Ziel) und stellt den Gegenbegriff zu ethischen Ansätzen dar, wonach Handlungen in ihrer Moralität nicht nur nach dem Ziel zu bewerten sind. In diesen Ansätzen können Handlungen, egal welche Folgen sie haben, in sich schlecht sein. Beispielsweise kann konsequenzialistisch die Tötung eines unschuldigen Menschen gerechtfertigt werden (man denke nur an das deutsche Gesetz, das den Abschuss eines von Terroristen entfilhrten Flugzeugs mit Passagieren erlaubt), während im Ralunen anderer ethischer Ansätze eine solche direkte Tötung immer als in sich schlecht gilt. Kants Ansatz ist ein Beispiel filr letztgenannten Ansatz.
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die am schlechtesten Gestellten dabei am meisten profitieren sollen. Im Unterschied zum Utilitarismus geht es also nicht um die Maximierung der Glückssumme, sondern um eine für alle Betroffenen zufrieden stellende Lösung. Die Vielzahl ethischer Konzeptionen ist der eine Teil der Schwierigkeit, den Begriff ,,Angewandte Ethik" zu bestimmen. Denn es ist klar, dass eine utilitaristische Allgewandte Ethik in vielen Einzelfragen andere Handlungsanweisungen geben wird als eine Allgewandte Ethik, die vom Ansatz Kants beeinflusst ist. Doch zusätzlich kommt hinzu, dass auch umstritten ist, was "angewandt" eigentlich bedeutet: Ist von einer Konzeption Allgewandter Ethik auszugehen, wonach ethische Kriterien, Normen und Prinzipien aufbestimmte Kontexte einfach anzuwenden sind? Dies scheint gerade eine utilitaristische Allgewandte Ethik nahe zu legen, in der das Prinzip der Glücks- oder Präferenzmaximierung unter den empirischen Randbedingungen deduktiv zur Anwendung kommt. Beauchamp (2005, 7) nennt derartige Konzeptionen "Top-down-Modelle", da hier idealiter z. B. in der Weise deduziert wird: 1) Jede Handlung der Beschreibung vom Typ A ist verpflichtend. 2) Handlung b ist eine Handlung der Beschreibung vom Typ A. 3) Handlung b ist verpflichtend. Genau gegensätzlich hierzu sind "Bottom-up-Modelle" Allgewandter Ethik, wonach sich Prinzipien und Normen aus den konkreten Umständen eines Falls ergeben (vgl. Beauchamp 2005, 8-10). Dieser methodische Zugang ist nicht mit dem Verständnis Allgewandter Ethik zu verwechseln, den Siep (2004, 23-27) vorschlägt und der durch Rawls' (2002 [1971]) Konzeption eines Überlegungsgleichgewichts (,,reflective equilibrium") beeinflusst ist. Auch wenn die einzelnen Bereiche wie beispielsweise Medizin oder Wirtschaft eigene Kriterien haben, so ist doch davon auszugehen, dass es einen über alle Bereiche hinausgehenden Rahmen geben muss, der freilich "kein unkorrigierbares System von Regeln" darstellt. Dieser Rahmen einer guten Welt muss dann für die verschiedenen Bereiche der Ethik konkretisiert werden. Diese Konkretisierung verfahrt holistisch, denn es gibt keine strikten Grenzen zwischen Metaethik, allgemeiner Ethik und Kriterien richtigen Handeins in konkreten Handlungsbereichen. Diese Kriterien, Normen und Prinzipien werden nach Siep teils in diesen Kontexten entwickelt, teils in ihnen überprüft. ,,Angewandt" und somit konkret wird die Ethik dadurch, dass sie sich konkreten Handlungsfeldern zuwendet und deren eigene Problemlagen aufgreift, dabei aber auch Rücksicht auf derenjeweilige sachliche Zusammen-
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hänge nimmt. Fragen der Medizinethik sind nur auf dem jeweiligen Sachund Wissensstand heilkundlicher Möglichkeiten sinnvoll zu diskutieren. Was sich effektiv über moralische Dilemmata in der Wirtschaft sagen lässt, muss zunächst Maß nehmen an den Zuständen in diesem Teilbereich der Wirklichkeit. Jede Konkretion der Ethik auf einen besonderen Sektor menschlicher Handlungsmöglichkeiten muss sich sozusagen an den "Spielregeln" orientieren, die in ihm gelten. Umgekehrt können sich die "Spielregeln" durch ihre konkrete Anwendung mit der Zeit verändern. Nida-Rümelin (2005, 63ft) schließt sogar nicht aus, dass für verschiedene Anwendungsbereiche menschlicher Praxis unterschiedliche normative Kriterien angemessen sind und auf Grund der Begrenztheit menschlichen Erkennens oder auch aus systematischen Gründen nicht ein einziges System moralischer Handlungsanweisungen, Normen und Prinzipien für alle Bereiche in gleicher Weise entwickelt werden kann. Etwas schwächer formulieren Düwell!Hübenthal!Werner (2002, 21): "Die Allgewandte Ethik ist insofern nicht allein als Anwendung ethischer Theorien aufbestimmte Praxisbereiche zu verstehen. Vielmehr ist damit zugleich die Herausforderung an die ethische Theoriebildung verbunden, ihre Begriffe und Konzepte zu präzisieren und hinsichtlich ihrer Anwendungsbedingungen neu zu reflektieren."'
Die Verfasser der Beiträge des vorliegenden Sammelbandes vertreten nicht nur in den Fragen, welche Aufgabe die Ethik als solche hat und welcher ethische Ansatz der angemessene ist, unterschiedliche Positionen, sondern sie haben auch unterschiedliche Überzeugungen, in welcher Weise Ethik in konkreten Lebensbereichen zur Anwendung kommen kann. Auch in rein formalen Fragen der Gestaltung zeigen die Beteiligten auf Grund ihrer unterschiedlichen Rationalitäten bis in die Rechtschreibung hinein eine Pluralität der Darstellungsweisen. Gerade diese Methodik ermöglicht den Lesenden einen größeren Überblick über das Spektrum der 9
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Die Bände von Nida-Rümelin, Siep und Düwell/Hübenthal/Werner sind zugleich die derzeit wohl wichtigsten Einführungen in das Themenfeld ,,Angewandte Ethik" im deutschsprachigen Raum. Im englischsprachigen Raum stellen der von Frey/Wellman herausgegebene ,,A Companion to Applied Ethics" sowie das von La Follette herausgegebene "The Oxford Handbook of Practical Ethics" die derzeitigen einbändigen Standardwerke dar. Was Lexika angeht, ist das deutschsprachige von Korffi'Beck/Mikat herausgegebene Lexikon zur Bioethik zu nennen, das "Bioethik" so weit fasst, dass sehr viele Bereiche Angewandter Ethik darin behandelt werden. In Englisch ist die von Chadwick herausgegebene vierbändige "Encyclopedia of Applied Ethics" als Standardwerk zu erwähnen.
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Möglichkeiten, sich mit Fragen Allgewandter Ethik auseinander zu setzen, als es in einer Monographie eines Einzelnen möglich wäre. Ein wesentliches Anliegen dieser Einfiihrung liegt darin, einen Gesamtüberblick zu den wichtigsten Grundlagen und Disziplinen Allgewandter Ethik zu vermitteln. In den Grundlagen werden das Verhältnis von Politik und Ethik sowie Recht und Ethik bestimmt und damit verbundene ethische Fragestellungen thematisiert. In den Disziplinen Allgewandter Ethik geben die Autoren einen Überblick zu den wesentlichen Fragestellungen des jeweiligen Bereichs und zeigen dann an exemplarischen Fällen aus dem Bereich auf, inwieweit die Angewandte Ethik zu Lösungen oder Bewertungen verhelfen kann. Zwei Bereiche, nämlich die Bioethik und die Medienethik:, sind dabei nochmals aufgeteilt worden. Bei der Bioethik hat dies einen inhaltlichen Grund. Medizinethik und die nichtmedizinische Bioethik, hier insbesondere als Umwelt- und Tierethik interpretiert, werden mittlerweile in der Diskussion als eigenständige Bereiche verstanden. Medizinethische Abhandlungen wenden sich an andere Zielgruppen als umweltethische Beiträge. Bei der Medienethik liegt ein wesentlicher Grund darin, dass das Studienfach Allgewandte Ethik insbesondere fiir Studierende von Interesse ist, die später auch publizistisch tätig sein wollen. Die Aufteilung des Bereichs ermöglicht so einen vertieften Überblick über dieses wichtige Themenfeld. Grundlegendes Ziel dieses Buchs ist es, die Leser zu befahigen, zu brennenden ethischen Fragestellungen unserer Zeit kompetent selbstständig Lösungen zu erarbeiten. Gerade die Bearbeitung konkreter Fallbeispiele hat darum nicht den vornehmliehen Zweck, bestimmte Positionen zu vertreten, sondern fiir den Leser sachliche Anregungen und Argumentationshilfen zu bieten, damit sie ihre eigenen Positionen erarbeiten können. Zugleich will das Buch auf diese Weise vermitteln, warum auch andere Positionierungen, sofern sie die grundsätzlichen Kriterien wissenschaftlichen Arbeitens berücksichtigen, eine ernsthafte Auseinandersetzung verdienen.
Basisliteratur Andersen, S. (2005): Einfiihrung in die Ethik. 2. Auflage, de Gruyter, Berlin. Aristoteles (1894): Ethica Nicomachea. Hrsg. von I. Bywater, Oxford University Press, Oxford. Aristoteles (1957): Politica. Hrsg. von W. D. Ross, Oxford University Press, Oxford.
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Nikolaus Knoepffler
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Projekt Angewandte Ethik
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Politische Ethik Klaus Dicke I Florian Weber
Ethik und Politik erscheinen heute als zwei Denk- und Handlungssysteme, die auf den ersten Blick weiter voneinander entfernt kawn sein könnten. Wie zahlreiche Umfragen zeigen, werden heute Politikern Machtstreben wn der Macht willen, kawn aber ethische Motive ihres politischen Handeins unterstellt. Zugleich aber lässt sich nicht bezweifeln, dass gerade in der heutigen Politik moralische Normen eine außerordentliche Rolle spielen: Menschenrechte, hwnanitäre Forderungen, das "Nie wieder" in der Erinnerung an Auschwitz und den Zweiten Weltkrieg, moralische Proteste gegen Völkermord oder die Unverfrorenheiten der NPD - all dies zeigt, dass Politik entgegen dem erstgenannten Befund durchaus als ein moralisches Unterfangen wahrgenommen wird. Wie ist diese, sicher nicht leicht auf einen Nenner zu bringende Bestandsaufnahme der Gegenwart zu werten? Zwnindest eines lässt sich aus dieser ambivalenten Konstellation von Moral und Politik schlussfolgern: Es besteht ein Bedürfnis nach ethischer Reflexion der Politik. Dieses Bedürfnis ist sicherlich kein Novwn unserer Gegenwart, vielmehr fallen ja die ersten systematischen Betrachtungen zur Politik bei Thukydides, vor allem aber bei Platon und Aristoteles mit ethischen Erwägungen geradezu zusammen. Und obwohl Machiavelli und Hobbes Politik als Wissenschaft begründen, indem sie sie aus dem moraltheologischen Kontext des ontologischen Naturrechts emanzipieren, muss auch nach dem Zusammenbruch des scholastischen Ordnungsdenkens Politik sich immer wieder vor der nun aus der Freiheit des Menschen begründeten Moral rechtfertigen. Ist vor diesem Hintergrund der gegenwärtig noch andauernde Auftrieb, den die politische Ethik seit der "Rehabilitierung der praktischen Philosophie" (Riede! 1971) und seit dem fiir das 20. Jahrhundert durchaus originellen Entwurf von John Rawls (1979) erfahren hat,' mehr als eine weitere Kapriole im ideengeschichtlichen WechEtwa Höffe 1979; Thompson 1992; Bayerts 1996; Sutor 1997.
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Klaus Dicke I Florian Weber
seispiel zwischen "Verwissenschaftlichung" und "Ethisierung" der Politik? Eine neue Dimension hat die ethische Reflexion der Gegenwart insofern erreicht, als sich in der modernen" Wissensgesellschaft" mit ihrem Bedarf an einem Reservoir sachlichen Wissens und kompetenter Urteilskraft Wissensgebiete ausdifferenziert haben, die sich teilweise als "BindestrichEthiken" - Wissenschafts-Ethik, Bio-Ethik, Familien-Ethik, WirtschaftsEthik und auch politische Ethik-, teilweise aber auch unter dem Sammelbegriff der "Angewandten Ethik" akademisieren. Beide Entwicklungstendenzen wissenschaftlich-ethischer Reflexion müssen sich vor der fundamentalphilosophischen Frage rechtfertigen, ob ethische Reflexion überhaupt bereichsspezifischer Parzellierung zugänglich ist bzw. ob der Begriff der "Anwendung" bei der darin implizierten Voraussetzung eines vorgängig festgestellten Anzuwendenden den Ernst ethischer Reflexion angemessen zu erfassen in der Lage ist. Deshalb wird im ersten Abschnitt die Frage nach Möglichkeit, Rechtfertigung und Gegenstand einer spezifisch politischen Ethik überhaupt aufzuwerfen sein. Ausgehend von dem im zweiten Abschnitt zu rekonstruierenden Befund, dass Freiheit, Gerechtigkeit und Frieden historisch und aktuell immer wieder als "Grundwerte" politisch-ethischer Reflexion herangezogen werden, wird im dritten Teil ein der Methodik kritischer Prinzipienreflexion folgendes Grundgerüst politisch-ethischer Argumentation entworfen. Das Einholen der Tradition der vormals so genannten "philosophia practica sive politica" ist im Hinblick auf die Vergewisserung der zentralen ethischen Kategorien unverzichtbar, politische Ethik darf sich aber in Ideengeschichte nicht erschöpfen. Vielmehr sind, wie der abschließende vierte Teil anband eines aktuellen Beispiels demonstrieren soll, die zentralen politischethischen Topoi in der Analyse und Kritik zeitgenössischer Diskurse sowie der Reflexion konkreter Ethosformen zu erproben und zu aktualisieren. Ethische Reflexion - das wissen wir seit Sokrates - steht immer im Horizont der Frage des Menschen nach sich selbst. Dass sowohl die Politik als auch die Vernunft Antworten auf diese Frage liefern, ist der einheitsstiftende Gedanke, den Aristoteles dem europäischen ethischen Denken hinterlassen hat. Ob damit die Frage des Menschen nach sich selbst jedoch schon hinreichend beantwortet oder auch nur beantwortbar ist, haben sowohl Sokrates als auch Kant bezweifelt. Ihrer Konsequenz, die Frage des Menschen nach sich selbst offen bzw. in Jaspersscher Terminologie "in der Schwebe" zu halten und ihre ethische Antwort deshalb als Imperativ der Vernunft zu formulieren, wird hier in bewusster Vorentscheidung deshalb
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Politische Ethik
gefolgt, weil einerseits jede und deshalb auch die politische Ethik der Frage nach Imperativen nicht ausweichen, sie andererseits jedoch in Anerkennung der gleichen Würde eines jeden Menschen weder materialiter noch deduktiv im Sinne ethischen Systemwissens beantworten kann. Denn das macht die Würde des Menschen ja aus, dass er nur das gelten lässt, was er sich in freier Entscheidung als Imperativ oder "Gesetz" selbst gegeben bzw. was er als seine Verantwortung in der Welt bestimmt und anerkannt hat. Insofern wird bei den folgenden Überlegungen Kant der erste Ansprechpartner sein - und dies nicht allein, weil er zu den prominentesten Ahnen einer Ethik gehört, die sich als kritische Prinzipienreflexion versteht und sich nicht in deskriptiver Erfassung von Sittlichkeitsstrukturen erschöpft. Vielmehr bietet Kant sich deshalb an, weil seine Ethik um einen eminent politischen Begriff zentriert und damit im Kern- und nicht erst in ihrer "Anwendung" - politisch ist: den der Gesetzgebung.
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Möglichkeit, Gegenstand und Rechtfertigung politischer Ethik
Die Frage nach der Möglichkeit ethischer Reflexion mutet im Kontext eines Aufsatzes über politische Ethik rhetorisch an. Sie hier aufzuwerfen ist dennoch berechtigt: erstens, weil die bestrittene Möglichkeit wissenschaftlich sinnvoller ethischer Reflexion zum Standardvorwurf szientistischer Sozialwissenschaft an politische Ethik zählt und zweitens, weil es auch aus der Warte politischer Ethik unterschiedliche Antworten auf diese Frage gibt. Spätestens seitdem das naturwissenschaftliche Ideal kausal-analytischer Erkenntnis im 19. Jahrhundert seinen Siegeszug in den Wissenschaften angetreten hat, ist die normativ argumentierende Ethik unter Rechtfertigungsdruck geraten. In den Debatten um die "Wertfreiheit" wissenschaftlicher Argumentation und dem Positivismusstreit der deutschen Soziologie' ist der normativen Sozialwissenschaft und damit auch der politischen Ethik im 20. Jahrhundert von szientistischer Seite die Berechtigung abgesprochen worden, indem ihre wissenschaftliche Möglichkeit in Frage gestellt wurde. 2
Hierzu Adomo et al. 1991.
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Die Antworten auf diese Herausforderung sind unterschiedlich und stecken das Feld möglicher Ansätze politischer Ethik ab. Eine erste Position vertritt Max Weber, der die Diskurse Wissenschaft und Politik strikt voneinander abgrenzt und die Wertfreiheit des ersteren fordert. Weber begründet eine Tradition ethischen Denkens, die auf der Basis idealtypischer Begriffsbildung und handlungstheoretischer Kategorien operiert, sich selbstjedoch zum Behufredlicher Auseinandersetzung einen strengen wissenschaftlichen Anspruch versagt und ihre Wertungen als bloß subjektiv ausweist. Die in dieser strikten Unterscheidung zwischen wissenschaftlicher und ethischer Argumentation angelegte Konzession ans (natur-) wissenschaftliche Erkenntnisideal geht der Frankfurter Schule zu weit. In ihrer Auseinandersetzung mit dem kritischen Rationalismus bezeichnet sie die Möglichkeit wertfreier Erkenntnis als Ideologie und verweist auf die Vorgängigkeit erkenntnisleitender Interessen. Sie rehabilitiert damit den Geltungsanspruch sozialphilosophischer Argumentation, verliert aber in ihrer Konzentration auf eine die gesellschaftlichen Machtstrukturen analysierende kritische Gesellschaftstheorie die handlungstheoretische und damit genuin ethische Ebene aus dem Blick.' Diese Leerstelle wird von einer Gruppe in aristotelischen: hegelschen' oder kantischen Bahnen6 argumentierender Philosophen ausgefiillt, die vor dem Hintergrund der behavioristischen und systemtheoretischen Normativitätskritik eine auf Prinzipien gerichtete und die eigenständige wissenschaftliche Geltung normativer Argumentation verfechtende Richtung politisch-ethischen Denkens aktualisieren. Ob der von Seiten des Positivismus und Szientismus pauschal erhobene Metaphysikverdacht die anthropologisch oder sozialontologisch fundierten Ansätze ethischen Denkens zu Recht trifft und ob er sie damit schon per se diskreditiert und in den Bereich des vorwissenschaftliehen Meinens verbannt, sei dahingestellt. Zumindest die kantianisch gefärbten Richtungen können diesen Vorwurf allerdings mit dem Hinweis auf die allein freiheitsphilosophische Fundierung ihrer Position zurückweisen. Sie konzedieren der modernen Wissenschaftstheorie, dass Freiheit nicht theoretisch demonstrierbar ist, gehen mit Kant aber davon aus, dass sie dieser "star3
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Darin ist ein strukturelles Defizit der sog. Kritischen Theorie zu sehen. Man kann Tugendhat zustimmen, " dass eine kritische Gesellschaftstheorie, so wichtig sie ist, nicht an die Stelle einer Ethik treten kann, sondern eine Moral voraussetzen muss" (Tugendhat 1993, 18). Zu nennen ist hier Steroberger 1980. Z. B. Ritter 1988. Krings 1980; Schwartländer 1981a; 1981b.
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ken" Begründung aber auch gar nicht bedarf, weil sie als "Faktum der Vernunft" zugleich unseren "höchste[n] Erfahrungsbegriff' (Schwartländer 1981a, 21) bildet: Sie ist die Selbstauslegung unseres sittlichen Selbstverständnisses, nicht bereits Teil einer Theorie des guten Lebens. 7 Als Gegenstand politischer Ethik ist die Reflexion auf die Legitimität politis€hen Handeins anzusehen. Legitimität bezeichnet in dieser an den Horizont des demokratischen Verfassungsstaates der Modeme gebundenen Bestimmung eine normative Ausgewiesenheit politischen Handelns, die diesem freiwillige Gefolgschaft sichert. Legitimität ist "soziale Anerkennung als rechtens" (Kielmansegg 1971). Die Reflexion auf Legitimität setzt erstens eine Theorie des öffentlichen Rechts voraus, als dessen geschichtlich konkrete Bestimmungsnormen sich in der Modeme Menschenrechte herausgebildet haben. Sie impliziert zweitens eine Theorie öffentlicher Zustimmungsverfahren, wie sie in den verschiedenen demokratischen politischen Systemen konkretisiert sind. Drittens verlangt die ethische Reflexion aufpolitische Legitimität eine Theorie politischen Urteilens als der Bestimmung des legitim Tunlichen. Der skizzierte Ansatz politischer Ethik lässt sich als integratives Dreiebenenmodell charakterisieren. Er umfasst als erste Ebene die des Rechts und der Institutionen, als zweite die der Individuen bzw. der Akteure und als dritte, genuin politische, eine solche, die in der Thematisierung von Zustimmungsverfahren diese beiden Ebenen vermittelt. Integrativ ist dieser Ansatz, weil die drei Ebenen unterschiedliche Perspektiven auf politisches Handeln darstellen, nicht jedoch verschiedene, voneinander abgrenzbare und unterschiedlichen Prinzipien gehorchende ethische Bereiche diskriminieren. Wohl können ethische Ansprüche von Individuen und Institutionen vorderhand konfligieren, dieser Konflikt muss in der ethischen Reflexion aufPrinzipienebene aber auflösbar sein. In diesem Sinn postuliert Kant, dass aus dem "einigen [kategorischen] Imperativ alle Imperative der Pflicht, als aus ihrem Prinzip, abgeleitet werden können" (Kant 1784, 421). Aus der Auslegung menschlicher Würde als Autonomie lassen sich nach Kant erstens fiir das Individuum die ethischen Pflichten der Tugendlehre bestimmen, durch Anwendung auf den äußeren Handlungsraum ergibt sich jedoch zugleich der Rechtsbegriff als der "Inbegriff der Bedingungen, unter denen die Willkür des einen mit der 7
Eine weitere, nachmetaphysische Möglichkeit der Rechtfertigung von Ethik besteht natürlich darin, ethische Reflexionen als das bloße Ausbuchstabieren der in der gesellschaftlichen Praxis verankerten moralischen Intuitionen zu verstehen.
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Willkür des andern nach einem allgemeinen Gesetze der Freiheit zusammen vereinigt werden kann" (Kant 1797, 230). Auch die dritte Ebene der Vermittlung von Akteurs- und Rechtsebene wird bereits bei Kant durch einen "politischen Imperativ"8 geleistet, der die Maximen öffentlichen Handeins nicht nur an das moralisch-rechtliche Kriterium praktischer Widerspruchsfreiheit - verbürgt durch "Publizität" - bindet, sondern an durch freie Zustimmung erzeugte Durchsetzbarkeit. Im Rahmen dieses integrativen Dreiebenenmodells politischer Ethik kann es keine legitimen politischen Imperative geben, die sich aus der Perspektive der handelnden Individuen als unsittlich erweisen. Im Gegenteil: das wissenschaftlich aufgeklärte "Gefiihl" jedes Einzelnen fiir gut und böse bzw. die originäre sittliche Urteilskompetenz des Menschen ist zum obersten Prinzip der politischen Ethik erhoben. Es darf damit also z. B. kein vom Gerechtigkeitsprinzip unabhängiges, der Familienmoral gegenüberstehendes und beide im Konfliktfall übertrumpfendes "Staatsethos" geben, wie z. B. Arnold Gehlen (1969) es im Rahmen seiner "pluralistischen" - d. h. auf verschiedenen gleichursprünglichen und in ihrem Geltungsanspruch unvereinbaren ethischen "Sozialregulationen" beruhenden - Ethik entwickelt hat. Die bei Gehlen auf Kosten des Individuums erreichte Vermittlung von Akteurs- und Institutionenethik muss sich der hegelschen - bei Regel selbst freilich in dessen Staatsvergottung letztlich uneingelöst bleibenden - Herausforderung stellen, eine Theorie politischer Institutionen zu entwerfen, die durch das "Prinzip des Protestantismus" hindurch gegangen sind.9 Gegen die Hauptströmung der soziologischen Institutionentheorie, die ein Ausschließungsverhältnis von Reflexivität und Stabilität sozialer Institutionen konstruiert, 10 geht der hier vorgestellte Ansatz politischer Ethik von der Möglichkeit reflexiver lnstitutionalisierung 11 aus und versteht Institutionen nicht als "mechanisch wirkende Einrichtungen, sondern [als] sozial-kulturelle Sinngebilde. Ihr Sinn muss von den Handelnden gewollt und erfüllt werden" (Sutor 1997, 45). Für das Verhältnis von Indivi8
9 10 11
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,,Alle Maximen, die der Publizität bedürfen (um ihren Zweck nicht zu verfehlen), stimmen mit Recht und Politik vereinigt zusammen" (Kant 1795, 386). Zur systematischen Interpretation vgl. Dierksmeier 1996; Sassenbach 1992. Dieses Prinzip besteht nach Hege! darin, "nichts in der Gesinnung anerkennen zu wollen, was nicht durch den Gedanken gerechtfertigt ist" (Hege! 1986,27, Vorrede). Im Anschluss an Gehlen behauptet Schelsky, "dass die moderne Subjektivität des Individuums im Gegensatz zum Wesen der Institutionen steht und daher Hauptursache eines allgemeinen Institutionenverfalls unserer Kultur ist" (Schelsky 1970, 22). Dazu Maus 1990.
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duum und Institution ergeben sich daraus die folgenden vier Konsequenzen: 1) Institutionen können individuelle Moral der Akteure nicht ersetzen und machen sie nicht obsolet, aber sie können moralisches Verhalten ermöglichen bzw. erleichtern durch die Gewährleistung von Erwartungsstabilität und die Bereiststellung von (Konflikt-) Regelungsmechanismen. 2) Eine freiheitliche politische Ordnung erfordert keine moralische Exzellenz und darf schon gar keine moralischen Leistungen mit der Verbindlichkeit des Rechtsgesetzes einfordern. Ihre Möglichkeit und Stabilität hängt allerdings von der Einhaltung eines mindestens zwei Verpflichtungen umfassenden Ethos jedes einzelnen Bürgers ab: erstens der Pflicht, den Naturzustand zu verlassen (Exeundum-Gebot) und zweitens, sich innerhalb eines öffentlichen Rechtszustands an die geltende Rechtsordnung zu halten (Gebot der Regeltreue).12 3) Um innerhalb der politischen Ethik fiir legitim zu gelten, müssen moralische Forderungen in die Sprache der Institutionen überführbar sein. Guter Wille oder bloße Betroffenheit, 13 so sehr sie Ausdruck eines gerechtfertigten moralischen Impulses sein mögen, reichen dazu nicht aus. Machtkritik verfallt nur dann nicht dem Ressentimentverdacht, wenn ethische Forderungen sich in institutionell präformierten oder zumindest prinzipiell institutionalisierbaren Bahnen bewegen. 4) Die moralische Qualität der Politiker bemisst sich in erster Linie nicht nach ihrer persönlichen moralischen Integrität, sondern v. a. nach ihrem Amtsethos, d. h. der Bereitschaft, die Führung des Amtes gemäß den öffentlichen Spielregeln und in Anerkennung der ursprünglichen sittlichen Urteilskompetenzjedes Menschen auszuführen. Mit dem thematisch im Zentrum der politischen Ethik stehenden Spannungsverhältnis von Individuum und Institution ist zugleich die Rechtfertigung politischer Ethik angesprochen. Sie besteht darin, dass die ethisch geforderte Vermittlungangesichts der Endlichkeit des Menschen niemals abzuschließende Aufgabe bleibt und als Imperativ stets in Erinnerung gerufen werden muss. Die Besonderheit politischen Handeins ist nämlich darin zu sehen, dass Politik auf Verbindlichkeit oder - mit Max Weber - auf Gefolgschaft abzielt. Politik ist in dieser Hinsicht "authoritative allocation of values" (Easton 1968, 129ft), sie ist an Autorität und an Macht gebunden. Zur Kennzeichnung dieses Sachverhalts hat sich in der 12 13
Für die Auswirkungen auf das sog. demokratische Widerstandsrecht vgl. Dicke 2005a. Dazu kritisch Stephan 1993.
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deutschen Politikwissenschaft unter maßgeblichem Einfluss Max Webers der Begriff der "Herrschaft" durchgesetzt. Als Herrschaftsgeschichte ist aber die Geschichte der Politik zwiespältig (vgl. Leisegang 1949, 24--36): Sie ist Geschichte des Rechts, aber auch Geschichte von Eroberungen, Kriegen, Machtmissbräuchen und- bes. im 20. Jahrhundert - menschenverachtender Totalitarismen. Maß und Grenze der Macht ist damit eine notwendige Frage politischer Ethik, undjenseits der schwierigen Frage, ob es ein Ethos der Macht wirklich geben kann, 14 spricht das 20. Jahrhundert jedenfalls deutlich fUr Leisegangs These, dass ethischer Nihilismus zum politischen Totalitarismus führt. Insofern fmdet politische Ethik ihre Rechtfertigung in der Politik selbst. Der Konsens über die Gründung politischer Verfassungen in der Würde des Menschen, der mit Ende des Zweiten Weltkrieges global rechtsgestaltend wurde, ist als normative Antwort auf diese Ambivalenz von Macht und politischer Herrschaft zu verstehen und insoweit ein geschichtlicher ·Anknüpfungspunkt politischer Ethik. In die Anerkennung der Würde als Sinngrund aller menschenrechtliehen Forderungen und als Platzhalter der Unverfiigbarkeit unserer sittlich-autonomen Freiheit münden deshalb alle politisch-ethischen Argumente letztlich ein. Wie kann aber der Norminhalt der Menschenwürde als spezifisch politische Antwort auf die Frage nach dem Menschen vor dem Hintergrund der historischen und aktuellen Pluralität politikethischen Argurnentierens kritisch bestimmt werden? Was sind die Grundwerte politischer Ethik, was die Grundlagen jeder legitimen politischen Ordnung, die ein Leben in Würde ermöglichen?
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Freiheit, Gerechtigkeit und Frieden als Grundwerte politischer Ethik
In seiner vor dem Hintergrund der totalitaristischen Erfahrung und gegen Carl Schmitts Politikdefinition gerichteten Heidelberger Antrittsvorlesung zeichnet Dolf Sternherger den Frieden 15 als die Zentralkategorie des Politischen aus: 14
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Da Macht nicht restlos rechtlich kanalisiert werden kann, spricht vieles für die These, dass Macht nur durch ein Ethos der Selbstbeschränkung gedämmt werden kann. Für ein solches Ethos gibt es allerdings wiederum institutionelle Voraussetzungen: die Regeln des demokratischen Verfassungsstaats. Vgl. auch Dicke 2005b.
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"Der Gegenstand und das Ziel der Politik ist der Friede.... Der Friede ist der Grund und das Merkmal und die Norm des Politischen, dies alles zugleich" (Sternberger 1980, 304t).
In der Tat ist Frieden unbestritten ein Grundwert der politischen Ethik - die Geburt der politischen Philosophie der Moderne aus den konfessionellen Bürgerkriegen ist gleichbedeutend mit der Suche nach Frieden. Hobbes' Leviathan enthält eine politisch-technische Konstruktionslogik dazu. Revolutionär und epochemachend an seinem Entwurf ist nicht die Ausrichtung der Politik auf den Frieden, sondern sein Konzept des Friedens als Rechtsordnung. 16 Dem Vertrauen des aristotelisch-scholastischen Ordo-Denkens mit seinen objektiven Stufen der Seinsvollkommenheit und der Annahme einer natürlichen Soziabilität des Menschen, der Frieden sei gleichbedeutend mit natürlicher Ordnung, stellt Hobbes sein Konstrukt natürlicher Unordnung, den Naturzustand, entgegen, aus dem heraus Frieden mit den Mitteln der Politik, nicht durch Anwendung des Naturrechts, erst und immer neu zu stiften ist. Das Wesen des Friedens ist nicht "den Streit abzuweisen und auszuschließen, gar abzuschaffen, sondern vielmehr, ihn zu regeln" (Sternberger 1980, 308). Der Frieden ist Antipode des Krieges, aber zugleich mehr als dessen Abwesenheit. Er entsteht nicht schon durch die machtpolitisch Ordnung stiftende, aber normativ aus dem Nichts geborene Dezision des vertraglich ungebundenen Souveräns, 17 sondern ist an jene "Naturgesetze" genannten Regeln gebunden, die gewissermaßen eine soziale Verkehrsordnung des Friedens konstituieren und letztlich auf die ursprüngliche sittliche Kompetenz des Bürgers verweisen. Als dictamina rectae rationis enthalten diese Regeln fundamentale Gerechtigkeitsprinzipien - der moderne Rechtsfrieden ist ohne Gerechtigkeit nicht zu haben, womit wir beim zweiten Grundwert der politischen Ethik sind. Während Aristoteles Gerechtigkeit im Rahmen seiner Strebensethik als zentrale Tugend des Politikers thematisiert, wird sie in der modernen politischen Ethik zu einem dem Recht eingeschriebenen und seiner Legitimität als Kriterium dienenden Strukturprinzip politischer Ordnung. "Die Gerechtigkeit ist die erste Tugend sozialer Institutionen, so wie die Wahrheit bei Gedankensystemen" (Rawls 1979, 19). Sie besteht zunächst in der Sicherung der gleichen Freiheit aller. Von hier aus ist auch die Forderung 16 17
Hierzu auch Dicke/Delbrück 1989. So aber die dezisionistische Hobbes-Interpretation bei Carl Schrnitt: Jede politische Entscheidung sei "normativ betrachtet, aus einem Nichts geboren" (1993, 38).
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nach sozialer Gerechtigkeit zu verstehen: Ihre Gewährleistung darf im Rahmen einer kohärenten politischen Ethik kein zum Wert der Freiheit in Konkurrenz tretendes Gleichheitsmoment geltend machen, sondern nur die sozialen Bedingungen fiir die Ausübung der Freiheit garantieren. 18 Indem Gerechtigkeit als die Garantie der gleichen Freiheit aller bestimmt wird, ist bereits der dritte und fundamentale Grundwert politischer Ethik, gewissermaßen das Umwillen und die Quelle politisch gerechter Ordnung, zugleich aufgedeckt. Aus der Sicherung von Freiheit beziehen die großen politischen Entwürfe eines Hobbes, Locke, Rousseau, Kant und Regel ihre Legitimation. Der Freiheit zum Durchbruch zu verhelfen ist das Ziel der beiden großen Revolutionen des ausgehenden 18. Jahrhunderts, sie zu garantieren ist die Forderung der Menschenrechte und sie politisch zu gestalten Aufgabe des Konstitutionalismus und des demokratischen Verfassungsstaats. Als Fundamentalwert der politischen Ethik umfasst Freiheit mehr als das sie vulgarisierende Anspruchsdenken eines einseitig abwehrrechtlichen Liberalismus. Als einziger politischer Verpflichtungsgrund stellt sie den Einzelnen in die freilich nicht erzwingbare Pflicht der staats- und weltbürgerlichen Verantwortung, sie ist "unbedingte Verantwortungsfreiheit" (Schwartländer 1981 b, 38). In umgekehrter Reihenfolge der Darstellung bilden in "lexikalischer Ordnung" (Rawls) Freiheit, Gerechtigkeit und Frieden die Grundwerte der politischen Ethik: kein Frieden ohne Gerechtigkeit, keine Gerechtigkeit ohne Freiheit (vgl. Dicke 1995). In ihrem wechselseitigen Zusammenhang bilden sie die Strukturformellegitimer politischer Ordnung.
3
Historische und systematische Zugänge
Politisch-ethische Argumentation kann grundsätzlich eher ideengeschichtlicher oder systematischer Natur sein. Tatsächlich verweisen jedoch beide Zugänge aufeinander. Wer ohne ideengeschichtlichen Hintergrund argumentiert, steht in der Gefahr, das Rad neu erfmden zu wollen bzw. zu müssen oder längst als Sackgassen ausgewiesene Wege einzuschlagen. Wer dagegen rein historisch argumentiert, muss sich zu Recht die Frage nach der Relevanz seiner Überlegungen gefallen lassen. 18
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"Fraternite ist kein Rechtsbegriff. .. . Man [muss] vielmehr das normative Profil des Sozialstaates aus den normativen Quellen gewinnen, die fiir die Rechtfertigung von Rechtsstaat und Demokratie bereit stehen" (Kersting 2000, 15). So auch Bielefeldt 1998, 87ff.
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Politische Ethik
3.1
Ideengeschichte politischer Ethik
Den ersten, sowohl die Frage als auch Antworten ermöglichende Differenzierungen bietenden Zugang stellt die Rekonstruktion der in der Tradition des ethischen und politischen Denkens Europas' 9 hinterlegten Aussagen zum Verhältnis von Politik und Ethik allgemein und im Hinblick auf die drei angesprochenen Ebenen ethischen Denkens dar. Eine solche Rekonstruktion kann hier auch nicht ansatzweise erfolgen, zumal eine konzise Darstellung der Geschichte politischer Ethik ein Desiderat darstellt. Die uns vertraute Vorstellung, dass Ethik und Politik zwei getrennte Bereiche sind, die in einer zumeist konfliktbeladenen Beziehung stehen, ist in ideengeschichtlicher Hinsicht ein jüngeres Phänomen. Bei Aristoteles, dem ersten großen systematischen Theoretiker der Politik, sind Politik und Ethik noch nicht getrennt, sondern Ethik ist ein Teilbereich der Politik. Der Mensch als ein seiner Natur nach politische Gemeinschaften bildendes und vernünftig einrichtendes Wesen20 gelangt in der Polis und nur in der Polis zur vollen Entfaltung seiner spezifischen, und hier namentlich seiner kulturellen und sittlichen Möglichkeiten. Noch Regel spricht in dieser Tradition vom Staat als "sittlicher Idee" und bezeichnet damit die herausgehobene ethische Dignität der Politik. Die Staatseinrichtung ist in dieser Tradition ein per se ethisches Unterfangen, das auf ein "Gemeinwohl" genanntes Gut ausgerichtet ist, in dem der "groß geschriebene Mensch" (Platon)21sein Abbild finden soll. Mit der Aufklärung, die die menschliche Person und ihre Freiheit in den Mittelpunkt rückt, wird der ontologische und nonnative Vorrang des Gemeinwesens allerdings problematisch. Freiheit wird an Stelle der Ordnung zum ethischen Leitbegriff. Die Emanzipation des um den Freiheitsbegriff zentriert Ethischen aus vorgegebenen nonnativen Strukturen fuhrt dazu, dass Politik und Ethik der aktiven Vermittlung bedürfen. Diese ideengeschichtlich erst mit der Moderne aufbrechende Unterscheidung zwischen (aristotelischer) Polismetaphysik und (kantischer) Freiheitsphilosophie prägt bis heute die politisch-ethischen Auseinandersetzungen. In dem auf John Rawls' Gerechtigkeitstheorie (Rawls 1979) 19
20 21
Obgleich die Geschichte der politischen Ethik in der europäischen Antike ihren Anfang nimmt, bietet die hier aus pragmatischen Gründen vorgenommene Einschränkung auf die europäische Ideengeschichte ein nur partielles Bild. Über diesen Horizont hinausgehend Höffe 2005, 81 ff; I 09ff. Dazu Höffe 1979. Siehe hierzu auch Gerhard 1997.
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folgenden Streit zwischen Liberalismus und Kommunitarismus wird sie auf wissenschaftstheoretisch hohem Niveau und erstmals auf internationaler Ebene ausgetragen.22 In diesem Spannungsfeld von Polis-Metaphysik und Freiheitsphilosophie stellt sich auch die fiir die politische Ethik zentrale Frage nach dem Verhältnis von Individuum und Institution. Im Rahmen seiner am entelechialen Naturbegriff orientierten Strebensethik entwickelt Aristoteles eine Tugendlehre, die die ethische Ausbildung von Fertigkeiten in den Mittelpunkt der Individualethik rückt. Tugenden sind auf Gewöhnung beruhende Verhaltensdispositionen, sie sind bezogen aufeine konkrete soziale Realität, in der sie ausgebildet und fiir die sie zugleich funktional sind. Sowohl die praktische Ausbildung der Tugenden als auch die Schulung der das jeweils Richtige erkennenden Klugheit sind auf den Sittlichkeitskontext der Polis angewiesen. Die moderne, mit universalistischem Geltungsanspruch auftretende Freiheitsphilosophie hingegen kann ethisches Handeln nicht allein auf einer Tugendlehre und ethisches Urteilen nicht auf der kontextverhafteten Klugheit aufbauen. Sie erhebt die Vernunft, die nach Kant fiir sich selbst praktisch sein, d. h. aus sich heraus den Willen bindende, motivationale Kraft haben soll, in den Rang des höchsten ethischen Vermögens. Auf der Ebene der Institutionenethik fmdet die von Thomas von Aquin unter christlichen Vorzeichen erneut systematisierte Tradition des "bonum commune" in der Tradition der Fürstenspiegel eine auf ein christliches Herrscherideal zielende Konkretisierung. Eine bedeutende Rolle in dieser Fürstenspiegelliteratur spielen die Rechte des Herrschers gegenüber dem Volk und in diesem Zusammenhang das in der frühen Neuzeit in besonderer Weise virulent werdende Thema des Widerstandsrechts. 23 Dieser Aristotelismus in der politischen Ethik wird von Machiavelli und Hobbes unter dem Vorzeichen neuzeitlicher Rationalität destruiert. Werden bei Machiavelli mit gnadenloser Konsequenz ethische Erwägungen generell dem Gebot des Machterhalts untergeordnet, hat Hobbes die Sicherheit des Bürgers als politisch zu sichemde Freiheitsbedingung als Legitimationsnorm politischer Herrschaft etabliert. Beide erkennen an der Schwelle zur Neuzeit die Sprengkraft politischer Machtambitionen unter den Bedingungen einer sich individualisierenden und technisierenden Gesellschaft und 22
23
Unabhängig von der Positionierung in diesem Streit über die Grundlagen ethisch-politischen Denkens hat die Debatte zu einer Klärung der jeweiligen normativen Grundlagen, partiell aber auch zu einer Annäherung und Integration der Positionen gefiihrt. Vgl. Rawls 1993; Habermas 1997. Zur historischen Entwicklung Dicke 2005a.
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Politische Ethik
leiten jenen normativen Wandel der Neuzeit ein, in dem die Freiheit des Menschen sich von normativen Vorgegebenheiten emanzipiert und ihrerseits zur Autoritätsquelle politischer Legitimation wird. Die bei Hobbes vollzogene Ablösung einer in der naturrechtliehen leges-Hierarchie fundierten vorgegebenen Nonnativität durch die aufgegebene Normativitäf• vernunftrechtlicher Gesetzgebung entfaltet in den Rechtstheorien von Rousseau und Kant republikanische Sprengkraft. Nicht mehr ein differenzierter Corpus an Rechten und Pflichten des klassischen Naturrechts, sondern die Freiheit selbst soll nun zum Grund der Institutionen und zur Begrenzungsnorm von Herrschaft werden. Im Umfeld der Amerikanischen und Französischen Revolution entfalten die klassischen Erklärungen der Menschenrechte eine politische Freiheitsphilosophie, die das im Contrat Social formulierte Problem einer freiheitlichen Form politischer Herrschaft auflösbar erscheinen lassen. 2' Mit der Prinzipien-Trias von "Freiheit, Gleichheit, Selbständigkeit" formuliert Kant einen Maßstab republikanischer Gesetzgebung, bei dessen Beachtung politisches Urteilen eine Richtschnur politischer Legitimität findet. 26 Die Frage nach den Bedingungen politischer Legitimität in der Modeme muss allerdings nicht nur aufPrinzipienebene beantwortet, sondern auch in ihremjeweils historisch-soziologischen Kontext thematisiert werden. Der Herrschaftssoziologie Max Webers, die in diesem Zusammenhang besonders hervorzuheben ist, verdankt die politische Ethik historisch angereicherte Erfahrungen über die Vermittlungsbedingungen von Legitimität bei legaler, traditionalerund charismatischer Herrschaft. 27 24 25
26
27
Die treffende Unterscheidung zwischen vorgegebener und aufgegebener Nonnativität stammt von Hans Ryffel 1978. Rousseau skizziert im sechsten Kapitel des ersten Buches seines Contrat Social das "probleme fondamental" der politischen Philosophie: "Finde eine Form des Zusammenschlusses, die mit ihrer ganzen gemeinsamen Kraft die Person und das Vermögen jedes einzelnen Mitglieds verteidigt und schützt und durch die doch jeder, indem er sich mit allen vereint, nur sich selbst gehorcht und genauso frei bleibt wie zuvor'' (Rousseau 1977, I, 3 (17)). Zudem hat Kant, dessen ,,Zum ewigen Frieden" (1795) einen der dichtesten und auch wirkmächtigsten Klassiker der politischen Ethik darstellt, mit der provokanten Unterscheidung zwischen dem politischen Moralisten und dem moralischen Politiker sowie mit seinem Kriterium der ,,Publizität" legitimer Herrschaft konkrete Kriterien zu ihrer Beurteilung in einer demokratischen Gesellschaft benannt. Überdies hat Weber in seinen politischen Schriften, namentlich im Beruf zur Politik (Weber 1993) in einer überaus dichten Weise zu Grundfragen politischer Ethik Stellung genommen. Seine Unterscheidung zwischen Gesinnungs- und Verantwortungsethik und sein deutliches Plädoyer filr letztere ebnet zwischen der Skylla des privaten Moralismus und der Charybdis des amoralischen Zynismus einen Weg durch die Wogen politisch-ethischer Argumentation.
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Während sich fiir Weber das Problem der Legitimität politischer Herrschaft noch wie selbstverständlich im Rahmen des Nationalstaates stellt, ist die Frage nach der Universalität ethischer Maßstäbe nach dem Zweiten Weltkrieg zu einem eigenen Thema politischer Ethik geworden/ 8 sie ist zentraler Zankapfel in der schon angesprochenen LiberalismusKommunitarismus-Debatte. Schon die Allgemeine Erklärung der Menschenrechte von 1948 beruft sich vor dem Hintergrund des totalitaristischen Terrors und im Dienste des internationalen Menschenrechtsschutzes auf die Universalität der Menschenrechte. Die aktuelle Debatte wird im Anschluss an Rawls' Unterscheidung zwischen politischem und metaphysischem Liberalismus unter postmetaphysischen Vorzeichen gefiihrt: Universalität wird nicht aus einem Grundsatz hergeleitet, sondern als "überlappender Konsens" (Rawls 1993)29 divergierender Positionen bzw. in Wiederaufnahme dialogischer Ansätze als Gesprächsangebot begriffen oder auch- freilich in durchaus verwässerter Form - aus der empirischen Ethosvergleichung mit dem Ziel der Formulierung eines weltweiten ethischen Minimums destilliert (Küng 1990; Kusche! 2004). Auf die wichtige Frage nach der globalen Geltung ethischer Maßstäbe und den Folgen der Globalisierung fiir die politische Ethik wird gesondert zurückzukommen sein (Kapitel3.3).
3.2
Hermeneutische und genealogische Ethosanalyse
Über die ideengeschichtliche Rekonstruktion zentraler Topoi ethischen Denkens hinaus, aber von ihr geleitet, ist politische Ethik jedoch auf die systematische Analyse gegenwärtiger ethischer Probleme verwiesen; ihre Aufgabe ist es, "unsere Zeit in Gedanken zu erfassen" (Hege!). Vorrangig ist deshalb eine Analyse zeitgenössischer politischer Diskurse. Ob es sich um die Grundwertedebatte im Zusammenhang mit der Reform des § 218 Anfang der siebziger Jahre, die Debatte über sog. "humanitäre Interventionen" zu Beginn und um Menschenwürde (und Gentechnik) seit Ende der 1990er Jahre oder aber um die Debatte über das Folterverbot anlässlich des 28 29
34
Hierzu Tönnies 2001. Die Rawlssche Position ist allerdings aus unterschiedlichen Perspektiven kritisiert worden. Während Rorty (1992) auf eine Begründung von Gerechtigkeitsprinzipien gänzlich verzichten will und noch das abgespeckte Rawlssche Begründungsprogramm als "metaphysisch" verwirft, kritisiert Habermas (1999, 65-127) Rawls' Verzicht aufeine Letztbegründung als politisch dysfunktional.
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Falles Metzler 2004 handelt- als erster Befund ist festzuhalten, dass solche größeren Debatten um Fragen der politischen Ethik in regelmäßigen Abständen auftreten und mit deutlich zunehmendem medialen und wissenschaftlichen Engagement gefiihrt werden. Regelmäßig beteiligen sich führende Politiker, Publizisten und Wissenschaftler, aber ebenso regelmäßig ebben diese Debatten mit dem Verblassen der Aktualität des Anlasses wieder ab. Ihr periodisches Auftreten belegt freilich, dass eine Demokratie in regelmäßigen Abständen der medial vermittelten Selbstvergewisserung der Grundlagen ihres ethischen Anspruchs bedarf. Insoweit unterstreichen sie die Notwendigkeit, zumal in der sog. "Wissensgesellschaft", professionelle Kompetenz in Fragen politischer Ethik vorzuhalten. Denn worum geht es in diesen Debatten? Im Vordergrund stehen Normen, Prinzipien, Grundsätze und Grenzen politischen Handelns, und zwar nicht abstrakt, sondernjeweils angesichtskonkreter politischer Herausforderungen. Diese können in politischen Handlungen oder Handlungsentwürfen bestehen, die den gesellschaftlichen Konsens oder einzelne ethische Überzeugungen in der Gesellschaft herausfordern (Grundwertedebatte), oder aber- wie im Falle der Kosovo-Krise- kann es um plötzlich sichtbar werdende Herausforderungen politischen Handeins gehen, die eingefahrene politische Maximen in Frage stellen. Deshalb muss neben die ideengeschichtliche Vergewisserung unserer ethischen Denkwelt immer auch die Analyse konkreter, gelebter politischer Ethos-Formen treten. Unter solchen Ethos-Formen sind verfestigte und verstetigte, sich in Institutionen, Symbolen und Sprachregelungen ausdrückende und eingeübte Gewohnheiten zu verstehen, in denen sich ein gemeinschaftsbegründender ethischer Anspruch artikuliert. Prinzipiell sind zwei Ansätze solcher Ethos-Analyse denkbar. Die Forderung, unsere Zeit in Gedanken zu erfassen, spornt bereits Hegel zu einer Theorie des objektiven Geistes an, die sich als hermeneutische Selbstauslegung der politischen Kultur seiner Zeit verstehen lässt. Ideengeschichtlich erster Anknüpfungspunkt wäre etwa die Darstellung des Ethos der athenischen Demokratie in der Gefallenenrede des Perikles bei Thukydides. Für die Gegenwart ist v. a. das Ethos der Menschenrechte bedeutend, das als sittliche Norm der demokratischen Gesellschaft rekonstruiert wird (vgl. Bielefeldt 1991; 1998; Schwartländer 1981b) sowie das Staats- und das Amtsethos, das namentlich fiir das ethische Denken in Deutschland eine wichtige Rolle spielt oder- wie im Blick auf das Amtsethos gelegentlich beklagt wird (Stephan 1993)- gespielt hat.
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Neben diese hermeneutische, d. h. die eigene Identität auslegende und verbürgende Ethosanalyse tritt als kritischer Gegenpol die verfremdende, gewissermaßen ethnologische Perspektive auf die eigene Kultur. Das von Nietzsche begründete und dann v. a. von Foucault fortgefuhrte Verfahren der Genealogie30 verfremdet die ethischen Grundlagen der eigenen Kultur artifiziell und bringt sie damit als etwas Gewordenes und somit Gestaltbares erst in den Blick. Während Nietzsche den christlich-asketischen Moralismus genealogisch als ressentimentgeladene "Sklavenmoral", als eine durch die lebensfeindliche Umwertung der Werte zustande kommende Machtstrategie der Machtlosen entlarvt, lenkt Foucault unser Augenmerk auf Institutionen und Praktiken, die als "Dispositive" jeweils durch ein Zusammenwirken von Wissen und Macht gekennzeichnet sind. Zum Gegenstand von Genealogien werden solche Dispositive, weil sie im Verdacht stehen, repressiv oder normierend auf die ihnen unterworfenen Subjekte zu wirken- Foucault hat dies z. B. exemplarisch an der Geburt einer "Disziplinargesellschaft" aus der humanitären Strafrechtsreform und der Etablierung humanwissenschaftlicher Forschung gezeigt (Foucault 1977). Obwohl die genealogischen Ethosanalysen häufig an einer negativistischen Einseitigkeit kranken, zumal, sofern sie wie bei Nietzsche und F oucault in einem dekadenztheoretischen Rahmen vorgetragen werden, und in der Regel die Maßstäbe ihrer Kritik nicht ausweisen können, 3 ' so sind sie doch heuristisch auch fiir eine als kritische Prinzipienreflexion sich verstehende politische Ethik aufschlussreich, indem sie kulturelle Selbstverständnisse in Frage stellen und den Blick auf ein Feld möglicher Kritik öffnen. Namentlich die politische Gegenwart in Deutschland hätte einen zweiten Nietzsche verdient.
3.3
Globale Ethik und Ethik internationaler Beziehungen
Unsere Zeit in Gedanken zu erfassen, stellt die gegenwärtige politische Ethik aber v. a. vor die Herausforderung, die ethischen Begriffe im Hinblick auf den gegenwärtig unter dem Stichwort Globalisierung weitläufig diskutierten fundamentalen Strukturwandel des Politischen zu reflektieren. 30 31
36
Zu Gemeinsamkeiten und Unterschieden des Genealogiekonzepts bei Nietzsche und Foucault vgl. Saar 2003; pointiert Koch 2004. Diesen Vorwurf gegen Foucault erhebt Habermas 1988, 279-343.
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Ein Großteil der drängenden politischen Probleme sind ihrem Ausmaß nach globaler, ihrer Qualität nach transnationaler Natur, man denke nur an den internationalen Terrorismus, religiöse Fundamentalismen, die Radikalisierung des gesellschaftlichen und kulturellen Pluralismus oder die immer weiter aufgehende Gerechtigkeitsschere zwischen Arm und Reich. Aus dem hieraus entstehenden Problembestand und Regelungsbedarf ergeben sich Änderungen für alle Ebenen der politischen Ethik. Auf der Akteursebene ist zu konstatieren, dass sich im Zuge der Globalisierung der gesamte ethisch-politische Handlungskontext radikal gewandelt hat, die individuelle Biografie ist bis in die basalsten Lebensvollzüge hinein globalisiert.32 Die durch den sog. "CNN-Faktor" bis in die entferntesten Weltregionen hinein verlängerte moralische Sensibilität hat zugleich auch den Verantwortungsradius individuellen Handeins erweitert, so dass sich unweigerlich die Frage nach dem Verpflichtungsgehalt einer "Fernmoral" ergibt. 33 Unabhängig von der Beantwortung dieser Frage wird manjedoch zweierlei konstatieren können: Durch die Globalisierung hat einerseits die ethische Verantwortung des Individuums, das als Kosmopolif4 in den Blick rückt, zugenommen. Komplementär dazu wird die Menschheif5 - dies freilich von Kant vorweggenommen - zum Fluchtpunkt ethischer Reflexion. Auf der Ebene des Rechts und der Institutionen gilt es, die durch die Dynamik der Globalisierung veränderten Interaktionsmuster politischer Akteure neu zu bestimmen. Auch hier ist das Exeundum-Gebot oberster ethischer Imperativ. Kant fordert in seiner Schrift "Zum Ewigen Frieden" bereits 1795 neben der durch das öffentliche Recht zu leistenden Regelung der Beziehungen zwischen Individuen innerhalb eines Staates und der völkerrechtlichen Hegung der zwischenstaatlichen Beziehungen eine "weltbürgerliche" Verrechtlichung der Beziehung zwischen Staaten und auslän32 33
34 35
Beck 1986; 1997; pointiert im Hinblick auf die durch Globalisierung veränderte sozialwissenschaftliche Begriffsbildung Beck 2004. ,,Mit der Enttraditionalisierung und der Schaffung weltweiter Mediennetzwerke wird die Biographie mehr und mehr aus ihren unmittelbaren Lebenskreisen herausgelöst und über Länder- und Expertengrenzen hinweg filr eine Fernmoral geöffnet, die den einzelnen in den Zustand der potentiellen Dauerstellungnahme versetzt. Bei gleichzeitiger Versenkung in die Unbedeutendheit wird er auf den scheinbaren Thron eines Weltgestalters gehoben. Während die Regierungen (noch) im nationalstaatliehen Gefiige handeln, wird die Biographie schon zur Weltgesellschaft hin geöffnet. Mehr noch: die Weltgesellschaft wird Teil der Biographie, auch wenn diese Dauerüberforderung nur durch das Gegenteil: Weghören, Simplifizieren, Absturnpfungen zu ertragen ist" (Beck 1986, 219). Kritisch zum selben Thema in Bezug auf das globale "Mitleiden" Ritter 2004. Dazu Dicke 2004; Höfie 2004. Tönnies 2001, 42fi.
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dischen "Besuchern": Seine Verpflichtung des nationalen Rechts auf die Anerkennung der von der Staatengemeinschaft geteilten Menschenrechtsstandards kann sich die politische Ethik unmittelbar zu eigen machen. 36 Im Zuge der Globalisierung hat sich überdies, und von weiten Teilen der Politikwissenschaft unbemerkt, der Begriff des internationalen Rechts selbst gewandelt. Erstens ist die souveränitätsfundierte Konzeption des Völkerrechts längst an ihre Grenzen gestoßen. 37 Das prinzipiell souveränitätszentrierte Kooperationsvölkerrecht umfasst mittlerweile nicht nur auch die politische Kooperation internationaler Organe mit Regierungen sowie NGOs, sondern es hat sich auch ein die Interessen der Staatengemeinschaft als solcher repräsentierendes internationales Ordnungsrecht herausgebildet, das neben dem Gewaltverbot auch die Normen des zwingenden Völkerrechts (fundamentale Menschenrechte, Verbot von Völkermord, Apartheid und Rassendiskriminierung sowie Grundregeln des humanitären Völkerrechts) und Erga-Omnes-Verpflichtungen umfasst.'" Von diesem Wandel des Völkerrechts zu unterscheiden ist die sich in der jüngsten Resolutionspraxis des Sicherheitsrats andeutende Normsetzung durch internationale Organisationen, die es erlaubt, den Sicherheitsrat in Analogie zur innerstaatlichen Normengenese39 als "rahmengebundenen Verordnungsgesetzgeber" (Dicke 2002, 22) zu charakterisieren. Internationalen Organisationen kommt damit in der Praxis der internationalen Politik schon heute der Doppelstatus von Akteuren aus eigenem Recht und - nimmt man das Beispiel des Sicherheitsrats- von rechtssetzenden Akteuren zu. 40 Angesichts des v. a. in der Lehre von den Internationalen Beziehungen weit ver36 37 38 39
40
38
Ein Großteil dieser Menschenrechte ist heute allerdings als vertrags-und gewohnheitsrechtliche Normen Bestandteil des innerstaatlichen Verfassungsrechts, vgl. Dicke 1998b. Statt anderer Fassbender 2004. Hierzu Dicke 2000. Insgesamt wird man mit Analogien aus dem innerstaatlichen Bereich allerdings vorsichtig sein müssen. Mit guten Gründen gibt Kant seinen früheren Ansatz, internationale Verrechtlichung nach dem Modell der Staatsbildung zu begreifen (Kant 1784) zugunsten eines am genossenschaftlichen Rechtsbegriff orientierten Föderationsmodells souveräner Staaten auf (Kant 1795; vgl. dazu Dicke 1998a). Die Kategorien des integrativen Dreiebenenmodells politischer Ethik haben fur den Bereich internationaler Beziehungen v. a. heuristischen Wert, ihre Anwendung muss die Eigendynamik des internationalen Systems in Anschlag bringen. Insgesamt ist zu konstatieren, dass die Einsichten der soziologischen Institutionentheorie fur die Analyse internationaler Institutionen in den Internationalen Beziehungen noch nicht ausgeschöpft worden sind. Selbst der meist funktionalistisch ausgerichtete "Institutionalismus" in den Internationalen Beziehungen verkennt die Institutionen eigentümliche Normativität, die darin begründet ist, dass sie nicht nur die Reflexe der Interessen ihrer Mitglieder sind, sondern auch eine "Leitidee" (Hariou) verkörpern (vgl. Dicke 1999).
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breiteten Festhaltens am Konzept des souveränitätszentrierten Völkerrechts ist es hier Aufgabe der politischen Ethik, die Völkerrechtsauffassung "aus einem souveränitätszentrierten Positivismus herauszufUhren und Perspektiven aufzuzeigen, in denen seine Entwicklung als ... Weg . . . zu einem globalen Recht der Menschheit erkennbar und darstellbar wird" (Dicke 2000, 37). Auch die in der Ethik internationaler Beziehungen bislang fast gänzlich ausgesparte dritte, Individuum und Recht/Institution vermittelnde, Ebene öffentlicher Zustimmungsverfahren ist durch die Veränderungen der Globalisierung zumindest in den Bereich des Thematisierbaren gerückt. Es zählt zu den wichtigsten Aufgaben der Ethik internationaler Beziehungen, Ansätze des transnationalen Regierens41 oder der Global Governance, die bislang vornehmlich nach Möglichkeiten globaler Steuerung suchen, auch auf die Frage nach der Erzeugung von Gefolgschaft - und zwar jenseits nationaler Grenzen - hin zu befragen.
4
Exemplarische Argumentation
Die jüngste ethisch-politische Debatte hat sich an der Frage entzündet, ob Folter in Ausnahmefällen ein legitimes politisches Mittel sein kann, das hohe Rechtsgut menschlichen Lebens zu schützen. Die Debatte hat sich an zwei Fällen entzündet. Angesichts der menschenunwürdigen Vernehmungspraxis amerikanischer Soldaten auf Guantanamo Bay ist die Frage diskutiert worden, ob die körperliche Nötigung von mutmaßlich terroristisch organisierten Häftlingen durch US-Soldaten zu rechtfertigen ist, wenn durch die erpressten Informationen womöglich weitere terroristische Anschläge vom Schlage eines 11. Septembers verhindert werden können. Der Fall des entfiihrten Bankierssohns Jakob Metzler dagegen konfrontiert uns mit der Frage, ob ein Staatsbeamter für sich die Befugnis in Anspruch nehmen darf, Folter anzudrohen und notfalls zu vollstrecken, wenn dadurch Hoffnung besteht, das Leben eines entfiihrten Kindes zu retten. Die Rechtslage ist in beiden genannten Fällen eindeutig: sowohl die Allgemeine Erklärung der Menschenrechte und die sie konkretisierende Anti-Folter-Konvention von 1985 als auch das Grundgesetz verbieten die Folter ausnahmslos. Von denjenigen, die in den genannten Fällen die Anwendung von Folter als gerechtfertigt ansehen, werden deshalb Ausnah41
Statt anderer Zürn 1998.
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men vom generellen Folterverbot gefordert. Für eine ethisch-politische Bewertung ist es entscheidend, wie die Forderungen nach einer "Ausnahme" jeweils gerechtfertigt werden und wie die Spannung zwischen situativ nämlich im Ausnahmefall - gerechtfertigtem politischen Handeln und Recht bewertet bzw. aufgelöst wird. Eine erste Strategie der Rechtfertigung geht von der faktischen Existenz eines Zustandes aus, der von der Rechtsgeltung ausgenommen ist: ein sog. "rechtsfreier Raum". In diesem Sinne sind von der Bush-Administration Verhörmethoden auf Guantanamo, aber auch die jahrelange Inhaftierung von Verdächtigen ohne Anklage und Rechtsbeistand legitimiert worden. Unabhängig davon, ob man ideologiekritisch so weit geht, diese Bezugnahme auf den Ausnahmezustand "in der Gegenwart als das herrschende Paradigma des Regierens" (Agamben 2004, 9) zu deuten, ist diese Position ethisch-politisch unhaltbar: Erstens wird durch sie der kategorische Anspruch des Exeundum-Gebotes in Frage gestellt - rechtsfreie Räume darf es nicht geben. Sie ist aber überdies im Hinblick auf den durch das geltende Völkerrecht erreichten Grad der Verrechtlichung auch falsch, es gibt keine rechtsfreien Räume: Basale Prinzipien des humanitären Völkerrechts sind Bestandteil des internationalen Ordnungsrechts, das absolute Folterverbot Bestandteil des allgemeinen Völkerrechts und damit nicht an den Kombattanten-Status der Gefangenen gebunden. 42 Schwieriger liegt der Fall, wenn mit "Ausnahme" ein Zustand gemeint ist, in dem der moralische Sinn der Rechtsordnung sich vermeintlich verkehrt, solange am geltenden Recht strikt festgehalten wird. Nur dieses Verständnis von Ausnahme kann ja überhaupt auf den Fall von Folter im demokratischen Rechtsstaat angewendet werden. In diesem Sinne ist argumentiert worden, dass Folter im Ausnahmefall als Beseitigung eines Hindernisses der Freiheit und damit als dem legitimen Rechtszwang verwandtes Instrument zur Durchsetzung des primären Rechtszwecks - Freiheitssicherung - angewendet werden dürfe.'3 Aus Sicht der hier vorgestellten politischen Ethik ist diese utilitaristische, auf die Maximierung von Freiheit zielende Position wegen der in der Folter flagrant verletzten Menschenwürde unhaltbar. 44 Der demokratische Verfassungsstaat darf sich auch in der seine Logik aushebelnden Gefahr nicht aufgeben, ja nicht ein42
43 44
40
Mit Bezug auf die Folterpraxis des US-Militärs Sutter 2004. Auch der amerikanische Supreme Court hat den Terrorismusverdächtigen-und zwar amerikanischen Staatsbürgern wie Kriegsgefangenen - Zugang zum amerikanischen Rechtssystem zugesprochen (vgl. Domschneider 2004). Brugger 1996. Zur detaillierten Auseinandersetzung mit Brugger siehe Dicke 2003.
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mal relativieren. Seine Stärke besteht in der Bewahrung seiner moralischen Autorität - "[a]n dieser bricht sich letztlich alle physische Gewalt" (Isensee 2004, 108). Zu diesem Zweck ist- so rigoros es klingen mag - das deontologische Gebot der unbedingten Regeltreue höher zu werten als das utilitwstische Maximierungsgebot Ein Denken, das Ausnahmen unter keinen Umständen zulässt, disqualifiziert sich aber letztlich selbst, es ist erstarrt. Die Rechtfertigung von Ausnahmen muss deshalb möglich sein, aber strengen Bedingungen unterstehen: Die Suspension der Anwendung einer Regel darfnur im Sinne ihrer Verwirklichung erlaubt sein. Solche durch ein "Erlaubnisgesetz'"5 gerechtfertigte Ausnahmen müssen erstens auf die Duldung institutionell verfestigter Formen des Unrechts beschränkt bleiben und dürfen zweitens nicht gegen einen politisch-ethischen Grundsatz verstoßen. Diese beiden Bedingungen sindjedoch im Fall der Folter nicht erfiillt. Aus politisch-ethischer Perspektive war die Folterandrohung des Frankfurter Polizeipräsidenten unrecht, jeglicher Versuch sie als "Nothilfe" auszuweisen, gibt den moralischen Grund des demokratischen Verfassungsstaats, die menschliche Würde, politischer Verfugung anheim.
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Klaus Dicke I Florian Weber
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Ethik und Recht Grundlegung einer republikanischen Verfassungsstaatslehre Rolf Gröschner I Oliver Lembcke
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Zwei Seiten der Ethik
Recht haben wollen wir alle. Wissen wir aber auch, was wir an unserem Recht haben? Schon die schlichte Antwort, wir hätten uns daran gewöhnt, überall von Recht umgeben zu sein, wäre ein ethischer Ansatz, heißtethosdoch ursprünglich "Gewöhnung". In dieser Ursprungsbedeutung hängt das griechische Wort auf dieselbe Weise mit "Wohnung" zusammen wie die deutsche Übersetzung: "Gewöhnen" kannman sich an manches; eine "GewohDheit" dagegen setzt mehr und anderes als äußere Anpassung voraus, nämlich eine gewisse innere Einstellung. Daraus kann eine Grundhaltung werden, die "Charakter" zeigt. Auch das ist in der ursprünglichen Bedeutung von "ethos" enthalten. Der Charakter muß demnach immer erst gebildet werden. ,,Denn durch das Handeln in den Alltagsbeziehungen zu den Mitmenschen werden die einen gerecht, die andem ungerecht. Und durch unser Handeln in gefährlicher Lage, Gewöhnung an Angst oder Zuversicht, werden wir entweder tapfer oder feige".' Diese Einsicht des Aristoteles aus dem Zweiten Buch der Nikomachischen Ethik ist nicht im mindesten überholt, auch wenn die Alltagsbeziehungen und Gefahrenlagen der heutigen Welt gegenüber der griechischen Antike völlig verändert sind. Gerechtigkeit ist ebenso wie Tapferkeit und die anderen ethischen Tugenden im aristotelischen Sinne (etwa Besonnenheit, Friedfertigkeit oder Wahrhaftigkeit) eine Charaktereigenschaft geblieben, die sich nur im Zusammenleben bilden kann. Diejenige Tugend, deren Ethos Recht und Ethik zusammenhält, ist die Rechtschaffenheit. Sie bringt den
Aristoteles 1979, 29 (NE li 1, 1103b) in der Übersetzung von Franz Dirlmeier mit Änderung von "Verhalten" in "Handeln" (praxis).
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Rolf Gröschner I Oliver Lembcke
ethischen Sinn des Rechthabens auf den Begriff: im Willen, Recht zu haben, die Ordnung des Rechts zu schaffen. Rechthaberei hingegen zerstört eine solche Ordnung, weil sie das Bedürfnis, Recht zu haben, über das Recht stellt. Das Zusammenleben kann so nicht gelingen; allenfalls wird der bis zum Wahn gesteigerte Trieb befriedigt, Recht zu bekommen- Kohlhaas läßt grüßen. ,,Ethik" mit Aristoteles auf das gelingende Zusammenleben in einer selbst zu gestaltenden Ordnung zu beziehen und diese Ordnung von der "politischen" Natur des Menschen her zu bestimmen,2 erlaubt eine begrifiliche Unterscheidung von der ,,Moral". Moral, aus dem Lateinischen von mos (Plural mores), verweist ihrer Wortgeschichte nach im Kern aufeinen vergleichbaren Bedeutungshorizont wie die Ethik: Beide Wörter beziehen sichaufGewohnheiten und Gebräuche, auf den "way oflife" und verbinden sich mit der Frage nach dem guten, gerechten oderrichtigen Lebensowie den Tugenden, die ein solches Leben befördern. Daher werden sie oftmals nicht nur in der Alltagssprache, sondern mitunter auch in der wissenschaftlichen Kommunikation als Synonyme verwendet.3 Philosophiegeschichtlich betrachtet, liegen die Dinge jedoch anders: In aristotelischer Tradition wird hier die Ethik von der Metaphysik (als Bestandteil der theoretischen Philosophie) unterschieden und als praktische Philosophie verstanden,4 welche die Gewohnheiten, Sitten und Gebräuche zum Gegenstand hat. Vor diesem Hintergrund wird das Verhältnis zwischen Moral und Ethik als eine Art der Arbeitsteilung verstanden, wonach jene den BestandanWerten und Wertvorstellungen urnfaßt, deren Rechtfertigung und kritische Interpretation hingegen von dieser besorgt wird. 5 Neben dieser traditionellen Sichtweise hat sich eine weitere, an Kant orientierte begriflliche Differenzierung herausgebildet, die Habermasens Unterscheidung eines ethisch(-politischen) und eines moralisch(-rechtlichen) Diskurses aufgenommen hat.6 Diese Differenzierung trägt dem Umstand Rechnung, 2 3 4
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Aristoteles 1991,210 (Pol. I. 2, 1253a): "physei politikon zoon". Amstutz 1999,2. "Ethik als praktische Philosophie - Die Begründung durch Aristoteles" behandelt eingehend Höffe 1992, 38ff. In diesem Sinne hat George Edward Moore (1903, Kap. I,§ 2, 2.) Ethik als die "allgemeine Untersuchung dessen, was gut ist" bezeichnet. Viel zitiert wird in diesem Zusammenhang auch Luhmanns ( 1989, 1990) Formel von der "Ethik als Reflexionstheorie der Moral", mit der er gleichwohl die Frage nach dem guten Leben als Aufgabe aus dem Bereich der Ethik - systemtheoretisch konsequent - verabschiedet. Die Akzente werden im Originaljedoch anders gesetzt: Moralische Diskurse "zielen", so Haberm!15, "auf die unparteiliche Regelung von Handlungskonflikten. Anders als die ethischen Überlegungen, die am Telos je meines ode_r je unseres guten oder nicht-verfehlten Lebens orientiert sind, verlangen moralischeüberlegungeneine vonjeder Egobzw. Ethnozentrik gelöste Perspektive" (1994, 127). Der moralische Standpunkt verbindet sich bei Habermas mit dem Gedanken der Verallgemeinerbarkeit von Geltungsansprüchen, ethische Diskurse hingegen dienen seines Erachtens der Rechtfertigung individueller oder kollektiver Identitäten.
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Ethik und Recht
daß mit dem Einbrechen des Prinzips der Subjektivität in die Weltgeschichte die Frage nach dem guten Leben ebenso wie die jeweilige Antwort darauf einem bis heute andauernden Reflexionsprozeß unterworfen sind/ der selbst nicht unwesentlich zu einer Prozeduralisierung von Moral und Ethik beigetragen hat. Danach läßt sich das Verhältnis nicht mehr schlicht als Gegenüberstehen moralischer Wertvorstellungen einerseits und ihrer ethischen Begründungsmöglichkeiten andererseits begreifen. 8 Die Entscheidung darüber, wie und nach welchen Prinzipien der Einzelne handeln soll, liegt bei ihm selbst- denn in einem freiheitlichen Sinne kann nur eine autonome Entscheidung Gegenstand einer moralisch begründeten Rechtfertigung sein. Ob die Kriterien zur Beurteilung des moralischen Verhaltens vom eigenen Ich, vom "Selbst", generiert werden können oder zu ihrer Sittlichkeit der kulturellen Vermittlung bedürfen- so Hegels Kritik an Kant -, darüber ist immer wieder gestritten worden, zuletzt in der sogenannten Liberalismus-Kommunitarismus-Kontroverse.9 7
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Vgl. Hegels Bemerkung über den Zusammenhang von Reflexion, Pflicht und Subjektivität in der Einleitung seiner Vorlesung über die Philosophie der Geschichte {1970c, 102): ,,Der einfache, allgemeine Gedanke weiß aber, weil er das Allgemeine ist, das Besondere und Unreflektierte- den Glauben, das Zutrauen, die Sitte- zur Reflexion über sich und über seine Unmittelbarkeit zu bringen, und zeigt dasselbe dem Inhalte nach in seiner Beschränktheit auf, indem er teils Gründe an die Hand gibt, sich von den Pflichten loszusagen, teils überhaupt nach Gründen und nach dem Zusammenhang mit dem allgemeinen Gedanken fragt und, solchen nicht findend, die Pflicht überhaupt als unbegründet wankend zu machen sucht. Damit tritt zugleich die Isolierung der Individuen voneinander und vom Ganzen ein, die einbrechende Eigensucht derselben und Eitelkeit, das Suchen des eigenen Vorteils und Befriedigung desselben aufKosten des Ganzen: nämlich jenes sich absondernde Innere ist auch in der Form der Subjektivität- die Eigensucht und das Verderben in den losgebundenen Leidenschaften und eigenen Interessen der Menschen." Anders von derPfordten2001, 55-57, bei dem die Moral (wie auch das Recht) ohnejede Rechtfertigung unter dem ,,Rechtfertigungsaspekt" der Ethik steht. Der Kommunitarismus ist eine Sammelbezeichnung fiir eine seit den achtziger Jahren zunächst in den USA zu identifizierende Strömung, vor allem in der politischen Philosophie, deren Vertreter in der Diagnose der Krisenhaftigkeit der modernen Gesellschaft (Werteverfall, Legitimitätsdefizite, Entsolidarisierung) eins sind und ebenso übereinstimmend hierfiir den durch den (Neo-)Liberalismus gepriesenen Individualismus verantwortlich machen. Die Kritik von Etzioni, Sande), Taylor, Walzer u. a. hat sich vor allem an der von John Rawls 1971 veröffentlichten "Theory of Justice" entzündet, die angelehnt an Kants Philosophie eine universelle Begründung von Prinzipien entfaltet, auf deren Grundlage ein Zusammenleben in einer Gesellschaft als gerecht gelten kann. Rawls Entwurf ist von den Kommunitariern aus unterschiedlichen Gründen kritisiert worden; nur zwei Aspekte sollen hier beispielhaft angefilhrt werden: {I) Der Mensch darf nicht - wie im Liberalismus - solipsistisch verstanden werden, sondern ist durch Kultur und Tradition geprägt; siehe hierzu die Studie von Charles Taylor 1994. (2) Der Versuch, eine universelle Geltung von Prinzipien des Zusammenlebens zu begründen, übersieht die notwendigen kulturellen Voraussetzungen jeder Gemeinschaft, filhrt zu einer Überbewertung individueller Rechte gegenüber dem Gemeinwohl und zerstört in der Konsequenz jene Grundlagen, auf denen verantwortete Freiheit erst wachsen kann. Eine solche Kritik hat exemplarisch Michael Walzer 1996 vorgetragen. Siehe zu den unterschiedlichen Kontexten dieser Debatte Forst 1994.
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Rolf Gröschner I Oliver Lembcke
Wie immer man die Ergebnisse dieser Kontroverse beurteilt, hat sie mit Blick auf den vorliegenden Kontext die Notwendigkeit einer begrifflichen UnterscheidWlg zwischen MorallUld Ethik ergeben, da sich die Frage nach dem guten Leben fiir den Einzelnen (Moralität) wie fiir die Allgemeinheit (Ethik) stellt, ohne daß die Kriterien fiir die Beantwortlillg einer solchen Frage oder gar die Antworten selbst identisch sein müßten. In der Moral geht es um das gelingende Leben des Einzelnen, abgesehen von der OrdnWlg des politischen Ganzen; in der Ethik geht es ums Ganze. 10 Zieht man die traditionale Wld die moderne UnterscheidWlg von MorallUld Ethik zusammen, so ergibt sich daraus ein weiteres Moment der DifferenziefliDg: Der Reflexionsprozeß verlangt nach einem Theorie-Praxis-Verhältnis, das die Moral von der Moralphilosophie ebenso Wlterscheidet wie die ethische Praxis, das gelingende Leben, von der philosophischen Disziplin, die sich mit den Prinzipien eines guten Lebens aller auseinandersetzt Das läßt sich in folgender Tafel veranschaulichen: Zwei Seiten der Ethik
/ Praxis
~
/ Ethik
/ Politik
Reflexion
/
/
"""
Recht
~
Moralphilosophie
Moral
/ Tugend(lehre)
"""
Ethik
/ Rechtsphilosophie Politische Philosophie
"""
"""
Während es fiir die gelebte Wld die gelehrte Moral zwei Begriffe gibtMoralliDd Moralphilosophie-, müssen gelebte Wld gelehrte Ethik mit einem einzigen Begriff auskommen. Dieser darf allerdings die ihm eigene DoppelbedeutlUlg nicht verlieren: Die erste BedeutlUlg betrifft die Praxis des Zusammenlebens;11 die zweite deren philosophische Reflexion. Metaphorisch gesprochen spiegelt sich die Praxis des Zusammenlebens in der Reflexion ihres Gelingens wider. Dies ist im folgenden genauer zu erläutern. Dazu bedarf es I0
II
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Daß es "fiir die Einzelnen wie fiir die Gesamtheit um das Ganze geht" (Meier 1995, 41 ), ist im Liberalismus der Neuzeit und im Neoliberalismus der Gegenwart aus dem Blick geraten. Zum Zusammenhang von Ethik und Politik siehe Buchheim, der den "Drehund Angelpunkt" (1991, 3) der Ethik in der VeiWirklichung dessen sieht, was der Mensch einem anderen Menschen schuldet, weil beide Menschen sind. Dafiir bedarf es der Institutionen, weil andernfalls die VeiWirk!ichung des Guten nicht allen tatsächlich "zugute" kommt. Vom griechischen Verbum "prattein" beziehungsweise vom Substantiv "praxis" fiir Handeln.
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Ethik und Recht
zunächst einer begliftliehen Bestimmung des Verhältnisses von "Ethik" und "Recht" als Gegenstand der Rechtsphilosophie. Wer von der Praxis ausgeht und diese philosophisch reflektiert, wendet nicht Philosophie auf Praxis an, sondern betreibt praktische Philosophie- und das heißt fi.ir den Bereich des Rechts Rechtsphilosophie. Sie, die Rechtsphilosophie, begnügt sich nicht mit der Frage nach adäquatenFormen und Verfahren des Rechts, sondern reflektiert seit ihren Anfangen über den substantiellen Beitrag des (,,richtigen") Rechts fiir ein gelingendes Zusanunenleben.'2 Anders als der Rechtstheorie ist der Rechtsphilosophie das Verhältnis von Recht und Ethik als "ewiges" Thema aufgegeben. Für eine ,,Rechtsethik" ist insoweit kein Platz. 13 Nur allzu leicht würde man sie zudem als eine von verschiedenen ,,Bereichsethiken" mitjeweils unterschiedlichen Gegenstandsbereichen mißverstehen. Die Ethik ist aber zunächst und vor allem ihr eigener Gegenstand, wie gesagt, in der Reflexion über das Gelingen des Zusanunenlebens. Dieser doppelte Ethikbegrifffindet sich im Bereich des Rechts selbst wieder, nämlich in der Unterscheidung zwischen Rechtspraxis und Rechtsphilosophie. Darüber hinaus wird an diesem Begriffspaar deutlich, daß sich Praxis und Reflexion keinesfalls wie Sein und Sollen zueinander verhalten. Denn die Rechtspraxis kann nicht gelingen, wenn sie den Anspruch aufgibt, "richtige" Entscheidungen zu treffen. Und die Rechtsphilosophie kann nur Rechtsphilosophie sein, wenn sie nicht vergißt, daß die Praxis des Rechts unter Entscheidungszwang steht. Dessen eingedenk und in ihrer Herkunft aus dem römischen Recht ist die iuris prudentia - die der Jurisprudenz bis heute den Namen leiht- eine "prudentielle" Wissenschaft, die bei aller Theoriebildung in den Grundlagendisziplinen (insbesondere in Rechtsphilosophie, Rechtsgeschichte und Rechtssoziologie) von den Entscheidungen der juristischen Praxis her verstanden werden muß. 14 Paradigma solcher Entscheidungen ist das richterliche Urteil. 12
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Die Staatsphilosophie ist deshalb integraler Bestandteil einer solchen Rechtsphilosophie. Dazu exemplarisch Gröschner/Dierksmeier/Henkei/Wiehart 2000. Zum Verhältnis von Rechtstheorie und Rechtsphilosophie siehe den von Roellecke 1988 herausgegebenen Sammelband "Rechtsphilosophie oder Rechtstheorie?" sowie dessen Einftlhrungsaufsatz. Auch in sprachlicher Hinsicht erweist sich das Wort "Rechtsethik" als sperrig: 1n der Interpretation als genitivus subiectivus würde dem Recht unterstellt, es bringe die Ethik selbst hervor. Und im genitivus obiectivus müßte man davon ausgehen, daß es eine eigene Ethik fiir das Recht gebe. So verhält es sich aber nicht. Vielmehr kommt es auf die - durchaus eigenartigen- Fälle an, in denen das Recht seine ethische Qualität zu erweisen hat, eine Streitigkeit richtig zu entscheiden. Für die Rückftihrung der "prudentia" auf die "phronesis" grundlegend: Gadamer 1999 in den beiden - bezeichnenderweise aufeinanderfolgenden - Kapiteln über "Die hermeneutische Aktualität des Aristoteles" (317ft) und ,,Die exemplarische Bedeutung der juristischen Hermeneutik" (330ft). Zum Vorrang der praktischen vor der theoretischen Ratio in Fragen der politischen Vernunft Buchheim 2004.
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Rolf Gröschner I Oliver Lembcke
Einheit der Jwisprudenz
Rechtswissenschaft
Rechtspraxis
~
/
Grundlagendisziplinen
Rechtsdogmatik
Juristische Praxis
~ Andere
Rechtspraktiker
/
~
/ ~
Systematik
Entscheidung
Rechtsprinzipien
/ Kritik
(Urteil)
Rechtsbegriffe
Andere Grundlagendisziplinen
Rechtsphilosophie
Richter
Rechtsinstitute
Wie die Tafel "Einheit der Jurisprudenz" vor Augen führt, sind Urteile von Richtern und Entscheidungen anderer Rechtspraktiker (etwa von Staatsanwälten, Verwaltungsjuristen, Notaren oder Anwälten) über die "Rechtsdogrnatik" mit der Rechtswissenschaft verbunden- begrifflich unterscheidbar, aber systematisch untrennbar. Die Rechtsdogmatik (d. h. die Herstellung eines lehrbaren Ordnungszusammenhangs zwischen den Begriffen, Prinzipien und Instituten des positiven, staatlichen gesetzten und garantierten Rechts) steht im Zentrum der Tafel. Sie stiftet die Einheit der Jurisprudenz, wahrt ihre Wissenschaftlichkeit und verbindet ihren (dogmatischen) Richtigkeits- mit ihrem (ethischen) Gerechtigkeitsanspruch. So wie jede juristische Entscheidung nach Richtigkeitskriterien verlangt, 15 so erweist sich die Richtigkeit ethischer Kriterien erst in der konkreten Entscheidung. Nicht Anwenden, sondern Urteilen ist daher das Geschäft des Rechts, und zwar für den Praktiker wie für den Philosophen gleichermaßen. 16 Beide sind in ihrem Streben nach der richtigen Entscheidung in einen grundlegenden Verweisungszusammenhang von Recht und Ethik gestellt, ohne den das Zusammenleben im freiheitlich verfaßten- synonym: republikanischen- Staat nicht zu begreifen ist. Diesen Verweisungszusammenhang zu beschreiben und zu bestimmen, ist Aufgabe einer republikanischen Verfassungsstaatslehre, deren Programm in den folgenden vier Abschnitten vorgestellt wird: Ethik, Recht und Republik (2), Prinzipien des Verfassungsstaates (3), Amt und Ethos (4), Bürgerliche Gesellschaft als Bürgerkultur (5). 15 16
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Die Richtigkeitskriterien ergeben sich im Regelfall aus der staatlichen Rechtsordnung sofern sie sich fiir das gelingende Zusammenleben bewährt hat. Grundlegend fiir die Rehabilitierung des Urteilens als praktisches (prudentielles oder phronetisches) Vermögen ist nach wie vor die Schrift von Hannah Arendt 1985.
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Ethik und Recht
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Ethik, Recht und Republik
Urteile bedürfen der Begründung. Im Verfassungsstaat besteht diese Begründungspflicht nicht nur für richterliche Urteile, sondern für alle Arten institutionalisierten juristischen Entscheidens. Folgt der Entscheidungszwang dem Prinzip effektiven Rechtsschutzes und damit primär einem Gebot des Rechts, ist die Begründungspflicht unmittelbare Folge einer bestimmten Gerechtigkeitsvorstellung und damit eines Gebotes der Ethik. 17 Aristotelisch gesprochen besteht die Gerechtigkeit "pros heteron": Sie sei "die vollkommene Tugend, aber nicht schlechthin, sondern im Hinblick auf den anderen Menschen (pros heteron)". Vollkommen sei sie, "weil der, der sie besitzt, die Tugend auch dem andern gegenüber anwenden kann und nicht nur für sich". 18 Für den Richter, der das Recht nur einer Partei zusprechen kann - und nicht zugleich der Gegenpartei - , bedeutet dies eine Begründungspflicht gerade gegenüber der unterlegenen Partei: Wer den Prozeß gewinnt, bekommt Recht, wer ihn verliert, die Begründung. Denn der Gewinner stellt das Warum in der Regel hintan; der Verlierer hingegen fragt nach dem Grund, warum er ins Unrecht gesetzt wurde. Wegen der Bindung des Richters an das Gesetz muß sich dieser Grund aus dem positiven Recht ergeben. Der Grund des Begründens ist aber kein rechtlicher, sondern ein ethischer: das weiterhin friedliche Zusammenleben derer zu ermöglichen, die in der Berufung auf ihr "gutes Recht" aneinandergeraten waren. Schon die Durchführung eines fairen Verfahrens, in demjede Seite ihre Auffassung vortragen durfte, dazu aber nach der Maxime "audiatur et altera pars" auch die Gegenseite gehört werden mußte, trägt zu solcher Befriedung bei. 19 Der wichtigste Beitrag ist jedoch die Begründung des Unrecht-Habens, weil ihre Unausweichlichkeit einseitiges Entscheiden von vornherein verhindert. Ein kluger Richter legt deshalb weniger Wert auf den Applaus der Gewinnerseite als auf das Schweigen der Verliererseite. Dieses Schweigen ist für ihn beredt, wenn es erkennen läßt, daß man das Urteil, Unrecht zu haben, nicht als Unrechtsurteil empfindet, sondern als Urteil, mit dem man leben kann. Das Prozeßrecht verpflichtet den Richter 17
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So wie aller Begründung ein Richtigkeitsanspruch immanent ist, so wohnt jedem politischen Verband eine legitime, weil gerechte Ordnungsidee inne. Prägnant hat diesen Gedanken bereits Augustinus im vierten Kapitel des vierten Buches "Vom Gottesstaat" (1997, 173) mit seiner Frage formuliert: "Was anders sind also Reiche (regna), wenn ihnen Gerechtigkeit fehlt, als große Räuberbanden (magna latrocinia)?" Aristoteles 1998, 205 (NE V 3, 1129b) in der Übersetzung von Olof Gigon. Zum Thema "Recht und Frieden" im Rahmen einer politikwissenschaftlichen Friedenstheorie Henkel 1999, 169ff.
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nur zur Entscheidungsbegründung als solcher; die Güte der Begründung bleibt seinem richterlichen Berufsethos überlassen, das insbesondere die Übersetzung der Begründung von der Juristen- in die Laiensprache verlangt sowie eine verständliche Vermittlung für den Verlierer. Dann wird auch das latente Spannungsverhältnis zur Sprache kommen zwischen der Rationalität und Berechenbarkeit des Rechts einerseits und den Forderungen nach materieller Gerechtigkeit aller Prozeßbeteiligten - und es wird sich gerade in jenen Fällen, da dieses Spannungsverhältnis konkret zu werden droht, zeigen müssen, ob der Richter bereit ist, sich auf die Herausforderung des Verweisungszusammenhangs von Recht und Ethik einzulassen.20 Aus diesem Verweisungszusammenhang heraus kann der Begriff des Rechts nicht rein rechtlich (positivistisch) bestimmt werden. 21 Vielmehr ist lebensweltlich zu beginnen mit der Frage, worüber in der geschilderten Praxis rechtlicher Entscheidungen und Entscheidungsbegründungen eigentlich entschieden wird. So kommt man zum Streit als dem Grundphänomen des Rechts, das im Konflikt zwischen Personen oder Gruppen in Erscheinung tritt. In Anspielung auf Heraklits Fragment könnte man sagen: Der Streit ("polemos") ist der Vater aller juristischen Dinge22 - freilich nicht der Streit als kosmisches Prinzip, sondern der argumentative ("polemische") Streit um ein obsiegendes Urteil in einer gerichtlichen Auseinandersetzung. In der Terminologie der Terminpläne kann man es täglich tausendfach auf den Gerichtsgängen lesen: "In Sachen X gegen Y" ist Termin zur Verhandlung anberaumt worden. Wenn es dann soweit ist, gelangt die "Sache X gegen Y" zum Aufruf. Jene "Sache", die hier terminiert, aufge20
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Bekannt geworden ist in diesem Zusammenhang die Formel Gustav Radbruchs ( 1990, 89): "Der Konflikt zwischen der Gerechtigkeit und der Rechtssicherheit dürfte dahin zu lösen sein, daß das positive, durch Satzung und Macht gesicherte Recht auch dann den Vorrang hat, wenn es inhaltlich ungerecht und unzweckmäßig ist, es sei denn, daß der Widerspruch des positiven Gesetzes zur Gerechtigkeit ein so unerträgliches Maß erreicht, daß das Gesetz als ,unrichtiges Recht' der Gerechtigkeit zu weichen hat." Der Streit um den Rechtsbegriff hat eine lange Geschichte. Im Kern stehen sich nach wie vor zwei Auffassungen gegenüber, siehe hierzu wie im folgenden Alexy 1992: Die Rechtspositivisten vertreten die Position, daß der Rechtsbegriff so zu fassen sei, daß er keine Elemente der Moral enthalte (in diesem Kontext hat es sich eingebürgert, von Moral statt von Ethik zu sprechen). Recht und Moral sind voneinander zu trennen - die sogenannte Trennungsthese. "Daher kann jeder beliebige Inhalt Recht sein" (Kelsen 1960, 201). Der positivistische Rechtsbegriffhängt allein davon ab, ob das Recht ordnungsgemäß zustande gekommen und sozial wirksam ist. Diejenigen, die darüber hinaus vom Rechtsbegriff gerechtes Recht verlangen, stehen in der Tradition der Naturrechtslehren. Sie verbinden das Recht mit einem - im einzelnen unterschiedlich begründeten- Anspruch auf inhaltliche Richtigkeit, der nicht aufgegeben werden kann, ohne den Rechtsbegriff selbst aufzugeben. Diels 1922, 88.
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Ethik und Recht
rufen und verhandelt wird, stammt vom gotischen Verbum "sakan" ab, das "streiten" bedeutet. 23 Etymologisch zeigt sich so ein inhaltlicher Zusammenhang: Die Sache des Rechts ist der Streit.24 Ein Rechtsstreit kann sich sowohl auf das Rechthaben als auch auf das Rechtbekommen beziehen. Beispielsweise bleibt ein verjährter Zahlungsanspruch materiellrechtlich bestehen, kann aber nach einer "Einrede der Verjährung" formellrechtlich nicht mehr geltend gemacht werden. Dieses für Rechthaber a la Kohlhaas rätselhafte Zusammenspiel von formellem und materiellem Recht ist nur zu begreifen, wenn der Rechtsbegriff den Streit umfaßt. Weil jeder Rechtsanspruch bestritten werden kann, bedarf es zu seiner Feststellung eines Verfahrens, in dem über die Einwendungen und Einreden des Anspruchsgegners ebenso entschieden werden muß wie über die Einlassungen des Anspruchstellers. Daß die Entscheidung Ergebnis einer Verhandlung ist, folgt nicht erst aus der erwähnten prozessualen Pflicht zur Anhörung der Gegenseite, sondern schon aus dem materiellrechtlichen Gegenüberstehen von Berechtigten und Verpflichteten. Da der Zahlungsanspruch des Gläubigers mit der genau entsprechenden Zahlungspflicht des Schuldners korreliert, wäre die Konstruktion eines isoliert, monologisch oder solipsistisch erhobenen Anspruchs ohne einen dazugehörenden Anspruchsgegner ein Widerspruch in sich. Das Recht ist daher von Grund auf dialogisch strukturiert:2' Als Regelung streitiger Lebensverhältnisse in Rechtsverhältnissen hat es sowohl lebensweltlich als auch rechtlich die Struktur von "Verhältnissen". 26 Von Grund auf dialogisch sind diese Verhältnisse, weil gegeneinander zu streiten miteinander zu streiten bedeutet und das Recht dieses Miteinander institutionalisiert. Diese lnstitutionalisierung, auf Dauer gestellt in und durch Institutionen, ist darum das dritte Moment des Rechtsbegriffs neben dem Streit und den dialogischen Rechtsverhältnissen.27 Die Institutionen sind dabei so einzurichten, daß die in ihnen handelnden Amtswalter die Dialogik der beiden anderen Begriffsmomente - Streit und Rechtsverhältnis - zur Geltung bringen können. Gelingt es ihnen, die Entscheidungen so zu begründen, daß auch die Unterlegenen sie im großen und ganzen akzeptieren können, ha23 24 25 26 27
Grimm 1893, Sp. 1592. Henke 1988, 2ff, 181ff. Gröschner 1982. Dialogik als Philosophie des Dialogs: Buber 1962 und Löwith 1969. Zum Rechtsverhältnis als Grundfigur der Rechtsdogmatik Savigny 1981, 6ff. Siehe Hermann Heller 1983, 253 zur Institutionalisierung von Rechtsentscheidungen durch den Staat als ein Moment ethischer Rechtfertigung staatlicher Institutionen, sofern die institutionalisierten Rechtsentscheide der ,,Anwendung und Durchsetzung sittlicher Rechtsgrundsätze dienen".
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ben sie ihren Beitrag zum Gelingen des gesamtgesellschaftlichen Lebens geleistet. Ausgefüllt wird der Verweisungszusammenhang zwischen Recht und Ethik demnach durch das Handeln von Amtswaltern in den rechtlich geregelten Verhältnissen ihres Amtes (Amtsrechtsverhältnissen) nach Maßgabe der einschlägigen Regelungen des formellen und materiellen Rechts. Diese Amtsrechtsverhältnisse bilden das Rückgrat der Republik; es ist so stark oder so schwach wie das Ethos ihrer Amtswalter (dazu 4). Der Begriff "Republik" wird mit dem in Kurzkommentaren üblichen Schlagwort "Monarchieverbot" nicht nur verkürzt, sondern verfehlt. 28 In bester alteuropäischer Tradition politischen Denkens bezieht er seinen Gehalt aus der Verweisung auf das gelingende Zusammenleben in einer freiheitlichen Ordnung: in der "politeia" des Aristoteles, 29 in der "res publica" Ciceros,30 in der "cite" Rousseaus31 oder in der "republikanischen Verfassung" Kants. 32 Mit Hobbes und Regel kann man vom republikanischen als dem "politischen Staat" sprechen/3 mit drei Länderverfassungen in Deutschland vom "Freistaat".34 Republik oder Freistaat meint eine durch Freiheit legitimierte und limitierte, am Gemeinwohl orientierte Ordnung mit einem institutionalisierten, nach dem Prinzip des Amtes organisierten öffentlichen Dienst. Ihr Legitimationsmodell ist das Modell "politischer" Herrschaft im aristotelischen Sinne, das nicht nur die despotischen Herrschaftsformen ausschließt, sondern vor dem Hintergrund jener Traditionen, die von der griechischen Polis über die römische Republik bis zum Verfassungsstaat der Gegenwart reichen, jede Herrschaft aus höherem Recht. Regiert, verwaltet, Recht gesprochen und parlamentarisch entschieden wird in der Ämterordnung der Republik nicht kraft metajuristischer Herrschaftsmacht, sondern aufgrund verfassungsgemäß zugewiesener Kompetenzen. 28 29 30 31
Eine solchermaßen formalistische Republikkonzeption verzichtet auf die Erschließung einer Tradition, die im Staatsdenken Europas in der Tat dessen "Bestes" repräsentiert: Isensee 1981, 8. Erarbeitung eines gehaltvollen Prinzips bei Gröschner 2004. Aristoteles, 1996, 47, 49, 116 (Poi.I 1 1252a, I 2 1252b und III 9 1280a): Verweisungszusammenhang zwischen der Polis als umfassender Gemeinschaft und dem gelingenden Leben aller. Cicero, De re publica I 39: ,,res publica res populi" - das Gemeinwesen als Sache des Volkes. Rousseau, Vom Gesellschaftsvertrag 16: "cite" oder - synonym- republique als ,,Form des Zusammenschlusses, die mit ihrer ganzen gemeinsamen Kraft die Person und das Vermögen jedes einzelnen Mitglieds verteidigt und schützt und durch die doch jeder, indem er sich mit allen vereinigt, nur sich selbst gehorcht und genauso frei bleibt wie zuvor".
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Kant 1983a, 204: die nach "Prinzipien der Freiheit" gestiftete Verfassung, "welche aus der Idee des ursprünglichen Vertrags hervorgeht, auf der alle rechtliche Gesetzgebung eines Volks gegründet sein muß - ist die republikanische". Hobbes 1992, 135; Hegel1970a, 441. Gröschner 2004, 372.
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Ethik und Recht
Die Prinzipien dieser Kompetenzzuweisung sowie einer kompetenzgemäßen Aufgabenerfüllung und Befugnisausübung sind in den Amtsrechtsverhältnissen der Republik Prinzipien des Rechts. Von ihnen und ihrem Verweisungszusammenbang zur Ethik ist nun zu reden.
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Prinzipien des Verfassungsstaates
Der Verfassungsstaat ist die institutionalisierte Idee der Republik. Als Konstitutionsprinzip formuliert diese Idee das Prinzip der Rechtsprinzipien eines freiheitlich zu verfassenden Staates: den Konstruktionsplan für eine Staatsverfassung, die auf vorverfassungsrechtliche Freiheit gebaut und nach verfassungsrechtlichen Freiheitsprinzipien gestaltet ist. "Konstitutionsprinzip" des Verfassungsstaates ist das Republikprinzip demnach in doppeltem Sinne: als Legitimations- und als Gestaltungsprinzip. Als Legitimationsprinzip ist es konstitutiv für die freiheitsphilosophische Rechtfertigung der staatlichen Ordnung, als Gestaltungsprinzip für deren freiheitsrechtliche Optimierung nach Maßgabe der verfassungsdogmatisch so genannten "Optimierungsgebote", die sich aus den Prinzipien der "freiheitlichen demokratischen Grundordnung" des Grundgesetzes ergeben." Die durch diese Strukturprinzipien des grundgesetzliehen Verfassungsstaates bewirkten Verweisungszusammenhänge zwischen Recht und Ethik brauchen hier nicht im einzelnen durchdekliniert zu werden. Es genügt eine knappe Bestimmung, um gewissermaßen die Grammatik des jeweiligen Prinzips und damit sowohl seine rechtliche als auch seine ethische Deklination erläutern zu können. Während "Republik" Herrschaft für das Volk bedeutet, heißt "Demokratie" Herrschaft durch das Volk. Das wichtigste Rechtsinstitut einer parlamentarischen oder repräsentativen Demokratie ist die Wahl zum Parlament als dem Repräsentantenhaus der Bürger. Für sie, die Bürger, ist diese Wahl im Verfassungsstaat "frei". 36 Wer wählt, handelt also nicht unter rechtlichem Zwang, sondern aus freiem Willen, mit seiner Wahl zur poli35
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Das Bundesverfassungsgericht bestimmt diesen in den Verfassungsschutzbestimmungen des Grundgesetzes verwendeten Begriff als "eine Ordnung, die unter Ausschluß jeglicher Gewalt- und Willkürherrschaft eine rechtsstaatliche Herrschaftsordnung auf der Grundlage der Selbstbestimmung des Volkes nach dem Willen der jeweiligen Mehrheit und der Freiheit und Gleichheit darstellt" (BVerfGE 2, I - LS 2). Mit Ausnahme des Bundesstaates gehören alle Verfassungsprinzipien des Art. 20 Abs. I GG zu dieser Ordnung: Republik, Demokratie, Rechtsstaat und Sozialstaat. Art. 38 Abs. I Satz I GG: ,,Die Abgeordneten des Deutschen Bundestages werden in allgemeiner, unmittelbarer, freier, gleicher und geheimer Wahl gewählt".
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tischen Gestaltung der gemeinsamen Ordnung beizutragen und damit ethisch. "Rechtsstaat" meint die Selbstbindung des Staates an die verfassungsmäßige Ordnung, an das Gesetz und an die Grundrechte. Wie das Beispiel der grundrechtliehen Rechtsweggarantie - d. h. der Gewährleistung des Weges zu unabhängigen staatlichen Gerichten- demonstriert, ist die rechtliche Regelung auch hier nur der äußere Rahmen. Welche Haltung die Richter an den Tag legen und wie die Bürger sich vor Gericht verhalten, verweist auf die Ethik. "Sozialstaat" ist der Verfassungsstaat, der die allgemeinen Voraussetzungen zum Gebrauch der Freiheitsgrundrechte zu gewährleisten sucht, etwa durch eine soziale Wohnungspolitik, die auch vermögenslose Bevölkerungsschichten in den Genuß des Art. 13 Abs. 1 GG ("Die Wohnung ist unverletzlich") kommen läßt. 37 Was dies genau bedeutet, hängt vom Einsatz derer ab, die für die Sozialpolitik Verantwortung tragen - von den Mandatsträgem im Parlament bis zu den Bearbeitern der Wohngeldanträge in den zuständigen Behörden. Die Art und Weise, wie sie die Antragsteller behandeln, wirkt auf ihre Klientel zurück. Nur in diesem Wechselverhältnis kann sich entscheiden, ob das Zusammenleben gelingt. Ja Der Staatsname "Bundesrepublik Deutschland" ist von den Verfassungseltern des Grundgesetzes in bewußter Anknüpfung an jene republikanische Tradition gewählt worden, die das Republikprinzip zum historisch und systematisch bestbegründeten Legitimationsprinzip eines freien Staates macht. Aber auch der erste Verfassungsstaat auf deutschem Boden wird nach dem Eingangssatz seiner Verfassung vom 11. August 1919 "Das Deutsche Reich ist eine Republik"- mit vollem Recht "Weimarer Republik" genannt_l 9 Nicht das Konstitutionsprinzip, sondern seine Nichtverwirklichung war Ursache der Weimarer Katastrophe. 40 Zu verhindem wäre sie nur durch Amtswalter und Bürger gewesen, die nach dem 37 38
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Grundlegend fiir diese, auf ,,reale Freiheit" abzielende Sozialstaatskonzeption Lorenz von Stein in seiner "Geschichte der sozialen Bewegung in Frankreich von 1789 bis auf unsere Tage" (1959). Inwieweit das Prinzip des "Umweltstaates" auch Strukturprinzip oder nur Staatsziel ist, kann hier offenbleiben. Als "Optimierungsgebot" - eine Qualität, die heute allen Verfassungsprinzipien zugesprochen wird - ist das Prinzip jedenfalls am bestmöglichen Schutz unserer natürlichen Lebensgrundlagen orientiert. Wer darin die vitalen Voraussetzungen zum Gebrauch seiner Freiheitsgrundrechte sieht, wird diesen Schutz nicht den Amtswaltern überlassen, sondern das Seine dazu beitragen. Hugo Preuß, der Vater der Weimarer Reichsverfassung, war Republikaner im Geiste Cicerosund Rousseaus (Fn. 30 und 31): Preuß 1923, 10, 18. Schon die Ernennung Hitlers zum Reichskanzler war ein glatter Verstoß gegen das Republikprinzip des Art. I WRV, weil das Führerprinzip ebenso republikwidrig war und ist wie die Instrurnentalisierung des Staates zur Durchsetzung einer rassistischen Ideologie (Gröschner 2004, 379).
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Ethik und Recht
Rousseauschen Motto "les citoyens font la cite" handeln: "Die Republikaner machen die Republik". 41 Die wehrhafte Republik des Grundgesetzes hat daraus ihre Lehren gezogen: Keine Freiheit für die Feinde der Freiheit, institutionalisiert in den Verfahren des Vereinigungs- und Parteiverbotes sowie der Grundrechtsverwirkung (Art. 9 Abs. 2, 21 Abs. 2, 18 GG), letztlich aber, wenn Abhilfe durch Amtswalter nicht (mehr) möglich ist, in die Hände der Bürger gelegt: als "Recht zum Widerstand" gegen den Freiheitsfeind nach Art. 20 Abs. 4 GG. Daß dieses Bürgerrecht nicht als Bürgerpflicht ausgestaltet ist, offenbart den Verweisungszusammenhang zwischen Recht und Ethik in dramatischer Deutlichkeit: Noch in der Untergangsphase setzt der Verfassungsstaat auf den freien Willen wehrhafter Republikaner und bleibt damit sogar im Agoniestadium institutioneller Wehrlosigkeit seinem Konstitutionsprinzip treu. Anders als die Weimarer Verfassung enthält das Grundgesetz mit der Menschenwürde ein zweites Konstitutionsprinzip, das gegenüber der Republik (Art. 20 Abs. 1 und 28 Abs. 1 GG) an die Spitze des Ersten Abschnitts ("Die Grundrechte") gerückt wurde.42 Art. l Abs. l Satz 1 GG lautet deshalb nicht "Deutschland ist eine Republik", sondern "Die Würde des Menschen ist unantastbar". Das hier "Würde" genannte Vermögen eines selbstbestimmten Lebensentwurfs ("Entwurfsvermögen") ist notwendige Bedingung für den Gebrauch von Grundrechten als Freiheitsrechten.43 Der Eingangssatz des Grundgesetzes spricht diese gänzlich unempirische, rein potentielle oder im kantischen Sinne transzendentale Fähigkeit zur Selbstbestimmungjedem Menschen- buchstäblich: je dem Menschen-kraft seines Menschseins zu, während sie zu Weimarer Zeiten als ungeschriebene Voraussetzung des Verfassungsstaates mitzudenken war. Die eine Lösung ist so gut wie die andere, die grundgesetzliche als Reaktion auf menschenverachtende Nazibarbarei jedoch historisch wohlbegründet Was die Zuordnung des Art. 1 Abs. 1 GG zum Grundrechtsabschnitt betrifft, kann man die Menschenwürde mit einer Metapher des Bundesverfassungsgerichts das "Fundament aller Grundrechte" nennen.44 In diesem Bild ist die Repu41
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Rousseau, Vom Gesellschaftsvertrag I 6 (1977, 18): "die meisten verwechseln Stadt [ville] und Polis [cite], Städter [bourgeois] und Bürger [citoyen]. Sie wissen nicht, daß die Häuser die Stadt, die Bürger aber die Polis machen". Da "cite" bei Rousseau in aristotelischer Tradition fiir "polis" steht und synonym mit "republique" verwendet wird, repräsentiert der Republikaner (citoyen) die Republik (cite). Während "Grundrechte und Grundpflichten der Deutschen" den Zweiten Hauptteil der WRV bildeten. Gröschner 1995, 32. Philosophische Grundlage: Pico della Mirandola 1990. BVerfGE 107, 275 (284); vgl. auch BVerfGE 93, 266 (293): "Wurzel" aller Grundrechte.
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blik dann das Fundament aller Verfassungsprinzipien. Verfassungsgeschichtlich wie verfassungsdogmatisch primär als Abwehrrechte gegen den Staat verstanden, können Grundrechte diesen Staat zwar limitieren, aber nicht legitimieren. Legitimationstheoretisch ergäbe sich so ein Vorrang des Republikprinzips vor dem Prinzip der Menschenwürde. Letztere läßt sichjedoch nicht auf die Konstituierung der Grundrechte als bloße Abwehrrechte beschränken. Vielmehr ist die Menschenwürde wie die Republik Teil der Idee einer objektiven Freiheitsordnung: Sie ist die zweite Seite derselben Medaille und erinnert den Verfassungsstaat - in einer legitimationslogischen Sekunde - daran, daß zu seiner eigenen Konstituierung Freiheitsrechte auch als demokratische Mitwirkungs- und republikanische Gestaltungsrechte gehören. 45 Als Gestaltungsprinzip wendet sich das Prinzip der Republik an den Gestaltungswillen von (bewußt so bezeichneten) Republikanern in den Amtsrechtsverhältnissen des öffentlichen Dienstes und in den Grundrechtsverhältnissen der Staat-Bürger-Beziehungen. Da der jeweilige Gestaltungswille jenseits -aus der Innenperspektive der Republik diesseits rechtlicher Regelbarkeit liegt, verweist er auf das Ethos der Amtswalter und auf das Ethos der Bürger. Beides ist (unter 4 und 5) noch zu vertiefen. Aber auch die Menschenwürde stellt einen Verweisungszusammenhang zwischen Recht und Ethik her: Entgegen einer verbreiteten Redeweise enthält der erste Satz des Grundgesetzes keine "Garantie" der Menschenwürde, weil der Verfassungsstaat nichts garantieren kann, was er als freiheitlicher Staat der Freiheitsfähigkeit und dem Freiheitswillen seiner Bürger überlassen muß. Wenn dies schon fur den Gebrauch der Freiheitsgrundrechte als solche gilt, dann erst recht fur deren Konstitutionsprinzip. Frei geboren, wird der Mensch nicht erst durch das Recht zum Würdeträger erkoren. Das Grundgesetz konstituiert deshalb nicht etwa die Menschenwürde; es konstatiert sie und konstituiert durch ihre Anerkennung eine in vorrechtlicher Freiheit fundierte Verfassungsordnung. Das Konstitutionsprinzip der Menschenwürde betrifft ebenso wie das der Republik die objektive Seite solch legitimationslogisch vor dem Recht liegender Freiheit. Nur: Das Republikprinzip fundiert die Freiheit aller, das Würdeprinzip die Freiheit aller Einzelnen. 45
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Die "legitimationslogische Sekunde" folgt dem aristotelischen Vorrang des Ganzen vor seinen Teilen: Gedanklich muß das Ganze der Freiheitsordnung als durch Republik und Menschenwürde gleichermaßen konstituiert gedacht werden, bevor der freiheitliche Staat als solcher Freiheitsgrundrechte garantieren kann.
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Ethik und Recht
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Amt und Ethos
Die Prinzipien des Verfassungsstaates sind als Rechtsprinzipien verbindlich. Sie konstituieren seine verfassungsrechtliche Geltung und konturieren zugleich seine konkrete Gestalt. Indem sie die Staatsorgane sowohllegitimieren als auch limitieren, haben die Prinzipien des Verfassungsstaates zudem selbst Anteil an der Verwirklichung der Öffentlichen Gewalt. Diese Teilhabe ist zunächst nur die äußere Seite der inneren Struktur des Verfassungsstaates, gewissermaßen die Übersetzung der geordneten Freiheit in eine geschichtliche Gestalt freiheitlicher Ordnung. Als Verbindlichkeit verstanden bedeutet Teilhabe darüber hinaus die Selbstverpflichtung des Staates, seinen Prinzipien gerecht zu werden, sie also in diesem Sinne "wirklich" werden zu lassen. Die dem Recht eigene Durchsetzbarkeit durch die Organe der Staatsgewalt ist daher im Falle der Verfassungsstaatsprinzipiell nur eine formale Seite der Verbindlichkeit. Gehaltvoll läßt sich über deren Verbindlichkeit erst dann reden, wenn rechtliche "Optimierung" ethisch verstanden wird: als bestmögliche "Ver-Wirklichung" der geordneten Freiheit unter den realen Bedingungen der jeweiligen Zeit. Die Verbindlichkeit der Strukturprinzipien wird weniger durch die Erzwingbarkeit vermittels staatlicher Gewalt charakterisiert als durch die Reflexivität, mit der sich der Staat qua Verfassung selbst "bindet'' und sich aufdiese Weise die - öffentliche- Aufgabe einer freiheitlichen Ordnung stellt. Diese Aufgabe ist eine Frage der staatlichen Verantwortung, die sich nicht allein aufRechtssetzung beschränkt. Mit Rechtssetzung und Rechtsdurchsetzung kann sich der Verfassungsstaat bis aufweiteres dann begnügen, wenn er daraufvertrauen darf, daß seine Entscheidungen das Ergebnis eines vernünftigen Arrangements von Institutionen und Verfahren und insoweit auch akzeptanzfähig sind. Hat er sich selbst
zum Gegenstand, steht eben dieses Arrangement in Frage. Über wieviel Mißtrauen, Kritikfähigkeit und Reflexionspotential der Staat sich selbst gegenüber verfugt, ist deswegen keine alleinige Frage des Rechts, sondern auch eine der politischen Kultur.46 In ihr zeigt sich die Wirklichkeit der geordneten Freiheit einerseits in der freiheitlichen Ordnung der Institutionen- und Amtsrechtsverhältnisse47, andererseits in der freiheitlichen Selbstorganisation der Gesellschaft. In den Institutionen und Ämtern triffi:man aufdie Wirklichkeit des Staates. Dort stellt sich alsbald heraus, wie freiheitlich die Ordnung ist, in der man lebt. 46 47
Darum hat das Verfassungsrecht, in dem immer wieder Grund und Grenze des Staates Thema sind, eine besondere Nähe zur Politik und bedarf zugleich stets aufs neue der Reflexion über das positive Recht hinaus. Hier wie im folgenden wird ein weiter Amtsbegriff zugrunde gelegt, der auch das Mandat umfaßt.
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,,Herrscht" dort ein unfreier Geist, eine obrigkeitsstaatliche Attitüde, so ist mit dem Hinweis aufdie "Verantwortung" des Entscheidungsträgers oftmals wenig auszurichten; denn diese erschöpft sich allzu schnell als rechtliche "Verantwortlichkeit" in der Gesetzesbindung des Amtsinhabers. Damit das Amt tatsächlich als eine kulturelle Errungenschaft des Verfassungsstaates erscheinen kann, bedarf es darüber hinaus der Verantwortung des Amtswalters fur seine Entscheidungen und vor der Verfassung. Wie sehr das Recht um seine eigene Unzulänglichkeit weiß, bringt im übrigen der Amtseid selbst zum Ausdruck: Welche andere Funktion hat er, als den Walter des Amtes an sein Amtsethos zu erinnern - und damit an den Verweisungszusammenhang von Recht und Ethik, der jedem Amt vorausliegt.48 Der Dienst nach Vorschrift wäre, zur Regel gemacht, der Todjeder freiheitlichen Ordnung. Bekanntlich "[lebt] der moderne freiheitliche Staat von Voraussetzungen ... , die er selbst nicht garantieren kann, ohne seine Freiheitlichkeit in Frage zu stellen".49 Die damit angesprochenen kulturellen Voraussetzungen wurzelnjedoch nicht allein im gesellschaftlichen Bereich. Auch in der Organisation ihrer Öffentlichen Gewalt ist die freiheitliche Ordnung auf eine spezifische ,,Haltung" ihrer Beamten und Angestellten angewiesen, eben aufein Amtsethos, das rechtlich nur schwer zu bestimmen und noch schwerer zu regeln ist. 50 Aus ethischer Perspektive hingegen fallt die Charakterisierung eines solchen Ethos leichter: Es handelt sich hierbei um eine Kombination aus intellektueller und charakterlicher Fähigkeit - um eine seit Aristoteles gängige Unterscheidung aufzugreifen - 51 , in der sich Sinn fiir die Wirklichkeit der geordneten Freiheit 48
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Sachlich geht dem Amt der alteuropäische Traditionszusammenhang voraus. Zu diesem muß sich der Amtswalter erst qua Eid bekennen, bevor ihm dann die Urkunde ausgehändigt wird. Besonders anschaulich zeigt sich der Verweisungszusammenhang von Recht und Ethik in der Eidesformel des Bundespräsidenten - vgl. entsprechend fiir den Bundeskanzler und die Minister Art. 64 Abs. 2 GG - gemäß Art. 56 Abs. I GG: "Der Bundespräsident leistet bei seinem Amtsantritt vor den versammelten Mitgliedern des Bundestages und des Bundesrates folgenden Eid: ,Ich schwöre, daß ich meine Kraft dem Wohle des deutschen Volkes widmen, seinen Nutzen mehren, Schaden von ihm wenden, das Grundgesetz und die Gesetze des Bundes wahren und verteidigen, meine Pflichten gewissenhaft erftillen und Gerechtigkeit gegen jedermann üben werde'." Die Verfassungsrichter leisten bei ihrer Vereidigung nach§ II BVerfGG den folgenden Eid: "Ich schwöre, daß ich als gerechter Richter allzeit das Grundgesetz der Bundesrepublik Deutschland getreulich wahren und meine richterlichen Pflichten gegenüber jedermann gewissenhaft erflillen werde." Hier fehlt der explizite Gemeinwohlbezug; Verfassungsrichter dienen dem Gemeinwohl, indem sie gerecht richten. Böckenförde 1978, 37; dazu auch ders. 1991, 112. Das zeigt sich nicht zuletzt an der Übertragung der Haftung des einzelnen Beamten nach § 839 Abs. I BGB auf die Anstellungskörperschaft gemäß Art. 34 Satz I GG: "Verletzt jemand in Ausübung eines ihm anvertrauten öffentlichen Amtes die ihm einem Dritten gegenüber obliegende Amtspflicht, so triffi die Verantwortlichkeit grundsätzlich den Staat oder die Körperschaft, in deren Dienst er steht." Siehe Aristoteles 1998, 130 (NE I 13, 1102b).
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paart mit einem Streben, zur Verwirklichung dieser Freiheit beizutragen. So, wie der Bürger Gemeinsinn benötigt, um Bürger sein zu können (s. 5), so hängt das Amtsverständnis des Amtswalters entscheidend von seinem Verfassungssinn ab, von seiner Fähigkeit also, seine spezifischen Aufgaben im Lichte der Verfassung als Ausdruck einer freiheitlichen Ordnung zu begreifen.52 Begreift er, der Amtswalter, diesen Zusammenhang nicht nur, sondern handelt er auch danach, besitzt er überdies ein gewisses Maß an Amtsidealismus- dem Verfassungspatriotismus der Bürger nicht unähnlich -, der die freiheitliche Ordnung mit Sinn und mit Leben erfiillt. Ein Zusammenleben in den Amtsstuben traditioneller oder in den Portalen virtueller Rathäuser kann so gelingen. Läßt sich ein solches Amtsethos auch nicht rechtlich vorschreiben, so hat es gleichwohl seine eigenen Grundlagen, aus denen ein solches Ethos entstehen kann. Es sind dies Bildung und Witz. Bildung heißt in diesem Zusammenhang zunächst schlicht, daß sich der einzelne Amtswalter seine eigene Auffassung zu den Anforderungen des Amtes "bildet". Daß dabei die rechtlichen Vorgaben zu beachten sind, beispielsweise jene des Dienstrechts, steht außer Frage. Ebenso fraglos bleibt jedoch der Amtswalter gerade im Amt eine frei denkende Person; daher spielt der Witz, wie sogleich noch näher auszufUhren sein wird, eine bedeutende Rolle fiir das Amtsethos. Aber die ,,Freigeistigkeit" besitzt auch fiir die Bildung des Amtswalters Bedeutung, stellt sie doch die entscheidende Voraussetzung dafiir dar, daß sich die Amtsperson an jenem Amtsverständnis orientiert, was allgemein ist, an den Routinen der Arbeitsabläufe etwa oder an den ungeschriebenen Regeln der Kollegialität_53 Nur derjenige, der frei darüber nachdenkt, woran ,,man" sich gewöhnt hat, ist in der Lage, diese Gewöhnungen zu reflektieren, sich zur eigenen Gewohnheit zu machen und dadurch eine spezifische Haltung zum Amt und dessen Anforderungen auszubilden. Eine solche Charakterbildung- ein Habitus, die Amtsgeschäfte zu fiihren - läßt sich daher weder als alleiniges Produkt von Erfahrungen oder Einstellungen erklären; vielmehr muß beides, Subjektives wie Objektives, zusammenwirken. Denn erst aus der Warte eines allgemeinen Amtsverständnisses, einer gelebten Wirklichkeit vernünftiger Amtspraxis, die sich im Laufe der Zeit ausgebildet hat, können die besonderen Fähigkeiten der unterschiedlichen Amtspersonen zum Tragen kommen und ihre Unzulänglichkeiten gegebenenfalls geglättet werden. Erst in dieser Perspektive kann der Einzelne im 52 53
V gl. etwa§ 52 Abs. 1 BBG: "Der Beamte dient dem ganzen Volk, nicht einer Partei. Er hat seine Aufgaben unparteiisch und gerecht zu erfilllen und bei seiner Amtsfilhrung auf das Wohl der Allgemeinheit bedacht zu nehmen." Siehe hierzu ausfilhrlich arn Beispiel des Karlsruher Verfassungsgerichts Lembcke 2006.
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Amt seine Besonderheit für die Allgemeinheit erkennen und einsetzen - und dadurch dem Gemeinwohl "in besonderer Weise" dienen. Die Bildung ist insofern ein doppelter Prozeß, in dem der Einzelne am Amtsethos mitwirkt und teilhat, ohne es selbst bewirken zu können. 54 Versteht man den Zusammenhang von Praxis und Persönlichkeit im Rahmen dieses Bildungsprozesses, so wird deutlich, daß ein Amtsethos kaum zum Gegenstand der Ausbildung eines Amtswalters gemacht werden kann. Es läßt sich weder lehren noch lernen- es läßt sichjedoch vorleben. Daher kommt es weniger auf die Ausbildung, sondern vor allem auf den Ausbilder an. Er kann Vorbilder gelungener Amtsfiihrung und Anschauung für ein vernünftiges Amtsverständnis liefern, insoweit eine Vorstellung vom Amtsethos vermitteln und dadurch zur "Ausbildung" eines Amtsethos beitragen. Eine solche Vermittlung durch Vorbilder setzt voraus, daß nicht allein die Sache, sondern vor allem der jeweilige Umgang mit ihr - der entsprechende Modus- zur Anschauung gebracht wird. Denn um in einer Sache richtig zu handeln, bedarf es außer Sachverstandes auch eines Sinns für die Umstände der Sache sowie für die allgemeinen Zusammenhänge, in die eine Sachentscheidung fallt. Gelingende Amtshandlungen müssen die Praxis begreifen. Sie können sich dahernicht- jedenfalls soweit es sich um rechtliche Entscheidungen handelt - auf die Anleitung durch Dogmatik und ihre Methodik beschränken, deren primäres Ziel es ist, denjuristischen Sachverstand zu schärfen. Erforderlich ist zudem, die anstehende Entscheidung in ihren ethischen Kontexten zu reflektieren und sich hierbei methodologisch aus dem Fundus jener Disziplinen zu bedienen, welche die Dogmatik des Rechts transzendieren (s. 1). Ob jemand, der in Amt und Würden steht, tatsächlich hierfür einen "sensus" besitzt oder entwickelt, ist im Grunde keine Frage der Ausbildung mehr. Im Rahmen der Ausbildung kann der Mangel an einem solchen Sinn offenbar werden, aber erzwingen läßt sich der richtige Umgang mit der Sache, welcher stets mehr als Rechtskenntnisse verlangt, eben nicht. Am Ende der rechtswissenschaftliehen Ausbildung steht ein Jurist, möglicherweise mit einem guten Examen. Ob es ein guter Jurist ist, wird sich in der Praxis erweisen. Dieser Umstand ist für die Besetzung von Ämtern als Bestandteil der Öffentlichen Gewalt bedeutsam. Wie das Amt vom Amtswalter Verantwortung für seine Entscheidungen verlangt, so verlangt es bei seiner Besetzung auch 54
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Diesen doppelten Bildungsprozeß kann man in Anlehnung an Hege! als "List der Bildung" bezeichnen. Vgl. die entsprechenden Passagen im Jenaer Systementwurf III (1976, 263- 265) sowie zur List der Vernunft Hegels Enzyklopädie§ 209 (1970b, 365). Für eine eingehendere Erörterung dieses Gedankens siehe Lembcke 2002a, I OOf.
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nach einer verantwortlichen Auswahl geeigneter Kandidaten. Der Zugang zu öffentlichen Ämtern für jeden Deutschen gemäß Art. 33 Abs. 2 GG "nach seiner Eignung, Befähigung und fachlichen Leistung" erlangt nur dann vollen Sinn, wenn diesem Recht eine Verpflichtung des Staates korrespondiert, Verfahren einzurichten, die eine solche Auslese auch gewährleisten. Da für politische Ämter die Auffassungen darüber in der Regel weit auseinandergehen, welche die angemessenen Kriterien zur Beurteilung der Eignung, Befähigung und der fachlichen Leistung seien, dienen in diesen Fällen oftmals Wahlen als Instrument der Kandidatenkür. Das darfjedoch nicht den Blick dafür verstellen, daß die legitimatorische Grundlage für die Besetzung von Ämtern die "richtige Wahl" bleibt. Im Falle von Mandaten steckt diese Richtigkeit im Akt der demokratischen Wahl. In anderen Fällen müssen sachliche Kriterien den Ausschlag geben. Dazu zählt die Befähigung ebenso wie die fachliche Leistung, beides Produkte der Bildung und Ausbildung. ss Anders hingegen bei der persönlichen Eignung. Soll diese nicht synonym als Befähigung oder fachliche Leistung verstanden werden, so ist damit eben jener Sinn für die Sache gemeint, der über den Sachverstand hinausgeht und auf den gelingenden Umgang mit ihr zielt. Es ist im Kern der Witz, der die Urteilskraft, das verständige Begreifen einer Sache, zur Klugheitwerden läßt. 56 Witzmuß man haben -ohne ihn bleibt der Kenntnisreichste ein Fachidiot, letztlich ein Dummkopf.57 Leute mit Charakter, Sachverstand und Witz für ein öffentliches Amt auszuwählen, auf daß sie es zum Wohle der Allgemeinheit ausüben, darin 55
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Unter Befilhigung werden nach herrschender Meinung vor allem die durch Ausbildung oder auf sonstige Weise (etwa durch Berufserfahrung) erworbenen Kenntnisse und F ertigkeiten verstanden. Das Kriterium der fachlichen Leistung zielt nach überwiegender Auffassung vor allem auf die fachliche Bewährung in der Berufspraxis (und spielt deswegen vornehmlich bei BefOrderungen eine Rolle). Die persönliche Eignung ninunt in der Literatur zu Art. 33 Abs. 2 GG einen etwas schillernden Platz ein. Allgemein werden damit persönliche Qualifikationsmerkmale bezeichnet, die in dem jeweiligen Amt von besonderer Bedeutung sind und daher als sachgerechte Eigenschaft angesehen werden können; dazu zählen etwa körperliche Merkmale wie Belastbarkeit, (Sekundär-) Tugenden wie Verläßlichkeit und Ehrlichkeit oder charakterliche Qualitäten wie Entscheidungs- und Durchsetzungskraft. Auch spezifische intellektuelle Fähigkeiten werden genannt wie etwa die Auffassungsgabe. In diesem Sinne läßt sich der Witz eher zur persönlichen Eignung zählen. Vgl. hierzu Kants 1983b, 511 Bestimmung in seiner ,,Anthropologie in pragmatischer Hinsicht" von 1798 in § 41: "So wie das Vermögen, zum Allgemeinen (der Regel) das Besondere aufzufinden, Urteilskraft, so ist dasjenige: zum Besonderen das Allgemeine auszudenken, der Witz (ingeniurn)." Ausfiihrlicher zum Witz Gabriel2003. Kant 1983b, 515f: ,,Dem es an Witz mangelt, ist der stumpfe Kopf(obtusurn caput). Er kann übrigens, wo es auf Verstand ankommt, ein sehr guter Kopf sein; nur muß man ihm nicht zumuten, den Poeten zu spielen ... Der Mangel der Urteilskraft ohne Witz ist Dummheit (stupiditas). Derselbe Mangel aber mit Witz ist Albernheit. - Wer Urteilskraft in Geschäften zeigt, ist gescheut. Hat er dabei zugleich Witz, so heißt er klug. Der, welcher eine dieser Eigenschaften bloß affektiert, der Witzling sowohl als der Klügling, ist ein ekelhaftes Subjekt."
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besteht die nicht eben geringe Verantwortung einer Auswahlkommission. 58 Da der Witz anders als die anderen Eigenschaften nicht gebildet werden kann, sondern von der Persönlichkeit ins Amt mitgebracht werden muß, ist hier die Verantwortung für die "richtige Wahl" besonders hoch. Ohne Witz des Amtswalters fehlt es an der Fähigkeit, mit der Sache angemessen umzugehen; es fehlt ihm an einem modus vivendi - oder: da es sich um eine öffentliche Sache handelt, an einem republikanischen Modus. 59 "Republikanischer Modus" ist der Begriff der Praxis, weil er die begriffene Praxis zum Ausdruck bringt. Er erwächst qua Bildung aus der ethischen Anstrengung, den Anforderungen des Amtes gerecht werden zu wollen. Der Witz läßt diesen Willen wirklich werden.
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Bürgerliche Gesellschaft als Bürgerkultur
Das Amt ist die kulturelle Seite des Verfassungsstaates. Es ist en miniature der Bauplan des Konstitutionalismus, der zwischen Staat und Gesellschaft aus Gründen der Freiheit unterscheidet, die Öffentliche Gewalt teilt und die einzelnen Staatsorgane an Recht und Gesetz bindet - zum Wohle aller. Eine kulturelle Errungenschaft ist das auf diese Weise eingehegte Amt vor allem deswegen, weil es das Ergebnis eines Lernprozesses darstellt, der das Selbstverständnis über die bürgerliche Gesellschaft hinausgehend dauerhaft geprägt hat: Wie die Erfindung des Politischen bei den Griechen oder die soziale Verantwortung im Anbrechen der Moderne jeweils spezifische Antworten auf den gesellschaftlichen Umgang mit freiheitlicher Selbstorganisation gegeben haben, so ist auch die "Erfmdung" des Verfassungsrechts in der Neuzeit zu einem bleibenden Moment legitimatorischer Grundausstattung des Staates geworden. Diese Momente bedürfen der "Hege und Pflege"- etwa durch Politiker und Juristen-, um weiterhin im Selbstverständnis einer Gesellschaft präsent zu bleiben, eben weil sie sich nicht "von selbst verstehen". Wer die Früchte ernten will, muß den Boden dafür bestellen. Dies gilt nicht nur für den Ackerbau, sondern auch und gerade für die freiheitliche Ordnung, die daher bereits in diesem eher alteuropäischen Sinne als eine Leistung zu kultivieren ist.60 Daß sich dabei der Staat zunehmend selbst um seine eigenen V oraussetzun58 59 60
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Der zu wünschen ist, daß in ihr wiederum hinreichend Menschen mit Witz sitzen. Zum Begriff siehe Gröschner 2004, 425 und Lembcke 2002b, 51. Einen überblick über die geschichtliche Entwicklung der Wortbedeutung des Kulturbegriffs bietet Perpeet 1984.
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Ethik und Recht
gen zu sorgen hat, und zwar im doppelten Sinne des Wortes, läßt sich einerseits an der wachsenden Bedeutung der Aufgaben des Kulturstaates ablesen, andererseits an seinen begrenzten Handlungsspielräumen, durch geeignete Rahmenbedingungen bürgerliches und bürgerschaftliebes Engagement Zu fördern.61 Soll nicht der untaugliche, weil freiheitswidrige (s. 4) Versuch unternommen werden, Ethik durch Recht zu substituieren, so kann ein Kulturstaat nur im Verein mit einer Bürgerkultur wirken, die aus der engagierten Teilnahme von Bürgern - Citoyens beziehungsweise Republikanern - an den Dingen des öffentlichen Lebens erwächst. Ebenso untauglich - und letztlich auch freiheitswidrig - ist darüber hinaus die Gleichsetzung von Kultur und Ethik. Unbenommen bleibt jedem (Bürger) das Recht, mehr Engagement von anderen oder sich selbst zu fordern. Gleichwohl sind solche Aufforderungen, so sinnvoll sie aus ethischer Perspektive sein mögen, fiir die Kultur folgenlos. Denn anders als die Ethik oder das Recht ist die Kultur unentschieden und zweideutig: der eine feiert ein bestimmtes Ereignis, der andere leistet aus demselben Anlaß Trauerarbeit. Man kann vielleicht sagen, daß die Kultur das Selbstverständnis einer Gesellschaft auf der Grundlage getroffener Entscheidungen und daraus folgender Unterscheidungen repräsentiert. Man muß dann aber hinzufügen, daß sie notwendigerweise stets die Alternative der Entscheidung mit zur Sprache bringt, um ihrer Repräsentationsfunktion gerecht werden zu können. Insofern werden aus kultureller Perspektive Phänomene stets doppelt beschrieben und bewertet. 62 Demgegenüber zielen Ethik und Recht ihrem Anspruch nach auf eindeutige Beurteilungen von Fällen - anders ließe sich auch gar nicht entscheiden. Für sie sind die Dinge richtig oder falsch, gut oder böse, Recht oder Unrecht. Tertium non datur. Die Kultur hingegen will nicht entscheiden, sondern liefert eher als eine Art Gedächtnis der Gesellschaft die unterschiedlichen Möglichkeiten zu entscheiden.63 Ihre Richtigkeit zielt auf den richtigen Umgang mit einer anstehenden Entscheidung, auf das Wie, 61 62
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Zum Begriff und den Aufgaben des Kulturstaates siehe etwa die Referate von Grimm und Steiner 1984 über den ,,Kulturauftrag im staatlichen Gemeinwesen" auf der Tagung der Deutschen Staatsrechtslehrer in Köln. Dieser Gedanke schließt an Baeckers Studie 2001 über den Kulturbegriff an; er verbindet sich mit der Einsicht, daß ,,Kultur Konstitutionserfahrung [ist]. Und sie ist dies prinzipiell immer in zwei Varianten, nämlich einmal als Feier des Konstituierten, als Absicherung, Bestäti~g. Verneigung und Besiegelung, und ein anderes Mal als Kritik des Konstituierten, als Uberschreitung, Zweifel, Verletzung, Unbehagen und Verwerfung" (ebd., 89). Zum Verständnis der Kultur als gesellschaftliches Gedächtnis siehe das Kapitel "Gedächtnis" in Lulunanns ,,Die Gesellschaft der Gesellschaft" 1997, 576-594 sowie seine Aufarbeitung der Kultur als "historischer Begriff" 1995, 31- 54.
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und nicht auf das Ergebnis, auf das Was . Kulturelle Argumente sind in dieser Weise stets "ästhetisierend", es muß "irgendwie passen", auch um den Preis, daß Routinen über Bord geworfen oder Zuständigkeiten geändert werden müssen. Daraus entsteht weniger Sinnstiftung als vielmehr Unsicherheit. Und doch ist es eben diese Unsicherheit, aus der Interpretationsspielräume entstehen und auf deren Grundlage dann bislang scheinbar festgelegte Entscheidungen ins Wanken gebracht werden können. Kultur ist daher auch nicht die Summe aller Werte, wie landläufig angenommen wird; sie liefert zugleich die "passenden" Gegenwerte und stellt die Bewertung für eine Entscheidung frei, die sich mithin im Rahmen der angebotenen Unterscheidung bewegen kann. 64 In diesem Sinne erinnert die Kultur sowohl das Recht als auch die Ethik an die prinzipielle Offenheit jeder Zukunft, auch jener der Bürgerkultur.65 Ein Citoyen ist ohne den Bourgeois nicht zu haben. Der Verfassungsstaat fängt diesen Umstand ein, indem er dem "paradoxen Charakter des Selbstbewußtseins"66 jenes selbstbewußten Bürgers entgegenkommt, der zugleich allgemein und besonders sein will: Das Recht sichert ihm die Möglichkeit, sich individuell zu profilieren und daher jeden als das anzuerkennen, wofür er selber gelten willals freie Person. 67 Und aus Sicht der Ethik dürfte die Unsicherheit, die aus einer prinzipiell offenen Zukunft erwächst, ein willkommener Antrieb für den Menschen sein, seinen - wie man heute sagen würde- inneren Schweinehund zu überwinden und sich zu zivilisieren, ganz so wie es Kant in seiner "pragmatischen Anthropologie" als die Bestimmung des Menschen formuliert hat: "Der Mensch ist durch seine Vernunft bestimmt, in einer Gesellschaft mit Menschen zu sein und in ihr sich durch Kunst und Wissenschaften zu kultivieren, zu zivilisieren und zu moralisieren; wie groß auch sein tierischer Hang sein mag, sich den Anreizen der Gemächlichkeit und des Wohllebens, die er Glückseligkeit nennt, passiv zu überlassen, sondern vielmehr tätig, im Kampf mit den Hindernissen, die ihm von der 64 65
66 67
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Siehe Baecker 2001 , 9. Gerade für Recht und Ethik gilt, was Baecker 200 I, 81 über den "Einwand" der Kultur gegenüber der Gesellschaft insgesamt sagt: ,,Aus dem Blickwinkel der Kultur sind die Strukturen der Gesellschaft immer eine Spur zu eindeutig, immer eine Spur zu festgelegt auf das, was sie sind, immer eine Spur zu unbeweglich gegenüber alternativen Fassungen ihrer selbst, immer eine Spur zu vergeBlich gegenüber alten Versprechungen und Erwartungen." Diese Formulierung wie auch der nachfolgende, Hege! paraphrasierende Gedanke finden sich bei Siep 1992, 122. "Während gemeinsame Bedürfnisbefriedigung", so Siep 1992, 122 treffend, "auch in hierarchisch-despotischen Gruppen möglich ist, verlangt die gemeinsame Entdeckung und Verwirklichung des Selbstbewußtseins die rechtlich-politische Herrschaft."
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Rohigkeit seiner Natur anhängen, sich der Menschheit würdig zu machen."68 Bei aller Differenz der philosophischen Systeme ist dies im Ergebnis eine "aufgeklärte" Reformulierung der aristotelischen Ethik: Der Mensch ist durch seinen Iogos bestimmt, ein zoon politikon zu werden und sein ethos so zu bilden, daß gemeinsames Leben in Freiheit gelingt. Dafiir muß er zunächst und vor allem das Leben, sein Leben, ernst nehmen- ohne deswegen stets und überall ernst zu sein. Aber wenn das Zusammenleben gelingen soll, dann kommt es darauf an, was der Einzelne mit seinem Leben anfangt. Er soll, so Kant und Aristoteles übereinstimmend, "etwas" aus seinem Leben machen, was ihn zum Menschen macht, was ihn im eigentlichen Sinne des Wortes teilhaben läßt am Leben. Egal, wofiir sich der Mensch entscheidet, entscheiden muß er sich in jedem Fall, weil er anders als die Kultur nicht im Zustand des Unentschiedenen und Zweideutigen verharren kann.69 Bereits in diesem Sinne kann man vom "Ernst des Lebens" sprechen, über die basale menschliche Erfahrung nämlich, daß Entscheidungen zum Leben gehören und die Alternativen, die zur Entscheidung standen, zwar im biographischen wie im kulturellen Gedächtnis präsent bleiben (können), aber nach der Entscheidung nicht mehr in gleicher Weise zur Verfügung stehen. Das Leben ernst nehmen, meint daher mehr, als dem Ernst des Lebens zu begegnen: Es geht um die Verantwortung fiir die eigenen Entscheidungen und damit um die Frage, ob und in welcher Weise man sichvor anderen wie vor sich selbst - fiir seine Entscheidungen rechtfertigen kann. Daß es sich hierbei um eine mitunter unbequeme Frage handelt, liegt auf der Hand. Hierzu dürfte aber nicht zuletzt auch die Kultur ihren Beitrag leisten. Denn sie ignoriert nicht nur den Entscheidungszwang, sie liefert auch keine Begründungen - sondern allenfalls Möglichkeiten einer Begründung. Entscheidungen zu treffen und entsprechende Begründungen zu leisten, das sind, wie bereits angedeutet, die Aufgaben von Recht und Ethik. Vor diesem Hintergrund wird nun auch deutlich, welche Entlastung das Recht fiir das Gelingen des Zusammenlebens bedeutet: Wer rechtschaffen lebt, lebt "im Recht". Ein solches Leben zu führen, läßt sich leicht rechtfertigen - vorausgesetzt, daß es sich um das Recht einer Republik handelt. 68
Kant 1983b, 678.
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Und wenn er dies wollte, so ist auch dies selbstredend eine, nämlich seine Entscheidung.
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Die Kultur kennt die "Gegenkultur" zur Republik: die Despotie. Gerade in der deutschen Geschichte hängt die Entwicklung des Verfassungsstaates- im ganzen wie auch der einzelnen Verfassungsprinzipien- eng mit den "Gegenwerten" jener Gegenkultur zusammen, deren Überwindung fiir die "politische Kultur"70 der Bundesrepublik prägend geworden ist. 71 Gleichwohl handelte es sich um ein Mißverständnis, wollte man hier von einem "Kampf der Kulturen" sprechen, denn dies Diktum übersieht nur allzu leicht, daß die Kultur selbst aus Kämpfen hervorgegangen ist, und zwar in Kämpfen mit den "Hindernissen", wie Kant schreibt, die dem Menschen "von der Rohigkeit seiner Natur anhängen". Das Despotische der Despotie beschränkt sich nicht allein auf die Herrschaftsform; auch demokratische Mehrheiten können despotisch sein, sofern die Minderheit keine reale Chance besitzt, selbst zur Mehrheit werden zu können. Deshalb genügt im Bereich der Politik zur Rechtfertigung derer, welche die Gesetze erlassen, kaum der Hinweis aufs Recht oder die Rechtschaffenheit des Gesetzgebers. Die Politik ist in dieser Weise nicht durch das Recht entlastet, eben weil sie auf die Verrechtlichung politischer Entscheidungen zielt. Sie muß im "Kampfums Recht" die Richtigkeit ihrer Entscheidungen öffentlich begründen - nämlich der Form nach vor dem Forum der Öffentlichkeit und ihrem Anspruch nach zum Wohle der Allgemeinheit; und sie sieht sich deswegen stets dem Einwand ausgesetzt, ob man politische Entscheidungen nicht anders und besser treffen könnte. Wie offen sich die Politik fiir Einwände dieser Art zeigt, ist eine Frage der Kultur; welchen Beitrag das politische Handeln zum Gemeinwohl leistet, ist eine Frage der Ethik; und welche Form zur Verwirklichung politischer Ziele gewählt wird, ist eine Frage des Rechts. Da aber die Rechtsform einen nicht unwesentlichen Anteil an der Vernünftigkeit von Entscheidungen besitzt und das Recht zu seiner eigenen Rechtfertigung auf die Ethik angewiesen bleibt, liegt die eigentliche Vernunft des Verfassungsstaates in diesem Verweisungszusammenhang. Er ist Bestandteil des kulturellen Gedächtnisses einer Gesellschaft, die in einer freiheitlichen Ordnung lebt - eine Ordnung, die aus Kämpfen um "ihre" Kultur hervorgegangen ist. Die Grenzen zwischen der Hochkultur, Volkskultur oder Subkultur mögen sich in der Moderne auflösen, aber der Unterschied zwischen der Kultur und der 70 71
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Unter "politischer Kultur" ist hier jener Ausschnitt der Kultur zu verstehen, der sich auf die Bedingungen des öffentlichen Zusammenlebens bezieht. Bereits ein Blick auf die Bestimmungen der "wehrhaften Republik" (s. 3) genügt, um zu verdeutlichen, wie stark der Verfassungsstaat von der Präsenz auchjener "Gegenwerte" lebt, die zu verhindern er sich um seiner Freiheitlichkeit willenauf die Fahne geschrieben hat.
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Gegenkultur bleibt- auch wenn beide in der Kultur präsent sind. Denn die Zweideutigkeit der Kultur macht den "Kampf um die Kultur" überhaupt erst notwendig. Das gilt auch fiir die freiheitliche Ordnung des Verfassungsstaates mit seinen beiden Konstitutionsprinzipien der Menschenwürde und der Republik. Im Unterschied zu anderen Formen politischer Ordnung muß der Mensch seine Würde im Verfassungsstaat nicht mehr unter Beweis stellen. Jedermann hat sie ohne Ansehen seiner konkreten Existenz. Wer ein Leben im Bewußtsein führt, daß die res publica nicht garantiert werden kann auch nicht durch die Republik - und diese Einsicht in der Praxis mit Hirn und Herz handelnd umsetzt, der nimmt den Kampf gegen die immer möglichen "Gegenkulturen" auf und erweist sich darin als ein Bürger, der des Glücks in Freiheit und Frieden zu leben würdig ist.
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Umwelt- und Tierethik (Bioethik I) Nikolaus Knoepffler
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Begriff und Gegenstand
Der Begriff "Bioethik" ("bioethics") wurde erstmals von V an Rensselaer Potter 1970 mit seinem Artikel Bioethics: the Science ofSurvival in die Debatte eingeführt. Der Begriffist aus zwei ursprünglich griechischen Worten gebildet, den griechischen Worten "bios" fiir Leben und "ethos" fiir Gewohnheit, Brauch. Van Rensselaer wollte damit ethische Überlegungen in die Debatte einbringen, die dazu beitragen, fiir alle Menschen akzeptable Lebensbedingungen zu schaffen und ein "gutes" Überleben (,survival ') aller zu erreichen. Das in medizinethischen Fragen äußerst renommierte Kennedy-lnstitut an der Georgetown University in Washington, D. C. verwandte jedoch kurz darauf einen auf medizinethische Fragestellungen eingeengten Bioethikbegriff in der Debatte (vgl. Reich 1995).' Dieser Gebrauch des Worts Bioethik hat sich in der angelsächsischen Diskussion vielfach eingebürgert und wird auch als Kurzform von "biomedical ethics" verstanden, ein Begriff, der ebenfalls fiir denselben Gegenstandsbereich verwendet wurde (vgl. den Titel des Werks von Beauchamp/Childress 2001 [1979]). Im deutschsprachigen Raum wird der Begriff "Bioethik" manchmal mit den Positionen einer utilitaristischen Bioethik verbunden (z. B. aktuell Kuhse/Singer 1999; Harris 2001). Es hat sich darum hier sogar eine Gegenbewegung als "Anti-Bioethik" gebildet. Im Folgenden wird der Begriff "Bioethik" beibehalten, aber in einer weiteren Definition gebraucht: Bioethik wird als diejenige Teildisziplin der Augewandten Ethik verstanden, die sich in methodischer und reflektierter Weise mit den Sachverhalten befasst, die "den verantwortlichen Es ist wohl nicht übertrieben, zu sagen, dass mit der Gründung des Kennedy-Instituts und fast zeitgleich des Hastings Centers, das den Begriff in ähnlicher Weise gebrauchte (Callahan 1973}, die moderne Bioethik ihren Anfang genommen hat. Mit Verweis auf Daniel Callahans Gebrauch von "Bioethics as a Discipline" in der ersten Nummer der Hastings Center Sturlies nahm die Library ofthe Congress 1974 das Schlagwort "bioethics" auf(vgl. Düweii/Steigleder 2003, 21).
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Nikolaus Knoepffler
Umgang des Menschen mit Leben " (Korff 2000, 7-8) und der Natur betreffen. Konkret heißt das: Bioethik wird als der Teil Allgewandter Ethik verstanden, der sich "mit den moralischen Dimensionen in den von den Biowissenschaften betroffenen Handlungskontexten" (vgl. Rehmann-Sutter 2002, 247) befasst. In diesem Beitrag geht es insbesondere um die Bereiche Umwelt einschließlich der Auswirkungen aufkommende Generationen sowie tierethische Fragestellungen. 2 Dabei entwickle ich in einem ersten Schritt den ethischen Bezugsrahmen für eine bioethische Urteilsbildung. Mit seiner Hilfe behandle ich drei ausgewählte Problemfelder, die einen Eindruck von der Breite bioethischer Fragestellungen abgeben: das Problem des Umgangs mit der Reduktion von umweltschädlichen Substanzen als Beispiel fiir ein klassisches umweltethisches Problem, das Problem sich ändernder Bevölkerungsstrukturen in ihren Auswirkungen fiir nachfolgende Generationen und deren Lebensbedingungen im Rahmen der erweiterten umweltethischen Fragestellung sowie das Problem der Tötung von Tieren als Fallbeispiel im Rahmen tierethischer Überlegungen. 3
2
Bezugsrahmen einer ethischen Urteilsbildung
2.1
Überwindung von Engführungen
Lösungsvorschläge fiir bioethische Konfliktfälle hängen entscheidend davon ab, welcher ethische Ansatz gewählt wird. 4 Eine wesentliche Weichenstellung stellen hierbei die ethische Bewertung der unbelebten und der nicht-menschlichen belebten Natur sowie die Beantwortung der Fragen dar, ob noch nicht existierende Menschen bzw. der Mensch als Gattungs2
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Der Beitrag zur Medizinethik fällt dann ebenfalls unter diese weitere Bestimmung von Bioethik. Dagegen stellt das Thema der ethischen Bewertung von gentechnischen Vorhaben thematisch einen Spezialfall ethischer Bewertung von technischen Vorhaben dar und wird deshalb in den bioethischen Beiträgen nicht thematisiert. Ich danke meinen Mitarbeitern, insbesondere Herrn Ranisch, fiir wertvolle Hinweise. V gl. im Folgenden Shrader-Frechette 2003 und Krebs 1996. Bei Krebs findet sich eine noch feinteiligere Darstellung unterschiedlicher Argumente fiir den Naturschutz (s. dort die weiterfuhrende Literatur). Ich beschränke mich aber in der Einführung auf grundlegende Positionen. Während meine Position deijenigen von Shrader-Frechette nahe kommt, teile ich nicht die durch Krebs eingenommene Positionierung fiir den Pathozentrismus (s. die weiter unten durchgefiihrte Auseinandersetzung mit dem Pathozentrismus).
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Umwelt- und Tierethik (Bioethik I)
weseneinen moralischen Wert haben oder nicht, und damit ob es eine moralische Verantwortung fiir diese unabhängig von den moralisch bedeutsamen Zukunftshoffnungen der jetzt lebenden Menschen gibt oder nicht. Wird allen Lebewesen auf dieser Erde außer dem Menschen ein eigener moralischer Wert abgesprochen, spricht man von einem (moralischen) Anthropozentrismus (von griechisch: anthropos = Mensch, lateinisch: centrum =Mittelpunkt): "§ l . Daß der Mensch in seiner Vorstellung das Ich haben kann, erhebt ihn unendlich über alle andere aufErden lebende Wesen. Dadurch ist er eine Person und vermöge der Einheit des Bewußtseins bei allen Veränderungen, die ihm zustoßen mögen, eine und dieselbe Person, d. i. ein von Sachen, dergleichen die vernunftlosen Thiere sind, mit denen man nach Belieben schalten und walten kann, durch Rang und Würde ganz unterschiedenes Wesen, selbst wenn er das Ich noch nicht sprechen kann, weil er es doch in Gedanken hat ... " (Kant 1968 [1798], 127).'
Der Anthropozentrismus in dieserForm ist umstritten, da er weder der übrigen belebten noch derunbelebten Natur einen eigenen Wert zuerkennt. Eine Folge hiervon ist beispielsweise, dass Tierquälerei nur deshalb als unmoralisch verstanden wird, weil dadurch der Mensch selbst verroht oder weil er andere Menschen, die nicht möchten, dass Tiere gequält werden, durch sein Tun in diesem Wunsch missachtet, aber nicht deshalb, weil Tiere darunter leiden. Unsere Rechtstradition im Tierschutzrecht baute sehr stark auf diesem Anthropozentrismus auf. Wenn auch in dieser Hinsicht neue Entwicklungen vorhanden sind, die Tiere rechtlich nicht mehr als "Sachen" zu werten(§ 90b BGB), kann dennoch selbst die Grundgesetzänderung zu Gunstendes Tierschutzes (Art. 20 GG: Tierschutz als Staatsziel) weiterhin anthropozentrisch interpretiert werden. In jüngerer Zeit haben sich mehrere alternative Positionen zu diesem strikten Anthropozentrismus ausgebildet. Am weitesten geht hierbei der sog. radikale Physiozentrismus (griechisch: physis = Natur), der auch als 5
Freilich lässt Kant es prinzipiell zu, dass es auch andere Lebewesen geben könnte, die als Person verstanden werden können. Aber nach seiner Überzeugung sind die irdischen Tiere gerade nicht in diesem Sinn ichbewusst und vemunft~.egabt. Nach Baranzke (2002, 206-218) lässt sich bei Kant jedoch ein Wandel seiner Uberzeugungen belegen, sodass Tiere nicht mehr nur als Sachen zu verstehen wären, da Kant sie in seiner freilich nicht von ihm publizierten Ethikvorlesung (1990, 256) als ,,Analogon der Menschheit" bezeichnet und mehrere Stellen in seinen Spätschriften eine Wandel belegen würden.
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Nikolaus Knoepffler
Holismus (griechisch: holos = ganz) oder Ökozentrismus (griechisch: oikos =Haus) bezeichnet wird. Allgemein betonen Holisten: "Wenn menschliche Wesen wie andere Tiere, Pflanzen, Böden und Wasser auch gleiche Mitglieder der biotischen Gemeinschaft sind und wenn Mitgliedschaft in der Gemeinschaft das Kriterium filr gleich moralische Rücksicht ist, dann haben nicht nur Tiere, Pflanzen, Böden und Wasser die gleichen (sehr abgeschwächten) ,Rechte', sondern auch menschliches Individualwohl und menschliche Rechte sind dem Wohl der Gemeinschaft im ganzen unterzuordnen" (Callicot 1997, 237f; vgl. Rolston 1988; Meyer-Abich 1997).
Auch wenn hier das Zusprechen von Rechten in Anführungszeichen gesetzt wird, geraten sie mit dem üblichen Rechtsbegriff in Widerspruch. ,,Rechte sind stets Individualrechte oder individuelle Ansprüche, die dem betreffenden Individuum als Individuum, das heißt um seiner selbst willen eingeräumt werden" (Hoerster 2004, 96). Da Wasser nicht als Individuum verstanden werden kann, ist es nicht sinnvoll, von Rechten des Wassers oder einer Landschaft zu sprechen. Abgesehen davon ist völlig unklar, was die Unterordnung menschlichen Gemeinwohls und menschlicher Rechte bedeutet. Ist es dann dennoch zulässig, Sumpfgebiete trocken zu legen, um durch die Zerstörung des natürlichen Habitats von Malariamücken fiir die Menschen Gesundheitsvorsorge zu betreiben? Selbst Vertreter dieser Position räumen ein, dass das Abwägen der Rechte eine "schwierige und heikle Frage" (Callicot 1997, 239) ist. Im Unterschied dazu vertritt der egalitäre Biozentrismus eine Position, die nur Lebewesen Rechte zuerkennt: Allen Lebewesen kommt dabei prinzipiell das gleiche Recht auf Leben zu. Durch Albert Schweitzers Schlagwort von der "Ehrfurcht vor dem Leben" ist dieser Gedanke insbesondere in den deutschsprachigen Debatten vorbereitet worden. Für Schweitzer galt das Prinzip, Leben zu erhalten, als das "denknotwendige, absolute Grundprinzip des Sittlichen". Für den "denkend gewordenen Menschen erwächst" die Nötigung dazu: "Als gut gilt ihm: Leben erhalten, Leben fördern, entwickelbares Leben auf seinen höchsten Stand bringen; als böse: Leben vernichten, Leben schädigen, entwickelbares Leben niederhalten" (Schweitzer 1974, 171 ).
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Umwelt- und Tierethik (Bioethik I)
Schweitzer erkennt aber selbst ein Grundproblem seines Prinzips, alles Leben zu schützen: Die Erhaltung bestimmter Lebewesen erfordert den Tod anderer Lebewesen. "Wer einen Fischadler rettet, muss ihm täglich Fischlein opfern" (Schweitzer 1974, Bd.1, 243). Schweitzers Position wird in der Folgezeit weiter radikalisiert: "Alle Lebewesen haben bioethisch geurteilt prinzipiell das gleiche Recht aufLeben, denn sie sind ,Selbstzweck"' (so Altner, hier zitiert nach van den Daele et al. 1996, 235; vgl. damit verwandte Positionen von Regan 2004 [ 1983] und Taylor 1986). Die Verwendung der Selbstzweckformel zur Begründung von Eigenwert und besonderer Würde alles Lebendigen hat dabei besonders in der deutschen Diskussion strategische Bedeutung. Die Menschenwürde, wie sie im Grundgesetz bemüht wird, wird besonders seit dem einflussreichen Kommentar von Dürig (1951) mit Bezug aufKants Selbstzweckformel (1968 [1785], 428f) begründet. Allerdings ist nach Kant der Mensch genau deshalb Selbstzweck, weil er ein moralfähiges Lebewesen ist, das ein Ich-Bewusstsein hat. Sich selbst am Leben erhalten zu wollen oder sich fortzupflanzen, ist nach Kant (1968 [1797], 435) gerade kein Grund, von Selbstzwecklichkeit und Würde zu reden. Vielmehr begründe dies nur einen "gemeinen Wert" bzw. "äußeren Wert (pretium usus)", d. h. einen Gebrauchswert, der nach Kants Ansicht auch Sachen zukommt, weswegen er, wie oben gesehen, Tiere sogar als Sachen bezeichnet. Insofern begründet der Bezug auf einen bei genauerem Hinsehen gerade nicht-kantisch begründeten Selbstzweck noch nicht das prinzipiell gleiche Recht auf Leben. Auch das Faktum, dass Organismen leben wollen, begründet aus sich heraus noch nicht die moralische Forderung nach einem gleichen Lebensrecht, denn dass jemand etwas will, begründet noch nicht, dass diesem Wunsch zu entsprechen ist. Es fehlt also gerade noch die Begründung fiir die Forderung nach dem gleichen Lebensrecht.6 Ein wesentlicher Grund, warum eine derartige Begründung wohl nicht zu leisten ist, lässt sich an folgendem Beispiel verdeutlichen: Wenn allen Lebewesen prinzipiell das gleiche Recht auf Leben zukäme, müsste konsequenterweise auch dem Tuberkulosebakterium das gleiche Recht auf • 6
Auch die Rede von der "Würde der Kreatur'', so die Schweizerische Verfassung, und der Ausdruck Mitgeschöpflichkeit leiden daran, dass hier Begriffe verwendet werden, deren Unbestimmtheit sich mehrfach zeigt. So gibt der französische Text der neuen Schweizerischen Verfassung "Würde der Kreatur" nicht mit "dignite" wieder, sondern mit "integrite des organismes vivants". Zudem sind beide Begriffe dem theologischen Sprachgebrauch entlehnt, also eigentlich weltanschaulich gebunden. Schließlich ist mit Kreatur und Mitgeschöpf ursprünglich theologisch immer alles Geschaffene, also auch die unbelebte Natur gemeint. Vgl. dazu Busch/Kunzmann 2004, 42--47 und Baranzke 2002.
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Leben wie den von einer Tuberkuloseinfektion betroffenen Menschen zukommen. Dies führt in unauflösliche strukturelle Dilemmata, weswegen diese Position in ihrer Radikalität für bioethische Konfliktfalle wenig hilfreich ist und in dieser Form den moralischen Intuitionen der meisten Menschen fundamental widerspricht. Doch selbst wenn man Mikroorganismen, Insekten und Pflanzen aus dem moralischen Universum ausschließt, bleibt die Frage, ob dieses Dilemma nicht wiederkehrt bei der Frage: Wer ist zu retten, der Hund oder der Mensch, wenn nur einer von beiden gerettet werden kann. Regan (2004 [1983], 324ft) bietet dafür eine Lösung an, indem er eine Hierarchisierung einführt. Zwar geht auch er von einem gleichen inhärenten Wert aller Lebewesen aus, insofern sie Subjekte von Leben sind, aber er spricht nur noch von einem prima-facie-Recht aller Lebewesen, nicht geschädigt zu werden. Was dies bedeutet, erläutert er an folgendem Beispiel: In einem Boot, das vom Untergang bedroht ist, befinden sich vier normale erwachsene Menschen und ein Hund. Der Untergang des Boots kann nur dadurch vermieden werden, dass entweder der Hund oder ein Mensch über Bord gehen und damit dem sicheren Tod ausgeliefert werden. Nach Regan darf der Hund über Bord geworfen werden, da der Hund zwar das gleiche prima-facie-Recht hat, nicht geschädigt zu werden, aber dennoch sein Schaden unvergleichlich geringer ist als der Schaden für die betroffenen Menschen und in dieser Situation, wo Schaden unausweichlich ist, diese Entscheidung getroffen werden muss. Allerdings zeigt sein Gedankengang im Vorwort zur Ausgabe von 2004 (vgl. Regan 2004, XXXiii), dass er dem Hund Vorrang einräumt, wenn es darum geht, ob ein Hund oder ein irreversibel komatöser Mensch zu retten sind. Denn er geht davon aus, dass der Tod für den komatösen Menschen keinen Schaden mehr darstellt. Freilich hat er mit einer derartigen Lösung ein neues Kriterium in die Diskussion eingeführt, nämlich eine Abwägung von Schaden. Wie aber würde er in dem Fall entscheiden, wo es um das Leben eines Menschen mit schwerer geistiger Behinderung versus das Leben eines gesunden Hundes geht? Liegt es nicht nahe, dass hier der Hund nach Regan dem Menschen vorzuziehen wäre? In diesem Fall nähert sich seine Position in den Konsequenzen einem hierarchischen Pathozentrismus an, allerdings gerade nicht in seiner bekannten utilitaristischen Form, denn Regan lehnt die Aggregation (Aufsummierung) von Empfindungen, die für den Utilitarismus kennzeichnend ist, ab. Nach Regan (2004 [1983], 325) ist auch der Tod einer Million Hunde nicht mit dem Tod eines normalen Menschen vergleichbar, sodass bei-
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spielsweise in einem Schiffvoller Hunde, eher alle diese Hunde über Bord zu werfen wären als ein normaler Mensch (ebd. 325). Regans Begründung hierfiir ist, dass der jeweilige einzelne Hund nämlich weniger geschädigt wird als der betreffende Mensch. Wie argumentiert nun aber der hierarchische Pathozentrismus in seiner präferenzenutilitaristischen Ausprägung, der insbesondere durch Peter Singer (1990, 1999) weltweit bekannt geworden ist? Nach Singer sind die jeweiligen Präferenzen (Interessen) der einzelnen Lebewesen in der Weise gegeneinander abzuwägen, dass der größtmögliche Nutzen für empfmdungsfähige Lebewesen gemäß deren eigener Präferenzen zustande kommt. Dabei gibt es eine Hierarchie, die sich aus der Intensität der jeweiligen Interessen ergibt. So haben viele Menschen beispielsweise im Unterschied zu allen Mitgliedern bestimmter Tierarten die Fähigkeit, die Zukunft zu antizipieren. Ihre Interessen sind daher höher zu gewichten. Jedoch stellen sich bei diesem Ansatz neben dem für den Utilitarismus bekannten Aggregationsproblem weitere Probleme. Thomas Nagel (1974) hat beschrieben, warum es für uns unmöglich ist, uns in ein unsrelativ verwandtes Lebewesen, nämlich die Fledermaus, einzufiihlen. Wenn wir aber nicht wirklich wissen, wie es ist, eine Katze, ein Hund oder eine Fledermaus zu sein, dann wird die Kriteriologie für eine Güterahwägung praktisch unrealisierbar. Wenn wir uns nicht angemessen in ein anderes Lebewesen "hineinversetzen" können, können wir auch nicht gut einschätzen, was es "präferiert", welche Interessen es also in einer Situation zu verwirklichen sucht, freilich mit der wichtigen Einschränkung, dass ein Überlebensinteresse als Präferenz angenommen werden kann. Freilich ließe sich gegen diesen Einwand argumentieren, dass wir vielleicht nicht wissen, wie es ist, eine Fledermaus zu sein, dass wir uns aber sehr wohl eine Vorstellung davon machen können, warum eine Fledermaus ähnlich wie wir Schmerzen zu vermeiden sucht. Der Hauptgrund für die gerade im deutschsprachigen Raum weitreichende Ablehnung des hierarchischen Pathozentrismus präferenzenutilitaristischer Prägung Singers liegt darin begründet, dass dieser zu Güterahwägungen fiihren kann, die den moralischen Intuitionen vieler Menschen widersprechen. So kann dieser Ansatz - konsequent durchgefiihrt - dazu fiihren, das Leben eines normalen Schweins in einer Güterahwägung mehr zu gewichten als das Leben eines Waisenkindes mit schwerer geistiger Behinderung, an dem kein Mensch mehr ein Interesse hat. Ein das Leben bedrohendes Experiment, um Therapien zu entwickeln, wäre im Entscheidungsfall dann eher an einem solchermaßen empfindungsmäßig einge-
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schränkten Menschen durchzuführen als am Schwein, das höhere Interessen zu zeigen vermag. 7 Diese Ablehnung bedeutet jedoch nicht, dass damit ein wesentliches Grundanliegen sowohl von Bio- als auch Pathozentrismus völlig nichtig wäre, nämlich nicht-menschlichen Lebewesen einen gewissen moralisch relevanten Eigenwert zuzuerkennen, da gerade höhere Lebensformen sowohl ein Überlebensinteresse zeigen als auch möglichst leidensfrei zu leben wünschen. Zudem ist in gewisser Weise jedes einzelne Lebewesen ein Unikat, selbst dann, wenn es genidentisch mit vielen anderen Lebewesen seiner Art ist.
2.2
Ein integrativer Ansatz im Ausgang von der Menschenwürde
Auf Grund der Schwierigkeiten der besprochenen Ansätze empfiehlt es sich, eine Kriteriologie zu erstellen, die wichtige Aspekte der einzelnen Ansätze integriert. 8 Freilich kann diese Integrationsleistung nicht ohne eine Entscheidung vonstatten gehen, welches Kriterium das Zentrum der weiteren Überlegungen bildet. Das zentrale Kriterium ist hierbei das Prinzip der Menschenwürde, das rechtlich normorientierend geworden ist und von daher weltweit entscheidende Bedeutung erlangt hat (vgl. Knoepffler 2004, 7f). Dieses Prinzip ist zur Grundlage der weltumspannenden Deklarationen am Ende und nach dem Zweiten Weltkrieg geworden. Es steht als Kontraposition zu den grausamen Prinzipien des Nationalsozialismus: Statt des nationalsozialistischen "du bist nichts, dein Volk ist alles" gilt nun, dass jeder Mensch um seiner selbst willen zu achten ist. Statt des nationalsozialistischen Rassis7
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Hoerster interpretiert Singer hier allerdings in der Weise: "Sofern wir die betreffenden Experimente an diesen Menschen nicht fiir legitim halten, können wir sie auch an Tieren nicht fiir legitim halten" (Hoerster 2004, 46). Diese Interpretation ist insoweit problematisch, als Singer ausdrücklich betont: "Wenn ein Lebewesen nicht f:ihig ist zu leiden oder Freude ~d Glück zu erfahren, muss nichts berücksichtigt werden" (Singer 1999, 464, eigene Ubersetzung). Die Rede von einem integrativen Ansatz ist nicht neu. Baranzke (2002, 313) spricht beispielsweise von einer "integrativen Bioethik aufKantischer Grundlage", die das ,,Anliegen der 'Würde der Kreatur' unter Berücksichtigung der Tatsache ihrer im Verhältnis zur Menschenwürde nur äquivoken Verwendung des Würdebegriffs in eine an Kant anknüpfende Bioethik" integriert. Im Unterschied zu ihr sind die hier gemachten Voraussetzungen viel weniger voraussetzungsreich. Trotz mancher Nähen zu Kant ist es kein Ansatz aufKantischer Grundlage. Trotz der Aufnahme des Gedankens des Eigenwerts nicht-menschlicher Lebewesen wird keine "Würde der Kreatur" postuliert.
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mus drückt sich in diesem Prinzip die fundamentale Gleichheit aller Menschen aus. Die Annahme dieses Prinzips als Basis und Fundament bedeutet jedoch nicht den Rückfall in einen Anthropozentrismus, der alle nichtmenschlichen Lebewesen zu Sachen degradieren würde. Vielmehr besagt dieses Prinzip positiv: Wir Menschen, die wir uns in den Vereinten Nationen zusammengeschlossen haben, haben auf Grund unserer Geschichte begriffen, dass eine Unterscheidung in Menschen unterschiedlicher Klassen mit unterschiedlicher Wertigkeit zu größten Untaten fUhren kann. Darum haben wir uns weltweit normorientierend darauf geeinigt, zumindest keinen Menschen, sei er geistig behindert oder sonst irgendwie anders als die meisten Menschen, von der ZuerkenntDis der Menschenwürde auszuschließen. So heißt es in der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte der Vereinten Nationen aus dem Jahr 1948 im ersten Satz des ersten Artikel: "Alle Menschen sind frei und gleich an Würde und Rechten geboren." Damit ist über die Wertigkeit anderer Lebewesen noch nichts ausgesagt. Die Auseinandersetzung mit Biozentrismus und Pathozentrismus hat aber zu dem Ergebnis gefiihrt, dass es gute Gründe gibt, nicht-menschlichen Lebewesen keine prinzipielle Gleichheit mit Menschen und keinen prinzipiellen Subjektstatus zuzuerkennen, andererseits aber ihre Empfindungsfähigkeit moralisch zu gewichten. Vor dem Hintergrund dieser Überlegungen lässt sich verstehen, dass das Prinzip der Menschenwürde an erster Stelle steht. Unser Umgang mit der Umwelt hat von daher diesem Prinzip in erster Linie Rechnung zu tragen. Dabei ist es nicht im Sinne eines Prinzips zu verstehen, aus dem sich einfach Handlungsanleitungen ableiten ließen. Es hat vielmehr den Charakter eines Leitbildes, eines Prinzips hinter den Prinzipien (vgl. Knoepffler 2004, 10-18). In ähnlicher Weise ist ein zweites Prinzip zu verstehen, das ebenfalls Leitbildcharakter trägt: das Prinzip der Nachhaltigkeit (sustainability) bzw. der nachhaltigen Entwicklung (sustainable development). Der Begriffkommt eigentlich aus der Forstwirtschaft und stellt ein Bewirtschaftungsprinzip dar, wonach nicht mehr Holz geerntet werden soll, als jeweils nachwachsen kann. Auch dieser Begriff hat ähnliche Unschärfen wie der Menschenwürdebegriff.9 Dennoch hat auch er einen bestimmbaren semantischen Kern. So formuliert der Brundlandt-Bericht (1987): 9
Vgl. Detzer et al. 1999. In diesem Buch werden sehr übersichtlich unterschiedliche Nachhaltigkeitskonzeptionen in Deutschland (des Sachverständigenrates fiir Umweltfragen, der Enquete-Kommission, des Wuppertal-Instituts) sowie wichtige international diskutierte Konzeptionen wie das Drei-Säulen-Konzept, das Konzept der Dematerialisierung, das Konzept Faktor 4, das Konzept des Eco-Developments und das Konzept Agenda 21 dargestellt und besprochen.
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"Dauerhafte Entwicklung [sustainable development] ist Entwicklung, die die Bedürfuisse der Gegenwart befriedigt, ohne zu riskieren, dass künftige Generationen ihre eigenen Bedürfuisse nicht befriedigen können" (hier zitiert nach Detzer et al. 1999, 79).
Zu zentralen Kategorien auch und gerade in der Bioethik gegenüber der außermenschlichen Natur werden Menschenwürde und Nachhaltigkeit allein schon durch die Sorge um eine menschenwürdige Zukunft (vgl. z. B. Jonas 2003 [1979]). Diese wird nur sicherzustellen sein, wenn nachfolgende Generationen über die zu ihrer Erhaltung und Entfaltung nötigen Ressourcen verfügen werden. Eine Konkretion, wie man das Leitbild der Nachhaltigkeit auslegen kann, fmdet sich im Drei-Säulen-Konzept. Dieses Konzept bewertet eine Entwicklung nach ihren Folgen fiir die ökologische, ökonomische und soziale Dimension. Die soziale Dimension konkretisiert das Prinzip der Menschenwürde durch mitmenschliche Solidarität und Gerechtigkeit, die auch generationenübergreifend zu denken ist. Die ökonomische Dimension berücksichtigt das Eigeninteresse der heutigen Menschen. Die ökologische Dimension erweitert den Verantwortungshorizont der heutigen Menschen einerseits auf die Lebensbedingungen der folgenden Generationen, andererseits aber auch auf den menschlichen Umgang mit der Natur und nichtmenschlichen Lebewesen. Aber dies ist nicht genug, weil man auch diesen Umgang noch rein anthropozentrisch verstehen kann. Will man diese Engführung vermeiden, ist es nötig, auch nicht-menschlichen Lebewesen einen eigenen Wert zuzuerkennen, weil sie leben und nicht geschädigt werden wollen. Dieser Wert ist im Rahmen des integrativ genannten Ansatzes enthalten, der eben dieses Kriterium der Eigenwertigkeit nicht-menschlicher Lebewesen in den vormaligen reinen Anthropozentrismus integriert. Das bedeutet einerseits, dass die Wertigkeit des Tieres keine prinzipielle Gleichheit mit der Würde von Menschen bedeutet, und zudem im Unterschied zur Menschenwürde, die alle Menschen als prinzipiell gleiche und als Subjekte ausweist, eben gerade eine unterschiedliche Wertigkeit auch zwischen den einzelnen nicht-menschlichen Lebewesen zulässt; andererseits bedeutet dies, dass auf Grund des Werts des einzelnen Lebewesens zu rechtfertigen ist, wenn diesem Schaden zugefügt oder es gar getötet wird. Da diesen Lebewesen selbst wieder ganz unterschiedliche Wertigkeiten zukommen, da sie ihren Tod und auch das Geschädigtwerden ganz unter-
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schiedlich erfahren, kann eine derartige Rechtfertigung meist nicht pauschal geleistet werden. 10 Die Prinzipien der Menschenwürde, der Nachhaltigkeit und das Kriterium der Eigenwertigkeit nicht-menschlicher Lebewesen lassen sich durch Regeln operationalisierbar machen und davor bewahren, als utopische Forderungen und damit als nicht umsetzbar zu gelten. 11 Was die soziale Dimension der Nachhaltigkeit vor dem Hintergrund der Menschenwürde angeht, so lassen sich dabei folgende Regeln nennen (vgl. Knoepffier 1999, 53): 1) Individualverträglichkeitsrege/: Es ist ethisch geboten, zu tun, was für die einzelnen Menschen zuträglich ist, und zu unterlassen, was dem Individuum mehr Schaden als Nutzen bringt, insbesondere, was das Lebensrecht oder andere Grundrechte eines oder mehrerer Menschen verletzt. Dies bedeutet freilich keine Absolutsetzung von Vorsichtsmaßnahmen, da durch diese mittel- und langfristig ebenfalls Menschen sehr schwer geschädigt werden können. 12 2) Sozialverträglichkeitsregel: Es ist ethisch geboten, zu tun, was der Gerechtigkeit zwischen den lebenden Menschen einerseits und der intergenerationellen Gerechtigkeit einschließlich künftiger Generationen13 andererseits zuträglich ist, und zu unterlassen, was den heutigen und künftiI0
II 12
13
Leider fehlt bis heute eine zureichende Kriteriologie filr eine derartige Bewertung der unterschiedlichen Wertigkeiten. Es ist nicht einmal klar, warum bestimmte Lebewesen, wie beispielsweise Bakterien oder Pflanzen, als Individuen ohne Bedeutung zu sein scheinen, aber eine ,,Artgerechtigkeit" (nach menschlichen Maßstäben) angemahnt wird, denn bereits Bakterien reagieren und bei Pflanzen lassen bestimmte Beobachtungen zumindest den Schluss zu, dass auch Pflanzen ein Empfinden haben könnten, auch wenn wir uns dieses überhaupt nicht mehr vorzustellen vermögen. In dieser Hinsicht zeigt sichtrotz der bleibenden oben geäußerten Bedenken gegen einen verabsolutierten Pathozentrismus der Wert des Singerschen Kriteriums unterschiedlich zu gewichtender Interessen. Leist (1996, 432-441) hat zu Recht darauf hingewiesen, dass das Nachhaltigkeitskriterium zu präzisieren ist, um hilfreich sein zu können. Eine der wohl bekanntesten Vorsichtsmaßnahrnen, die über Jahrhunderte vielen Menschen das Leben gekostet hat, ergab sich aus dem kirchlichen Verbot der Anatomie menschlicher Leichname. Dieses Verbot entsprang der Vorsichtsüberlegung, dass bei der leiblichen Auferstehung der Toten vielleicht ein intakter Leichnam benötigt würde. Hierbei ist allerdings umstritten, in welcher Weise den Bedürfnissen zukünftiger Generationen Rechnung zu tragen ist. Zu diesem Zweck wurde in die Debatte der Begriff der Diskontierung eingefiihrt. Dieser Begriff besagt, dass die Nutzenwerte filr künftige Generationen bezüglich der heutigen Generation sozusagen abzuzinsen sind. Würde nämlich die Diskontierung gleich Null sein, wäre es beispielsweise immer vorzugswürdig, filr die noch gar nicht geborenen Urenkel € !000 zu sparen, als s.ich selbst filr€ 999 heute etwas zu gönnen. Okolog1sch gesehen 1st also beispielsweise zu fragen, ob und wenn ja- in welchem Umfang wir heute Finanzen aufzuwenden haben, um die Umwelt filr die Nachgeborenen so zu sichern, dass diesen bestimmte Umweltausgaben erspart bleiben. Anders gesagt: Es ist zu klären, wie die Lasten zwischen uns und unseren Urenkeln zu verteilen sind.
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gen Menschen mehr schadet als nutzt. Handlungen sollten dabei zu jedermanns Vorteil sein und nicht utilitaristisch zum Vorteil bzw. Nutzen der größtmöglichen Zahl. Darum sind zwar Ungleichheiten zulässig, aber es muss gewährleistet sein, dass die fundamentalen Bedürfnisse aller Menschen gesichert sind, sodass alle Menschen befahigt werden, ihre Talente zu entwickeln. Insbesondere diejenigen Menschen, die am verletzlichsten und am leichtesten auszubeuten sind, sind am meisten zu schützen. 14 Für die ökologische Dimension sind die folgenden Regeln (Detzer et al. 1999, 99-101, darüber hinaus Regan 2004 [1983]) zu berücksichtigen, wobei grundsätzlich gilt: Ist die Anwendung der Kriterien nicht zureichend individual- oder sozialverträglich fiir die gegenwärtigen Menschen, so muss eine Abwägung getroffen werden, wenn mittel- oder langfristig eine noch größere Individual- und Sozialunverträglichkeit die Folge ist. Dabei soll grundsätzlich gelten: 3) Regenerationsregel: Der Abbau erneuerbarer Ressourcen darf nicht höher sein als deren Regeneration bzw. Assimilation (z. B. durch Aushandeln von Nutzungsquoten). Dies gilt insbesondere fiir essentielle Ressourcen, deren Verbrauch- absolut gesehen- Null sein sollte. Idealerweise sollte sogar ein Zugewinn an derartigen Ressourcen erstrebt werden. 4) Substitutionsregel: Der Abbau erschöpfbarer Ressourcen muss in einem entsprechenden Verhältnis zu den Bestandserhöhungen an funktionsäquivalenten Ressourcen bzw. technischen Innovationen oder Effektivitätsverbesserungen im Verbrauch stehen (z. B. Beginn einer Substitution von Erdöl als Antriebsquelle durch erneuerbare Energieträger). 5) OptimierungsregeI: Die Ressourcenproduktivität sollte in den meisten Fällen optimiert, die Ressourcenintensität minimiert werden (z. B. durch gezieltes Recycling, Strommanagement). 6) Reversibilitätsregel: Eingriffe, die in die Natur vorgenommen werden, sollten möglichst so gestaltet werden, dass künftige Generationen die Möglichkeit haben, diese Eingriffe zumindest im Grundsätzlichen wieder umzukehren. Dabei ist im Einzelfall zu unterscheiden, um welche Ressourcen es sich handelt, ob um belebte und unbelebte Natur, ob um Ressourcen, die lebenswichtig sind (z. B. Wasser, Luft) oder lebensdienlich sein können (z. B. fossile Brennstoffe, Holz). Eine besondere Bedeutung hat hier14
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Diese beiden Kriterien können auch als eine Weiterfiihrung und Umarbeitung der Rawlschen Gerechtigkeitsgrundsätze vor dem Hintergrund der Kritik an ihnen verstanden werden (vgl. Rawls 2002, 81). So wirdHarsanyis (1976) Kritik am Maximin-Prinzip ernst genommen, indem keine vollständige Vorsicht verlangt wird. Zugleichjedoch wird eine angemessene Vorsicht eingefordert, da sonst den Kriterien nicht Genüge geleistet werden kann. Freilich bleiben diese Kriterien dennoch immer noch sehr abstrakt.
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bei der Umgang mit nicht-menschlichen Lebewesen, da diesen im Rahmen des integrativen Ansatzes im Unterschied zu Dingen ein eigener Wert zukommt. 7) Tierschutzrege/: Das Schädigen und Töten nicht-menschlicher Lebewesen bedarf einer Rechtfertigung. Diese kann normalerweise nicht pauschal sein, sondern hat den unterschiedlichen Wertigkeiten der Mitglieder unterschiedlicher Arten auf Grund der unterschiedlichen Empfmdungsfähigkeit Rechnung zu tragen. Was die ökonomische Dimension angeht, so lassen sich als Regeln festhalten (vgl. Busch et al. 2002, 55-62): 8) Substanzerhaltungsregel: Das Kapital als ökonomische Substanz, nämlich "die natürliche Ausstattung der Erde gemeinsam mit dem vom Menschen in Gestalt von Investitionen und Wissen hinzugefUgten Anteilen" (Hampicke 2000, 640), sollte wachsen oder zumindest konstant bleiben, sodass eben dieses Kapital auch kommenden Generationen erhalten bleibt. 9) Anreizregel: Die Rahmenbedingungen sind so zu gestalten, dass individual- und sozialverträgliches Handeln einerseits, ökologisches Verhalten andererseits nicht ausgebeutet wird, sondern zum gegenseitigen Vorteil ist. Es ist also darauf zu achten, dass keine Strukturen entstehen, die als rationales Verhalten ein Verhalten nahe legen, dass kollektiv selbstschädigend ist (s. dazu beispielhaft das erste Problemfeld). 10) Gesamtkostenregel: Bislang negative externe Effekte, d. h. negative Wirkungen, die jemand verursacht, ohne dafiir angemessen Schadensersatz zu leisten, z. B. Schädigung anderer durch Schadstoffe, sollen internalisiert werden, d. h. der Schadensverursacher hat fiir diese Effekte zu bezahlen. Er hat also die Gesamtkosten zu tragen. Die "Bewertung der zu internalisierenden Effekte, mit anderen Worten, die Bestimmung der Höhe der z. B. durch Emissionen hervorgerufenen monetären Schäden bleibt voll den Wirtschaftssubjekten überlassen" (Hampicke 2000, 636). Dieses Kriterium hat ursprünglich Pigou (1978 [1920]) in die Debatte eingefiihrt. Thm haben Baumol und Oates (1971) ein weniger anspruchsvolles Kriterium entgegengesetzt. Wirtschaftssubjekte sollen demnach zwar nicht die gesamten externen Effekte, die sie verursacht haben, tragen müssen, aber sie haben beispielsweise im Fall schädlicher Emissionen eine auszuhandelnde Emissionsabgabe zu bezahlen. Darüber hinaus lassen sich mehrere allgemeine, eher formale Regeln benennen, die fiir die Bewertung von Lösungen fiir anstehende Herausforderungen in den unterschiedlichen Dimensionen hilfreich sind.
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Ganz allgemein gilt: Im Umgang mit bioethischen Problemfeldern ist eine sachliche und differenzierte Debatte zu führen. Darüber hinaus ist ein Kriterium argumentationspragmatischer Natur (vgl. Bimbacher 1999) hilfreich, wenn Probleme zu lösen sind: Statt eine bestimmte Form des Umgangs mit der Umwelt aus letzten Gründen fiir zulässig oder unzulässig zu halten, sei es sinnvoll, zuerst zu überprüfen, ob wir bereits Referenzfälle finden, die uns bestimmte Lösungen nahe legen. Drittens ist eine weitere, sehr einfache Regel hilfreich, die mittels des aus der Ökonomie entnommenen Pareto-Kriteriums gewonnen wurde (vgl. Busch et al. 2002, 50). Dieses Kriterium bildet in der Ökonomik ein Effizienzkriterium. Auf unsere Problematik angewendet, lässt es sich in folgender Weise als Regel formulieren: Ethisch geboten sind "pareto-superiore" Regelungen und Handlungen, also wenn ohne Verschlechterung in einer der drei Nachhaltigkeitsdimensionen Verbesserungen in (mindestens) einer der anderen Dimensionen erreicht werden können. Umgekehrt sind "pareto-inferiore" Regelungen und Handlungen ethisch unzulässig, also wenn (mindestens) eine Dimension verschlechtert wird, ohne dass es in der/den anderen Dimensionen Verbesserungen gibt. Ökologisch
Ökonomisch
Sozial
Pareto-superior, ethisch geboten
Verbesserung, ohne dass die ökonomisehe oder soziale Dimension verschlechtert wird
Verbesserung, ohne dass die ökologische oder soziale Dirnension verschlechtert wird
Verbesserung, ohne dass die ökologische oder ökonomische Dimension verschlechtert wird
Keine Anwendbarkeit des Pareto-Kriteriums, ethisch problematisch
Verbesserung, doch mindestens eine der anderen Dimensionen verschlechtert sich
Verbesserung, doch mindestens eine der anderen Dimensionen verschlechtert sich
Verbesserung, doch mindestens eine der anderen Dimensionen verschlechtert sich
Pareto-inferior, ethisch unzulässig
Verschlechterung ohne Verbesserung einer anderen Dimension
Verschlechterung ohne Verbesserung einer anderen Dimension
Verschlechterung ohne Verbesserung einer anderen Dimension
Allerdings ist eine rein mechanische Anwendung von Regelungen, die am Pareto-Kriterium Maß nehmen, problematisch, da dieses fiir den Ausgangspunkt und die Zeitdimensionen unempfindlich ist: Wenn bei-
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spielsweise die ökologische Dimension anfanglieh sehr wenig berücksichtigt worden war, ist es nach diesem Kriterium dennoch pareto-superior, die ökonomische weiter zu verbessern, wenn dabei die ökologische Dimension und die soziale Dimension nicht verschlechtert werden. Deshalb haben die obigen inhaltlichen Regeln Mindeststandards benannt. Darüber hinaus lässt sich dieses Kriterium durch eine weitere formale Regel "in Schach halten", die Regel, dass alle von bestimmten Entscheidungen Betroffenen an der Entscheidungsfmdung partizipieren sollten. Auch diese Regel besagt natürlich nicht, dass alle Betroffenen de facto an den Entscheidungen mitwirken. Vielmehr zeigt es die Bedeutung demokratischer Prozesse für uns, unsere Zukunft und unsere Um- und Mitwelt auf.
3
Ausgewählte Problemfelder
Wie lassen sich die genannten Prinzipien und Regeln konkretisieren? Wesentliche Themen und Problemfelder der Umwelt- und Tierethik stellen die unterschiedlichen Formen unseres Umgangs mit der Umwelt im engeren und weiteren Sinn sowie unser Umgang mit anderen Lebensformen dar. Aus jedem dieser Bereiche wird ein aktuell diskutiertes und systematisch interessantes Problemfeld ausgewählt. Die Behandlung der Problemfelder ist so angelegt, dass sie beispielhaft für die Bearbeitung weiterer bioethischer Problemfelder sein kann.
3.1
Der Umgang mit dem Treibhausgas Kohlendioxid
Ein Fallbeispiel für die Umweltethik im engeren Sinn stellt unser Umgang mit dem Treibhausgas Kohlendioxid dar. Dabei ist Kohlendioxid im Unterschied zu Umweltgiften wie Kohlenmonoxid oder lungengängigen Rußpartikeln für den einzelnen Menschen normalerweise ungefahrlich. Kohlendioxid gehört konstitutiv zu unserem Leben. Wir geben dieses Gas beispielsweise bei jedem Ausatmen an die Umwelt ab. Viele Pflanzen gedeihen bei höheren Kohlendioxidkonzentrationen besser. Dennoch spielt es durch das Zusammenwirken mehrerer Faktoren eine entscheidende Rolle bei der globalen Klimaerwärmung, denn die Kohlendioxidemissionen machen mittlerweile etwa 60 % der Treibhausgase aus. Von daher ist nur zu verständlich, dass sie seit Anfang der neunziger Jahre ein, wenn nicht
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das zentrale umweltpolitische Thema darstellen, 1' denn der Treibhauseffekt kann fiir uns und unsere Umwelt desaströse Folgen haben. So wird fiir die Arktis eine Zerstörung bisheriger Habitate aufgezeigt, da das arktische Eis schmilzt. 16 Inseln sind durch einen steigenden Wasserspiegel ebenso bedroht wie küstennahe Regionen. Auch werden teils dramatische Wetteränderungen prognostiziert und die Ausbreitung von Krankheiten wie beispielsweise der Malaria, die wärmeabhängig sind, erwartet. 17 Treffen die gemachten Berechnungen und Prognosen sachlich zu, haben wir sowohl aus anthropozentrischer, pathozentrischer wie aus biozentrischer Sicht gute ethische Gründe, die zum Handeln drängen: Eine deutliche Verschiebung des Klimas birgt mächtige Risiken fiir die Entwicklung menschlicher Kultur und zugleich bedroht sie Ökosysteme, Populationen und Individuen. Damit werden insbesondere die beiden Regeln der sozialen Dimension der Nachhaltigkeit (die Individual- und Sozialverträglichkeitsregel) verletzt sowie die Reversibilitäts- und Tierschutzregel der ökologischen Dimension (Regeln 6 und 7) und die Anreiz- und Gesamtkostenreget der ökonomischen Dimension (Regeln 9 und 10). Zu Recht hat darum die Weltgemeinschaft diese Gefahren sehr ernst genommen. In mehreren Konferenzen hat sie Vorgaben erarbeitet. Am bedeutsamsten ist hierbei das 1997 verabschiedete Kyoto-Protokoll. Dieses ist im Februar 2005 in Kraft getreten, nachdem auch Russland dieses Protokoll ratifiziert hat, wodurch das fiir das In-Kraft-Treten nötige Quorum erreicht worden ist, nämlich die Ratifizierung durch mindestens 55 Staaten, die fiir mindestens 55 % der Emissionen verantwortlich sind. Darin verpflichten sich die unterzeichnenden Industrieländer, ihre Gesamtemission von sechs Treibhausgasen gegenüber 1990 in der Zeit von 2008 bis 2012 um durchschnittlich 5,2% zu senken. Zugleich enthält das Protokoll Bestimmungen zur Implementation (Umsetzbarkeit) der Ziele. Ein wesentliches Mittel hierbei ist die Ermöglichung eines Handeins mit Emissionszertifikaten. Ein Land das mehr emittiert als zugelassen, kann sich von ei15
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So schließt das World Watch Institute in seiner Ausgabe zum Jahr 2000, dass die Stabilisierung des Klimas zusammen mit der Stabilisierung des Bevölkerungswachstums die beiden wichtigsten umweltpolitischen Herausforderungen darstellen (vgl. Lomborg 2001, 258). Die Konsequenzen einer Klimaerwärmung fiir die Arktis hat Lynn Rostrater (2005) aktuell im Namen des WWF (World Wide Fund for Nature) ausdrücklich zum Thema gemacht. Nach Lomborg (2001, 265-324) ist allerdings zu bedenken, dass nicht zureichend geklärt ist, in welchem Umfang unsere Kohlendioxidemissionen fiir die Erwärmung der Erde verantwortlich sind. Zudem würden die negativen Folgen der Erwärmung überschätzt.
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nem Land, das weniger emittiert, derartige Zertifikate kaufen, um so seine festgelegte Quote einzuhalten. Zudem dürfen die Industrieländer ihre Verpflichtungen auch dadurch erfüllen, dass sie in Entwicklungsländern für eine Emissionsreduktion sorgen, z. B. durch Aufforstungsprogramme. Dies sieht nach einem "Kuhhandel" aus, dient aber der Effizienz, genauer dem gezielten Mitteleinsatz: Statt große Summen dort zu investieren, wo ein ohnehin hoher Standard nur noch mühsam verbessert werden kann, sollten die Mittel dahin fließen, wo sie den Standard effizient heben können. Warum aber hat die USA als größter Verursacher von Emissionen, nämlich etwa eines Viertels aller Emissionen weltweit, das Kyoto-Protokoll nicht ratifiziert? Ein zentraler Punkt besteht in der Asymmetrie des Protokolls. Während die Industrieländer sich verpflichten, Emissionen zu reduzieren, sind die anderen Länder davon freigestellt. Die erwartete Reduktion der Emissionen im Jahr 2100 bewirkt deshalb nach - freilich umstrittenen- Modellrechnungen eine Minderung des Termperaturanstiegs nur um 0,03°C (Lomborg 2001, 309). Von daher würde nur ein effektiver Emissionshandel zwischen Industrie- und Nicht-Industrieländem in der Kombination mit Emissionsbeschränkungen für alle Länder zu einer weitreichenden Verringerung des Treibhauseffekts führen. Allerdings wird dieses Argument auf Grund der ökonomischen und sozialen Dimension der Nachhaltigkeit und den darin enthaltenen Gerechtigkeitsüberlegungen in Frage gestellt. Da die Entwicklungsländer bisher noch wenig in den Genuss von bestimmten Gütern kamen, die Emissionen hervorrufen, z. B. von Autos, haben sie ökonomisch und sozial in diesem Bereich einen Nachholbedarf. Aus diesem Grund haben die unterzeichnenden Staaten zum Schaden der ökologischen Dimension die genannte Vereinbarung abgeschlossen. Für diese gefundene Lösung ist das oben eingeführte Pareto-Kriterium darum nicht anwendbar, da es sowohl innerhalb der einzelnen Nachhaltigkeitsdimension als auch zwischen den Dimensionen, wie gezeigt, Anwendungskonflikte gibt. Dies gilt für die Anwendung der Sozialverträglichkeitsregel (Gerechtigkeit zwischen den lebenden Menschen versus intergenerationelle Gerechtigkeit) ebenso wie für die Substanzerhaltungsund Anreizregel (Regeln 8 und 9), denn diese Vereinbarung führt zu einer unerwünschten Konsequenz: Staaten, die nicht unterzeichnen, und NichtIndustrieländer haben einen Anreiz, die unterzeichnenden Industrieländer bezüglich der ökologischen Dimension "auszubeuten", indem sie beim Umweltschutz nicht kooperieren, also selbst die umweltschädlichen Emissionen nicht reduzieren. Im Unterschied zu klassischen Dilemmata-Struk-
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turen, bei denen sich alle Beteiligten kollektiv selbst schädigen, wenn fiir den Einzelnen die Nicht-Kooperation die dominante Strategie darstellt' 8, haben wir es hier mit einseitigen Strukturen zu tun. Die unterzeichnenden Industrieländer haben nämlich einer Kooperationsvorleistung zugestimmt. Die Nicht-Industrieländerund die nicht-unterzeichnenden Industrieländer kommen nun in den Genuss der dadurch bewirkten ökologischen Vorteile, ohne selbst etwas dafiir beitragen zu müssen. Es besteht dann die dominante Strategie im Sinne ökonomischer Rationalität darin, selbst keine oder wenig Mittel fiir den Umweltschutz aufzuwenden, wenn dies vorteilhafter ist, wie die folgende Matrix annimmt. In ihr ist der Gewinn der Emissionsreduktion fiir die unterzeichnenden Industrieländer mit eins bewertet, fiir die anderen mit vier, wenn diese nicht kooperieren, obwohl insgesamt bei gemeinsamer Kooperation gemeinsam sechs Nutzenpunkte, also ein höherer Nutzen zu realisieren wäre.
I Unterzeichnende Industrie-
Nicht-lndustrieländer,
Nicht-Industrieländer,
nicht unterzeichnende Industrieländer kooperieren nicht
nicht unterzeichnende Industrieländer kooperieren
1,4
3,3
Iänder (Kooperation)
Besonders drei Staaten werden deshalb in besonderer Weise in Versuchung stehen, diese "Kooperation" der unterzeichnenden Industrieländer zum eigenen Vorteil "auszubeuten": die nicht-unterzeichnenden USA mit rund 25 % des Emissionsausstoßes sowie die nicht unter die Industrieländer fallenden neuen Giganten China und Indien. So hat im Jahr 2004 der Ölverbrauch Chinas den Verbrauch Japans, der zweitgrößten Volkswirtschaft der Erde, übertroffen und Indien hat sich als viertgrößter Energieverbraucher der Erde hinter den USA, China und Japan erwiesen (Angaben der FAZ (2005/Nr. 56, 12). Anders gesagt: Von den vier größten Energie verbrauchenden Nationen hat sich nur Japan verpflichtet, seine Emissionen zu senken. Es muss sich darum zeigen, ob sich die hohen Kosten der Reduktion in dieserForm fiir die unterzeichnenden Industrienationen wirklich lohnen, ob also die ökonomischen und sozialen Nachteile die ökologischen Vorteile aufwiegen werden. Das Kyoto-Protokoll kann also nur ein Anfang sein. 18
V gl. zu den klassischen spieltheoretischen Dilemmata-Strukturen den Beitrag von Pies.
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3.2
Sich ändernde Bevölkerungsstrukturen
Ein zweites Problemfeld im Rahmen eines weiteren Begriffs von Umweltethik ergibt sich aus den sich ändernden Bevölkerungsstrukturen. Die Lebenserwartung des Einzelnen in den meisten industrialisierten Ländern ist seit 1850 von damals etwa 35 Jahren aufheute 75-80 Jahre gestiegen. In Ländern wie Indien und China stieg sie von etwa 25-30 Jahren zu Beginn des zwanzigsten Jahrhunderts nach eigenen statistischen Angaben fiir das Jahr 2004 auf64 bzw. 72,5 Jahre. 19 Ein Hauptgrund fiir diese Veränderung sind die verbesserten medizinischen Möglichkeiten, insbesondere in der Neonatologie, der Versorgung Neugeborener: So starben in ländlichen Gegenden Chinas noch um 1920 etwa ein Drittel von ihnen, im Jahr 2004 nach eigenen statistischen Angaben nur noch 26 von 1000 neugeborenen Kindern.20 Ein weiterer entscheidender Grund liegt in der "Grünen Revolution", also dem Einsatz von speziellen Düngemitteln und Pestiziden, und verbesserten politischen Rahmenbedingungen. China hat es auf diese Weise erreicht, die Kalorienzahl pro Einwohner seit 1960 aufknapp 3000 pro Tag zu verdoppeln. Hunger ist kein Thema mehr. Selbst Länder wie Burkina Faso haben es auf diese Weise geschafft, die Kalorienzahl je Einwohner um ein Viertel in nur 10 Jahren zu erhöhen (vgl. Lomborg 2001, 66). Als eine Folge dieser Entwicklung stieg die Erdbevölkerung aufheute über 6,5 Milliarden Menschen. Bis 2050 wird sie wohl aufüber 9 Milliarden ansteigen. Dennoch sind die Probleme unterschiedlich, da die Bevölkerung in den Entwicklungsländern steigt, während sie in den meisten Industrieländern stagniert oder sogar zurückgeht.
3.2.1
Entwicklungsländer
Entwicklungsländer wie Indien werden bis 2050 eine Bevölkerung von mehr als 1,6 Milliarden Menschen haben. Die Bevölkerungen von Bangladesh, Pakistan, Indonesien und Nigeria werden sich mehr als verdoppeln. Diese Länder werden zusammen deutlich über eine Milliarde Menschen beherbergen. Da aber die Geburtenziffer auch in den Entwicklungsländern 19 20
Der Unterschied der Lebenserwartung von Frauen und Männern kann in diesem Zusammenhang vernachlässigt werden. In Deutschland liegt die Kindersterblichkeitsrate bei vier von 1000 Neugeborenen. In den fiinfziger Jahren war sie jedoch deutlich höher als heute in China.
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seit mehr als 30 Jahren kontinuierlich sinkt, geht man davon aus, dass die Erdbevölkerung nach 2050 wenig wachsen wird. Was die Frage der Nachhaltigkeit angeht, werden mehrere Szenarien aufgestellt (vgl. Hauser 1999, 143f). In der pessimistischen Variante werden viele Länder in eine Bevölkerungsfalle mit sozialen und ökonomischen Problemen geraten, da angenommen wird, dass das Bevölkerungswachstum die Leistungsfähigkeit und das ökonomische Wachstum übersteigt. Zudem wird die ökologische Bilanz katastrophal ausfallen, da bei nur wenig verbesserter Technologie durch die erhöhte Nachfrage nach Produkten auf Grund der wachsenden Bedürfnisse einer immer größeren Zahl die Umweltbelastungen steigen werden. Gemäß den oben angegebenen Prinzipien und damit verbundenen Regeln besteht unter diesen Voraussetzungen eine doppelte Solidaritätspflicht der reicheren Länder. Einerseits sollte ein Technologietransfer helfen, ökologische Schäden einzudämmen. Vor allem aber sollten Maßnahmen globaler Gerechtigkeit dazu dienen, den Ländern in Not beizustehen. Aber die Hilfen dürfen nicht einseitig ausfallen. Bereits heute sind viele Hilfsprogramme an Maßnahmen der bedürftigen Länder geknüpft, um der Ausbeutung und dem Missbrauch von Hilfen vorzubeugen. Allerdings bleibt es eine offene Frage, inwieweit die vom Internationalen Währungsfond oder der Weltbank geforderten Maßnahmen in der Tat zum Ziel führen. Oft sind geforderte Maßnahmen, wie beispielsweise die Öffnung des Landes für ausländische Banken, in bestimmten Phasen kontraproduktiv. Statt die ökonomische und soziale Dimension zu verbessern, wird diese beispielsweise dann verschlechtert, wenn funktionierende inländische Banken durch global agierende ausländische Banken erst zerstört werden und dann der kleine Landbesitzer von diesen Banken keine Kredite mehr bekommt, weil vorher bestehende Vertrauensverhältnisse nicht mehr existieren und weil diese Banken letztlich keinerlei Verbindung zur inländischen Bevölkerung haben (vgl. Stiglitz 2004, 43- 53). Andererseits zeigen die Maßnahmen zur Eindämmung des Bevölkerungswachstums überraschend gute Erfolge, sodass für ein optimistischeres Szenarium Hoffnung besteht. Zudem belohnt das jetzt in Geltung getretene Kyoto-Protokoll einen Technologietransfer zur Verbesserung der ökologischen Dimension in den Entwicklungsländern. Es wird aber auch hier zu fordern sein, dass darüber hinaus Anreize zu schaffen sind, damit insbesondere die bevölkerungsstarken Länder neben der ökonomischen und sozialen Dimension die ökologische Dimension nicht aus dem Blick verlieren, denn hier ist das Protokoll (s. 3.1) derzeit noch nicht zureichend.
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3.2.2
Industrieländer
Völlig anders sieht die Situation in den lndustrieländem, insbesondere in Europa aus. Hier geht die Bevölkerung in mehreren Ländern drastisch zurück. Am Beispiel der Bundesrepublik Deutschland lässt sich sehr gut sehen, welche Folgen diese Entwicklung haben kann. In Deutschland liegt die Fertilitätsquote bei etwa 1,3. Um aber die Bevölkerung stabil zu halten, wären 2,1 Kinder je Frau nötig, wenn man Wanderungsbewegungen nicht berücksichtigt. Durch dieses Fortpflanzungsverhalten wird das Durchschnittsalter (sog. Median-Alter der Bevölkerung) in Deutschland bis zum Jahr 2050 voraussichtlich auf fast 50 Jahre steigen, während das MedianAlter der Weltbevölkerung bei etwa 36 Jahren liegen wird. 2 ' Was die soziale Dimension der Nachhaltigkeit angeht, so ist davon auszugehen, dass diese Entwicklung beide Regeln verletzt, also weder zureichend individual- noch sozialverträglich ist. Die veränderte Bevölkerungsstruktur wird dazu fUhren, dass viele Menschen in Zukunft sowohl in der gesundheitlichen Versorgung als auch in der Altersversorgung schlechter gestellt sein werden als die heutigen Kranken und Alten. Andererseits ist auf Grund der Bevölkerungsreduktion zu erwarten, dass die ökologische Dimension profitiert. Durch die Bevölkerungsreduktion werden weniger Ressourcen verbraucht. Weniger Menschen verbrauchen weniger Wasser, weniger Energie, weniger Bauland wird versiegelt werden. Es ist zu erwarten, dass ganze Landstriche, insbesondere im Nordosten Deutschlands, zu Landschaftsschutzgebieten werden könnten. Was die ökonomische Dimension angeht, so werden wohl zumindest zwei der drei Regeln nicht befolgt: Die Struktur ist auf Ausbeutung derer angelegt, die Kinder haben (Verletzung der Anreizregel) und die negativen Effekte der Kinderlosigkeit werden nicht voll auf die Verursacher übertragen (V erletzung der Gesamtkostenregel). 22 Wir haben damit eine typische Situation, in der das Paretoprinzip keine Hilfe ist, denn den ökologischen Vorteilen stehen ökonomische und soziale Nachteile entgegen. 21 22
Zu den Zahlen vgl. Birg 1999, 119. Vgl. dazu die hilfreichen Informationen in Opielka (2004, 99-1 99, insbesondere 132138). Hier weist Opielka detailliert nach, in welcher Weise Familien benachteiligt werden und zeigt damit verbundene Konsequenzen ftlr Gesundheitswesen und Alterssicherung auf. Inwieweit die von i1un vorgeschlagenen Lösungen tragfähig sind, wäre eigens zu untersuchen.
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3.2.3
Migration als Lösungsmodell~
Ein möglicher Weg im Blick auf die unterschiedlichen Bevölkerungsentwicklungen in Industrie- und Entwicklungsländern allen drei Dimensionen der Nachhaltigkeit gerecht zu werden, wird von manchen darin gesehen, das Problem über Migrationsströme zu lösen. Der Vorteil der Migration von Menschen aus Ländern mit hohem Bevölkerungswachstum in Länder mit abnehmender Bevölkerung statt in letzteren wieder Anreize fiir mehr Kinder zu schaffen, bestünde darin, dass die globale ökologische Belastung damit insgesamt wohl geringer würde, da insgesamt weniger Menschen im Verhältnis zu mehr Menschen die Umwelt bei ansonsten gleichen Bedingungen weniger belasten. Zudem würde die Migration möglicherweise ökonomische und soziale Probleme der abnehmenden einheimischen Bevölkerungen abschwächen. Allerdings können hinsichtlich der sozialen und ökonomischen Dimension Zweifel bestehen. Einerseits muss man nämlich Menschen aus ihrer Heimat durch Anreize "weglocken" und in eine ihnen oft fremde Welt einpflanzen, was fiir alle Betroffenen einen hohen Preis darstellt. Andererseits besteht die Gefahr, im eigenen Land wie auch in den betroffenen Ländern gewachsene Strukturen ungünstig zu beeinflussen. Bereits heute zeigen Großstädte, dass eine derartige Politik das von der Einwanderung betroffene Land wohl teurer zu stehen kommt, und zwar ökonomisch und sozial. Aber auch fiir die "Geberländer" ist eine Politik, die auf Migration rechnet, ökonomisch und sozial hoch problematisch. Indem oft die besten und fähigsten Köpfe aus Entwicklungsländern fiir die heimische Forschung gewonnen werden, kommen die betroffenen "Geberländer" in ihrer Forschung nicht voran. Vorzuziehen wäre von daher eine nachhaltige Bevölkerungsentwicklung in allen Ländern, also eine Bevölkerungsentwicklung, die dazu führt, dass sich langfristig gesehen überall die Bevölkerung auf einen relativ konstanten Wert einpendelt. Auf Grund der Tragfähigkeit der Erde und ihrer derzeitigen hohen ökologischen Belastung könnte sogar eine Phase sinnvoll sein, in der die einheimische Bevölkerung zumindest in einigen Teilen der Welt behutsam und freilich deutlich langsamer als beispielsweise in Deutschland auf ein geringeres Plateau rückgeführt wird, das dann konstant zu halten wäre. Dies dürfte allen genannten Regeln am besten entsprechen.
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3.3
Das Töten von Tieren
Die Tierethik als Teilgebiet der Bioethik gehört zu den kontroversesten Bereichen der Bioethik. Am umstrittensten ist hierbei, ob Tiere getötet werden dürfen. Auf Grund der allgemeinen Überlegungen war im Rahmen des integrativen Ansatzes im Ausgang von der Menschenwürde als Tierschutzregel (Regel 7) formuliert worden: Das Schädigen und Töten nichtmenschlicher Lebewesen bedarf einer Rechtfertigung. Diese kann normalerweise nicht pauschal sein, sondern hat den unterschiedlichen Wertigkeiten der Mitglieder unterschiedlicher Arten auf Grund der unterschiedlichen Empfmdungsfahigkeit Rechnung zu tragen. Was aber heißt dies konkret? Nur die wenigsten Menschen werden bestreiten, dass es in Fällen wie dem von Regan beschriebenen Fall eines vom Untergehen bedrohten Schiffes zulässig ist, das Leben eines Hundes zu opfern, um das Leben von Menschen zu retten. Auch dürfte kaum jemand bestreiten, dass die Menschen ein Recht haben, Tiere zu töten, wenn diese ihr Leben bedrohen, oder diese zu töten, wenn sie andernfalls verhungern oder erfrieren würden. 23 Bereits umstrittener ist es, Tiere im Rahmen von Tierversuchen zu opfern, um auf diese Weise für Menschen wichtige Therapien zu entwickeln (vgl. als ablehnende Position Regan 2004 [ 1983 ]). Dennoch lassen sich im Rahmen einer integrativen Bioethik derartige Versuche rechtfertigen, wenn die Alternative nur darin bestünde, dass ansonsten Menschen gefährlichen Experimenten ausgesetzt würden und wichtige Therapien nicht zu entwickeln wären, denn es gilt im Rahmen dieses Ansatzes prinzipiell: Menschenleben und menschliche Gesundheit gehen vor Tierleben. Wie aber steht es mit den eigentlich problematischen Fällen, wo nicht die Gesundheit oder das Leben von Menschen auf dem Spiel steht, wenn Tiere getötet werden: 1) dem Töten von Tieren, um Nahrung zu gewinnen, obwohl auch nicht-tierische Nahrung ausreichend ver:fiigbar ist; 2) dem Töten von Tieren, um Kleidungsstücke zu gewinnen, z. B. Pelze; 3) dem Töten von Tieren, um bestimmte nicht-medizinische Produkte, z. B. Kosmetika herstellen zu können; 4) dem Töten von Tieren, um Spaß zu haben, z. B. Fuchsjagden? 23
Auch unumstritten dürfte der "Gnadenschuss" fiir Tiere sein, die auf Grund von Krankheiten schwer leiden.
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Vor der Besprechung dieser vier Fallkonstellationen ist eine wichtige Vorbemerkung zu machen: Das Töten von Tieren kann bei Wildtieren so weit gehen, dass dadurch nicht nur einzelne Individuen einer Art, sondern die ganze Art ausgelöscht wird. Eine Tierart aus einem der vier genannten Zielsetzungen aussterben zu lassen- dies dürfte ein weitgehender Konsens sein - ist bioethisch nicht zu rechtfertigen, denn damit würde eine ganze Art zu einem für Menschen nicht notwendigen Zweck ausgelöscht. Dies steht im Widerspruch zur Sozialverträglichkeitsregel (Regel2) und zur Reversibilitätsregel (Regel 6). So werden künftige Generationen der Möglichkeit beraubt, derartige Tierarten zu erleben, weil sie einen solchen Eingriff in die Natur nicht mehr umkehren können.
3.3.1
Das Töten von Tieren zur Nahrungsgewinnung
Ist es möglich, im Rahmen des integrativen Ansatzes zu rechtfertigen, dass wir einzelne Tiere einer Art töten, um sie als Nahrung zu gebrauchen, obwohl auch nicht-tierische Nahrung zur VerfUgung steht? Insofern uns Primaten, aber wohl auch Wale und Delfine, vermutlich sogar Elefanten in gewisser Weise durch ein rudimentäres Ich-Bewusstsein bzw. eine rudimentäre Form von Zukunftsplanung am ähnlichsten sind und damit ein sehr weitreichendes Überlebensinteresse und uns vielfach relativ ähnliche Empfmdungen haben, dürfte es nicht zu rechtfertigen sein, diese Tiere auf Grund ihres dadurch als hoch zu bestimmenden Eigenwerts zu töten, um sie als Nahrungsquelle gewinnen zu können. Was aber gilt für Tiere, die nicht diesen hohen Entwicklungsstand haben? Es dürfte schwerlich zu bestreiten sein, dass fast alle Tiere ein Überlebensempfmden zeigen. Dies belegt beispielsweise das Fluchtverhalten bei Anzeichen von Gefahr. Dieses Verhalten ist freilich nicht mit einem Überlebensinteresse dergestalt zu verwechseln, dass Tiere- außer vielleicht den oben genannten- den Tod antizipieren können. 24 Wenn Tiere zur Nahrung dienen und damit getötet werden dürfen, dann muss also gerechtfertigt werden, warum in einer Güterahwägung das Interesse des Menschen am Fleischverzehr über das Überlebensempfmden des Tieres gestellt wird. Eine Möglichkeit besteht darin, davon auszugehen, dass dieses kein Lebensrecht begründet, sondern vielmehr nur die Forderung, dieses Emp24
98
So zumindest Hoerster (2004, 72). Allerdings ist beim heutigen System der Fleischgewinnung vielfach bei den zu schlachtenden Tieren, z. B. den Schweinen, eine deutliche Angstreaktion zu beobachten, die auch als Todesangst gedeutet werden kann.
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finden zu berücksichtigen. Ein Töten von Tieren zu Nahrungszwecken könnte dann damit begründet werden, dass die Nahrungsgewinnung im Interesse vieler Menschen ist und dann Vorrang vor dem Überleben und Eigenwert der einzelnen Tiere hat, wenn man die Rahmenbedingungen so gestaltet, dass dem Überlebensempfinden der Tiere Rechnung getragen wird. 25 Wie diese Rücksichtnahme auf das Empfmden von Nutztieren aussehen soll, kann in Anlehnung an eine Liste geschehen, die als die "fiinfFreiheiten" (jivefreedoms) des britischen "Farm Anirnal Welfare Council" international rezipiert wurden. Nach dieser Liste sind dem Nutztier folgende "Freiheiten" zu gewähren:26 "1) Freiheit von Hunger und Durst - durch Zugang zu frischem Wasser und gesunder Nahrung. 2) Freisein von Unbehagen- durch die Bereitstellung einer angemessenen Umgebung mit Schutzzonen und komfortablen Ruhezonen. 3) Freisein von Schmerzen, Verletzungen und Krankheiten- durch Prävention oder schnelle Diagnose und Behandlung. 4) Freisein zum Ausleben normaler Verhaltensweisen- durch ausreichend Platz, angemessene Einrichtungen und Kontakt zu Artgenossen. 27 5) Freisein von Angst und Leiden - durch Haltungsbedingungen und eine Behandlung, die kein psychisches Leiden fordern."
Bei Wildtieren ist dafiir zu sorgen, dass der Jäger mit seiner Waffe umzugehen versteht, also das Tier tötet, ohne dass dieses in seinem Überlebensempfinden betroffen ist. Hier kommt allerdings argumentativ erschwerend hinzu, dass diese Tiere unabhängig davon existieren, dass der 25
26 27
Ob bei den Überlegungen eine Rolle spielen sollte, dass viele Nutztiere nur existieren, weil sie zum Nutzen der Nahrungsgewinnung erzeugt wurden, ist eine offene Frage. Hoerster (2004, 75f) beantwortet sie damit, dass durch die Gewohnheit menschlichen Fleischverzehrs "die Quantität und damit der Gesamtwert tierischen Lebens in Wahrheit nicht etwa gemindert, sondern im Gegenteil vergrößert" wird. Andere Positionen vertreten dagegen z. B. Regan oder Singer. Hier zitiert nach der Übersetzung von Busch/Kunzmann 2004, 62. Einer kritischen Note bedarf der Punkt 4), denn es ist nicht ganz klar, was "normale Verhaltensweisen" sind und unter welchen Bedingungen sie erhoben werden sollen. Die Zuchtwahl unter Domestikationsbedingungen hat jedenfalls bewirkt, dass die existierenden Nutztiere und Nutztierrassen in ihrem Verhaltensrepertoire sich erheblich untereinander und auch von ihren Wildformen unterscheiden (Röhrs 1997).
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Mensch sie als Nahrung gebrauchen kann (im Unterschied zu den Nutztieren). Allerdings gibt es ein weiteres Argument, das gegen das Töten von Tieren zur Nahrungsgewinnung ins Feld gefiihrt werden kann: Im Sinne der Optimierungsregel (Regel5) ist die Nahrungsgewinnung durch das Töten von Tieren deutlich weniger produktiv als eine vegetarische Nahrungsgewinnung. Darüber hinaus ist eine exzessive Nahrungsgewinnung durch das Töten von Tieren fiir die betroffenen Menschen sogar gesundheitschädlich, womit indirekt sogar die soziale Dimension der Nachhaltigkeit verletzt wird. Von daher ist auf jeden Fall eine derartig exzessive Nahrungsgewinn durch das Töten von Tieren bioethisch vor dem Hintergrund des hier vertretenen Ansatzes nicht zu rechtfertigen.
3.3.2 Das Töten von Tieren zur Kleidungsgewinnung Im Unterschied zur Gewinnung von Kleidungsstücken, die sich dem Töten von Tieren aus anderen Gründen, meist der Nahrungsgewinnung verdanken, z. B. von Schuhen aus Rindsleder, gibt es eine Form des Tötens von Tieren, die ausschließlich dem Kleidungsgewinn dient. Die Ablehnung der Gewinnung von Pelzen von Tieren, die vom Aussterben bedroht sind, ist bereits oben hinreichend begründet worden. Wie aber steht es mit der Tötung von Tieren, die eigens zu diesem Zweck gezüchtet werden? Es geht hier um eine Güterahwägung zwischen dem subjektiv empfundenen Wohlergehen derjenigen Menschen, die sich "einen Pelz gönnen möchten" und dem Überlebensempfmden der betroffenen Tiere. Analog zur Nahrungsgewinnung gibt es zumindest Rechtfertigungsgründe, das subjektiv empfundene Wohlergehen der betroffenen Menschen über das Überlebensempfinden der betroffenen Tiere zu stellen, insbesondere dann, wenn diese Tiere zum Zweck der Pelzgewinnung gezüchtet werden, also nur leben, weil sie vom Menschen gebraucht werden. Dabei wird vorausgesetzt, dass auch in diesem Fall die oben aufgefiihrten Regeln zur Nutztierhaltung berücksichtigt werden. Aber auch hier fällt negativ ins Gewicht, dass diese Form der Kleidungsgewinnung sehr ressourcenintensiv ist (Verletzung der Optimierungsregel) und damit im Sinne der ökologischen Dimension der Nachhaltigkeit problematisch bleibt.
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3.3.3
Das Töten von Tieren im Rahmen der Herstellung nicht-medizinischer Produkte
Kosmetika und ähnliche Produkte müssen meist im Tierversuch getestet werden, bevor sie die Zulassung erhalten. Von daher scheint auf den ersten Blick die Rechtfertigung dieser Form des (möglichen) Tötens von Tieren sehr einfach zu sein: Menschliche Gesundheit ist wichtiger als der Eigenwert einzelner Tiere. Das Leben eines Menschen zählt unvergleichlich mehr als das Leben selbst von Millionen von Tieren. Allerdings steht dem ein wichtiger Einwand entgegen. Im Unterschied zu Medikamenten sind Kosmetika nicht wirklich für die Gesundheit des Menschen nötig. Man benötigt also einen sehr weiten Begriff menschlichen Wohlergehens, um zu rechtfertigen, warum Tiere bei derartigen Versuchen ihr Leben verlieren müssen. Wenn überhaupt, dann können im Rahmen des integrativen Ansatzes im Ausgang von der Menschenwürde vermutlich nur eine geringe Zahl der derzeit weltweit durchgefiihrten Tierversuche mit tödlichem Ausgang für die betroffenen Tiere gerechtfertigt werden.
3.3.4
Das Töten von Tieren zum Spaß
Das Töten von Tieren zum Spaß enthält beispielsweise bei Fuchsjagden als ein konstitutives Element den Faktor, dass das betroffene Tier sich ängstigt und in seinem Überlebensempfinden verletzt wird, noch bevor es schließlich getötet wird. Es steht also das menschliche Lustgefiihl des Jagens dem tierischen Angstempfmden gegenüber. So wichtig dieses Lustempfinden evolutionsgeschichtlich gewesen sein mag, so wenig rechtfertigt es im Rahmen einer integrativen Bioethik derartige Formen des Tötens von Tieren, denn diese Form des Umgangs mit Tieren grenzt bereits an Tierquälerei, die eine Verletzung der Tierschutzregel (Regel 7) darstellt.
4
Zusammenfassung und Ausblick
In der Umwelt- und Tierethik lässt sich der lange Zeit vorherrschende Anthropozentrismus als konsensualer Ansatz nicht mehr halten. Auch heutige anthropozentrische Ansätze sind mit physio-, bio- und pathozentrischen Ansätzen nicht gänzlich zu vermitteln. Ein integrativer Ansatz, der zwar
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von der Menschenwürde ausgeht, aber über das Prinzip der Nachhaltigkeit wichtige Anregungen insbesondere des Pathozentrismus integriert, kann zwar ebenfalls diese Vermittlung nicht vollständig leisten, er bietet aber Regeln an, die individuell und sozial verträglich, ökonomisch sinnvoll und ökologisch dienlich sind. Die beispielhaft behandelten Problemfelder haben gezeigt, dass diese Prinzipien und die mit ihnen verbundenen Regeln ethische Bewertungen ermöglichen. Von daher ist zu erwarten, dass sie auch fiir weitere bioethische Problemfelder Anwendung finden können.
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Medizinethik (Bioethik II) Heiko Ulrich Zude
Einleitung Eine Einführung in die Medizinethik soll in gebotener Kürze ein grundsätzliches Verständnis fiir die Perspektive der Ethik in ausgewählten Themenfeldern eröffnen. 1 Zur differenzierenden Vertiefung der einzelnen Problemstellungen dienen nach wie vor die dicken Büchef. Für eine erste Orientierung in diesem Bereich Angewandter Ethik werden zunächst zwei allgemeinere Themen vorgestellt, die jeweils quer zu den konkreten Anwendungsfragen stehen. Aus der Vielzahl sind die Begriffe Krankheit bzw. Gesundheit und das Thema Gerechtigkeit im Gesundheitswesen ausgewählt. In einem zweiten Teil folgen vier - wiederum ausgewählte - Themen- bzw. Handlungsfelder im Rahmen des Gesundheitswesens, die allesamt klassische Problemkreise der Medizinethik darstellen. Die Strukturierung des Artikels orientiert sich an diesen Problemkreisen (vgl. u. a. Schöne-Seifert 1996; Kreß 2003; Wiesemann!Biller-Andomo 2005), nicht an systematischen Kriterien (vgl. v. a. Beauchamp/Childress 2001).
1
Allgemeine Problemstellungen
1. 1
Begriff der Medizinethik
Medizinethik (engl.: Bioethics, Medical oder Biomedical Ethics) hat als bereichsspezifische Ethik die Aufgabe, die moralische Dimension des gesellschaftlichen Teilsystems Humanmedizin methodisch zu reflektieren.
2
Ich danke dem Oberseminar des Lehrstuhls filr Augewandte Ethik in Jena filr die konzentrierte und in vielen Punkten hilfreiche Diskussion des Artikels. Siehe unten: Literatur. Hierin finden sich jeweils mühelos weiterfiihrende Titel.
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Aus der hier gewählten Definition3 folgt, dass das intuitive moralische Urteilen (die Bewertung als moralisch richtig bzw. moralisch falsch) nicht selbst Aufgabe der Medizinethik ist, sondern deren methodisch zu reflektierender Gegenstand. Insofern also auch medizinische Ethik nicht selber Moral, sondern Reflexion auf Moral ist, arbeitet sie immer zunächst deskriptiv-hermeneutisch und versucht so, die moralische Dynamik bereichsspezifischer Konflikte aufzuzeigen und verständlich zu machen. Sie verfolgt damit das praktische Ziel, durch ErheBung und Strukturierung dieser moralischen Konfliktstrukturen im Entscheidungsfall zur besseren Verständigung und somit zur Lösung solcher Konflikte beizutragen. Eine deskriptive Medizinethik verbleibt dabei in einer beobachtenden Perspektive und enthält sich ihrerseits normativer Vorgaben. Darüber hinausgehend ist eine normative Medizinethik um die Erarbeitung normativer Vorgaben bemüht, die im Gegensatz zum bloß moralischen Urteil jedoch nicht nur auf subjektive Intuition, sondern auf kritisch ausgewiesene Normenkataloge oder Prinzipien rekurrieren (z. B. auf den Hippokratischen Eid, die Menschenrechte, die Menschenwürde etc.) und einen gewissen Anspruch auf Objektivität erheben. 4 Innerhalb der Allgewandten Ethik kommt die Medizinethik manchmal unter dem gemeinsamen Oberbegriff "Bioethik" neben die Tierethik und die Umweltethik bzw. Ökologische Ethik zu stehen (vgl. Nida-Rümelin 1996, 64), wobei sich die Medizinethik i. e. S. -wie hier- auf den Bereich der Humanmedizin beschränkt (z. B. Schöne-Seifert 1996, 553). Allerdings ist diese Systematisierung weder generell üblich (anders z. B. Wiesemann!Biller-Andorno 2005) noch trennscharf (Düwell 2002, 246f). Neuerdings zeichnen sich zudem weitere Ausdifferenzierungen der Medizinethik ab, sodass zusätzlich unterschieden werden kann (muss) zwischen einer bereits etablierterenS, sich auf das ärztliche Ethos konzentrierenden 3
4
5
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Andere Definitionen verweisen etwa auf die Aufgabe der Medizinethik, "sich mit Fragen nach dem moralisch Gesollten, Erlaubten und Zulässigen im Umgang mit menschlicher Krankheit und Gesundheit" (Schöne-Seifert 1996, 553) zu befassen, bzw. kürzer, "sie hat sich mit den moralischen Problemen der Medizin zu beschäftigen" (Wiesing/ Marckmann 2002, 268), oder sie geben Medizinethik als "die Wissenschaft vom moralischen Urteilen und Handeln im Gesundheitswesen" (Wiesemann/Biller-Andorno 2005, 15) zu verstehen. Im Hintergrund der Entscheidung fiir eine eher deskriptiv oder normativ arbeitende (Medizin-)Ethik steht wiederum u. a. eine jeweils andere Beurteilung(!) des Wertepluralismus. Solche normativen Vorverständnisse einer jeweiligen (Medizin-)Ethik aufzuklären, ist Aufgabe der ethi~chen Hermeneutik(= Kunstlehre des Verstehens). V gl. etwa Moll, A. (1902): Arztliehe Ethik. Die Pflichten des Arztes in allen Beziehungen seiner Tätigkeit. Stuttgart; und von Niedermeyer, A. (1954): Ärztliche Ethik (Oeontologie). Grundlagen und System der ärztlichen Berufsethik. Allgemeine Pastoralmedizin in zwei Bänden. Bd. li, Wien.
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Medizinethik (Bioethik II)
"Ärztlichen Ethik" (vgl. Wiesing/Marckmann 2002, 268±), sowie den neu entstehenden Disziplinen einer "Pflegeethik" (v. a. Körtner 2004) oder einer auf die unmittelbare Praxis zielenden "Klinischen Ethik" (Jonsen et al. 2002). Der Sinn auch dieser immer weiter gehenden Ausdifferenzierungen der Medizinethik liegt zunächst in der damit erfolgenden Reduzierung von Komplexität, die es dann wiederum gestattet, innerhalb der jetzt ausdifferenzierten Bereiche die der Sache angemessene Erhöhung der Komplexität zu erreichen.
1.2
Krankheit und Gesundheit
Zu den zentralen Begriffen der Medizin zählt das Gegensatzpaar "Krankheit" und "Gesundheit". Für die Medizinethik von Bedeutung ist die Tatsache, dass es sich hier nicht um rein naturwissenschaftlich-deskriptive, sondernjeweils um normative Begriffe handelt. Normativ sind die Begriffe insofern, als etwa ein Zustand der "Krankheit" in der Regel als "schlecht" gilt, und also behoben werden "soll", während "Gesundheit" ein erstrebenswertes "Gut" darstellt und bewahrt, bzw. wiederhergestellt werden "soll". ,,Krankheit" wie "Gesundheit" sind als solche keine allein messbarobjektiven Größen, vielmehr stellen sie die jeweils kulturell bedingte Deutung solcher Größen dar. So steht etwa in der Kontroverse um die Bewertung der sog. Cochlea-Implantate (Cl), die bei (nahezu) gehörlosen Personen zum Einsatz kommen, um ihnen künstlich zu Hörvermögen zu verhelfen, immer auch die Beurteilung der Gehörlosigkeit als "Krankheit" in Frage. Diese Beurteilung ist zwischen Medizinern, Gehörlosen und Gehörlosenpädagogen durchaus strittig, insofern der Deutung von Taubheit als Krankheit teilweise die selbstbewusste Behauptung von Gehörlosigkeit als eigener Kultur mit eigener (Zeichen-)Sprache entgegengesetzt wird, aus deren Perspektive die von außen herangetragene Beurteilung als "Krankheit" als Diskriminierung empfunden wird. 6 Es ist diese normative Eigenart jener zentralen medizinischen Begriffe, die zu Konflikten bezüglich der adäquaten Zuschreibung etwa des Krankheitsbegriffs und auch der Geltung dieser Zuschreibung führen kann. Konflikte können über den Fragen aufbrechen, ob der Zustand einer Person 6
Vgl. zur ,,Deaf Culture Debate": Lane, H. ( 1992): The Mask of Benevolence. Knopf, New York; Jones, M. A. (2002): Deafness as Culture: A Psychosocial Perspective. In: Disability Studies Quarterly 22, 51-60.
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zu Recht als krank zu bezeichnen ist bzw. wer die Interpretationshoheit und damit die Zuschreibungsmacht besitzt. Zugespitzt: Bestimmt im Zweifelsfall der Arzt oder der Patient, ob dieser als "krank" zu gelten hat und behandelt werden soll oder- im Fall von nicht-einwilligungsfähigen Personen (Kindern)- sogar muss? Je nach Auffassung der spezifischen Eigenart von Krankheit kommt man hier zu verschieden gelagerten Antworten. Zu unterscheiden ist hier eine objektivierende von einer subjektivierenden Auffassung. Eine objektivierende Auffassung von Krankheit orientiert sich vorrangig am Kriterium der Dysfunktionalität. Das Urteil "Krankheit" wird aufgrund messbarer Störung oder nachweislichem Fehlen einer normalen Funktion zugeschrieben. Die theoretische Voraussetzung hierfür folgt im weitesten Sinne der von Rene Descartes (1595-1650) überkommenen Unterscheidung zwischen Geist (res cogitans) und Körper (res extensa) mit der Annahme, der menschliche Körper sei für sich als mechanisch funktionierendes Gebilde zu verstehen, ähnlich einer Uhr. Orientiert sich die Auffassung des menschlichen Körpers an einem mechanistischen Paradigma, so bedeutet "Krankheit" so viel wie "Reparaturbedürftigkeit". Der unter dieser Voraussetzung sich ergebende Imperativ lautet: Wiederherstellung einer möglichst reibungslosen Funktionalität! Das ethisch relevante Problem dieser Auffassung ergibt sich aus der unmittelbaren Verknüpfung von Dysfunktionalität und Krankheitsbegriff. Der oben erwähnte Zustand der Gehörlosigkeit einer Person gilt gemäß der objektivierenden Sicht aufgrund der messbaren Funktionsstörung objektiv und definitiv als "Krankheit" und die normative Zuschreibung von ,,Krankheit" in diesen Fällen macht die Zustimmung der betroffenen Person zu diesem Urteil überflüssig. In strikter Entgegensetzung zur objektivierenden, gilt der subjektivierenden Auffassung für die adäquate Zuschreibung von Krankheit allein das Empfmden des betroffenen Patienten als nötig und hinreichend. Das Urteil "Krankheit" wird aufgrund subjektiver Selbsteinschätzung zugeschrieben. Orientiert sich die Auffassung von Gesundheit und Krankheit am subjektiven Empfmden, dann bedeutet "Krankheit" so viel wie "Unwohlsein" bzw. "Gesundheit" so viel wie "Wohlempfmden". Ein Beispiel für ein am subjektiven Paradigma orientiertes Verständnis von Gesundheit bietet die Definition der Weltgesundheitsorganisation (WHO) von 1948: "Health is a state of complete physical, mental and social well-being and not merely
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the absence of disease or infrnnity. " 7 Die anerkannte Stärke dieser Definition liegt in der ausgewogenen Berücksichtigung physischer, geistiger und sozialer Faktoren. Kritik an dem hier definierten Verständnis von Gesundheit bezieht sich auf deren utopischen, d. h. uneinholbaren Charakter, sowie auf die völlige Vernachlässigung der objektiven Faktoren. Ist beispielsweise eine Person, die sich zwar subjektiv noch "wohlbefmdet", sich jedoch (objektiv) nachweisbar mit dem IDV-Erreger infiziert hat, tatsächlich erst ab dem Zeitpunkt von wahrnehmbaren Beschwerden und der Einsicht in den medizinischen Befund als "krank" zu bezeichnen? In der Medizinethik zu thematisierendes Konfliktpotenzial bergen also solche Fälle, in denen entweder eine messbare Dysfunktionalität mit einer Selbsteinschätzung von Gesundheit kollidiert, oder die Selbstdefmition Krankheit durch keine messbare Dysfunktionalität nachweisbar ist und jeweils die Frage aufgeworfen ist, wer über eine (Weiter-)Behandlung entscheiden soll.
1.3
Gerechtigkeit im Gesundheitswesen
Dass Güterknappheit8 auch im Gesundheitswesen gilt, ist zunächst eine triviale Feststellung. Im Gesundheitssystem gewinnt diese schlichte Tatsache aber besondere Brisanz dadurch, dass das Gesetz der Knappheit von Gütern hier sehr schnell eine existenziell bedrohliche Dimension annehmen kann, die alles andere ist als trivial. Das Problem ist nicht neu. Allerdings tritt es neuerdings verschärft ins Bewusstsein, da zum einen die Diskrepanz zwischen Therapien, die zwar mittlerweile medizinisch möglich, aber zunehmend ökonomisch unmöglich sind, unaufhaltsam größer wird; zum anderen werden auch bislang übliche Leistungen (wie z. B. Ultraschalluntersuchungen bei Schwangeren) zunehmend der Rationierung unterworfen. Wenn ein Patient heute seiner Ärztin die Frage stellen muss, warum (gerade) er das neue hochwirksame Medikament bzw. die kostspielige Operation nicht bekomme, und die ehrliche Ärztin auch immer öfter die Antwort 7
8
Preamble to the Constitution ofthe World Health Organization as adopted by the International Health Conference, New York:, 19-22 June, 1946; signed on 22 July 1946 by the representatives of 61 States (Official Records ofthe World Health Organization, no. 2, p. 100) and entered into force on 7 April1948. (Vgl.: http://www.who.int/about/defmition/en). In diesem Problemfeld überschneidet sich die Medizinethik am deutlichsten mit typischen Fragestellungen der Wirtschaftsethik.
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geben müsste, dass für (gerade) diesen Patienten das Budget nicht ausreiche, dann ist diese immer schon bittere Wahrheit heute auf durchaus bestimmbare Faktoren zurückzufiihren, die auch nur zum Teil systemimmanent generiert sind. Zu den Faktoren, die das Knappheitsproblem im Gesundheitswesentrotz steigender Ausgaben - zunehmend verschärfen, zählen neben dem medizinisch-technischen Fortschritt v. a. die demographische Entwicklung mit entsprechender Verschiebung der typischen Krankheitsbilder (Oberschenkelhalsbruch statt Kindbettfieber) sowie qualitativ wie quantitativ zunehmende Ansprüche der Patienten (vgl. Marckmann in Wiesing 2000, 240ft). Um die daraus resultierende Diskrepanz zwischen Angebot und Bedarfsbefriedigung in unserem Gesundheitssystem weiterhin überbrücken zu können, werden mehrere Lösungsansätze auf jeweils unterschiedlichen Ebenen verfolgt. Zu einer Frage der Ethik in der Medizin werden diese Sachverhalte deshalb, weil es bei der Verteilung von knappen Gütern (auch) um Wertentscheidungen geht, die sich der Frage zu stellen haben: Wie viel ist uns (in diesem Fall) Gesundheit wert? Ist sie nach unserem Ermessen der höchste Wert, das höchste Gut oder lediglich ein hohes Gut neben anderen, dessen genaue Position so wie so in Konkurrenz zu anderen Werten immer wieder zu justieren und in einer Wertehierarchie festzulegen ist? Solche Justierungen und Festlegungen sind dabei immer nur vorläufig und nie endgültig. Deshalb bilden diese Fragestellung und die Suche nach einer tragfähigen Antwort einen andauernden Prozess, der immer nur temporär, nie endgültig zum Abschluss kommen kann. Aufder Makroebene (der Politik) wird die Frage "Wie viel ist uns Gesundheit wert?" erörtert, indem zwischen "Gesundheit" und anderen Werten wie etwa Familienforderung, Bildung, Umweltschutz, äußerer und innerer Sicherheit etc. abgewogen werden muss. Von den Wertentscheidungen auf dieser Ebene ist dann die anteilige Berücksichtigung des Gesundheitswesens bei der Verteilung der Staatseinnahmen an die verschiedenen Ressorts abhängig. Die Mittelknappheit im Gesundheitssystem fiihrt auf dieser (externen) Ebene zur Nachfrage nach einer Erhöhung des Budgets, also nach Erhöhung des Anteils an den Staatseinnahmen auf Kosten anderer Bereiche, die bei gleich bleibendem Gesamtvolumen entsprechend gekürzt werden müssten. Eine deskriptiv-hermeneutisch arbeitende Ethik versucht hier eine Beschreibung und Erklärung der in einer Gesellschaft bestehenden und sich verschiebenden Wertearchitektur und deren zugrunde liegender Kriteriologie zu geben, während eine in diesem Bereich eher normativ arbeitende Medizinethik (vgl. Kreß 2003; Knoepftler 2004) da-
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rauf hinarbeitet, Kriterien einer "gerechteren" Verteilungsanordnung zu entwickeln und argumentativ zu forcieren. Im Gegensatz zur politischen Makroebene können innerhalb des Gesundheitssystems Lösungsansätze auf der Mesoebene und der Mikroebene unterschieden werden. (1) Auf der Mesoebene (z. B. der Krankenkassen) können mit veränderten Wertentscheidungen Veränderungen in der dominanten Gesundheitsstrategie eingeleitet werden. Hier wird entschieden, welcher gesundheitspolitische Schwerpunkt verfolgt und in welche Bereiche des Gesundheitssystems deshalb anteilig wie viel Geld des zugewiesenen Gesamtvolumens investiert wird. Indem etwa versucht wird, den gesundheitsinnenpolitischen Akzent von kurativer zu präventiver Medizin hin zu verschieben, sucht man durch Aufklärung und Bonussysteme die Eigenverantwortlichkeit (vgl. Kreß 2003, 82) der potenziellen Patienten entgegen einer etwaigen "Vollkaskomentalität" zu stärken, um Erkrankungen aufgrund gesundheitlicher Fahrlässigkeit (Rauchen) möglichst vorzubeugen bzw. in ihrer Ausgestaltung zu minimieren. (2) Auf der Mikroebene des Gesundheitssystems (z. B. im städtischen Krankenhaus oder in der Arztpraxis) werden gleichzeitig zwei Wege eingeschlagen. Auf der einen Seite versuchen Rationalisierungsmaßnahmen, die Effizienz medizinischer Versorgung zu erhöhen, indem bei gleich bleibenden Leistungen die anfallenden Kosten möglichst reduziert (z. B. durch Verlagerung zahntechnischer Dienstleistungen nach Asien), und/oder bei gleich bleibenden Ausgaben die Leistungen möglichst verbessert werden. Wenn über Rationalisierungsmaßnahmen allein der Kostendruck im Gesundheitswesen nicht aufzufangen ist, fUhrt das auf der anderen Seite zudem zu Rationierungsmaßnahmen. Rationierung heißt, es werden nach Maßgabe zu bestimmender Kriterien Leistungen entweder gar nicht erst in den Leistungskatalog aufgenommen, oder bislang gewährte Leistungen gekürzt oder wieder ganz gestrichen. Vor allem die Rationierungsmaßnahmen auf dieser Ebene führen mit besonderer Dringlichkeit zur Frage nach der "Gerechtigkeit" hinsichtlich der Distribution knapper Güter im Gesundheitswesen. Der Begriff "Gerechtigkeit" bedarf hier zumindest einiger knapper Bemerkungen (vgl. Beauchamp/Childress 2001, 226ff; Kreß 2003, 79ft). In der klassischen Abhandlung zum Thema Gerechtigkeit unterscheidet Aristoteles (Nikomachische Ethik, Buch 5) u. a. von der arithmetischen oder ausgleichenden Gerechtigkeit (lat. : iustitia commutativa) die geometrische oder zuteilende Gerechtigkeit (lat.: iustitia distributiva). Fragen der zuteilenden Gerechtigkeit entstehen überall dort, wo (idealtypisch) eine
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Person (oder Institution) A ein Gut an zwei Personen B und C so verteilen soll, dass keine der Personen B und C benachteiligt wird, sondern jeder "das ihr jeweils Zustehende" zukommt. Auch die "distributive Gerechtigkeit" hat bei Aristoteles mit den anderen ethischen Tugenden gemein, dass sie die Mitte bildet zwischen den beiden Extremen des Zuviel und Zuwenig.9 In Gerechtigkeitsfragen ist es die Gleichheit, die diese Mitte bildet; Gerechtigkeit ist nach Aristoteles im Kern Gleichheit. Und so sieht er Gerechtigkeit dann gegeben, wenn gleiche Fälle gleich bzw. ungleiche Fälle ungleich behandelt werden. Die eigentliche Schwierigkeit entsteht nun an der Frage, was denn als entscheidender Vergleichspunkt angenommen werden soll, um die Gleichheit oder Ungleichheit der Personen B und C festzulegen. Soll- so die normative Frage- das maßgebende Kriterium fur die gleiche oder ungleiche Verteilung knapper Güter in der Leistungsfähigkeit fur die Gesellschaft, in der individuellen Bedürftigkeit, in dem gesellschaftlichen Status, in der Qualität und der Quantität der verbleibenden Lebenszeit oder etwa in der nachweislich gesunden Lebensfiihrung bestehen, sodass etwa dem letZten Kriterium gemäß der Nichtraucher bei der Zuteilung einer zu transplantierenden Lunge dem starken Raucher "gerechterweise" vorzuziehen wäre? Die klassischen Ausfiihrungen von Aristoteles sind stetig weitergeführt und ergänzt worden, sodass heute u. a. auch von einer "schützenden Gerechtigkeit" (lat.: iustitia protectiva) die Rede sein kann, die den besonderen Schutz der schwächeren Mitglieder einer Gesellschaft als zu berücksichtigendes Kriterium anmahnt (vgl. Kreß 2003, 79±). Mit der Festlegung der anzuerkennenden Gerechtigkeitskriterien werden im Gesundheitswesen normative Weichenstellungen von weitreichender Bedeutung vorgenommen. Wer soll gerechterweise wie viel Anteil an den knappen Gütern erhalten? Vorzugsweise junge Menschen oder/und leistungsfähige, bedürftige, finanziell potente, gesundheitsbewusste Personen?10 Ein sehr pragmatisches Rationierungsschema findet sich etwa in der besonderen Situation der Notfallmedizin (vgl. Beauchamp/Childress 2001, 270ft). Das Modell der "Triage" (frz.: auswählen, aussortieren) stellt Kri9 10
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So bildet beispielsweise die Tugend der Tapferkeit die Mitte zwischen einem Zuwenig an Mut (Feigheit) und einem entsprechenden Zuviel (Waghalsigkeit). Ein Beispiel: Es gehen gleichzeitig zwei Notrufe in der Rettungsleitstelle ein. Einjunger Mann ist mit seinem Motorrad von der Straße abgekommen und schwebt in Lebensgefahr. Ebenso lebensgefährlich verletzt wurde eine Mutter von zwei Kindern, die auf der Straße angefahren wurde. Sie haben als Klinikdirektor nun innerhalb von drei Minuten zu entscheiden, wohin sie den einen Rettungshubschrauber entsenden. Welche Kriterien wählen Sie, um eine möglichst "gerechte" Entscheidung zu treffen? Warum und wie entscheiden Sie sich fiir diese Kriterien?
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Medizinethik (Bioethik II)
terien der Nützlichkeit bereit, um sich in medizinischen Notfällen unter Bedingungen der Knappheit orientieren zu können. In einem Notfall gilt es demnach, zuerst diejenigen Personen zu versorgen, die schwer verletzt sind, jedoch Überlebenschancen haben und ohne sofortige Hilfe sterben würden. An zweiter Stelle stehen die Personen, deren Versorgung ohne unmittelbare Gefährdung aufgeschoben werden kann. Personen mit weniger schweren Verletzungen kommen an dritter Stelle zu stehen, und zuletzt diejenigen Patienten, denen keine medizinische Bemühung mehr helfen kann. Die hier vorgestellten Kriterien können in der Situation schnell erhoben und angelegt werden, sie sind auf den ersten Blick eindeutig und klar; allerdings lassen sie z. B. soziale Kriterien völlig unberücksichtigt. Von daher ist es problematisch, die Kriterien der Triage auf Alltagssituationen zu übertragen. Eine andere Kriteriologie stellt demgegenüber der niederländische Bericht "Choices in Health Care. AReport by the Government Committee on Choices in Health Care" vor. Die hier vorgeschlagenen Kriterien für gerechte Zuteilung medizinischer Versorgungsleistungen sind (vgl. Kreß 2003, 84): 1) Notwendigkeit der Behandlung, 2) Zweckdienlichkeit der Behandlung, 3) Kosten-Nutzen-Relation und 4) Individuelle Verantwortlichkeit. Hier wird- im Gegensatz zum Modell der Triage- die Eigenverantwortlichkeit des Patienten mit einbezogen. Hartmut Kreß (2003, 83f) schlägt noch darüber hinaus vor, angezeigte Maßnahmen "[i]m Sinn sozialstaatlicher Gerechtigkeit" an sechs Kriterien zu überprüfen: 1) Angemessenheit, Eignung und Erforderlichkeit der Maßnahmen; 2) Existenz kostengünstigerer Alternativen; 3) Zweckmäßigkeit; 4) ökonomische Vertretbarkeit; 5) Beachtung spezifischer Belange bzw. Hilfsbedürftigkeit von Patienten oder -gruppen und 6) fmanzielle Transparenz (bzgl. der Behandlungskosten). Alle diese Modelle stellen sich der Aufgabe, konsensfähige und praktikable Kriterien gerechter Zuteilung zu entwickeln. Dabei zeigt sich u. a., dass nicht ein einzelnes Kriterium (etwa: Alter der Person) oder ein einzelnes Prinzip, sondern immer ein bestimmtes Set von Kriterien den Maßstab dafür bilden, wann die gleiche Behandlung gleicher Fälle bzw. die ungleiche Behandlung ungleicher Fälle anzunehmen sein soll und gemäß dieser ausgewiesenen Kriterien als "gerecht" anerkannt werden kann.
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Einzelne Handlungsfelder''
2.1
Medizinische Forschung
Ein Beispiel: Der englische Arzt Edward Jenner (1749-1823) infiziert 1796 den gesunden achtjährigen Jarnes Phipps zunächst mit relativ harmloser Kuhpockenlymphe, dann mit den lebensgefährlichen Pocken, um seine Hypothese ,,Die Impfung mit Kuhpocken ist eine wirksame Pockenschutzimpfung" durch dieses Experiment zu überprüfen. 12 Die Durchführung dieses Humanexperiments hat zur Folge, dass die Pocken als bislang einzige Seuche weltweit durch Impfprogramme der WHO ausgerottet werden konnten (letzter Fall: 1977). Und so nimmt es nicht Wunder, dass Jenner heute als einer der "bedeutende[n] Ärzte" gilt, die Besonderes "zum Fortschritt der Präventivmedizin" geleistet haben (so Keil in Korff et al. 2000, Bd. 3, 59). Aus einer anderen Perspektive ist Jenner allerdings nicht weniger als fahrlässige Körperverletzung vorzuwerfen. Die für die Medizinethik interessante Frage lautet: Unter welchen moralischen Voraussetzungen ist es jeweils zu rechtfertigen bzw. nicht zu rechtfertigen, dieses Kind dieser medizinischen Versuchsanordnung zu unterstellen, um sichere Ergebnisse bzgl. der Pockentherapie zu erlangen? Um solcherart Fragen systematischer bearbeiten zu können, wird in der Regel auf zwei Unterscheidungen zurückgegriffen, die helfen sollen, das Problemfeld zu strukturieren. Eine erste Unterscheidung zielt auf den Personenkreis, an dem ein medizinischer Versuch durchgefiihrt wird und unterteilt diesen in "einwilligungsfahige" und "nicht-einwilligungsfahige" Probanden bzw. Patienten. Im Hintergrund dieser Unterscheidung steht die Idee, dass die valide Zustimmung oder Ablehnung eines Versuchs durch die betroffene Person selbst ein maßgebliches Kriterium dafür darstellt, ob der Versuch durchgefiihrt werden darf. Nicht-einwilligungsfahige Personen sind etwa Kinder, geistig behinderte oder im Koma liegende Personen. 11
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Die Zuordnung der einzelnen Handlungsfelder zu bestimmten Überschriften (z. B. ~chwangerschaftsabbruch > Lebensanfang) beruht auf Konventionen, die hier - der Ubersichtlichkeit halber - übernommen wurden. Allerdings ist aus der Perspektive der Ethik tatsächlich sehr wohl zu fragen, welche normativen Vorentscheidungen bereits damit gesetzt sind, dass etwa die Abtreibungsproblematik nicht im systematischen Kontext von Tod und Lebensende verhandelt wird. V gl. zu dieser Problematik: Hope, T./ McMillan, J. (2004 ): Challenge studies of human volunteers: ethical studies. In: Journal ofMedical Ethics [JME) 30, 110- 116.
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Medizinethik (Bioethik II)
Dieser Personenkreis kann nicht ohne weiteres auf seine Zustimmung hin befragt werden. Die normative Voraussetzung dieses Kriteriwns stützt sich auf die Überzeugung, dass einer Person ohne deren Zustimmung bzw. gegen deren Willen kein Schaden zugefugt werden darf. Es ist dabei im Allgemeinen eher zu rechtfertigen, Einwilligungsfähige unter Voraussetzung der Zustimmung einem Versuch zu unterziehen. Eine zweite Unterscheidung bezieht sich auf den intendierten Nutzen des medizinischen Versuchs. Hier wird differenziert zwischen einem Nutzen fiir den Probanden selbst ("eigennützig", "therapeutisch" bzw. "Heilversuch"), einem Nutzen, der anderen, aber auch dem Probanden selbst zugute kommt ("bedingt fremdnützig") und einem Nutzen fiir andere Personen ("fremdnützig", "nicht-therapeutisch" bzw. "Hwnanexperiment"). Im Sinne dieser beiden Unterscheidungstypen wäre der oben beschriebene Fall Jenner als ein Hwnanexperiment an einer nicht-einwilligungsfahigen Person zu klassifizieren. Diese Unterscheidungen haben zwar den Vorteil, dass sie etabliert sind. Jedoch ist deren Strukturierungsleistung unzureichend, da beide Unterscheidungen die Positionierung des Probanden zum Forschungsvorhaben außer Acht lassen. Ergänzend ist daher eine Differenzierung vorzuschlagen, die sich an den Prinzipien Autonomie, Nicht-Schaden und Fürsorge (vgl. Beauchamp/Childress 2001) orientiert. Dabei ist es nicht irrelevant, welches dieser drei Prinzipien in der formalisierten Fallbeschreibung "Forscher A forscht mit einem RisikoBan der Person C, wn das Ergebnis D zu erreichen" als maßgebende normative Größe angenommen wird. Unter dem Prinzip der Autonomie kommt das Objekt des medizinischen Versuchs (Person C) als bestimmendes Subjekt in den Blick. Zunächst ist zwischen dem Ausnahmefall des Selbstversuchs (A ist mit seinem Forschungsobjekt C identisch) und dem Regelfall (A ist nicht zugleich C) zu unterscheiden. Unter der Voraussetzung des Autonomieprinzips stellt sich beim "Selbstversuch" vorrangig die Frage, wie weit die individuelle Freiheit eines medizinischen Forschers reichen solle, sich selbst einem hohen Gesundheitsrisiko aussetzen zu dürfen, auch wenn vielleicht ein nur inferiorer Nutzen absehbar ist. Bei einem "Fremdversuch" ist analog einer in der Diskussion wn Sterbehilfe etablierten Unterscheidung- maßgeblich nach der Freiwilligkeit des Patienten zu fragen. An der Freiwilligkeit (bzw. der Nicht-Freiwilligkeit oder Unfreiwilligkeit) der Zustimmung bemisst sich demnach die moralische Rechtfertigung einer Intervention in ein riskantes Versuchsvorhaben. Geschieht also ein Fremd-
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versuch mit der informierten Zustimmung des Probanden, so ist dieser Versuch - unter der vorausgesetzten Geltung des Prinzips der Autonomie auch bei hohem Risiko moralisch zu rechtfertigen. Anders liegt die moralische Gewichtung eines solchen Falls unter der vorausgesetzten Geltung des Nicht-Schadens-Prinzips ("Non-maleficence"). Wenn als moralisches Prinzip gilt, dass dem Probanden kein körperlicher Schaden zugefügt werden darf, dann ist es unmoralisch, diesen einem Gesundheitsrisiko auszusetzen, auch wenn ein großer medizinischer Nutzen zu erwarten und/oder dessen informierte Einwilligung gegeben ist. Das "Primum nil nocere" als alleiniges moralisches Prinzip duldet keinerlei risikobehaftete medizinische Forschung; unter allein diesem Gesichtspunkt istjeder riskante Eingriffunzulässige Körperverletzung. Demgegenüber ist es allerdings intuitiv nachvollziehbar, wenn ein Schadensrisiko (B) mit einem erwünschten Nutzen (D) so ausbalanciert wird, dass ein minimaler Verstoß gegen das Nicht-Schadens-Prinzip durch die Höhe des Nutzens zu rechtfertigen ist. Diesen Aspekt des Nutzens repräsentiert das Fürsorgeprinzip ("Beneficence"). Allerdings ist dieses Prinzip zweideutig; je nachdem, ob die Fürsorge sich auf das Wohl des Patienten selbst ("salus aegroti") oder auf das Wohl anderer Personen oder der Gesellschaft richtet. Im ersten Fall orientiert sich die Frage nach der moralischen Rechtfertigung medizinischer Forschung an der Person C, an dem Nutzen für ebendiese Person C selbst ("eigennützige Forschung"). Andernfalls kann über das Fürsorgeprinzip die Forschung an einer Person C auch dadurch moralisch gerechtfertigt werden, dass für das Wohl der größten Zahl Sorge zu tragen ist ("fremdnützige Forschung"). Unter Anerkennung der Vorrangstellung des Fürsorgeprinzips ist der Fall Jenner (s. o.) also moralisch durchaus zu rechtfertigen. Allerdings muss das Autonomieprinzip mit der hier repräsentierten Maxime der Berücksichtigung der Freiwilligkeit ganz zurücktreten. Legt man allerdings das Autonomieprinzip mit der zwingenden Erfordernis der Freiwilligkeit zugrunde, so ist das Humanexperiment Jenners moralisch nicht zu rechtfertigen. Jede bundesdeutsche Ethikkommission würde das Pockenexperiment Jenners heute v. a. unter Hinweis auf dieses Prinzip zurückweisen.
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Medizinethik (Bioethik II)
2.2
Lebensanfang
Ethik in der Medizin im Kontext des Lebensanfangs kann- der Systematik halber- in die drei Problemfelder ( 1) Embryonenforschung, (2) Diagnostik (PID und PND) und (3) Schwangerschaftsabbruch differenziert werden. Natürlich sind sie nicht strikt voneinander zu trennen, sondern sie überschneiden sich vielfach.
2.2.1
Embryonenforschung
Unter dem Stichwort Embryonenforschung wird die verbrauchende Forschung an humanen embryonalen Stammzellen (ES) diskutiert. "Verbrauchend" ist diese Forschung, weil die menschlichen Embryonen als Gegenstand der Forschung im Vollzug zerstört werden. "Stammzellen" sind entweder adulte oder embryonale Zellen mit der spezifischen Eigenschaft, dass sie nicht nur zu einem bestimmten, sondern zu vielen (Pluripotenz) oder sogar zu allen (Totipotenz) anderen verschiedenen Zelltypen ausdifferenzieren können. Durch diese Potenzialität sind sie fUr die Forschung z. B. hinsichtlich von Alzheimer- oder Parkinsontherapien interessant, wenn auch noch keine eindeutigen Aussagen über den Erfolg solcher Therapieansätze möglich sind. Die spezifische moralische Problematik ergibt sich in diesem Problemfeld v. a. aus dem Konflikt zwischen den deklarierten Gütern (Al) der Forschungsfreiheit und (A2) des Rechts auf Gesundheit einerseits sowie (B) der Menschenwürde andererseits. Ad A: Für die Forschung an humanen embryonalen Stammzellen werden im Allgemeinen das Gut der Forschungsfreiheit und das Recht auf Gesundheit vorgebracht. Die in Deutschland grundgesetzlich zugesicherte Freiheit der Forschung (Art. 5 GG) umfasse auch das Recht, an ES legal forschen zu können. Auf einem "Recht auf Gesundheit" (Kreß 2003) beruht die Erwägung der korrespondierenden Pflicht zur Forschungaufgrund ihres möglichen positiven Nutzens fUr die Entwicklung wirksamer Therapien fUr bestimmte Krankheiten. Ad B: Diesen Argumentationslinien steht der Verweis auf die Menschenwürde bereits des menschlichen Embryos gegenüber. Aus der Annahme, bereits dem menschlichen Embryo komme voll und ganz Menschenwürde zu, wird in Verbindung mit Art. 1 GG die unbedingte Schutz-
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würdigkeitdieses Embryos eingefordert. Die Zuschreibung der Menschenwürde auf den menschlichen Embryo sucht man v. a. mittels der so genannten SKIP-Argumente zu plausibilisieren: Das Speziesargument (S) akzentuiert die volle Zugehörigkeit des menschlichen Embryos zur Gattung Mensch; das Kontinuitätsargument (K) stellt die zäsurlos verlaufende biologische Entwicklung von der befruchteten Eizelle bis zum geborenen Menschen heraus; das Identitätsargument (I) betont die lebensgeschichtliche Einheit des embryonalen und des daraus erwachsenden Menschen; das Potenzialitätsargument (P) interpretiert(!) zunächst bereits den menschlichen Embryo auf den sich mit der Zeit und zweckgemäß aus ihm entwickelnden vollständigen Menschen hin: Im Embryo ist quasi der spätere Mensch bereits "potenziell" ganz da; es fehlt nur noch dessen Entfaltung. Dann wird die Würde dieses später ausgebildeten Menschen jenem frühen Embryo als seiner notwendigen Vorstufe zugeschrieben. Aus all diesen Gründen entspreche der moralische Status des menschlichen Embryos dem moralischen Status des Menschen im Sinne des Art. 1 GG, und demzufolge habe bereits der menschliche Embryo das gleiche Recht auf den grundgesetzlich gesicherten Lebensschutz. Vor dem Hintergrund dieser moralischen Divergenzen (A vs. B) nahm sich der deutsche Bundestag zu Beginn des Jahres 2002 drei mögliche Handlungsoptionen bzgl. der Regulierung der Embryonenforschung zur Entscheidung vor: (1) Generelles Verbot der embryonalen Stammzellforschung, (2) Freigabe der Herstellung von und Forschung an embryonalen Stammzellen und (3) Freigabe der Forschung an embryonalen Stammzellen nur aus solchen Stammzelllinien, die weltweit bereits zu einem bestimmten Stichtag bestanden hatten. Nach intensiven Diskussionen beschloss der deutsche Bundestag mehrheitlich die Handlungsoption (3) als (vorläufigen) Kompromiss zwischen generellem Verbot und genereller Freigabe dieser Embryonenforschung. Mit dieser Kompromissregelung hat das deutsche Stammzellgesetz halbwegs die Härten für die konservative (1) wie für die liberale (2) Position abzufangen versucht. Moralische Kritik an dieser Regelung kann jedoch weiterhin von beiden Positionen, sowohl auf der Basis des Verstoßes gegen die Menschenwürde als auch auf der Basis eingeschränkter Forschungsfreiheit formuliert werden.
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Medizinethik (Bioethik II)
2.2.2
Pränataldiagnostik und Präimplantationsdiagnostik
Jedes menschliche Leben ist kontingent und von Anfang an Kontingenz unterworfen. Als kontingent bezeichnet man den Sachverhalt, dass etwas (z. B. die Entstehung von Leben oder Krankheit) zwar nicht notwendig, aber nicht unmöglich ist. Insofern Kontingenz auch bedrohliche Ereignisse umfasst, erzeugt sie Unsicherheit und Angst sowie gleichzeitig das Bedürfnis, das Unvorhersehbare möglichst vorhersehbar zu machen, um bedrohliche Ereignisse handhaben zu können. Dieses Bedürfnis nach Kontingenzbewältigung fiihrt u. a. zur technischen Ausgestaltung diagnostischer Methoden, die immer früher und präziser Auskunft geben können über den Gesundheits- aber auch Krankheitszustand des ungeborenen werdenden Lebens. Die beiden bekanntesten Methodenkomplexe sind die Pränataldiagnostik (PND) und die Präimplantationsdiagnostik (PID). Unter dem Begriff Pränataldiagnostik sind unterschiedliche Methoden zusammengefasst, mit denen das ungeborene menschliche Leben im Mutterleib auf Anomalien hin untersucht wird. PND umfasst einmal quasi risikolose nicht-invasive Methoden wie Abtasten und -horchen durch die Hebamme oder den Gynäkologen und v. a. die Sonographie (Ultraschalluntersuchung) der körperlichen Entwicklung. Zum anderen zählen zur PND vornehmlich die invasiven Methoden zunächst der Chorion(zotten)biopsie (Untersuchung von Plazentagewebe) und der erst später möglichen Amniozentese (Fruchtwasseruntersuchung) zur Analyse der embryonalen DNA. Aufgrund der Punktion beinhalten die invasiven Methoden ein Abortrisiko von etwa 1-2% oder 2-4% Ge nach Biopsieverfahren) bzw. von ca. 1% (Amniozentese). Im Unterschied zur PND untersucht die Präimplantationsdiagnostik (PID) die künstlich befruchtete, sich außerhalb des Mutterleibes befindende Eizelle im frühesten Stadium. Sie geht also zeitlichjeder PND voraus. Voraussetzungen der PID sind zunächst die Entnahme von Eizellen und deren künstliche Befruchtung (In-vitro-Fertilisation, IvF). Am dritten Tag werden dem mittlerweile acht- bis zehnzelligen Embryo ein bis zwei Zellen entnommen, deren DNA auf bestimmte Eigenschaften hin untersucht und die dabei zerstört wird. Dies ist die eigentliche PID. Der ursprüngliche Embryo regeneriert sich und entwickelt sich in derRegeltrotz der Zellentnahme normal weiter. Je nach Wertung des Untersuchungsbefundes wird dieser ursprüngliche Embryo dann der Mutter implantiert oder "verworfen". PID ist also ein diagnostischer Zwischenschritt innerhalb des Rahmens einer In-vitro-Fertilisation.
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Für die Bestimmung der moralischen Konflikte bezüglich der Diagnoseverfahren ist es sinnvoll, sich zunächst auf die Beurteilung der Verfahren selbst zu beschränken und nicht immer schon die möglichen Handlungsfotgen miteinzubeziehen. Anders gesagt: PND ist nicht bereits Schwangerschaftsabbruch, und PID ist nicht bereits die Selektion und Verwerfung von Embryonen. Die Frage lautet also, ob die Verfahren der PND bzw. der PID an sich moralisch strittig sind. Zunächst handelt es sich bei beiden Diagnoseverfahren der primären Intention nach um Generierung von Wissen. Auf dieser Ebene kann die Frage diskutiert werden, inwieweit ein Recht aufWissen und- genauso wichtig- das RechtaufNichtwissen zu achten ist. Warum eigentlich soll eine Frau, die mit 43 Jahren zum ersten Mal ein Kind erwartet, das Recht haben, sichtrotz erhöhter Wahrscheinlichkeit einer Trisomie 21 keiner PND zu unterziehen, ohne sich (manchmal sogar von ihrem Frauenarzt) als verantwortungslos oder "irrational" bezeichnen lassen zu müssen? Da das Wissen um die diagnostizierten Fakten lediglich Kriterien für eine freie Entscheidung bereitstellt, nicht jedoch schon eine bestimmte Entscheidung determiniert, spricht einiges dafür, die Diagnoseverfahren auf dieser Ebene als moralisch ambivalent einzustufen, d. h. die Verfahren an sich, als bloße Voraussetzung für Entscheidungen, nicht bereits als moralisch richtig bzw. moralisch falsch zu bewerten. Die Verfahren bergen allerdings bereits entweder Abortrisiken in sich (invasive PND), oder sie tangieren mit der Zerstörung menschlichen Lebens (PID) moralisch relevantes Gut. Das heißt, um das Gut des für eine Entscheidung wichtigen Wissens zu erhalten, wird zum einen bei den invasiven Formen der PND der Embryo einem- wenn auch geringen - Risiko ausgesetzt. Hier sind für eine verantwortungsvolle Entscheidung die beiden Güter Wissen und Lebensbedrohung gegeneinander abzuwägen. Wenn dabei für das Wissen der Embryo einem lediglich geringen Schadensrisiko ausgesetzt wird, so gibt es Gründe, diese Entscheidung für eine invasive PND nach Abwägung moralisch zu rechtfertigen, wenn auch nicht ohne weiteres. Anders verhält es sich bei der PID. Die besondere moralische Schwierigkeit liegt darin, dass in diesem Verfahren die isolierte Zelle im Zuge der DNA-Analyse zerstört wird. Ist diese nun eine sog. totipotente Zelle, d. h., könnte sie sich wiederum zu einem ganzen Menschen ausbilden, so gilt sie nach Defmition des deutschen Embryonenschutzgesetzes (ESchG) juristisch- aber nicht schon moralisch! - nicht nur als einzelne Zelle, sondern als eigenständiger Embryo. Damit wird im Geltungsbereich des ESchG die Analyse dieser isolierten Zelleper definitionem zur Zerstörung eines Ern-
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bryos. Wer diese juristische Defmition nun fiir sich auch als moralisch' 3 geltende Kategorie akzeptiert und zugleich jedem Embryo im Vollsinn Menschenwürde zuschreibt, hat mit der PID notwendig ein gravierendes moralisches Problem. Dann nämlich ist die Zerstörung dieser isolierten Zelle als Tötung eines Menschen aufzufassen und moralisch inakzeptabel: Die genetische Analyse dieser embryonalen Zelle wird zum massiven Verstoß gegen die Würde dieses Menschen, konkret: gegen dessen unbedingtes Lebensrecht. Damit ist auch schon die rechtliche Regulierung dieser Sachverhalte angesprochen. Die Diagnoseverfahren der PND sind allesamt erlaubt. Demgegenüber ist in Deutschland die PID als Verstoß gegen das Embryonenschutzgesetz von 1990 verboten. In § 8 Abs. 1 ESchG heißt es: "Als Embryo im Sinne dieses Gesetzes gilt bereits die befruchtete, entwicklungsfahige menschliche Eizelle vom Zeitpunkt der Kernverschmelzung an, ferner jede einem Embryo entnommene totipotente Zelle, die sich bei Vorliegen der dafiir erforderlichen weiteren Voraussetzungen zu teilen und zu einem Individuum zu entwickeln vermag." In Verbindung mit§ 2 Abs. 1 ESchG wird daher aus der Analyse einer totipotenten Zelle eine Straftat: "Wer einen extrakorporal erzeugten oder einer Frau vor Abschluss seiner Einnistung in der Gebärmutter entnommenen menschlichen Embryo veräußert oder zu einem nicht seiner Erhaltung dienenden Zweck abgibt, erwirbt oder verwendet, wird mit Freiheitsstrafe bis zu drei Jahren oder mit Geldstrafe bestraft." Die moralische Kritik an dieser Regelung kann zum einen auf die Ineinssetzung von totipotenter Zelle und Embryo zielen und diese als moralische Willkür anfragen. Zum anderen kann der Vorwurf der Inkonsequenz vorgebracht werden: Es besteht je nach Kontext eine eigenartige Widersprüchlichkeit in der Zuschreibung des moralischen Status von Embryonen. So ist es moralisch eher und rechtlich völlig unbedenklich, Kontrazeptiva wie z. B. die Spirale zu verwenden, um befruchtete Eizellen (Embryonen) an der Nidation zu hindern. In "intrakorporalem" Kontext ist er13
Bei der Kenntnisnahme rechtlicher Normen ist es fiir die Ethik von entscheidender Wichtigkeit, die Differenz zwischen Recht und Moral bzw. zwischen Recht und Ethik nicht einzuebnen, als entspräche geltendes Recht immer auch schon geltender Moral. Die (Rechts-)Ethik hat in klarer Absetzung vom geltenden Recht kritisch nach der im Recht positivierten Moral und deren mit dem Recht gesetzten Anspruch auf Geltung zu fragen. Es gibt durchaus auch moralisch zweifelhaftes Recht. Vgl. zu dieser elementaren Unterscheidung nach wie vor den Aufsatz von Hart, H. L. A. (1958): Positivism and the Separation ofLaw and Morals. In: Harvard Law Review 71 , 593-629 (Dt.: Der Positivismus und die Trennung von Recht und Moral. In: Recht und Moral. Drei Aufsätze. Hg. v. N . Hoerster. Göttingen, 1971. 14-57).
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laubt, was das ESchG in "extrakorporalem" Kontext verbietet. Eine weitere Spannung besteht zwischen der Absolutheit des Lebensschutzes, den ein Embryo in vitro genießt und der Relativierung dieses Lebensschutzes in utero. Das hat zur Folge, dass ein Embryo etwa mit diagnostizierbarer Trisomie 18 im Rahmen des IvF-Verfahrens unter keinen Umständen aufgrund PID und positivem Befund verworfen, jedoch einige Wochen später nach der Feststellung über Amniozentese durchaus abgetrieben werden kann. Diese kontextrelativen Zuschreibungen sind in ihrer Widersprüchlichkeit alles andere als moralisch konsistent.
2.2.3
Schwangerschaftsabbruch
Unter Schwangerschaftsabbruch (Abtreibung) versteht man die vorsätzliche Tötung von menschlichem Leben in utero. Man kann unterscheiden zwischen einer Defmition im engeren Sinn, wenn erst eine nach der Nidation erfolgende Tötung als Schwangerschaftsabbruch gilt (vgl. § 218 Abs. 1 S. 2 StGB). Zum Schwangerschaftsabbruch im weiteren Sinn zählen demgegenüber auch solche Handlungen wie der Gebrauch sog. Nidationshemmer (z. B. der Spirale), die bereits vor der Nidation des Embryos zu dessen Abtötung fiihren (so z. B. Knoepffler 2004, 128). Wichtig ist hier, den Begriff der "Tötung" in einem moralisch neutralen Sinn 14 zu fassen, um nach der Moralität der jeweiligen Tötungshandlung überhaupt noch offen fragen zu können. Wird der Begriff der Tötung von vorneherein negativ konnotiert, erübrigt sich u. U. bereits damit jegliche weitere Erörterung. Die mit einem Schwangerschaftsabbruch verbundenen moralischen Konflikte, die die Handlung zum Gegenstand der Ethik werden lassen, entstehenje nach Falllage aufunterschiedlichen Ebenen 15 und in unterschiedlichen Konstellationen. Auf individualethischer Ebene sind v. a. die Gewissenskonflikte der Mutter und/oder des Vaters, aber auch des handelnden Arztes zu erörtern. Auf personalethischer Ebene sind moralische Konflikte aufgrund unterschiedlicher Werte oder Gewichtung von Werten zwischen den Hauptak14
15
Vgl. die Rede von der Tötung eines Angreifers in Notwehr oder eines feindlichen Soldaten im Krieg, wobei über die Moralität solcher Handlungenjeweils immer erst befunden werden muss. Auch spricht man z. B. bei einer Desinfektion davon, dass Keime "abgetötet" werden, ohne dass dies sofort moralisch bedenklich sein müsste. Also: "Töten" muss nicht immer schon moralisch verwerflich sein. Ich orientiere mich mit dieser Unterscheidung der Ebenen an dem evangelischen Sozialethiker Arthur Rich (Wirtschaftsethik, Bd. 1). V gl. auch Körtner 2004, 20f.
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teuren, also (1) der leiblichen Mutter des Kindes, (2) des Vaters, (3) der Person des Arztes und evtl. (4) den Angehörigen, der Person des Seelsorgers oder auch des Pflegepersonals zu thematisieren. Schließlich sind auf sozialethischer Ebene moralische Konflikte zwischen Individuen und Institutionen (Eltern vs. Klinikdirektor) oder auch zwischen verschiedenen Institutionen (wissenschaftliche Theologie vs. Kirche) zu bedenken. Die moralische Kontroverse aufindividualethischer Ebene ergibt sich für eine Mutter etwa aus den in ihrem Gewissen konfligierenden Wertüberzeugungen vom (absoluten) Recht aufLeben des menschlichen Embryos einerseits und vom Gut eines nach eigenem Dafürhalten uneingeschränkten Lebens andererseits. Auf personalethischer Ebene können etwa das von einer Mutter proklamierte Recht auf totale Selbstbestimmung über ihren Körper ("Mein Bauch gehört mir") und das im Gewissen der Person des Arztes verankerte 5. Gebot ("Du sollst nicht töten") konfligieren. Auf sozialethischer Ebene schließlich kollidieren unterschiedliche Wertanschauungen etwa zwischen katholischer Amtskirche (absolutes Lebensrecht allen menschlichen Lebens) und Vertretern der deutschen Strafrechtswissenschaft (durch Selbstbestimmungsrecht der Frau relativierbares Lebensrecht des vorgeburtlichen menschlichen Lebens). Zu diesen Differenzierungen der Ebenen und der spezifischen Personenkonstellationen kommen außerdem die Verantwortlichkeit qualifizierende Berücksichtigung verschiedener Ursachen der Schwangerschaft (z. B. Unachtsamkeit; Schwangerschafttrotz Pille; Vergewaltigung) sowie die adäquate Beachtung etwaiger Folgen einer Schwangerschaft für die Mutter (physische und/oder psychische Gefahrdung) oder für die elterliche Beziehung (z. B. Scheidung) oder für die Familie (z. B. Vernachlässigung der Geschwister bei starker Behinderung des erwarteten Kindes) hinzu, um die moralische Problematik angemessen komplex zu erfassen. Die Variabilität der Ebenen, der Konstellationen und der Umstände nötigt gerade hier zu außerordentlicher Differenziertheit ethischer Betrachtung. Unter diesen Voraussetzungen fmden sich je nach normativer Akzentuierung der unterschiedlichen Faktoren v. a. drei Typen moralischer Positionierung: eine erste (,,konservative") Position (A) gründet sich auf die Überzeugung vom absoluten Lebensrecht des ungeborenen Lebens vom "Zeitpunkt" der Verschmelzung von Ei- und Samenzelle an. Dagegen setzt eine andere ("liberalistische") Position (B) das Selbstbestimmungsrecht der Frau absolut, und ordnet etwaige Lebensrechtsansprüche des ungeborenen menschlichen Lebens jenem konsequent unter. Eine dritte ("gradualistisch-liberale") Position (C) favorisiert gegenüber diesen polarisieren-
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den Vorstellungen ein weniger trennscharfes Kontinuumsmodell, in dem sich mit fortschreitender Schwangerschaft die moralische Gewichtung vom anfanglieh dominierenden Selbstbestimmungsrecht der Frau nach und nach zum Lebensrecht des ungeborenen Lebens hin verlagert. D. h., dass hier im ersten Trimenon der Schwangerschaft der Wille der Mutter, im dritten Trimenon das Lebensrecht des Fetus das entscheidende moralische Gewicht zugewiesen bekommt. Die im wiedervereinigten Deutschland zwischen den Positionstypen (A) und (B) eine Art Burgfrieden konstruierenden Rechtsregelungen bzgl. des Schwangerschaftsabbruchs i.e.S. finden sich in den §§ 218-219b StGB (vgl. v. a. Schmidt in Roxin/Schroth 2001, 313ft). Es handelt sich bei diesem Tatbestand grundsätzlich um eine Straftat(§ 218 StGB). Jedoch kann dieser Tatbestand unter bestimmten Bedingungen (Beratung, Fristen) entweder "nicht verwirklicht"(§ 218a Abs. 1 StGB; 12-Wochen-Frist) oder aber verwirklicht, jedoch aufgrund medizinisch-sozialer Indikation (§ 218a Abs. 2 StGB; ohne Frist) oder kriminologischer Indikation(§ 218a Abs. 3 StGB; 12-Wochen-Frist) "nicht rechtswidrig" sein. Über diese Fälle hinaus ist schließlich nach § 218a Abs. 4 StGB sogar ein rechtswidriger Schwangerschaftsabbruch dann "nicht strafbar", wenn er nach Beratung(§ 219 StGB) bis zur 22. Woche nach der Nidation und von einem Arzt vollzogen wird bzw. kann das Gericht bei "besonderer Bedrängnis" "von Strafe nach§ 218 absehen". Die restlichen§§ 218b-219b StGB flankieren die maßgeblichen Normen des§ 218 und§ 218a StGB. Die Würdigung und die Kritik dieser Rechtsregelungen ergeben sich je nach moralischem Standpunkt äußerst unterschiedlich. So sind sie etwa aus der moralischen Perspektive des Positionstypus (A) praktisch unhaltbar. Der Positionstypus (B) kommt hingegen faktisch weitgehend, wenn auch nicht ungehindert und unmittelbar, zu seinem behaupteten Recht.
2.3
Hirntod
Lange Zeit war es hinreichend brauchbares Alltagsverständnis, dass der Tod eines Menschen dann eingetreten ist, wenn das Herz aufgehört hat zu schlagen. Dieses Verständnis vom Tod eines Menschen verlor seine Stichhaltigkeit, als es dem Kapstadter Arzt Christiaan Barnard am 3.12.1967 mittels neuer medizinischer Technologie (Herz-Lungen-Maschine) erstmals möglich war, ein Herz zu transplantieren. Dieser neue Sachverhalt, dass nicht
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Medizinethik (Bioethik II)
mehrjeder Herzstillstand auch zwangsläufig zum Tod fiihren musste, machte es notwendig, das Kriterium des Herztodes zu revidieren und ein an diesen neuen Sachverhalt angeglichenes Todeskriterium zu finden. Die alte, aber neu zu beantwortende Frage lautete: Nach welchen Kriterien ist- unter medizinischen Gesichtspunkten- ein Mensch als "tot" zu beurteilen? Diese Irritation an der Geltungskraft des Herztodkriteriums fiihrte dazu, dass an der Harvard Medical School ein Todeskriterium entwickelt und 1968 veröffentlicht wurde' 6 , das sich am Funktionsausfall des Gehirns orientierte. Das Hirntodkriterium fand in der medizinischen Wissenschaft rasche Anerkennung und ist heute internationaler Standard. Allerdings ist dieses Kriterium entsprechend der Komplexität des Aufbaus des Gehirns ein ebenfalls komplexes Kriterium. Zu unterscheiden sind (1) das Ganzhirntodkriterium und (2) Teilhirntodkriterien.17 Nach dem Ganzhirntodkriterium gilt - etwa in Deutschland- der Mensch als hirntot, wenn ein "Zustand der irreversibel erloschenen Gesamtfunktion des Großhirns, des Kleinhirns und des Hirnstamms" zu diagnostizieren ist, also das Gehirn alle Fähigkeiten zur Integration des Organismus sowie des Bewusstseins unwiederbringlich verloren hat.' 8 Im grundsätzlichen Unterschied zur Ganzhirntodhypothese wird auch die Meinung vertreten, ein Mensch habe bereits im Fall eines Teilhirntodes als tot zu gelten. Die Teilhimtodhypothese hat zwei Varianten: In der Variante 1 wird behauptet, ein Mensch sei bereits dann tot, wenn die basalen Hirnfunktionen irreversibel ausgefallen sind, nicht jedoch diejenigen des Großhirns; demnach ist bereits ein Patient mit Locked-In-Syndrom als tot zu beurteilen (Stammhirntod); in der Variante 2 wird die Auffassung vertreten, dass mit dem unwiederbringlichen Verlust der vornehmlich an die Region des Großhirns gebundenen Bewusstseinsvollzüge der Mensch als Subjekt aufgehört hat zu existieren und darum als tot zu gelten habe, auch wenn die stammesgeschichtlich älteren Regionen des Gehirns eine bloß vegetative Existenz noch aufrechterhalten (Großhirntod). 16 17
18
A Definition of Irreversible Coma. Report of the Ad Hoc Committee of the Harvard Medical School to Examine the Definition ofBrain Death. In: Journal ofthe American Medical Association [JAMA]205 (1968) 337- 340. Zur Thematik des Hirntodes vgl. v. a. Oduncu, F. (1998): Hirntod und Organtransplantation. Medizinische, juristische und ethische Fragen. Göttingen (Vandenhoeck & Ruprecht) und ders. (200 1): Der Hirntod als Todeskriterium. Biologisch-medizinische Fakten, anthropologisch-ethische Fragen. In: Roxin/Schroth 2001, 199- 249. Vgl. die ,,Richtlinien zur Feststellung des Hirntodes. Dritte Fortschreibung 1997 mit Ergänzungen gemäß Transplantationsgesetz (TPG) [24.07.1998]" der Bundesärztekammer (BÄK). In: Deutsches Ärzteblatt 95 (1998) A-1861 - 1868.
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Das in Deutschland geltende (Ganz-)Hirntodkriterium verweist die Frage nach dem Tod des Menschen auf den medizinisch feststellbaren totalen Funktionsausfall des Gehirns. "Tot"- im medizinischen Sinn- ist also der Mensch, dessen gesamte Hirnfunktion irreversibel erloschen ist. Die Festlegung auf das Hirntodkriterium blieb von Anfang an jedoch nicht ohne Widerspruch. So sprach Hans Jonas (1987) von einer pragmatischen Umdefmierung des Todes und befragte diese Kriteriologie kritisch auf das möglicherweise hinter ihr stehende praktische Interesse an zu verwertenden Organen. Als problematisch benennt er die Zweck-Mittel Relation zwischen Hirntodkriterium und Verfiigbarkeit von Organen. Sein Verdacht: Das Hirntodkriterium soll v. a. deshalb gelten, damit der Gesellschaft möglichst viele brauchbare Organe zur Verfügung gestellt werden könnten. Dieses externe Interesse an knappen Gütern sei jedoch als Argument für die Feststellung des menschlichen Todes sachfremd und somit das Kriterium zwar nützlich, aber eigentlich unsachlich bzw. unwissenschaftlich. In anderen moralischen Argumenten gegen das Hirntodkriterium (vgl. Kreß 2003!) formulierte sich v. a. der Verdacht, es werde ein neuer LeibSeele-Dualismus etabliert, der die menschliche Person wieder wesentlich als geistiges Wesen unter erneuter Missachtung ihrer Körperlichkeit missdeutet. Man kann viele Kontroversen bzgl. des Hirntodkriteriums als Kritik der These verstehen, der Hirntod sei der Tod des Menschen. Zutreffend ist an dieser Formulierung, dass das Hirntodkriterium in der Tat die spezifisch naturwissenschaftliche Einholung unseres Todesverständnisses ist. Als schlichte Gleichung gelesen ist diese These jedoch Unsinn. "Der menschliche Tod" ist unserem Verständnis nach ein umfassenderes Phänomen, mit historischen, religiösen, sozialen und biographischen Aspekten, die durch die bloß naturwissenschaftlich-medizinische Feststellung eines Organversagens bei weitem nicht erfasst werden. Insofern mit dem Funktionsausfall des Gehirns nur eine Dimension des menschlichen Todes erfasst wird, hat die Kritik eine gewisse Berechtigung. Allerdings hat die Medizin ihrerseits diesen umfassenderen Anspruch gar nicht. Um diese Problemstellung transparenter und Missverständnisse auflösbar zu machen, ist es hilfreich, die drei Ebenen der Todesdefmition, der Todeskriterien und des Todeszeitpunkts auseinander zu halten. 19 Die Todesdefinition gibt eine Antwort auf die Frage" Was ist der Tod eines Men19
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Gert, B./ Culver, Ch. M. (1982): Philosophy in Medicine. Conceptual and Ethical Issues in Medicine and Psychiatry. Oxford et al.
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Medizinethik (Bioethik II)
sehen?" und ist eine gesamtgesellschaftliche Aufgabe. Dabei defmieren verschiedene Kulturen den Tod je unterschiedlich, z. B. mit jeweils mehr oder weniger bzw. jeweils höchst unterschiedlichen theologischen Implikationen.20 Es leuchtet ein, dass sich diese Aufgabe nicht schon mit der schlichten Feststellung der irreversiblen Dysfunktionalität des Gehirns erschöpfend lösen lässt. "Tot" ist, wer unwiederbringlich die Grenze zum Leben in allen seinen Dimensionen überschritten hat. Der Todesdefinition sind die Todeskriterien systematisch nachgeordnet Sie sollen lediglich gesicherte und überprüfbare Indizien dafiir angeben, ob in einem bestimmten Fall ein Mensch tatsächlich als "tot" defmiert werden kann bzw. muss. Als sichere Todeszeichen gelten seit dem 19. Jahrhundert "Totenflecken, Totenstarre und Fäulnis"21 als der unweigerlichen Folge des lange maßgeblichen Kriteriums des Atem- und Herz-Kreislaufstillstands. Der Fortschritt der medizinischen Technologie hob -wie gesagt- die Notwendigkeit dieses Kausalzusammenhanges auf. Es war nicht mehr zwingend aus dem Faktum des Herz-Kreislaufstillstands eines Menschen auch dessen Tod zu folgern, das Herztodkriterium wurde als zwingendes Kriterium hintergehbar und damit also solches obsolet. Mit der Akzeptanz des Ganzhirntodkriteriums gilt heute in Deutschland nun derjenige Mensch als "tot", dessen Gehirn nachweislich alle seine Funktionen eingebüßt hat. Nochmals: Es ist mit dem Hirntodkriterium nicht gesagt, dass sich das komplexe Gesamtphänomen des menschlichen Todes in bloß hirnorganischer Dysfunktionalität erschöpfe: der Tod der Person ist nicht der Tod des Organismus (Steigleder). Der Funktionsverlust des Gehirns ist quasi die physische Dimension des menschlichen Todes; jene ist allerdings fiir diese konstitutiv. Dem jeweils geltenden Todeskriterium wiederum ist die jeweilige Festlegung des Todeszeitpunktes systematisch nachgeordnet Gilt das Hirntodkriterium, so wird- gemäß Bundesärztekammer (BÄKY2 - als Todeszeitpunkt "die Uhrzeit registriert, zu der die Diagnose und Dokumentation des Hirntodes abgeschlossen sind". Diese Praxis begegnet auf sehr pragmatische Weise der Tatsache, dass der menschliche Tod eigentlich ein prozessuales, also über einen gewissen Zeitraum sich erstreckendes und nicht auf einen präzisen Zeitpunkt festzulegendes Geschehen darstellt.
20 21 22
Vgl. dazu etwa die Bemerkungen von Kreß (2003, 144t) zum Todesverständnis in Japan. Wolfgang Bock in Korff et al. 2000, Bd. 3, 580. Siehe Anm. 18, S. A-1865.
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Lebensende
Eine der nach wie vor brisantesten Fragen im Zusammenhang der medizinischen Ethik lautet: Ist aktive Sterbehilfe moralisch zu rechtfertigen? 23 Historisch interessant sind für unsere Frage etwa Texte wie der Hippokratische Eid (ca. 400 v. Chr.) mit seiner Aussage, dass ein Arzt niemandem ein Mittel verabreichen werde, das den Tod herbeiführt. In Thomas Moros' Utopia von 1516 fmdet sich eine sehr differenzierende und verblüffend offene Behandlung dieser Frage. Die beinahe klassisch zu nennende Schrift von Binding und Hoche aus dem Jahr 192024 setzt sich mit der Frage nach der Zulässigkeit der Vernichtung lebensunwerten Lebens auseinander und bahnte damit- allerdings nicht unmittelbar- den Weg u. a. zur T4-Aktion der Nationalsozialisten, die als "Euthanasie"-Programm ausgegeben wurde. Standesethische Fakten umfassen u. a. auch das ärztliche Standesrecht, in dem das moderne bzw. traditionelle Ethos des Arztes festgeschrieben wird. Hier fällt auf, dass das unbedingte Verbot der Tötung eines Menschen durch einen Arzt in Spannung steht mit der durchaus geduldeten Praxis der Abtreibung durch Ärzte und Ärztirmen. Außerdem wichtig sind Fakten über Schmerztherapie und deren Reichweite. Nicht in allen Fällen können v. a. Schmerzen von Tumorpatienten palliativmedizinisch erträglich gestaltet werden. Es gibt also das harte Faktum, dass körperliche Schmerzen nicht in jedem Fall auch durch moderne Schmerztherapie ausreichend gelindert werden können. Die moralische Begründung eines strikten Verbotes der aktiven Sterbehilfe aufVerlangen muss sich ernsthaft mit diesem Faktum auseinandersetzen. Die rechtliche Dimension der Sterbehilfefrage in Deutschland umfasst etwa die Art. 1 Abs. 1 GG i. V. m. Art. 2 Abs. 2 GG, aber vor allem den§ 216 StGB zur Tötung auf Verlangen. Hier wird deutlich, dass aktive Sterbehilfe als "Tötung auf Verlangen" in Deutschland in jedem Fall verboten ist- allerdings ist dies auch in juristischen Kreisen25 nicht unumstritten. Interessant ist hier der Vergleich mit dem Art. 293 des niederländischen Strafgesetzbuches, in dem die Tat (Abs. 1) gleichermaßen verboten 23
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Ich danke Herrn stud. med. et phil. M. Peuckert v. a. hier fiir seine klarsichtige Kritik. Binding, K./ Hoche, A. (1920): Die Freigabe der Vernichtung lebensunwerten Lebens. Ihr Maß und Ihre Form. Meiner, Leipzig. Hervorzuheben wären hier etwa - aus unterschiedlichsten Standpunkten heraus!- Norbert Hoerster (1998: Sterbehilfe im säkularen Staat. Frankfurt am Main), Klaus Kutzer und Reinhard Merke!.
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Medizinethik (Bioethik II)
ist, die Freiheitsstrafe sogar höher angesetzt werden kann als in Deutschland. Allerdings sieht das niederländische Strafrecht unter bestimmten Bedingungen (Abs. 2) einen Strafausschlussgrund vor. Diese Bedingungen sind seit 2000 in einem Gesetz zur Lebensbeendigung26 festgelegt. Wurden die sechs einzeln benannten Sorgfaltskriterien27 vor und bei der Durchfiihrung der Euthanasie berücksichtigt, dann wird nach bestandenem Kontrollverfahren von einer Bestrafung des Arztes abgesehen. Das weite Gebiet der Sterbehilfe kann sehr unterschiedlich strukturiert werden, um differierende Fälle auseinander halten zu können. Sterbehilfefälle unterscheiden sich vom Suizid28 und von der Beihilfe zum Suizid grundsätzlich dadurch, dass die Tatherrschaft hier bei der betroffenen Person selbst, bei der Sterbehilfe jedoch bei einer anderen Person liegt. In Deutschland ist es allgemein üblich, die Thematik der Sterbehilfe in folgende drei Kategorien einzuteilen: Passive Sterbehilfe Indirekte Sterbehilfe Aktive Sterbehilfe Passive Sterbehilfe meint im Kern das Zulassen eines "natürlichen" Todes. Solches Zulassen geschieht entweder durch den Verzicht auf lebenserhaltende bzw. lebensverlängernde "künstliche" Maßnahmen, oder durch den Abbruch solcher bereits (etwa durch den Notarzt) eingeleiteter Maßnahmen. Dabei kann sog. passive Sterbehilfe durchaus durch eine sehr aktive Tätigkeit geleistet werden, wenn etwa der Patient "extubiert", also die künstliche Beatmung abgebrochen wird. Die Unterscheidung passiv aktiv bat nichts mit passivem Unterlassen und aktivem Tun zu tun. Diese semantische Eselsbrücke trägt nicht! Von der passiven Sterbehilfe unterscheidet sich die aktive (direkte) Sterbehilfe dadurch, dass hier der Tod gezielt herbeigefUhrt wird, das Le26 27
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"Gesetz zur Überprüfung bei Lebensbeendigung aufVerlangen und bei der Hilfe bei der Selbsttötung" vom 28.11.2000. Die sechs Sorgfaltskriterien betreffen (I) die Freiwilligkeit der Bitte des Patienten um Tötung, (2) die Aussichtslosigkeit des Zustandes und die Un!lrträglichkeit des Leidens, (3) die Informiertheit über Zustand und Aussichten, (4) die Überzeugung von Altemativlosigkeit, (5) ein schriftliches Gutachten eines anderen unabhängigen Arztes und (6) die medizinische Sorgfalt bei der Durchfiihrung. Die Moralgeschichte des Suizidverbots beinhaltet übrigens bereits viele der Argumentationen, die genauso wieder in den Debatten um pro undcontrader (aktiven) Sterbehilfe begegnen. In diesem Zusammenhang ist auf den bemerkenswerten Umstand hinzuweisen, dass gerade in dem Traditionsstrang, der von der Bibel überM. Luther bis D. Bonhoeffer und K. Barth reicht, unter bestimmten Bedingungen durchaus Verständnis filr die besondere Notlage eines Suizidanten zu finden ist. Die flilschlicherweise als typisch christlich geltende Verurteilung des Suizids findet sich v. a. im aristotelisierenden Gefolge von Th. v. Aquin und bei I. Kant.
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bensende durch medizinische Maßnahmen forciert wird. Die mit der Intention der vorzeitigen Lebensbeendigung verabreichte überdosierte Morphinspritze (aktive Sterbehilfe) ist deshalb kategorial anders zu beschreiben als die Extubierung eines Patienten (passive Sterbehilfe), weil im ersten Fall der natürliche Sterbeprozess künstlich beschleunigt, im anderen Fall die künstliche Entschleunigung des natürlichen Sterbeprozesses aufgehoben wird. Noch einmal anders: Aktive Sterbehilfe zielt auf die Beschleunigung oder Beendigung des natürlichen Sterbeprozesses, passive Sterbehilfe hingegen unterlässt bzw. unterbricht eine künstliche Verlängerung des natürlichen Sterbeprozesses. Die indirekte Sterbehilfe unterscheidet sich von der aktiven Sterbehilfe dadurch, dass "hinter" derselben Tätigkeit eine jeweils andere Intention des Handelnden steht. Während bei der aktiven Sterbehilfe etwa das Schmerzmittel mit dem primären Ziel verabreicht wird, das Leben zu verkürzen, richtet sich die primäre Intention der indirekten Sterbehilfe auf die Schmerzreduzierung des Patienten, wobei billigend in Kauf genommen wird, dass eine hohe Dosis Morphium nicht nur die Schmerzen lindert, sondern auch die Verkürzung des Lebens mit sich bringen kann. Die äußere Handlung ist phänomenologisch ununterscheidbar. Die moralisch und strafrechtlich relevante Differenzierung dieser Handlung liegt allein in der unterschiedlichen Intention des Handelnden begründet. Mit welcher primllren Absicht das Schmerzmittel verabreicht wird, entscheidet über die Moralität und über die Strafbarkeit der Handlung. Eine völlig andere Differenzierung der Sterbehilfeproblematik ergibt sich aus einer anderen Perspektive und damit aus einem anderen systematischen Ansatz. Vor allem in den angelsächsischen Ländern, aber z. B. auch in den Niederlanden wird unterschieden zwischen den Fällen: Freiwillige Euthanasie Nicht-freiwillige Euthanasie Unfreiwillige Euthanasie Die Euthanasiehandlung wird daraufhin betrachtet, ob sie entweder gemäß dem Willen (freiwillig) oder gegen den Willen (unfreiwillig) des Patienten bzw. des Sterbenden geschieht. Unter "nicht-freiwillige Euthanasie" fallen in dieser Perspektive solche Fälle, in denen die betroffene Person ihren Willen vormals nicht geäußert hat und aktuell nicht (mehr) äußern kann. Hier stellt sich dann die Frage nach dem sog. mutmaßlichen Willen dieser Person. Die entscheidende Differenz zur erstgenannten Unterscheidung liegt darin begründet, dass das Themenfeld hier aus der Perspektive des Betrof-
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fenen, genauer: ausgehend von der Willentlichkeit des Patienten strukturiert wird. Nicht die Handlungsart des Arztes, sondern die Beurteilung des Patienten bzw. des Sterbenden ist hier maßgeblich. Die beiden Unterscheidungsweisen sind insofern inkommensurabel, als es aus der Perspektive des Patienten völlig unerheblich ist, ob die Handlung, die dem eigenen Willen gemäß ist oder aber diesem zuwiderläuft, passiver oder aktiver Art ist. Vergleicht man beide Unterscheidungstypen, so fällt u. a. auf, dass die auch fiir die moralische Beurteilung relevante Hinsicht im ersten Fall primär auf die Handlungsart des Arztes achtet, im zweiten Fall primär auf den Willen der betroffenen Person. Für die Unterscheidung passiv/indirekt/aktiv kommt also der Arzt als Subjekt der Handlung in den Blick, wo hingegen die Unterscheidung freiwillig/nicht-freiwillig/unfreiwillig den Sterbenden als Subjekt in all diesen Bezügen berücksichtigt. Ob in dieser Frage die eine oder aber die andere Perspektive, die Perspektive des Arztes oder aber die Perspektive des Patienten bezogen wird, ist nun allerdings nicht nur eine Frage unterschiedlichen deskriptiven Stils. Vielmehr legt sich von der Wahl des Standpunktes bereits eine bestimmte, normativ wirksam werdende Sicht der Problematik nahe: Soll die Sterhehilfeproblematik primär aus der (objektiven?) Sicht der Außenstehenden, d. h. des Arztes, der Angehörigen und/oder der Gesellschaft betrachtet und beurteilt werden- oder aus der Innenansicht, aus der Perspektive des sterbenden, jetzt und hier betroffenen Individuums?29 An dieser Stelle kehrt ein Grundproblem der Medizinethik in aller Schärfe wieder, das nicht ohne das Wagnis persönlichen Werturteils gelöst werden kann: Wer soll entscheiden,30 wenn es um mein Leben, meinen Begriff von Lebensqualität, meine Gesundheit und meinen Tod geht? Die Medizinethik seziert, reflektiert und referiert v. a. die unterschiedlichen normativen Positionierungen in diesen Fragen. Und normative Stellungnahmen können nur dann intellektuell redlich gewagt werden, wenn die eigenen Voraussetzungen fiir sich selbst und fiir andere transparent gemacht und damit kritisierbar sind. 29
30
Zugespitzt erscheint diese Fragestellung unter der klassischen Alternative Patemalismus vs. Patientenautonomie. Vgl. dazu v. a. Beauchamp/Childress 2001, 57- 112 und 176-194; auch Schöne-Seifert 1996, 567-574. Allgemeiner zur Thematik ist instruktiv Dworkin, G ( 1988): The Theory and Practice of Autonomy. Cambridge Studies in Philosophy. Cambridge University Press, Cambridge. Zu dieser Frage vgl. insbesondere Childress, J. F. (1982): Who Should Decide? Paternalism in Health Care. Oxford University Press, New York et al.
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Medienethik ist der Teilbereich der Angewandten Ethik, in dessen Rahmen ethische Reflexionen zu allen Aspekten des Themengebiets Medien stattfinden. Zunächst wird in dieser Einfiihrung der Begriff "Medien" (I) geklärt. Um die Auswirkungen von Gesetzgebungen auf die Medien zu verdeutlichen, wird auf einige historische Beispiele, die besonders relevant fiir die Medienethik sind, eingegangen (2). Die historische Dimension der Medienethik wird durch die Beschreibung der theoretischen Ursprünge der Medienethik (3) erläutert. Direkt im Anschluss erfolgt ein Exkurs zu einem stiefmütterlich behandelten Thema innerhalb der Medienethik, dem Verhältnis von Musik und Ethik. An einem historischen Beispiel (dem Musikdrama) und einigen gegenwärtigen Überlegungen zeige ich einige Facetten dieses Themenbereiches auf (4). Viele Ethiker behandeln gegenwärtig unter dem Titel "Medienethik" nur Fragen zur Ethik der Massenmedien, da sich in diesem Bereich durch die Weiterentwicklung der Medien ständig neue Fragen ergeben und hier die dringendsten Probleme vorhanden sind. Um die Bedeutung der Massenmedien zu erläutern, wird auf zwei unterschiedliche Auffassungen der Wirkung von Massenmedien eingegangen (5). Die zentralen Themenfelder der gegenwärtigen Medienethik, Fernsehen, Printmedien und Internet, erläutert Leiner im anschließenden Artikel Medienethik II. Im letzten Abschnitt (6) folgen abschließende Bemerkungen, in denen weiterfUhrende Betrachtungen aufgezeigt werden.
Die Literaturangaben sind im Anhang des Beitrages ,,Medienethik in der Gegenwart (Medienethik li)" aufS. 189ff zu finden.
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Medien
Der Begriff "Medien" wird gegenwärtig häufig thematisiert. Selten wird er jedoch klar defmiert. Der Begriff "Medien" stammt vom lateinischen Substantiv medium, das "Mitte" bedeutet. Die Medien sind die Mitte und auch Mittler zwischen Menschen. In religiösen Kontexten können Medien auch die Aufgabe haben, zwischen Gott und den Menschen zu vermitteln, wobei ich nicht auf das in der Parapsychologie behandelte Medium verweise, sondern etwa auf die Bibel oder Bachs h-moll Messe. Medien sind Systeme, die der Vermittlung von Informationen dienen, wobei der Begriff der Information hier weit zu fassen ist. Unter Informationen können sowohl Nachrichten, Meinungen, Unterhaltung als auch Werbung zu verstehen sein. Der Austausch von Informationen funktioniert mittels der sinnlichen Wahrnehmung, insbesondere des Seh- und des Gehörsinns. Mit dem Sehsinn nehmen wir Bilder und mit dem Gehörsinn Töne wahr. Daher sind die sinnlichen Basismedien der Ton und das Bild. Unter Tönen sind die Musik und die sprachlichen Äußerungen, die wir mit Hilfe der Vernunft verstehen können, zu fassen. Mit Bildern sind abbildende Darstellungen und sprachliche Niederschriften vermittelbar. Die Sprache, die uns die gesprochene wie geschriebene Kommunikation ermöglicht, besteht letztlich aus nichtsinnlichen Basismedien wie Zahl, Buchstabe und Note. Aus diesen Überlegungen ergeben sich zwei sinnliche Basismedien (Ton, Bild) und ein unsinnliches Basismedium, das Schriftzeichen (Zahl, Buchstabe, Note) (vgl. Schanze 2001, 211). Alle Medien höherer Ordnung beruhen letztlich auf den Basismedien. Es lassen sich weiter auditive Medien (Hörfunk, CD), audiovisuelle Medien (Film, Fernsehen), visuelle Medien (Gemälde, Poster), Printmedien (Buch, Zeitung), taktile Medien (Buch oder Zeitung in Blindenschrift) und Hybridmedien (entstehen aus dem Zusammenwirken mehrerer Medien; z. B. Internet) unterscheiden. Weiterhin kann man von primären Medien (Theater, Forum, Skriptorium und Bibliothek) und Massenmedien (Film, Fernsehen, Zeitungen, Internet) sprechen (vgl. Schanze 2001, 212). Wenn wir heute den Begriff "Medien" gebrauchen, verweisen wir meist auf Massenmedien. In medienethischen Abhandlungen kommt ebenso eine andere Einteilung der Medien vor. Faulstich charakterisiert die Medien wie folgt: ,,Durchgesetzt hat sich weitgehend die Unterscheidung in Primärmedien (d. h. Medien ohne notwendigen Einsatz von Technik, wie z. B. das Theater), Sekundärmedien (mit Technikeinsatz auf der Produktionssei-
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Grundlagen der Medienethik (Medienethik I)
te, wie z. B. die Zeitung) und Tertiärmedien (mit Technikeinsatz auf Produktions- und Rezeptionsseite, wie z. B. die Schallplatte). Ergänzend spricht man inzwischen auch von Quartärmedien (mit Technikeinsatz auch bei der digitalen Distribution und vor allem der Auflösung der traditionellen Sender-Empfänger-Beziehung bei den Online-Medien)" (Faulstich 2004, 13).
Beide Medien-Unterteilungen können fiir ethische Fragestellungen relevant sein. Wenn etwa im Rahmen von medienethischen Reflexionen nach dem Wert der Technik fiir den Menschen gefragt wird, liegt es nahe, auf Faulstichs Verständnis zurückzugreifen, da gemäß diesem speziell die Bedeutung der Technik fiir die verschiedenen Medien thematisiert wird. Mit Hilfe der Medien werden Informationen vom Sender zum Ernpfauger übertragen. Der Ernpfauger kann auch als Nutzer der Medien beschrieben werden. Bei den Sendern ist zwischen Eigentümern und Machern zu unterscheiden. Eigentümer sind diejenigen, denen die Medienunternehmen gehören, die die Macher einstellen und die Ziele vorgeben. Zu den Eigentümern von Medien gehören Verlagsbesitzer und Filmproduzenten. Medienmacher lassen sich in verschiedene Ordnungen einteilen. Zu den Machern der ersten Ordnung gehören der Komponist und der Autor, die direkt etwas erschaffen. Dirigenten, Regisseure und Journalisten gehören zu den Machern zweiter Ordnung, da sie Vorhandenes interpretieren. Für die Umsetzung dieser Interpretationen in die Praxis sind die Macher dritter Ordnung verantwortlich. Hierzu zählen Musiker und Schauspieler. Bezüglich des Verhältnisses zwischen Sender und Ernpfauger lassen sich symmetrische und asymmetrische Medien unterscheiden. Symmetrische Medien sind Medien, die technisch oder biologisch so organisiert sind, dass jede an der Kommunikation beteiligte Person sowohl die Rolle des Senders als auch die Rolle des Ernpfaugers einnehmen und zwischen beiden Rollen frei wechseln kann (Sprache in einer Unterhaltung, Telefon, E-Mail). Asymmetrische Medien sind Medien, bei denen aus technischen oder biologischen Gründen die Sender- und Empfaugerrolle fixiert ist (sprachliche Kommunikation von Erwachsenen mit einem noch nicht sprechenden Kind, Megaphon, Radio, Fernsehen, Werbeplakate, Buch). In ethischen Reflexionen kann es wichtig sein, um welche Art von Medium es sich handelt. Beim Telefon werden meistens Informationen zwischen zwei sich kennenden Personen, in einem Chat-Room in der Regel zwischen mehreren einander unbekannten und unter Pseudonym agierenden Perso-
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nen ausgetauscht. Diese Tatsachen haben eine Bedeutung für die ethische Frage nach der Überwachung des Mediums. Bei der Überwachung des Telefons wird das Recht auf Privatsphäre, sofern man dies ethisch für gegeben hält, eher verletzt als bei der Überwachung eines Chat-Rooms. Auch die soziokulturelle und ökonomische Einbettung der Medien ist für medienethische Überlegungen von zentraler Bedeutung. In einem wichtigen deutschen Lexikon, dem Brockhaus, werden die Medien (vgl. Artikel: Gewaltenteilung. In: DerBrockhaus multimedial 2002) neben der Legislative, Judikative und der Exekutive als vierte Gewalt in einem Staat beschrieben. Bezüglich ökonomischer Überlegungen ist etwa zu beachten, ob das Produkt auf dem Absatzmarkt (Kino, DVD ... ) oder Beschaffungsmarkt (Produktionen, Rechtsgesellschaften ... ) gehandelt wird. Ebenso spielt die Frage der Finanzierung des Medienunternehmens eine zentrale Rolle. Diese kann durch Werbung, Sponsoring, Product Placement, Merchandising, den Staat, Kredite, Subventionen, den Verbraucher oder den Empfiinger geschehen (vgl. Wiedemann/Maeting 2001, 192). Ein anderer Aspekt, der nicht nur aus ökonomischer Perspektive relevant ist, ist das Milieu, insbesondere das des Empfangers (vgl. Ludes 2001, 130). Wichtig ist auch die weitere soziale und kulturelle Einbettung sowohl der verschiedenen Milieus als auch der Medienunternehmen.
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Medien und Politik
Ethik, Physik und Logik sind seit Xenokrates (vgl. Ricken 1988, 104) die fundamentalen Disziplinen der Philosophie. Ethik stammt von dem altgriechischen Wort ethos, das Charakter, Sitte oder Brauch bedeutet. Sie ist die Disziplin, die sich mit dem menschlichen Handeln und den ihm zugrunde liegenden Werten befasst. Die allgemeine Ethik lässt sich in drei große Teilbereiche einteilen: Metaethik, normative Ethik und deskriptive Ethik. Die Allgewandte Ethik stellt die Anwendung der allgemeinen Ethik in speziellen Lebensbereichen dar, von denen zentrale in diesem Sammelband kurz dargestellt werden. Medienethik ist eine Disziplin der Allgewandten Ethik. Da normative Fragestellungen für die Medienethik besonders relevant sind, werden hier zunächst einige Schlüsselbegriffe geklärt. Die normative Ethik stellt die Frage nach dem Guten, dem Rechten und dem Legalen. Die Begriffe das Gute, das Rechte und das Legale müssen unterschieden werden. Einegenaue Begriffsklärung ist vor jeder ethischen Diskussion notwendig.
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Grundlagen der Medienethik (Medienethik I)
Wenn man nach dem Guten forscht, versucht man die allgemeinen Bedingungen zu erfahren, die fiir Menschen notwendig sind, um ein gutes Leben zu führen. Wenn man die allgemeinen Bedingungen des Guten sucht, geht es um die Bedingungen, die fiir alle Menschen zutreffen. Die Frage nach dem "guten Leben" beschäftigt sich mit dem Leben, das zwischen Geburt und Tod stattfindet. Alles, was darüber hinausgeht, fällt unter die Frage nach dem "Sinn des Lebens", die danach fragt, wofiir unser Leben in seiner Gesamtheit da ist (vgl. Sorgner 2004, 170). In welchem Verhältnis der Sinn des Lebens und das gute Leben stehen, kann hier nicht behandelt werden. Wenn das Rechte untersucht wird, interessiert man sich fiir die allgemeinen Bedingungen der Handlungsgrundlagen unter Berücksichtigung aller Menschen in gleichem Maße. Das Legale ist ein weiterer Bereich, der klar vom Rechten und Guten getrennt ist. Das Legale verweist auftatsächlich in einem Staat vorhandene Gesetze. Gesetze können im Sinne des Rechtspositivismus verstanden werden und sind daher allein von Menschen geschaffen und somit kontingent, oder sie stimmen mit dem Naturrecht überein und sind folglich notwendig und ewig und wurden von den Menschen ausschließlich anerkannt. Bei ethischen Reflexionen ist das Verhältnis des Legalen, Rechten und Guten stets zu klären. Wenn man glaubt, dass keine allgemeinen Aussagen über das Gute möglich sind, außer dass auf politischer Ebene die negative Freiheit (vgl. Berlin 1995, 197-256), also die Abwesenheit von Zwang, vorhanden ist, dann vertritt man eine liberale Position. Wenn man denkt, dass sich eine Liste von externen Voraussetzungen und körperlichen und geistigen Eigenschaften zusammenstellen lässt, die fiir alle Menschen ein Gut darstellen, dann vertritt man eine kommunitaristische Position. In beiden Fällen kann diese Grundhaltung eine positive Freiheitskonzeption (vgl. Berlin 1995, 197-256) aufpolitischer Ebene beinhalten, so dass den Bürgern zur Freiheit verholfen wird, indem sie zu einem guten Leben geführt werden. Der Begriff "gutes Leben" stammt vom altgriechischen eudaimonia, was so viel wie Einen-guten-Daimon-haben (Ein-gutes-Schicksal-haben) bedeutet, aber mit "gutem Leben" übersetzt werden kann. Die Frage nach der Idee des Guten, die im Zentrum der antiken und mittelalterlichen Philosophie stand, impliziert die Frage nach den allgemeinen Bedingungen, die fiir Menschen notwendig sind, um ein gutes Leben zu führen. Zu diesen Zeiten wurde zumeist angenommen, dass es keine Spannung zwischen dem Guten und anderen sittlichen Verpflichtungen gibt. Alle Bedingungen, die dem Individuum helfen, ein gutes Leben zu führen, waren in den meisten Konzeptionen zugleich auch im Interesse der Gemeinschaft.
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Zentrale medienethische Fragestellungen sind die Frage der Zensur, der Kulturförderung oder des Einsatzes von Medien in der Erziehung. Alle diese Fragen können z. B. aus der politischen und legalen Perspektive betrachtet werden. Es ist möglich, andere Perspektiven in das Zentrum zu rücken, z. B. die individualethische. Da auf der politischen und legalen Ebene zentrale und wirksame ethische Entscheidungen getroffen werden müssen, die notwendigerweise eine enorme Auswirkung auf die Medienpraxis haben, wird in diesem Artikel diese Perspektive in das Zentrum gerückt. Wenn man sich für diese Betrachtungsweise entscheidet, dann ist das Konzept des Guten, das auf legaler Ebene dem jeweils betreffenden Staat zugrunde liegt, für die Entscheidungstindung wichtig. Wir können starke/schwache, detaillierte/vage und inklusive/exklusive Konzepte des Guten unterscheiden. Ein Konzept des Guten ist stark, wenn es alle relevanten menschlichen Aspekte berücksichtigt sowohl im öffentlichen als auch im privaten Bereich. Ein schwaches Konzept beinhaltet nicht alle relevanten menschlichen Aspekte. Ein Konzept ist detailliert, wenn es eine klare, vielschichtige Beschreibung der beteiligten Aspekte präsentiert. Ein vages Konzept hingegen gibt nur offene Hinweise statt einer spezifischen Beschreibung. Wenn vom Wert von intimen zwischenmenschlichen Beziehungen gesprochen wird, handelt es sich um ein vages Konzept. Wenn hingegen vom Wert der Ehe zwischen heterosexuellen Partnern ausgegangen wird, dann ist das Konzept detailliert. Ein Konzept des Guten ist inklusiv, wenn es in eine ganzheitliche (auch religiöse) Weltanschauung eingebunden ist und diese auf politischer Ebene gültig sein soll. Exklusive Konzepte des Guten sind entweder nicht in eine ganzheitliche (auch religiöse) Weltanschauung eingebunden oder fordern die klare Trennung zwischen Weltanschauung und politischer Ebene. Um die Konsequenzen von unterschiedlichen Arten der Verfassung bezüglich der Mediengesetzgebung deutlich werden zu lassen, gehe ich nun auf einige geschichtliche Beispiele ein. Wenn ein starkes, konkretes und inklusives Konzept des Guten einer Verfassung zugrunde liegt, sind die Auswirkungen auf die Medienkultur signifikant. Mit der Erfmdung des Buchdrucks mit beweglichen Metalllettern durch Johannes Gutenberg, eigentlich Johann Gensfleisch, bereits in der Mitte des 15. Jahrhunderts, wurde die Herstellung von Büchern, auch mit unsittlichem Inhalt, stark erleichtert. Um die Orthodoxie der Christen zu gewährleisten, wurde auf eine strenge Buchzensur geachtet. Alle Bücher, die die kanonischen Schriften auf bedeutsame Weise herausforder-
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ten, wurden auf den Index Librorum Prohibitorum gesetzt, d. h., sie wurden verboten. Dieses Verzeichnis existierte von 1559 bis 1966. An Beispielen jüngeren Datums kann ebenfalls verdeutlicht werden, dass in Gemeinschaften mit einer starken und konkreten Vorstellung des Guten eine strenge Medienzensur stattfindet. Am 10.5.1933 organisierten die Nationalsozialisten gemeinsam mit der "Deutschen Studentenschaft" die Verbrennung von Schriften marxistischer, jüdischer oder pazifistischer Autoren auf dem Opernplatz in Berlin und in anderen Universitätsstädten. Auch am Beispiel von einzelnen Staaten innerhalb der gegenwärtigen islamischen Welt kann eine folgenreiche Medienzensur festgestellt werden. Salman Ahmed Rushdie griff in seinem 1988 erschienenen Roman "Die satanischen Verse" Themen aus der Geschichte des Islam auf. Viele Vertreter der islamischen Welt erachteten das Buch als blasphemisch. Im Februar 1989 forderte Ayatollah Khomeini alle Muslime zur Ermordung Rushdies auf. Ein starkes und konkretes Konzept des Guten liegt meist in einer Religion begründet. In der Regel wird eine solche Position des Guten als notwendige Wahrheit angesehen, die den einzigen Weg zur spätestens im Jenseits zu erlangenden Glückseligkeit darstellt. Aus diesem Grund ist den Staaten, die auf einer solchen Konzeption beruhen, daran gelegen, sowohl Irrmeinungen und unorthodoxe Positionen durch Zensur zu verbieten, als auch die wahre Lehre über alle zur Verfügung stehenden Medien zu verbreiten. Die zuletzt genannte V orgehensweise wird heutzutage in der Regel als Propaganda bezeichnet. Der Begriff Propaganda geht auf die 1622 gegründete "Congregatio de propagandajide" [(Päpstliche) Gesellschaft zur Verbreitung des Glaubens] zurück. Eine starke und konkrete Vorstellung des Guten lässt sich wahrscheinlich nicht in eine Verfassung eines pluralistischen und demokratischen Staates integrieren. Bei allen anderen Konzepten des Guten ist dies durchaus möglich. Liberale Verfassungen stellen das Gegenteil der eben beschriebenen Art von politischer Ordnung dar und sind durch eine schwache, vage und exklusive Position des Guten gekennzeichnet. Die klassische liberale Theorie bezieht klar Stellung zur Rolle der Medien. Sie "behauptet, dass eine freie Presse den Prozess der Demokratisierung und der Wohlfahrtsentwicklung durch ihre ,Wächterfunktion' stärkt.... Investigativer Journalismus kann internes Regierungshandeln durch externe Nachforschungen öffentlich machen und Autoritäten für ihr Handeln zur Rechenschaft ziehen, egal ob es sich um öffentliche Institutionen, gemeinnützige Organisationen oder um private Wirtschaftsunternehmen handelt" (Norris 2003, 34). Dass investigativer Journalismus durchaus die "Wächter"-Rolle einnehmen
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kann, wird besonders am Beispiel der USA in den 1960er und 1970er Jahren deutlich. Während des Vietnamkrieges war die Presse fiir den beschleunigten Rückzug der USA mitverantwortlich. Auch an der Watergate-Affare waren zwei Reporter der" Washington Post", Bob Woodward und Carl Bernstein, unmittelbar beteiligt. Ihnen gelang es, Informationen zu sammeln, die letztendlich den Rücktritt des damaligen Präsidenten Nixon bewirkten. Ob investigativer Journalismus stets angebracht ist, ist unklar. Der Wert der Wahrheit muss mit dem der Persönlichkeitsrechte abgewogen werden. Eine liberalere Gesetzgebung kann auch zu einer GeHihrdung des Jugendschutzes fiihren. Im Gegensatz zu Deutschland, wo es ein Totalverbot von allen pornografischen Programmen fiir das Fernsehen gibt(§ 3 Abs. 4 Nr. 10 des Staatsvertrags über den Schutz der Menschenwürde und den Jugendschutz in Rundfonkund Telemedien (Jugendmedienschutz-Staatsvertrag JMStV)), sind in Spanien solche Programme bei entsprechender optischer Kennzeichnung ohne Probleme zulässig. Ob in diesem Fall stets ein angemessener Jugendschutz gewährt werden kann, ist höchst fragwürdig. Mögliche medienethische Fragestellungen zu diesem Themenbereich sind z. B.: Wie ist die Politik der Buchzensur innerhalb von islamischen Staaten zu bewerten (Rushdie)? Sollte der Zugang zu Romanen, die höchst fragwürdige Praktiken glorifizieren (z. B. de Sades 120 Tage von Sodom), in liberalen Staaten erschwert werden? Welches Land hat die ethisch bessere Gesetzgebung im Bereich Pornografie im Fernsehen, Deutschland oder Spanien? Sind die Grenzen der deutschen Mediengesetzgebung zu liberal oder zu paternalistisch?
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Ursprünge der Medienethik
Es ist zu vermuten, dass gemeinsam mit den Medien auch die ersten medienethischen Reflexionen stattgefunden haben. Es ist gewiss, dass man sie bereits bei Platon an zentralen Stellen seines Werkes antrifft. Ein Aspekt innerhalb von Platons medienethischen Reflexionen ist seine Schriftkritik: "Denn Vergessenheit wird dieses in den Seelen derer, die es kennen lernen, herbeifUhren durch Vernachlässigung des Erinnerns, sofern sie nun im Vertrauen auf die Schrift von außen her mitteist fremder Zeichen,
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nicht von innen her aus sich selbst, das Erinnern schöpfen. Nicht also für das Erinnern, sondern für das Gedächtnis hast du ein Hilfsmittel erfunden" (Platon 1940, Bd. 2, 475 (Phaidros 275a)).
Die Erfindung der Schrift, so argumentiert Platon, verschlechtere die Fähigkeiten des Gedächtnisses. Schließlich neige man dazu, auf das Niedergeschriebene zu vertrauen, statt die Notwendigkeit zu empfmden, die Worte im Gedächtnis aufzubewahren. In den folgenden Ausfiihrungen gehe ich davon aus, dass nicht alle Medienmacher Künstler, jedoch alle Künstler Medienmacher sind. Die Verbannung von Künstlern (Medienmachern), deren Werke die Bürger zu untugendhaftem Verhalten verfUhren, aus Platons idealem Staat stellt einen weiteren medienethischen Aspekt von Platons Philosophie dar: "Wenn nun ein Mann, der infolge seiner Klugheit alles mögliche sein und alles nachahmen kann, in unsern Staat käme, sich selbst und seine Gedichte zur Schau zu stellen, dann würden wir ihn als einen heiligen, bewundernswerten und angenehmen Menschen zutiefst verehren. Aber wir würden ihm sagen, einen solchen Mann gebe es nicht in unserem Staate, noch dürfe er einwandern; dann würden wir ihn in einen anderen Staat geleiten, Myrrhenöl auf sein Haupt gießend und es mit Wolle bekränzen" (Platon 1958, 178 (Pol398a)).
Ein Künstler, der alles nachahmt, worauf er gerade Lust hat, ohne darauf zu achten, welchen Einfluss es auf die Rezipienten der jeweiligen Kunstwerke hat, darf sich nicht in Platons idealem Staat befinden. Die Kunstwerke eines solchen Künstlers gefahrden nämlich die Ordnung und Einheit des Staates, indem die Bewohner dazu verleitet werden, sich nicht mehr an die Idee des Guten zu halten, die in diesem Staat vorherrschend sein soll. Platon erläutert seine Begründung wie folgt. Platons Konzept des Guten beinhaltet unter anderem das Prinzip der Spezialisierung, das besagt, dass es am Besten ist, wenn jeder nur eine techne ausübt: ",Wann leistet man nun schönere Arbeit, wenn einer viele Künste ausübt oder nur eine einzige?' ,In letzterem Fall!' ,Und auch dies ist klar: Wenn einer den richtigen Zeitpunkt für eine Arbeit versäumt, wird aus ihr nichts." ' (Platon 1958, 140 (Pol370b)).
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Die zu verbannenden Künstler ahmen jedoch alles nach, was ihnen gerade in den Sinn kommt, ohne das Prinzip der Spezialisierung zu beachten. Wenn wir nun weiterhin auch das von Platon verteidigte Prinzip der Assimilation erwähnen, dann wird die Gefahr, die von den Künstlern ausgeht, die alles nachahmen, offenkundig. "Oder hast du nicht gemerkt, wie eine von Jugend auf andauernde Nachahmung zu Wesen und Gewohnheit wird bei Körpern, Sprache und Denken?" (Platon 1958, 174 (Pol 395d)). Wenn wir das Prinzip der Assimilation beachten und auf das Ideal des Prinzips der Spezialisierung hinarbeiten wollen, dann ist offenkundig, dass Platon jeden Künstler, der bereit ist, alles nachzuahmen, aus seinem idealen Staat verbannen musste. Die Werke dieser Künstler erschweren es der Bevölkerung nämlich, sich an das Prinzip der Spezialisierung halten zu können, da sie zu ständig neuen Lebensformen verführt werden würden. Diese Wirkung wäre von großem Nachteil fiir die Ordnung des Staates. Folglich verbannt Platonjeden Künstler aus dem Staat, der in seinem Schaffen der wahren Idee des Guten widerspricht und gegen sie ankämpft (unabhängig davon, ob der Künstler bewusst oder unbewusst handelt). Das Prinzip der Assimilation beachtend fordert Platon dazu auf, die Künste (Medien) zur Förderung der Idee des Guten zu nutzen. Deshalb plädiert er fiir die Förderung von allen Medienmachern, die das Ideal des Guten in ihren Werken verarbeiteten (vgl. Platon 1958, 150 (Pol 376e)). Deren Werke sollen im Rahmen der Erziehung genutzt werden. Im Gegensatz zu Platon betont Aristoteles nicht nur den Werte vermittelnden Aspekt von Musikdramen, mousike, sondern stellt auch den Aspekt der Entspannung heraus (vgl. Aristoteles 1989, 371-372 (Pol 1337b 25-1338a 5)). Es ist anzumerken, dass der altgriechische Begriff mousike zwar als "Musik" übersetzt wird, jedoch Musik, Drama und Tanz (unterschiedliche Medien) beinhaltet, und somit fast fiir Kunst im Allgemeinen steht. Der Begriff "Musikdrama" gibt den Gehalt des Begriffes mousike angemessener wieder als der Begriff "Musik". Die Frage, ob Musikdramen stärker mit Bildung, Spiel oder Lebensgenuss zu tun haben, wird bei Aristoteles explizit thematisiert. "Vernünftigerweise wird sie zu alldem in Bezug gestellt und scheint daran Anteil zu haben" (Aristoteles 1989, 378 (Pol 1339b 10-15)). Da alle drei Aspekte innerhalb von Aristoteles' Konzeption des Guten eine Aufgabe haben, hält er die Künste als Bestandteil der Erziehung fiir notwendig. Wie von Platon so werden auch von Aristoteles manche Harmonien und Rhythmen fiir angemessener als andere angesehen, da nur ausgewählte Harmonien und Rhythmen die Eigenschaften för-
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dem, die fiir das gute Leben wichtig sind. Wie im pythagoreisch-platonischen Denken, so ist es fiir Aristoteles offenkundig, dass eine Art von Verwandtschaft der Seele mit den Harmonien und Rhythmen besteht (vgl. Aristoteles 1989,381-382 (Poll340b 15-20)). Obwohl Aristoteles im Gegensatz zu Platon dem Genuss einen Platz zugesteht, lehnt er ab, dass Aulos (Blasinstrument) und Kithara (Saiteninstrument) bei der Erziehung genutzt werden. Auloi würden etwa hauptsächlich die Leidenschaften erregen (vgl. Aristoteles 1989, 383-384 (Poll341a 15-25)). Der Einsatz der Medien bei der Erziehung ist somit auch in Aristoteles' Konzeption klar geregelt. Im Gegensatz zu Platon, fiir den die Wertevermittlung bei den Medien primär ist, akzeptiert Aristoteles auch den spielerischen Aspekt. Damit sind zwei Einstellungen vorgezeichnet, die man bei der Frage der Kunstförderung antreffen kann. Auf der Basis von Platons Grundhaltung würden nur Kunstwerke gefördert werden, die Werte, die von staatlichem Interesse sind, vermitteln. Aristoteles' Verständnis lässt auch die Unterstützung von Kunstprojekten zu, deren Anliegen nicht nur in der Erziehung zu bestimmten Werten hin liegt. Beide hingegen sehen die Kunst nicht als eigenständigen Bereich, in dem in künstlerischer Freiheit formal hochwertige Werke geschaffen werden sollen. Erst bei Kant kommt der Kunst diese Stellung zu. Wenn Aristoteles' Medienethik (insbesondere seine Tragödientheorie) erörtert wird, steht oft der Begriffkatharsis im Mittelpunkt. Die katharsis (Reinigung) stellt einen Aspekt des Nutzens von Musikdramen dar: " ... , weil wir noch behaupten, man dürfe die Musik nicht eines einzigen Nutzens wegen verwenden, sondern um mehrerer willen, nämlich der Erziehung und der Reinigung halber - was wir jedoch unter ,Reinigung' meinen, das sei im Augenblick ganz allgemein bestimmt, sicherere Auskunft werden wir dann in den Abhandlungen ,Über die Dichtkunst' sagen, und drittens behaupten, die Musik sei auch zum Zeitvertreib da, eben zum Ausspannen und zur Erholung von der Anstrengung" (Aristoteles 1989, 386- 387 (Poll341b 35-40)).
Was Aristoteles unter Reinigung, katharsis, versteht, wird seit langem intensiv diskutiert. Auf den katharsis-Begriff wird auch in der Gegenwart häufig zurückgegriffen.
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Musik und Ethik
Festzustellen ist bis zu diesem Punkt, dass innerhalb der antiken griechischen Kultur das Musikdrama zumindest ein zentrales Thema des medienethischen Diskurses war. Die zentralen Themen haben sich im Geschichtsverlauf ständig verändert. Häufig standen diejeweils neu erschaffenen Medien im Mittelpunkt der Auseinandersetzungen. Zuweilen waren ethische Reflexionen jedoch auch fiir die Entwicklung eines neuen Mediums zuständig, was sich an der Erfindung der Oper durch die Florentiner Camerata in der zweiten Hälfte des sechzehnten Jahrhunderts zeigt (vgl. Palisca 1989).
4.1
Historisches Beispiel: Medienethische Überlegungen beim Entstehen des Musikdramas in der italienischen Renaissance
Eine Gruppe von Musikern und Denkern versammelte sich am Hofe des Grafen Giovanni Bardi, um über die Zukunft der Musik zu sprechen und gemeinsam zu musizieren. Timen war die Unzufriedenheit mit der gegenwärtigen Musik gemein. Sie glaubten, dass die vorherrschende Polyphonie nur der Unterhaltung diene und bemühten sich durch die Rückbesinnung auf antike Musikphilosophien, eine Musik zu etablieren, die wieder in der Lage sein sollte, die Seele zur Tugend zu erziehen. Viele Ethiker vertreten, dass Tugenden ein essentieller Bestandteil sowohl des Guten als auch des Richtigen sind (z. B. Platon, Aristoteles). Somit soll das Musikdrama der Förderung des Guten und des Richtigen dienen, indem es die Seelen der Rezipienten zur Tugend erzieht. Diese Leistung solllaut Platon nur möglich sein, wenn das Wort Vorrang vor der Musik hat und die Musik sich nach dem Wort richtet. An dieser Grundannahme orientierten sich die Mitglieder der Camerata, und durch sie erlangte die Monodie in der Oper eine große Bedeutung. Der wichtigste Bezugstext, der im Rahmen der Camerata entstand, ist das von Vincenzo Galilei verfasste Werk "Dialogo della musica antica e moderna" (Ende 1581 oder Anfang 1582) (Galilei 2003 [1591]). Vincenzo Galilei studierte aufKosten von Bardi in Venedig bei Zarlino, und er war sowohl Lautenspieler, Sänger, Gelehrter als auch Vater von Galileo Galilei. Vincenzo Galileis Verständnis der antiken Musik wurde entscheidend von Girolamo Mei geprägt (Mei 1960), mit dem er und
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auch Bardi einen intensiven, inhaltlich reichen Briefverkehr unterhielten (1572-1578). Der in Florenz geborene und in Rom lebende Mei war der fUhrende Gelehrte auf dem Gebiet der antiken Musik:philosophie. Inspiriert durch die Gedanken der Camerata, erschufen Jacopo Peri (Musik) und Ottavio Rinuccini (Text) sowohl das Melodrama "Dafne", die erste Oper überhaupt, als auch "Eurydike", das erste uns noch erhaltene Melodrama. Die Urauffiihrung fand am 6. Oktober 1600 im Palazzo Pitti in Florenz im Rahmen der Hochzeitsfeierlichkeiten von Maria de' Medici mit dem König von Frankreich, Heinrich IV., statt (vgl. Brown 1997, Bd. 2, 85). Peri glaubte die heute fiir falsch gehaltene Theorie, dass die antiken griechischen und römischen Tragödien von Anfang bis Ende gesungen wurden, wodurch die Tradition des gesungenen Rezitativs etabliert wurde. Die bedeutendste Oper aus der Anfangszeit dieser Gattung ist jedoch "L'Orfeo" des Claudio Monteverdi, die am 22. Februar 1607 in Mantua uraufgefiihrt wurde.
4.2
Gegenwärtige Überlegungen zur Rock- und Rapmusik und dem Werkkonzept
Auch wenn das Hauptaugenmerk von Medienethikern heutzutage auf anderen Themen liegt (z. B. Fernsehen, Printmedien und Internet), wird das Verhältnis von Musik und Ethik noch immer diskutiert. In diesem Abschnitt behandle ich sowohl Überlegungen zur U-Musik (unterhaltenden Musik) als auch zur E-Musik (ernsten Musik). Wenn es um die Frage nach der ethischen Bedeutung von U-Musik geht, dann wird in der englischsprachigen Diskussion häufig auf Gedanken von Bloom und Shustermann verwiesen. Bloom ist als Denker der platonischen Tradition anzusehen, der in "The Closing ofthe American Mind" (Bloom 1987, 68-81) eine pointierte und scharfe Kritik der Rockmusik vorbrachte, wohingegen Shustermann in "The Fine Art ofRap" (Shusterman 1991, 613- 632) die lobenswerten Aspekte der Rapmusik darstellt. Laut Bloom würde die gegenwärtige Jugend in einem Umfeld erzogen werden, in dem es keinen intellektuellen Widerstand gegen die ungezügelten Leidenschaften gäbe, wie dies mit Hilfe der klassischen Musik möglich war. Die Rockmusik würde ausschließlich die sexuelle Begierde aufungezügelte und unentwickelte Weise fördern und freisetzen, da der Rhythmus der Rockmusik dem der sexuellen Vereini-
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gung entspräche. Nicht nur der Rhythmus fördere die niederen Triebe, sondern auch der Text, der auf laszive Art beschreibt, wie körperliche Handlungen die sexuelle Begierde stillen. Außer der Sexualität würden noch Drogenkonsurn, Hass gegenüber Autoritäten, insbesondere den Eltern, und eine hypokritische Version der Brüderlichkeit vermittelt werden. Durch die Vermittlung von solchen Idealen würden wirkliche Ideale wie die wahre Liebe, die Ehe und Familie als langweilig und unzeitgemäß zerstört werden. Rockmusik sei bezüglich der Erregung der niederen Triebe sogar sehr viel effektiver als Pornographie, da Voyeurismus etwas fiir old perverts sei, die Jugendjedoch aktive sexuelle Beziehungen hätten. Bloom vermutet, dass unsere Einschätzung des Kastensystems, von Hexenverbrennungen und von Harems mit der Einschätzung von zukünftigen Generationen bezüglich der Rockmusik übereinstimmt. Nicht nur der Rhythmus und die Texte seien gefährlich, sondern auch die Musiker selbst würden die Jugend korrumpieren, da sie als Idole Identifikationscharakter haben. Mick Jagger repräsentiere einen androgynen, aus der Arbeiterklasse stammenden Satyr, der fiir das Leben im Rausch werbe. Obwohl innerhalb der jugendlichen Popkultur Heldenturn abgelehnt wird, würden sich insgeheim viele der Jugendlichen wünschen, ein Leben wie Mick Jagger zu führen. Aus den angegebenen Gründen führe Rockmusik nicht nur zu einem moralischen Verfall, sondern auch eine begeisterte Beziehung zu den freien Künsten sei auf diese Weise nicht mehr möglich, und nur ein Leben, in dem diese Künste berücksichtigt würden, könne, laut Bloom, zu einem guten Leben führen. Rockmusik hingegen fördere den Hedonismus, eine Glückstheorie gemäß der das Gute ausschließlich in der Lust zu finden sei. Die Lüste, auf die Bloom verweist, sind eher den niederen Lüsten zuzuweisen. Shustermann hingegen hat ein anderes Verständnis davon, wie die U-Musik der Jugendkultur wirke. Speziell geht er auf die Rapmusik ein, die ein essentieller Bestandteil der Hip Hop Kultur ist. Er hebt besonders hervor, dass Hip Hop universale Themen wie Ungerechtigkeit und Unterdrückung aufgreife und ebenso die klassischen Themen der schwarzen Arbeiterklasse wie Zuhälterei, Prostitution, Drogenabhängigkeit, Straßenmord oder die Unterdrückung durch weiße Polizisten behandle. Durch die Massenmedien verbreite sich Hip Hop weiter, wodurch ein Bewusstsein fiir die Probleme der schwarzen Arbeiterklasse geschaffen werde. Somit fördere Rapmusik sowohl das Gute als auch das Richtige. Ein Bewusstsein fiir die Probleme von Minderheiten zu haben, ist entscheidend fiir den sozialen Zusammenhalt einer Gesellschaft und hilft, die Bereitschaft zur gegenseitigen Unterstützung zu stärken. Die Gefahr der Glorifizierung von
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Zuhälterei und Drogenkonsum, die von den meisten Ethikern als nicht mit dem Guten in Übereinstimmung zu bringen angesehen werden, rückt bei Shustermann in den Hintergrund. Weiterhin zeigt Shustermann auf, dass Rapmusik eine postmoderne Musikgattung sei, durch die die Mängel der Forderungen an die Musik, wie sie seit 1800 durch das vorherrschende Konzept des musikalischen Werkes vorhanden waren, aufgezeigt würden. Beide Aspekte sollen die große kulturelle Bedeutung der Rapmusik verdeutlichen. Ein zentrales Themengebiet im Bereich der E-Musik hingegen ist die Frage nach der ethischen Bedeutung des musikalischen "Werks" (vgl. Sorgner/Fürbeth 2003, 1-20). Seit etwa zweihundert Jahren wurden im Bereich der E-Musik zumeist Werke erschaffen, wobei anzumerken ist, dass die Grenzen der Vorherrschaft des Werks selbstverständlich fließend sind. Insbesondere in der zweiten Hälfte des zwanzigsten Jahrhunderts wurde das Werkkonzept von verschiedenen Komponisten und Denkern einer radikalen Kritik unterzogen. Das Bildungsbürgertum verbindet jedoch weiterhin so genannte E-Musik bzw. klassische Musik, wobei beide Bezeichnungen problematisch sind und einer spezifischen Kritik unterzogen werden müssten, mit dem musikalischen Werk. "Ein musikalisches Werk ist durch die folgenden Eigenschaften gekennzeichnet: Es ist autonom, originell und unveränderlich, wurde von einem Komponisten erschaffen, der auch als der entscheidende Urheber gilt, steht im Vordergrund, wenn es aufgeführt wird, und wurde für die Ewigkeit geschaffen." (Sorgner/Fürbeth 2003, 16). Eine Alternative zum musikalischen Werk stellt die funktionale Musik dar, wobei diese Musik der Untermalung oder der Lobpreisung dient. Auch das Volkslied, die stochastische Musik, die magische Musik und die Filmmusik fallen nicht unter das Konzept des musikalischen Werkes. DieForderung nach der Autonomie impliziert unter anderem, dass ein Werk stets originell sein muss und nicht auf bereits Vorhandenes zurückgegriffen werden darf. "Stochastische Musik", ein von Jannis Xenakis eingeführter Begriff, ist zwar autonom, jedoch sind Teile der Komposition nicht auskomponiert, sondern werden durch den Zufall hervorgebracht. Daher ist stochastische Musik, im Unterschied zum Werk, nicht unveränderlich. Volksmusik ausdrücklich zu unterscheiden von volkstümlicher Musik kann allein deshalb kein Werk hervorbringen, da sie nicht von einem Komponisten erschaffen wurde, sondern sich über einen langen Zeitraum im Volk entwickelt hat. Auch Filmmusik kann kein Werk sein, da Filmmusik heteronom ist; schließlich hat sie die Aufgabe, die Wirkung des
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jeweiligen Films zu verstärken. Gewöhnlich wird ein Film nicht deshalb angeschaut, um sich primär die Filmmusik anzuhören. Bei einem musikalischen Werk verhält es sich anders. Man geht primär in eine Konzerthalle, um sich eine Symphonie anzuhören und sich dabei an der Schönheit oder am Mathematisch- oder Dynamisch-Erhabenen (vgl. Kant) der musikalischen Form zu erfreuen. Somit wäre die Aufgabe der Musik, Freude zu bereiten. Das Gute, das durch Musik unterstützt wird, wird hier in einer Form der Lust gesehen. Das musikalische Werk impliziert somit eine hedonistische Konzeption des Guten. Es ist zu diskutieren, ob die Freude, die man durch die musikalische Form erlangt, eine höherwertige Lust ist als die, die man durch Tätigkeiten wie Essen, Trinken und Sexualität erreichen kann. Auch die Bedeutungen von Freude und Lust innerhalb von verschiedenen Konzeptionen des Guten und des Richtigen können thematisiert werden (vgl. Bentham und Mill). Dass Musik nicht der Freude an seiner musikalischen Form wegen da ist, wird heutzutage insbesondere in nicht-westlichen Ländern vertreten. Small hat in seinem Buch "Music, Society, Education" die lebensweltliche Einbettung der afrikanischen Musik aufgezeigt (vgl. Small 1980, 48-58). In der traditionellen afrikanischen Kultur ist Musik Bestandteil des alltäglichen Lebens. Außer den offensichtlichen Beispielen der Schlaf- bzw. Arbeitslieder dienen Musikstücke meist als Erinnerung an die Geschichte des eigenen Stammes oder die Legitimität der jeweiligen Herrscher, zur Vermittlung von Neuigkeiten, Lob, Warnungen oder religiösen Erkenntnissen und auch als essentieller Bestandteil von Initiationsriten. Im Gegensatz zum musikalischen Werk ist die Musik in Afrika die äußerlich hörbare Darstellung einer inneren biologischen Aufgabe, eine Notwendigkeit und ein lebenswichtiges Mittel. Musik ist somit ein Mittel zur Förderung des Guten (Schlaf- bzw. Arbeitslieder) und des Richtigen (Erinnerung an die Geschichte des eigenen Stammes). Musikethische Fragen, die sich im Zusammenhang der vorangegangenen Überlegungen stellen, sind etwa die folgenden: Wenn Musikdramen die Seele zur Tugend (zum Guten) erziehen, wie V. Galilei behauptet hat, sollte man Theaterbesuche in den Stundenplan von Schulen aufnehmen. Wie ist diese Aussage zu bewerten? Ist Galileis Behauptung zuzustimmen? Welche Rolle sollte Rock- bzw. Rapmusik im Rahmen der elterlichen Erziehung (zum Guten und Rechten) spielen, wenn sie, wie Bloom behauptet, den Hedonismus fördert? Ist Blooms Behauptung abzulehnen oder zuzustimmen?
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Fördert Rapmusik tatsächlich das Bewusstsein fiir die Probleme von Minderheiten? Sollte man, wenn Shustermanns These zutreffend ist, Rapmusik mit hohen staatlichen Mitteln fordern, so dass die Integration von Minderheiten besser gelingt? Ist die Freude an der musikalischen Form Aufgabe der Musik? Ist an der Freude an der musikalischen Form ein allgemeines Interesse vorhanden? Sollte die staatliche Musikforderung von dem Interesse der Allgemeinheit abhängig sein? Ist die Integration der Musik in verschiedenen lebensweltlichen Bereichen, so dass durch sie das Gute und Rechte gefördert wird, mit dem Wesen der Musik zu identifizieren?
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Massenmedien
Da ethische Reflexionen oft im Zusammenhang mit neu entwickelten Medien stehen, ist es wenig verwunderlich, dass eines der zentralen medienethischen Themen im zwanzigsten Jahrhundert die Massenmedien waren, die in diesem Jahrhundert enorm an Einfluss gewonnen hatten. Zwei Personen mit einem ähnlichen Gesellschaftsideal können zu einer radikal unterschiedlichen Bewertung von Massenmedien gelangen, wenn sie deren Wirkung aufverschiedene Weise einschätzen. Am folgenden Beispiel, der Frage nach der Wirkung von Massenmedien, verdeutlicht sich diese Erkenntnis. Bezüglich der Wirkung von Massenmedien lassen sich zwei einflussreiche Traditionen unterscheiden, die Frankfurter Schule, insbesondere Adomo, und die empirische Sozialforschung in den USA. Von den dreißiger Jahren bis in die späten fiinfziger Jahre wurden in den Vereinigten Staaten detaillierte empirische Studien durchgefiihrt, die zeigten, dass das Medienpublikum nicht als passive, untätige Masse angesehen werden kann, die unreflektiert alles glaubt, was ihr vorgesetzt wird (Gurevitch!Bennet/Curran!Woollacott 1982, 8). Aus diesen Studien entwickelte sich in den USA sogar die Orthodoxie, dass Medien nur einen sehr begrenzten Einfluss auf das Denken und Handeln von Menschen hätten. Massenkommunikation würde nicht notwendigerweise zu einer Uniformität der allgemeinen Meinung fiihren. Es wurde sogar argumentiert, dass Medienkonsumenten durch den Konsum selbst aktiver würden (vgl. Curran/ Gurevitch/Woollacott 1982, 12). Die Denker innerhalb der marxistischen Tradition kritisierten diese Theorien und betonten hingegen, dass die Massenmedien als effektive Mit-
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tel dienten, um Ideologien plausibel zu vertreten, und dass so die Vorherrschaft von bestimmten Klassen aufrechterhalten würde (vgl. Curran/Gurevitch!Woollacott 1982, 13). Auch würden die dominanten Werte und Normen direkt durch die Massenmedien vermittelt werden, so dass die bestehende soziale Ordnung unterstützt würde (vgl. Curran/Gurevitch/Woollacott 1982, 14). Bereits Marx hat das grundlegende Schema dieser Denktradition klar vertreten. Die herrschende Klasse sei stets die, deren Ideen auch die vorherrschenden seien, was impliziert, dass mit der finanziellen Herrschaft stets die ideelle verbunden sei, da die Mittel der geistigen Produkte nur über fmanzielle Macht aufrechterhalten werden können (vgl. Curran/Gurevitch/Woollacott 1982, 22). Auch Marcuse hat in klaren Worten betont, dass durch die Indoktrinierung und Manipulation der Massenmedien ein falsches Bewusstsein und eindimensionales Denken, das insbesondere die Unterhaltungsindustrie unterstützen würde, erschaffen würde. Besonders pointiert waren die Analysen Adornos zur Massenkultur. Er hält es fiir offenkundig, dass die meisten Menschen außerhalb ihrer Arbeitszeit nicht selten unter dem Einfluss der Massenmedien stehen (vgl. Adorno 1953, 69-78), in der stets der Massengeschmack der Kulturindustrie vermittelt würde. Wie die meisten Bürger der gegenwärtigen westlichen Welt geht sowohl die empirische Sozialforschung in den USA als auch die Frankfurter Schule davon aus, dass die repressive Herrschaft einer kleinen Gruppe oder eines Einzelnen in einem Staat oder eine Verfassung, die auf einer starken und konkreten Idee des Guten beruht und somit signifikant in das Privatleben der Bürger eingreift, keine akzeptable Herrschaftsform darstellt. Trotzdem unterscheiden sich die beiden Strömungen bezüglich der Bewertung der Massenmedien, da sie deren Wirkungsweise unterschiedlich einschätzen. Insofern innerhalb der amerikanischen empirischen Sozialforschung die Auffassung vertreten wird, dass die Massenmedien die Aktivität der Bürger fördern und stärken, wird auch davon ausgegangen, dass die Massenmedien nicht eine stark repressive Herrschaftsform, sondern vielmehr den Pluralismus und die Demokratie unterstützen. Aus dieser Einschätzung der Wirkung resultiert eine hohe Wertschätzung der Massenmedien. Die Frankfurter Schule hingegen sieht die Massenmedien als ein Mittel an, mit dessen Hilfe die breite Masse der Bevölkerung indoktriniert, zu eindimensionalem Denken gebracht und unterhalten und ruhig gestellt werden soll. Wenn diese Einschätzung der Wirkung zuträfe, dann förderten die Massenmedien nicht die Demokratie, sondern vielmehr die Herrschaft der Reichen und somit eine Herrschaftsform, die von der Frankfurter
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Grundlagen der Medienethik (Medienethik I)
Schule abgelehnt wird. Aus diesen Überlegungen resultiert die ablehnende Haltung der Frankfurter Schule gegenüber den Massenmedien. Inzwischen hat sich durch einen Paradigmenwechsel in der Medienwirkungsforschung hin zu einem dynamisch-transaktionalen Ansatz (vgl. Wemer Früh) eine schwache Wirkungsthese in vielen Fällen durchgesetzt. Medien wirken nur dann stark, wenn ihnen bestimmte Bedingungen auf Seiten der Rezipienten entgegenkommen. Die hier behandelte Frage nach der Bewertung der Massenmedien ist bereits eine medienethische Frage. Weiterhin stellt eine Antwort auf die Frage nach der Wirkung eine Voraussetzung fiir die ethische Auseinandersetzung mit Massenmedien dar, da die Einschätzung der Wirkung der Massenmedien ethische Reflexionen zu Einzelfragen beeinflusst. Auch fiir die Themenfelder, die im Artikel Medienethik II behandelt werden, kann die Frage nach der Wirkung von Massenmedien von zentraler Bedeutung sein, da die dort behandelten Bereiche zu den Massenmedien zählen.
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Ausblick
Es hat sich innerhalb dieser Einführung gezeigt, dass bestimmte medienethische Probleme zu jeder Zeit diskutiert wurden, wie etwa die Zensurproblematik. Zensur wurde bereits in der Antike praktiziert (Sokrates wurde wegen der Verehrung und Einführung von neuen Göttern, der Ablehnung der GötterAthensund der Verführung der Jugend Athens zum Tode verurteilt) und wird auch in der Zukunft eines der zentralen medienethischen Themen bleiben. Andere medienethische Probleme entstehen jeweils gemeinsam mit der Entwicklung von neuen Medien, was am Beispiel der Netzethik in den letzten Jahren besonders deutlich wird. Jedoch lassen sich bei diesen neuen Themen häufig Parallelen zu bereits vorhandenen ziehen. Das ,,Problem der ökonomischen, technischen, sozio-kulturellen und interkulturellen Zugangsschranken" (Debatin 2002, 222), das sich im Bereich des Irrtemets stellt, war und ist zum Teil auch noch im Buchbereich vorhanden. Im Mittelalter war ein Buch ein Luxusgut, das nur wenige Menschen besitzen konnten. Auch in der Zukunft werden wieder neue Medien entwickelt werden, die neue medienethische Probleme mit sich bringen werden. Insbesondere im Bereich des Irrtemets werden jedoch die Entwicklungen besonders rasant verlaufen, so dass dies der Bereich sein wird, in dem weiterhin zahlreiche neue Probleme auftreten werden. Ebenso ist davon auszugehen, dass
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die Bereiche Fernsehen, Internet und Telefon noch enger zusammenwachsen werden. Aus dieser Entwicklung haben und werden sich ständig neue Fragestellungen ergeben, so dass die Medienethik weiterhin ein Thema bleibt, zu dem viel geforscht werden wird.
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Medienethik in der Gegenwart (Medienethik II) Martin Leiner
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Einleitung
Die Medien muten uns allen ethisch viel zu. Sie versehen uns mit Darstellungen von Gewalt und Pornographie, mit Versuchen ökonomischer und politischer Verführung und Manipulation. Die Medienprodukte machen uns abhängig und bestimmen zunehmend unser aller Leben, Fühlen und Handeln. Unser Leben wird immer mehr ein Leben aus zweiter Hand, ein medial vermitteltes Leben. Und dies wird immer schlimmer. Die Mediennutzungszeiten nehmen unaufhaltsam zu. Trotz Internet, Handy und MP 3Player nahm die durchschnittliche Fernsehdauer in der Bundesrepublik Deutschland zwischen 1992 und 2002 von 168 Minuten pro Tag auf 215 Minuten zu (statistisch repräsentativ untersucht fiir Zuschauer ab 14 Jahren; s. Plake 2004, 190). Eine Studie der Humboldt-Universität in Berlin schätzt, dass 720.000 Millionen Deutsche internetsüchtig sind (vgl. http:// www.intemetsucht.de/ssi/publikationen.html). Bereits 1991 ergab eine Studie in Deutschland, dass etwa jede zweite Fernsehsendung Gewaltszenen enthalte und täglich durchschnittlich 70 Morde im Gesamtprogramm gezeigt werden (vgl. Bonfadelli 2004, 256-258), wobei durchaus auch das Nachmittagsprogramm, das häufig von Kindem ohne Begleitung Erwachsener gesehen wird, betroffen ist (vgl. Rabius in Grimm/Capurro 2002, 135-146). Ursprünglich erweitern Medien zwar unsere Möglichkeiten, die Welt wahrzunehmen, sie sind "Körperextensionen" (McLuhan 1965), die unseren Ohren und Augen ungeahnte Reichweite in Raum und Zeit verleihen. Medien sind deshalb eine wunderbare Erweiterung der Erlebens-, Handlungs- und Kommunikationsmöglichkeiten des Menschen. Man fragt sich aber verstärkt seit etwa 50 Jahren: Beherrschen wir diese Medien in souveräner Weise oder haben die Mittel, die wir geschaffen haben, uns nicht
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Martin Leiner
längst zu ihren Dienern und Gefangenen gemacht? Die Welt unserer inneren Bilder und Wünsche wird von den Medien gefüllt, manipuliert und, wie manche sagen, geradezu "verschmutzt". Zur Vorgeschichte der heutigen wissenschaftlichen Medienethik gehören Ansätze wie die Medienökologie, aber auch Romane, Essays und Filme, die die potentielle Gefahrlichkeit von Medien zum Inhalt haben. Kritik, besonders an sich neu entwickelnden Medien, gibt es dabei schon lange. Von Seiten des gesprochenen Wortes wurde die Schrift kritisiert (Plato, s. Medienethik I), von Seiten des Buches das Bild (vgl. die Bilderverbote der Religionen Judentum, Christenturn und Islam; Leiner 2005); von Seiten von Buch und Malerei wurden Kino, Fernsehen und Photographie kritisiert, von Seiten des Radios das Fernsehen usw. Auch die Kritik jeweils aktueller Medieninnovationen durch Literatur lässt sich nachzeichnen von Miguel de Cervantes' "Don Quichotte", der durch die Lektüre von Ritterromanen den Kontakt zur Realität verloren hat und mit Windmühlen kämpfte, bis hin zu Heinrich Bölls Roman "Die verlorene Ehre der Katharina Blum", der die fatale Rolle der Boulevardpresse in der bundesrepublikanischen Gesellschaft der 1970er Jahre beschreibt. Die massive Rolle der Medien in für die Zukunft entworfenen Schreckensszenarien wie in Fran~ois Truffauts Film "Fahrenheit 451" oder in Rainer Werner Fassbinders "Welt am Draht" ist demgegenüber eher ein besonderes Merkmal des 20. und 21. Jahrhunderts. Erst in dieser Zeit wird dem Menschen bewusst, welche technischen Möglichkeiten durch Medien realisiert werden können: Die Überwindung von Raum und Zeit, alles sehen und hören zu können, überall gegenwärtig zu sein, alles kontrollieren zu können; diese einstmals im Mythos den Göttern zugeschriebene Eigenschaften werden mittels der Medien reale Möglichkeiten des Menschen. George Orwells Roman "1984" und Aldous Huxleys "Schöne neue Welt" stellen dabei zwei Grundmodelle einer Entmündigung des Menschen durch Medien dar. In Orwells Buch ist es die Selektion und Manipulation von Information durch ein totalitäres "Wahrheitsministerium" verbunden mit dem Aufbau eines umfassenden mediengestützten Kontrollund Einschüchterungsapparates. Huxleys "Schöne Neue Welt" beschreibt die Gefahr einer sich in Medienunterhaltung amüsierenden, auf regressiven Genuss konditionierten Kastengesellschaft. Neil Postmans Essay "Wir amüsieren uns zu Tode" (engl. 1985; dt. 1988), ein Buch, das ein erstes starkes Aufflackern des medienethischen Interesses in Deutschland hervorrief, bezieht sich von Anfang an auf Orwell und Huxley. Postman stellt die These auf, dass in westlichen Gesellschaften die von Huxley beschrie-
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bene Entwicklung die grössere Bedrohung darstelle. Der New Yorker Professor für Medienökologie schreibt: "Huxley hat gezeigt, dass im technischen Zeitalter die kulturelle Verwüstung weit häufiger die Maske grinsender Betulichkeit trägt als die des Argwohns oder Hasses. In Huxleys Prophezeiung ist der große Bruder gar nicht erpicht darauf, uns zu sehen. Wir sind darauf erpicht, ihn zu sehen. Wächter, Gefangnistore oder Wahrheitsministerien sind unnötig. Wenn ein Volk sich von Trivialitäten ablenken lässt, wenn das kulturelle Leben neu bestimmt wird als eine endlose Reihe von Unterhaltungsveranstaltungen, als gigantischer Amüsierbetrieb, wenn der öffentliche Diskurs zum unterschiedslosen Geplapper wird, kurz, wenn aus Bürgern Zuschauer werden und ihre öffentlichen Angelegenheiten zur Variete-Nummer herunterkommen, dann ist die Nation in Gefahr das Absterben der Kultur wird zur realen Bedrohung" (Postman 1988, 189f).
Geblieben ist von diesen Negativszenarien heute nicht viel mehr als zweierlei: Zum einen der Aufruf, dass aus Zuschauern wieder aktiv Gestaltende im Umgang mit den Medien werden - ein Aufruf, den man nicht ernst genug nehmen kann-, und zum anderen der Impuls, genauer hinzusehen. Eine pauschale negative Bewertung der Medien wird sich nämlich nicht halten lassen. Es stellen sich Fragen wie: Haben Medien nur und unter allen Umständen eine Passivierung und einen Kulturverlust zur Folge oder tragen sie nicht in anderen Fällen Wesentliches zur Schaffung einer demokratischen und pluralenKulturund Öffentlichkeit bei, wie sie für eine moderne Demokratie notwendig sind? Ist Unterhaltung immer negativ zu bewerten oder erfüllt sie nicht wesentliche anthropologische Bedürfnisse? Ist die Verquickung von Information und Unterhaltung ("Infotainment")
immer negativ zu bewerten? Wirken sich mediale Darstellungen von Crime und Sex im Sinne einer ethisch negativ zu bewertenden Veränderung der Leitbilder und Motive der Menschen aus oder dienen sie nicht unter bestimmten Bedingungen auch zur Abschreckung und zur Katharsis von negativen Gefühlen durch symbolisches Ausagieren? Spielten die Medien nicht beim politischen Wandel in Osteuropa oder bei Spendenaufrufen für Opfer von Naturkatastrophen eine schwer zu unterschätzende, positive Rolle? Medienwirkungsforschung, die es etwa seit der Zeit des Ersten Weltkriegs gibt, Mediengeschichte und als jüngste Entwicklung die wissenschaftliche Medienethik suchen in einer differenzierten Weise, auf die sich
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mit den Medien stellenden Probleme Antworten zu geben. Die Konstitution einer wissenschaftlichen Medienethik verdankt sich dabei nur zu einem sehr geringen Teil den auflagenstarken Werken populärer Medienkritik im Sinne Postmans, sondern sie beruht auf einer kontinuierlichen Entwicklung in den Medien und auf der medienethischen Reflexion der Medienmacher selbst. Medienethik als wissenschaftliche Disziplin ist ein Musterbeispiel fiir das Entstehen einer wissenschaftlichen Augewandten Ethik in einem besonderen Bereich der Kultur und Arbeitswelt.
2
journalistische und wissenschaftliche Medienethik
2.1
Orte der Medienethik
Ein zentraler hermeneutischer Grundsatz lautet: Verwandele die Frage, was etwas ist, zunächst in die Frage: Wo wird etwas angetroffen? Dieser Grundsatz ist so allgemein und so weiterfiihrend, dass er auch fiir die Medienethik gilt. Wir müssen, wenn wir uns dem Thema Medienethik nähern, zuerst nach "Orten der Ethik" (Klaus Tanner) fragen und uns konkret deutlich machen, an welchen sozialen Orten, welche Form von Medienethik praktiziert wird. Dabei müssen wir auf die grundlegenden Ausfiihrungen dieses Buches zu dem, was Ethik ist und zu dem, was Medien sind (vgl. Medienethik 1), zurückgreifen. Ausgehend von diesen Überlegungen kann man sagen: In einem weiten Sinne wird Medienethik in jedem menschlichen Handeln mit Medien ausgeübt: Jeder Fernsehrezipient, der sich entscheidet, eine Sendung, in der einseitige politische Berichterstattung geübt wird, nicht weiter anzusehen, übt in diesem weiten Sinne Medienethik aus. Ein Redaktionsteam, das sich entschließt, eine bestimmte Meldung in einer bestimmten, ethisch vertretbar erscheinenden Weise zu bringen und ethisch nicht einwandfreie Alternativen verwirft, handelt in diesem weiteren Sinne medienethisch. In einem engeren und eigentlichen Sinne sind Orte der Medienethik hingegen Institutionen, die explizit und aus einer gewissen Distanz heraus über ethische Fragen der Medien reflektieren. Solche Orte der Medienethik sind z. B. der Deutsche Presserat, ein Journalist, der einen Artikel in einer
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Zeitschrift über ethische Fragen des Journalismus schreibt, eine medienethische Unterrichtseinheit in der Journalistenausbildung oder auch eine Publikumsorganisation, die bestimmte medienethische Ziele verfolgt (vgl. dazu Staud 1999). An diesen Orten wird Medienethik zwar meist nicht nach wissenschaftlichen Standards, aber doch kontinuierlich betrieben.
2.2
Medienethik als Angewandte Ethik
Wie fiir die anderen Bereiche der Augewandten Ethik hat sich in der Medienethik folgende Grundstruktur der Argumentationen herausgebildet: Man muss unterscheiden zwischen: a) der Formulierung konkreter ethischer Entscheidungen, b) der Ebene allgemeiner abstrakter Prinzipien und c) einer Pluralität von mehr oder weniger umfassenden und grundlegenden ethischen Konzeptionen und Einstellungen. Die konkreten medienethischen Entscheidungen (a) werden meist mit allgemeinen Prinzipien wie "Wahrheit der Nachricht" oder "informationelle Selbstbestimmung" (b) begründet. Diese allgemeinen Prinzipien sind in Dokumenten wie dem Deutschen Pressekodex, den Staatsverträgen über den Rundfunk oder verlagshausinternen ethischen Richtlinien festgeschrieben. Im Sinne von John Rawls sind diese allgemeinen Prinzipien als "freistehende Auffassungen" (1998, 75 u. ö.) zu deuten. Über Rawls hinausgehend ist aber zu betonen, dass nicht nur zur argumentativen Begründung und zur Konstitution dieser allgemeinen Prinzipien, sondern auch zu ihrer konkreten Interpretation und Anwendung die Ebene der umfassenderen ethischen Konzeptionen und Einstellungen einzubeziehen ist und de facto auch einbezogen wird. In Abbildung 1 ist dieser Sachverhalt folgendermaßen dargestellt: Es gibt eine offene Reihe pluraler grundlegender Ethikkonzeptionen (G 1 bis G n), in denen die Menschen mehr oder weniger explizit und bewusst leben. Als Beispiele solcher Ethikkonzeptionen kann man nennen: Kantianismus, unterschiedliche Formen von Utilitarismus, Epikureismus, marxistische Ethiken, feministische Ethiken, verschiedene Ethikkonzeptionen der christlichen, jüdischen oder einer anderen Religion usw. Aus den aktuell in einer Gesellschaft vertretenen grundlegenden Ethikkonzeptionen bildet sich im institutionalisierten Ethikdiskurs, d. h. etwa im Presserat, in Staatsverträgen oder auch in der Wissenschaft eine Reihe von Prinzipien
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heraus, die schriftlich fixiert werden. Diese Prinzipien kann man als Ergebnis eines "übergreifenden Konsenses" (overlaping consensus; John Rawls) der in den Institutionen berücksichtigten ethischen Grundorientierungen ansehen. Die Fixierung der Prinzipien ist dabei meist nicht für alle Zeit unabänderlich. Wie am Deutschen Pressekodex zu beobachten ist, werden im Lauf der Jahre die Prinzipien kontinuierlich erweitert und verändert. In konkreten ethischen Anwendungsentscheidungen diskutieren in den ethischen Institutionen Vertreter der gesellschaftlich wichtigen Gruppen auf der Grundlage der Prinzipien. Die Wahl einer recht großen Pluralität von Vertretern von Gruppen soll gewährleisten, dass alle wichtigen ethischen Grundorientierungen (G 1 bis G n) in einem Gremium wie dem Rundfimkrat einer öffentlich-rechtlichen Fernsehanstalt repräsentiert sind. Ein Sender wie der Mitteldeutsche Rundfunk (MDR) hat einen Rundfimkrat mit 43 Mitgliedern. Sie sind als Vertreter entsandt von: allen Parteien, die in mindestens zwei Landtagen der den Sender betreibenden Bundesländer Sachsen, Sachsen-Anhalt und Thüringen vertreten sind, den Wirtschafts- und Handwerksverbänden, den staatlich anerkannten Religionsgemeinschaften (evangelisch, jüdisch, katholisch), den Städten, den Gewerkschaften, den Frauen- und Umweltschutzverbänden, den Familienorganisationen, der sorbischen Minderheit oder den Opfern des Stalinismus usw. Die Argumentationen in solchen medienethischen Institutionen sind meistens Anwendungen eines oder mehrerer Prinzipien auf einen konkreten Fall. Wie die Prinzipien ausgelegt und angewendet werden, hängt dabei von der ethischen Grundorientierung und Interessen des jeweiligen Mitglieds und der von ihm repräsentierten Gruppe ab. Neben der prinzipienorientierten Argumentation gibt es weiter oftmals eine Argumentationsweise mit analogen Fällen. Die vor einiger Zeit gefällte Entscheidung E 1 wird zu einem Argument, um den aktuellen Fall E 2 zu entscheiden. Man will auf diese Weise Widersprüche vermeiden und Kohärenz der gefällten Entscheidungen bilden. Auf diese Weise entsteht eine sich historisch fortschreibende Fallethik einer Institution. Eine Sammlung solcher exemplarischer Entscheidungen des Deutschen Presse-
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rates liegt in dem Buch: "Ethik im Redaktionsalltag" (s. Literatur) vor; weitere Fälle können auf der Internetseite des Presserates (http:// www. presserat.de/Pressekodex. pressekodex. 0. html) abgerufen werden.
Gl
G2
G3
G4
G5
G6
Prinzipien Entscheidung I EI
Entscheidung 2 E2
Entscheidung 3 E3
Abb. 1: Pluralität von grundlegenden Ethikkonzeptionen.
2.3
Der Pressekodex des deutschen Presserates
Über ihre Bedeutung in der Journalistenausbildung hinaus sind die Prinzipien und die Fallentscheidungen des Deutschen Presserates stilbildend für ethische Orientierung vieler Journalisten - auch über den Printmedienbereich hinaus - geworden. Diskussionen in Redaktionen über ethische Fragen verlaufen, wenn sie überhaupt geführt werden, in Deutschland vielfach auf der Grundlage der Prinzipien des Pressekodex. Analoges gilt in vielen Ländern Europas, in denen es Presseräte und Pressekodices gibt. Eine gute Kenntnis des Pressekodex ist deshalb für die konkrete medienethische Arbeit unerlässlich. Der Pressekodex liegt in einer Kurzfassung mit den Grundprinzipien und einer Langfassung vor. Zumindest die Grundprinzipien der Kurzfassung (s. Abbildung 2) sollte man in der praktischen Arbeit stets vor Augen haben. Die Langfassung (vgl. Institut zur Förderung 2005, 218-230) und die Verhaltensgrundsätze für Presse/Rundfunk und Polizei (ebd., 231-233) sind zur Präzisierung der Grundprinzipien in speziellen Anwendungskontexten von unverzichtbarer Bedeutung. Abb.2:
Pressekodex (Grundprinzipien) Vom Deutschen Presserat in Zusammenarbeit mit den Presseverbänden beschlossen und Bundespräsident Gustav W. HeiDemann am 12. Dezember 1973 in Bonn überreicht. In der Fassung vom 02.03.2005. Ziffer 1 Die Achtung vor der Wahrheit, die Wahrung der Menschenwürde und die wahrhaftige Unterrichtung der Öffentlichkeit sind oberste Gebote der Presse.
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Zifferl Zur Veröffentlichung bestimmte Nachrichten und Informationen in Wort und Bild sind mit der nach den Umständen gebotenen Sorgfalt auf ihren Wahrheitsgehalt zu prüfen. Ihr Sinn darf durch Bearbeitung, Überschrift oder Bildbeschriftung weder entstellt noch verflllscht werden. Dokumente müssen sinngetreu wiedergegeben werden. Unbestätigte Meldungen, Gerüchte und Vermutungen sind als solche erkennbar zu machen. Symbolfotos müssen als solche kenntlich sein oder erkennbar gemacht werden. Ziffer3 Veröffentlichte Nachrichten oder Behauptungen, insbesondere personenbezogener Art, die sich nachtraglieh als falsch erweisen, hat das Publikationsorgan, das sie gebracht hat, unverzüglich von sich aus in angemessener Weise richtig zu stellen. Ziffer4 Bei der Beschaffung von personenbezogenen Daten, Nachrichten, Informationen und Bildern dürfen keine unlauteren Methoden angewandt werden. Ziffer5 Die vereinbarte Vertraulichkeit ist grundsätzlich zu wahren. Ziffer6 Jede in der Presse tätige Person wahrt das Ansehen und die Glaubwürdigkeit der Medien sowie das Berufsgeheimnis, macht vom Zeugnisverweigerungsrecht Gebrauch und gibt Informanten ohne deren ausdrückliche Zustimmung nicht preis. Ziffer7 Die Verantwortung der Presse gegenüber der Öffentlichkeit gebietet, dass redaktionelle Veröffentlichungen nicht durch private oder geschäftliche Interessen Dritter oder durch persönliche wirtschaftliche Interessen der Journalistinnen und Journalisten beeinflusst werden. Verleger und Redakteure wehren derartige Versuche ab und achten auf eine klare Trennung zwischen redaktionellem Text und Veröffentlichungen zu werblichen Zwecken. Ziffer& Die Presse achtet das Privatleben und die Intimsphäre des Menschen. Berührt jedoch das private Verhalten öffentliche Interessen, so kann es im Einzelfall in der Presse erörtert werden. Dabei ist zu prüfen, ob durch eine Veröffentlichung Persönlichkeitsrechte Unbeteiligter verletzt werden. Die Presse achtet das Recht auf informationelle Selbstbestimmung und gewährleistet den redaktionellen Datenschutz. Ziffer 9 Es widerspricht journalistischem Anstand, unbegründete Behauptungen und Beschuldigungen, insbesondere ehrverletzender Natur, zu veröffentlichen. Ziffer 10 Veröffentlichungen in Wort und Bild, die das sittliche oder religiöse Empfinden einer Personengruppe nach Form und Inhalt wesentlich verletzen können, sind mit der Verantwortung der Presse nicht zu vereinbaren. Ziffer 11 Die Presse verzichtet auf eine unangemessen sensationelle Darstellung von Gewalt und Brutalität. Der Schutz der Jugend ist in der Berichterstattung zu berücksichtigen. Ziffer 12 Niemand darfwegen seines Geschlechts, einer Behinderung oder seiner Zugehörigkeit zu
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einer rassischen, ethnischen, religiösen, sozialen oder nationalen Gruppe diskriminiert werden.
Ziffer 13 Die Berichterstattung über Ermittlungsverfahren, Strafverfahren und sonstige förmliche Verfahren muss frei von Vorurteilen erfolgen. Die Presse vermeidet deshalb vor Beginn und wlhrend der Dauer eines solchen Verfahrens in Darstellung und Überschrift jede präjudizierende Stellungnahme. Ein Verdächtiger darf vor einem gerichtlichen Urteil nicht als Schuldiger hingestellt werden. Über Entscheidungen von Gerichten soll nicht ohne schwerwiegende Rechtfertigungsgründe vor deren Bekanntgabe berichtet werden. Ziffer 14 Bei Berichten über medizinische Themen ist eine unangemessen sensationelle Darstellung zu vermeiden, die unbegründete Befilrchtungen oder Hoffnungen beim Leser erwecken könnte. Forschungsergebnisse, die sich in einem frühen Stadium befinden, sollten nicht als abgeschlossen oder nahezu abgeschlossen dargestellt werden. Ziffer 15 Die Annahme und Gewährung von Vorteilen jeder Art, die geeignet sein könnten, die Entscheidungsfreiheit von Verlag und Redaktion zu beeintrllchtigen, sind mit dem Ansehen, der Unabhängigkeit und der Aufgabe der Presse unvereinbar. Wer sich filr die Verbreitung oder Unterdrückung von Nachrichten bestechen lässt, handelt unehrenhaft und berufswidrig. Ziffer 16 Es entspricht fairer Berichterstattung, vom Deutschen Presserat öffentlich ausgesprochene Rügen abzudrucken, insbesondere in den betroffenen Publikationsorganen.
2.4
Ideales Verantwortungsdreieck des Journalisten und Pressekodex
Eine genauere Analyse des Pressekodex ergibt, dass Ziffer 1 die drei Grundorientierungen der journalistischen Ethik angibt, die dann in den weiteren Paragraphen ausgeführt werden. Es handelt sich um: 1) Achtung vor der Wahrheit, 2) Wahrung der Menschenwürde und 3) wahrhaftige Unterrichtung der Öffentlichkeit. Diese drei Grundprinzipien entsprechen einem recht altenjournalistischen Grundsatz: dem idealen Verantwortungsdreieck des Journalisten. Gemeint ist mit diesem Dreieck: Ethisch qualitätsvoller Journalismus zeichnet sich dadurch aus, dass er so viel und so ausgewogen wie möglich folgende drei Parameter steigert: 1) Wahrheit der Nachricht, 2) Achtung vor der Würde der Personen, über die berichtet wird, und 3) Wahrnehmung des öffentlichen Auftrags des jeweiligen Mediums.
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Würde der Person
Wahrheit der Nachricht
Öffentlicher Auftrag
Abb. 3: Das ideale Verantwortungsdreieck des Journalisten.
Dieses "Verantwortungsdreieck"- ein relativ leicht zu handhabendes Instrument - macht deutlich, dass in konkreten Fällen Spannungen und Widersprüche, z. B. zwischen der Wahrheit der Nachricht und der Würde einer Person entstehen können. Zur Wahrheit gehört es beispielsweise, die ganze, auch schreckliche Wirklichkeit eines Terroranschlages zu zeigen. Die Würde der Person verbietet es aber in vielen Fällen, die entstellten Leiber getöteter Menschen öffentlich darzustellen. Die Fälle des Deutschen Presserates zeigen, wie von Fall zu Fall jeweils unterschiedlich entschieden wird. Für den Abdruck spricht die Argumentation, dass Bilder von Opfern Dokumente der Zeitgeschichte sind und zu Empathie und zur Ablehnung von Gewalt beitragen können. Gegen die Darstellung von Opfern spricht es, wenn es sich um unangemessen sensationelle Darstellungen handelt, bei denen "der Mensch zum Objekt, zu einem bloßen Mittel, herabgewürdigt wird" (Langfassung des Pressekodex Richtlinie 11.1 ). Ebenfalls ist es zu vermeiden, dass sich Medien "zum Werkzeug von Verbrechern machen" (Langfassung 11.2). Auf Grundlage dieser Prinzipien hat der Presserat die Darstellung einer enthaupteten Geisel im Irak gerügt, während er Beschwerden über die Darstellung eines Menschen, der sich aus dem World Trade Centre stürzt, als unbegründet zurückgewiesen hat. Das Photo eines irr grinsenden Iiberianischen Soldaten mit dem gerade erst abgetrennten Kopf eines Opfers in den Händen wurde hingegen als Dokument der Zeitgeschichte eingestuft, obwohl die Beschwerdeführer geltend machten, dass die betreffende Boulevardzeitung vielerorts ausliegt und so-
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mit auch von Kindem gesehen wird (vgl. Institut zur Förderung 2005, 180182, 187). Aus diesen Beispielen lässt sich verstehen, dass eine aktuelle medienethische Diskussion über die Frage stattfmdet, ob innerhalb des Verantwortungsdreiecks nicht eine klarere Gewichtung notwendig ist. Insbesondere wird gefragt, ob die Medien die Würde des Menschen nicht in einer zentraleren Weise als übergeordnetes Prinzip, das auch über Wahrheit und öffentlichem Auftrag steht, begreifen müssten. Dies würde eine klarere Entscheidung von Grenzfällen erlauben. Für die Theoriekohärenz hätte eine klarere Profilierung der Menschenwürde als oberstem Prinzip den Vorteil, dass Menschenwürde als das grundlegende Strukturprinzip der Augewandten Ethik auch in der Medienethik deutlich würde (vgl. Knoepffier 2004). In der internationalen Diskussion zwischen der traditionell britischen Sicht, die die Menschenwürde betont, und der amerikanischen Perspektive, die den öffentlichen Auftrag der Medien im Zentrum sieht, würde sich die deutsche Medienethik klarer positionieren können.
2.5
Ideales Verantwortungsdreieck und reales Interessendreieck
Im konkreten Alltag des Journalisten ergibt sich nicht selten, dass das ideale Verantwortungsdreieck durch andere Rücksichtnahmen ersetzt wird. Das Karriereinteresse des Journalisten, die finanziellen Interessen der Verlage und ihrer Geldgeber (Werbung!) und partikulare politische Interessen drohen immer wieder die ethische Qualität von Medien zu untergraben. Ein Beispiel fiir die ethisch bedenklichen Auswirkungen extremer Karriereinteressen von Journalisten sind die 1996 entdeckten Fakes von Michael Born. Der freie Journalist Born hatte eine Reihe von Reportagen zu politisch brisanten Themen wie Schlepper an der deutsch-österreichischen Grenze, Ku-Klux-Klan-Treffen im Pfälzer Wald oder Neonazis in Deutschland an öffentlich-rechtliche und besonders an private Sender verkauft. Die Szenen stellten sich als mit Schauspielern aufgefiihrte "Theaterstücke" heraus, die in den meisten Fällen noch nicht einmal real sich ereignende Vorkommnisse nachgestellt haben. Finanzielle Einflussnahme findet dann statt, wenn ethische Bedenken wegen der Zuschauerquote oder der Verkaufszahl einer Zeitung zurückgestellt werden. Im Vorfeld der Sendung "Big Brother" hatte der Sender RTL
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Karriereinteressen des Journalisten
Finanzielle Interessen der Geldgeber
Politische Einflussnahme
Abb. 4: Das reale Interessendreieck des Journalisten.
aktiv Teilnehmer mit exhibitionistischen Neigungen gesucht. Es bestand die Absicht, Tag und Nacht in allen Räumen zu filmen und darum alle
Handlungen, auch privatester Natur zu filmen und in der Öffentlichkeit zu verbreiten. Nur auf moralischen Druck und die Drohung mit rechtlichen Schritten hin, wurde beschlossen, die Kamera fiir eine Stunde am Tag auszuschalten. Ein weniger schwer wiegendes, aber weit verbreitetes Beispiel fiir ethisch bedenkliche finanzielle Einflussnahme stellt die in über 90 % der Fälle übliche Praxis dar, dass Reisejournalisten die Reise, über die sie berichten, vom Veranstalter als Geschenk erhalten. Bedenklicher wird dies, wenn zu der Reise auch noch eine Anzahl weiterer aufwändiger Geschenke hinzukommen. Extreme Fälle politischer Einflussnahme liegen vor allem in totalitären Systemen vor. In Demokratien spielen sie auch eine Rolle, besonders wenn sich die Parteienzugehörigkeit von Journalisten in den Vordergrund spielt. Eine schon klassisch gewordene Debatte der Medienwirkungsforschung ist die These von Elisabeth Noelle-Neumann, die Bundestagswahl 1979 sei aufgrund der einseitigen Medienberichterstattung von SPD und FDP knapp gewonnen worden (vgl. Noelle-Neumann 1980). Während Noelle-Neumanns Theorie der Schweigespirale, d. h. die gegenseitige Verstärkung von Nichtberichterstattung und erlahmendem öffentlichen Interesse in das übliche Inventar der Medientheorie eingegangen ist, waren die konkrete Erklärung des überraschenden Wahlergebnisses von 1979 und das postulierte doppelte Meinungsklima empirisch nicht nachweisbar (vgl.
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Merten 1985). Subtiler als durch direkte Manipulation arbeiten politische Gruppierungen und manchmal auch finanzkräftige und gut organisierte Interessengruppen auf dem Wege des Agenda-settings. Dabei werden einzelne Themen wie "neue Marktwirtschaft" bewusst in die Medien gebracht und die Politik zum Reagieren auf diese Themen bewegt. Terroranschläge können ebenfalls als ein Beispiel von Agenda-setting durch Gruppen, die sich auf andere Weise nicht medial bemerkbar machen können, verstanden werden.
2.6
WIMF-Trennungskriterien und das Konzept der Manipulation
In der Praxis der Journalisten haben sich neben einer besonderen Wachsamkeit gegenüber politischer Einflussnahme, zwei Argumente herausgebildet, dietrotzihrer theoretischen Problematisierbarkeit (vgl. Horst Pöttker in Greis/Hunold/Koziol 2003, 121- 123) von großem praktischen Nutzen sind. Es handelt sich um die WIMF-Trennungskriterien und um das Konzept der Manipulation. Die WIMF-Trennungskriterien beinhalten das Prinzip, dass Werbung, Information, Meinung (Kommentar) und Fiktion als solche deutlich gemacht und klar getrennt werden sollen. Manipulation liegt dann vor, wenn Folgendes gilt: "Durch selektive und einseitige Darstellung werden Menschen zu Schlüssen und Handlungsweisen bewogen, die bei vollständiger Information anders ausgefallen wären" (Schmidtchen 1970, 27).
2.7
Weder Zensur noch Käuflichkeit: Medienethik der Medienmacher
Das Entstehen der Medienethik im Bereich der Medienmacher selbst ist ein Indiz dafiir, dass Ethik in der Regel nicht als externes Hindernis in die Arbeit der Journalisten einbricht. Die Gesprächslage fiir Medienethik ist dadurch positiv grundiert, dass Journalisten meist selbst daran interessiert sind, einen ethischen Journalismus zu betreiben. Die meisten Journalismusschulen vertreten zudem die Auffassung, dass medienethische Qualität zur Qualität medialer Produkte hinzugehört. Trotz des Interessendreiecks
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und der zunehmenden Bedeutung ökonomischer Interessen (Quote), sind medienethische Überlegungen in einem qualitätsbewussten Journalismus eine "zusätzliche Steuerungsressource" (Bernhard Debatin) fiir das Medienhandeln. Das Interesse der Medienmacher an Medienethik lässt sich auch im Gegenüber zu rechtlichen Eingriffen des Staates in die Medien begründen. Der historische Kampf des Zeitungsjournalismus im 18. und 19. Jahrhundert war der Kampf gegen die staatliche Zensur. Artikel 5 Abs. 1 Satz 5 des Grundgesetzes verbietet die Zensur. Nach allgemeiner juristischer Auffassung ist damit allerdings nur eine staatliche Vorzensur untersagt, während eine Nachzensur aufgrundverbotener Inhalte ebenso zulässig ist wie die verlagsinterne "Zensur" durch den Chefredakteur oder das Kürzen von Leserbriefen (vgl. Fechner 2003, 15lf). Im Bestreben, rechtliche Regelungen im Bereich der Medien so gering wie nötig zu halten, treffen sich freiheitlich-demokratische Rechtsauffassung und journalistische Interessen. Die Existenz freiwilliger journalistischer Selbstkontrolle wird dabei der Konzeption des Grundgesetzes am besten gerecht. Allerdings besteht seit langer Zeit eine Debatte um die Frage, ob die Sanktionsmöglichkeiten der Selbstkontrollorgane ("zahnlose Tiger") nicht verstärkt werden sollen. Ein vom Verfasser dieses Artikels vertretener Ansatz ist, z. B. die (ohnehin reduzierte) Mehrwertsteuer einer Zeitung fiir ein Jahr um einen Prozentpunkt zu erhöhen, wenn innerhalb eines Jahres mehr als drei Rügen des Presserates gegen das Blatt ausgesprochen wurden. Mit dem eingenommenen Geld könnte man Wiedergutmachungen fiir die durch die Medien angerichteten Schäden finanzieren.
2.8
Verlagsinterne Ethikrichtlinien
Weitere Instrumente der im Medienbetrieb institutionalisierten Medienethik sind verlagsinterne ethische Maßstäbe. Wegen der Bedeutung des Springer-Verlags als größtem Printmedienproduzenten Europas (Bildzeitung!) sollen in diesem Kontext exemplarisch die "Grundsätze, Werte und Leitlinien der Axel Springer AG" vorgestellt werden. Sie sind überarbeitete Fortschreibungen von ursprünglich vier Grundsätzen, die von Axel Springer 1967 formuliert worden sind. Es geht diesen Grundsätzen um die Beschreibung eines "freiheitlichen Weltbildes". Konkret gefordert werden seit dem 22. August 2003:
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"1. Das unbedingte Eintreten für den freiheitlichen Rechtsstaat Deutschland als Mitglied der westlichen Staatengemeinschaft und die Förderung der Einigungsbemühungen der Völker Europas; 2. die Herbeiführung einer Aussöhnung zwischen Juden und Deutschen, hierzu gehört auch die Unterstützung der Lebensrechte des israelischen Volkes; 3. die Unterstützung des transatlantischen Bündnisses und die Solidarität in der freiheitlichen Wertegemeinschaft mit den Vereinigten Staaten von Amerika; 4. die Ablehnungjeglicher Form von politischem Totalitarismus; 5. die Verteidigung der freien sozialen Marktwirtschaft. Die Unternehmensverfassung definiert gesellschaftspolitische Grundüberzeugungen, gibt aber keine Meinungen vor" (Quelle: http:// www.axelspringer.de/nachhaltigkeit).
Auch wenn diese Richtlinien eher politischen als ethischen Charakter haben, spielen ihre lmplikationen doch in Redaktionsdiskussionen eine Rolle. 2003 hat das Unternehmen ebenfalls Leitlinien fiir soziale Integrität in der internationalen Arbeit, Corporate Governance und ein aktives Eintreten fiir den Umweltschutz beschlossen. Ebenfalls wurden "Leitlinien zur journalistischen Unabhängigkeit" beschlossen, die z. B. die Annahme von Geschenken, die den Charakter persönlicher Vorteilsnahme haben, untersagen. Ethische Leitlinien wie die des Springer-Verlags zeigen, dass- im Gegensatz zu einem beliebten Vorurteil der Öffentlichkeit - Medienunternehmen Orte der Ethik sind, die sich auf diesem Gebiet beständig weiterentwickeln. Andererseits darf aber auch nicht übersehen werden, dass trotz dieser Richtlinien ein Produkt des Springerkonzerns, die Bildzeitung, alljährlich die größte Zahl von Rügen des Presserates erhält. Dennoch sind einige Formulierungen der "Leitlinien zur journalistischen Unabhängigkeit" des Springerkonzerns durchaus vorbildlich. Sie könnten Artikel im Pressekodex vorwegnehmen. Dies gilt auch fiir die Leitbilder von Wirtschaftszeitungen, die persönliche Gewinne durch börsenrelevante Berichterstattung ausschließen wollen. Die Financial Times
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Deutschland fordert beispielsweise von ihren Mitarbeitern, dass sie "Untemehmensinformationen, bevor sie öffentlich bekannt sind, nicht zu ihrem eigenen Handel, z. B. Handel mit Aktien, verwenden oder diese Informationen an Dritte weitergeben. Ebenso dürfen Redakteure nicht in der Absicht überWertpapiereund Emittenten berichten, um sich selbst oder ihnen nahe stehende Personen durch diesen journalistischen Beitrag zu bereichem oder einen geldwerten Vorteil zu verschaffen" (Institut zur Förderung 2005, 129).
2.9
Ethik der Public Relations
Dass Ethik einjournalistisches Qualitätsmerkmal ist, das man keineswegs vernachlässigen darf, zeigt mehr noch als der Zeitungsjournalismus die intensive Entwicklung von Ethikcodices im Bereich der Public-Relations (PR). PR-Praktiker sehen sich als die Produzenten vieler wichtiger Nachrichten, die dann von den in Zeitungen oder in anderen Medien arbeitenden Journalisten übernommen, weiterrecherchiert oder kritisch verändert werden. Dass nicht wahrhaftige Informationen zwar kurzfristige Vorteile, aufgrunddes eintretenden Vertrauensverlustes langfristig aber Probleme zur Folge haben, wurde in den vergangeneu Jahren immer stärker wahrgenommen. Diese Erkenntnis hat zu einer Vielzahl von Codices, Grundsätzen und Richtlinien geführt. Als internationale Erklärung, die sich auf die Charta der UN beruft, spielt der Code d' Athenes (in Förg 2004, 209f) unter den Richtlinien die herausragende Rolle. AufGrund von Interviews kommt Birgit Förg (2004) allerdings zu einem zwiespältigen Ergebnis. Zwar wurden in den vergangeneu Jahren zahlreiche internationale und deutsche PR-Ethikrichtlinien geschaffen, bei denen meist die Achtung der Menschenwürde und die Vertrauenswürdigkeit im Mittelpunkt stehen. Auch wurde die Verpflichtung der PR-Praktiker auf diese Normen durch den DRPR (Deutscher Rat PublicRelations) und die DPRG (Deutsche PublicRelations Gesellschaft) mit Erfolg bis hin zur Zielvorstellung einer Umsetzung in geltendes Recht vorangetrieben. "Bislang verhalten sich die PR-Praktiker" aber "hinsichtlich ihrer eigenen Beschäftigung mit der Moral der PR wohl recht passiv, auch unter Umständen aus dem Grund, weil sie dazu keine direkte Notwendigkeit sehen" (Förg 2004, 191). Deshalb "erscheint es sinnvoll, die PR-Praktiker zur Ko-
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Medienethik in der Gegenwart (Medienethik II)
operation mit den Experten fiir Moral und Ethik zu motivieren" (Förg 2004, 191).
2.1 0 Journalismusjournalismus Ein weiterer Ort der Ethik in der Tätigkeit von Journalisten ist der Journalismusjournalismus. Unter Journalismusjournalismus versteht man die journalistische Berichterstattung in Medien über Journalismus (vgl. Malik 2004, 131 ). Journalismusjournalismus erfiillt die Aufgaben einer Aufklärung der Öffentlichkeit über journalistisches Arbeiten und installiert im Medienbetrieb eine Beobachtungsinstanz. Im Bezug auf ethische Themen kann diese Instanz ethisch problematische Verhaltensweisen von Journalisten aufdecken und über den Druck der Offentlichkeit, der Redaktionen oder über den Gruppendruck unter Journalisten selbst zu einer Verhaltensänderung fiihren. Auch mit den Mitteln des investigativen Journalismus entstandene Bücher spielen in diesem Zusammenhang eine Rolle. Im Jahr 1977 arbeitete der Journalist Günter Wallraffunter dem falschen Namen Hans Esser in der Redaktion der Bildzeitung in Hannover. In seinem Buch "Der Aufmacher" zeichnete er den Druck, sensationelle Nachrichten zu bringen, die mangelhafte Wahrheitsprüfung und die oftmals geringe Achtung vor der Würde und Privatsphäre der Personen nach, wie sie in der Redaktion herrschten. Als Aufbau von Selbstreferentialität und Kommunikation in einer dem Mediensystem adäquaten Sprache setzen insbesondere an Niklas Luhmann orientierte Medientheoretiker (vgl. Malik 2004) große Hoffnungen auf Journalismusjournalismus. Aufgrund konkreter Erfahrung der Berichterstattung der Medien über sich selbst, wird dieser Ansatz in der europäischen Diskussion aber auch kritisiert (vgl. Russ-Mohl!Fengler in Karmasin 2002, 175-193). In den USA und Großbritannien gibt es die Variante, dass in großen Tageszeitungen wie der Washington Post ein Journalist einer anderen Zeitung in regelmäßigen Abschnitten die Berichterstattung kritisch kommentiert. Ein solcher externer" Watchdog" oder "Ombudsman" mit eigener Kolumne im Blatt kann als wichtiges kritisches Ferment fiir eine qualitätsbewusste und ethische Weiterentwicklung eines Blattes fungieren. Der Erfolg dieser Maßnahme ist allerdings umstritten. Je nach institutioneller Verankerung und persönlichem Verhalten kann der "Ombudsman" auch als überflüssige "Selbstgeißelung" (Wiedemann) angesehen werden.
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Ansätze aktueller wissenschaftlicher Medienethik
3.1
Das Entstehen einer wissenschaftlichen Medienethik in Deutschland
An den bisher beschriebenen Orten der Medienethik erfolgt ethische Urteilsbildung in den Medien selbst, ohne dass wissenschaftliche Standards hinzutreten müssten. Seit Ende der 1980er Jahre beobachtet man in Deutschland die Konstituierung der Medienethik als wissenschaftlicher Disziplin. Ähnliche Prozesse kann man in anderen Ländern zeitgleich oder bereits früher konstatieren. In den USA, wo Medienethik seit vielen Jahren fester Bestandteil der Journalistenausbildung ist, konstatiert man nach einer Reihe von ethischen Arbeiten zum Journalismus der Printmedien in den 1920er Jahren (Crawford, Flint, Gibbons), dass Ende der 60er, Anfang der 70er Jahre bereits ein intensiver wissenschaftlich-ethischer Diskurs über die Medien im Gange ist. Für die Herausbildung einer wissenschaftlichen Medienethik können insbesondere vier Motive geltend gemacht werden. a) Zum einen ermöglicht eine wissenschaftliche Beschäftigung mit Medienethik eine personale Distanznahme von der von Journalisten gemachten Medienethik: Es sind nicht mehr ausschließlich Journalisten, sondern Wissenschaftler, die sich mit Medienethik beschäftigen. Diese Distanznahme erleichtert die Etablierung einer neutraleren Perspektive auf das Mediengeschehen. Insbesondere wird der Blick über die Probleme journalistischer Ethik hinaus geweitet auf ethische Probleme des Medienkonsums und auf Medien, deren Inhalt nicht vorrangig von professionellen Journalisten gefüllt wird, wie z. B. das Internet. Die Verwissenschaftlichung der Medienethik schafft einen umfassenderen und neutraleren Blick auf die Medien (Neutralitätsargument). b) Zum anderen sind die ethischen Entscheidungen der Journalisten meistens fallorientiert und weisen wenig systematischen Zusammenhang untereinander auf. Die Bezüge zu anderen Bereichen der Allgewandten Ethik wie Technikethik, Wirtschaftsethik, politische Ethik, Sexualethik oder Ethik des Privaten werden zwar gesehen, unter dem Zeitdruck, der
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fast alles Medienhandeln bestimmt, aber erst seit dem Entstehen einer wissenschaftlichen Medienethik detaillierter erfasst und systematischer thematisiert (Systematisches Argument: Medienethik fullt eine Lücke im Zusammenhang der Augewandten Ethik). c) Weiter ermöglicht eine wissenschaftliche Medienethik die Einbeziehung und systematische Aufarbeitung des aktuellen Stands der anderen Wissenschaftszweige, die sich mit Medien beschäftigen. Hierbei sind besonders zu nennen: die Medienwirkungsforschung, Medienpsychologie und Mediensoziologie, das Medienrecht, die Medienökonomik, die mit den Medien beschäftigten Teile der Pädagogik und der Politologie, die Mediengeschichte und allgemeine medientheoretische (medienphilosophische, medienästhetische, kommunikationswissenschaftliche usw.) Arbeiten. d) Schließlich löst die Schaffung einer wissenschaftlichen Medienethik die Forderung nach einer eingehenden Bezugnahme auf umfassende ethische Orientierungen und die auf die Ergebnisse der philosophischen und theologischen Ethik ein. Medienethik wird dann wissenschaftlich betrieben, wenn die unter a-d genannten Bedingungen erfullt und die erwähnten Kenntnisse und Kompetenzen angewandt werden. Dabei gewinnt die internationale Forschungsperspektive immer größere Bedeutung (vgl. die Arbeiten von Barbara Thomaß (auch in Karmasin 2002, 132-155) und des European Journalism Centers in Maastricht oder das von Rafael Capurro herausgegebene International Journal oflnformation Ethics). Von besonderer Bedeutung fUr die Diskussion der Medienethik in globaler Perspektive ist der Sammelband Christians' und Trabers (1997) mit Beiträgen aus 13 Ländern mit einer starken Beteiligung von Ländern aus der sog. Dritten Welt. Das Buch gelangt zu der These, dass es eine universale Protonorm gebe: die Heiligkeit (sacredness) des Lebens, die sich in drei weitere kulturenübergreifende Grundprinzipien konkretisiere: Menschenwürde (human dignity), die Verpflichtung aufdie Wahrheit (truthtelling) und Gewaltlosigkeit (non-violence). Der Weg zu einer wissenschaftlichen Medienethik verlief in der BRD so, dass in den 1980er und 1990er Jahren die kirchliche Publizistik eine Vorreiterrolle übernahm. Auf katholischer Seite war es Hermann Boventer, der - angeregt durch die US-amerikanische Medienethik - mit dem Buch ,,Pressefreiheit ist nicht grenzenlos - Einfuhrung in die Medienethik" 1989 das erste, noch stark der journalistischen Perspektive verpflichtete, Grundlagenwerk zur Medienethik veröffentlichte. Durch seine Tätigkeit
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an der Universität Bonnundan der Thomas-Morus-Akademie in Bensberg ist Boventer, der als Journalist und in der Ausbildung von Journalisten gearbeitet hat, vielleicht die typischste Persönlichkeit für das Entstehen einer wissenschaftlichen Medienethik aus der Verbindung von Praxis, einer bestimmten ethischen Auffassung und wissenschaftlicher Durchdringung. In der heutigen deutschsprachigen medienethischen Diskussion wird Boventers Ansatz wegen seiner Verdienste um die Etablierung des Fachs hervorgehoben und als Beispiel einer individualethischen Orientierung - meist eher kritisch - behandelt. Evangelischerseits trugen durch die seit 1989 vom Gemeinschaftswerk der Evangelischen Publizistik herausgegebenen Aufsatzbände Beiträge zur Medienethik (Hg. Wolfgang Wunden) Wichtiges zum Aufbau des Faches und zur Zusammenfiihrung unterschiedlicher Ansätze bei. Ähnliches gilt auch von den Initiativen der Professur für christliche Publizistik an der Evangelisch-theologischen Fakultät Erlangen, bei der die ethischen Aspekte allerdings nicht so sehr im Vordergrund stehen. Insgesamt überwiegen im deutschsprachigen Bereich die Aktivitäten römisch-katholischer Ethiker bis heute bei weitem diejenigen von evangelischer Seite. Besonders zu erwähnen ist, dass katholische Medienethiker die Rolle übernommen haben, Sammelbände und Strukturen der Zusammenarbeit zu organisieren, die auch Ethiker, die nicht von einer christlichen Orientierung ausgehen, mit einbezieht. Besonders hervorzuheben sind der von Adrian Holderegger (Fribourg/Schweiz) herausgegebene Sammelband Kommunikations- und Medienethik, der einen guten Überblick über theoretische Konzepte der Medienethik in der interdisziplinären Debatte gibt, und Prof. Rüdiger Funiok SJ in München, der eine zentrale Rolle für die Arbeit des Netzwerks Medienethik (vgl. http://www.netzwerk-medienethik.de) spielt. Dieses Netzwerk bietet seit 1997 durch alljährliche Zusammenkünfte und durch seine Internetpräsenz mit einem Diskussionsforum und im Internet zugänglichen Texten im deutschsprachigen Raum die Plattform für zahlreiche Diskussionen, Kontakte und Projekte im Bereich der Medienethik. Besondere Schwerpunkte auf Medienethik legen außer den genannten die Professoren für katholische Moraltheologie Gerfried Hunold (Tübingen) und Thomas Hausmanninger (Augsburg). Heute ist Medienethik ein Forschungsbereich, der von Wissenschaftlern, die über unterschiedliche Bildungswege zu diesem Thema gelangt sind, vorangetrieben wird. Philosophen (z. B. Rafael Capurro), Kommunikationswissenschaftler (z. B. Bernhard Debatin, Rainer Leschke), Politologen (z. B. Christoph Werth) und Professoren für Publizistikwissenschaft
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(z. B. Ulrich Saxer) bringen unterschiedliche ethische Grundorientierungen und unterschiedliche Wissenschaftstraditionen in die gegenwärtige medienethische Debatte ein. Eine eigene Medienethik hat von diesen Autoren zuerst Rainer Leschke vorgelegt, wobei sich bei ihm eine sehr starke metaethische Tendenz geltend macht.
3.2
Einige Hinweise zu aktuellen Theoriediskussionen
In einem gewissen Gegenzug zu der fallorientierten und individualistischen Medienethik, die sich aus der Arbeit des Presserates und von aus dem Journalismus kommenden Autoren (z. B. Boventer) ergab, hat sich die wissenschaftliche Medienethik in den letzten Jahren vielfach in Richtung eines strukturethischen oder medienökonomischen Ansatzes entwickelt. Nicht die aktuell zu treffende Entscheidung des einzelnen Journalisten, sondern die sich wiederholenden Strukturen des Medienhandeins und die Verflochtenheit der Medien in ökonomische Prozesse stehen bei diesen Autoren im Zentrum der Aufmerksamkeit. Exemplarisch fiir diese Tendenz sind der strukturethische Ansatz von Greis/Hunold!Koziol und der medienökonomische Ansatz von Mattbias Karmasin. Greis!Hunold!Koziol unterscheiden in ihrer Behandlung der Medien fiinfProblembereiche: Ethik der Produktion, der Distribution und der Rezeption von Medien sowie ethische Probleme, die aus der Interaktion von Medien und Politik und der Interaktion von Medien und Markt resultieren. Diese Problembereiche werden an den drei Medien Zeitung, Fernsehen und Internet exemplifiziert, wobei jeweils Medienpraktiker, Medienwissenschaftler und Ethiker zu Wort kommen. Bei diesem Vorgehen zeigen sich übergreifende Parallelen, die darauf hinweisen, dass es strukturelle Sachverhalte in Medien gibt, die zu übergreifenden ethischen Probleme fiihren. Besonders wichtig ist den Verfassern dabei die Bildung und Veränderung von Öffentlichkeit durch die Medien. Durch diesen Ansatz werden Bezüge zu Jürgen Habermas' Arbeit "Strukturwandel der Öffentlichkeit" möglich, ohne dass Habermas' These von der Refeudalisierung der Öffentlichkeit ins Zentrum gerückt wird. Refeudalisierung der Öffentlichkeit geschieht de facto häufig bei Sekundär- und Tertiärmedien (vgl. Medienethik 1), deren Distribution großen finanziellen Aufwand verlangt (bes. Zeitungen, Radio und Fernsehen). In diesem Bereich ist in zahlreichen Ländern Europas ein starker Konzentrationsprozess bei Privatfernsehen und im Zeitungswesen
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zu beobachten (z. B. die Berlusconi-Gruppe in Italien, aber auch Deutschland die Bertelsmann und Springer-Gruppe). Die Machtk:onzentration, die dadurch entsteht, dass diese Medien asymmetrisch sind (d. h. Sender- und Empfängerrolle durch die Technologie starr festlegen), stellt ein Problem fiir die Demokratie dar, vor allem wenn die Medienkonzerne selbst politische Ziele verfolgen (vgl. die Rolle der Hugenberg-Presse gegen Ende der Weimarer Republik). Dass dies auch heute vielfaltige ethische Probleme fiir Journalisten schaffen kann, ist selbstverständlich. Weit größer als der direkte politische Einfluss der Medienkonzerne ist gegenwärtig aber der Einfluss der Zuschauerquote auf die Inhalte der Medien. Ethische und aufklärerische Ideale von Journalisten werden durch den Verweis auf die Abhängigkeit von Zuschauerzahlen aus den zuschauerstarken Programmen verdrängt und in eigene Fernsehprogramme und bestimmte Zeitungen zurückgedrängt, die dann allerdings durchaus mit einem gewissen Erfolg einen gewissen Marktanteil erobern und verteidigen können. Wegen dieser und anderer grundlegender Effekte der Ökonomie auf die Medien vertritt der Österreichische Medienethiker Mattbias Karmas in einen betont medienökonomischen Ansatz (vgl. Karmasin 2002, 9-36). Medienunternehmen sind nach Karmas in im Kern Wirtschaftsunternehmen, die ihre Produkt- und Investitionsentscheidungen nach wirtschaftlichen Gesichtspunkten treffen. Der Tendenz nach geht Medienethik als ein Unterbereich in Wirtschaftsethik auf. Um ethische Gesichtspunkte in den Medienunternehmen zur Geltung zu bringen, schlägt Karmasin ein Stakeholdersystem vor, das so einzurichten ist, dass ein Ausgleich zwischen Wirtschaftsinteressen und ethischen Gesichtspunkten geleistet werden kann. Greis/Hunold/Koziol und Karmasin sind Beispiele dafiir, dass die wissenschaftliche medienethische Diskussion durch eine Phase des Bedenkens von Strukturen an Stelle von Einzelfallen und von übergreifenden ökonomischen, politischen und technologischen Zusammenhängen an Stelle von individuellen Entscheidungen geht. Dabei werden auch metaethische (Leschke 2001) und medienphilosophische Ansätze (z. B. Capurro 2003) eingearbeitet. Nach einer solchen - notwendigen - Phase dürfte der Weg aber auch wieder zurück zu mehr Bezug auf die konkreten Situationen des Medienhandelns und auf die Verantwortung der jeweiligen Akteure fuhren (z. B. Funiok et al. 1999, vgl. auch die Argumentation von Krainer in Karmasill 2002, 156-174). Eine Synthese aus Fallethik und Strukturethik dürfte in einer historisch-strukturgenetischen Perspektive gelingen, die die Emergenz ethischer Fragestellungen durch neue Strukturen und durch einzelne Fälle beschreibt und fiir die Gegenwart fruchtbar macht. Eine solche
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Darstellung (Leiner) geht davon aus, dass sich medienethische Probleme akkumulativ entwickeln. Dabei sind bereits die ersten Medien, die der Mensch gebraucht, von ethischer Relevanz. Mit der Sprache entsteht das Problem der Lüge; mit der Schrift der Analphabetismus; beide Probleme kehren in allen Medien, die sich der Sprache und der Schrift bedienen wieder, wobei andere Probleme hinzutreten und die ursprünglichen Probleme modifiziert werden. Aufgrund von spezifischen Fällen und allgemeinen Überlegungen sind im Lauf der Mediengeschichte medienethische und juristische Argumentationsstrukturen entstanden, an die auch beim Entstehen neuer Medien und beim Auftauchen neuer Fälle angeknüpft wird. Individuelle Ethik und überindividuelle Zusammenhänge können durch eine genauere Untersuchung der jeweiligen Freiheitsspielräume und der Verantwortlichkeit der Menschen in ihren je unterschiedlichen Rollen im Umgang mit Medien zusammengebracht werden. Dabei wird deutlich, dass ein Journalist einen anderen Handlungsspielraum hat als ein Mediennutzer, der Gesetzgeber einen anderen als der Stakeholder eines Medienunternehmens. Weitere Konkretionen werden durch eine Betrachtung konkreter ethischer Fälle in einzelnen Medien möglich.
4
Beispiel ethischer Probleme
4.1
Medium Zeitung: Theo van Gogh und der Brand von Moscheen
Am 2.11.2004 wurde in Amsterdam der Regisseur Theo van Gogh auf offener Straße erschossen. Täter war ein 28 Jahre alter Moslem, der den Regisseur für seine islamkritischen Äußerungen und Filme "bestrafen" wollte (vor allem für den Film "Submission", der wenige Monate vorher im niederländischen Fernsehen gezeigt worden war). Der Täter schoss mehrfach auf sein Opfer, durchschnitt ihm die Kehle und stieß dem Toten zwei Messer in den Leib, durch die ein Bekennerschreiben befestigt wurde. Niederländische Zeitungen wie "De Telegraaf' brachten das Bild des "op gruwelijke wijze afslachtte" van Gogh 1 und berichteten schon am 3.11. Man findet das Photo im Internet unter clarityandresolve.com/ theovg.jpg.
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unter namentlicher Nennung einer Moschee in Amsterdam (EI Tawheed) vom extremistisch-islamistischen Hintergrund des Mörders. Auf die Mordtat folgte eine Serie von Anschlägen gegen Moscheen in den Niederlanden. Durch diese Anschläge und moslemische Gegenanschläge auf Kirchen herrschte einige Tage lang in den Niederlanden eine explosive politische Stimmungslage. Die medienethische Frage in diesem Zusammenhang ist, ob die Zeitungsberichterstattung eine Mitschuld an dieser Eskalation trägt. Um der Übersichtlichkeit der Argumentation willen setzen wir als Ergebnis politikethischer Diskussionen voraus, dass interreligiöse Spannungen mit Anschlägen negativ zu beurteilen sind. Aus den Grundlagen der Ethik muss man, um unsere Frage zu beantworten, die Unterscheidung zwischen Handlungsfolgen und Handlungsabsichten heranziehen. Menschliche Handlungen beruhen auf Absichten; diese sind aber keineswegs immer mit den real eintretenden Handlungsfolgen identisch. Beide, Handlungsabsichten und Handlungsfolgen, müssen eigens ethisch diskutiert werden. Die Journalisten waren in ihrer großen Mehrzahl über die Folgen ihrer Berichterstattung überrascht. Ihnen kann deshalb wohl kaum die Handlungsabsicht unterstellt werden, religiöse Spannungen zu erzeugen. Wenn dies dennoch in Einzelfällen der Fall gewesen ist, dann ist die Beurteilung klar: eine aus politisch-ethischen Gründen negativ zu bewertende Handlung ist mit Hilfe der Medien ausgefiihrt worden. Komplizierter ist die Argumentation im Falle unbeabsichtigter Handlungsfolgen. Wer handelt und dabei ohne Absicht negative Wirkungen erzielt, ist verantwortlich für seine Handlungen, wenn es möglich gewesen wäre, dass er die betreffenden Wirkungen hätte voraussehen können. DieForschungen über die Wirkungen von Gewaltdarstellungen in den Medien ergeben dabei folgendes Bild: In oftmals pathologischen Einzelfällen ist es immer möglich, dass Gewaltdarstellungen in den Medien direkt zu Gewalthandlungen fiihren. Nur das vollständige Vermeiden von Gewaltdarstellungen in den Medien würde diese Gefahr unterbinden (vgl. die Zusammenfassung in Plake 2004, 218). In häufigen Fällen wirken sich Gewaltdarstellungen so aus, dass durch Identifikation mit dem Opfer gesteigerte Ängstlichkeit, aber auch Wünsche, die Täter durch Gegengewalt zu bestrafen, entstehen. Dadurch bildet sich eine gesteigerte Gewaltbereitschaft Identifiziert sich der Mediennutzer, was wesentlich seltener ist, mit den Tätern, dann entsteht ebenfalls gesteigerte Gewaltbereitschaft.
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Diese Gewaltbereitschaft wirkt sich aber nur dann signifikant aus, wenn die Gewalt in einem sozialen und kognitiven Rahmen wahrgenommen wird, in dem konkrete Formen von Gewalt als gerechtfertigt angesehen und belohnt werden (dynamisch-transaktionaler Ansatz der Medienwirkungsforschung; vgl. im Lehrbuch von Bonfadelli 2004, 249-283). Für die Niederlande im Jahr 2004 muss man davon ausgehen, dass in einigen Milieus Rechtfertigungen und Belohnungen von Gewalt gegen islamistische Extremisten durchaus verbreitet waren. Die Unruhen nach der Ermordung des rechtspopulistischen Politikers Pim Fortuyn am 6.5.2002, der einen "Kalten Krieg gegen den Islam" gefordert hatte, ließen eine Reaktion wie die Anschläge auf Moscheen in den Bereich des real Möglichen und beinahe sogar des Wahrscheinlichen rücken. Deshalb sind Zeitungen wie "De Telegraaf'' als mitverantwortlich für die nachfolgenden Unruhen anzusprechen. Sie sind nicht in gleicher Weise verantwortlich wie die Täter der Anschläge selbst, sie sind auch nicht verantwortlich wie diejenigen, die aktiv an der Schaffung eines gewaltbereiten Klimas gegenüber Muslimen gearbeitet haben; dennoch trifft sie eine Mitverantwortung. Ist die Mitverantwortung zugestanden, dann ist aber immer noch nicht die medienethische Diskussion zu ihrem Ende gekommen. Im Blick auf das ideale Verantwortungsdreieck des Journalisten kann man nun zwar sagen, dass die Berichterstattung von Zeitungen wie "De Telegraaf'' bei einer bestimmten Näherbestimmung des öffentlichen Auftrags diesem nicht gerecht wurde. Dies gilt besonders, wenn der Auftrag als Auftrag zur Verständigung in der Gesellschaft, zum Schutz von Minderheiten o. Ä. gefasst wird. Andere Eckpunkte des Verantwortungsdreiecks ergeben aber andere ethische Bewertungen: Eine Argumentation mit der wahrheitsgemäßen Information geht beispielsweise in die entgegengesetzte Richtung. Das Bild des Ermordeten und die Tathintergründe gehören zur ganzen Wahrheit. Diese darf gerade in diesem wichtigen politischen Fall der Öffentlichkeit nicht vorenthalten werden. Auch die Argumentation mit der Würde der Person ist weniger eindeutig als es den Anschein hat. Nach medienethischer wie auch rechtlicher Argumentation erstreckt sich die Würde einer Person auch über ihren Tod hinaus; sie ist darum vor einer entwürdigenden Darstellung in den Medien zu schützen. Gegen diesen Schutz ist nach deutschem Recht jeweils abzuwägen, ob es sich bei einem Photo einer getöteten Person nicht um ein Dokument der Zeitgeschichte handelt (vgl. Fechner 2003, 65--68). Ein bekannter Regisseur ist im Sinne des Gesetzes eine "absolute Person der
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Zeitgeschichte" und hat deshalb kein besonderes Recht an einem eigenen Bild, das im öffentlichen Raum aufgenommen wird. Überdies kann man aus den Äußerungen van Goghs schließen, dass er eine Veröffentlichung des Photos nicht als Beeinträchtigung seiner Würde angesehen, sondern wahrscheinlich seine Veröffentlichung gewünscht hätte. Wie ist unter diesen unterschiedlichen Gesichtspunkten eine medienethische Entscheidung zu fmden? Viele, niederländische wie internationale Medien haben sich dafür entschieden, von dem Mord zu berichten, Bilder des Opfers und Beschreibungen der Art der Tötung aber zu unterlassen. Eine solche Zurückhaltung hätte zur Deeskalation beigetragen. Da der Faktor Zeit bei spontanen Reaktionen auf Mediennachrichten eine sehr große Rolle spielt, wäre eine spätere Veröffentlichung des Bildes wahrscheinlich möglich gewesen, ohne dass es zu denselben Folgen gekommen wäre. Die Lösung einerunspektakuläreren und zeitversetzten Berichterstattung dürfte medienethisch vorzugswürdig sein; sie ist aber auch nicht ohne kritische Einwände. Das wohl wichtigste Gegenargument besteht im Verweis auf die Konkurrenzsituation der Medien untereinander. Ein Redakteur von "De Telegraaf' könnte argumentieren: Wenn "De Telegraaf' die Nachricht und das Bild nicht gebracht hätte, hätte es eine andere Zeitung aus dem In- oder Ausland getan. Diese hätte damit ökonomischen Gewinn erzielt und den Eindruck journalistischer Defizite bei "De Telegraaf' hervorgerufen ("Wieso hat die Zeitung das Bild nicht?"). Eine Lösung dieses Dilemmas wäre nur möglich durch die Schaffung von schnellen Kommunikationsformen zwischen den Medien, über die bindende Vereinbarungen ausgehandelt werden könnten. Da ihr Entstehen unwahrscheinlich ist, bleibt nur die Entscheidung, ob eine Redaktion bereit ist, für ein Mehr an ethischem Verhalten auch ökonomische Nachteile in Kauf zu nehmen.
4.2
Medium Fernsehen: Negativspots über Wahlgegner im Fernsehen - unverantwortlich, aber wirksam?
Seit den 1980er Jahren werden in Wahlkämpfen in den USA zahlreiche Negativspots im Fernsehen gesendet. Als Negativspots bezeichnet man kurze Wahlsendungen, die die Aufmerksamkeit nicht auf das eigene Programm, sondern auf die Schwächen des politischen Kontrahenten lenken. Dabei kann zwischen Negativspots mit "issue-appeal", bei denen es 'um
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Wahlkampfthemen geht, und Negativspots mit "image-appeal", bei denen die Persönlichkeit des Gegners im Zentrum steht, unterschieden werden. Nach Richard Perloff und Dennis Kinsey (1992) waren im Wahlkampf zwischen Bush (sen.) und Dukakis im Jahr 1988 etwa die Hälfte aller im US-Fernsehen gesendeten Wahlwerbesendungen Negativspots. Dieselbe Untersuchung zeigt, dass eine klare Mehrheit unter den befragten 150 politischen Beratern Negativspots für äußerst wirkungsvoll hielt. Es ist deshalb nicht verwunderlich, dass im Zuge der "Amerikanisierung der Wahlkämpfe" Spots und Plakate mit negativem issue- und image-appeal auch in Wahlkämpfen in Deutschland und in anderen Ländern Europas immer häufiger anzutreffen sind. Das medienethische Problem lässt sich wie folgt beschreiben: Nach einer Reihe von ethischen Auffassungen ist das Herausstellen von negativen Eigenschaften eines anderen Menschen ethisch negativ zu bewerten. Man soll nach Möglichkeit Gutes über andere reden, auch wenn sie Konkurrenten sind. Im Falle von Negativspots über politische Gegner macht sich zudem der Verdacht geltend, dass sie zu einem weiteren Glaubwürdigkeitsverlust der Politiker und Parteien beitragen. Es besteht darum ein ethischer Konflikt zwischen der Gruppe der Wahlkamptberater, die glauben, durch den Einsatz von Negativspots einen bestimmten Wahlkampf erfolgreicher zu bestreiten und großen Teilen der Öffentlichkeit, die solche Spots ablehnt (etwa 75% der amerikanischen Wähler lehnt Negativspots ab; vgl. Bonfadelli 2004, 87). Angesichts politischer Absichten, Wahlspots auch in der Schweiz, wo sie bislang verboten sind, zuzulassen, sagte der Züricher Medienwirkungsforscher Heinz Bonfadelli am 12.8.2005 im Schweizer "Tagesanzeiger", durch die Negativspots drohe "eine Verluderung der Sitten". Zu dieser Aussage passt, dass nach einer Untersuchung von 830 Wahlkampfspots aus den USA (Kaid/Johnstone (1991), s. Bonfadelli 2004, 84) 62% der Negativspots mit Humor und Verspottung des Gegners arbeiteten. Über die ethische Bewertung von Negativspots hinaus stellt sich auch die rechtliche Frage, ob Negativspots vergleichende Werbung sind und als solche auch in Deutschland unzulässig sein könnten. Die Rechtslage fasst Frank Fechner (2003, 469) so zusammen: "Die vergleichende Werbung war früher generell verboten, wurde durch die Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs allerdings zulässig, wenn sie sachlich und informativ gestaltet ist und damit den Verbrauchern zugute konunt."
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Da die Neuregelung aus dem Jahr 2000 in§ 2 und§ 3 UWG den Begriff der Werbung auf den Bereich von Wirtschaftsunternehmen einschränkt, dürften Negativspots in Deutschland, auch ohne dass sie sachliche Informationen bieten und dem Wähler nützen, juristisch zulässig sein. Das Thema ist in der bundesrepublikanischen Diskussion ein rein ethisches, ohne unmittelbar relevante juristische Rahmenbedingungen. Eine ethische Stellungnahme verlangt im Fall der Negativspots eine intensive Beschäftigung mit den Ergebnissen der Medienwirkungsforschung. Nach einem Überblick kommt Bonfadelli zu dem Schluss, dass die wissenschaftlichen Befunde "insgesamt doch für eine größere Wirksamkeit der Negativspots sprechen" (2002, 88). Negativspots wirken emotional, beeinflussen unentschlossene Wählerinnen und Wähler und sie werden vor allem besser erinnert als andere Spots. Auch wenn der Spot als unethisch abgelehnt wird, wird "mit der Zeit ... die negative Einstellung dem Spot gegenüber vergessen- so genannter Sleeper-Effekt -, während dessen Negativinformationen weiterhin im Gedächtnis bleiben" (Bonfadelli 2002, 88). In einem Wahlkampf kann eine Partei sich darum durch Negativspots Vorteile verschaffen, und zwar insbesondere dann, wenn die anderen Parteien aufNegativspots verzichten. Auflange Sicht entfalten Negativspots aber eine problematische Wirkung. "Negativspots erzeugten ... eine Verschlechterung des KandidatenImages, und zwar in beiden Parteien" (Bonfadelli 2002, 88). Auf Dauer schaffen Negativspots eine Abnahme des Vertrauens in die Kompetenz von Politikern und Parteien. Kurzfristige Gewinne einzelner Politiker stehen langfristigen Interessen von Parteien gegenüber. Der medienethische Diskurs wird, je nach ethischer Grundeinstellung, beide Interessen gewichten. Dabei dürfte der Grundsatz entscheidend sein, dass kurzfristige, individuelle Vorteile, die langfristig eine als positiv angesehene Institution schädigen, sich nur unter ganz bestimmten Umständen rechtfertigen lassen. Solche Umstände könnten sein, wenn durch Negativspots die Machtübernahme einer Partei mitverhindert würde, die Ziele verfolgt, die als schwerwiegendere ethische Probleme angesehen werden, als es die Langzeitwirkungenvon Negativspots sind. In nicht wenigen Fällen würden Politiker und Politikberater in der Hitze des Wahlkampfs das Erfülltsein dieses Kriteriums zwar behaupten, einer etwas neutraleren und nüchtereren Betrachtung hielte es aber in den allermeisten Fällen nicht stand. Die Etablierung eines ethischen Standards, Negativspots nicht zu benutzen, dürfte deshalb ein wahrscheinliches Ergebnis solcher Diskurse sein, sofern man bereit ist, sich auf einen ethischen Standpunkt einzulassen, der Distanz zu
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individuellen Zielen nimmt und Verantwortung für die Zukunft der Demokratie trägt. Medienethisch informierten Journalisten und anderen kommt deshalb die Aufgabe zu, diesen Diskurs in die Öffentlichkeit zu bringen. Vielleicht gelingt es, auf diese Weise die politische Kultur auf ein höheres ethisches Niveau zu heben und weiteren Vertrauensverlust der Politik zu verhindern.
4.3
Medium Internet Sex und Freiheit im Internet
Kein anderes Stichwort ergibt bei der Eingabe in eine Internetsuchmaschine so zahlreiche Einträge wie das Wort "Sex" (am 11.8.2005 kam "google" in 15 Sekunden Suchzeit auf 76 Millionen!). Mehr noch als Film, Fernsehen und Printmedien ist das Internet zum Medium der Kommunikation über dieses Thema geworden. Die Gründe für diese Entwicklung liegen zum einen in der niedrigen Publikationsschwelle im Internet, in der Kombination aus Öffentlichkeit und (scheinbarer) Anonymität sowie in den Interaktions- und Kommerzialisierungsmöglichkeiten (Kreditkartenzahlung, Live-cams; chats), die dieses Medium bietet. Zum anderen ist das Internet ein globalisiertes Kommunikationsmedium, bei dem nationale Verbote schwer durchsetzbar sind. Versuche des Verbots, privat das Internet zu nutzen (Syrien) oder Internetseiten mittels eines Proxyservers aufgrund bestimmter Merkmale zu blockieren und die Nutzer bestimmter Seiten zu registrieren (Saudi-Arabien, VR China), widersprechen nicht nur den Freiheitsutopien, die das Internet von Anfang an begleitet haben; solche Versuche stehen auch in Spannung zu grundlegenden individuellen Freiheitsrechten (Kommunikations- und Informationsfreiheit, wirtschaftliche Freiheiten usw.). Als ein Beispiel für Argumentationen in einem Fall, in dem die Medienethik auf sehr unterschiedliche ethische Grundüberzeugungen verwiesen ist, soll auf das Phänomen minoritärer Formen von Sexualität und ihre Kommunikation via Internet eingegangen werden. Bei diesem in Deutschland u. a. von der interdisziplinären Forschungsgruppe "Medienkultur und Lebensformen" an der Universität Trier (DFG-Projekt: Thomas Wetzstein u. a.) untersuchten Themenbereich spitzt sich die allgemeine Problematik der umstrittenen Zulässigkeit sexueller Darstellungen im Internet in einer bestimmten Weise zu. Unter dem Namen "minoritäre Formen von Sexualität" fasst man alle Formen von Sexualität zusammen, die nur von einem
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relativ geringen Prozentsatz der Bevölkerung ausgeübt werden (Transsexualität, Exhibitionismus, Sadismus, Masochismus usw., wegen der inzwischen eingetretenen sozialen und rechtlichen Anerkennung nicht mehr: Homosexualität). Der Begriff ersetzt die früheren Bezeichnungen "Perversionen" oder "Deviationen", die als diskriminierend abgelehnt werden. Obwohl die Mehrzahl der Bevölkerung im Bezug auf ihr eigenes Leben diese Formen der Sexualität ablehnt und obwohl einige dieser Formen strafrechtlich verfolgt werden, ist die ethische Argumentation kontrovers. Von einem bestimmten liberalen ethischen Standpunkt aus erscheint die Kommunikation minoritärer Formen von Sexualität via Internet als ein Freiheitsgewinn, der vielfach unterdrückte Minderheiten betrifft und ihnen hilft, Partnerschaften und Freundschaften aufzubauen. Die diskriminierenden Bilder, die nach Hans Krahs Untersuchung z. B. die filmische Darstellung der Transsexualität kennzeichnet (in Grimm/Capurro 2002, 111122), fmden in dem freieren und demokratischeren Medium Internet einen gewissen Ausgleich durch die Selbstdarstellungen entsprechend orientierter Menschen, die im Netz auch ihre Sexualität zur Darstellung bringen und Kontakte zu Gleichgesinnten fmden. Anders als bei majoritären Formen von Sexualität, sind Medien wie das Internet und spezifische Zeitschriften oft die einzigen Möglichkeiten, um Gleichgesinnte und Partner zu finden. Sexuelle Minderheiten haben - anders als kommerzielle Pornographie - an freier Internetkommunikation nicht "bloß" ökonomische Interessen, sondern sie wären durch Verbote in weiten Teilen ihrer Lebensfiihrung beeinträchtigt. Deshalb erscheinen ihre Kommunikationsbedürfnisse als ein besonders starkes Argument fiir eine liberale Praxis, das auch zur Rechtfertigung kommerzieller Interessen vorgeschoben wird. Eine Grenze wird manchmal erst dort gesehen, wo minoritäre Sexualität ohne die Zustimmung von Beteiligten ausgeübt wird. Aspekte wie Jugendschutz oder Schutz der Öffentlichkeit werden nicht selten als staatlicher Patemalismus kritisiert und mit dem Argument beantwortet, niemand sei gezwungen, bestimmte Internetseiten aufzusuchen. Von einem anderen Standpunkt aus können sich aber auch strengere Normen ergeben. Exemplarisch hierfiir ist die Argumentation des römischkatholischen Lehramts. Zwar bekennt sich die katholische Kirche im 2. Vaticanum zu dem Grundsatz: "Im übrigen soll in der Gesellschaft eine ungeschmälerte Freiheit walten, wonach dem Menschen ein möglichst weiter Freiheitsraum zuerkannt werden muss"; dieser "darf nur und insofern eingeschränkt werden, wenn und soweit es notwendig ist" (Dignitatis humanae 7). Spätere Texte wie Communio et progressio präzisieren, dass die
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Notwendigkeit gegeben ist, wenn das Gemeinwohl durch individuelle Freiheit gefährdet wird. Der "Päpstliche Rat für die sozialen Kommunikationsmittel" erklärt schließlich 1989, dass Pornographie und Gewaltdarstellungen in den Medien eine Gefahr für das Gemeinwohl darstellen. Zahlreiche katholische Ethiker plädieren deshalb für ein staatliches Verbot oder dafür, dass pornographische Seiten mittels staatlich vorgeschalteter Filter aus dem Internet herausgefiltert werden sollen. Argumentiert wird nicht allein mit dem Jugendschutz, sondern auch mit dem Schutz Erwachsener vor der das Gemeinwohl gefährdenden Pornographie. Es muss, so eine Argumentation, die auch über die christlichen Kirchen hinaus weiten Anklang findet, einen Schutz davor geben, dass Erwachsene und Kinder mit abgelehnten Formen der Sexualität wie Prostitution, gegen die Menschenwürde verstoßender Darstellung von Frauen oder Formen von Sexualität, die als abstoßend empfunden werden, konfrontiert werden. Eine medienethische Reflexion wird sich zunächst bemühen, die Rechtslage und die lebensweltlichen Bedingungen, in denen die ethische Problematik entsteht, zu klären. Das in der Bundesrepublik Deutschland geltende Strafgesetzbuch verbietet in§§ 175-184f Straftaten unter dem für unsere Thematik aufschlussreichen Titel der Vergehen "gegen die sexuelle Selbstbestimmung", wobei § 183 StGB exhibitionistische Handlungen, § 184 StGB die Verbreitung pornographischer Schriften und § 184a StGB die Verbreitung gewalt- oder tierpornographischer Schriften unter Strafe stellt. Durch die Gesetzesnovelle vom 30.12.2003 stellt§ 184b StGB Verbreitung, Erwerb und Besitz kinderpornographischer Schriften unter Strafe. In derselben Novelle bestimmt§ 184c StGB: ,,Nach§ 184a und b wird auch bestraft, wer eine pornographische Darstellung durch Rundfunk, Medien- oder Teledienste verbreitet. In den Fällen des § 184 Abs. 1 ist Satz 1 (Verbot der Verbreitung pornographischer Schriften) bei der Verbreitung durch Medien- und Teledienste nicht anzuwenden, wenn durch technische oder andere Vorkehrungen sichergestellt ist, daß die pornographische Darbietung Personen unter 18 Jahren nicht zugänglich ist."
In seiner Argumentation verbindet der Gesetzgeber unterschiedliche Gesichtspunkte: den Jugendschutz, den Schutz vor Belästigung im öffentlichen Raum und die aus der Rechtstradition, die auch Homosexualität unter Strafe stellte, sich fortschreibende strafrechtliche Bewertung bestimm-
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ter Formen minoritärer Sexualität (Exhibitionismus). Neu sind die Strafbestimmungen gegen Kinderpomographie, die der gestiegenen Aufmerksamkeit fiir die Gefährdungen und fiir die Rechte von Kindem Rechnung trägt. Neu ist, dass zwischen Medien- und Telediensten (Internet usw.) und anderen Medien eine Unterscheidung eingeführt wird. Bei entsprechenden Vorkehrungen im Sinne des Jugendschutzes werden Darbietungen im Internet nicht unter Strafe gestellt, die in anderen Medien unter Strafe stehen. In der lebensweltlichen Realität bestehen damit einerseits relativ klar umrissene Straftatbestände, die auch mit Erfolg strafrechtlich verfolgt werden. Im Bezug auf den Jugendschutz und den Schutz der Öffentlichkeit ist es hingegen mehr als fraglich, ob der Gesetzgeber bereits zielführende Maßnahmen ergriffen hat. Ein Blick auf das Medium Fernsehen und auf die Presse zeigt, dass das Pornographieverbot de facto in diesen Medien vielfach unterlaufen wird, indem entsprechende Darstellungen in (Pseudo-)berichte, Werbung oder künstlerische Darbietungen integriert werden. Immerhin ist durch diese Medien meist nur majoritäre und relativ "weiche" Pornographie allgemein zugänglich. Das Internet enthält hingegen sehr weitgehende Darstellungen von Sexualität. Der Zugang zu Seiten mit jugendgefährdendem Inhalt ist im Internet dabei meist so geregelt, dass eine Abfrage erfolgt, ob der Nutzer volljährig ist oder nicht. Klickt der manchmal keineswegs volljährige Nutzer' ,ja" an, so erhält er Zutritt zu den betreffenden Seiten. Um "effektive Barrieren", wie sie das Bundesverwaltungsgericht in seinem Urteil vom 13.5.2002 im Blick auf das Pay-TV forderte, handelt es sich nicht. Auch der Schutz der Öffentlichkeit ist nur sehr bedingt gegeben, da sich kommerzielle Seiten mit pornographischem Inhalt auch bei der Suche nach ganz anderen Themen in den Vordergrund drängen (z. B. bei Eingabe von Mädchennamen wie "Barbara" oder "Sabine" in eine Suchmaschine oder bei der Suche nach dem Kaufvon Kleidungsstücken). Als Konsequenz aus dieser Betrachtung kann man einen Sachverhalt festhalten, der auch in anderen Bereichen der Allgewandten Ethik nicht selten auftritt: Die Rechtstexte entsprechen in Deutschland einem eher konservativen Ansatz, der Jugendschutz und Schutz der Öffentlichkeit in einem sogar recht weitgehenden Umfang fordert. Die Rechtswirklichkeit im Raum des Internet entspricht demgegenüber eher dem liberalen Ansatz, weil de facto nur bestimmte Formen gewalttätiger Sexualität gesetzlich geahndet werden. Wie kann Medienethik in dieser Situation weiterkommen? Ohne dass im Rahmen dieses Artikels alle Einzelheiten einer ethischen Argumentati-
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on entfaltet werden können, fUhren zwei Überlegungen weiter. Eine der Überlegungen ist die Unterscheidung zwischen Ethik und Recht (vgl. den Beitrag von Gröschner in diesem Band). Aus zahlreichen Gründen ist es nicht sinnvoll, alle ethischen Normen in geltendes Recht umzusetzen. Der katholische Ansatz, dass aus Gründen des Gemeinwohls Pornographie insgesamt zu verbieten oder zu verhindern sei, sieht sich deshalb vor einer doppelten Begründungspflicht: Er muss (1) gegenüber hedonistischen, utilitaristischen und konsenstheoretischen Ansätzen zeigen, dass jede Form von Pornographie in den Medien das Gemeinwohl beeinträchtigt, und er muss (2) gegenüber liberalen Auffassungen begründen, warum eine Regelung durch ein strafrechtlich relevantes Verbot gegenüber anderen Lösungen vorzuziehen ist. Auch wenn man trotz aller schwierigen Abgrenzungsprobleme zwischen Pornographie, Kunst, Werbung und Produktpräsentation Sympathien fiir ein Gelingen der Argumentation auf der Grundlage des Gemeinwohls hat, so dürfteangesichtsvon 76 Millionen Internet-seiten zum Thema Sex, von denen ein erheblicher Anteil mehr oder weniger pornographischer Natur ist, ein strafbewehrtes Verbot zur Kriminalisierung weiter Teile der Bevölkerung fUhren. Negative Erfahrungen mit dem staatlichen Verbot von Alkoholkonsum oder der Verfolgung von Ehebruch als Straftatbestand und die Aufgabe der Politik, der Desintegration von Bevölkerungsteilen entgegenzuwirken, lassen ein generelles staatliches Verbot von sexueller Kommunikation im Internet als nicht sinnvoll erscheinen. Aus der Sicht der politischen Ethik ist es zudem schwer zu begründen, dass sich der Staat in die Art und Weise, wie seine Bürger Sexualität gestalten und kommunizieren, massiv eingreift. Eine gewisse "normative Kraft des Faktischen" wird sich juristisch geltend machen und wahrscheinlich zu weitergehenden Liberalisierungen im Gesetzestext fUhren. Eine zweite Überlegung wendet sich kritisch an die als liberal gekennzeichnete Sicht. Ein demokratisches Freiheitsverständnis geht davon aus, dass Freiheit eines jeden Menschen nicht nur bedeutet, zu tun und zu lassen, was er will, sondern dass Freiheit auch die Freiheit einschließt, nicht mit gewissen, als beeinträchtigend erlebten Realitäten konfrontiert zu werden. Um ein Beispiel aus einem anderen Bereich der Ethik zu wählen: Freiheit ist nicht nur die Freiheit des Rauchers, überall, wo er will, eine Zigarette anzünden zu können, sie ist auch die Freiheit der anderen, in Situationen, in denen sie es wünschen, frische Luft zu atmen und von Nikotin verschont zu bleiben. Ein demokratisches Freiheitsverständnis lässt auch demjenigen, der nicht will, dass er oder seine Kinder mit Pornographie konfrontiert werden, die Wahl, dies effektiv zu verhindern. Eine hö-
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herstufige liberale Auffassung müsste deshalb eigentlich dem Gedanken aufgeschlossen sein, für einen wirksamen Schutz der Freiheit derer, die nicht mit Pornographie konfrontiert werden wollen, einzutreten. Dies führt zu folgenden konkreten Vorschlägen: Da die Abfrage des Alters keine "effektive Barriere" für den Zugang zu bestimmten Internetseiten darstellt, sollte der Gesetzgeber verlangen, dass alle Internetzugänge mit leicht zu bedienenden Filtern geliefert werden, die es dem Einzelnen und den Eltern für ihre Kinder ermöglichen, Internetseiten zu blockieren. Die bisherigen technischen Möglichkeiten, die etwa mit Bilderkennung arbeiten, funktionieren mit einem Fehlerquotienten von etwa 1 % und sind preislich erschwinglich. Weitere technische Verbesserungen und Preissenkungen sind möglich. Pop-ups, d. h. Seiten, die sich automatisch beim Aufrufen anderer Seiten einschalten, mit sexuellen Inhalten sollten verboten werden. Um eine übermäßige Verrechtlichung des Internets zu vermeiden, wäre es wünschenswert, wenn derartige Regelungen bereits im Vorfeld einer rechtlichen Fixierung freiwillig durchgeführt werden könnten.
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Ausblick: Ethikvermittlung in den Medien als zweites Zentralthema der Medienethik
Gegenüber der Medienethik wird gelegentlich die kritische Frage gestellt, ob sie überhaupt einen eigenständigen Gegenstandsbereich habe. Wenn Missbrauch von Machtpositionen durch Marktführer oder Handlungen gegen die Würde einer Person stattfinden, dann sind diese Handlungen ethisch problematisch, ob sie in den Medien stattfinden oder nicht. Diese Argumentation übersieht, dass Medienethik die einzige Form der Allgewandten Ethik ist, die es mit einer besonderen Form des Handeins zu tun hat: dem symbolisierenden Handeln. Friedrich Schleiermacher, der diesen Begriff eingeführt hat, macht deutlich, dass bei allem menschlichen Handeln zwei grundlegende Handlungstypen zu unterscheiden sind: organisierendes Handeln und symbolisierendes Handeln. Organisierendes Handeln zielt auf eine Einwirkung der Vernunft auf die Natur, die in einer bestimmten Weise verändert werden soll: anpflanzen, bauen oder ein Medikament einnehmen sind Beispiele organisierender Handlungen. Wirtschaft, Naturwissenschaft oder Medizin haben es deshalb vorrangig mit diesem Handlungstypus zu tun. Symbolisierendes Handeln hingegen dient vorrangig der Einwirkung von Vernunft auf Vernunft, der Kommunikation unter
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Menschen. Aus diesem Grunde kann symbolisierendes Handeln in einer anderen Weise auf sich selbst bezogen werden als organisierendes Handeln. Man kann in der Sprache über die Sprache sprechen (Metasprache), man kann im Fernsehen über das Fernsehen berichten oder über das Schreiben schreiben, man kann aber nicht über die Einnahme eines Medikaments wiederum ein Medikament einnehmen usw. Schließlich ermöglichen Medien, die symbolisch-kommunikative Seite zum Ausdruck zu bringen, die man in jedem Handeln und darüber hinaus in jedem Zeichenprozess fmden kann. Auch wirtschaftliche Vorgänge können beispielsweise als Kommunikation verstanden werden: Das Zahlen höherer Preise wird als Kommunikation von Bedarf interpretiert; Lohnsenkungen werden so verstanden, dass die Arbeiter froh sein können, überhaupt Arbeit zu haben usw. Die ganze Natur kann als Zeichenprozess interpretiert werden (Pierce). Jeder Vorgang hat eine symbolisch-kommunikative Seite, den eine hermeneutisch orientierte Ethik zu beachten hat. Medienethik treibt die Frage weiter nach der ethischen Bedeutung dessen, was aufwelche Weise in welchem Medium mit wem kommuniziert wird. Dabei entsteht immer mehr ein zweites grundlegendes Themenfeld der Medienethik, das in der Zukunft wahrscheinlich noch an Bedeutung gewinnen wird. Medienethik hat es nicht nur mit Problemen der Produktion, Distribution und Rezeption von Medien, sondern auch mit den Inhalten und den Präsentationsweisen von Medien zu tun. Durch Inhalte und Präsentationsweisen vermitteln und verändern Medien ethische Normen. Die neuerlichen Entwicklungen der lnhaltsanalyse, der Semiotik, der Theaterund Literaturwissenschaft, der Ritualforschung, der philosophischen und theologischen Hermeneutik und anderer Disziplinen lassen sich medienethisch fruchtbar machen. Als zwei Beispiele unter vielen fiir diese Arbeit seien genannt: Grimm, P./ Capurro, R. (Hg.), "Menschenbilder in den Medien- ethische Vorbilder?" und Kirsner, 1.1 Wermke, M. (Hg.), "Gewalt".
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Feministische Ethik Anne Siegetsleitner
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Was ist und wie entstand die feministische Ethik?
Feministische Ethik im umfassenden Sinne ist Ethik, die die Lebenssituation von Frauen und ihre Benachteiligung aufgrund ihres Geschlechts berücksichtigt und thematisiert. Wenn feministische Ethiker(innenY werten, gehen sie von der Grundüberzeugung aus, dass es grundsätzlich moralisch gut ist, die Lage von Frauen zu verbessern und Benachteiligungen zu beseitigen. Wenn feministische Ethiker(innen) moralische Theorien und Begriffe entwickeln, wollen sie moralische Sichtweisen von Frauen ebenso berücksichtigen wie die von Männern. Außerdem achten sie darauf, dass diese Theorien und Begriffe nicht einem guten Leben für Frauen und der Überwindung von Benachteiligung entgegen stehen. Im Wesentlichen lassen sich drei Aufgabenbereiche der feministischen Ethik unterscheiden: (I) Als Allgewandte Ethik befasst sich die feministische Ethik mit einer ethischen Reflexion jener Handlungen, Praktiken, Strukturen und Systeme, die in Verdacht stehen, ungerechtfertigterweise die Lebenssituation von Frauen zu verschlechtern, ihre schlechte Lage aufrechtzuerhalten oder zu ihrer Benachteiligung beizutragen. Die Bandbreite der behandelten Problembereiche reicht dabei von so genannten Frauenthemen bis hin zu einer Analyse der neuen Informations- und Kommunikationstechnologien. (2) Als allgemeine Ethik untersucht die feministische Ethik zudem, (a) ob und wie traditionelle Ethiktheorien zur Untersuchung dieser Lebenssituation, der Benachteiligung und zu deren Überwindung beitragen können, (b) ob und wie diese Theorien dazu verändert werden müssen oder (c) ob nicht vielmehr neue feministische Moraltheorien erarbeitet werden müssen, in denen moralische Sichtweisen von Frauen gleich-
Auch Männer beschäftigen sich mit den Aufgabenbereichen der feministischen Ethik, z. B. Lawrence Blum (1982).
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berechtigt mit denen von Männem zmn Ausgangspunkt ethischer Reflexion gemacht werden. (3) Als historische feministische Ethik analysiert sie historisch Überliefertes hinsichtlich der Bewertung von Frauen, ihrer Lebenssituation und ihrer Benachteiligung. Dazu zählen beispielsweise das Aufdecken von frauenfeindlichen (misogynen) Ansichten in den Schriften historisch einflussreicher Denker(innen) oder das Ausgraben alter Verteidigungen der Frauen gegen sie benachteiligende Praktiken und Haltungen. Obwohl sich feministische Theoretiker(innen) darin einig sind, dass sich viele Frauen in einer schlechten Lebenssituation befmden und sie im Verhältnis zu Männem benachteiligt sind, ist der Feminismus keine einheitliche Theorie. Es gibt verschiedene Positionen zu den Fragen, (I) wodurch eine schlechte Lebenssituation gekennzeichnet ist und worin die Benachteiligung besteht, (2) wo eine schlechte Lebenssituation und eine Benachteiligung tatsächlich vorliegen, (3) wodurch diese verursacht werden und (4) wie sie überwunden werden können. Der liberale Feminismus beispielsweise sieht die Benachteiligung durch die rechtlichen Beschränkungen verursacht, die Frauen den Zutritt zmn so genannten öffentlichen Leben verwehren und/oder ihren Erfolg darin verunmöglichen. Die Lösung besteht für diese Richtung darin, diese Beschränkungen aufzuheben (z. B. in der Gewährung des Wahlrechts). Das ist zugleich der Feminismus "klassischen" Zuschnitts. Entsprechende Forderungen wurden beispielsweise in "Plädoyer für die Rechte der Frauen"2 (1994 [ 1792]) von Mary Wollstonecraft (1759-1797) und in "Die Hörigkeit der Frau"3 (1991 [1869]) formuliert, einer von John Stuart Mill (1806-1873) gemeinsam mit seiner Frau Rarriet Taylor Mill (1807-1858) und deren Tochter Helen Taylor (18311907) verfassten Schrift. Der marxistische Feminismus behauptet, dass die Benachteiligung der Frauen ihren Ursprung in der Einführung des Privateigentums hat. Zur Befreiung der Frauen müsse deshalb das kapitalistische System überwunden werden. Radikale Feminist(inn)en glauben, dass weder liberale noch marxistische Feminist(inn)en weit genug gegangen seien. Sie sehen die Ursache für die Benachteiligung im Patriarchat- einem System, 2
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"Rousseau declares that a woman should never, for a moment, feel herself independent, that she should be govemed by fear to exercise her natural cunning, and made a coquetish slave in ordertorender her a more alluring object of desire, a sweeter companion to man, ... What nonsense!" (Wollstonecraft 1994 [1792], 91). Wollstonecraft starb mit 38 Jahren nach der Geburt ihrer Tochter Mary Shelley, der Autorin von "Frankenstein". "Man erklärt sie [die Frauen] fiir bessereMänner - ein leeres Kompliment, das jeder Frau von Geist ein bitteres Lächeln entlocken muß, da es kein anderes Verhältnis im Leben gibt, wo es hergebrachte, fiir recht und naturgemäß gehaltene Ordnung ist, daß diejenigen, welche man fiir die Besseren erklärt, den Schlechteren gehorchen müssen" (Mill!faylorffaylor 1991 [1869], 125).
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Feministische Ethik
in dem Männer herrschen- mit seinem problematischen Verständnis von Weiblichkeit (Femininität) und Männlichkeit (Maskulinität). Zur Überwindung der Benachteiligung müsse das Patriarchat als Ganzes abgeschafft werden. Hierbei spielt der lesbische Feminismus eine wichtige Rolle. Eine andere feministische Richtung meint, das Problem sei nicht die Femininität, sondern der geringe Wert, der in einerpatriarchalen Kultur dem Femininen und Mütterlichen zugeschrieben werde. Vertreter(innen) dieser Richtung sehen die Lösung darin, diesen Werten und Tugenden gebührenden Respekt zu verschaffen. Zudem gibt es u. a. noch psychoanalytische, sozialistische, existenzialistische und postmoderne Richtungen des Feminismus. Diese verschiedenen Richtungen kommen auch in der feministischen Ethik zum Tragen, insofern sie die Auswahl der Fragestellungen, die Art der Analysen und den Inhalt der wertenden Urteile beeinflussen. 4 Auch bei der feministischen Ethik handelt es sich daher nicht um eine einheitliche Sichtweise und Wertung. Im feministischen Diskurs ist es unter Verweis auf "Das andere Geschlecht" von Sirnone de Beauvoir (1908-1986) üblich geworden, das biologische Geschlecht (engl. sex) vom sozial geschaffenen Geschlecht (engl. gender) zu unterscheiden. 5 Da es um die Lebenssituation von Frauen und ihre Benachteiligung aufgrund des Geschlechts geht, ist es für die feministische Ethik unerlässlich zu verstehen, welche Bedeutung das soziale Geschlecht und in dessen Bestimmung das biologische Geschlecht hat. Da in unserer Kultursex und gender als natürliche Verbindung gesehen werden, ist es vielfach sehr schwer, die beiden Komponenten zu trennen. Wo nicht ausdrücklich anders erwähnt, werde ich im Folgenden mit "Geschlecht" das soziale Geschlecht meinen. Seit einiger Zeit gibt es aber auch eine Kritik an der Unterscheidung sex/gende~ und an der Annahme, es gebe 4
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Wo feministische Ethiker(innen) Werturteile fiillen, nehmen sie wie alle wertenden Ethiker(innen) einen Wertstandpunkt ein, der ihnen nicht durch die Philosophie oder die Wissenschaft vorgegeben ist. Diese Lage teilen sie beispielsweise mit Ethiker(inne)n, die auf dem Hintergrund liberaler oder bestimmter konfessioneller Werthaltungen urteilen. Ob es Aufgabe einer akademischen Ethik ist, Wertungen abzugeben oder sich auf die Analyse von Begriffen, deren Geschichte, das Erarbeiten neuer Begriffe und das Aufzeigen von argumentativen Zusammenhängen zu beschränken, ist auch unter feministischen Ethiker(inne)n umstritten. ,,Man kommt nicht als Frau zur Welt, man wird es" (Beauvoir 1996 (1949], 334). "Die Männer wissen so genau, daß die Mängel der Frau Ausdruck der weiblichen Lage sind, daß sie, um die Hierarchie der Geschlechter zu erhalten, bei ihrer Gefiihrtin gerade diejenigen Züge fordern, die ihnen erlauben, sie zu verachten" (Beauvoir 1996 [1949], 767). So stellt die Philosophin Judith Butler in Frage, ob es außer dem sozialen Geschlecht überhaupt ein nicht sozial geschaffenes biologisches Geschlecht gäbe (Butler 1991 [1989]).
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Anne Siegetsleitner
nur zwei Geschlechter. Manche verweisen aufweitere Varianten des biologischen Geschlechts, manche auch des sozialen Geschlechts. Zunehmend wird in der feministischen Ethik auch die Frage einbezogen, wie sich das Geschlecht mit anderen sozialen Kategorien verbindet. Es wird berücksichtigt, dass das Geschlecht nicht der einzige benachteiligende soziale Faktor ist und nicht in jeder Situation das größte Handicap darstellt. Es gibt mehrere Merkmale, die den Platz, den Frauen und Männer in ihrer Gesellschaft einnehmen, bestimmen. Deshalb gibt es sehr wohl manche Frauen, denen es besser geht als so manchem Mann, und nicht alle Frauen befmden sich in derselben Lage. Auch variieren Geschlechternormen zwischen sozialen Gruppen und Kulturen. Aus dem bisher Dargestellten sollte deutlich geworden sein, worum es bei feministischer Ethik nicht geht: Feministische Ethik bedeutet nicht, (a) die Interessen von Frauen an den ersten Platz zu stellen, (b) nur so genannte Frauenthemen zu behandeln, denn es gibt keine Themen, die nur Frauen betreffen würden\ (c) nur Frauen als Moralexpertinnen zu akzeptieren, denn auch Frauen sind nicht moralisch unfehlbar, (d) lediglich "weibliche" Werte an die Stelle von "männlichen" zu setzen, denn den meisten Feminist(inn)en ist das "Weibliche" als soziale oder kulturelle Gegenüberstellung zum ,,Männlichen" selbst suspekt (siehe zu den einzelnen Punkten auch Jaggar 2001, 531f). In einem kleinen historischen Überblick werde ich mich nun der Frage zuwenden, wie die feministische Ethik in dieser Form entstanden ist. In der Geschichte des westlichen Denkens wurde durchaus über Frauen, ihre Lebenssituation, ihre gesellschaftliche Stellung und ihr" Wesen" nachgedacht. Hierbei waren viele einflussreiche Äußerungen aus heutiger Sicht frauenfeindlich, denn es wurde argumentiert, dass Frauen Männern untergeordnet sein sollten, weil sie in irgendeiner wesentlichen Hinsicht minderwertig seien. Als ein solcher Mangel wurde gerne ihre angeblich fehlende Fähigkeit zu vernünftigem oder allgemeinem Denken angeführt (z. B. bei Georg Wilhelm Friedrich Regel ( 1770-1831)). 8 Lebensbereiche, die vor allem Frauen 7
8
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Die Möglichkeit von Abtreibung beispielsweise hat entscheidende Konsequenzen sowohl fiir Männer als auch fiir Frauen. Und hingegen einer kulturell zugeschriebenen Aufteilung von Lebensbereichen in männlich und weiblich sind auch Männer in häusliche und persönliche Beziehungen eingebunden und Frauen in wirtschaftliche, politische und militärische Unternehmungen (Jaggar 2001 , 531). "Frauen können wohl gebildet sein, aber fiir die höheren Wissenschaften, die Philosophie und fiir gewisse Produktionen der Kunst, die ein Allgemeines fordern, sind sie nicht gemacht.... Stehen Frauen an der Spitze der Regierung, so ist der Staat in Gefahr, denn sie handeln nicht nach den Anforderungen der Allgemeinheit, sondern nach zufälliger Neigung und Meinung" (Hegell993 [1821], 319f, § 166).
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betrafen, wurden vernachlässigt und teilweise als ein Bereich außerhalb von Gerechtigkeit angesehen, was, so feministische Kritiker( innen), verhinderte, z. B. die Aufteilung von Hausarbeit als ein Problem von Gerechtigkeit zu sehen, und den häuslichen Missbrauch von Frauen und Mädchen verdeckte, wenn nicht gar legitimierte. 9 Andere haben sich zumindest in Teilen gegen die Benachteiligung von Frauen ausgesprochen. 10 Und es gab über Jahrhundertehinweg eine Unzahl von feministischen Denker(inne)n, die sichmitder Lebenssituation und Benachteiligung von Frauen auseinander setzten. Die feministische Ethik in ihrer gegenwärtigen Form nahm ihren Ausgangspunkt jedoch in den späten 60er Jahren als Teil des Wiederauflebens einer feministischen Bewegung, der so genannten Zweiten oder Neuen Frauenbewegung.u Die Fragen tauchten als Probleme des aktuellen Lebens in der Öffentlichkeit auf und wurden bald von akademischen Philosoph(inn)en aufgegriffen. Zu den Problembereichen zählten Abtreibung, Chancengleichheit, Unterdrückung am Arbeitsplatz, die Darstellung von Frauen in den Medien und eine Reihe von Themen, die mit Sexualität zusammenhingen, wie beispielsweise Vergewaltigung und der Zwang zu Heterosexualität. In den 1970erund 1980er Jahren kamen u. a. die Bereiche Pornografie, Fortpflanzungstechnologien, Militarismus, Umwelt und die Situation von Frauen in Entwicklungsländern dazu. Der Ausdruck "feministische Ethik" wurde dabei (erst) in den späten 1970er, frühen 1980er Jahren gebräuchlich (Jaggar 2001, 528). Zu dieser Zeit befassten sich manche feministische Ethiker(innen) nicht mit aktuellen gesellschaftlichen Problemen, sondern wandten sich den traditionellen ethischen Theorien zu. Sie entdeckten dort einen so genannten "male bias", d. h. eine männliche Voreingenommenheit, und begannen deshalb daran zu zweifeln, dass die Lebenssituation und das Problem der Benachteiligung der Frauen fruchtbringend mit den Begriffen und Sichtweisen behandelt werden konnte, die die traditionelle Ethik zur VerfUgung stellte. War es beispielsweise, so die Skepsis mancher, nicht typisch männlich und fernab der moralischen Erfahrung von Frauen, Abtreibung als ein Problem von moralischen Rechten zu sehen? Deshalb begannen ei9 10 11
Die 2004 verstorbene Philosophin Susan Moller Okin analysierte sowohl die Stellung der Frauen in der westlichen politischen Philosophie (Okin 1979) als auch das Verhältnis von Gerechtigkeit, Geschlecht und Familie (Okin 1989). In philosophische Geschlechtertheorien fiihren Doye/Heinz/Kuster (2002) ein. Historische Texte von Frauen u. a. zum Geschlechterverhältnis fmden sich auch in Hagengrober (1999). Als Alte oder Erste Frauenbewegung wird die Frauenbewegung am Ende des 19. Jahrhunderts bezeichnet.
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nige zu untersuchen, ob eine Alternative zu den traditionell "männlichen" Herangehensweisen nicht in spezifisch "weiblichen" Herangehensweisen, einer "weiblichen" Theorie, liegen könnte (Jaggar 2001, 528±). Thesen von einer moralischen Geschlechterdifferenz klangen (wieder) überzeugend (vgl. dazu ausfiihrlicher unten Abschnitt 2.1 ). 12 Andere wollten und wollen durchaus traditionelle Moraltheorien fiir eine feministische Ethik heranziehen. Es gibt deshalb zahlreiche feministische Aristoteliker(innen), Kantianer( innen), Humeaner(innen), Utilitarist(inn)en usw. 13 In diesem Beitrag steht die feministische Ethik als Angewandte Ethik im Mittelpunkt. Von anderen Disziplinen der Angewandten Ethik unterscheidet sie sich durch ihren Gegenstand, nämlichjener Handlungen, Praktiken, Strukturen und Systeme, die in Verdacht stehen, ungerechtfertigterweise die Lebenssituation von Frauen zu verschlechtern, ihre schlechte Lage aufrechtzuerhalten oder zu ihrer Benachteiligung beizutragen. Die Überschneidungen mit anderen Disziplinen der Angewandten Ethik sind dabei vielfältig. Da die Lebenssituation und die Benachteiligung von Frauen in fast allen Lebensbereichen eine Rolle spielen, gehören zur feministischen Ethik viele Lebensbereiche, die unter einem anderen Gesichtspunkt anderen Disziplinen zugeordnet werden können. So zählt der Themenbereich der Fortpflanzungstechnologien auch zur Technik- und Medizinethik. Solche mehrfachen Zuordnungen von Fragen kommen in der Angewandten Ethik häufig vor, da sie in eine Lebenspraxis eingebunden sind, in der mehrere Tätigkeitsfelder (Haushalt, Wirtschaft, Medizin usw.), Technologien (Computer-, Fortpflanzungstechnologie usw.) oder soziale Beziehungen (z. B. zwischen den Geschlechtern) in vielfältiger Weise verbunden sind. Die Aufteilung von Themenstellungen in Disziplinen ist eine pragmatische. In je mehr Lebensbereichen das, was untersucht wird (z. B. das Geschlechterverhältnis), eine Rolle spielt, desto mehr Überschneidungen mit anderen Disziplinen sind gegeben und auch zu erwarten.
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Wer sich fiir eine Einfilhrung in die feministische Ethik als allgemeine Ethik interessiert, der/dem sei die Einfilhrung von Saskia Wendel (2003) empfohlen. Dabei hält Annette C. Bai er eher David Hume als Immanuel Kant fiir einen Ethiker der Frauen, da bei Hume ein moralischer Fortschritt über eine Verfeinerung der Fähigkeit zu Mitgefiihl und Mitmenschlichkeit erfolgt (Baier 1993). Herta Nagi-Docekal und Herlinde Pauer-Studer halten sich ihrerseits lieber an Kant (Nagl-Docekal 1995, PauerStuder 2003). Laura Purdy (1996) neigt zum Utilitarismus, Susan Sherwin (1993) distanziert sich wiederum ausdrücklich von diesem .
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Zentrale Begriffe der feministischen Ethik
2.1
Sorge (engl. care)
,,Frauen sind fiirsorglich, Männer gerecht." Diese Aussage klingt fiir viele plausibel. Nicht zuletzt empirische Untersuchungen hätten dies bewiesen, lautet nicht selten die Rechtfertigung, und es erfolgt ein Verweis aufCarol Gilligan. Was hat es damit auf sich? Welche Rolle spielt die geschlechtsspezifische Zuordnung und das Sorgen fiir die feministische Ethik? 1982 veröffentlichte die US-amerikanische Moralpsychologin Carol Gilligan die empirische Studie "In a Different Voice. Psychological Theory and Women's Development" (1984 dt. "Die andere Stimme. Lebenskonflikte und Moral der Frau"). In dieser Studie unterscheidet Gilligan zwei Perspektiven in der moralischen Urteilsbegründung, die sie mit je einem Geschlecht in Verbindung brachte. 14 Männer würden Moral als eine Moral der Gerechtigkeit (engl. justice) verstehen, Frauen als eine Moral der Sorge (Fürsorge, engl. care). Letztere nannte sie auch die andere Stimme. Gilligan hatte damit eine These von der moralischen Geschlechterdifferenz formuliert. In Thesen von der moralischen Geschlechterdifferenz wird behauptet, dass ein Unterschied zwischen Männemund Frauen auf dem Gebiet der Moral bzw. ein Unterschied zwischen "weiblicher" und "männlicher" Moral bestehe oder bestehen sollte. 15 Zum genauen Inhalt ihrer These von der moralischen Geschlechterdifferenz äußerte sich Gilligan zweideutig. Wollte sie in "Die andere Stimme" behaupten, dass alle Frauen die Sorge-Perspektive einnehmen und alle Männer die Gerechtigkeits-Perspektive? Später vertrat sie jedenfalls die Meinung, dass die Stimme der Sorge-Perspektive nur "gewöhnlich" von Seiten der Frauen zu hören sei. 14
15
Gilligan reagierte damit auf die Studien zur kindlichen Moralentwicklung von Lawrence Kohlberg. Weibliche Versuchspersonen hatten darin schlechter abgeschnitten als männliche. Auf seinem Stufenmodell moralischer Entwicklung wurden sie vorwiegend auf Stufe 3 von 6 Stufen eingeordnet, was in diesem Modell ein sehr schlechtes Ergebnis darstellt. Auf dieser Stufe werdenjene Handlungen als moralisch richtig angesehen, die anderen gefallen oder helfen und von ihnen gutgeheißen werden. Gilligan fand das Paradox, "denn genau die Züge, die traditionell die "Güte" der Frauen ausmachten, ihre Fürsorge fi1r andere und ihre Einfiihlsamkeit in deren Bedürfnisse, sind dieselben, die sie als defizitär in ihrer moralischen Entwicklung ausweisen" (Gilligan 1993 [1982], 29). Anstatt das als Mangel der Frauen hinzunehmen, zog Gilligan die Theorie in Zweifel. Es gibt nicht die These von der moralischen Geschlechterdifferenz, denn die Behauptungen, die aufgestellt werden, sind sehr unterschiedlich.
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Trotz der wissenschaftlich-methodischen Einwände, die gegen Gilligan vorgebracht wurden, meinen viele Leser( innen), dass das Geschilderte durchaus ihren Erfahrungen entspreche. Dafiir wurden verschiedene Erklärungen angeboten. U. a. meinte Marilyn Friedman, die moralische Geschlechterdifferenz liege auf der Ebene der Stereotypen und Symbole. In den Vorstellungen von Männlichkeit und Weiblichkeit seien auch moralische Normen über angebrachtes Verhalten, charakterliche Tugenden und typische Laster enthalten. Diese Vorstellungen bestimmten, was erwartet wird, und drückten eine moralische Arbeitsteilung aus. Während die moralischen Normen, Werte und Tugenden fiir Männer durch Gerechtigkeit und Recht strukturiert seien, seien sie es fiir Frauen durch Fürsorge und Zuwendung. Für Friedman hat Gilligan die symbolische weibliche Stimme von der symbolischen männlichen losgelöst (Friedman 1993, 245-247). 16 Gilligan und viele, die sich aufsie stützten, habenjedoch noch Weiteres behauptet. Bei Gilligan wird die Sorge-Perspektive stellenweise als eine gute und sogar der Gerechtigkeits-Perspektive überlegene dargestellt. Was damit behauptet wird, ist eine normative Aussage, in der die SorgePerspektive moralisch gutgeheißen und gelobt wird, anstatt nur festzustellen, dass Menschen diese Perspektive in ihrem moralischen Werten und Urteilen tatsächlich einnehmen. Die Sorge-Perspektive ist fiir manche alles andere als eine lobenswerte Perspektive. Es verwundert deswegen auch nicht, dass das Buch in der feministischen Ethik keineswegs ungeteilte Zustimmung fand. Ist die Ethik der Sorge mehr als eine feminine Ethik, die traditionell "weibliche Tugenden" preist und durch eine auf das Wohlergehen anderer gerichtete Lebensorientierung die Unterdrückungsmechanismen gegenüber Frauen verfestigt? Der Verdacht einer Zementierung von Rollenklischees war stark (Nagl-Docekal 1995, 9). Gerade Ansichten, dass Frauen emotional seien, mangelnden Gerechtigkeitssinn aufwiesen und zu einem objektiven und unparteilichen Urteil unfahig seien, wurden in der westlichen Kulturgeschichte, wie oben erwähnt, herangezogen, um den Ausschluss von Frauen aus dem öffentlichen Leben und ihre Unterordnung unter Männer zu rechtfertigen. Bei aller Kritik stieß Gilligans Arbeit jedoch auf lebhaftes Interesse in der Moralphilosophie, denn Gilligans Betonen des Stellenwerts von Sor16
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Friedman schlug vor, die Geschlechter zu "ent-moralisieren", womit sie meinte, einen geschlechtsunabhängigen moralischen Rahmen zu schaffen, in dem Frauen und Männem keine ausgeprägten und unterschiedlichen moralischen Rollen mehr zugewiesen werden (Friedman 1993, 255).
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ge, Anteilnahme, Sensibilität und Einfühlsamkeit bedeutete das Zurückholen einer moralischen Dimension, die in den Lebenszusammenhang von Frauen verwiesen und in der Bildung moralischer Theorien vernachlässigt worden war. Es wurde die Frage aufgeworfen, inwieweit die Sorge-Perspektive jenseits einer "Geschlechtermoral" in eine Ethik fiir beide Geschlechter integriert werden sollte (siehe u. a. Held 1993). Besonders groß war der Einfluss auf die Medizinethik (v. a. der Pflegeethik). Heute bezieht sich "Ethik der Sorge" bzw. der englische Ausdruck "ethics of care" auf eine Gruppe von philosophischen Ansätzen zum moralischen Phänomen der Sorge, nicht nur aufGilligans Ausarbeitung. Weitere wichtige Beiträge zu einer Ethik auf der Grundlage von klassisch weiblichen Werten wie Fürsorge, Weiblichkeit und Mütterlichkeit stammen von Nel Noddings und Sara Ruddick. Noddings untersucht vor allem die Sorge-Beziehung selbst (Noddings 1984 und 1993). Ruddick versucht, eine Ethik der Sorge aus ihrer Erfahrung der mütterlichen Praxis mit Fragen der Friedensethik in Verbindung zu bringen, und war mit ihrem Buch "Mütterliches Denken: fiir eine Politik der Gewaltlosigkeit" (Ruddick 1993 [ 1989]) sehr einflussreich. Die Sorge hat innerhalb der feministischen Ethik einen zentralen Platz. Sorge und Anteilnahme werden als wesentliche moralische Haltungen betrachtet, auch wenn es abgelehnt wird, sie als spezifisches Anliegen von Frauen zu sehen. Zumindest als ergänzendes Gegengewicht betonen viele daher die Wichtigkeit von Gleichheit und Gerechtigkeit, Freiheit und Autonomie oder verweisen auf andere Lebenserfahrungen von Frauen als das Muttersein. So versucht Sarah Hoagland in "Die Revolution der Moral" (1991 [1988]) systematisch die moralischen Einsichten auszuarbeiten, die sich aus der Lebenspraxis lesbischer Frauen ergeben. Obwohl fiir manche der Ausdruck "feministische Ethik" sogar bedeutungsgleich mit "Ethik der Sorge" wurde, schließe ich mich aufgrund des Geschilderten diesem Sprachgebrauch nicht an.
2.2
Gleichheit und Gerechtigkeit
Wie die Diskussion um die Sorge gezeigt hat, beschränkt sich fiir die feministische Ethik die Ethik nicht auf Gerechtigkeit. Dennoch ist die Geschlechtergerechtigkeit ein zentraler Gesichtspunkt in der feministischen Ethik. Als gerecht oder ungerecht wird in der Ethik Verschiedenes beur-
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teilt: Handlungen, Haltungen, Personen, Regeln, Verhältnisse, Institutionen etc. Einer gegenwärtig weit verbreiteten Bestimmung zufolge wird Gerechtigkeit als dasjenige verstanden, "was wir uns gegenseitig schulden", was nicht nur wünschenswert ist, sondern gefordert werden kann. Das Wünschenswerte kann "nur" erbeten, das Gerechte eingeklagt werden. Für die feministische Ethik steht die soziale Ebene im Vordergrund, wo es um die Beurteilung von sozialen Regeln, Verhältnissen und Institutionen geht. Mehrere Gerechtigkeitsforderungen, deren Verletzung als Benachteiligung bezeichnet wird, sind dabei mit Gleichheit verbunden. Im Sinne einer formalen Gleichheit hat u. a. Aristoteles formuliert, dass Gleiche gleich, Ungleiche ungleich behandelt werden sollen (Aristoteles 1985, 106f, Nikomachische Ethik, 5. Buch). Dieser Grundsatz der Gleichbehandlung meint, dass alle in der jeweils relevanten Hinsicht gleich zu behandeln seien. Wenn es um die Zulassung zu einem Universitätsstudium geht, soll beispielsweise nur die Fähigkeit zum Studium zählen und ebenso wenig wie Religion, Klasse oder Rasse das Geschlecht. Ebensolches gilt fiir das Wahlrecht, fiir den Zugang zu politischen Ämtern, gesellschaftlichen Positionen, Berufen, medizinischer Behandlung, der Versorgung mit lebensnotwenigen Gütern, der Behandlung durch Polizei und Justiz usw. Um Gleichbehandlung zu gewährleisten, wurde deshalb wiederholt gefordert, geschlechter-blinde Regelungen zu treffen bzw. Regeln geschlechter-blind anzuwenden. Dabei hat sich aber gezeigt, dass viele geschlechter-blinde Regelungen sich zum Nachteil von Frauen auswirken. Wenn Sozialunterstützung gestrichen wird, so trifft dies z. B. in den meisten Ländern mehr Frauen als Männer. Das Problem besteht darin, dass formale Gerechtigkeit keine Änderungen bei den Ausgangsbedingungen vorsieht. Bestand die Ungerechtigkeit bei der Anwendung von formaler Gerechtigkeit bloß darin, dass bestimmte Bedingungen nicht berücksichtigt wurden- z. B. die Tauglichkeit von Frauen fiir ein Studium- so kann formale Gleichheit Gerechtigkeit schaffen. Sind jedoch die Ausgangsbedingungen selbst ungerecht (weil sie z. B. das Ergebnis vorhergehender ungerechter Behandlung sind), so kann es sein, dass formale Gleichheit nichts an dieser Ungerechtigkeit ändert, sondern diese fortträgt oder sie sogar noch verschlimmert. Problematisch ist formale Gleichheit auch dort, wo sich hinter einer scheinbar neutralen Sprache eine Orientierung an der männlichen Norm verbirgt. Dann ergibt sich die paradoxe Situation, dass Frauen sich männliche Lebensmuster angeeignet haben müssen, um An-
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spruch auf Gleichbehandlung erheben zu können (Nagl-Docekal 1996,
17). In bestimmter Hinsicht wird deshalb von Feminist(inn)en auch substanzielle Gleichheit im Sinne von gleicher Behandlung oder gleicher Verteilung gefordert. Diese Forderungen nach substanzieller Gleichbehandlung und Gleichverteilung werden dadurch gerechtfertigt, dass auf gemeinsame Merkmale verwiesen wird, wie beispielsweise dem Menschsein. Wenn eine solche Rechtfertigung nun fiir eine gleiche Verteilung von Gütern auf Frauen und Männer spricht, so kann dies heißen, dass eine Umverteilung nötig ist, um dieses gerechte Verhältnis zu schaffen. Substanzielle Gleichbehandlung kann aber auch erfordern, dass unterschiedliche Ausgangslagen so berücksichtigt werden, dass im Endergebnis eine gleiche Verteilung vorliegt. Wenn der Anteil von Frauen in allen Berufsgruppen und -hierarchien dem zahlenmäßigen Verhältnis von Männemund Frauen entsprechen soll, so kann es dazu erforderlich sein, in den Maßnahmen zu berücksichtigen, dass die meisten Frauen gegenwärtig noch mehr Familienarbeit zu leisten haben als Männer. Spezielle Schutzvorschriften (z. B. Mutterschaftsurlaub) sindjedoch umstritten, weil sie auflange Sicht eine Gleichverteilung eher verhindem als befördern könnten. Substanzielle Gleichheit in manchen Bereichen kann auch eine notwendige Voraussetzung sein, Unterdrückung und ungleichen Einfluss sowohl in "privaten" als auch "öffentlichen" und "politischen" Belangen zu verhindern. In ökonomisch geprägten Gesellschaften hat, wer in ungleichen ökonomischen Verhältnissen lebt, auch meist nicht dieselben Lebensbedingungen (Essen, Alters- und Gesundheitsvorsorge usw.) und Einflussmöglichkeiten. Diesbezüglich sind die bestehenden Einkommensdifferenzen zwischen Männem und Frauen von besonderer Bedeutung. Bei der Benachteiligung von Frauen aufgrund ihres Geschlechts, vor allem dann, wenn dies durch eine angebliche Minderwertigkeit der Fähigkeiten und Anlagen von Frauen gerechtfertigt wird, wird von Sexismus gesprochen. Wo ungerechte Machtverhältnisse im Zentrum stehen, werden Forderungen nach Geschlechtergerechtigkeit auch unter dem Aspekt der Unterdrückung behandelt. Was aber heißt es, unterdrückt zu sein? Für viele hat der Begriff "Unterdrückung" den Beigeschmack einer individuellen Willenstat und einer Verschwörung. So wird der Begriff in der feministischen Ethikjedoch nicht gebraucht. "Unterdrückung" bezieht sich in diesem Sprachgebrauch auf eine ungerechte strukturelle Machtausübung. Die Ursachen werden in nichthinterfragten Normen, in Gewohnheiten, in Symbolen, in Annahmen, die institutionellen Regelungen zugrunde liegen, und
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in den Konsequenzen, die sich aus der kollektiven Befolgung dieser Regeln ergeben, gesehen. Obwohl es Unterdrückte gibt, muss es keine Gruppe der Unterdrücker geben, denn die Handlungen vieler Individuen können dazu beitragen, dass Unterdrückung aufrechterhalten und reproduziert wird, ohne dass jemand bewusst unterdrückt. Auch wenn es keine Gruppe der Unterdrücker gibt, gibt es jedoch fiir jede unterdrückte Gruppe eine Gruppe der im Verhältnis zu ihr Privilegierten (Young 1996, 1OOff). Eine spezielle Problematik liegt in der Tatsache, dass auch Frauen bei der Unterdrückung von Frauen mitwirken. Frauenunterdrückende Umgehungen werden auch von Frauen aufrechterhalten. Zum Tragen kommt dies in extremer Form, wo Mütter dem sexuellen Missbrauch ihrer Töchter nichts entgegensetzen (oder sogar mitmachen) oder an Genitalverstümmelung teilnehmen. Dazu zählen aber auch viel weniger spektakuläre Fälle, wo Frauen die Anpassung anderer Frauen an die unterdrückenden Strukturen unterstützen oder sie als Mütter die Ausbruchversuche ihrer Töchter unterbinden und sie zu einer Femininität erziehen, die die Töchter wie beim Schlankheitswahn gefährdet (vgl. Card 1999). Gerechtigkeit, Gleichheit, Unterdrückung, Freiheit und Autonomie sind vielfältig miteinander verwoben, wie die feministische Ethik aufzuzeigen versucht. Eine zentrale Frage ist hierbei, ob Frauen die gleiche Freiheit wie Männer genießen, ihr Leben frei zu wählen (vgl. Pauer-Studer 2000, 264). Es gilt zu betonen, dass dies etwas Anderes ist als die Frage, ob Frauen lediglich die Freiheit haben, das gleiche Leben wie Männer zu wählen.
2.3
Freiheit und Autonomie
Weitere zentrale Begriffe in der feministischen Ethik sind Freiheit und Autonomie. Recht besehen sollte, so Herlinde Pauer-Studer (2000, 248), Freiheit und Autonomie von Frauen das primäre feministische Anliegen sein. Sie werden nicht nur in der feministischen Ethik diskutiert, aber die feministische Ethik bemüht sich um eine spezifisch feministische Analyse, indem sie in ihrem Verständnis speziell Machtverhältnisse berücksichtigt. Sie ist sensibel darauf, wo die Rede von Freiheit und Autonomie Privilegien und Unterdrückung verdecken soll: "The problern is that autonomy, as it is most commonly understood, fails to address ways in which oppression may contribute to the range of choices available and may affect the
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weight an oppressed person must assign each option" (Sherwin 1998b, 12).17 Besonders fiir die feministische Ethik in der liberalen Ausrichtung ist die Freiheit in ihrer Dimension als Handlungsfreiheit äußerst wichtig. Diese Freiheit besteht zunächst in der Abwesenheit von äußeren Zwängen oder Hemmnissen, die Handelnde daran hindern, das zu tun, was sie wollen. Das Geschlecht mit seinen Rollenvorgaben und Erwartungen schränkt die individuelle Handlungsfreiheit - durchaus variierend nach Zeit und Gesellschaft- ein. Eine solche Einschränkung wird in der liberalen feministischen Tradition nur insofern moralisch gutgeheißen, als dies unter einer Beurteilung, die der formalen Gleichbehandlung entspricht, gerechtfertigt ist. Selbstredend ausgeschlossen fiir eine solche Rechtfertigung sind geschlechtsspezifische Argumente. Es ist hiermit beispielsweise dafiir, dass Frauen keinen ,,Männerberuf' ergreifen dürfen, keine Rechtfertigung, dass Frauen solches "nicht stehe" und ihre Femininität gefahrde. Die Einschränkungen sollen im Sinne der formalen Gleichbehandlung wie bei Männern auch in den hierfiir relevanten Fähigkeiten liegen. Gleiches gilt im übrigen auch fiir Männer, die "Frauenberufe" ergreifen wollen. Ergänzend kommt zur Handlungsfreiheit die Freiheit, dass eine Person das, was sie tun will, auch tun kann. Im Unterschied zur erstgenannten Form der Handlungsfreiheit wird von anderen nicht nur erwartet, dass sie nicht eingreifen, sondern dass sie aktiv dazu beitragen, die Verwirklichung der Entscheidung möglich zu machen, z. B. durch die Bereitstellung von Geld, der Abnahme von Belastungen etc. Ebenso wie die erste Form der Freiheit darf diese Freiheit durch angemessene Argumente eingeschränkt werden. Unter gleichen Voraussetzungen haben Frauen in dieser Sichtweise beispielsweise kein Anrecht auf die Bereitstellung von mehr Geld zur Unterstützung ihrer Freiheit als Männer. Ebenso wenig jedoch umgekehrt. Neben der Handlungsfreiheit wird die Entscheidungsfreiheit (Autonomie) als wichtig erachtet. Autonomes Handeln bedeutet im gängigen Verständnis, dass eine Person ihre wohl überlegten Entscheidungen ungehindert trifft (Pauer-Studer 2003, 126)- und nicht, wie bei der Handlungsfreiheit, Entscheidungen ungehindert oder unterstützt ausführen kann. Das Ungehindertsein betrifft dabei bereits die Entscheidung selbst, welche Möglichkeiten gesehen werden und wie diese beurteilt werden. Eine auto17
,,Das Problem ist, dass Autonomie, wie sie meist gemeinhin verstanden wird, nicht thematisiert, wie Unterdiilckung zum Umfang der zur VerfUgung stehenden Wahlmöglichkeiten beiträgt und wie sie das Gewicht, das eine unterdiilckte Person den einzelnen Möglichkeiten zumessen muss, beeinflussen kann" (Übersetzung A. S.).
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nome Frau hat die Möglichkeit, sich für ihreForm des guten Lebens zu entscheiden (vgl. dazu die Freiheitskonzeption von Pauer-Studer 2000, 62); sie ist ihre eigene Herrin. Autonomie braucht hierzu individuelle und soziale Voraussetzungen. Unbehagen bereitet feministischen Ethiker(inne)n vor allem, wenn autonome Handlungsentscheidungen als Ausdruck unmittelbarer Wünsche begriffen werden. Sie weisen daraufhin, dass Wünsche deformiert sein können. Bei Frauen, die ihren benachteiligten Status verinnerlicht haben, bei denen seien ihre unmittelbaren Wünsche kein Gradmesser für ihre wirklichen Bedürfnisse. Entscheidungen, die darauf basieren, seien nicht autonom. Es sei also notwendig, bei autonomen Entscheidungen auch Kontextbedingungen einfließen zu lassen (u. a. PauerStuder 2003, 126). Es ist sehr schwierig zu beurteilen, ob in einer Wunschbildung mit Zwang oder hemmend eingegriffen wird, wenn die, die entscheidet, unterdrückt wird und bereits in einer Zwangslage steckt. Noch schwieriger wird es, wenn die Entscheidung einen Bereich betrifft, der eng mit ihrer Unterdrückung zusammenhängt. So sehen viele Frauen keine wirkliche Wahlfreiheit, wenn es darum geht, teure und riskante Schönheitsoperationen durchzufiihren, weil sie wissen, wie sehr ihr Erfolg in Beruf und Liebe davon abhängt, dem gängigen Schönheitsideal zu entsprechen. Ähnliches gilt für die neuen Fortpflanzungstechnologien oder in manchen Fällen von Abtreibung, wo Frauen fürchten, durch die Geburt eines Kindes lebenslang mit einem Mann verbunden zu sein, der bereits Kinder missbraucht hat Manche Frauen entscheiden sich für Pränataldiagnostik, weil sie wissen, dass sie ein Leben mit einem schwerstbehinderten Kind unter den gegebenen Umständen nicht schaffen würden, obwohl sie das Kind selbst gerne hätten (Sherwin 1998c, 27-28). Susan Sherwin schlägt deshalb vor, Handeln und Autonomie zu unterscheiden. Eine Person handelt in ihrem Verständnis, wenn sie eine vernünftige Wahl trifft. Wer sich für eine Abtreibung bei einem missbrauchenden Vater entscheidet, mag durchaus vernünftig handeln. Insofern diese Entscheidung die Unterdrückungjedoch akzeptiert, versteht Sherwin das als keine autonome Entscheidung. Autonome Personen würden der Unterdrückung selbst widerstehen (Sherwin 1998c, 32). Für Frauen autonome Entscheidungen zu ermöglichen, heißt deshalb für sie, darauf hinzuwirken, dass in Entscheidungen (vermeintliche) Zwangslagen nicht akzeptiert, sondern aufgebrochen werden, indem die unterdrückenden Verhältnisse geändert werden, aber auch, indem das Selbstbewusstsein der entscheidenden Frauen gestärkt wird.
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Ausgewählte Problemfelder
Zentrale Themen der feministischen Ethik als Allgewandte Ethik bildeten von Anfang an Themen, die mit dem weiblichen Körper und den damit verbundenen sozialen Geschlechtszuschreibungen zu tun haben: sexuelle Gewalt, sexuelle Belästigung, Frauenhandel, Vergewaltigung (in der Partnerbeziehung bis hin zu Vergewaltigung als Kriegsstrategie ), Abtreibung, sexuelle Verstümmelung, Fortpflanzung (Reproduktion), bestimmte Formen von Pornografie und der Zwang zur Heterosexualität. Einige dieser Themen werden heute in einer feministischen Bioethik weiterdiskutiert (siehe 3.2). Andere Themen wie Pornografie oder Frauenhandel werden durch die wichtige Rolle des Internets in einer feministischen Informations- und Computerethik wieder aufgenommen (siehe 3.3). In Ansätzen entwickelt sich zudem eine feministische Wirtschaftsethik (vgl. Derry 1999), die Fragen wie ungleiche Güterverteilung, den Ausschluss von Frauen aus dem Wirtschaftsleben und ihre Benachteiligung am Arbeitsplatz aufnimmt, wie sie ebenfalls von Beginn an in der feministischen Ethik zur Debatte standen. Ein weiterer wichtiger Problembereich ist nach wie vor die allgemeine Frage nach Chancengleichheit, nach politischer Teilhabe (Partizipation) und den Möglichkeiten und Grenzen der so genannten positiven Diskriminierung bzw. Quotierung. In den folgenden drei Abschnitten werde ich an ausgewählten Problemfeldern exemplarisch aufzeigen, zu welchen kritischen Anfragen, Sichtweisen, Bewertungen und Vorschlägen eine feministische Ethik unter den Gesichtspunkten von Sorge, Gleichheit und Gerechtigkeit, Freiheit und Autonomie führt.
3.1
Quotierung
Grundsätze der Gerechtigkeit spielen beispielsweise in der Debatte um "Quotierung" bzw. positive Diskriminierung eine zentrale Rolle. Allgemein geht es bei Quotierung um die bevorzugte Behandlung von Frauen und Angehörigen diskriminierter Minderheiten bei der Vergabe von Arbeits- und Ausbildungsplätzen, Stipendien, Ämtern, Funktionen etc. (Rössler 1993, 8). In der Bundesrepublik sind vor allem Quotenregelungen in Diskussion, die im Falle von Stellenvergaben bei gleicher Qualifikation Frauen vorMännernden Vorzug geben, bis in dem betreffenden Tätigkeitsfeld eine annähernd gleiche Repräsentanz von Frauen und Männern
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erreicht ist.' 8 Diese Verfahren sind als Mittel gedacht, im Sinne der Geschlechtergerechtigkeit auch Frauen mit männerdominierten (und damit meist besser bezahlten und/oder angeseheneren) Positionen zu betrauen. Wie steht es um die Gerechtigkeit dieser Verfahren? Während Gegner(innen) sich darauf berufen, dass mit Quoten das Recht derMännerauf Gleichbehandlung verletzt werde, hielten einige Befiirworter(innen) entgegen, dass in einer gerechten Gesellschaft die Lasten und Profite, die eine Gesellschaft zu vergeben hat, so gerecht wie möglich verteilt sein sollten und alle gesellschaftlich relevanten Gruppen auf allen Ebenen der Gesellschaft in der ihnen zahlenmäßig angemessenen Weise repräsentiert sein sollten. Wenn eine Gruppe nicht entsprechend repräsentiert ist, wird dies als ein Zeichen dafür gesehen, dass die Gesellschaft ungerecht strukturiert ist. Quotenregelungen werden aus dieser Sicht aus Gerechtigkeitsgesichtspunkten so lange gefordert, bis der gerechte Zustand hergestellt ist. Rechte von Männern würden hier nicht verletzt, da in ungerechten Kontexten kein formales Recht auf gleiche Behandlung geltend gemacht werden könne (vgl. Rössler 1993, 18t). So würde nur weiterhin ein ungerechter Zustand verfestigt. Formale Gerechtigkeit fordere nur bei gerechten Bedingungen Gleichbehandlung, denn bei ungerechten Voraussetzungen profitieren die bereits Bevorzugten am meisten. Gegenwärtig würden keine gerechten Verhältnisse vorliegen. Nur wer irrtümlicherweise meint, die gegenwärtige Situation sei schon gerecht, könne sich in seinen Rechten beschnitten fiihlen. Vorenthalten würden in dieser Sicht nicht Rechte, sondern bloß ungerechtfertigte Privilegien. Andere Befiirworter(innen) der Quotierung berufen sich auf Grundsätze der ausgleichenden bzw. der wiederherstellenden Gerechtigkeit. Diese Dimension fordert, dass ein als gerecht beurteilter Zustand wieder herzustellen ist, wenn er gestört wurde. In der Debatte um Quotierung wurde argumentiert, dass aufgrund vergangener und gegenwärtiger Diskriminierungen bei der Vergabe von Stellen das an Frauen begangene Unrecht wieder gut gemacht werden müsse (z. B. Thomson 1993). Als problematisch wurde hierbei gesehen, dass nicht mehr unbedingt derjenige für Kompensation sorgen muss, der das Unrecht selbst begangen hat, sondern möglicherweise ein Mann geradestehen muss, der selbst nicht willentlich beteiligt war (vgl. Rössler 1993, 14-19). Entscheidend für eine moralische Beurteilung von Quotenregelungen bleibt zudem, ob sie zur Herstellung von Geschlechtergerechtigkeit über18
Es ist also verboten, eine Frau einzustellen, wenn ein besser qualifizierter Mann zur VerfUgung steht.
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hauptein geeignetes Mittel sind und ob es hierfür weniger umstrittene Wege gibt. Negativ wird von feministischen Ethiker(inne)n auch angemahnt, dass solche Maßnahmen nur Frauen helfen, die einem männlichen Lebensstil folgen (können). Damit werde die traditionelle männliche Sicht von Erfolg und der Bewertung einer Tätigkeit nicht angetastet. Als Alternative wird von dieser Seite vorgeschlagen, Arbeit von gleichem Wert gleich zu bezahlen, unabhängig davon, ob es sich dabei um traditionelle Frauenoder Männerarbeit handelt. Dazu zählen beispielsweise Forderungen nach einer Entlohnung von Familienarbeit (vgl. Krebs 2002).
3.2
Reproduktion, Behinderung, Gesundheit
Lange Zeit waren in Problembereichen, die auch der Bioethik zugeordnet werden, nur dort das Geschlecht und damit eine mögliche Benachteiligung von Frauen ein Thema, wo es unvermeidlich schien. Dies trafbeispielsweise auf Fragen der Reproduktion und der Pflege zu, die fast ausschließlich von Frauen geleistet wird (Wolf 1996, 4f). Seit den 90er Jahren trägt die feministische Ethik verstärkt dazu bei, die Situation von Frauen und ihre Benachteilung in Fragen der Reproduktion, der Gesundheit und dem Gesundheitswesen zu untersuchen. Sie fragt beispielsweise, in welcher Form die Bedürfnisse von Frauen betroffen sind, ob und wie sie in einer moralischen Beurteilung berücksichtigt werden und ob durch Handlungen und Praktiken auf diesen Gebieten die Freiheit und Autonomie von Frauen vermehrt oder vermindert wird. So klagen feministische Ethiker( innen) beim Thema Abtreibung ein, den Interessen und Sichtweisen von Frauen gleiche Berücksichtigung zukommen zu lassen. Selbst bei einem solchen Thema ist dies durchaus nicht selbstverständlich. Insbesondere verweisen manche darauf, dass Frauen bei (ungewollten) Schwangerschaften die größten Kosten tragen und es zumeist ihr Leben sei, das sich damit grundlegend ändert. Aber auch Grundlegenderes wird thematisiert, z. B. die Frage, inwiefern die Art und Weise, wie das Problem behandelt wird, ignoriere, dass es sich bei einer Schwangerschaft um Prozesse des Körpers einer Frau handelt (nicht nur im Körper einer Frau). Dies führt schnell zu theoretischen Fragen: Sollte das Problem der Abtreibung als ein Problem von moralischen Rechten gesehen werden? Wird damit nicht ein Begriff, der sich in politischen Zusammenhängen als äußerst wichtig und brauchbar erwiesen hat, in einen Lebensbereich über-
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nommen, in dem die Bedingungen fUr eine brauchbare Anwendung gar nicht gegeben sind, z. B. das Vorhandensein von zwei weitgehend unabhängig voneinander handlungsfähigen Personen, die ihre Lebens- und Entscheidungsbereiche aufeinander abstimmen und voneinander abgrenzen wollen? Margaret Little will in der moralischen Beurteilung von Abtreibung darauf Rücksicht genommen sehen, was es heißt, an einem Prozess des Schöpfens (engl. creating) einer Person beteiligt zu sein. Schwangersein und Mutterwerden sei nicht irgendeine Tätigkeit, sondern das Teilen des eigenen Körpers und womöglich eines ganzen Lebens. Die moralischen Ideale, die hiermit verbunden seien und fUr eine moralische Beurteilung wesentlich seien, kämen nicht in den Blick, wenn alles auf den Status des Embryos konzentriert sei: " ... a woman living in a country marked by poverty and gender apartheid wants to abort because she decides it would be wrong for her to bear a daughter whose life, like hers, would be filled with so much unjustice and hardship .... For some, the sanctity of developing human life will be strong enough to tip the balance toward continuing the pregnancy; ... " (Little 2003, 323).' 9 Auch in Bezug auf die neuen Reproduktionstechnologien wie die Invitro-Fertilisation (IVF)- bei der aus dem Körper einer Frau Eizellen entnommen und mit Sperma zusammengebracht werden, um eine Zeugung im Labor durchzufUhren und wenige Tage danach einige der befruchteten Eizellen in die Gebärmutter einer Frau zu übertragen- stellt die feministische Ethik die Frage, was diese fUr die Lebenssituation und Benachteiligung von Frauen bedeuten. Sind sie ein Mittel zu mehr Geschlechtergerechtigkeit, zu einer Verbesserung der Lage von Frauen? Von einigen wird dies durchaus so gesehen. Nun könnten selbst Frauen, die ansonsten ihren Kinderwunsch nicht erfiillen können, dies tun. Auch Frauen, die mit der Erfiillung ihres Kinderwunsches bis in ihre weniger fruchtbaren Lebensjahre zuwarteten, hätten nun bessere Aussichten. Doch hier setzt zugleich Kritik ein, wenn das Hindernis, das die Erfiillung des Kinderwunsches bis dahin verhinderte, das Ergebnis dubioser sozialer Praktiken ist. So erfordert das auf stereotyp männliche Lebensmuster zugeschnittene Karrieresystem, dass Frauen mit ihrer Reproduktion bis in ihre weniger fruchtbaren Lebensjahre zuwarten (Purdy 1996, 78f). Deshalb verlangt Sherwin (1993, 19
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" ... eine Frau, die in einem Land lebt, das durch Armut und Geschlechterapartheid geprägt ist, will abtreiben, weil sie entscheidet, dass es für sie falsch wäre, eine Tochter zu gebären, deren Leben wie ihres mit so viel Ungerechtigkeit und Härten gefiillt wäre .... Für manche wird die Heiligkeit des sich entwickelnden menschlichen Lebens so schwer wiegen, dass sie den Ausschlag dafür gibt, die Schwangerschaft fortzusetzen" (Übersetzung A. S.).
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230f), dass die sozialen Bedingungen und kulturellen Werte untersucht werden müssten, die dem Entschluss zugrunde liegen, die Risiken von IVF für eine biologische Elternschaft in Kauf zu nehmen. Werde Frauen eingeredet, ihr höchstes Ziel im Leben bestehe darin, Kinder zu gebären und aufzuziehen, blieben Kinder die einzige Hoffnung auf die Erfiillung des Lebens, die sich aus einer als nützlich erachteten Arbeit ergibt. In diesem Fall sei die Entscheidungsfreiheit nur eine vermeintliche. In Sherwins Beurteilung droht die IVF, die sich als größere Freiheit in der Familienplanung darbietet, in Wirklichkeit zu einer beachtlichen Verringerung dieser Freiheit zu führen. Aber auch Ethiker(innen), die die IVF grundsätzlich begrüßen, verweisen auf Bereiche, in denen die Bedürfnisse der Frauen nicht genügend berücksichtigt werden. Bei einer IVF werden den Frauen verschiedene Hormone verabreicht, und es müssen die herangereiften Eizellen entnommen werden, was von feministischen Ethiker(inne)n als eine Belastung für die Frauen hervorgehoben wird. Durch die Hormonbehandlung reifen zudem meist mehrere Eizellen heran, und es werden gewöhnlich mehrere Eizellen befruchtet. Für die Frauen ist es ein entscheidender Unterschied, wie viele Eizellen befruchtet werden, wie viele der befruchteten Eizellen ihnen übertragen werden und in welchem Entwicklungsstadium sie übertragen werden. Überzählige befruchtete Eizellen zu vermeiden bzw. zu verhindern, senkt, wenn von vornherein nur wenige befruchtet werden, die Erfolgschancen und damit das Risiko, die belastende Behandlung umsonst durchgeführt zu haben. Wenn alle befruchteten eingesetzt werden, sind andererseits komplikationsreiche und für die schwangere Frau bedrohliche Mehrlingsschwangerschaften die Folge. Ähnlich gehen die Positionen bei der Pränatal- und Präimplantationsdiagnostik (PND bzw. PID) auseinander. Es wird darauf verwiesen, dass diese nicht in einem geschlechtergerechten Umfeld stattfinden. Die Sorge für verletzliche, aber abhängige Wesen wird vor allem Frauen zugeteilt. Deshalb sind es diese, deren Leben am stärksten von einem behinderten Kind betroffen sein wird. Gleichzeitig entsteht mit der Möglichkeit, eine (mögliche) Behinderung zu diagnostizieren und eine Schwangerschaft nicht herbeizuführen oder zu beenden, ein Entscheidungsdruck, der wiederum vorwiegend auf Frauen lastet. Wird Druck in die Richtung der Verhinderung von Behinderten ausgeübt oder auch dahingehend, die weitere Entwicklung des Embryos oder Fötus auf alle Fälle zuzulassen, wird die Entscheidung keineswegs autonom gefallt. Nicht zuletzt diese Diagnosemöglichkeiten haben deutlich gemacht, dass sich die feministische Ethik mit dem Thema Behinderung auseinander
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setzen muss. Es wird in diesem Zusammenhang untersucht, in welcher Weise behinderte Frauen einer doppelten Benachteiligung unterliegen (als Frauen und als Behinderte). Relevante Unterschiede in der Lage von behinderten Frauen und Männern haben sich in zentralen Lebensbereichen wie Berufsleben, Partnerschaft und Sexualität gezeigt. Spezielle Förderprogramme für die Berufsausbildung von Behinderten orientieren sich an Bedürfnissen von Männern. Behinderte Frauen finden seltener einen Partner als behinderteMännereine Partnerin (vgl. Hermes/Faber 2001). Ein Grund für Letzteres wird darin vermutet, dass dem traditionellen Rollenmodell entsprechend ein Mann leichter auf eine fürsorgliche Frau hoffen dürfe als eine Frau auf einen fürsorglichen Mann, ohne mit den Geschlechtererwartungen zu brechen. Behinderte Frauen beklagen darüber hinaus zunehmend, dass sie in der Regel als geschlechtliche Neutren wahrgenommen werden, als Behinderte, die nebenbei weiblich seien. Während nichtbehinderte Frauen seit Jahrzehnten dafür kämpfen, vom sexuellen Objekt zum sexuellen Subjekt zu werden, mussten behinderte Frauen ihren Weg zur Anerkennung ihrer Sexualität als asexuelle Objekte beginnen. Von Seiten behinderter Frauen wird aber auch Kritik an der Sorge-Ethik geäußert. Sie teile Frauen in Sorgende und Abhängige ein und mache die Erfahrungen von Frauen, die selbst Hilfe benötigen, unsichtbar (Morris 1996, Siegetsleitner 2004). Diese Sicht wird von Susan Wendeli (1996) geteilt, die sich eingehend mit der Bedeutung von Schmerz und Behinderung auseinander setzt und betont, dass die feministische Ethik die Erkenntnisse von Menschen mit Behinderung brauche. Auch die Thematik, was als Krankheit und was als normaler körperlicher oder psychischer Prozess angesehen wird, hat einen Bezug zur Lebenssituation und der Benachteiligung von Frauen. Körperliche Prozesse von Frauen gelten häufig als Abweichung, und selbst statistisch normale Veränderungen bei Frauen werden deshalb als medizinisch problematisch angesehen. So wird die Menopause zur Krankheit des Östrogenmangels erklärt. Hormonersatztherapie kann in individuellen Fällen angebracht sein, aber die feministische Ethik beschäftigt sich auch mit systemischen Effekten von Praktiken, die im individuellen Fall durchaus gerechtfertigt scheinen (Crosthwaite 1998, Sherwin 1998b und Rogers 1999). Hingewiesen wird darüber hinaus auf die Benachteiligung von Frauen in der Gesundheitsforschung. So wurde in der feministischen Ethik unter anderem bemängelt, dass die Erforschung der Wirksamkeit von Medikamenten überwiegend bis fast ausschließlich an erwachsenen Männern erfolgt(e), ungeachtet der Folgen einer Anwendung dieser Medikamente an Frauen
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und Mädchen (und Jungen). 20 Als Rechtfertigung wurden der weibliche Hormonzyklus und die Möglichkeit von Schwangerschaft angeführt, die die Forschung komplizierter und teurer machen würden (Crosthwaite 1998). Feministische Ethiker( innen) lenken ihr Augenmerk zudem auf die Benachteiligung von Frauen durch das Gesundheitswesen allgemein. Sie befassen sich u. a. mit dem Umstand, dass der Gesundheitsbereich eine hoch geschlechtsspezifische Arbeitsaufteilung aufweist (Crosthwaite 1998). Frauen dienen als un- oder unterbezahltes PflegepersonaL Die Pflege wird als weibliche Domäne gesehen, die Heilung als männliche und damit höher bewertet, was sich nicht zuletzt in der Entlohnung ausdrückt (vgl. Miles 1991, Kuhse 1997). Zunehmend wird auch die Frage der Ressourcenverteilung unter dem Blickwinkel der Benachteiligung von Frauen untersucht. Kürzungen bei Spitalsaufenthalten resultieren in einer verstärkten häuslichen Pflege, die meist unbezahlt von Frauen geleistet wird. Nicht selten sehen sie sich deshalb zu Teilzeitarbeit oder zur gänzlichen Aufgabe ihrer Anstellung gezwungen. Nicht zuletzt widmen sich feministische Ethiker(innen) der Art der akademischen und öffentlichen Auseinandersetzung mit bio- und medizinethischen Themen. So wird untersucht, wer sich zu den Problemen äußert. Äußern sich Männer und Frauen gleich häufig? In welcher Rolle treten Frauen und Männer im Diskurs auf? Treten Frauen als die Betroffenen auf, an denen die Behandlungen durchgeführt werden, und Männer als die handelnden Entwickler und Anwender? Werden Frauen nur als Rohstoffquelle von Eizellen betrachtet (siehe Pelkner 2001)?
3.3
Neue Informations- und Kommunikationstechnologien
Neben den Bio- und Reproduktionstechnologien werden in der feministischen Ethik Technologien untersucht, die in der herkömmlichen Geschlechtereinteilung weniger schnell mit "Frauen" in Verbindung gebracht werden. Dort wird ebenfalls die Frage gestellt, in welcher Form diese Technologien die Lebenssituation von Frauen und die Geschlechtergerech20
Seit der Novellierung des Arzneimittelgesetztes 2004 darf in der Bundesrepublik im Zulassungsverfahren klinischer Prüfungen die Genehmigung versagt werden, wenn die Prüfung ungeeignet ist, "den Nachweis der Unbedenklichkeit oder Wirksamkeit eines Arzneimittels einschließlich einer unterschiedlichen Wirkungsweise bei Männem und Frauen zu erbringen"(§ 42 (1 ), Abs. 2; Bundesgesetzblatt Jahrgang 2004, Teil I, Nr. 41, ausgegeben zu Bonn am 5. August 2004).
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tigkeit beeinflussen. Dies trifft z. B. auf die neuen Informations- und Kommunikationstechnologien (ICTs} zu. Die feministische Ethik interessiert beispielsweise, ob diese neuen Technologien bestehende Benachteiligungen von Frauen verstärken oder ihre Lebenssituation verbessern. Außerdem wird untersucht, ob es zwischen den Geschlechtern, ähnlich wie dies fiir verschiedene Gesellschaftsgruppen und in einer globalen Perspektive befiirchtet wird, zu einer digitalen Spaltung (eng!. digitalgapoder digital divide) zum Nachteil der Frauen kommt. Ich werde im Folgenden vor allem auf Problembereiche eingehen, die das Internet betreffen. Gerade im Zusammenhang mit dem Internet wurden "traditionelle" Fragen der feministischen Ethik in den letzten Jahren neu diskutiert. Dabei handelt es sich v. a. um die Problembereiche Frauenhandel, Zwangsprostitution und Pornografie. Es steht zur Debatte, ob mit Hilfe des Internets in diesem Zusammenhang die Lebenssituation von Frauen verschlechtert wird. Jährlich werden geschätzte vier Millionen Menschen, vorwiegend Frauen und Mädchen, gehandelt. Der Verkaufvonjungen Frauen ist einer der am schnellsten wachsenden Bereiche der internationalen Kriminalität, wobei das Internet neue Mittel zur Ausbeutung, zum Marketing und dem Vertrieb von Frauen und Mädchen an männliche Käufer eröffnet hat. Donna Hughes weist daraufhin, dass sich üblicherweise die Ausbeutung verstärkt, wenn eine neue Technologie in ein System von Ausbeutung eingeführt wird. Nach Einschätzung von Hughes würde das Internet zwar ohne diese Bereiche bestehen, aber ohne diese würde es nicht in diesem Ausmaß wachsen. Als Beleg führt sie u. a. die Situation im Jahre 1998 an, als ihren Recherchen zufolge die Sexindustrie - also der Bereich Frauenhandel, Zwangsprostitution und Pornografie - unter den fiinf größten Gruppen war, die Computertechnologie auf dem neuesten Stand kauften. Im seihen Jahr betrafen 69 Prozent der Verkäufe von Internetinhalten pornografisches Material. Im Mai 1999 sponserten sogar die Zeitschrift"The Industry Standard- The Newsmagazine ofthe Internet Economy" und das IT-Unternehmen Sun Microsystems ein Seminar mit dem Titel: "The Frontier of Business and Technology: What You Can Learn from the Online Sex Industry". Viele der Internet-Entwicklungen wurden zuerst von der OnlineSexindustrie forciert: Schutz der Privatsphäre, Sicherheit, schnelle Geldtransaktionen, Datenmanagement Eines der Einsatzfelder des Internets betrifft hierbei die Bewerbung von Sextourismus. Neben der Reisebuchung nützen Männer nach ihrer Rückkehr Internet Newsgroups wiederum dazu, "nützliche" Informationen weiterzugeben (Hughes 2000). Was pornografische Inhalte betrifft, handelt es sich dabei um einen der umstrittensten In-
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halte des lnternets. Von feministischen Ethiker(inne)n wird zum einen hervorgehoben, dass reale Frauen benutzt werden, um die oftmals Frauen unterdrückenden und gewalttätigen Inhalte herzustellen. Dies ist u. a. ein wichtiger Gesichtspunkt in der Bewertung von Pornografie von Catharine MacKinnon (MacKinnon 1994 [1993]). Zum anderen wird gerade von jenen, die die Sichtweise von MacKinnon teilen, des Weiteren behauptet, dass der Konsum von Frauen unterdrückender und gewalttätiger Pornografie zu entsprechendem Sexualverhalten fiihre. Fest steht, dass durch das Internet der Zugang und der Austausch von pornografischem Material allgemein erleichtert wurde. Und sollte die Annahme des Zusammenhangs von Konsum und Praxis stimmen, dann wäre das Internet ein Instrument zur Verschlechterung der Lebenssituation von Frauen. Mit dem Internet sind jedoch auch Hoffnungen verbunden, die bestehenden Geschlechterrollen aufzubrechen, einen Raum zur Verfügung zu haben, in dem sich Frauen gleichberechtigter bewegen können als im "realen" Leben, und neue Verdienstmöglichkeiten fiir Frauen zu schaffen. Bisherige Erfahrungen legenjedoch nahe, dass die reale Welt im Internet abgebildet wird. Ein solches Phänomen ist das so genannte Cyberstalking, eine extreme Form der Belästigung im Internet. Feministische Ethiker( innen) behaupten, dass sich dieses Problem nur verstehen und auch beseitigen ließe, wenn verstanden werde, dass es sich um ein Problem handelt, das das Geschlechterverhältnis betrifft. Die Mehrheit der Opfer seien Frauen, die Mehrheit der Belästigenden Männer. Wie sexuelle Belästigung in der realen Welt basiere Cyberstalking auf dem Hintergrund von Machtungleichheiten. In einer optimistischen Einstellung wurden Frauen aufgrund der Möglichkeiten des Internets auch dazu ermutigt, Telearbeit zu leisten oder ihr eigenes kleines Unternehmen von zu Hause aus zu betreiben. Aus feministischer Sicht wurde dem mit Vorbehalt begegnet. Jahrzehntelang wurden Frauen dazu angehalten, die private Sphäre zu verlassen und sich im öffentlichen Raum (einschließlich der Erwerbsarbeit) zu engagieren. Zwar wird Telearbeit als Chance fiir Frauen gesehen, die keine Möglichkeit haben, trotz Kinder außer Haus zu arbeiten, doch bringt dies einen Rückzug mit sich, der wieder zu Isolation fiihren könne und noch dazu mit einer zusätzlichen Arbeitsbelastung. Ein weiterer großer Problembereich liegt im bereits erwähnten digital gender gap, dem Spalt zwischen Frauen und Männern im Zugang und der Nutzung des Internets. Gibt es eine solche Spaltung? Wie ist diese moralisch zu beurteilen? Die Welt der Computer wurde in den 1980er Jahren durch ihren Bedeutungszuwachs zunehmend zur Männerwelt. Männer ha-
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ben noch immer mehr Computer als Frauen, verbringen mehr Zeit mit ihnen und dominieren im Cyberspace. Der Geschlechtsunterschied hinsichtlich der Computerwelt war jedoch nicht von Anfang an gleich groß. In Großbritannien waren z. B. 1978 noch 28 Prozent der Informatikstudierenden Frauen; im Studienjahr 1985/86 war die Zahl bereits auf 13 Prozent gefallen. Als Computer an den Schulen noch etwas Neues waren, waren sie nicht exklusiv männlich defmiert. Je bedeutender Computer wurden, um so mehr hätten sich Frauen ferngehalten oder wurden ferngehalten (Spender 1996, 179f). Generell ist zu beobachten, dass viele Frauen einstellungsmäßig (noch) einen anderen Zugang zur Informations- und Kornmunikationstechnologie haben als viele Männer. So legt beispielsweise der vorherrschende "männliche" Zugang besonderen Wert auf Speicherkapazitäten und Prozessorleistungen, wohingegen Frauen mehr daran interessiert sind, ob die neue Technologie ein funktionsfähiges, arbeits- und lebenserleichterndes Instrument ist. Meist wird im Umgang mit den neuen Technologien zudem unterstellt, dass zur Bedienung fundierte technische Kenntnisse nötig seien, was viele Frauen ängstlich damit umgehen lässt und unnötige Unsicherheit und Distanz schafft. "Die negative Reaktion von Mädchen auf Computer muß im Kontext der allgemeinen Beziehung von Frauen zu Wissenschaft und Technologie erklärt werden. Und die ist nicht gut" (Spender 1996, 185). Sherry Turkle vom Massachusetts Institute of Technology (MIT) gehört zu den Pionier(inn)en auf dem Gebiet geschlechtsspezifischer Untersuchungen der Beziehung zu Technologie. Sie fmdet es nicht überraschend, dass Maschinen, die mit Männlichkeit assoziiert werden, Frauen nicht anziehen: "Das ist das Erbe der weiblichen Sozialisation in bezugauftechnische Objekte. Für viele läßt sich das am besten in der Warnung zusammenfassen: ,Faß es nicht an, du könntest einen Schlag bekommen"' (Turkle zit. nach Spender 1996, 186). Im Unterschied dazu erwarten Frauen beim Telefon nicht, dass sie sich in den technischen Details auskennen müssen, um es nutzen zu können. Als das Telefon eingeführt wurde, galt es noch für Frauen als unpassend. Inzwischen haben es Frauen zu ihrer ureigensten Technologie gemacht. Sie hätten nicht das dringende Bedürfuis, zu wissen, wie es funktioniert, oder daran herumzubasteln, sondern sie wollen es nutzen, denn Frauen leisten am Telefon Beziehungsarbeit. Es ist für sie ein Mittel, um in Verbindung zu bleiben, Kontakte zu erhalten und ein Netzwerk aufzubauen - eine Cybergemeinschaft (Spender 1996, 203). In dem Maße, in dem das Internet als Kommunikationsmedium gesehen wird, werde sich auch der Zugang der Frauen zum Internet erleichtern, vermutet deshalb Dale Spender. In der Bundesrepublik
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liegt der Spalt in der Internetnutzung seit 2001 zwischen 13,6 und 16,7 %. 2004 betrug er 14,8 %; es waren 60,4% der Männer, aber nur 45,6% der Frauen online (Frauen geben Technik neue Impulse e. V. 2005, 7). Dieser gender gap im Zugang zum Internet und seiner Nutzung wird nicht nur als Ungleichheit, sondern als Ungerechtigkeit zwischen den Geschlechtern wahrgenommen. Wer es als moralisch wünschenswert erachtet, dass mehr Frauen zum Internet Zugang haben und über die Kompetenzen verfugen, dieses auch zu nützen, geht davon aus, dass ein solcher Zugang bzw. die Nutzung ein (zumindest instrumentelles) Gut darstellt. Zur Stützung dieser Ansicht wird darauf hingewiesen, dass Internetnutzung in Industrienationen notwendig sei, um am Arbeitsleben und damit -einkommen teilhaben zu können. Wo die Verwaltung und der politische Austausch zum Großteil über das Internet stattfmden, wird es auch zur unerlässlichen Voraussetzung fiir eine Teilhabe an demokratischen Prozessen. Wer zudem davon ausgeht, dass das Internet Macht verschafft, befurchtet bei einer ungleichen Nutzungsmöglichkeit eine Verstärkung des ungleichen Machtverhältnisses zwischen Männern und Frauen.
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Ausblick
Für die Zukunft eröffnet sich ein weites Feld von Untersuchungen fiir die feministische Ethik als Angewandte Ethik. Es ist nicht zu erwarten, dass es hier mehr einstimmige Sichtweisen und Analysen geben wird als von anderen Ethiker(inne )n, aber der Diskurs ist eröffnet und wird fiir die Angewandte Ethik eine zunehmende Herausforderung werden.
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Sportethik Reyk Albrecht
Einleitung "Moskau/Los Angel es (dpa). Die russische Hallen-Weltmeisterin Anastasia Kapatschinskaja ist endgültig des Dopings überfiihrt und muss mit einer Zwei-Jahres-Sperre rechnen. Wie die russische Agentur ITARTass meldet ... ist auch dieB-Probe der Weltmeisterin über 200m positiv getestet worden ... Bereitsam Donnerstag (Ortszeit) hatte die amerikanische Anti-Doping-Agentur die Hammerwerfer Melissa Price und John McEwen fiir zwei Jahre gesperrt." (01.05.2004)
Diese oder ähnliche Meldungen gehören bereits zu den gewohnten Nachrichten aus der Welt des Sports und es gibt Zeiten, in denen die Berichterstattung über das Doping selbst die Meldungen über sportliche Ergebnisse weit in den Hintergrund treten lässt. Nach und nach kommen immer mehr Sportarten in den Blickpunkt, bei denen bisher Doping kategorisch ausgeschlossen wurde, wie z. B. der Fußball. Nahezu jedes sportliche Großereignis hat dabei seine spektakulären Dopingfalle. Als Reaktion darauf gibt es in ähnlicher Regelmäßigkeit sowohl die Forderung nach einer Verschärfung der Dopingsanktionen als auch vehemente Plädoyers fiir eine Dopingfreigabe. Wie sollte die Gesellschaftjedoch mit dem Doping im Sport und speziell im Leistungssport umgehen? Sollte sie das Dopingverbot weiter aufrecht erhalten und gar verschärfen oder sollte sie das Doping freigeben und jeden Sportler selbst entscheiden lassen, ob er Dopingmittel einnehmen möchte oder nicht? Die durch die Gentechnologie entstehenden neuen Möglichkeiten des Dopings steigern die Brisanz dieser Frage zusätzlich.' Wie soll man handeln? Auf welcher Basis sollte man eine Entscheidung
Auch die Aufnahme des Gendopings in die Dopingliste weist auf entsprechende Erwartungen hin.
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treffen? Welche Rechte und Pflichten hat eine Gesellschaft dabei zu berücksichtigen? Bei dem Versuch einer seriösen Beantwortung dieser Fragen begegnet man unweigerlich der Ethik- deren Überlegungen sich bereits seit tausendenvon Jahren um eben diese Fragen ranken. Ja mehr noch- bewusst oder unbewusst befindet man sich bereits mitten im Feld der Ethik und in unserem Fall im Bereich der Ethik des Sports. Der Fall des Dopings ist dabei nur ein Beispiel, wenn auch ein sehr prägnantes, für die Herausforderungen der Sportethik Sportethische Themen fanden bereits Eingang in die Überlegungen der Gründungsfiguren der Philosophie. Bei Platon (1958, 150 (Pol376e)) findet sich z. B. die Frage, welche körperliche Belastung bei Jugendlichen angebracht ist. Bis heute stellen sich diese und immer wieder neue Fragen für die Sportethik, wie z. B. Fragen nach dem richtigen Umgang mit Tieren oder der Umwelt im Sport. Aufgrund dieser Relevanz der Sportethik ist es verwunderlich, dass sie bisher nur in wenigen Handbüchern und Einführungen zur Allgewandten Ethik zu fmden ist_l Eine mögliche Erklärung für diese geringe Rezeption ist, dass andere Bereiche der Ethik eine größere Dringlichkeit zu haben scheinen. 3 Dringlichkeit istjedoch kein zuverlässiger Indikator für die Bedeutung eines Themas.< Das nachfolgende Kapitel gibt einen Überblick über die Sportethik. Die einführende Darstellung des Sports soll dabei deren Gegenstand klären. Im Anschluss daran werden verschiedene Versuche dargestellt, das Gebiet der Sportethik abzugrenzen. Diese Einführung mündet im zweiten Teil des Kapitels in die Behandlung der Frage, wie konkrete sportethische Problemfelder angegangen werden können.
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z. B. bei Edgar (1998); Pawlenka (2004, I Of) macht darauf aufinerksam, dass der Begriff der Sportethik auch in den bekannten Handbüchern der Ethik mit Ausnahme des "Philosophie Lexikon" des Metzler Verlages (Court 1996, 559) nicht enthalten ist. Vgl. auch Pawlenka (2004b, 11), sie nennt hier den Bereich der Bioethik. Neben der steigenden Zahl sportethischer Schriften zeigen auch politische Initiativen die Bedeutung sportethischer Fragen. So verabschiedete der Europarat im Jahre 1992 die Europäische Sportcharta und den Kodex für Sportethik Neben den dabei behandelten Fragen von Fairness und Gewalt im Sport nahm sich der Europarat bereits 1989 mit der ,,Anti-Doping Konvention" der Frage des Dopings gesondert an (COE 2004).
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Sport
Es gibt verschiedene Wege, sich der Frage zu nähern, was unter Sport zu verstehen ist. Einer besteht in der direkten Erfahrung dessen, was wir als Sport bezeichnen, z. B. bei einem Volleyball- oder Badmintonspiel mit Freunden. Eine andere Möglichkeit liegt in der Beobachtung, z. B. auf dem Fußballplatz oder via Fernsehen. Eine dritte Variante ist die Untersuchung der Ursprünge und Entwicklungslinien des Sports. 5 Schließlich kann die Auseinandersetzung mit Beobachtungen und Überlegungen Dritter einen wertvollen Beitrag zur Schärfung des eigenen Blickes leisten. Das, was unter dem Namen Sport gefasst wird, besitzt eine große Bandbreite. Neben den Disziplinen der Leichtathletik, des Wasser- oder Wintersports sind dies verschiedenste Bereiche des Motorsports oder des Sports mit Waffen, aber auch das private Jogging oder Schachspiel. Diese Vielfalt wird durch Neuschöpfungen von Sportarten weiter erhöht (vgl. Korff 1999, 512). Ein Beispiel ist hier die Entwicklung des Snowboardens. Zur gleichen Zeit verschwinden andere Sportarten aus dem Bewusstsein der Menschen, wie z. B. der Weitsprung aus dem Stand- der einst olympisch war. Wie lässt sich dabei abgrenzen, was genau unter Sport zu verstehen ist? Ist z. B. das Schachspiel ein Sport? Wie verhält es sich dann mit anderen Brettspielen? Ist für den Sport immer auch eine erhöhte körperliche Aktivität notwendig oder ist ein spielerisches, zweckfreies Moment für die Konstitution des Sports entscheidend? Auf diese Fragen versuchen eine Reihe von Definitionsansätzen Antworten zu finden. Anknüpfend an Pawlenka (2002, 54ft) sollen diese im Folgenden kurz vorgestellt werden. 6 Der Sport ist im allgemeinen Sprachgebrauch eng an Aspekte körperlicher Tätigkeit gebunden. Nimmt man dies als einzige Basis für eine Definition, so bereitet die Bezeichnung des Schachs als Sport Schwierigkeiten -hier scheint zu wenig körperlicher Einsatz vorhanden zu sein. Wäre dieser jedoch das einzige Kriterium für die Abgrenzung, wieso sollte man dann die verschiedenen Arten der körperlichen Arbeit vom Sport ausschließen? Die körperliche Arbeit (z. B. im Bergbau) als Sport zu bezeichnen, scheint jedoch unangebracht. 5 6
Einen Überblick über die Sportgeschichte bietet z. B. Leis (2003). Ausgehend von Wittgensteins kritischen Ausfilhrungen zur Möglichkeit von Definitionen wird der Versuch, den Begriff des Sports zu definieren, auch kritisch betrachtet (vgl. Pawlenka 2002, 58). Die praktische Arbeit an einem Beobachtungsgegenstand verlangt jedoch nach einer Eingrenzung und so gibt es trotz dieser Schwierigkeit verschiedene Versuche, das Phänomen des Sports zu fassen. Zur Notwendigkeit der Eingrenzung des Sports siehe auch Volkarner (1984, 196).
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Damit sind weitere Überlegungen notwendig. Nach Meier (1981, 94) ist der Sport dem Spiel' verwandt. Hinzu kommen bei ihmjedoch die Komponenten der körperlichen Fähigkeiten und Leistungen. Weitgehende Einigkeit besteht darin, dass ein Spiel durch Regeln konstituiert wird (Kretchmar 2004, 51 oder Pawlenka 2004b, 13). 8 Die Charakteristika eines Regelspiels9 defmiert Suits (2004a, 41) wie folgt: "Ein Spiel spielen ist der Versuch, einen bestimmten Sachverhalt zu erreichen, wobei man nur die durch die Regeln zugelassenen Mittel verwendet, wo die Regeln den Gebrauch effizienterer Mittel zugunsten weniger effizienter verbieten, und wo solche Regeln nur deshalb akzeptiert werden, weil sie eine solche Tätigkeit ermöglichen."
Damit könnte man sagen: " ... daß Spiele zielgerichtete Tätigkeiten sind, in denen ineffiziente Mittel absichtlich (oder vernünftigerweise) gewählt werden" (Suits 2004a, 30). Pawlenka (2004c, 103) beschreibt in Anlehnung daran den Sport als Gebilde "nicht-notwendiger" Hindernisse. Mit dieser Definition kann körperliche Arbeit als Teil des Sports ausgeschlossen werden, denn hier würden nicht freiwillig "ineffiziente Mittel" verwendet. Kritisch zu fragen bleibt jedoch, ob die Defmition nicht auch Tätigkeiten ausschließt, welche durchaus als Sport bezeichnet werden können, wie z. B. die Fahrradtour oder das Jogging, da diese nicht die von Suits beschriebenen künstlichen Hindernisse aufweisen. Kann eine weitere Bedeutung des deutschen Wortes "Spiel" hier weiterhelfen? Ist die Komponente des zweckfreien Spiels ein besserer Schlüssel zur Trennung von Sport und Arbeit? Vielfach enthält der Sport dieses Element und Diem ( 1960, 3) schlussfolgert: "Sport ist eine Erscheinung aus dem größeren Lebensbereich des Spiels. Spiel ist zweckfreies Tun um seiner selbst willen". Eine Tätigkeit mit dem Ziel des Ruhm- oder Gelderwerbs wäre nach dieser engen Defmition jedoch kein Sport (mehr).' 0 7 8 9
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im Sinne von "game" im Gegensatz zu "play". In der ethischen Debatte wird die Frage diskutiert, was vor diesem Hintergrund ein Regelbruch bedeutet (Kretchmar 2004). Pawlenka (2002, 58f) macht darauf aufinerksam, dass sowohl das Englische "play" im Sinne eines zweckfreien Spieles und "game" im Sinne eines Spieles nach Regeln im deutschen Wort Spiel enthalten sind. Zur Erhöhung der Begriffsschärfe nutzt sie fiir "game" den Begriff des Regelspiels. Hieraus entspringt auch die Kontroverse von Amateurismus und Professionalismus CVgl. Reinemann 2001 ), denn Diem schreibt folgerichtig: "Berufssport ist nicht Sport, sondern das Gegenteil davon: Gewerbe" (Diem 1960, 25).
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Suits (1988, 19) vertritt im Gegensatz zu Diem die Auffassung, dass die Begriffe "playing" und "playing games" voneinander unabhängig sind, da Zweckfreiheit, wie bereits angedeutet, auch ein Charakteristikum jeder anderen Tätigkeit sein kann. Meier ( 1995, 33) kommt zu dem Schluss, dass das zweckfreie Spiel kein notwendiger Bestandteil der Sportdefmition sein kann, obgleich es eine Bereicherung des Sports darstellt. Ein weiterer Definitionsversuch begegnet den dargestellten Schwierigkeiten, indem er den agonalen Charakter des Sports als Ausgangspunkt wählt. So schreibtKorff(1999, 513): ,,Als sachgerechter und in seiner ethisch-praktischen Bedeutung wesentlich produktiver erweist sich demgegenüber ein Deutungsansatz, ... dass nämlich im sportlichen Vollzug - und darin grenzt sich dieser von jeder anderen Form menschlicher Tätigkeitab - gleichzeitig ein spielerisches und ein kämpferisches Moment zum Tragen kommt.""
Die "European Group on Ethics in Science and New Technologies" (1999) charakterisiert den Sport als eine physische Aktivität, welche Spiel und Wettbewerb zu verschiedenen Graden verbindet. Es bleibt jedoch zu fragen, ob diese Defmition nicht lediglich den Wettkampfsport beschreibt und andere Arten wie das von Ueshiba (1988) gelehrte Aikido unberechtigterweise ausgeschlossen werden.' 2 Die dargestellten Definitionen zeigen die vielfältigen Sportverständnisse und machen die unterschiedlichen Sichten deutlich, die sich hinter dem Begriff des Sports verbergen können. Hierbei kann es zu großen Unterschieden hinsichtlich der Frage kommen, was zum Sport zu zählen ist, wie dies durch die Sportdefinitionen von Diem und Suits deutlich wurde. Auf die meisten Tätigkeiten, die gewöhnlich als Sport bezeichnet werden, treffen verschiedene der dargestellten Definitionen zu. Erfolgt jedoch eine Festlegung aufeine bestimmte Sportdefmition, so scheidenjeweils gewisse Tätigkeiten aus, die durch andere Definitionen noch zum Sport gezählt werden. Dies muss bei der ethischen Betrachtung des Sports beachtet werden. 11 12
Er verweist dabei auf Eppenheimer, F. (1964): Der Sport - Wesen und Ursprung, Wert und Gestalt. Reinhardt, München, Basel. In bestimmten Traditionen des Aikido werden Wettkämpfe konsequent abgelehnt und der Sport besitzt hier keinen Wettbewerbscharakter, sondern den Charakter der persönlichen Weiterentwicklung (Ueshiba, 1988).
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Definitionen und Systematik
Wie lässt sich das Gebiet der Sportethik abgrenzen? Im öffentlichen Bewusstsein wird Sportethik oftmals als Verhaltenskodex verstanden, welcher festgeschrieben und durch die Aktiven im Sport einzuhalten ist. Der Sportethik käme vor diesem Hintergrund lediglich die Überwachung und Anmahnung dieser Verhaltensvorschriften zu. Die Berechtigung eines bestimmten Werte- und Normenkataloges wird bei diesem Sportethikverständnis nicht hinterfragt. Wenn über die bestehende Moral, d. h. über den Status quo der Normen, Werte oder Regeln, ein Dissens besteht, ist eine derartige Definition zu eng gefasst, um mit den praktischen Herausforderungen des Sports umgehen zu können. Auch wenn im Gegensatz dazu ein weiter gesellschaftlicher Konsens besteht, ist dies keine Garantie für die ethische Korrektheit der Verhaltensanweisung. Eine Ethik im Sinne eines "Code of Conduct" bietet keinen Raum für wesentliche Fragen des Menschen. Ohne eine kritische Reflexion ist die Sportethik unbefriedigend. Versteht man die Ethik als wissenschaftliche Beschreibung moralischer Einstellungen und Handlungen, so beinhaltet die Sportethik eine Beschreibung moralischer Einstellungen und Handlungen im Bereich des Sports. Dieser deskriptiven Auffassung von Sportethik kann entgegengehalten werden, dass die Beantwortung konkreter gesellschaftlicher Herausforderungen sowohl die ethische Reflexion über den zugrunde liegenden moralischen Konflikt als auch dessen Bewertung verlangt. Eine entsprechende, um eine normative Komponente erweiterte, Definition findet sich bei Court/Gerhardt (1992, 428): Sportethik ist die "Analyse und Bewertung moralischer Einstellungen und Vollzüge im Feld des Sports". Eine ähnliche, aber etwas detailliertere Beschreibung des Gegenstandes der Sportethik bietet Court's Definition (1999, 559): Sportethik "befasst sich mit der Analyse und Bewertung praktischer und theoretischer Implikationen moralischer Einstellungen und Handlungen im Sport". In der Tradition eines sowohl deskriptiven als auch normativen Ethikverständnisses besitzt die Sportethik nach Meinberg (200 1, 498) die folgenden Aufgaben: "Die Sportethik ist das theoretische Instrument, das über die moralischen Dimensionen des Sports aufzuklären versucht, sie hat die sportmoralische Praxis zu ihrem Gegenstand, den sie beschreibt, analysiert und erklärt, um ihn besser verstehen zu können. Sofern sie nicht bei der
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Beschreibung ihres Objektes stehen bleibt, will sie Bestehendes kritisch bewerten. Ihr geht es also auch um eine Verbesserung der sportmoralischen Praxis ... " 13
Für Meinberg (200 1, 498) geht es bei der Sportethik wn die Leitfrage: "Was ist ein hwnaner Sport?". Nimmt man eine Forderung aus der sportlichen Praxis auf, so ist es eine weitere wichtige Aufgabe der Sportethik, konkrete Hilfestellungen bei der Lösung moralischer Fragen im sportlichen Kontext zu bieten. Versteht man die Ethik in diesem Sinn als wissenschaftliche Auseinandersetzung mit der Frage, wie konkrete moralische Probleme gelöst werden können, so impliziert dies neben deskriptiven und normativen Aufgaben ein zusätzlich erweitertes Aufgabenfeld der Sportethik. Dieses beinhaltet auch die Betrachtung konkreter Wege zur Lösung der gesellschaftlichen Herausforderung. Eine angewandte Sportethik in diesem Sinne ist erst in ihrer Entstehung. Metaethische Fragen müssen dabei nicht gemieden werden. Es sollte jedoch auch nicht über dem Interesse an metaethischen Fragen die sportliche Praxis aus dem Auge verloren werden. Für eine solche Sportethik ist es wichtig, dass die Reflexion über moralische Konflikte im Bereich des Sports auch in die Evaluation konkreter Handlungsmöglichkeiten und die Ableitung von Handlungsempfehlungen münden. Metaethische Überlegungen bleiben dabei relevant, insofern sie als Basis fiir das normative Denken dienen. Das Gebiet der Sportethik kann also unterschiedlich weit gefasst werden und besitzt je nach Defmition einen anderen Fokus. Der Sportethik kann dabei neben einer beschreibenden auch eine bewertende und beratende Funktion zugeschrieben werden.'• Ausgehend von einem pluralistischen Ethikverständnis, soll die Sportethik dabei nicht die eigenen ethischen Reflexionen des Entscheidungsträgers ersetzen. Aufgabe der Sportethik ist es vielmehr, die Qualität dieser Überlegungen zu fördern. Dies geschieht z. B. durch die Darstellung verschiedener ethischer Konzepte und der Einforderung von Klarheit und Konsistenz. Wesentlich dafiir ist die offene Auseinandersetzung des Ent13 14
Aus diesem Grund hält er einen Maßstab fiir notwendig, der seine Begründung außerhalb des Sports findet. Eine zusätzliche- auch in anderen Ethikbereichen übliche- Unterscheidung ist die in theoretische und praktis9he Sportethik (vgl. Pawlenka 2004b, 11 ). Fallen in den ersten Bereich grundlegende Überlegungen, wie z.B. Fragen des Sportbegriffes, so beschäftigt sich der zweite Bereich mit Fragen der Anwendung, wie z. B. dem Zusammenhang von Sport und Umwelt.
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Scheidungsträgers mit der eigenen Position. Die Sportethik schafft hierfiir den notwendigen Raum und ermöglicht durch die Darstellung verschiedener Wege der ethischen Betrachtung eine Schärfung der Überlegungen. Der ethische Diskurs hilft zusätzlich dabei, mögliche Inkonsistenzen in der ethischen Position zu entdecken. Die neuzeitliche Sportethik begann mit der Herausbildung der Sportwissenschaft (Court/Krüger 2001, 194). Die Etablierung bzw. Trennung von Sportethik und Sportpädagogik als Wissenschaft erfolgte in Deutschland um 1970 (Court/Krüger 2001, 198). 15 Im Anschluss daran entwickelte sich die Sportethik in den 1980er Jahren vor allem in der Sportwissenschaft und nur sehr vereinzelt in der Philosophie (Pawlenka 2004b, 11). Gegenwärtig werden sportethische Fragen sowohl in der Sportwissenschaft als auch in der Philosophie thematisiert. Sie haben aber auch in weiteren Fachdisziplinen ihren Platz. In der Sportwissenschaft finden sie sich in den verschiedenen Teilgebieten wie der Sportmedizin mit der Diskussion normativer Gesundheitsvorstellungen und ethischer Grundlagen, z. B. in Bezug auf die Dopingprob1ematik, in der Sportpädagogik mit der Formulierung sportethischer Grundsätze sowie in Sportpsychologie, -ökonomie, -ökologie, -recht und -anthropologie. Vorstellbar ist die Sportethik laut Meinberg (2001, 502) auch als eine eigenständige Teildisziplin der Sportwissenschaft. Die Sportethik ist daneben eng mit verschiedenen Bereichen der Philosophie verbunden. Eine große Bedeutung fUr die Sportethik erlangte z. B. die von Johan Huizinga (1956) erarbeitete anthropologische Sicht des Menschen als ,,Homo ludens". Diese Betrachtungsweise schlug sich auch in der dargestellten Definition des Sports durch Diem nieder. Die Auseinandersetzung mit verschiedenen Vorstellungen von Fairness befruchtet sowohl die Sozialphilosophie als auch die Sportethik (vgl. Lenk 2001). Meinberg (2001, 500) macht daneben darauf aufmerksam, dass die philosophische Diskussion um metaphysische Fragen auch fUr die Sportethik 15
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In Großbritannien und den USA konnte sich die Sportethik bzw. die Sportphilosophie als Wissenschaft bereits etwas eher etablieren. Seit 1972 gibt es hier die "International Association forthe Philosophy ofSport" (IAPS) und seit 1974 existiert das "Journal of the Philosophy of Sport". Im englischsprachigen Raum kann so auch auf eine vielfältige .forschung zurückgegriffen werden. Lumkin!Stoli/Beller (1999) bieten einen breiten Uberblick über die bearbeiteten Fragen. Diese betreffen z. B. die Geschlechterfrage, die Anwendung von Gewalt oder die Nutzung von Hilfsmitteln im Sport. Weiteren Themen wie der Beziehung von Sport, Ethik und Bildung widmet sich z. B. Amold (1997). Loland (2002) entwickelt eine moralische Theorie des Fairplay. McNamee und Parry (1998) untersuchen daneben den Beitrag der Philosophie zur Sportethik und die Rolle des Sports fiir die Bildung sowie Fragen von Gewalt und Betrug im Sport.
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von großer Bedeutung ist und dass verschiedene sportethische Probleme wieder zu diesen Grundfragen zurückführen. Innerhalb der Philosophie kann die Sportethik als praxisbezogener Teil der Sportphilosophie verstanden werden. Diese ist bisher jedoch nur gering ausgeprägt. Ebenso wird die Sportethik als Teil der praktischen Philosophie verstanden. Mit einem besonderen Schwerpunkt auf der Anwendung ethischer Überlegungen in der Praxis etabliert sich die Sportethik als ein Bereich der Allgewandten Ethik. Sie besitzt dabei eine Reihe von Querverbindungen zu anderen Bereichsethiken. So ist Sport vielfach mit der Interaktion zwischen Menschen und belebter sowie unbelebter Umwelt verbunden. Aus dieser Interaktion entstehen moralische Fragen, die sowohl fiir die Ökologische Ethik und die Tierethik als auch fiir die Sportethik von Bedeutung sind, so z. B. Fragen nach dem richtigen Umgang mit der Bergwelt oder mit Tieren. 16 Daneben ist auch ein enger Bezug zum Bereich der Wirtschaftsethik gegeben. Sport wird dabei auf der einen Seite gern als Vorbild fiir wirtschaftsethische Forderungen (z. B. nach einem Fairplay im wirtschaftlichen Wettbewerb) verwendet, zum anderen lassen sich Phänomene des Sports, wie z. B. das Doping, mit Hilfe von wirtschaftsethischen Instrumenten besser verstehen (z. B. Franck 1997 und 1999, 520ft). Eine Brücke zur Bio- und Medizinethik schlägt z. B. Caysa (2004) mit seinem Ansatz des nachhaltigen Umgangs mit dem eigenen Körper im Sport. Auch zwischen Feministischer Ethik und Sportethik bestehen Verbindungslinien. Beispielhaft ist hier die Frage, wie eine Vermännlichung oder Verweiblichung von Athleten im Zuge des Dopings zu bewerten ist (z. B. Burke/Roberts 1997, 99ft). Im nächsten Abschnitt wird zudem die enge Verbindung zur Pädagogischen Ethik deutlich. Auch zu anderen Bereichsethiken wie der Medienethik, z. B. mit Fragen zu Presse und Sport, oder der Theologischen Ethik, z. B. mit Fragen nach einem rechten Umgang mit dem eigenen Körper, finden sich eine Reihe von Anknüpfungspunkten. Neben diesen zentralen Orten sportethischer Forschung existieren Wechselwirkungen mit anderen Wissenschaftsgebieten, wie z. B. der Medizin, Soziologie, Psychologie, Pädagogik, Anthropologie oder den Religionswissenschaften. Bei der Arbeit an ethischen Fragen der sportlichen Praxis öffnet sich das Feld der relevanten Forschung in verschiedenste weitere Forschungs16
Zur Auseinandersetzung mit der Frage der Ökologie des Sports siehe Segets (2002).
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bereiche. Ein Beispiel hierfiir ist der breite Fächer der Literatur bei der Behandlung der Dopingthematik (siehe z. B. Schiffer 2001). 17
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Ethik und Sport
Für viele Menschen ist Sport ein zentrales Element ihres Lebens. Sie gehen regelmäßig in Sportvereine oder Fitnessstudios, sie freuen sich auf die Bundesliga, die Tour de France oder die Olympischen Spiele.' 8 Neben der aktiven Beteiligung am Sport stieg auch dass öffentliche Interesse an Sportveranstaltungen und der Sport entwickelte sich zu einem beliebten Gegenstand der Medien. '9 Das aktive oder passive Interesse am Sport führt zu einer Reihe ethischer Fragen. Wie sollte man z. B. mit jenem Trainer umgehen, der seinem Spieler aus taktischen Gründen die Anweisung gibt "Hau ihn um!"? Ist es ethisch vertretbar, den Gegenspieler im eigenen Spiel auch psychisch unter Druck zu setzen? Wie verhält man sich seinem Kind gegenüber, welches Dopingmittel nutzt oder nutzen möchte? Wie sollte mit dem Wettskandal in der Fußballbundesliga umgegangen werden? Je nach Sportart treten unterschiedliche Fragen in den Vordergrund. Beim Bergsteigen und Skisport können diese z. B. den Umgang mit der Umwelt, beim Pistolenschießen und Biathlon den Umgang mit Waffen betreffen. Andere Fragen, wie die Bedeutung von Regeln, sind für einen Großteil der Sportarten gleichermaßen relevant. Sport kann in verschiedene Bereiche unterteilt werden. Eine bekannte Unterscheidung ist die zwischen Breiten- und Leistungssport. Durch die Charakteristika dieser Bereiche kommt es zu besonderen ethischen Fragestellungen, so z. B. nach der Legitimität einer hohen Leistungsanforderung an Kinder im Leistungssport. 17 18
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Einen weiteren, bisher noch wenig bearbeiteten Bereich bieten Ethiken spezieller Sportarten, wie z. B. im Aikido (Ueshiba 1988). Ein wichtiger Faktor für die aktuelle Konjunktur des Sports ist, neben der hohen Wertschätzung körperlicher Leistungen, der gewachsene Anteil der Freizeit, welcher Rawn für die Beschäftigung mit dem Sport und eigenen sportlichen Aktivitäten schafft, die oft als Ausgleich für eine bewegungsarme Arbeitswelt dienen. Zusätzlich ermöglicht der Sport, ob in oder außerhalb eines Vereines, wertvolle Gelegenheiten für persönliche Kontakte und Beziehungen, welche einen wichtigen Anker in einer sonst eher anonymen Gesellschaft darstellen. Obwohl dem Sport schon immer ein Platz im Leben der Menschen zukam, ist seine Bedeutung einem permanenten Wandel unterworfen. Führte die hohe Wertschätzung der körperlichen Stärke bei den Römern zu einer Blüte des Sports, so kam ihm im Mittelalter keine große gesellschaftliche Bedeutung zu (vgl. Leis 2003).
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Zusätzlich wird der Sport nach dem Ort seiner Ausfiihrung unterschieden. Dabei gibt es neben Schulsport, Sport im Verein und Fitnessstudio auch den Sport zu Hause. Durch die jeweils unterschiedlichen Rahmenbedingungen ergeben sich spezielle Fragen wie die nach der Rolle des Trainers oder Lehrers. Sport wird zudem aus einer Reihe von Gründen betrieben, z. B. dient er der Gesundheitsförderung oder der Pflege sozialer Beziehungen. Dabei können verschiedene Ziele gleichzeitig verfolgt werden. Auch im Hinblick auf diese Ziele kommt es zu ethisch relevanten Debatten. Wie die dargestellten Definitionen des Sports zeigten, stellt sich dabei unter anderem die Frage, ob der Sport nicht lediglich um seiner selbst willen betrieben werden darf, um noch als Sport gelten zu können. Schlussendlich kann der Sport nach einer zeitlichen Dimension eingeteilt werden. Handelt es sich z. B. um Berufssport oder um Sport in der Freizeit. Auch in Bezug auf diese Kategorien können mannigfaltige ethische Fragen unterschieden werden, wie z. B.: Welche sportlichen Anforderungen dürfen an Wehrdienstleistende gestellt werden? An dieser Stelle muss Erwähnung finden, dass auch zwischen Sport und moralischer Erziehung eine enge Verbindung besteht. So dienten bei der Entstehung des modernen Sports die Sportspiele in England als Transportmittel fiir verschiedene moralische Werte wie: "physical and moral courage, loyalty and cooperation, the capacity to act fairly and take defeat weil, the ability to both command and obey" (Mangan 1981, 9). 20 Diese Verbindung zu kennen, ist wichtig, da in der Praxis oft eine Gleichsetzung von Sportethik und der moralischen Erziehung erfolgt und dies die Erwartungshaltung an die Ethik prägt. Das wurde auch bei der dargestellten Sportethikdefinition im Sinne eines Verhaltenskodexes deutlich. Eine Begrenzung der Sportethik auf dieses Aufgabenfeld greift zu kurz, die zentrale Funktion des Sports fiir die Vermittlung moralischer Werte und sozialer Kompetenzen stelltjedoch eine wichtige Verbindung von Sport und Ethik dar. Ebenso wie das Potential, welches der Sport fiir die Stärkung des Körpers besitzt, sollte auch das Potential fiir die Stärkung der Persönlichkeit genutzt werden. 20
Die Beiträge von Grupe!Krüger (2001), Court/Krüger (2001), Krüger (1993), Diem (1982, 122) thematisieren diese Verbindung in der deutschen Turnbewegung. Müller (2001, 385ff) und Lenk (1964) zeigen sie bei der Entstehung der modernen Olympischen Spiele. Aigner (2001) zeigt die Verbindung von moralischer Erziehung und Sport im Olympismus.
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Geradeaufgrund dieser zentralen Bedeutung des Sports ist es wichtig, sich mit ethischen Fragen auseinander zu setzen, welche im Zuge der sportlichen Praxis entstehen. Wie die Darstellung zeigte, sind die Problemfelder und Kontroversen der Sportethik vielfaltig. Hierbei können zum einen Fragen unterschieden werden, welche sportspezifisch sind, wie z. B. Probleme des olympischen Sports (z. B. Bundesinstitut für Sportwissenschaft 2001), des Leistungssports (z. B. Court 1994), oder Auseinandersetzungen mit dem sportwissenschaftlichen Ethos (Drexel 2001a). Zum anderen sind sportethische Fragen jedoch auch oftmals ein Spiegel grundlegender ethischer Fragen, wie z. B. Fragen der Gewalt (Gabler 2001a), der Instrumentalisierung und Fremdbestimmung (Bernett 2001), dem Nationalismus (Krüger 2001) oder der Problematik des Täuschens und Lügens (Drexel 2001b) oder wie Meinberg (1991, 16) feststellt: "manches, was die ethische Situation des Menschen allgemein charakterisiert, fmdet im sportethischen Sektor seinen speziellen Niederschlag". So überträgt sich durch ein mögliches Gendoping auch die Frage nach der ethischen Bewertung von gentechnischen Eingriffen am Menschen auf den Sport. 21 Neben der Behandlung der Fragen, welche sich aus der sportlichen Praxis direkt ergeben, ist es, wie bereits dargestellt, eine weitere wesentliche Aufgabe der Sportethik, die verschiedenen Verständnisse des Sports und der Sportethik zu klären sowie die zwischen ihnen bestehenden Unterschiede deutlich zu machen. Daneben gibt es eine Reihe weiterer Aufgabenfelder, wie z. B. die Klärung zentraler ethischer Begriffe wie der Fairness.22 Diese Arbeit ist wiederum die Basis für die Behandlung der Fragen aus der sportlichen Praxis.
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Das seit 1998 existierende "Lexikon der Ethik im Sport"- herausgegeben von Grupe und Mieth (200 1) bietet hier einen Überblick und behandelt zusätzlich ein weites Spektrum von Aspekten, die fur die Sportethik von Bedeutung sind. Stygermeer (1999) versucht z. B. durch die Charakterisierung des Wesens und der Praxis des Sports, Grundlagen fur eine Dogmatik zu schaffen. Pawlenka (2002) untersucht ebenfalls das Phänomen des Sports und zeigt Verbindungslinien von Sportethik und Utilitarismus auf. Bei Tomlinson/Fleming (1997) werden neben Fragen der Ethik in der sportlichen Praxis auch Fragen der Ethik in der Sportwissenschaft und ethische Aspekte bei der Erforschung der Soziologie des Sports und der Freizeit betrachtet. Einen Oberblick über den aktuellen Stand eines Teils dieser sportethischen Grundlagendiskussion, vor allem zu den Fragen von Regeln und Fairness, bietet ein Sammelband von Pawlenka (2004a). Der eben genannte Band enthält zudem Artikel zur Dopingfrage und schlägt damit den Bogen zu einer Sportethik, die ihren Ausgangspunkt in den Fragestellungen der sportlichen Praxis fmdet. Der 1990 erschienene Tagungsband "Ethik im Sportspiel" (Cachay/DrexeVFranke) beleuchtet neben dem FairPlay zusätzliche Fragen wie Spielethos und soziale Kontrolle im Sport.
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Problemfeld Doping
Im Folgenden soll am Beispiel des Dopings im Leistungssport erörtert werden, wie die Sportethik bei der Klärung ethischer Fragen, welche aus der sportlichen Praxis entspringen, vorgehen kann. 23
4.1
Fragestellung
Eine wesentliche Voraussetzung für die Arbeit an einem konkreten Frohlernfeld ist die Präzisierung der Ausgangsfrage. Erst die Präzisierung der zu klärenden Frage schafft einen Fokus für die ethische Betrachtung, welcher wiederum unerlässliche Voraussetzung für die Schaffung von Klarheit ist. Im Beispielfall des Dopings können die Fragen dabei höchst unterschiedlich sein: "Soll ich im nächsten WettkampfDopingmittel nehmen?" oder "Soll das Doping generell verboten werden?". Dabei werdenjeweils unterschiedliche Ebenen der Dopingfrage angesprochen. Im ersten Fall ist es die Handlungsebene, welche sich auf das Handeln des einzelnen Sportlers in einer konkreten Situation bezieht. Auf dieser Ebene kann der Sportler selbst zur Überzeugung gelangen, nicht zu dopen, oder es kann an ihn appelliert werden, dies nicht zu tun, da es z. B. ein hohes gesundheitliches Risiko birgt oder gegen die bestehenden Regeln verstößt. Die zweite genannte Frage zielt dem gegenüber auf die Regelebene. Diese bezieht sich auf die Bestimmungen, welche zur Frage des Dopings auch für die anderen Sportler, mit denen der Sportler im Wettbewerb steht, verbindlich sind. Hier kann z. B. eine bestehende Dopingregelung kritisch auf ihre Berechtigung hin hinterfragt werden. Die Unterscheidung dieser beiden Ebenen ist wesentlich, denn eine ethische Position kann sich gleichzeitig individualethisch gegen das Doping bei einem bestehenden Dopingverbot aussprechen und institutionenethisch für eine Änderung dieser Regelung plädieren. Des Weiteren können Fragen auch eine dritte Ebene betreffen, welche als Implementierungsebene bezeichnet werden kann und sich auf die Durchsetzung der Regelebene in der Praxis bezieht. Auf dieser Ebene ist zu klären, welche Instrumente für die Durchsetzung von Regeln eingesetzt 23
Eine große Zahl von Forschungsarbeiten behandelt diese zentrale sportethische Frage. Einen guten Überblick bietet hier Schiffer (200 1).
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werden sollten. Im Sinne der oben dargestellten weiten Definition ist auch dies ein Teil der Sportethik. Eine Frage kann auch Elemente verschiedener dieser drei Ebenen enthalten. Die Fragestellung zum Ausgangsproblem könnte so z. B. lauten: "Wie soll die Gesellschaft mit dem Doping im Leistungssport umgehen?". Sie enthielte damit sowohl Elemente der zweiten als auch der dritten Ebene.
4.2
Gegenstand
Nach der Präzisierung der Fragestellung ist die Beschreibung des Betrachtungsgegenstandes notwendig. Zur Beantwortung der Beispielfrage, wie die Gesellschaft mit dem Doping im Leistungssport umgehen kann, muss das Phänomen selbst gerrau unter die Lupe genommen werden. Erst diese gerraue Betrachtung ermöglicht eine treffende ethische Betrachtung und verhindert, dass die ethische Analyse am realen Wesen des Problems vorbeigeht. Im dargestellten Beispiel sind dafiir verschiedene Teilfragen zu klären: Was ist überhaupt Doping? Was ist Leistungssport? Welche Wirkungen besitzt das Doping? Wie stellt sich das Doping im Leistungssport in der Praxis dar? Oftmals kann bereits die Klärung der verwendeten Begriffe einen wichtigen Beitrag zur Bewältigung der ethischen Herausforderung leisten. So können Widersprüche, welche auf unterschiedlichen Begriffsverständnissen beruhen, ausgeräumt und Fragen auf ihren zentralen Kern präzisiert werden. Im Falle des Dopings ist z. B. die Defmition des Dopings herauszuarbeiten. Dabei ist etwa zu klären, ob der Begriff sämtliche Mittel zur Leistungssteigerung umfasst oder sich lediglich auf die Substanzen und Methoden der Dopingliste bezieht. Die Beschreibung des Betrachtungsgegenstandes kann entsprechend seiner Eigenschaften variieren. Sie beinhaltet jedoch oftmals die Einbeziehung von Forschungsergebnissen anderer Wissenschaftsdisziplinen, im Falle des Dopings z. B. das Sportmedizinische Wissen um die Wirkung und Nebenwirkung von Dopingsubstanzen. Dieses Wissen ermöglicht es erst, die an dieser Wirkung ansetzenden ethischen Argumente nachvollziehen und ihre Stärke abschätzen zu können.
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Sportethik
4.3
Ethische Evaluation
Erst in einem dritten Schritt sollte die normative Betrachtung der Fragestellung erfolgen. Wesentlich für die normative Bewertung sind die dabei verwendeten Bewertungsmaßstäbe. Bei der Bewertung sportethischer Fragen existiert kein dominanter Ansatz, sondern es kommen verschiedenste Perspektiven zum Einsatz.24 Im folgenden Beispiel soll die Fairness als zentraler ethischer Maßstab in sportethischen Debatten die Bewertungsgrundlage bilden. Dieser Maßstab soll helfen, die ethische Evaluation am Beispiel der bereits formulierten Frage eines Dopingverbots oder einer Dopingfreigabe im Leistungssport zu skizzieren. In einem ersten Teilschritt ist es notwendig, Klarheit über den verwendeten Bewertungsmaßstab zu gewinnen, in diesem Beispiel also über die Fairness. Im Sprachgebrauch begegnet man dabei verschiedenen Verständnissenvon Fairness. Bedeutet der Begriff in einem Fall die Schaffung gleicher Ausgangsbedingungen für alle Spieler, so wird er auch verwendet, um Regeln zu beschreiben, welche lediglich eine Chancengleichheit im Wettbewerb gewährleisten. 25 Wie diese Beispiele andeuten, können mindestens zwei Fairnesskonzepte unterschieden werden. 26 Das Erste resultiert aus der Genese des modernen Sports, dessen Entstehung eng mit der Kultur der englischen Oberschicht in der viktorianischen Zeit verbunden war. Die Idee der Fairness zielte in dieser Tradition auf einen "möglichst schönen und moralisch korrekten sportlichen Wettbewerb, der gentlemanlike, mit der gebotenen Höflichkeit durchzuführen war" (Gabler 2001 b, 15 0). Zur Gewährleistung dieses Zieles wurden bestehende Leistungsunterschiede, z. B. durch unterschiedliche Startpunkte ausgeglichen.27 Die Verbindung von englischer Oberschicht und Sport löste sich im Zuge der Verbreitung des Sports aufund es kam zu einer Wandlung des Fairnessverständnisses. Das neue Verständnis von Fairness im Sport fasst Gabler (2001b, 151ft) wie folgt zusammen: 24 25 26 27
Für eine Auseinandersetzung siehe z. B. Gerstmeyer (2004). Früher wurde eher der Begriff des "Fairplay" verwendet- aber mit der Nutzung des Begriffes in anderen Bereichen setzte sich mehr und mehr der Begriff der "Fairness" durch. Es können noch weitere Fairnesskonzepte unterschieden werden, die jedoch an dieser Stelle aus Vereinfachungsgründen nicht behandelt werden sollen. Siehe auch Court/Krüger (200 I, 196).
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Reyk Albrecht
"Faimeß zeigt sich im Rahmen sportlicher Wettkampfhandlungen im Bemühen der Sportler, die Regeln konsequent und bewußt (auch unter erschwerten Bedingungen) einzuhalten oder sie zumindest nur selten zu übertreten, im Interesse der Chancengleichheit im Wettkampf weder unangemessene Vorteile entgegenzunehmen noch unangemessene Nachteile des Gegners auszunutzen und den Gegner nicht als Feind zu sehen, sondern als Person und Partner zu achten."
Dieses Fairnessverständnis kann in die bloße Regelbefolgung und die Handlung im Geist der Regeln unterschieden werden. 28 Als drittes Element enthält es die Achtung des Gegners und hier vor allem die Rücksicht auf dessen körperliche Unversehrtheit. Aus Vereinfachungsgründen soll das zweite Fairnessverständnis als gegebener Maßstab vorausgesetzt werden.29 Nach der Klärung des Bewertungsmaßstabes kann dieser in einem zweiten Teilschritt auf die ethische Frage, wie die Gesellschaft mit dem Doping im Leistungssport umgehen soll, angewendet werden. Bei dem gewählten Fairnessverständnis ist das Doping im Leistungssport dann unfair, wenn es gegen die Regeln verstößt und damit die Chancengleichheit im Wettkampf gefährdet. Dies ist im aktuellen Leistungssport der Fall. Es ist jedoch auch denkbar, dass sich die Regeln ändern und das Doping erlauben. Die Einfiihrung oder der Bestand eines Dopingverbotes kann durch einen Bezug auf die Chancengleichheit nicht begründet werden. Auch die Bezugnahme auf den Geist der Regeln hilft in diesem Fall nicht weiter, wenn dieser lediglich die Chancengleichheit im Wettbewerb schützen soll. Wenn beide Sportler dopen, ist diese wieder hergestellt. Es scheint also, als sei das moderne Fairnessverständnis nicht geeignet, eine Position fiir oder gegen ein Dopingverbot zu begründen. Wie bereits dargestellt, enthält es neben dem Gedanken der Chancengleichheit im Wettkampfjedoch auch das Element der Achtung des Gegners. Dieses betont die Rücksichtnahme des Spielers auf die Gesundheit des Gegenspielers. Die Folgen fiir die Bewertung des Dopings sollen an einem Beispiel verdeutlicht werden. Gehen wir in einem ersten Schritt von folgenden Annahmen aus. Die Faktoren fiir die Dopingentscheidung des Sportlers seien auf der einen Seite die Verbesserung der Aussichten aufmonetäre Güter, Ruhm und Erfolg 28 29
Siehe hier Lenk 2002. An dieser Stelle könnte zusätzlich eine Argumentation fiir oder gegen ein bestimmtes
Fairnesskonzept erfolgen.
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Sportethik
(M) und auf der anderen Seite die Gefahr fiir die Gesundheit (G). Doping erhöht die Leistungsfähigkeit im sportlichen Wettbewerb- es ist jedoch gesundheitsschädlich. 30 Die relative Stärke dieser Veränderungen soll aus Vereinfachungsgründen hier nicht betrachtet werden. 31 Es sollen weiterhin vereinfachend lediglich zwei sich gegenüber stehende Sportler betrachtet werden. Dabei sind verschiedene Präferenzen der Sportler denkbar. Im Folgenden wirdjedoch lediglich der Fall betrachtet, in dem einem Sportler A die Gesundheit wichtiger ist als der monetäre Erfolg (G > M) und dieser Sportler mit einem Sportler B konkurriert, bei welchem dies umgekehrt ist (M > G). Wenn fiir beide Sportler G > Moder fiir beideM > G, so würden die Sportler nicht dopen oder es würde ein Dilemma entstehen, an dessen Lösung beide ein Interesse besäßen. 32 Ein Verbot wäre hier ethisch unkritisch. Sind G und M gleich, so ist in unserem Fall keine Entscheidung möglich. Ist die Gewichtung von Mund G jedoch verschieden, so wird das Doping zu einer ethischen Herausforderung. Dies soll durch die folgende Darstellung verdeutlicht werden. Die Spieler haben die Wahl, zu dopen (D) oder nicht zu dopen (N). Dopen sie nicht, wird ihre Gesundheit nicht betroffen (G), dopen sie, so entsteht eine zusätzliche Gefahr fiir ihre Gesundheit (G} Ihre Entscheidung und die Entscheidung ihres Gegners beeinflussen zudem ihre Aussichten auf monetäre Güter, Ruhm oder Erfolg. Diese bleiben entweder konstant (M), wenn beide dopen oder beide nicht dopen, erhöhen sich (M\ wenn der Sportler dopt und der Gegner dies nicht tut, oder verringern sich (M") im umgekehrten Fall. Abbildung I stellt dies graphisch dar. 33 30 31
32
33
Hier zeigt sich die Bedeutung der genauen Analyse des Betrachtungsgegenstandes filr die ethische Argumentation. Es ist jedoch wichtig festzuhalten, dass bei der Annahme z. B. einer relativ geringen Gesundheitsschädigung im Vergleich zu einer großen Erhöhung der Erfolgsaussichten andere Konstellationen entstehen können - was wiederum die Bedeutung einer genauen Analyse des Betrachtungsgegenstandes unterstreicht. Das Dilemma würde im gegebenen Fall dann entstehen, wenn "beide M > G". Für beide wäre das Doping in diesem Fall die dominante Strategie. Hieraus entsteht ein Dilemma, weil sich beide besser stellen würden, wenn beide nicht dopen. Auch dies kann sichjedoch bei großen Unterschieden in der Wirkung auf Erfolg und Gesundheit verändern. Die Quadranten stellen die verschiedenen Konstellationen dar, die durch die Handlungen von A und B entstehen können. Quadrant IV z.B. verbildlicht den Fall, dass A und B nicht dopen (N). Die Variable vor dem Komma symbolisiert die Auszahlung filr Sportler A (in diesem Fall G und M), während die Variable nach dem Komma die Auszahlung filr Sportler B symbolisiert (ebenfalls G und M). In der ersten Zeile sind dabei die Auszahlungen in Bezug auf die Gesundheit dargestellt und in der zweiten Zeile die Auszahlungen in Bezug auf monetäre Güter, Ruhm und Erfolg.
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B N
N
D
G,G
o,o·
M,M
M·,M+ IV
I
III
II
A D
o·,o
o·, o-
M•,M·
M,M
Abb.l
Wie würden sich die Sportler in der dargestellten Situation vermutlich verhalten? Für eine Prognose soll der hier zu erörternde Fall eines Sportlers A, welchem die Gesundheit wichtiger ist als der monetäre Erfolg (G > M), und eines Sportlers B, bei dem dies umgekehrt ist (M > G), durch folgende Zahlen anschaulich gemacht werden. Die Zahlen drücken die jeweils subjektiv empfimdene Nutzenänderung aus. Nutzenänderung: A-G= . O·' G- = -2·' M = 0 ,· M+ = 1·' M- = -1 B· G = O· G -= -1· M = 0 · M+ = 2· M- = -2 0
'
'
'
'
Nehmen wir weiterhin an, dass sich der Gesamtnutzen der Sportler aus G + M zusammensetzt. Damit ergibt sich eine Gesamtnutzenmatrix, wie sie Abbildung 2 zeigt. B N
N
D
0,0
-1 ' 1 IV
I
III
n
A D
-1 ' -2
-2 '-1
Abb.2
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Sportethik
Anband dieser Darstellung wird deutlich, dass es fiir Sportler A unabhängig von den Handlungen von B immer sinnvoller ist, nicht zu dopen, fiir Sportler B jedoch genau das Gegenteil zutrifft. Wie ist diese Situation aus ethischer Sicht zu bewerten? Bei einem Blick auf die Quadranten I und II von Abbildung I wird deutlich, dass das Doping von B dazu führt, dass A lediglich die beiden Alternativen verbleiben, keine Chancengleichheit mehr zu besitzen oder entgegen seiner Präferenzen gesundheitsgefährdende Dopingmittel einzunehmen. Die Situation ist unbefriedigend, denn wenigstens eines der beiden Elemente der Fairness im oben dargestellten Sinne, nämlich die Wahrung der Chancengleichheit oder die Achtung der Gesundheit, ist nicht erfüllt. Sportler B ist jedoch ebenso in einer schwierigen Situation, denn wenn er die wahren Präferenzen von A nicht kennt, könnte dieser ebenso die Strategie des Dopens verfolgen und B könnte, wenn er nicht dopt, einen Wettbewerbsnachteil erleiden. Eine Lösung ist hier auf der Regelebene möglich. Ein wirksames Verbot des Dopings könnte diese Situation vermeiden und macht es den Sportlern möglich, die Grundsätze der Fairness ohne Angst vor eigenen Nachteilen einzuhalten. Unter den getroffenen Voraussetzungen kann ein Sportler nicht sinnvoll gegen ein Verbot des Dopings argumentieren, wenn er sich zum dargestellten Fairnessgedanken bekennt. Die Verantwortung auf der Regelebene ist es, Bedingungen zu schaffen, bei denen es den Sportlern erleichtert wird, moralisch zu handeln. Offen bleibt hier unter anderem, wie bei der gezeigten Fairnessdefinition ein Doping außerhalb des Wettkampfes zu bewerten ist. Dabei ist entscheidend, ob z. B. das Training als bereits zum Wettkampf dazugehörig angesehen wird. Ist dies der Fall, so ist Doping auch in diesem Bereich zu untersagen.
4.4
lmplementation
Nach der Präzisierung der Ausgangsfrage, der genauen Beschreibung des in Frage stehenden Gegenstandes und der ethischen Evaluation des moralischen Konfliktes kann die Ableitung von konkreten Implementierungsvorschlägen erfolgen. Die geleistete ethische Evaluation bietet hierfür die notwendige Basis - sie bleibt ohne Implementation, jedoch ohne direkte praktische Relevanz.
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Im letzten Abschnitt wurde gezeigt, wie die hier beispielhaft gewählte Frage "Wie kann die Gesellschaft mit dem Doping im Leistungssport umgehen?" aus ethischer Sicht bewertet werden kann und bei bestimmten Grundannahmen bewertet werden muss. Damit ist die aufgeworfene Frage jedoch noch nicht abschließend beantwortet. Plädiert man für ein Verbot des Dopings, so ist die Frage, wie die Einhaltung der Regeln gesichert werden kann, da Ameize möglich sind, sich nicht an diese Regeln zu halten, wie dies Abbildung 2 zeigt. Auch bei einem Plädoyer für eine Freigabe des Dopings bleibt die Frage der Implementation eines Dopingverbotes relevant. Neben der Freiheit zu dopen, hätten Sportler auch die Freiheit, sich auf einen dopingfreien Sport zu einigen- z. B. da sie ihre Gesundheit schützen möchten. Welche Empfehlungen lassen sich aber für die Implementation ableiten? Hierfür sind unter anderem folgende Fragen zu klären: Sind Appelle oder Institutionen wirksame Mittel zum Umgang mit dem Doping? Wie sollte ein mögliches Verbot gestaltet sein? Für die Beantwortung dieser Fragen ist es ratsam, Erkenntnisse anderer Wissenschaftsbereiche in die Betrachtung einzubinden. Damit wird erneut der interdisziplinäre Charakter der Sportethik deutlich. Bei der Frage nach der Gestaltung eines möglichen Verbotes erscheint es besonders sinnvoll, Überlegungen der Wirtschaftsethik für den Bereich der Sportethik fruchtbar zu machen. Die Teilfragen für die Implementation sind abhängig von dem behandelten Problemfeld und so sollen diese Beispiele lediglich auf die Bedeutung dieses Arbeitsschrittes hinweisen. Für weitere Amegungen sei auch auf den in diesem Band enthaltenen Wirtschaftsethikartikel verwiesen.
5
Zusammenfassung und Ausblick
Für viele Menschen hat Sport eine große persönliche Bedeutung. Die Versuche, die zentralen Eigenschaften des Sports zu erfassen und dieses komplexe Phänomen zu definieren, gehen von verschiedenen Ausgangspunkten wie der körperlichen Leistung, der Verwandtschaft zum Spiel und dem teils agonalen Charakter des Sports aus. Die Defmitionen der Sportethik erfolgen ebenfalls aus verschiedenen Perspektiven. So kann ihr neben einer beschreibenden auch eine bewerten-
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Sportethik
de und eine beratende Funktion bei der Lösung moralischer Herausforderungen zugeschrieben werden. Wie in anderen Lebensbereichen so steht der Mensch auch im Feld des Sports vor der Frage: "Wie soll man handeln?" Die sich daraus entwickelnden sportethischen Betrachtungen sind heute in einer Reihe von Fachgebieten wie der Sportwissenschaft oder der Philosophie zu finden. Die Themenbereiche der sportethischen Forschung sind vielfaltig und reichen von der Auseinandersetzung mit ökologischen Fragen bis hin zu metaethischen Kontroversen. Ist man für die Behandlung von Themen wie "Fairness" oder "Regelverstöße" noch weniger auf das Wissen aus anderen Wissenschaftsbereichen angewiesen, so zeigt die laut Pawlenka (2004b, 12t) "dringlichste Aufgabe der Sportethik" - das Doping - das typische Charakteristikum der Angewandten Ethik, die Interdisziplinarität. Für die Behandlung konkreter moralischer Herausforderungen im Sport erscheinen folgende Teilschritte als sinnvoll und gleichrangig in ihrer Bedeutung für das Endergebnis: 1) Formulierung der Fragestellung, 2) Darstellung des Gegenstandes der ethischen Betrachtung, 3) ethische Evaluation, 4) Klärung der lmplementation. Zusätzlich könnte ein fiinfter möglicher Schritt unterschieden werden, in welchem eine Überprüfung der Ergebnisse der Implementation und notwendige Anpassungen erfolgen. Wie die Ausfiihrungen zeigten, herrscht bei der Beurteilung sportethischer Fragen in der Praxis ein Pluralismus der ethischen Konzepte, wie er auch in anderen Bereichen der Ethik beobachtbar ist. Für die Ausbildung eines plausiblen ethischen Standpunktes ist neben der Auseinandersetzung mit dem eigenen Standpunkt das Wissen um die verschiedenen Möglichkeiten einer ethischen Betrachtung von zentraler Bedeutung. Die Positionen zu sportethischen Fragen lassen sich danach einordnen, ob die Handlung des Individuums selbst oder die Rahmenbedingungen, innerhalb denen sich das Individuum bewegt, als zentral angesehen werden. In der Vergangenheit bezogen sich ethische Positionen meist auf das Individuum im sportlichen Kontext, z. B. auf den Sportmediziner oder den Sportler. Sie versuchten zu klären, wie sich dieses Individuumjeweils verhalten sollte, z. B. ob ein Sportler in einer konkreten Situation Dopingmittel nutzen sollte oder nicht. Meinberg (200 1, 499) fUhrt den großen Schwerpunkt der Sportethik in diesem Bereich auf die starke Verbindung
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zwischen Sportethik und der Theorie der Leibeserziehung in der Vergangenheit zurück. Ein Hauptproblem dieser rein individualethischen Betrachtung ist die mangelnde Berücksichtigung von Anreizstrukturen im sportlichen Kontext. Neben der Forderung und Unterstützung ethischer Überlegungen der Aktiven im Sport ist es wesentlich, die institutionellen Rahmenbedingungen, innerhalb denen sich die Akteure des Sports bewegen, zu beachten. Die bewusste Gestaltung institutioneller Anreize kann dem Sportler helfen, seine moralischen Vorstellungen im Sport umzusetzen. Durch neue technische Möglichkeiten, wie z. B. der Gentechnologie (vgl. Güldenpfennig 2004), entstehen dabei immer neue Herausforderungen. Eine Lösung dieser Fragen kann nur durch eine gleichberechtigte Berücksichtigung aller Ebenen der sportethischen Betrachtung erreicht werden.
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Technikethik Peter Kunzmann
1
Grundlagen
1. 1
Begriffliches
Schon in Platons "Politikos" (281 C) heißt es, "dass auch die Techniken (gr: technm), welche die Werkzeuge verfertigen, mit denen die Geschäfte ... verrichtet werden, auch werden Miturheberinnen sein wollen." Wer Dinge herstellt, mit denen er selbst oder andere Menschen etwas tun oder wiederum etwas herstellen, ist an diesen Handlungen nicht unbeteiligt. Auf der Einsicht, dass "die Technik" die Lebenswelt des Menschen entscheidend mitprägt, basiert sowohl die philosophische Technikkritik, die diese Wirkung problematisiert, wie auch die moderne Disziplin der Technikethik als eine prinzipielle Reflexion auf die moralischen Fragen, welche die Technik aufwirft. "Technik" umfasst dabei als Sammelbegriff die Herstellung aller Artefakte zum Gebrauch durch den Menschen für einen bestimmten Zweck und bezeichnet diese Artefakte selbst. Der instrumentelle Charakter trennt dabei die Technik von der Kunst, deren Ergebnisse einen Selbstzweck oder Endzweck darstellen, während Technik (oder ihre Produkte) dem Menschen zu irgendeinem Zweck dient. Unter den Lebensbedingungen industrialisierter Gesellschaften hebt "Technik" im allgemeinen Sprachgebrauch zusätzlich eine Unterscheidung vom Handwerklichen hervor. "Technisch" heißt dann, was von mehr oder weniger großen Unternehmen strukturiert entwickelt und unter hohem maschinellen Einsatz in größerer Stückzahl gefertigt wird. Damit trennt sich die Bedeutung von "Technik" von der griechischen Ursprungsbedeutung von "techne" als Kunst oder Kunstfertigkeit. Eine weitere übliche WOrtverwendung bewahrt von der "techne" das Moment des Lehr- und Lernbaren; dann heißt "technisch" so viel wie "nach den Regeln der Kunst". In diesem Sinne wird auch in der
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Peter Kunzmann
Musik oder beim Fußballspiel eine gute "Technik" qualifiziert. Immer schwerer ist dagegen "Technologie" zu trennen, was (wohl als Anglizismus) fast gleichbedeutend mit Technik verwendet wird und nur bedeutender klingt. Dabei bezeichnet Technologie eigentlich das Wissen um und von der Technik; entweder in einem engeren Ausschnitt von Technik oder als reflektierendes Wissen über Technik allgemein.
1.2
Bewertungen von Technik
Technik erscheint zunächst als wertneutral, eigentlich als ambivalent, denn was mit ihren Produkten geschieht, liegt in der Hand des Benutzers. Mit dem Auto wird ein Besuch bei einer entfernt lebenden Tante ebenso möglich wie ein BanküberfalL Das Internet beschleunigt die weltweite Kommunikation über die Völkergrenzen hinweg, aber auch die Vernetzung und Verbreitung rassistischer Propaganda, gegebenenfalls über die staatlichen Grenzen des Strafrechts hinweg. Ob die Verantwortung tatsächlich beim Nutzer oder beim Hersteller (vgl. Ropohl1987, 158ft) liegt, muss jeweils konkret ermittelt werden. Ein multifunktionales Gerät wie ein Computer stellt sich darin anders dar als eine Schusswaffe oder eine Tellermine. Es gehört außerdem zum Verantwortungsbereich eines Herstellers, die Möglichkeiten zum Missbrauch mitzubedenken und sie einzuschränken; tut er dies schuldhaft nicht, kann er dafiir auch zur Rechenschaft gezogen werden. Gänzlich ihre Indifferenz und damit ihre Unschuld verliert die Technik in der Technikkritik (vgl. v. a. Ott 1996), und zwar dadurch, dass sie selbst als ein Motor auf dem Weg zu den kritisierten Zuständen gesehen wird, in die sie verwoben ist. Der technischen Entwicklung selbst wird eine Dynamik zugeschrieben, die notwendig zum entfremdeten, denaturierten Zustand der Menschen fiihrt. Bei Horkheimer/Adorno (2003 [1944], 20) etwa ist Technik eng mitjenem Projekt der Aufklärung verbunden, die am Ende nur in Herrschaft umschlagen kann. Wissenschaft und Wissen stehen im Dienst an einer Technik, die selbst fiir humane Ziele blind ist: ,,Das Wissen, das Macht ist, kennt keine Schranken, weder in der Versklavung der Kreatur noch in der Willfährigkeit gegen die Herren der Welt. Wie allen Zwecken der bürgerlichen Wirtschaft in der Fabrik und auf dem Schlachtfeld, so steht es den Unternehmenden ohne Ansehen der Herkunft zu Gebot. ... Technik ist das Wesen dieses Wissens. Es
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Technikethik
zielt nicht auf Begriffe und Bilder, nicht auf das Glück der Einsicht, sondern auf Methode, Ausnutzung der Arbeit anderer, Kapital."
Im technischen Wissen vollendet sich später für Adorno (in den "Minima Moralia", Nr. 80; Adorno 2003, 141) die Selbstaufhebung aufgeklärten Denkens: "Die kollektive Dummheit der Forschungstechniker ist nicht einfach Absenz oder Rückbildung intellektueller Fähigkeiten, sondern eine Wucherung der Denkfähigkeit selber, die diese mit der eigenen Kraft zerfrißt."
Für die eigentlich ethische Diskussion relevant wurden quantitative und qualitative Veränderungen der technischen Möglichkeiten, die Hans Jonas' Klassiker "Das Prinzip Verantwortung" wie eine Wegmarke festhielt- Veränderungen "der Art wie der Größenordnung nach" (Jonas 2003 [1979], 7). Der Mensch wird durch verfeinerte Verhaltenskontrolle und durch die Genetik selbst zum Objekt der Technik (Jonas 2003 [1979], 4753). Die menschlichen Eingriffe in die Umwelt werden mit Hilfe der technischen Möglichkeiten zu einer Gefahr für den Fortbestand eines würdigen Menschenlebens überhaupt. Mit Hilfe der Technik verändert, bedroht und zerstört der gegenwärtige Mensch die Welt mit drastischen Folgen für die nachfolgenden Generationen, denen er die Grundlagen fiir ein würdiges Dasein entzieht: ,,Die Zukunft der Menschheit ist die erste Pflicht menschlichen Kollektivverhaltens im Zeitalter der modo negativo ,allmächtig' gewordenen technischen Zivilisation. Hierin ist die Zukunft der Natur als sine-quanon offenkundig mitenthalten, ... nachdem der Mensch nicht nur sich selbst, sondern der ganzen Biosphäre gefährlich geworden ist" (Jonas 2003 [1979], 245).
Für die Bewältigung der immens gesteigerten technischen Potenz sei die traditionelle Ethik nicht gerüstet (vgl. Jonas 2003 [1979], 222- 233). Sie ist bemessen für viel engere Horizonte und nicht in der Lage, der Dynamik der gegenwärtigen Entwicklung zu folgen. Mit der klassischen Ethik haben wir etwas wie eine Ethik für den Nahbereich, wo wir eine Fernethik bräuchten, die der Fernwirkung unserer technisch möglichen Handlungen entspricht.
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Peter Kunzmann
1 .3
Technikethik im Kontext
Beim Versuch, technischen Fortschritt in allen seinen Auswirkungen ethisch zu bewerten und ihn zu steuern, zeigt sich rasch, dass eine "reine" Technikethik kaum sinnvoll durchführbar ist. In ihrer modernen Gestalt ist die Entstehung und die Nutzung von "Technik" immer in ein mehr oder minder komplexes Gefüge von ethisch relevanten Faktoren eingebunden. Dies liegt zum einen daran, dass in einer hochgradig arbeitsteiligen Gesellschaft üblicherweise viele Personen in verschiedenen Rollen und Funktionen beteiligt sind. Allein unter der Perspektive der Schlüsselkategorie "Verantwortung" (s. u. 2) wird deutlich, dass es nicht mehr einfach ist, ein Individuum oder wenige Individuen rasch für ein technisch bedingtes Ereignis verantwortlich zu machen oder zur Verantwortung zu ziehen. Lenk und Maring (1995) haben dafür einmal das instruktive Beispiel eines Fährunglücks aufgegriffen. Nur scheinbar einfach lässt sich die Verantwortung einigen wenigen Menschen zuschreiben, die die Katastrophe durch ihre Fehler unmittelbar herbeigeführt haben. "Schlamperei, Fahr- und Nachlässigkeiten, Zeitdruck als Folge von Wettbewerbsdruck, Fehlkonstruktionen, Gewinninteressen, ein nur negatives Kontrollsystem" (Lenk/Maring 1995, 241f) haben ihren Anteil dazu beigetragen, weil sie das Desaster mitbedingt und mitgeschaffen haben. Damit erweitert sich immer weiter der Kreis der "Verantwortlichen". Eine Technikethik, die allein am Ingenieur und seinem Verantwortungsbewusstsein ansetzt, greift hier deutlich zu kurz. Am Beispiel wird ferner sichtbar, dass Technik in komplexen Wechselwirkungen zu nicht-technischen Elementen der Wirklichkeit steht; für die lebensweltliche Relevanz der Technik spielen wirtschaftliche Überlegungen eine prominente Rolle. Technik wird von Unternehmen gestaltet, die wirtschaftlichen Zwängen unterliegen, aber ihrerseits mit Hilfe von rechtlichen Maßnahmen gesteuert werden können. Technik verändert und beeinflusst aufvielfältige Weise das Leben von Individuen und formt gesellschaftliche Entwicklungen (s. u.: Beispiel 1). Modeme Technik entsteht im Austausch mit den technischen Wissenschaften und den Naturwissenschaften, wendet deren Ergebnisse an und stimuliert sie umgekehrt. 1 Eine grundsätzliche Darlegung des Verhältnisses zwischen Technik und Wissenschaft findet sich bei Hubig 1993.
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Technikethik
Von zentraler ethischer Relevanz ist ihre Wirkung auf die Umwelt in Form etwa von Ressourcenverbrauch und Immissionen. Für die Reflexion in der Technikethik heißt dies, dass sich dieses komplexe Netz in ihr wieder finden muss. In keinem anderen Bereich der Angewandten Ethik kreuzen sich die Problemstränge so eng und vielfaltig wie in der Technikethik. Die scharfe Formel, nach der eine Technikethik ohne Wirtschaftsethik sinnlos sei, weist daraufhin, in welchem Maß Technikethik wirtschaftliche und soziale Faktoren (vgl. Lenk 1982) berücksichtigen muss. Technik kann bioethische und umweltethische Fragen (s. u.: Beispiel 2) ebenso aufwerfen wie wissenschaftsethische, medizinethische oder medienethische. Dadurch, dass die Vernetzung und die Verknüpfung technischer Prozesse in andere Bereiche (wie etwa in die soziale Dimension) unvermeidbar zur Technik gehören, ergeben sich inhaltlich Parallelen der Technikethik auch zur Technik:folgenabschätzung. Diese sind unter 2.3 ausführlicher dargestellt.
2
Der Schlüsselbegriff der T echnikethik: Verantwortung
2.1
Das Problem
Aus dem Gesagten ergibt sich zwanglos, dass Verantwortung zum Schlüsselbegriff der Technikethik avancierte. Man kann wie Thurnherr (2000) zumindest die deutschsprachige Technikethik als eine "philosophische Begriffsarbeit" an der "Verantwortung" lesen. Die Kernfrage bei der Beurteilung der Folgen von Technik spitzt sich darauf zu, wer denn nun moralisch fiir sie verantwortlich sei (oder/und auch rechtlich die Verantwortung trage). Daraus ergibt sich, dass jede Bestimmung dessen, wofiir "irgendjemand" "irgendeine" Verantwortung trägt, die ganze Komplexität der Handlungssituation wiedergibt. Unter modernen Bedingungen entsteht und wirkt "Technik" in nicht leicht überschaubaren Zusammenhängen, so dass die Frage nach dem Verantwortlichen keineswegs trivial ist. Hans Jonas (2003 [1979]) hat darin einen großen Unterschied zur überlieferten Ethik herausgestellt, in der sich Appelle jeweils an einen individuell Handelnden richten konnten. Diese Konstellation gilt nicht mehr fiir die ganze
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Peter Kunzmann
Reichweite moderner Technik. Es braucht andere Modelle von Verantwortung: Der philosophisch und theologisch aufgeladene Begriff "Verantwortung" (vgl. Werner 2002) verliert seine religiösen Konnotationen ("verantworten"). Die alte Kurzformel von einer "Verantwortungsethik" in Gegenüberstellung zu einer "Gesinnungsethik" muss material mit einer durchgreifenden Analyse dessen, was "Verantwortung" heißt, gefüllt werden.
2.2
Die Dimensionen von Verantwortung
Werner (2002, 521) bestimmt als Kernbedeutung von "Verantwortung" "sich (für X gegenüber Y unter Berufung auf Z) verantworten, [d. h.] soviel wie, sich für X gegenüber Y unter Berufung auf Z) verantworten." Demnach ist Verantwortung ein Relationsbegriffmit drei Stellen. Einegenaue Darstellung bringt es auf sechs bzw. sieben Stellen. Ropohl (1987, 155) legt den VerantwortungsbegriffHoffmeisters zugrunde: "So wird ,Verantwortung' definiert als ,das Aufsichnehmen der Folgen des eigenen Tuns, zu dem der Mensch als sittliche Person sich genötigt fühlt, da er sie sich selbst, seinem eigenen freien Willensentschluß zurechnen muß'." Ropohl fahrt fort: "Schaut man genauer hin, erweist sich ,Verantwortung' als mehrsteHiger Relationenbegriff; die wichtigsten Elemente ... sind auf dieser Seite zusammengestellt." Ropohl liefert sechs Elemente von Verantwortung, (andere Listen operieren mit vier oder auch sieben): Wer (Akteur), Wann (vorher/nachher), Wovor (Instanz), Was (Handlung), Wofür (Folgen), Weswegen (Werte). In diesen sechs Relaten lässt sich genauerhin erfassen, was Verantwortung im Einzelfall bedeutet. Wer: Die Beantwortung dieser Frage ist keinesfalls trivial. Wie gesehen ist es im Unterschied zu den klassischen ethischen Modellen gerade nicht einfach möglich, auf denjenigen zu deuten, der Verantwortung trägt. (Allein schon die Verschiebung zwischen dem Hersteller und dem Nutzer von Technik beschreibt eine Dimension der Frage nach dem "Wer".)
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Technikethik
In der arbeitsteiligen Gesellschaft, die heute Technik produziert und verwendet, wird die Frage nach dem Subjekt von Verantwortung zum Schlüssel des technikethischen Problems. Es kann natürlich nicht zureichen, demjeweils handelnden Ingenieur oder dem behandelten Arzt allein die Verantwortung zuzuschreiben. Selbst wenn man ihm die Rolle eines "moralischen Helden" zuweist, kann das Individuum zwar persönlich Verantwortung übernehmen, aber nicht mehr fiir den ganzen Wirkungskreis der Technik, an deren Entwicklung und Herstellung es beteiligt ist oder war. Technisches Handeln ist heute fast ausschließlich korporatives Handeln, das in Teams stattfmdet, die wiederum zu Konzernen gehören. Das Dilemma fiir die Ethik, unter den geschilderten Bedingungen sagen zu müssen, wer eigentlich verantwortlich ist, wird rasch deutlich an der "Ropohl-Zirnmerli-Kontroverse" (vgl. Ropohl 2002): Zimmerli (vgl. 1991) hält an der Kernbedeutung von moralischer Verantwortung fest, die man sinnvoller Weise nur Individuen zu- oder absprechen könne. Für Zirnmerli treten damit Handlungs- und Verantwortungssubjekt auseinander, denn im Unterschied zur Handlung kann moralische Verantwortung nur genuin moralischen Instanzen mit entsprechendem Verantwortungsgefiihl zugeschrieben werden, eben sittlichen Subjekten. Ropohl (und andere) ziehen den entgegengesetzten Schluss: Gerade weil die Akteure in der Technik Korporationen wie etwa Unternehmen sind und nicht mehr Individuen, muss der Verantwortungsbegriff soweit erweitert und adaptiert werden, dass es kollektive Verantwortung erfassen kann und zwar so (Ropohl2002, 103), "daß auch in organisierter Verantwortung die Individuen natürlich ihren Part spielen, freilich nur nach Maßgabe ihrer jeweiligen Handlungs-, Sach- und Wertkompetenz. Da diese Kompetenzen beim Individuum vor allem in arbeitsteiligen Wirtschaftsunternehmen notorisch beschränkt sind, ist korporative Verantwortungsorganisation ... eine subsidiäre Förderung der individuellen Verantwortung." Wann: Schon vor der philosophischen Analyse erfasst das Sprachgefiihl den wichtigen Unterschied von "verantwortlich sein fiir" und jemanden "verantwortlich machen fiir". Im ersten Falle erfasst "Verantwortung" eine Verpflichtung hinsichtlich gegenwärtiger Tätigkeiten oder auch künftiger Handlungsfolgen. Der Pilot einer Linienmaschine kann in diesem Sinne fiir die Sicherheits-Checks an seinem Flugzeug verantwortlich sein; der Konstrukteur einer Brücke trägt in diesem Sinne "Verantwortung" fiir deren Sicherheit. Erst im Nachhinein wird jemand "verantwortlich gemacht fiir etwas", d. h. nach dem Scheitern einer technischen Einrichtung wird jemandem die rechtliche oder moralische Verantwortung dafiir zuge-
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Peter Kunzmann
messen. Daraus ergibt sich eine fundamentale Unterscheidung zwischen "prospektiver" und "retrospektiver" Verantwortung. Wovor: "Ver-Antwortung" bedeutet "Antwort" geben. In dieser Dimension wird eine wichtige Qualität bestimmt, nämlich ob es sich um Verantwortung etwa vor einem Gericht, vor einem Betroffenen, vor einem Aufsichtsrat, vor Aktionären oder vor sich selbst, dem eigenen Gewissen oder der Selbstachtung handelt. Die Verantwortung fiir ein und dieselbe Handlung kann sehr verschiedene Formen annehmen, je nach dem, wem der Verantwortliche Rechenschaft gibt. Mit dieser Frage "wovor?" lassen sich die ethische, die rechtliche, die soziale und die wirtschaftliche Perspektive der Verantwortung voneinander abheben. Je nach dem, wovor ich meine Handlungen verantworten muss, spreche ich in einem sehr verschiedenen Sinne von Verantwortung, die juristisch etwa eine andere Bedeutung hat als moralisch und an andere Kriterien geknüpft wird. Was: Auch dies ist keinesfalls trivial, denn "Handlung" kann verschieden ausfallen; im Umgang mit Technik ist eine Unterlassung oft genauso als Handlung zu werten wie eine aktiv vollzogene Tat. In ethischer Rücksicht muss im Kontext von Technik oft weiter nach der Art von Kausalität gefragt werden, mit der jemand ein Geschehen bestimmt oder bestimmt hat. Schon das Beispiel mit der Fähre zeigt, aufwelch unterschiedliche Weise Personen "gehandelt" haben: durch Tun oder Unterlassen, durch schuldhafte Fahrlässigkeit oder aufgrundvon Notwendigkeiten, die sie selbst nicht ändern konnten, etc. Wofiir: Um Verantwortung zuzuschreiben, muss genau festgelegt werden, fiir welche Folgenjemand verantwortlich ist oder gemacht wird. Im Kontext von Technik ergibt sich häufig der Fall, dass Handlungsfolgen dem einzelnen Akteur nicht oder nicht vollständig klar sind. Dies liegt zum einen an der beschriebenen Komplexität der Umstände, unter denen technisches Handeln stattfmdet: Es kann Folgen in wirtschaftlicher oder sozialer Hinsicht zeitigen, die dem "Techniker" nicht gewärtig sind. Ein wichtiger Aspekt des Themas Folgen lässt sich unter "Risiko" subsumieren: Von Risiko spricht man, wenn nicht alle Handlungsfolgen abschätzbar sind und dabei negative Effekte nicht auszuschließen, aber auch nicht sicher zu erwarten sind. Zu dessen Bewertung zieht man zwei Basisgrößen heran, nämlich das Ausmaß des Schadens, falls er eintritt, und die Wahrscheinlichkeit, mit der ein Schaden eintritt. Das Risiko ist also umso höher zu bewerten, je wahrscheinlicher und je "schlimmer" eine unerwünschte Folge eintritt.
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Technikethik
Eine Verhaltensregel, die sich daraus ableiten lässt, besagt, aus alternativen Handlungen diejenige zu wählen, bei der die Prognose arn sichersten sei (Vorsichtsregel), das Risiko also arn ehesten zu beherrschen ist. Irrgang (1996, 517ft) hat daneben eine Reihe von solchen basalen Regeln aufgestellt: Seine Verantwortbarkeitsregel schreibt vor, alle von einer Handlung Betroffenen zu berücksichtigen, und zwar alle Interessen gleich zu berücksichtigen (Gleichheitsregel). In der Technikethik schließt sie die Interessen von Menschen in anderen Teilen der Welt mit ein und besonders diejenigen von künftigen Generationen, denn die heutigen Gestaltungsmöglichkeiten schaffen Zustände, die die Menschen der Zukunft nicht mehr frei gestalten werden können. Auf sie alle bezieht sich auch die Nichtschadensregel, nach der Schäden zu vermeiden sind. Irrgang stellt sie einer Wohlfahrtsregel gegenüber: Diese verpflichtet zu weitmöglicher Verbesserung bestehender Zustände. Diese Regel ist nicht selbstverständlich, denn sie besagt: Es ist nicht statthaft, unter Hinweis auf mögliche Risiken eine Technik einfach nicht einzusetzen. Es kann geboten sein, zu handeln statt nichts zu tun, wenn echte Verbesserungen möglich sind, auch wenn dabei Schäden riskiert werden müssen. Weswegen: Ein wichtiger Aspekt betrifft die Frage, aus welchem Grundjemand verantwortlich ist. Dies lässt sich anhand der Werte darstellen, die mit technischem Handeln angestrebt werden oder die umgekehrt geschmälert werden können. Diese wertethische Betrachtung (vgl. auch Hubig 1993, Kap. 8, 133-149) hat sich auch der Verein Deutscher Ingenieure (VDI; VDI 1987; vgl. VDI 1991 und Rapp 1999) in seinen Empfehlungen zur Technikbewertung zu Eigen gemacht. Die Richtlinien nennen acht solche "Werte", die zueinander in recht unterschiedlicher Beziehung stehen. Als Werte können die Sicherheit und die Funktionsfahigkeit aufgefasst werden, Gesundheit und Umweltqualität, einzelbetriebliche Wirtschaftlichkeit und gesamtwirtschaftlicher Wohlstand und schließlich Persönlichkeitsentfaltung und Gesellschaftsqualität Diese acht Werte geben einen inhaltlichen Rahmen für die Frage ab, weswegen jemand Verantwortung trägt, weil er nämlich individuellen und kollektiven Zielen wie Wohlstand und Freiheit verpflichtet ist. Oder sie geben retrospektiv an, weswegen jemand seiner Verantwortung nicht nachgekommen ist, z. B. weil er einen Sicherheitsaspekt vernachlässigt hat.
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Peter Kunzmann
2.3
Verantwortung und Technikfolgenabschätzung
Ein wichtiges Instrument bei der Bewertung und Gestaltung der komplexen Gestalt von Technik ist aus der "Technikfolgenabschätzung" entstanden (vgl. Ort 1996). Ursprünglich war ihr Auftrag recht eng an die Politikberatung gekoppelt wie beim OTA, dem "Office of Technology Assessment", das sich der US-Kongress 1972 eingerichtet hat. Dieser Ansatz wurde im Laufe der Zeit erheblich erweitert (zum Folgenden vgl. Petermann 1999): Als Disziplin wurde die Technikfolgenabschätzung zu einer Technikfolgenforschung erweitert, die sich immer systematischer um die Wirkungen von Technik kümmert. Die Technikfolgenforschung wurde zur Technikgeneseforschung weiterentwickelt, die sich zum Ziel setzt, rechtzeitig auf die Entwicklung, deren "Genese" man kennen will, Einfluss nehmen zu können. Die prospektive Leistung wird stärker herausgestellt. War "Technikfolgenabschätzung" zunächst nur ein Instrument oder Mittel, politische Entscheidungen zu treffen und sie zu vermitteln, wurde sie vor allem in Europa zunehmend von einem Leitbild des Diskurses bestimmt. (Eine Reihe von sozialen und politischen Veränderungen hat dazu beigetragen, dass auch in der ethischen Diskussion der "Diskurs" zu einem wichtigen Prinzip aufgewertet wurde.) Alle von der Technik Betroffenen sollen an ihrer Gestaltung mitwirken können. Das Stichwort lautet "Partizipation: Bürger statt Eliten, Laien statt Experten" (Petermann 1999, 33). Dafür wurde eine ganze Reihe von Verfahren wie etwa "Bürgerforen" geschaffen, die die Beteiligten rechtzeitig in die Entstehung neuer Techniken einbinden sollen; mündige Bürger sollen den Stand der technischen Entwicklung nicht mehr nur von Experten vernehmen, sondern die Möglichkeit haben, an ihr mitzuwirken. Dabei hat sich auch das Bild von der Technik dahingehend gewandelt, dass man ihr keinen Determinismus unterstellt, der nicht zu steuern sei. Moderne Gesellschaften verlangen Rechenschaft für die Einfiihrung neuer Techniken und nehmen das Recht in Anspruch, diese u. U. auch zu verhindern. Gerade an diesem Punkt werden die Werthorizonte und die Urteilsfahigkeit aller Beteiligten für die Technik relevant. Diese Fähigkeit zur Bewertung von"Technik" zu schärfen, ist eine Hauptaufgabe der Technikethik, für die sie Kriterien und Argumente bereitstellen soll. Die "Technikfolgenabschätzung" und ihre Nachfolger dagegen tragen der Komplexität Rechnung, die sich aus der vielgestaltigen Wechselwirkung zwischen Technik und der Lebenswirklichkeit des modernen Menschen ergibt.
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Technikethik
3
Beispiele
3.1
Der Computer
Mancher durch und durch technisch geprägte Verlauf scheint ganz ohne technikethische Begleitung zurechtzukommen. Die Lebenswirklichkeit der meisten Menschen in den westlichen Industrieländern wird in den letzten beiden Jahrzehnten zunehmend und beschleunigt vom Computer geprägt. Wo immer Arbeit an Schreibtischen stattfindet, stehen mittlerweile PCs, ,,Personal Computer", auf eben diesen Schreibtischen. Zu Hause hat der PC in vielen Haushalten eine im wahrsten Sinne zentrale Stellung eingenommen: Er speichert Haushaltskasse und Tagebücher, Briefe und Gebrauchsanweisungen, er hält das Angebot an Musik und Fernsehprogramm vorrätig, er ist zur kommunikativen und informativen Schleuse geworden: E-Mail, Fax und nach Wunsch das Telefon im Modus direkten Austausches laufen über den PC; alle Arten von Information kommen über ihn ins Haus und verlassen es über ihn. Die Veränderungen in der Freizeitgestaltung von Kindern und Jugendlichen, die der PC ermöglicht, und die damit bewirkten Veränderungen in ihrem Verhalten sind Gegenstand häufiger Klagen. Der PC wird zum kardinalen Werkzeug- und ein einziges Unternehmen bestimmt im Wesentlichen, wie es funktioniert (oder auch nicht). Darin liegt nur einer von vielen Aspekten, in denen sich technikethische und wirtschaftsethische Fragestellungen kreuzen. Ganze Industrien werden in wenigen Jahren revolutioniert: Die hundertfünfzig Jahre alte Entwicklung der Photographie z. B. wird innerhalb eines knappen Jahrzehnts durch ihre digitalen Varianten ersetzt. Eine von vielen weiteren Konsequenzen: Der Rohstoff Brom wird deshalb nicht mehr gebraucht und verliert an Bedeutung. Durch den PC werden ganze Berufsbilder gründlich verschoben, weil der Computer ihre Technisierung beschleunigt. Klassische "Handwerker" steuern ihre Werkzeuge mehr oder minder ausschließlich über den Computer. Die Wirkungen des PC auf die Arbeitswelt sind nicht geringer als die der Dampfmaschine während der "Industriellen Revolution". In immer mehr Lebensbereichen werden Menschen genötigt, Tätigkeiten mit Hilfe des Computers "abzuwickeln". In der Berufswelt und im privaten Leben wird die Beherrschung des Computers zu einer basalen Kulturtechnik; wer sie nicht beherrscht oder beherrschen will, oder wer von den technischen
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Ressourcen ausgeschlossen ist, wird zunehmend marginalisiert. Dies gilt fiir Individuen, die der Entwicklung nicht mehr folgen können oder wollen; es gilt aber auch fiir soziale und politische Gruppen.- Die Frage nach möglichen Schieflagen in den sozialen Folgen wurde schon relativ früh von Weizenbaum (1976 [dt. 1979]) aufgeworfen. Zusätzliche Wucht bekommt die Wirkung des PC durch das Internet (vgl. Hausmanninger/Capurro 2002). Es entstehen neue Formen des Handels und des Hande1ns. Geographische Grenzen werden bedeutungslos, Arbeitsplätze können an irgendeinen Ort des Planeten verlegt werden, weil Information und ihre Verarbeitung praktisch zeitgleich überall zur Verfugung steht. Gleichzeitig wird das ganze System störungsanfallig gegen kriminelle Eingriffe und Angriffe- die Stichworte heißen "Hacker", "Viren", "Worms". Politische Grenzen werden bedeutungslos, weil durch die weltweite Vernetzung rechtliche Mittel der Kontrolle wirkungslos werden: Die ungehemmte Verbreitung von bestimmten Inhalten wie politische Agitation oder pornographischer "content" wird möglich, weil andernorts andere Gesetze gelten oder sie anders vollzogen werden. Es lag nahe, eine eigene "Computerethik" zu kreieren; die entsprechende Bezeichnung wurde wohl 1976 von Walter Maner in Umlauf gebracht. Die "Computerethik" wird heute durch eine umfassendere "Informationsethik" (Capurro et al. 1995; vgl. "International Center for Information Ethics", http://icie.zkm.de/) überspannt. Durch den PC und das Internet werden nämlich allgemeine technikethische Fragen variiert oder verschärft, aber auch neue geschaffen. Das Recht auf geistiges Eigentum ist z. B. nicht neu, neu sind dagegen die ums Vielfache gesteigerten Möglichkeiten, dieses Recht zu verletzen. Die Möglichkeiten, gegen das alte "nil nocere", "nicht schaden", zu verstoßen, werden um viele neue Varianten bereichert. Ein relativ neuer ethischer Aspekt, der besonders durch das Internet aufkam, ist das Verhältnis von "privat" und "öffentlich": In welchem Maße und in welcher Form werden durch den Computer private Informationen öffentlich, sei es durch freiwillige Darbietung, sei es durch erschlichene Information über alle möglichen Vorlieben eines Zeitgenossen? Die alte technikethische Frage nach der "Verantwortung" (s.o.) kehrt in allen Facetten wieder, fiir die Computerwelt behandelt bei Ladd (1989) und Bynurn!Rogerson (2003). Wie in anderen Bereichen der Technik wendet sich eine mögliche Antwort direkt an die Akteure, etwa in Form von "Codes of Conduct', die sich nicht wesentlich von denen fiir andere Berufsgruppen unterscheiden. Beispiele fiir solche Regelsammlungen als Ethik-Codizes wären der "Code ofEthics and Professionals Conduct" der
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Technikethik
ACM (Association ofComputing Machinery) und die "Ethischen Leitlinien der Gesellschaft für Informatik", zugänglich jeweils auf den Homepages (http://www.acm.org bzw. http://www.gi-ev.de). Überblickt man die Themen in einschlägigen Zeitschriften wie dem ,,Journal of Information Ethics" (St. Cloud seit 1995; hrsg. von Robert Hauptman), wird schnell deutlich, wie weit die ethisch relevante Spannbreite des Einsatzes von Computern reicht. Computer bestimmen jedermanns Alltag in vielfältiger Weise- und zugleich wird immer nur ein Teilbereich der ethischen Reflexion zugänglich. Die gewaltigen, in vielen Dimensionen registrierbaren Umwälzungen der Lebenswelt durch den Computer sind ethisch schwer zu erreichen. Weil die Revolution der Informationstechnik entscheidend und umfassend auf die technische Gestaltung unserer Lebenswirklichkeit eingreift, spiegelt sich ihre Komplexität in der Ethik wider. "Computerethik" oder "Informationsethik" wird dadurch zum Muster für die Frage nach der Zuschreibung von Wirkungen bzw. nach der "Verantwortung" bei der Erfmdung, Entwicklung und dem Einsatz von Technik in einer komplizierten technisierten Welt.
3.2
Die "Grüne Gentechnik"
Unter "Grüner Gentechnik" versteht man die gentechnische (also nicht nur züchterische) Transformation des Erbgutes von höheren Pflanzen (im Unterschied zur "Roten Gentechnik" in der Humanmedizin bzw. zur "Weißen Gentechnik", die bei Mikroorganismen stattfindet). Während im Fallbeispiel 1 der Computer mächtige Veränderungen für die Lebenswirklichkeit von sehr vielen Menschen bedeutet, ohne dass dies stark von technikethischer Reflexion vorbereitet oder durch sie kontrolliert würde, liegen die Dinge im Beispiel 2, der Grünen Gentechnik, in dieser Hinsicht genau anders herum: Die Grüne Gentechnik hat sehr früh zum Teil heftige Gegenreaktionen provoziert, die ethische Bedenken in vielerlei Richtung geltend gemacht haben. Viele dieser Gegenreaktionen stammen aus Intuitionen, die auf etwas wie "Natürlichkeit" oder "Gesundheit" zielen und entsprechend beziehen sich zahlreiche Argumente und Gegenargumente auf diesen Fragekreis. Dies legt die Vermutung nahe, "Grüne Gentechnik" sei schwerpunktmäßig ein "bioethisches" Thema. Dies ist es selbstredend auch, aber es wird schnell klar, wie deutlich sich im Streit
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um die Grüne Gentechnikjene Verzahnung ethischer Fragestellungen aus verschiedenen Perspektiven zeigt, die eingangs als so bezeichnend fiir technikethische Untersuchungen ausgewiesen wurden. Nur ein Teil der kritischen Anfragen an die Nutzung Grüner Gentechnik bezieht sich aufbioethische Aspekte, wie etwa mögliche Störungen des biologischen Gleichgewichts oder eine Bedrohung der Artenvielfalt Andere Folgen des Einsatzes Grüner Gentechnik reichen in soziale Fragestellungen (Stichwort: "Wahlfreiheit des Konsumenten") und besonders in wirtschaftsethische Konfliktfelder, etwa wenn nach einer möglichen Machtstellung oder Monopolisierung auf dem wichtigen Markt fiir Saatgut gefragt wird. Eine umfassende Einbettung in politische und gesellschaftliche Entscheidungsstrukturen ist ebenso gefordert wie die klassischen Instrumente von Technikbewertung, wie etwa die Risikoabschätzung. Zunächst wurden und werden in die Nutzung von Grüner Gentechnik hohe Erwartungen gesetzt: Eine effektivere Nutzung von landwirtschaftlichen Nutzflächen verspricht das hohe Gut einer besseren Versorgung der Erdbevölkerung und eine Linderung des Hungerproblems. Dies sucht die Gentechnik z. B. dadurch zu erreichen, dass sie Nutzpflanzen toleranter gegenüber widrigen Umweltbedingungen (vgl. WHO 2005, 36) macht oder auch ihre Resistenz gegen negative biologische Einflüsse wie Pilze oder Fraßschädlinge stärkt. Eines der wichtigsten Produkte Grüner Gentechnik sind BT-Pflanzen (Mais, Baumwolle), die gegen Insekten und deren Larven ein ähnliches Gift produzieren wie das Bakterium Bacillus Thuringensis. Die ökologischen Vorteile liegen z. B. bei geringerem Austrag von Insektiziden oder auch Herbiziden durch deren gezielteren Einsatz. In der Tat werden wichtige Nutzpflanzen (Mais, Soja, Baumwolle) in wichtigen Erzeugerstaaten wie den USA seit geraumer Zeit schon in großem Maßstab in gentechnisch veränderten Varianten angebaut. Ein anderer Aspekt hat die Eigenschaften der Agrarprodukte im Blick: Durch die Modifikation soll z. B. der Anteil erwünschter Inhaltsstoffe (z. B. Vitamine oder bestimmte Nährstoffe) erhöht werden. Die WHO (WHO 2005, V) sieht entsprechend ein Potential "of increased productivity or improved nutritional values" und "indirect beneflts such as a reduction of agricultural chemieals usage, enhanced farm income, crop sustainability and food security". Im Sinne von Irrgangs Wohlfahrts- oder Verbesserungsregel (vgl. auch Irrgang 1997, 224f; 229f) kann es durchaus als geboten scheinen, Grüne Gentechnik einzusetzen, wenn damit eine Verbesserung der Lebenssituation von Menschen erreicht wird. Gleichzeitig gebietet die Nicht-
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schadensregel, die Risiken einer möglichen nachteiligen Wirkung Grüner Gentechnik zu bedenken, zu bewerten und möglichst auszuschließen. Irrgang selbst ( 1997, 229) nennt u. a. ökologische, humanökologische und sozialethische und internationale Verträglichkeitskriterien als Maßstab. Busch et al. (2002) haben die relevanten Aspekte nach Dimensionen von Nachhaltigkeit gestaffelt, also in ökologische, ökonomische und soziale differenziert: Zu den ökologischen Aspekten etwa gehören Fragen der Biodiversität, also die Frage, ob Grüne Gentechnik die Fraßfeinde der veränderten Nutzpflanzenarten in ihrem Bestand als Art bedrohen kann, oder ob sie die Sortenvielfalt an Kulturpflanzen verengt, ob es zu Auskreuzungen mit Wildpflanzen kommt und sich damit die natürliche Fauna verändert. (Was bei vielen Nutzpflanzen in Europa deshalb nicht zu befiirchten ist, weil sie hier keine nahen Verwandten in der Natur haben.) Erheblich fiir die Akzeptanz dieser Technik war und ist etwa die Frage, ob die Aufnahme technisch modifizierten Genmaterials durch die Nahrung Auswirkungen auf Mensch und Tier hat, inklusive etwaiger Effekte auf allergische Personen. Diese Risiken werden und wurden in kontrollierten Versuchen geprüft und so weit wie möglich ausgeschlossen. Die Studie der World Health Organisation (WHO) enthält einen umfassenden Überblick (WHO 2005) über die verschiedenen Nutzungschancen, Risiken und die Fragen eines effektiven "risk assessement". Eine fundamentale Option gegen die Grüne Gentechnik schließt dagegen aus religiösen oder weltanschaulichen Gründen jeden Eingriff aus, der die "natürliche" Artschranke verletzt. Die Diskussion erstreckt sich damit weit in die Fragen ökoethischen Zuschnitts, weil hier Optionen verrechnet werden, die das Verhältnis des Menschen zur Natur insgesamt bestimmen. Aus ökonomischer Perspektive geht der Streit in erster Linie um die Folgen fiir Schwellen- und Entwicklungsländer: Es wird der Verdacht erhoben, große Konzerne zerstörten autochthone landwirtschaftliche Strukturen und machten die Erzeuger weltweit von sich abhängig. "Ko-Existenz" schließlich ist ein brisantes soziales Thema, die Frage nämlich, wie verschiedene Arten von Pflanzenbau gleichzeitig nebeneinander bestehen können. Dies ist Gegenstand politischer Regulierung, ebenso wie der Schutz der Wahlfreiheit des Konsumenten: Jedermann sollte ein umfassendes und praktikables Recht haben, nach seinem Willen Produkte zu meiden, die mit Hilfe von Gentechnik entstanden sind.
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Peter Kunzmann
Wie sind die Risiken und Nachteile angesichts der unbestreitbaren Chancen zu bewerten? Gentechnisches Vorhaben
..._____
~ vergleichbare, entschiedene Vorhaben konventioneller Züchtung
nicht mit konventioneUer Züchtung
vergleichbare Vorhaben
zulässig
I prüfen, ob auch gentechnisches Vorhaben zulässig
Forschungsvorhaben
~
zulässig, wenn
Anwendung
~
keine weniger
kallrulierbarem
weniger gefiihrliche Alternativen:
Schadensausmaß als
diese wären vorzuziehen
Alternativen
unzulässig bei nicht
risikovergleichbare
Forschungsvorhaben zulässig sind
real möglicher Folge
Pareto-superiore Nachhaltigkeit:
gellihrliehen
Pareta-Kriterium nicht anwendbar
ethisch geboten
zulässig, wenn Unterlassen der Anwendung größeren Schaden als Nutzen bringt
unzulässig, wenn Unter-
lassen der Anwendung größeren Nutzen als
Schaden bringt
Abb. l
Busch et al. haben vorgeschlagen, dazu das Pareto-Prinzip heranzuziehen, nach dem der Einsatz einer Technik geboten sei, wenn er in einer der Nachhaltigkeitsdimensionen einen Vorteil bewirkt, ohne in einem anderen nachteilig zu wirken. Entscheidend ist dabei, dass das Prinzip relativ wirkt, also nur Verbesserungen oder Verschlechterungen gegenüber dem status quo ausweist. Ein solcher Vergleich bietet sich hier zwischen gentechnischen und konventionellen züchterischen Verfahren an. Busch et al.
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Technikethik
haben außerdem eine differenzierte Lösung eingefordert, die gerade nicht pauschal fiir oder gegen Grüne Gentechnik optiert. Dazu nutzen sie (Busch et al. 2002, 134) einen Entscheidungspfad, der Fallunterscheidungen ermöglicht: Gibt es direkt vergleichbare konventionelle Züchtungen? Handelt es sich um ein Forschungsvorhaben oder eine Anwendung? Falls ersteres: Wie bekannt ist das Ausmaß eines potentiellen Schadens? Falls zweiteres, sind fiir Anwendungen ungefahrlichere Alternativen vorzuziehen. Dann sind pareto-superiore Alternativen zu bevorzugen: Der Klassiker ist "Golden Rice", eine gentechnisch erzeugte Variante von Reis, der gleichzeitig in der Lage ist, Konsumenten mit ausreichend Vitamin A zu versorgen. Wo aber direkt keine Verbesserungen erkennbar sind, ist im Vergleich die Variante mit den geringsten Nachteilen anzustreben. Ergebnis: Wie beim ersten Beispiel wirft eine technische Neuerung weit mehr als Fragen der Technik auf, denn Neuerungen wie die Grüne Gentechnik greifen aufrecht unterschiedlichen Wegen in die Lebenswirklichkeit von Menschen ein, auch von solchen, die z. B. nicht von Pflanzenzucht leben. Das Beispiel zeigt außerdem, dass es ethisch nicht hinreicht, sich einer Innovation einfach zu verweigern, wenn sie Risiken oder Nachteile birgt oder bergen kann: Wenn eine Neuerung wichtige Vorteile bietet, braucht es gute Gründe, sie abzulehnen. In diesem Sinne haben wir eine Anwendung fiir das Wohlfahrtsprinzip, nach dem es nicht in unser Belieben gestellt ist, technisch mögliche Verbesserungen zu realisieren oder nicht. Ob dies fiir Einsatzmöglichkeiten der Grünen Gentechnik zutrifft, muss sich durch sorgfältige Abwägung aller relevanten Gesichtspunkte an konkreten Fällen ergeben.
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Peter Kunzmann
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Wirtschaftsethik lngo Pies I Markus Sardison
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Die wirtschaftsethische Fragestellung: Eigeninteresse versus Moral
Wirtschaftsethik ist Theorie fiir die Praxis. Neben Problemen der Begründung von Moral befasst sie sich daher vornehmlich mit der Frage, wie moralische Normen und Ideale unter den Bedingungen einer international wettbewerblieh verfassten Marktwirtschaft zur Geltung gebracht werden können: Wie sorgt man fiir gesellschaftliche Nachhaltigkeit in Produktion und Konsum? Welche Optionen sozialer Sicherheit gibt es in Zeiten der Globalisierung? Was ist heute zu tun, um zur Erhaltung der natürlichen Lebensgrundlagen auch fiir spätere Generationen beizutragen? Wie kann man verhindern, dass Demokratie durch Korruption unterminiert wird? Was können wir beitragen, um insbesondere jenem Drittel der Menschheit, das unter extremer Armut leidet, einen Zugang zu Märkten allererst zu ermöglichen und so unterschiedslos alle Menschen an den Emanzipationsleistungen wirtschaftlicher Prosperität stärker teilhaben zu lassen? Und worin liegt bei all dem die gesellschaftliche Verantwortung der Unternehmen? Wie können sie- als korporative Akteure - eine moralische Identität entwickeln und- als "Corporate Citizens" - die Rechte sowie Pflichten politischer Bürger wahrnehmen? Wie entwickelt man die Tugenden einer Organisation? Auf diese und ähnliche Fragen werden in der Theorie durchaus unterschiedliche Antworten favorisiert. Es gibt also einen Pluralismus heterogener Ansätze zur Wirtschaftsethik Allerdings müssen sich alle Ansätze an dem Anspruch messen lassen, konkrete Probleme der gesellschaftlichen Realität aufzugreifen, um mit Hilfe theoretischer Reflexion konstruktive Problemlösungen anzuleiten, die sich in eben dieser Realität als praktikabel bewähren. Es gibt daher eine Mindestanforderung, der eine ernst zu nehmende Wirtschaftsethik genügen muss. Diese Mindestanforderung lässt sich systematisch wie folgt entwickeln.
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1) Wirtschaftsethische Anwendungen können i. d. R. auf ein einheitliches Kernproblem zurückgeführt werden: auf den situativ auftretenden Widerspruch zwischen Eigeninteresse und Moral. In marktwirtschaftliehen Strukturen nimmt dieses Kernproblem oft die Form an, dass es ein Spannungsverhältnis gibt zwischen der unternehmerischen Gewinnorientierung auf der einen Seite und den gesellschaftlichen Legitimitätsvorstellungen auf der anderen Seite, von denen die soziale Akzeptanz des Wirtschafrens ("licence to operate") langfristig abhängt. Üblicherweise wird dieses Spannungsverhältnis als Trade-off(Abb. 1) wahrgenommen, so als gäbe es einen unauflösbaren Konflikt zwischen Eigeninteresse und Moral. Dieser Vorstellung zufolge müsste man sich entweder für die eine oder für die andere Seite in diesem Konflikt entscheiden. Graphisch bedeutet das, dass lediglich eine Bewegung entlang der Trade-off-Geraden stattfmden kann. Ein Mehr an Moral müsste danach zwangsläufig zu Lasten des Eigeninteresses gehen- und umgekehrt!
Eigeninteresse
Moral Abb. 1: Das Spannungsverhältnis zwischen Eigeninteresse und Moral.
2) Für eine Stellungnahme innerhalb dieses Trade-off gibt es prinzipiell nur drei Möglichkeiten. Erstens kann man zugunsten des Eigeninteresses Position beziehen und Gewinnmaximierung propagieren (Punkt A). Zweitens kann man sich auf die Seite der Moral schlagen und einen Verzicht aufGewinn einfordern (Punkt B). Und drittens kann man den goldenen Mittelweg des Sowohl-als-auch empfehlen (Punkt C). Allerdings ist jede dieser Positionierungen mit gravierenden Problemen verbunden. Der erste Fall (Punkt A) mündet in wirtschaftlichen Zynismus. Es wird dazu aufgerufen, dem Eigeninteresse Vorrang einzuräumen und so die Moral dem Sachzwang zu opfern. Gerade dies aber lässt sich wirt-
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Wirtschaftsethik
schaftlieh nicht durchhalten: Wirtschaftliche Akteure - Individuen oder Organisationen-, die ein solches Verhalten an den Tag legen, würden sehr bald merken, dass ihnen die gesellschaftliche "licence to operate" entzogen wird und dass sie in wirtschaftliche Schwierigkeiten geraten, weil Kunden, Lieferanten, Mitarbeiter und letztlich auch Kapitalgeber unmoralisches Verhalten mit Loyalitätsentzug quittieren. Der zweite Fall (Punkt B) mündet in einen appellativen Moralismus. Es wird dazu aufgerufen, auf Gewinn zu verzichten und so das eigene Interesse der Moral zu opfern. Auch dies lässt sich nicht langfristig durchhalten: Unternehmen, die ein solches Verhalten an den Tag legen, laufen Gefahr, in Wettbewerbsnachteil zu geraten. Womöglich riskieren sie damit sogar ihre Existenz. Es dient aber gerade nicht der Durchsetzung moralischer Normen und Ideale, wenn ausgerechnet die moralischen Akteure vom Markt verschwinden (müssen). Den Extrempunkten im Trade-off-Spektrum mangelt es also offensichtlich an Nachhaltigkeit. Die Erosion sozialer Akzeptanz liegt nicht wirklich im Eigeninteresse wirtschaftlicher Akteure, und die ruinöse Benachteiligung moralischer Akteure im Marktwettbewerb fördert nicht wirklich das Anliegen der Moral. Doch auch eine kompromisslerische Balance zwischen den Extremen ist wenig Erfolg versprechend, wenn man die Wirtschaftsethik als eine leistungsfahige Theorie fiir die Praxis entwickeln möchte. Im dritten Fall (Punkt C) nämlich endet man- bestenfalls- in einer Kasuistik. Hier kann eine wirtschaftsethische Theorie kaum ein heuristisches Potential entfalten, weil alles auf die -letztlich subjektive- Einschätzung der konkreten Situation ankommt und damit der jeweiligen persönlichen Urteilskraft überlassen bleibt. Eine solche Kasuistik prozessiert permanent die Frage, wie viel Moral sich die wirtschaftlichen Akteure zu Lasten ihres Eigeninteresses eigentlich leisten sollten. Jede denkbare Antwort auf diese Frage fällt ein strittiges Werturteil. Es sind also nicht erst die konkreten Antworten, sondern es ist bereits die Fragestellung an sich, durch die wirtschaftsethische Ansätze systematisch in nicht zu bewältigende Schwierigkeiten geraten können. 3) Aufgrund dieser negativen Befunde lässt sich als methodischer Mindeststandard formulieren, dass wirtschaftsethische Ansätze von vornherein vermeiden müssen, innerhalb eines Trade-off zwischen Eigeninteresse und Moral wertend Stellung zu beziehen. Dem Anspruch einer wissenschaftlichen Theorie wird Wirtschaftsethik nur dann gerecht, wenn sie sich auf die Fragestellung konzentriert, wie sich Widersprüche zwischen Eigeninteresse und Moral als vermeintliche Widersprüche auflösen lassen.
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Dies erfordert, die Wahrnehmung eines Trade-off zu transzendieren. Es geht darum, sich nicht im Trade-off, sondern sich zum Trade-off zu positionieren. Eine den methodischen Mindeststandard erfiillende Stellungnahme lässt sich als "orthogonale Positionierung" kennzeichnen: als eine Veränderung der Denkrichtung um 90° (Abb. 2): Der Wahrnehmungshorizont ist um die Einsicht zu erweitern, dass Eigeninteresse und Moral nicht notwendigerweise in einem Konflikt zueinander stehen müssen. Sie können auch in ein harmonisches Verhältnis zueinander gebracht werden, markiert durch den Pfeil in nordöstlicher Richtung. Eigeninteresse
Moral Abb. 2: Die orthogonale Positionierung.
Ein solcher Perspektivenwechsel hat gravierende Konsequenzen fiir die Problemstellung der Wirtschaftsethik und damit auch fiir die Richtung, in der nach Lösungen gesucht wird: Wenn das Problem nicht länger darin gesehen wird, wie stark das Eigeninteresse wirtschaftlicher Akteure- d. h. der im Wettbewerb stehenden Individuen und Organisationen- ausgeprägt ist, dann ist die Lösung auch nicht länger davon zu erwarten, dass es gelingen möge, Umstände herbeizufiihren, unter denenjust dieses Eigeninteresse schwächer ausgeprägt ist. Damit erübrigen sich alljene Ansätze, die ihre Hoffnungen darauf richten, dieses Eigeninteresse um der Moralwillen diskreditieren, schwächen, bremsen, mäßigen, beschränken, eingrenzen, zähmen, domestizieren, unterdrücken, bezwingen oder fallweise aussetzen zu wollen- also alljene Ansätze, die sich dann folgerichtig ein unlösbares Implementierungsproblem einhandeln, das den Anspruch dementiert, Wirtschaftsethik als Theorie fiir die Praxis entwickeln zu können.' An dieser Stelle sei der Hinweis erlaubt, dass sich solche Ansätze zudem auch ein gravierendes moralisches Problem einhandeln, deno es gehört konstitutiv zur Würde des Menschen, vor der Zumutung bewahrt zu werden, dauerhaft und systematisch gegen seine eigenen Interessen verstoßen zu sollen.
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Wird die moraltheoretische Frage hingegen so gefasst, dass es darum geht, situativ auftretende Konflikte zwischen Eigeninteresse und Moral so aufzulösen, dass das Eigeninteresse fiir das moralische Anliegen in Dienst genommen wird, dann wird mit dem Konflikt - uno actu - zugleich auch das Implementierungsproblem prinzipiell lösbar. Die konkrete Umsetzung in der Praxis bleibt natürlich stets eine dornige Aufgabe. Aber diese Aufgabe lässt sich sehr vielleichter erfiillen, wenn eine geeignete Problemstellung formuliert wird. Sie lautet: Wie lässt sich ein - wettbewerblieh forciertes - Eigeninteresse sozialverträglich ausrichten? Welche Vorkehrungen sind zu treffen, damit wirtschaftliche Akteure in einem kompetitiven Kontext, d. h. unter Konkurrenzdruck, mit Anreizen versorgt sind, sich nicht zu Lasten, sondern zu Gunsten anderer Akteure zu betätigen? Wie lässt sich eine Kompatibilität - und mehr noch: wie lässt sich eine Komplementarität, d. h. ein wechselseitiges Steigerungsverhältnis - herstellen zwischen der Verfolgung des je eigenen Interesses und den legitimen Fremdinteressen anderer Akteure? Eine wirtschaftsethische Stellungnahme innerhalb des Trade-off ignoriert implizit oder explizit das Faktum, dass Akteure im Wettbewerb gezwungen sind, bei Strafe ihres wirtschaftlichen Untergangs auf ihr Eigeninteresse achten zu müssen. Allein durch eine Stellungnahme jenseits des Trade-offlässt sich diesem Faktum angemessen Rechnung tragen: Nur im Wege einer orthogonalen Positionierung zum situativ auftretenden Konflikt zwischen Eigeninteresse und Moral kann Wirtschaftsethik als Theorie fiir die Praxis der Aufgabe nachkommen, durch perspektivische Orientierungsleistungen gesellschaftliche Such- und Lernprozesse heuristisch anzuleiten, wie das wettbewerblieh verfasste Eigeninteresse wirtschaftlicher Akteure eingespannt werden kann, um moralische Anliegen besser zur Geltung zu bringen. Vor diesem Hintergrund skizzieren die folgenden Überlegungen einen Ansatz, dessen Entwicklungsgeschichte über nunmehr gut anderthalb Jahrzehnte drei Stoßrichtungen aufweist. Erstens misst dieser Ansatz dem Faktum des Wettbewerbs - und mithin den institutionellen Anreizen der Wettbewerbsordnung - einen theoriestrategisch herausgehobenen Stellenwert bei. Zweitens betont er die im Zuge der Globalisierung wachsende Bedeutung internationaler Rahmenbedingungen. Und drittens erforscht er die Möglichkeiten und Grenzen, die damit verbunden sind, individuelle und korporative Akteure nicht nur hinsichtlich ihres Eigeninteresses, sondern auch hinsichtlich ihrer moralischen Bindungsfahigkeit immer stärker zu analogisieren. Ein weiteres Kennzeichen besteht darin, dass dieser An-
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satz die Wirtschaftsethik als eine ökonomische Theorie der Moral zu entwickeln versucht. Es geht darum, das Instrumentarium einer ökonomischen Anreizanalyse für die Bearbeitung i. w. S. (wirtschafts-)ethischer Fragestellungen fruchtbar einzusetzen, so dass moralische Problemlagen zwischen wirtschaftlichen Akteuren, aber auch innerhalb von Unternehmen thematisiert werden können (vgl. Homann 1990, Homann/Pies 1994a, 1994b und 2000 sowie Homann 2002 und 2003, Homann/Suchanek 2005 [2000], Homann/Lütge 2004, vgl. ferner Suchanek 2001 sowie Pies/Blome-Drees 1993 und ferner Pies 2000a, 2000b, 2001, 2003, 2005 sowie Habisch/Schmidpeter 2003).
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Das wirtschaftsethische Instrumentarium: Anreizanalyse sozialer Dilemmata
Historisch betrachtet, ist die Ökonomik aus der Ethik heraus entstanden. Sie ist ein Aufklärungsprodukt der Schottischen Moralphilosophie des 18. Jahrhunderts, die sich mit dem ethischen Grundlagenproblem beschäftigt hat, dass gute Absichten nicht automatisch zu guten Ergebnissen führen. Von den klassischen Gründungsvätern, namentlich von Adam Smith ( 1983 [1776]) und von Thomas Maltbus (1977 [1798]), wurde ihr eine Gedankenfigur in die Wiege gelegt, die bis heute die Identität und Kontinuität des ökonomischen Forschungsprogramms verbürgt. Es handelt sich um die Gedankenfigur der nicht-intendierten Wirkungen intentionalen Handelns. 1) Verwendet man diese Gedankenfigur als Erklärungsmodell, so lassen sich paradigmatisch zwei unterschiedliche Anwendungsvarianten unterscheiden. Mit der ersten Variante werden die sozialen Erfolge eines marktliehen Verhaltenssystems erklärt, mit der zweiten Variante die Misserfolge einer systemischen Verhaltenskoordination. Im ersten Fall spricht man mit Adam Smith vom Erklärungsmuster des Typs "unsichtbare Hand". Bei dieser Metapher bleibend, könnte man den im zweiten Fall verwendeten Typ des ökonomischen Erklärungsmusters als "unsichtbare Faust" bezeichnen. Der Sache nach steht Thomas Maltbus hierfür Pate. Das Erklärungsmuster der "unsichtbaren Faust" rückt die Möglichkeit in den Mittelpunkt der theoretischen Betrachtung, dass schlechte Ergebnisse nicht auf schlechte Absichten der handelnden Akteure zurückgeführt werden müssen. Vielmehr können schlechte Ergebnisse auch durchaus unbeabsichtigt zustande kommen. Das seit Maltbus klassische Beispiel hier-
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für ist die Rationalfalle eines Bevölkerungswachstums, das die Löhne im langfristigen Durchschnitt auf das Subsistenzniveau- und zeitweilig sogar darunter- sinken lässt, sofern der Kindemutzen übermäßig privatisiert und gleichzeitig die Kinderkosten übermäßig sozialisiert werden. Dann entsteht eine Situation, in der es jeweils für die einzelne Familie durchaus rational ist, sehr viele Kinder in die Welt zu setzen, während sie gleichzeitig darunter leidet, dass auch alle anderen Familien sich so verhalten.- Nach diesem Muster lassen sich zahlreiche Probleme, die wirtschaftsethisch relevant sind, als durchaus unbeabsichtigt rekonstruieren, angefangen von der Umweltverschmutzung über internationale Finanzkrisen bis hin zum Klimawandel oder zur Erosion sozialer Standards durch ein "race to the bottom": Wirtschaftliche Akteure tragen zu diesen Problemen bei, weil sie sich einem wettbewerbliehen Sachzwang ausgesetzt sehen, der dazu fiihrt, dass sie sich an institutionellen Fehlanreizen orientieren und die kollektiven Folgen ihres je individuellen Verhaltens außer Acht lassen (müssen). Damit thematisiert die Metapher der "unsichtbaren Faust" solche Situationen, in denen sich wirtschaftliche Akteure - anreizbedingt- durch die Verfolgung des eigenen Vorteils wechselseitig schädigen. Beim Erklärungsmuster der "unsichtbaren Hand" verhält es sich genau umgekehrt. Es rückt die Möglichkeit in den Mittelpunkt der theoretischen Betrachtung, dass gute Ergebnisse nicht auf gute Absichten der handelnden Akteure zurückgefiihrt werden müssen. Vielmehr können gute Ergebnisse auch durchaus unbeabsichtigt zustande kommen. Das seit Smith klassische Beispiel hierfür ist ein funktionierender Markt, auf dem die Konsumenten die Befriedigung ihrer Bedürfnisse nicht einem vermeintlichen Wohl-Wollen der Produzenten verdanken, sondern einem Leistungswettbewerb, der die Produzenten unter Konkurrenzdruck setzt, die Konsumenten bestmöglich zu bedienen. 2 Unter geeigneten Marktbedingungen können wirtschaftliche Akteure ihr eigenes Interesse an Gewinnerzielung nur dadurch wirksam verfolgen, dass sie sich um die Interessen anderer verdient machen. So kommt es, dass breite Bevölkerungsschichten in den Genuss materieller und immaterieller Güter gelangen, mit denen sich enorme Emanzipationsleistungen verbinden: An sich wäre es den Produzenten lieber, hinsichtlich Qualität und Quantität ihrer Produkte weniger Leistung zu erbringen und zudem 2
Die berühmte Stelle bei Adam Smith (1983 [1776], 17) lautet: "Nicht vom Wohlwollen des Metzgers, Brauers und Bäckers erwarten wir das, was wir zum Leben brauchen, sondern davon, dass sie ihre eigenen Interessen wahrnehmen. Wtr wenden uns nicht an ihre Menschen- sondern an ihre Eigenliebe, und wir erwähnen nicht die eigenen Bedürfnisse, sondern sprechen von ihrem Vorteil."
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höhere Preise zu verlangen. Als wirtschaftliche Akteure tragen sie daher primär deshalb zu zivilisatorischen Errungenschaften bei, weil sie sich einem wettbewerbliehen Sachzwang ausgesetzt sehen, der dazu fiihrt, dass sie sich an institutionellen Anreizen orientieren und die kollektiven Rückwirkungen ihres je individuellen Verhaltens außer Acht lassen (müssen). Damit thematisiert die Metapher der "unsichtbaren Hand" solche Situationen, in denen wirtschaftliche Akteure - anreizbedingt - durch die Verfolgung ihres je eigenen Vorteils der gegenüberliegenden Marktseite Nutzen stiften. Beide Metaphern- und die dazugehörigen Erklärungsmuster- dechiffrieren die Situationslogik einer strukturellen Entkopplung von Verhaltensmotiv und Verhaltensergebnis: Die "unsichtbare Hand" fiihrt Akteure auf einen gesellschaftlich erwünschten Pfad, während die "unsichtbare Faust" Akteure in einer sozialen Falle gefangen hält und daran hindert, ihre gemeinsamen Ziele wirksam zu verfolgen. Beide Erklärungsmuster stehen in einem systematischen Zusammenhang, weil sie gleichsam zwei Seiten ein und derselben Medaille beleuchten, nämlich die Vor- und Nachteile einer systemischen Verhaltenssteuerung über wettbewerbliehe Anreize, und zwar in Form gesellschaftlicher Auf- und Abwärtsspiralen, die sich - im Guten wie im Schlechten- einer unmittelbaren Ergebniskontrolle durch die beteiligten Akteure entziehen. Strukturelle Entkopplung von Motiv und Ergebnis bedeutet, dass man es hier-nochmals: im Guten wie im Schlechten! -mit Situationen zu tun hat, in denen kein einzelner der beteiligten Akteure fiir das Resultat des sozialen Prozesses - das sich als solches ja nicht-intendiert einstellt- verantwortlich (zu machen) ist. Für die Wirtschaftsethik ist dies in zweierlei Hinsicht bedeutsam. Erstens wird sie darin bestätigt, angesichts dieser strukturellen Entkopplung von wirtschaftlichen Akteuren nicht einfach mehr moralische Rücksichtnahme einzufordern, sondern zu fragen, wie die strukturelle Entkopplung konstruktiv so gewendet werden kann, dass sich als nicht-intendierte Folge intentionalen Verhaltens bessere Ergebnisse einstellen: Für die Wirtschaftsethik ist es konstitutiv, moralischen Fortschritt nicht gegen, sondern durch das System wettbewerblieber Anreize zur Geltung zu bringen. Metaphorisch geht es darum, die "unsichtbare Faust" zur "unsichtbaren Hand" zu öffnen. Es geht darum, systemische Wettbewerbsprozesse nicht außer Kraft, sondern- um der Moral willen! -besser in Kraft zu setzen. Mit der simplistischen Forderung, die beteiligten Akteure mögen doch bitte die Folgen ihres Handeins besser bedenken, ist es daher nicht getan. Zweitens wird die Wirtschaftsethik darin bestärkt, dass es von vornherein gar nicht darum gehen kann, Schuldige ausfindig machen zu wollen,
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Wirtschaftsethik
denen das Handwerk zu legen wäre. Stattdessen kann sie sich darauf konzentrieren, Situationen identifizieren zu helfen, die sich mit der Metapher einer "unsichtbaren Faust" beschreiben lassen und für solche Situationen eine Problernrekonstruktion anzubieten, die das Problem als gemeinsames Problem thematisiert und damit die Suche nach einer gemeinsamen Problemlösung anleitet. Einer orthogonalen Positionierung ist dies sehr förderlich. Die entscheidende Frage der Wirtschaftsethik lautet dann: Wie lässt sich eine wechselseitige Schlechterstellung so transformieren, dass es - systemisch, d. h. anreizbedingt-zu einer wechselseitigen Besserstellung der Akteure kommt? Auf diese Frage gibt es paradigmatisch zwei Antworten: Kollektive Selbstschädigungen können entweder durch individuelle Selbstbindungen oder durch kollektive Selbstbindungen überwunden werden. Diese für die Wirtschaftsethik äußerst bedeutungsvolle Leitunterscheidung lässt sich am einfachsten anband ökonomischer Modellüberlegungen verdeutlichen. Das Grundmodell für individuelle Selbstbindungen wird in der Literatur als einseitiges Gefangenendilemma bezeichnet, das Grundmodell für kollektive Selbstbindungen als zweiseitiges Gefangenendilemma (vgl. Kreps 1990 sowie Homann!Pies 1991). 2) Das einseitige Gefangenendilemma modelliert eine asymmetrische Ausbeutungssituation: Spieler A hat die Wahl, sich auf eine riskante Vorleistung entweder einzulassen oder nicht einzulassen. Entscheidet er sich für die Vorleistung, so kann Spieler B ihn entweder ausbeuten oder nicht ausbeuten. Die Auszahlungen geben an, wie die jeweiligen Strategiekombinationen im Spiel durch die Spieler individuell bewertet werden. Dabei entsprechen hohe Zahlen einem hohen Nettonutzen (Abb. 3). Mit Hilfe der Rationalitätsannahme 3 lässt sich dieses Spiel einfach per Rückwärtsinduktion lösen, also am Ende des Spielbaums beginnend: Für SpielerB ist es vorteilhaft, sich ausbeuterisch zu verhalten (2 > 1). Dies antizipierend, ist es für Spieler A vorteilhaft, nicht zu investieren (0 > -1).4 Das bei diesem Spiel erzielte (eingerahmte) Ergebnis ist aus Sicht beider 3
4
,,Rationalität" ist in diesem Ansatz keine anthropologische Annahme, keine Aussage über "den Menschen", sondern eine Aussage über den Anpassungsdruck von Situationsstrukturen: Wer angesichts von Knappheit Verschwendung vermeiden will, wer in einem Konflikt nicht von vornherein unterliegen möchte, wer ein Interesse hat, im Wettbewerb nicht zurückzufallen, der hat einen Anreiz zu lernen, bestimmte Verhaltensweisen an den Tag zu legen. Die Rationalitätsannahme besagt, dass sich solche Verhaltensweisen, seien sie den Akteuren nun bewusst oder unbewusst, so rekonstruieren lassen, als folgten die Akteure einem RationalkalküL Einer spieltheoretischen Konvention folgend, werden die individuellen Vorteilsüberlegungen in Abb. 3 durch Doppelstriche angezeigt.
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AB -1; 2
1; 1 A
Abb. 3: Das einseitige Gefangenendilemma.
Spieler sub-optimal, denn beide stünden sich besser, wenn die Investition zustande käme und nicht ausgebeutet würde. Es kommt zu einer kollektiven Selbstschädigung. Aufgrund dieser fiir beide Spieler unbefriedigenden Situation haben sie ein gemeinsames Interesse an institutionellen Reformen, die ein fiir beide attraktiveres Ergebnis ermöglichen. Beide können sich verbessern, wenn es Spieler B gelingt, glaubwürdig zu machen, auf eine Ausbeutung seines Mitspielers zu verzichten. Eine bloße Ankündigung reicht hierfiir allerdings nicht aus. Allein durch Kommunikation lässt sich das Problem nicht lösen. Vielmehr ist es erforderlich, dass Spieler B sich eine bindende Verpflichtung auferlegt, die es fiir ihn unattraktiv macht, A auszubeuten. Faktisch läuft dies darauf hinaus, ein anderes Spiel zu spielen. In Abb. 4 ist unterstellt, dass sichSpielerB zum Zweck der Selbstbindung eine Sanktion (x) auferlegt, die die Ausbeutungsoption um mindestens eine Auszahlungs-Einheit verteuert (x > I). Sie verliert dadurch ihre Vorteilhaftigkeit fiir ihn (2 - x < 1). SpielerB hat nun einen echten Anreiz, seinen·Mitspieler nicht auszubeuten. Dies antizipierend, ändert auch Spieler A sein Verhalten und führt nun die zuvor unterlassene Vorleistung durch. Die institutionell veränderten Anreize schlagen sich folglich in einem veränderten Ergebnis nieder. Das soziale Dilemma ist mittels einer individuellen Selbstbindung aufgehoben worden.
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Wirtschaftsethik
AB -1; 2-x
A
0;0 Abb. 4: Individuelle Selbstbindung zur Überwindung eines sozialen Dilemmas.
3) Das zweiseitige Gefangenendilemma modelliert eine symmetrische Ausbeutungssituation: Spieler A und Spieler B haben jeweils die Wahl, sich kooperativ oderunkooperativ zu verhalten. Die Auszahlungen geben wiederum an, wie die jeweiligen Strategiekombinationen im Spiel durch die Spieler individuell bewertet werden. Die Zahl vor dem Semikolon gilt fiir Spieler A, die danach fiir SpielerB (Abb. 5).
B
Kooperieren? nein
ja
ja
A nein
Abb. 5: Das zweiseitige Gefangenendilemma.
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Mit Hilfe der Rationalitätsannahme lässt sich auch dieses Spiel einfach lösen: Individuelle Vorteilsüberlegungen fiihren Spieler A dazu, in keinem Fall zu kooperieren. 5 Verhält sichSpielerB unkooperativ, so ist es fiir Spieler A vorteilhaft, sich ebenfalls einer Kooperation zu verweigern. Ein Vergleich der Quadranten III und IV zeigt: 2 > 1. Kooperiert hingegen Spieler B, so ist es fiir Spieler A wiederum besser, nicht zu kooperieren. Ein Vergleich der Quadranten I und II zeigt: 4 > 3. Die gleichen Überlegungen gelten analog fiir Spieler B. Er vergleicht seine Auszahlungen der Quadranten I und IV sowie der Quadranten II und III. Dabei zeigt sich: Auch fiir ihn ist es eine dominante Strategie- die stets "beste Antwort" auf das Verhalten des Gegenspielers -, sich unkooperativ zu verhalten. Damit ergibt sich als Lösung dieses Spiels die Strategiekombination in Quadrant III. Die zugehörigen Auszahlungen sind eingerahmt. Ein Vergleich zu Quadrant I zeigt, dass sich dieses Spielergebnis als kollektive Selbstschädigung kennzeichnen lässt: Beide Spieler sind unter ihren Möglichkeiten geblieben. Sie hätten im Prinzip höhere Auszahlungen erreichen können. Interessant - und wirtschaftsethisch besonders aufschlussreich - ist nun, dass eine individuelle Selbstbindung hier nicht geeignet ist, die kollektive Selbstschädigung aufzulösen. Ausgehend von der Situation in Quadrant III, würde beispielsweise ein Strategiewechsel von Spieler A dazu fiihren, dass der fiir ihn schlimmste Fall eintritt. Seine Auszahlung würde von 2 auf 1 sinken (Quadrant IV). Eine wechselseitige Besserstellung ist nur durch einen Wechsel von Quadrant III zu Quadrant I zu haben. Hierfiir aber ist es erforderlich, dass sowohl Spieler A als auch Spieler B ihre Strategie ändern, und zwar simultan. Dies kann nur durch eine kollektive Selbstbindung erreicht werden. Zur Illustration sei unterstellt, dass eine sanktionsbewehrte Regel unkooperatives Verhalten mit einer Strafe in Höhe von x > 2 belegt. Dies macht Kooperation zur dominanten Strategie (vgl. Abbildung 6).
5
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Einer spieltheoretischen Konvention folgend, werden die individuellen Vorteilsüberlegungen in Abb. 5 durch Pfeile angezeigt. Die vertikalen Pfeile gelten für Spieler A, die horizontalen für Spieler B.
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Wirtschaftsethik
B
Kooperieren? nem
ja
ja
A nein
Abb. 6: Kollektive Selbstbindung zur Überwindung eines sozialen Dilemmas.
4) Diese ökonomische Modelldiskussion fiihrt zu zwei Erkenntnissen, die fiir die wirtschaftsethische Theoriestrategie von fimdamentaler Bedeutung sind: Erstens wird sichtbar, dass die Überwindung der kollektiven Selbstschädigung nicht dadurch gefimden werden karm, dass sich die Akteure bemühen, ein gegebenes Spiel besser zu spielen. Vielmehr ist die kollektive Selbstschädigung - als nicht-intendiertes Resultat intentionalen Handeins-das Ergebnis individuell rationalen Verhaltens. Pointiert ausgedrückt: Es gibt keine bessere Antwort als die "beste Antwort" im Spiel. Daher karm die kollektive Selbstschädigung nur dadurch überwunden werden, dass ein besseres Spiel gespielt wird. Mit dieser Erkenntnis wird die wirtschaftsethische Perspektive auf einen Ebenenwechsel fokussiert: Es geht nicht um bessere Spielzüge, sondern um bessere Spielregeln. Zweitens lässt sich mit der Unterscheidung dieser beiden Ebenen eine weitere theoretische Leitdifferenz einführen: die Unterscheidung zwischen Handlungsinteressen (im Spiel) und Regelinteressen (am Spiel). Soziale Dilemmata als Situationen kollektiver Selbstschädigung kommen dadurch zustande, dass die konfligierenden Handlungsinteressen die beteiligten Akteure zu einer wechselseitigen Schlechterstellung veranlassen. Damit lässt sich aber nun eine Pointe formulieren, die fiir die Wirtschaftsethik äußerst folgerneich ist: Die konfligierenden Handlungsinteressen in einem sozialen
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Dilemma konstituieren ein gemeinsames Regelinteresse daran, das Spiel zu verändern und Anreize zu setzen, die zu einer wechselseitigen Besserstellung führen. Damit ist exakt markiert, wo der Ansatzpunkt fiir die Konsensorientierung einer orthogonalen Positionierung liegt.
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Wirtschaftsethische Anwendungsbeispiele
Dass diese zunächst abstrakten Überlegungen überaus konkrete Anwendungsbezüge aufweisen, wird sogleich deutlich werden. Die generelle These lautet, dass das einseitige Gefangenendilemma die Asymmetrie-Logik vertikaler Interaktionsbeziehungen (unter Ungleichen) und das zweiseitige Gefangenendilemma die Symmetrie-Logik horizontaler Interaktionsbeziehungen (unter Gleichen) thematisiert. Im ersten Fall geht es um Verhältnisse, wie sie typischerweise in Organisationshierarchien anzutreffen sind. Im zweiten Fall geht es um Verhältnisse, wie sie typischerweise zwischen Konkurrenten im Wettbewerb auftreten. 1) Das Modell des einseitigen Gefangenendilemmas kann dazu eingesetzt werden, ein besseres Verständnis dafiir zu erarbeiten, wie sich die - in moralischer Hinsicht: stets neuralgische -Beziehung zwischen einem Vorgesetzten und seinem Mitarbeiter innerorganisatorisch so gestalten lässt, dass beide Akteure in den möglichst vollen Genuss ihres wechselseitig vorteilhaften Produktivitätspotentials kommen. Dies sei nun in zwei Schritten erläutert. Zunächst lässt sich im Rückgriff auf dieses Modell die Möglichkeit einer kollektiven Selbstschädigung identifizieren. Die Diagnose lautet: Der Mitarbeiter (Spieler A) steht vor der Wahl, sich fiir das Unternehmen aktiv zu engagieren oder seine Einsatzbereitschaft auf ein bestimmtes Mindestmaß zurückzunehmen. Er verknüpft sein Engagement mit der Erwartung, hierfiir vom Vorgesetzten (Spieler B) honoriert zu werden. Diese Erwartung kann auf vielfaltige Art und Weise enttäuscht werden. So ist es möglich, dass der Vorgesetzte den besonderen Einsatz des Mitarbeiters nicht anerkennt, in Aussicht gestellte Gratifikationen (gute Bewertung, Gehaltserhöhung, Beförderung etc.) nicht gewährt oder beispielsweise vom Mitarbeiter eingereichte Verbesserungsvorschläge als seine eigenen Ideen ausgibt. Mitarbeiter, die davon ausgehen (müssen), durch solche oder ähnliche Verhaltensweisen ihres Vorgesetzten gleichsam über den Tisch gezogen zu werden, stellen ihr Engagement ein, flüchten in die inne-
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re Kündigung und leisten nur noch Dienst nach Vorschrift. Das Potential wechselseitiger Besserstellung bleibt dann unausgeschöpft. Mit diesem Modelllässt sich sodann in einem zweiten Schritt auch eine auf diese Diagnose abgestimmte Therapie entwickeln: Die Chance zu einer wechselseitigen Besserstellung liegt in einer glaubwürdigen Selbstbindung des Vorgesetzten. Die formale Institution eines Arbeitsvertrags kann das zugrunde liegende Problem allerdings nur sehr unzureichend lösen. Der Grund hierfiir liegt darin, dass sich die erwarteten Leistungen und Gegenleistungen nur in sehr engen Grenzen justiziabel regeln lassen. Während Arbeitnehmer neben einer materiellen Entlohnung und einer verlässlichen Zukunftsperspektive typischerweise auch an immateriellen Faktoren wie Arbeitszufriedenheit und sozialer Wertschätzung interessiert sind, wünschen sich Arbeitgeber i. d. R. Kreativität und eigenverantwortliches Engagement, also genau solche Leistungen, die sich-zumal mit dem Übergang zur Wissensgesellschaft - vertraglich kaum erzwingen lassen. Arbeitgeber sind daher darauf angewiesen, eine Atmosphäre zu schaffen, durch die Arbeitnehmer angeregt werden, die erwünschten Leistungen freiwillig zu erbringen. Hierbei erweisen sich informale Institutionen als funktional. Damit erschließt die Modellanalyse ein Verständnis fiir Phänomene wie Organisationsverfassung und Unternehmenskultur: Da ein opportunistisches Verhalten durch Vorgesetzte die eigentlich zu motivierenden Mitarbeiter demotiviert und folglich den betrieblichen Leistungsprozess extrem stören kann, experimentieren Unternehmen mit innovativen Vorkehrungen gegen eine Resignation ihrer Mitarbeiter. Zum einen gibt es Maßnahmen, die sicherstellen sollen, dass sich Vorgesetzte in ihrem wohlverstandenen Eigeninteresse den Mitarbeitern gegenüber fair verhalten. Hierzu gehören beispielsweise 360°-Evaluationen, so dass nicht nur die Vorgesetzten top-down ihre Mitarbeiter, sondern umgekehrt auch die Mitarbeiter bottom-up ihre Vorgesetzten beurteilen. Solche Beurteilungen können karrierewirksam gestaltet werden, etwa indem die Dotierung der Vorgesetzten von Faktoren wie Mitarbeitermotivation, Mitarbeiterfluktuation und Krankenstand abhängig gemacht wird. Zum anderen gibt es Maßnahmen, die daraufhinauslaufen, dass die Organisation als korporativer Akteur mit einem eigenständigen "Charakter" wahrnehmbar wird. Hierzu gehören beispielsweise Verhaltenskodizes, die die moralische Integrität des Unternehmens verbürgen, indem der Organisation verbindliche Regeln fiir erwünschtes und unerwünschtes Verhalten gesetzt werden. Dies beinhaltet beispielsweise die Festlegung bestimmter Verfahren zur
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Korruptionsprävention und für den Umgang mit Konflikten (whistle-blowing, compliance office, Ombudsstellen etc.). 6 2) Das Modell des zweiseitigen Gefangenendilemmas kann dazu eingesetzt werden, ein besseres Verständnis marktlieber Konkurrenzbeziehungen zu erarbeiten. Hierzu seien zwei Unternehmen betrachtet, die der gleichen Branche angehören und mit der Entscheidung konfrontiert sind, ob sie einen moralisch erwünschten Standard freiwillig einhalten sollen. Beispielsweise könnte es darum gehen, im gesamten Herstellungsprozess einschließlich der von Lieferanten bezogenen Vorprodukte Kinderarbeit zu vermeiden oder ein größeres Maß an Umweltfreundlichkeit zu realisieren. Falls es einem Unternehmen gelingt, durch die Einhaltung des Standards Kosten zu sparen oder zusätzliche Erträge zu generieren, so erringt es einen Wettbewerbsvorteil, der eine Aufwärtsspirale im Sinne der "unsichtbaren Hand" in Gang setzt. Zur Abwärtsspirale einer "unsichtbaren Faust" kommt es hingegen, wenn der moralisch erwünschte Standard individuell mit Gewinneinbußen verbunden ist. Eine solche Wettbewerbssituation kann Unternehmen daran hindern, einen sozialen oder ökologischen Standard einzuhalten, und dies sogar dann, wenn sie selbst es durchaus für moralisch wünschenswert halten würden (Abb. 5). Die schlechteste Situation für ein solches Unternehmen (Spieler A) besteht darin, dass es sich den Standard zu Eigen macht, während die Konkurrenz sich hier unkooperativ verhält (Auszahlung 1 in Quadrant IV). Quadrant III wird deutlich schlechter bewertet als Quadrant I (2 < 3), d. h. das Unternehmen zieht es vor, dass der Standard allgemein eingehalten wird. Aus individueller Sicht am besten wäre es jedoch, wenn sich alle Konkurrenten an den Standard hielten und es selbst als Trittbrettfahrer in den Genuss eines bedeutenden Wettbewerbsvorteils kommen könnte (Auszahlung 4 in Quadrant II). Ähnliche Überlegungen gelten analog für 6
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Auf einen internationalen Anwendungsbezug des einseitigen Gefangenendilemmas sei hier zumindest kurz hingewiesen: Wie können Entwicklungsländer glaubwürdig signalisieren, dass sie ausländische Direktinvestitionen nicht ausbeuten werden? Diese Frage ist fiir den nachhaltigen Wirtschaftsaufschwung armer Staaten von fundamentaler Bedeutung, denn wenn Investoren befiirchten müssen, dass ihre Investitionen durch staatliche oder staatlich geduldete Eingriffe geschmälert oder vernichtet werden, so werden sie den betreffenden Staat meiden. Folglich müssen die Regierungen in Entwicklungsländern glaubwürdige Selbstbindungsformen finden, um überhaupt in den Genuss von Direktinvestitionen zu gelangen. Vgl. Habisch/Homann 1994. Vor diesem Hintergrund hat sich die afrikanische Initiative "New Partnership for Africa's Development" (NePAD) ausdrücklich zum Ziel gesetzt, die Glaubwürdigkeit politischer Maßnahmen zu erhöhen, mit denen sich afrikanische Staaten derzeit um demokratische und rechtsstaatliehe Bedingungen fiir eine nachhaltige Entwicklung des afrikanischen Kontinents bemühen. Für eine ausfilhrlichere Analyse der NePAD-Initiative aus wirtschaftsethischer Sicht vgl. PiesNoigt 2004.
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Konkurrenzunternehmen (Spieler B). In einer solchen Anreizkonstellation kommt es notgedrungen zur kollektiven Selbstschädigung. Die Lösung hierfiir besteht in einer kollektiven Selbstbindung, die die Einhaltung des Standards fiir alle Konkurrenten gleichermaßen verbindlich macht und so das moralische Anliegen ausbeutungsresistent und mithin wettbewerbsneutral umsetzt. Dies kann unterschiedliche Formen annehmen. Formale Institutionen, wie beispielsweise Gesetze oder Verordnungen, können durchaus die Funktion erfiillen, alle relevanten Spieler "ins Boot zu holen". Hierfiir sind aber auch informale Institutionen geeignet. Freiwilligen Branchenvereinbarungen beispielsweise kommt in der letzten Zeit eine offenbar wachsende Bedeutung zu. Dies hat mehrere Gründe. Einer besteht darin, dass politische Regelungsprozesse im Nationalstaat vielfach als zu langwierig und inflexibel empfunden werden, so dass die Unternehmen lieber auf Selbststeuerung als auf Fremdsteuerung setzen. Ein weiterer Grund dürfte darin zu sehen sein, dass im Zuge der Globalisierung Probleme bearbeitet werden müssen, deren Ausmaß Staatsgrenzen überschreitet und internationale Regelungen erforderlich macht, die naturgemäß noch schwieriger herbeizufUhren sind. Von daher ist es nicht verwunderlich, dass Unternehmen gerade im internationalen Bereich aufneue Formen und Verfahren kollektiver Selbstbindung setzen.7 3) Die fundamentale Bedeutung der beiden Dilemma-Modelle fiir die Wirtschaftsethik wird freilich erst dann vollends deutlich, wenn man sich vor Augen fiihrt, dass es nicht ausschließlich darum geht, soziale Dilemmata zu überwinden, sondern dass es moralischen Anliegen ebenso förderlich sein kann, soziale Dilemmata gezielt zu etablieren. Dies sei an zwei Beispielen illustriert. Erstes Beispiel: Zahlreiche Interaktionen zwischen Mitarbeitern und Vorgesetzten verdienen es, durch vertrauensbildende Maßnahmen institutionell unterstützt zu werden. Es gibtjedoch auch Fälle, in denen eine Vertrauensbildung dysfunktional wäre. Man denke beispielsweise an das Problem der Bestechung. Um Korruption zu bekämpfen, kann es erforderlich sein, bestimmte Formen der Einigung zwischen Mitarbeiter und Vorgesetztem zu unterbinden, damit verhindert wird, dass die beiden sich auf Kosten Dritter ungerechtfertigt bereichern. Vorkehrungen wie das Vier7
In letzter Zeit haben viele namhafte Unternehmen versucht, höhere soziale und ökologische Standards im Wege eines systematischen "Supply-Chain-Management" durchzusetzen. Hierbei wurde versucht, ,,Public-Private Partnerships" als entwicklungspolitisches Instnunent einzusetzen. V gl. hierzu die ausfilhrliche Studie von Brinkmann 2004.
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Augen-Prinzip, Job-Rotation oder eine Ethics-Hotline können dazu beitragen, das für kriminelle Aktivitäten benötigte Vertrauen zu unterminieren. Graphisch illustriert bedeutet dies, dass die Wirtschaftsethik nicht nur in ihr Blickfeld zu nehmen hat, wie sich Situationen so transformieren lassen, dass man zur Stabilisierung erwünschter Interaktionen gleichsam von Abb. 3 zu Abb. 4 wechselt, sondern dass zur Destabilisierung moralisch unerwünschter Interaktionen auch genau die umgekehrte Transformation von Abb. 4 zu Abb. 3 erforderlich sein kann. Zweites Beispiel: Dass nicht jede Kooperation gesellschaftlich erwünscht ist, gilt auch für solche Interaktionen, deren Struktur durch das zweiseitige Gefangenendilemma abgebildet wird. Man denke beispielsweise an ein Kartell. Hier kommt es zu Preis- bzw. Mengenabsprachen zwischen Konkurrenten, die sich auf diese Weise zu Lasten ihrer Tauschpartner auf der gegenüberliegenden Marktseite ungerechtfertigt bereichern. Um dies zu verhindern, werden die Marktakteure - also die Anbieter untereinander ebenso wie die Nachfrager untereinander- in ein soziales Dilemma versetzt, das es ihnen unmöglich machen soll, ihr jeweiliges Gruppeninteresse zur Kartellbildung verwirklichen zu können. Hierzu gehört beispielsweise, den Anbietern untereinander ebenso wie den Nachfragern untereinander genau jene formalen und informalen Stabilisierungshilfen - d. h. Vertrags- und Reputationsmechanismen - zu entziehen, die ihnen gesellschaftlich zur VerfUgung gestellt werden, um sozial erwünschte Tauschakte zwischen Anbietern und Nachfragern stabilisieren zu helfen. Folglich muss jeder Akteur damit rechnen, dass seine individuellen Beiträge zur Kartellbildung ausgebeutet werden, weil die Aussicht auf individuelle Wettbewerbsvorteile seine Konkurrenten an einer entsprechenden Kooperation hindert. Ein funktionierender Markt ist folglich auf ein differenziertes Management sozialer Dilemmata angewiesen: Dilemmata zwischen Anbietern und Nachfragern im Hinblick auf gesellschaftlich erwünschte Tauschakte gilt es zu überwinden; Dilemmata im Hinblick auf gesellschaftlich unerwünschte Kartellbildung hingegen gilt es zu etablieren. Systematisch im Zusammenhang betrachtet heißt dies, dass Konkurrenz als Instrument gesellschaftlicher Kooperation eingesetzt wird. Wettbewerb auf Märkten ist also kein Selbstzweck, sondern ein Anreizmechanismus, der hilft, unerwünschte Interaktionen zu destabilisieren, um so dazu beizutragen, dass erwünschte Interaktionen zwischen Tauschpartnern stabilisiert werden. Graphisch illustriert bedeutet dies, dass die Wirtschaftsethik nicht nur in ihr Blickfeld zu nehmen hat, wie sich Situationen so transformieren lassen, dass man gleichsam von Abb. 5 zu Abb. 6 wechselt, sondern dass
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auch genau die umgekehrte Transformation von Abb. 6 zu Abb. 5 erforderlich sein kann, um das Produktivitätspotential markdieher Interaktionen zur vollen Entfaltung zu bringen. 4) Diese Überlegungen lassen sich dahingehend zusammenfassen, dass die wirtschaftsethische Verwendung ökonomischer Interaktionsmodelle daraufangelegt sein muss, zwischenBeteiligten undBetroffenen sorgfältig zu differenzieren: Im Spiel eines sozialen Dilemmas werden nur die beteiligten Akteure ökonomisch modelliert. In ethischer Hinsicht kommt es jedoch darauf an, auch die von diesen Interaktionen betroffenen Akteure zu berücksichtigen. Würde man nur die beteiligten Akteure betrachten, so würde es stets als wünschenswert erachtet, soziale Dilemmata zu überwinden. Dass es umgekehrt- gerade um moralischer Anliegen willen- ebenfalls wünschenswert sein kann, soziale Dilemmata zu etablieren und aufrecht zu erhalten, gerät erst dadurch ins Blickfeld, dass man berücksichtigt, wie das V erhalten der beteiligten Akteure auf die Betroffenen ausstrahlt. Mit Hilfe von Abbildung 7 lassen sich die bisher vorgenommenen Differenzierungen übersichtlich ordnen. Die ökonomische Metapher der "unsichtbaren Hand" erklärt gesellschaftliche Zustände als nicht-intendiertes Ergebnis erwünschter Dilemmata, während die Metapher der "unsichtbaren Faust" die Perspektive aufnicht-intendierte Ergebnisse unerwünschter Dilemmata fokussiert. Aus wirtschaftsethischer Sicht kommt es darauf an, gesellschaftlich erwünschte Dilemmata zu etablieren und unerwünschte Dilemmata zu überwinden. 8 Dies erfordert ein differenziertes Management individueller und kollektiver Selbstbindungen, die im ersten Fall erschwert und im zweiten Fall erleichtert werden müssen, wenn man moralischen Anliegen - nicht gegen, sondern - durch das System wettbewerblicher Anreize zur Kanalisierung eigeninteressierten Verhaltens wirksam zur Geltung verhelfen will. Damit avancieren die formalen und infor-
malen Institutionen der Rahmenordnung zum systematischen Ort der Moral. Von ihnen hängt es ab, inwiefern es gelingt, die unsichtbare Faust zur unsichtbaren Hand zu öffnen und gesellschaftliche Aufwärtsspiralen an die Stelle gesellschaftlicher Abwärtsspiralen treten zu lassen. 8
Dabei ist dem Umstand Rechnung zu tragen, dass es in modernen Gesellschaften durchaus zu einer "Umwertung der Werte" kommen kann. Beispielsweise ist es möglich, dass das, was früher als Ausdruck von Familiensolidarität galt, heute als Nepotismus gebrandmarkt und morgen als Korruption strafrechtlich verfolgt wird. Umgekehrt kann es auch vorkommen, dass bestimmte Verhaltensweisen nicht abgewertet, sondern aufgewertet werden, wenn sich dies als funktional erweist. So ist gegenwärtig beobachtbar, dass um einer wirksamen Korruptionsprävention willen heute ein Verhalten als erwünschtes "whistle-blowing" honoriert wird, das früher als Loyalitätsbruch geahndet worden wäre.
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Dilemma erwünscht
Dilemma unerwünscht
Einseitiges Gefangenendilemrna
Korruptionsprävention durch hierarchisches Misstrauen
Hierarchische Beziehung zwischen Vorgesetztem und Mitarbeiter wird durch Misstrauen unterminiert
Zweiseitiges Gefangenendilemrna
Leistungswettbewerb: Gruppeninteresse an Kooperation im Kartell kann nicht verwirklicht werden
Einhaltung von sozialen oder ökologischen Standards wird durch individuelles Vorteilsstreben vereitelt
Unsichtbare Hand
Unsichtbare Faust
Abb.7
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Zusammenfassung und Ausblick
Konfrontiert mit einem vermeintlichen Konflikt zwischen Eigeninteresse und Moral, hat Wirtschaftsethik im Wege einer orthogonalen Positionierung aufzuzeigen, wie sich eine Harmonie herstellen ließe, die diesen Konflikt auflöst. Im Kern handelt es sich bei einem solchen Konflikt darum, dass ein Akteur- ein Individuum oder eine Organisation, wie beispielsweise ein auf Gewinnerzielung programmiertes Unternehmen- in einen Gegensatz zu legitimen Fremdinteressen anderer Akteure gerät, die zu berücksichtigen ein moralisches Anliegen darstellt. Ein solcher Konflikt lässt sich nur dann harmonisch auflösen, wenn der Status quo als sub-optimal gekennzeichnet werden kann, so dass es ein Potential wechselseitiger Besserstellung gibt, das derzeit noch nicht ausgeschöpft ist. In Hinsicht auf dieses Potential lässt sich die Vorstellung eines Trade-off transzendieren und der Blick freimachen für die Option, zugleich mehr Eigeninteresse und mehr Moral zu realisieren. Sub-optimale Situationen, die genau diese Eigenschaft eines unausgeschöpften Potentials wechselseitiger Besserstellung aufweisen, werden in der sozialwissenschaftliehen Literatur als soziales Dilemma bezeichnet. Das sie definierende Merkmal ist eine kollektive Selbstschädigung: In einem sozialen Dilemma bleiben die Akteure anreizbedingt unter ihren Möglichkeiten. Hierfür gibt es zwei prototypische Modelle, das einseitige und das zweiseitige Gefangenendilemma. Für die Wirtschaftsethik kommt beiden Modellen eine fundamentale Bedeutung zu, weil sie hinsichtlich Di-
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agnose und Therapie die analytische Grundlage fiir orthogonale Positionierungen bieten. 1) Mit dem Modell des einseitigen Gefangenendilemmas lässt sich die Dialektik von Macht und Ohnmacht dechiffrieren: Auf den ersten Blick sieht es so aus, als befinde sich SpielerB in einer komfortablen Lage. Immerhin kann er Spieler A ausbeuten. In Wirklichkeit jedoch schlägt seine vermeintliche Macht in faktische Ohnmacht um. Spieler A antizipiert, dass B seine Machtposition opportunistisch ausnutzen wird. Deshalb begibt sich A in weiser Voraussicht gar nicht erst in die Lage, von B ausgebeutet werden zu können. Eine potenziell produktive Interaktion unterbleibt. Die positive Erkenntnis, dass-aufgrundder Ex-ante-Antizipation einer möglichen Ex-post-Ausbeutung - Macht in Ohnmacht umschlagen kann, lässt sich leicht in Zweckmäßigkeitsargumente zugunsten individueller Selbstbindungen überführen. Solche Argumente setzen auf die durchaus kontra-intuitive Einsicht, dass eine Begrenzung der eigenen Macht im wohlverstandenen Eigeninteresse liegen kann, weil sie andere zu Interaktionen ermutigt, die andernfalls unterbleiben würden. Selbstbindungen sind folglich eine besondere Art von Investition: Sie engen den individuellen Handlungsspielraum künstlich ein, um hierdurch die Option zu "erkaufen", den sozialen Möglichkeitenraum besser auszuschöpfen. Zahlreiche Produktivitätspotentiale lassen sich nur dadurch erschließen, dass man im Wege weiser Selbstbeschränkungen die Zuverlässigkeit des eigenen Verhaltens fiir andere berechenbar macht. Insofern lassen sich fiir Investitionen in individuelle Selbstbindungen moralische Klugheitsüberlegungen ins Feld fiihren. 9 2) Mit dem Modell des zweiseitigen Gefangenendilemmas lässt sich die Logik des Wettbewerbs dechiffrieren: Auf den ersten Blick sieht es so aus, als hätte Moral im Konkurrenzkampf keine Chance. Dies gilt insbesondere dann, wenn moralisches Verhalten zu gravierenden Wettbewerbsnachteilen führt. In solchen Situationen kann es passieren, dass alle beteiligten Akteure zu einem Ergebnis beitragen, mit dem alle unzufrieden sind: Jeder verhält sich so, wie er es von den anderen befiirchtet. Aus einer solchen Situation können die Akteure nur durch eine kollektive Selbstbindung befreit werden. Sie sorgt dafiir, dass niemand einen individuellen Wettbewerbsvorteil dadurch erringen kann, dass er die kooperativen Beiträge seiner Konkurrenten ausbeutet. Nur auf diese Weise 9
Dies lässt sich z. B. filr die Prozesse um Global Governance zeigen, vgl. hierzu Pies/ Sardison 2005.
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lassen sich moralische Anliegen wettbewerbsneutral verwirklichen, so dass der im Dilemma auftretende Konflikt zwischen Eigeninteresse und Moral tatsächlich überwunden wird. 3) Die Überwindung einer kollektiven Selbstschädigung durch individuelle oder kollektive Selbstbindungen ermöglicht es den im sozialen Dilemma gefangenen Akteuren, von wechselseitiger Schlechterstellung auf eine wechselseitige Besserstellung umzuschalten. Es darf jedoch nicht übersehen werden, dass aus moralischer Sicht auch eine Etablierung sozialer Dilemmata indiziert sein kann. Dies ist immer dann der Fall, wenn eine Gruppe von Akteuren daran gehindert werden soll, zu Lasten betroffener Dritter miteinander zu kooperieren. Wichtige Beispiele hierfür sind Korruption und Kartellbildung. Eine international wettbewerblieh verfasste Marktwirtschaft funktioniert nur auf der Basis einer Stabilisierung erwünschter und - spiegelbildlich! - einer Destabilisierung unerwünschter Interaktionen. Diese Steuerungsfunktion kann weder von den Intentionen der Akteure noch von ihren moralischen Dispositionen geleistet werden. Intentionen können die Steuerung nicht leisten, weil es im System der Marktwirtschaft- sei es durch den Mechanismus der "unsichtbaren Hand", sei es durch den Mechanismus der "unsichtbaren Faust" - zu einer Entkopplung von Intention und Ergebnis kommt. Dispositionen können die Steuerung nicht leisten, weil im System der Marktwirtschaft weder Kooperationsverhalten immer "gut" ist noch Konkurrenzverhalten immer "gut" ist. Allein die formalen und informalen Institutionen im System einer Marktwirtschaft sind in der Lage, jene situativ differenzierten Verhaltensmuster zu erzeugen, durch die das Potential wechselseitiger Besserstellung freigesetzt und auf breiter Front für moralische Anliegen in Dienst genommen werden kann. Deshalb avancieren die Institutionen zum systematischen Ort der Moral. 4) Mit dem klassischen Ethosbegriff ist eine solche Auffassung durchaus vereinbar. Dieser Begriff enthält drei Bedeutungsebenen. Erstens meint Ethos den besonderen Wohnort des Menschen, zweitens die an diesem Wohnort geltenden Regeln und Gebräuche und drittens schließlich die aufgrund dieser Regeln und Gebräuche eingeübten Gewohnheiten. In der Moralsemantik wird der Ethosbegriff zumeist auf dieser dritten Ebene angesiedelt. So bezeichnet beispielsweise das Wort ,,Arbeitsethos" eine Verhaltensdisposition. Auch die Tugenden, die nach aristotelischer Auffassung durch (reflektierte!) Praxis erworben werden, indem man sie sich durch Einübung zur bewussten Gewohnheit, zur "zweiten Natur" werden
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lässt, sind auf dieser dritten Bedeutungsebene des Ethosbegriffs angesiedelt. Demgegenüber rückt die Wirtschaftsethik- wie soeben dargelegt: mit guten Gründen - die zweite Bedeutungsebene des Ethosbegriffs in den Vordergrund. Sie misst den formalen und informalen Institutionen einen zentralen Stellenwert bei, weil es von den Anreizen der jeweiligen Rahmenordnung abhängt, ob Eigeninteresse und Moral in einen Widerspruch zueinander geraten und inwiefern solche situativ auftretenden Konflikte gegebenenfalls überwunden werden können. Hierdurch wird in keiner Weise geleugnet, wie wichtig Dispositionen, Tugenden und Charakter für die Moral einer Person sind, ganz im Gegenteil. Deren Wichtigkeit ist explizit vorausgesetzt, indem die Wirtschaftsethik ihrer spezifischen Fragestellung nachgeht und als Problem thematisiert, inwiefern in einem wettbewerbliehen Umfeld systemischer Verhaltenssteuerung wirtschaftliche Akteure, die ein moralisches Anliegen teilen, dieses auch tatsächlich zur Geltung zu bringen vermögen. 5) Die klassische Frage der Ethik lautet: "Was soll ich tun?". Die Duplizierung dieser Frage, ihre naive Übertragung auf die Problernkontexte der Wirtschaftsethik, mündet direkt in jenen Dualismus von Eigeninteresse und Moral, den zu überwinden hier als methodische Mindestanforderung ausgewiesen wurde. Deshalb stellt die Wirtschaftsethik bewusst andere, spezifischere Fragen. Diese lauten: "Was können wir wollen?" und "Was wollen wir können?". Die erste Frage zielt auf (welt-)gesellschaftliche (Selbst-)Aufklärung, die zweite auf (weit-)gesellschaftliche (Selbst-)Steuerung. Die erste Frage der Wirtschaftsethik eruiert die Konsensmöglichkeiten unter den Pluralismusbedingungen der Modeme. Pluralismus bedeutet: konfligierende Handlungsinteressen. Aber gerade damit ist im Pluralismus auch ein Konsenspotential angelegt. Im Rekurs auf die Argumentationsfigur sozialer Dilemmata erschließt sich sofort folgende Antwort: Es sind die konfligierenden Handlungsinteressen im Spiel, die ein gemeinsames Regelinteresse an einem besseren Spiel allererst konstituieren. Im Klartext heißt das: Wir können Regeln wollen, die uns zu einer wechselseitigen Besserstellung befähigen. Die zweite Frage der Wirtschaftsethik eruiert die Koordinationsmöglichkeiten unter den systemischen Bedingungen einer international wettbewerblieh verfassten Marktwirtschaft. Marktwirtschaft bedeutet: Konkurrenz und Kooperation. Aber gerade dadurch entsteht ein höchst differenzierter Steuerungsbedarf. Im Rekurs auf die Argumentationsfigur sozialer
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Dilemmata erschließt sich sofort folgende Antwort: Moralische Intentionen und Dispositionen sind prinzipiell nicht geeignet, die Steuerungsfunktion zu übernehmen. Der differenzierte Steuerungsbedarflässt sich nur decken durch die sanktionsbewehrten Verhaltenssignale, die von formalen und informalen Institutionen ausgehen. Im Klartext heißt das: Wir wollen- unterstützt durch geeignete Anreize- situativ differenziert jene Verhaltensweisen der Kooperation und Konkurrenz praktizieren können, die uns zu einer wechselseitigen Besserstellung befähigen. 6) Die Wirtschaftsethik vermeidet alle den Menschen gegenüber als extern auftretenden Referenzen und löst den Begriff des Sollens auf, indem sie das moralisch "Gesollte" auf das inter-subjektiv "Gewollte" zurückfUhrt. Sollen wird als Wollen rekonstruiert, und dieses "Wollen" wird nicht unabhängig davon bestimmt, welches "Können" sozial verfiigbar ist. Im Prinzip wird hiermit eine Re-Aktualisierung des alten ethischen Grundsatzes vorgenommen, nach dem Sollen Können voraussetzt: ultra posse nemo obligatur. Normativität wandelt sich damit von der Vorgabe zur Aufgabe. Einem solchen Verständnis zufolge rekurriert Normativität nicht länger auf eine bereits vorgegebene -und vom Einzelnen fraglos zu akzeptierende - Verpflichtung, sondern vielmehr auf eine allererst herzustellende (Selbst-)Verpflichtung, von der der Einzelne mit Fug und Recht verlangen darf, dass fiir sie einsichtige Argumente ins Feld gefiihrt werden können, in denen sein Eigeninteresse als prinzipielllegitim anerkannt ist. 10 Normativität wird damit zur Heuristik. Sie leitet die Suche an, wie ein Regelrahmen beschaffen sein "sollte", innerhalb dessen die Menschen selbst ihre Zusammenarbeit - und allgemeiner: ihr Zusammenleben - möglichst friedlich und produktiv gestalten. Die Anschlussfrage, inwiefern die Wirtschaftsethik als eine augewandte Ethik mit ihrem methodischen Prozessieren von Normativität auch einen Grundlagenbeitrag zur allgemeinen Ethik leistet, sei hier abschließend lediglich angedeutet, um ein derzeit noch weitgehend offenes Forschungsproblem zu markieren.
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Um es mit Hege! (1986 [1821]); Zusatz§ 317, S. 485) in den Worten seiner Rechtsphilosophie auszudrücken: "Das Prinzip der modernen Welt fordert, dass, was jeder anerkennen soll, sich ihm als ein Berechtigtes zeige."
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Exkurs zur wirtschaftsethischen Literatur
Die hier vorgestellte "ökonomische Theorie der Moral" ist nicht unumstritten und schon gar nicht ohne Alternativen, ganz im Gegenteil. Wie bereits einleitend angedeutet, gibt es eine große Anzahl verschiedener Ansätze zur Wirtschaftsethik. Die folgenden (notwendig selektiven) Literaturangaben vermitteln einen Überblick über die wichtigsten Strömungen. 1) Zu den Pionieren der Literatur im deutschen Sprachraum gehört Peter Koslowski (vgl. z. B. Koslowski 1998 [1982], 1994 [1988], 1989, 1992 sowie 1997). Eine prominente Position zur Wirtschaftsethik vertritt die sog. "St. Galler Schule" um Peter Ulrich (vgl. z. B. Ulrich 1993 [1986], 2001 [1997], Thielemann 1996, Maak 1999, 2000 [1998], Büseher 2000 sowie andere Werke der Schriftenreihe "St. Galler Beiträge zur Wirtschaftsethik"). Speziell mit Fragen der Unternehmensethik beschäftigt haben sich Horst Steinmann und Albert Löhr (vgl. z. B. Steinmann/Löhr 1991 [1989], 1994 [1991] sowie Löhr 1991). Einen betont pragmatischen, anwendungsorientierten Ansatz vertritt Josef Wieland mit seinem Konzept einer "Governance-Ethik" (vgl. z. B. Wieland 2004 [1999], 2001a sowie neuerdings Wieland 2004a und 2004b). In der deutschsprachigen Literatur nimmt der letztgenannte Ansatz von Wieland eine eher singuläre Position ein. Seine Governance-Ethik lässt sich charakterisieren als eine "Betriebswirtschaftslehre der Moral" im Sinne eines Werte-Managements: Wer nach Anleitung sucht, wie man einen Verhaltenskodex aufstellt oder eine kollektive Korruptionsprävention organisiert, wird hier fiindig werden. Demgegenüber weisen etwa die Ansätze von Koslowski und Steinmann die Gemeinsamkeit auf, die Wirtschaftsethik als Bereichsethik, als "Ethik fiir die Wirtschaft" zu konzeptualisieren. Hierbei arbeitet Koslowski mit einer angewandten theologischen Ethik, Steinmann hingegen mit einer angewandten philosophischen Ethik: Koslowski verfolgt ein Stufenmodell, demzufolge Marktversagen durch Ethik und Ethikversagen durch Religion geheilt werden soll. Und er weist offen aus (Koslowski 1994 [1988], 40): "Religionsversagen ist nicht durch weitere Iteration kompensierbar." - Steinmann hingegen propagiert eine starke Dialogorientierung der Unternehmensfiihrung. Er verwendet hierbei einen zweistufigen Ansatz: Generell arbeitet er mit einer ethischen Richtigkeitsvermutung fiir das Gewinnprinzip, die an das Vorliegen geeigneter Rahmenbedingungen der marktwirtschaftliehen Ordnung geknüpft wird. Im Konfliktfall hingegen, wenn sich die Richtigkeitsvermutung als falsch erweist,
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befürwortet er eine ,,situationale Beschränkung des Gewinnziels in bestimmten Fällen" (Steinmann/Löhr 1988,308, H. i. 0.). Dann lautet die dialogisch zu klärende Frage (Steinmann!Oppenrieder 1985, 176): "Wieviel Beschränkung des Gewinnprinzips kann eine Firma in einer konkreten ökonomischen Situation auf sich nehmen, um unternehmensethischen Überlegungen Rechnung zu tragen, ohne sich selbst zu gefahrden?" Im Unterschied hierzu versteht sich der Ansatz von Ulrich nicht nur als "Ethik für die Wirtschaft", sondern auch und vor allem als "Ethik für die Wirtschaftswissenschaft". In der Tat geht es Ulrich darum, gestützt auf diskursethische Überlegungen, die Ökonomik zur Vernunft zu bringen und dadurch dann auch die Wirtschaftspraxis lebensdienlicher zu machen. Zu diesem Zweck propagiert seine Vernunftethik des Wirtschafrens eine "Durchbrechung" (Ulrich 1996, 156) der ökonomischen Funktionslogik. Um sich in der wirtschaftsethischen Literatur Orientierung zu verschaffen und eine selbstständige Meinung zu erarbeiten, könnten aus der Perspektive des hier vertretenen Ansatzes folgende Leitfragen hilfreich sein: Werden moralische Probleme auf die Präferenzen (Intentionen, Motive) oder auf die Restriktionen (Institutionen, Situationsanreize) der Akteure zugerechnet, auf ihr Wollen oder auf ihr Können? Wird systematisch in Rechnung gestellt, dass wirtschaftliche Akteure unter Wettbewerbsbedingungen handeln? Wird im situativen Konflikt zwischen Gewinn und Moral eine Positionierung innerhalb des Trade-off empfohlen? 2) Einen grundlegenden Überblick zum "state of the art" vermittelt das vierbändige Handbuch der Wirtschaftsethik (vgl. Korff!Baumgartner/ Franz et al. 1999). Für einen Kurzüberblick eignen sich das Lexikon der Wirtschaftsethik (vgl. Enderle/Homann/Honecker et al. 1993) sowie die allgemein einfUhrenden Werke von Noll (2002) und Dietzfelbinger (2002 [1999]). Für die wissenschaftliche Diskussion wegweisend ist die wirtschaftsethische Schriftenreihe des "Ausschusses Wirtschaftswissenschaften und Ethik" im Verein für Socialpolitik (vgl. Homann 1994; Nutzinger 1994, 1996; Gaertner 1998, 2000; Amold 2002 und 2004). Wichtige Beiträge fmden sich auch in der Schriftenreihe des Forums Wirtschaftsethik der Deutschen Gesellschaft für Philosophie (vgl. Koslowski 2001; Wieland 2001 b; Röttgers/Koslowski 2002; Fischer/Huber/Koslowski 2003 sowie Homann!Koslowski/Lütge 2005). Ebenfalls hinzuweisen ist auf die Bände von Aufderheide/Dabrowski 1997, 2000, 2002 sowie auf die von Bernd Biervert und Martin Held herausgegebene Schriftenreihe "Norma-
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Wirtschaftsethik
tive Grundfragen der Ökonomik", auf das von Martin Held, Gisela KubonGilke und Richard Sturn herausgegebene "Jahrbuch normative und institutionelle Grundfragen der Ökonomik", auf die Schriftenreihe des Deutschen Netzwerks Wirtschaftsethik (DNWE), auf die von Thomas Beschorner, Alexander Brink, Walter Schmidt und Olaf Schumann herausgegebene "Schriftenreihe fiir Wirtschafts- und Unternehmensethik (sfwu)" sowie auf die "Zeitschrift fiir Wirtschafts- und Unternehmensethik (zfwu)". Die internationale Diskussion wurde in jüngerer Zeit insbesondere angeregt durch die Beiträge von Sen (2003 [2000]), Rawls (1999, 2003 [2001]) und Pogge (2001, 2004 [2002]). Für einen instruktiven Überblick vgl. Hausman!McPherson (1993 sowie 2002 [1996]).
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Wissenschaft und Ethik
Die Wissenschaft, insbesondere die auf dem technischen Erkenntnisinteresse basierende moderne Naturwissenschaft, nimmt unter den Grundthemen der Angewandten Ethik eine spezielle Stellung ein. 1 Es versteht sich nicht von selbst, wenn man die Wissenschaft als eines der Handlungsfelder, auf deren praktische Prinzipien und lmplikationen sich die ethische Reflexion richtet, betrachtet; man kann dies nur tun, wenn man sich zuvor mit der wesentlichen Herausforderung auseinander setzt, mit der die Ethik durch die Wissenschaft mit der Frage nach ihrer eigenen Daseinsberechtigung konfrontiert wird. Von ihren Anfangen her wohnt der modernen, auf die Rekonstruktion eines geschlossenen und potentiell vollständigen Systems der Weltbeschreibung gerichteten theoretischen Wissenschaft ein intrinsischer Anspruch auch auf umfassende praktische Orientierung inne, durch den die ethische Reflexion in die Rolle eines geschichtlich relativen und gegenüber den Ergebnissen der Wissenschaft selbst rechtfertigungspflichtigen Unternehmens gedrängt zu werden droht; Descartes sprach von der "morale parprovision" (Descartes 1996, 38)', deren rationale Orientierungsfunktion tendenziell vom Fortschritt der theoretischen Wissenschaft übernommen werden wird, die uns zu "Herren und Eigentümern der Natur" (Descartes 1996, 101) machen werde. Auch Kant hat, jenseits aller empirisch uneinholbaren Moralbegründung, der Wissenschaft den ursprünglich einmal von der Ethik verwalteten Anspruch übertragen, uns auf dem Weg zu ihrem "Hauptzwecke, der allgemeinen Glückseligkeit" (Kant 1983a, 709) zu leiten. Und zumindest im Ursprung der für die gegenwärtige Wissenschaftstheorie richtungweisenden Konzeption des Logischen Positivismus wurde die Rationalität der ethischen Reflexion vollständig in Frage
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Zum Begriff des Erkenntnisinteresses und der strukturellen Komplementarität der Wissenschaften in Bezug auf dieses vgl. Habermas 1989 [1968]. Siehe dazu auch Spaemann 1977.
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gestellt und die einzig vernünftige Lebensorientierung der auf dem Weg zur "Weltformel" befmdlichen deskriptiven Wissenschaft überantwortet, aus der sich schließlich nicht nur die Alternativen zu den überkommenen religiösen und ideologischen Modellen moralischer Handlungsorientierung ergeben sollten, sondern die vor allem auch die menschlichen Überzeugungen selbst, die diesen Modellen zugrunde liegen, noch einmal zum Gegenstand erklärender Ursachenforschung machen sollte. Konsequent durchgeführt mündet dieser Standpunkt in der Einklammerung der ethisch originären Differenz von "gut" und "böse" in einen theoretisch-empirischen Horizont, innerhalb dessen sogar noch die Auffassung der "evolutionären Ethik", nach der es darauf ankäme, "unsere (angeborenen) Verhaltens- und Handlungsstrukturen, kooperatives Verhalten und Altruismus eingeschlossen, als darwinische Allpassungen an unsere evolutionäre Vergangenheit ... zu erklären" (Mohr 1987, 77), unhaltbar würde. Analoge Ansprüche können natürlich von Seiten verschiedener naturwissenschaftlicher Disziplinen oder einer totalitätsorientierten Systemtheorie' erhoben werden. Die Herausforderung, die von diesem Einklammerungsanspruch der Wissenschaft gegenüber den moralischen Überzeugungen am Grunde der ethischen Reflexion ausgeht, verbleibt nicht auf der Ebene, die sie vernünftigerweise allenfalls beanspruchen dürfte, nämlich der eines noch einzulösenden Programms, sondern sie wirkt sich unmittelbar aus in einer Atmosphäre der "Hypothetisierung" menschlicher Überzeugungen, durch welche die Unbedingtheit, die der moralischen Erfahrung eigentümlich ist und den genuinen Erkenntnisanspruch der Ethik begründet, entscheidend relativiert wird.' Der Mensch, der in seinem Gewissen das praktische Urteil gesprochen fmdet, das sich schon phänomenal vom prinzipiell hypothetischen Anspruch theoretischer Weltbeschreibung und Folgenabschätzung unterscheidet, wird so dazu veranlasst, sich selbst gewissermaßen als einem Objekt gegenüberzutreten, das von der Wissenschaft erst noch darüber belehrt zu werden habe, warum es so denkt, wie es denkt. Auf einer solchen Basis kann es dann eine "Wissenschaftsethik" im Sinne der Unterwerfung wissenschaftlicher Forschungs- und Anwendungsinteressen unter moralische 3
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Vgl. das nicht weiter ausgewiesene, aber strukturell zentrale Postulat, mit dem Niklas Luhmann die deskriptive Feststellung einer geschichtlichen Differenzierungsdynamik sozialer Systeme zum normativen Leitfaden rationalen Handeins wendet, wonach es "eine gesunde wissenschaftliche Hypothese" sei, "zu vermuten, daß differenzierte Sozialordnungen das Problem des menschlichen Daseins in der Welt wirksamer zu lösen vermögen als undifferenzierte Sozialordnungen" (Luhmann 1965, 198). Vgl. dazu Spaemann 1986, 27f.
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Gesichtspunkte überhaupt nicht mehr geben, sondern der programmatisch versprochene wissenschaftliche Fortschritt macht sich zum Richter nicht nur über sich selbst, sondern auch noch über jede ihn möglicherweise beurteilende oder begrenzende Instanz normativer Bewusstseinsbildung. Es gehört deshalb zu den Rechtfertigungsbedingungen einer" Wissenschaftsethik", dass sie dieses szientistische Einklammerungsprogramm von Grund auf zurückweist, und zwar nicht mit weltanschaulichen oder auf partikuläre philosophische Standpunkte rekurrierenden Intuitionismen, sondern durch den Rückgang auf die Selbstwidersprüchlichkeit und die inzwischen eingetretene philosophische Selbstüberwindung der diesem Programm innewohnenden Logik. Die Annahme der Integrierbarkeit ethischer Handlungsprinzipien in ein durch theoretische Forschung zugänglich gemachtes Totalsystem menschlichen Wissens ist das Zeugnis prinzipieller wissenschaftstheoretischer Naivität, wie man sie im unreflektierten Selbstverständnis mancher Forscherpersönlichkeit und über weite Strecken eines wissenschaftsgläubigen Gesellschaftsklimas finden mag, die jedoch durch die - eben aufgrund eines langen und differenzierten Prozesses der Selbstkritik und Selbstüberwindung des ursprünglich positivistischen Anspruchs der analytischen Wissenschaftstheorie selbst noch einmal wissenschaftlich beeindruckend begründete und ethisch höchst bedeutsarne5 - Einsicht in die prinzipielle Hypothetizität und geschichtlich-kulturelle Bedingtheit wissenschaftlicher Objektivitätsstandards philosophisch obsolet geworden ist. Das positivistische Konzept einer "Einheitswissenschaft" auf ausschließlich mathematisch-experimenteller Basis ist nach dem Eingeständnis praktisch aller an seiner Durchführung beteiligter Philosophen zusarnmengebrochen.6 Weder ließ sich die Objektivität wissenschaftlicher Gesetzesannahrnen rein induktiv begründen noch konnte man eine theoretische Begründung fiir die Übersetzung theoretischer Erkenntnis in praktische Nonnativität entwickeln. Insbesondere die Idee, dass ethische Handlungsorientierung auf die "Anpassung" an Gesetze der natürlichen Evolution gestützt werden könnte, hat keinerlei Verteidigungsbasis gegen den ebenso simplen wie fundamentalen Einwand, den etwa Claude LeviStrauss gegen die "Soziobiologie" gerichtet hat: Entweder das menschliche Leben inklusive der aus ihm hervorgehenden ethischen Reflexion ist 5 6
Vgl. als grundsätzliches Resümee die Darstellung bei Stegmüller 1969. Am aufschlussreichsten bzgl. der inneren philosophischen Gründe dieses Zusammen-
bruchs dürfte die Auseinandersetzung mit der umfassenden pragmatistischen Wende sein, in der sich eine Reihe der wichtigsten Vertreter der analytischen Wissenschaftsund Erkenntnistheorie einig geworden sind; vgl. als instruktive Übersicht Sandbothe 2000.
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durch die angeblichen Gesetze der Evolution so bedingt, dass es sich ihnen ohnehin anpassen muss, dann hat die entsprechende Forderung keinen vernünftig rekonstruierbaren Sinn - oder das Schicksal unserer Gattung liegt in einem gewissen Umfang doch in unserer Hand, dann sind wir insoweit frei gegenüber den natürlichen Determinanten und bedürfen fiir den Umgang mit den so eröffneten Optionen anderer, ethischer Orientierung. 7 Kein wissenschaftliches Ergebnis kann deshalb den Menschen darüber belehren, ob es nach den Maßstäben ethischer Narrnativität geboten oder erlaubt gewesen sei, nach ihm zu forschen - geschweige denn über die Berechtigung dieser Maßstäbe selbst. Es gibt keine Naturgesetze, aus denen der Mensch andere als technische und damit hypothetische Orientierung fiir sein Handeln gewinnen könnte, also Orientierung über die Mittel, die er vernünftigerweise suchen und einsetzen muss, um die Ziele zu erreichen, über die ihm nur das ethische Nachdenken Auskunft zu geben vermag. Im Umgang mit sich selbst unterliegt das rationale Subjekt dem "Primat der praktischen Vernunft" (vgl. Kant 1968, A 215ft), aufgrunddessen die spezifisch vernünftige Wirklichkeit diejenige ist, die aus freien Handlungen entsteht8 und deren Gründe mit den Gründen ihrer rationalen Rechtfertigung identisch sind. Freiheit, so die im Kern weiterhin gültige kantische Zuordnung von theoretischer und praktischer Vernunft, richtet sich nach Gesetzen, die gegenüber den Naturgesetzen keine Determinationslücke, sondern einen zusätzlichen, in spezifisch praktischer Narrnativität bestehenden Bestimmungsfaktor darstellen, in dem das vernünftige Subjekt letztendlich sich selbst als den in sich zweckhaften Horizont aller rational begründbaren Mittel und Instrumente seines individuellen Handeins wiederfindet. Wer sich auf Freiheit beruft, beruft sich auf die spezifisch praktische Vernünftigkeit, die jeglicher Rechtfertigung menschlichen Handeins zugrunde liegt- einschließlich desjenigen systematisch organisierten Handlungsfeldes, dem 7
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Levi-Strauss 1993, 62: "Das soziobiologische Denken birgt einen noch schwerwiegenderen Widerspruch, der grundlegend zu sein scheint. Einerseits wird behauptet, daß alle Formen geistiger Aktivität durch inklusive Adaption determiniert sind; und andererseits, daß wir das Schicksal der Gattung modifizieren können, indem wir bewußt unter den Triebrichtungen wählen, die unsere biologische Vergangenheit uns vermacht hat. Eins von beiden denn: entweder sind diese Wahlakte ihrerseits von den Erfordernissen der allmächtigen inklusiven Adaption diktiert und wir leisten ihr sogar noch dann Gehorsam, wenn wir zu wählen glauben; oder diese Wahlmöglichkeit ist real gegeben, und dann erlaubt nichts mehr zu sagen, daß menschliche Geschick werde allein von der genetischen Erbschaft gelenkt." Vgl. Kant 1968b, A 116: Dass "die praktischen Begriffeapriori in Beziehung auf das oberste Prinzip der Freiheit sogleich Erkenntnisse werden und nicht auf Anschauungen warten dürfen, um Bedeutung zu bekommen", liegt nach Kant an "diesem merkwürdigen Grunde, weil sie die Wirklichkeit dessen, worauf sie sich beziehen (die Willensgesinnung) selbst hervorbringen, welches gar nicht die Sache theoretischer Begriffe ist".
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sich die Gewinnung wissenschaftlicher Erkenntnis verdankt. "Freiheit der Wissenschaft" kann unter dieser Voraussetzung immer nur auf die Inanspruchnahme vernünftiger Rechtfertigung fiir die Gestaltung dieses Handlungsfeldes gerichtet sein, niemals aber aufseine Ausnahme von der Verpflichtung zu ihr. Sie ist die Freiheit des Wissenschaftlers zur Wahmahme der fiir sein wissenschaftliches Handeln spezifisch einschlägigen Verantwortung (vgl. Markl1991, 41). Der Wissenschaftler, der sie in Anspruch nimmt, beruft sich nicht auf seine spezifisch einzelwissenschaftliche, sondern auf seine ethische Kompetenz, die ihm freilich durch die Kapazitäten der ihm inhaltlich und methodisch zugänglichen Erkenntnisse und durch seine Verantwortung fiir deren Anwendung in besonderer Weise zukommen kann. Dies gilt insbesondere angesichts der Relativierung der Grenzlinie zwischen "reiner" und "angewandter" Wissenschaft, auf die etwa Hans Jonas ( 1991, 213) von Anfang der neueren wissenschaftsethischen Diskussion an dezidiert hingewiesen hat: Es ist die unüberbietbare Grundlagenproblematik des biotechnologischen Fortschritts, dass die ihn tragenden Forschungen sich an den menschlichen Wesen, denen die Anwendung ihrer Ergebnisse zugute kommen soll, schon vollziehen müssen. Allerdings gehört zu den grundlegenden Ausgangsbedingungen des Verhältnisses von Wissenschaft und Ethik keinesfalls nur diese negative, potentiell konfliktträchtige Seite, sondern genauso der Hinweis auf ihre schicksalhafte Verbundenheit. Wenn auch die Ethik sich hinsichtlich ihres eigenständig praktischen Rationalitätsanspruchs durch kein wissenschaftliches Erkenntnisprogramm einklammem lässt, so kann sie diesen Anspruch nur unter der einen fundamentalen Voraussetzung erheben, unter der er im Sinne eines profunden Begriffs von Wissenschaftlichkeit eben doch selbst ein wissenschaftlicher ist. Die Ethik kann rationale Handlungsorientierung nur gewähren, weil und insofern sie den Anspruch begründeter Wahrheitserkenntnis erhebt. Es ist genau dieser originär wissenschaftliche Aspekt, durch den Ethik sich vom Dezisionismus der politischen Organisation des gesellschaftlichen Dissens- und Kompromisspotentials abhebt. Es gibt Unterschiede und Gegensätze zwischen ethischen Standpunkten, aber diese definieren sich notwendig in Bezug auf den Gegenstand, um den ihr Streit geht, nämlich die adäquate Rekonstruktion der Gründe moralischer Gewissheit, wie sie dem menschlichen Gewissen eigen ist. Wird diese Gewissheit und der ihr intrinsisch zugehörige Wahrheitsanspruch aus dem ethischen Gesichtspunkt hinausdefiniert, dann wird dieser zugunsten eines rein politischen Machtgeschehens suspendiert. Ethische Erkenntnis ersetzt und relativiert nicht den Respekt vor unterschiedlichen moralischen Über-
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zeugungen, sondern sie begründet ihn gerade als den Respekt vor dem sie jenseits aller Differenzen noch miteinander verbindenden Anspruch auf Wahrheit, über die freilich gestritten werden kann und muss. Ebenso wenig wie irgend eine wissenschaftliche kann eine ethische Position sich durch ihre Sozialverträglichkeit oder Konsensfahigkeit begründen, und man kann moralischen Auseinandersetzungen durch einen gesetzgeberischen Kompromiss zwar politisch Rechnung tragen, aber sie durch ihn niemals im genuin ethischen Sinne entscheiden. Und auch dieser politische Ausgleich ist nur möglich, wenn man ihm ethische Dignität zuschreibt; das Prinzip des Respekts vor dem Standpunkt anderer kann nicht selbst bloß Sache eines Standpunkts unter vielen möglichen sein. So gesehen, überkreuzt sich in den wissenschaftsethischen Fragestellungen der genuin wissenschaftliche Aspekt ethischer Reflexion mit dem spezifischen "Ethos der Wissenschaft" (vgl. Merton 1985a, 88), das auf die Erforschung universal zugänglicher, jedem vernünftigen Subjekt überprüfbarer Erkenntnis gerichtet ist. Das Prinzip des "Gemeinbesitzes wissenschaftlichen Wissens"/ das man als den Kern dieses "Ethos epistemischer Rationalität" bezeichnen kann (Nida-Rümelin 1996a, 780f), ist nichts anderes als die wissenschaftssoziologisch akzentuierte Seite des Wahrheitsanspruchs, der sich auf der wissenschaftstheoretischen Ebene, wie insbesondere auch die Entwicklung der Wissenschaftskonzepte im Pragmatismus und Neopragmatismus gezeigt hat, aus den Rekonstruktionsbedingungen der Wissenschaft nicht heraushalten lässt. '0 Die Überkreuzung von theoretischem und praktischem Aspekt macht das Spezifikum des wissenschaftlichen Erkenntnisstrebens im Unterschied zu allen anderen gesellschaftlichen Handlungsfeldern aus: Der wissenschaftliche Wahrheitsanspruch realisiert sich gerade nicht als theoretischer Beweis, sondern nur als "komplexes System organisierter Kritik" (Nida-Rümelin 1996a, 784), also im Fortschritt zur jeweils neuen, die alte widerlegenden, eben darin aber exemplarisch ein Maß der Manifestation des Sieges der Wahrheit über den Irrtum weitergebenden Position. Die Wissenschaft ist an dieses für sie spezifische Ethos gebunden, nicht im Sinne eines appellativ konstituierten Ideals, sondern aus dem ganz elementaren Interesse an der Bewahrung ihres Spezifikums: Nur die Orientierung auf das ihrer eigenen Erkenntnissu9 10
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Vgl. mit Berufung aufMertons Schlagwort vom "Kommunismus des wissenschaftlichen Ethos" Nida-Rümelin 1996a, 781. Vgl. die Markierung des pragmatistischen Ausgangsptmkts in William James' These, "daß die Wahrheit eine Art des Guten und nicht, wie man gewöhnlich annimmt, eine davon verschiedene, dem Guten koordinierte Kategorie ist" (James 1994, 48).
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ehe und nur dieser entspringende Maß ihrer Ergebnisse kann sie jeden von außen an sie gerichteten Funktionalisierungs- oder Finalisierungsanspruch abwehren und sich als das rein theoretische Unternehmen behaupten, als das sie sich ihr eigenes Maß zu geben vermag. Im Rückbezug des allgemeinen Rationalitätsinteresses der Gesellschaft auf eben dieses autonome Maß der wissenschaftlichen Erkenntnis findet die Wissenschaftsethik ihren systematischen Ausgangspunkt. Der universale Maßstab wahrheitsorientierter Erkenntnis, an dem die Wissenschaft um der Bewahrung ihres Spezifikumswillen interessiert sein muss, stellt zugleich eine erstrangige Quelle der rationalen Legitimation von Autorität im Gefüge der Gestaltung und Entwicklung gesellschaftlicher Institutionen dar. Nicht nur die unmittelbar durch die Wissenschaft geprägten Verantwortungsbereiche, sondern das gesamte System der "zweckrationalen"" Organisation sozialer Verhältnisseaufgrund von Bildung und Ausbildung ihrer Glieder und die Zwänge der Informationsbewältigung durch das System der sozialen Funktions- und Arbeitsteilung begründen das unbedingte Interesse der gesamten Gesellschaft an der Aufrechterhaltung eines "Ethos wissenschaftlicher Verantwortung" (Nida-Rümelin 1996a, 786) als Basis des vernünftigen Zusammenlebens und der Berechenbarkeit der Lebensverhältnisse. Und dieses Interesse wird durch die "Verwissenschaftlichung der Gesellschaft" (Spinner 1985, 128), durch die Vernetzung und Relativierung der disziplinären Binnen- und kulturellen Außengrenzen der Wissenschaftskulturen im Zuge der Komplizierung der informationsgesteuerten sozialen lnteraktionsfelder, ins Unabsehbare gesteigert. Die Aufrechterhaltung seines spezifischen Ethos wird damit tendenziell zur Sache der Selbstbegrenzung und Selbstdistanzierung wissenschaftlichen Sachverstandes in seinem Umgang mit den gesellschaftlichen Erwartungen; die Wissenschaftsethik tritt so auch in ihrer kritischen Funktion an das ihr aufgegebene Feld nicht von außen heran, sondern wohnt ihm als systembildender, aber nicht notwendig system-immanenter Faktor wesentlich inne. Unter diesen beiden grundlegenden Aspekten: dem der ethischen Rechenschaftspflicht auch des wissenschaftlichen Tuns und dem der gesellschaftlich konstitutiven Funktion des wissenschaftlichen Ethos, erweist sich die wissenschaftsethische Reflexion als legitimer und systematisch präzise umgrenzter Bereich der Allgewandten Ethik. Ihre konkreten Frageund Themenstellungen bilden sich aus ihrer Abgrenzung gegenüber den ihr benachbarten Bereichen, insbesondere der Bioethik bzw. medizinischen II
Zum Begriffvgl. Weber 1990.
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Ethik und der Technikethik. Sie ist also ein ebenso konkreter, sich aus dem sozialen Handlungsfeld Wissenschaft ergebender Komplex berufsorientierter Reflexion wie diese ihr benachbarten Disziplinen. Das spezifisch wissenschaftliche Ethos begründet die Legitimität und Eigenart, nicht etwa den Inhalt dieser Reflexion; es ist kein Prinzipienbestand, aus dem sich ein Katalog oder gar ein System moralischer Forderungen an die Wissenschaft deduzieren ließe. Auch die Wissenschaftsethik kann nur die dem Berufsfeld Wissenschaft immanenten, sich aus seiner Bedeutung für die lebensweltliche Realität ergebenden normativen lmplikationen rekonstruieren und auslegen, nicht jedoch sie ihm abstrakt von außen vorgeben.
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Ethik der Forschung als Ethik des wissenschaftlichen Berufes
Unter den so umrissenen Voraussetzungen wird man "W issenschaftsethik" daher nicht etwa als Kennzeichnung für die allgemeine normative Reflexion auf die Bedeutung der Wissenschaft für das individuelle und soziale Leben des Menschen verstehen. Die klassischen philosophischen Entwürfe der affirmativen wie auch der kritischen Beurteilung des wissenschaftlichen Fortschritts für die menschliche Kultur von Bacon (1990, 1.129) und Descartes 12 über Rousseau (1978, 27-{50), Kant 13 und Schleiermacher (2002, 431ft) bis zu Max Weber (1968, 582-{513), Jaspers 14 und Habermas (1965) unter dem Titel" Wissenschaftsethik" zu subsumieren, wäre problematisch. 15 Andererseits erscheint es wiederum zu eng, den Begriff auf ein 12 13 14 15
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Die Wissenschaft habe uns, so Descartes, "zu Herrn und Eigentümern der Natur" zu machen. V gl. Descartes 1996, 6 Kapitel, 2. Abschnitt. "Die Vernunft ist der Schritt, die Mehrung der Wissenschaft der Weg und die Wohlfahrt der Menschheit das Ziel" (Kant 1983a, B 879). Vgl. Jaspers 1932, insbes. Kap. 2-4; 1957 und 1960. So allerdings Höffe 1980'. Unter philosophiegeschichtlichem Aspekt ist gegen eine derartig weite Fassung des Begriffs kaum etwas einzuwenden, aber man muss sich vor Augen halten, dass es angesichts der Bedeutung, die das System Wissenschaft fiir die Ausbildung, Vermittlung und Kontrolle der sozialen und theoretischen St:mdards praktisch aller anderen Bereiche der Angewandten Ethik (Medizin, Technik, Ökologie etc.) hat, einer weitgehenden Neubestimmung- und wohl auch einer konzeptionellen Überforderung - des gesamten Paradigmas des Begriffs ,,Angewandte Ethik" gleichkäme, wenn man es von diesem Strang der philosophischen Selbstreflexion des Wissenschaftsbegriffs her verstehen wollte. Man würde dann unter anderem auch in die Diskussion über die innere Prioritätsbeziehung im Verhältnis von Wissenschaft und Technik bis hin zu Heideggers und Habermas' Kritik des naturwissenschaftlichen Erkenntnisinteresses verwickelt; vgl. dazu Schweidler 1990/91 .
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bloßes zu bekennendes Ethos der Angehörigen der wissenschaftlichen Zunft zu beschränk:en' 6 ; sie ist keine Ethik "für" oder "der Wissenschaftler", sondern sie umfasst alle normativ relevanten Fragen des Umgangs mit den Ergebnissen, Voraussetzungen und Anwendungsbedingungen dessen, wozu die wissenschaftliche Kompetenz benötigt wird und führt. So dürfte es am sinnvollsten sein, sie vom Begriff der Forschung her zu definieren: Wissenschaftsethik ist dasjenige Gebiet der Augewandten Ethik, in dem die spezifische ethische Verantwortung der Forschung thematisiert wird, und zwar sowohl unter dem Blickwinkel der Forschenden und der Forschergemeinschaften wie auch unter dem der gesamten Bedingungen, unter denen in modernen gesellschaftlichen Systemen wissenschaftliche Forschung handlungsleitende Bedeutung gewinnt. Sowohl historisch wie systematisch-begrifflich muss man den Ausgangspunkt wissenschaftsethischer Reflexion allerdings durchaus im konkreten Nachdenken von Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern über die Folgen ihres Handeins verankern. So gehört die Unterscheidung zwischen Entdeckung und Erfmdung bzw. zwischen theoretischer Forschung und praktischer Anwendung zu den Urmotiven wissenschaftsethischer Rechtfertigungsstrategien, wie man sie in den Gedanken wiederfmdet, die sich Persönlichkeiten wie Werner Reisenberg und Carl-Friedrich von Weizsäcker (1969, 266ff), aber auch Robert Oppenheirner und Edward Teller17 in Bezug auf ihre Verantwortung als Wissenschaftler für die Folgen der Atombombe gemacht haben. Neben diesem Kontext 18 bildet die ethische Auseinandersetzung mit Humanexperimenten in den vielfältigen Formen politisch induzierten Missbrauchs menschlicher Personen für die lnstrumentalisierung wissenschaftlicher Forschung die Hauptquelle, aus welcher in den Jahren nach dem Zweiten Weltkrieg Begriffund Inhalt der Wissenschaftsethik hervorgegangen sind.' 9 Als Bezeichnung eines eigenen Gebiets normativer Reflexion hat der Begriff sich erst seit den siebziger Jahren etabliert (Reagan 1971; Ströker 1984; Lenk 1991); der Sache nach kann man ihn freilich bis weit in die kasuistische Tradition der Moraltheologie zurückverfolgen. 20 Den für die Begründung wissenschaftsethischer Fragestellungen in der philosophischen Tradition ebenso wie für ihre Verankerung im öffentlichen Bewusstsein wichtigsten Schritt hat Hans Jonas 16 17 18 19 20
Vgl. kritisch dazu Spinner 1985, 56ffund Hegselmann 1991 , 215ff. V gl. dazu Lenk!Maring 1998, 289f. Vgl. auch Born 1960 und Heitler 1964. Vgl. Beecher 1958 und Lenk/Maring 1998, 29lfsowie Lenk 1992, 23lff. Als Anknüpfungspunkt vgl. etwa Korff 1979 sowie Robert Spaemann: Technische Eingriffe in die Natur als Problem der politischen Ethik (Spaemann 2001, 448-466).
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mit seinem Buch "Das Prinzip Verantwortung" (Jonas 1979) und von diesem aus zu seinen handlungsfeldbezogenen Einzelanalysen in "Technik, Medizin und Ethik" (Jonas 1985) getan. Insofern erlangt der Begriff"Wissenschaftsethik" erst vor dem Hintergrund der Neubestimmung des wissenschaftlichen Ethos in der Technologie- und Zivilisationsskepsis des späten zwanzigsten Jahrhunderts eine präzise Fassung. Zumindest idealtypisch bildet die wissenschaftlich tätige Person den originären Adressaten wissenschaftsethischer Fragestellungen und Legitimationsforderungen; ihre Handlungen sind der ursprüngliche Gegenstand ethischer Beurteilung von Wissenschaft. Diese Feststellung darf jedoch keinesfalls so verstanden werden, als wäre die Verantwortung für die relevanten Handlungen auf die sie jeweils konkret verrichtenden Personen eingeschränkt. Die Entscheidungen über Art und Umfang der Ressourcen, welche die wissenschaftliche Forschung zur Weckung und Befriedigung gesellschaftlicher Bedürfnisse beizutragen vermag und gezwungen ist, fallen wesentlich auf der Ebene der politischen und kulturellen Institutionen. Trotzdem gehört es zu den strukturellen Rationalitätsbedingungen wissenschaftsethischer Reflexion, dass die wissenschaftlich tätige Person der unrelativierbare Träger der Verantwortung für die Gewinnung und Verwendung der Forschungsergebnisse ist und bleibt. Was ihr als ethischem Verantwortungssubjekt unzurnutbar ist, kann auch durch kein gesellschaftliches oder politisches Willensbildungsverfahren legitimiert werden. So bildet indirekt das Ethos der wissenschaftlichen Forschung doch das Ursprungs- und Begrenzungsprinzip auch des sozialen Umgangs mit dem wissenschaftlichen Fortschritt. Das Strukturprinzip der Wissenschaftsethik sind somit primär die normativen Vorgaben, die eine wissenschaftlich tätige Person durch die Übernahme der mit der Erlangung ihrer Kompetenzen verbundenen Verantwortung übernimmt; die sich hieraus ergebende Handlungsorientierung kann durch Gesichtspunkte der systemischen Eingebundenheit der Wissenschaft in die gesellschaftlichen Institutionen und deren Entwicklung nicht ersetzt werden. Das Gewissen des Forschers bleibt das Maß dessen, was ihm von der Gesellschaft, auch wenn er dieser seine Ausbildung und die Konkretisierungsbedingungen seiner Forschung verdankt, zuzumuten ist. 21 Auch der Anspruch von Patienten, Leidenden oder wie auch immer bedürftigen Menschen auf "Selbstbestimmung" fmdet an der Autonomie der wissenschaftlich tätigen Person, an die dieser Anspruch sich direkt oder indirekt 21
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Vgl. dazu Lenk 1992, 53- 75.
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richten sollte, seine Grenze. So kann insbesondere die Arbeit oder Mitwirkung an Techniken, die der Selektion, der Instrumentalisierung und der Tötung unschuldigen menschlichen Lebens dienen, durch keine therapeutischen oder anderweitig am Gesichtspunkt der Lebensqualität ausgerichteten Zwecke gerechtfertigt werden. Bereits auf der begrifflichen Ebene fmden hier entscheidende Weichenstellungen statt, die das individuelle Gewissen der wissenschaftlich handelnden Person involvieren: Ob ein bestimmter Handlungstypus zu Recht ,,Diagnose" genannt wird ("Präirnplantationsdiagnostik"), hängt auch von dem soziokulturellen Umfeld ab, innerhalb dessen er - insbesondere in Verbindung mit der Abtreibungspraxis - faktisch Bestandteil einer Selektionspraxis sein kann, bei der die Diagnose etwa von Erbkrankheiten einem Todesurteil über das kranke menschliche Wesen gleichkommt. Entsprechendes gilt für den gesamten Komplex der Sterbehilfe; eine wissenschaftlich tätige Person, die die Beteiligung an der Entwicklung oder Anwendung von Techniken verweigert, die der aktiven Sterbehilfe dienen, "zwingt" in keiner Weise leidende oder sterbewillige Menschen zum "Weiterleben", da die Verantwortung für fremdes Leid an der Grenze des Tötungs- und Instrumentalisierungsverbotes gegenüber menschlichem Leben endet. Gerade die Betonung des Gewissens als letzter Instanz der wissenschaftlichen Verantwortung begrenzt nicht nur mögliche Ansprüche des soziokulturellen Umfeldes an die wissenschaftlich tätigen Personen, sondern auch umgekehrt den Umfang, in dem diese aufgrund der Ergebnisse ihrer Forschung legitimer Weise Orientierungs- und Gestaltungsmacht gegenüber den Lebensformen ihrer Mitmenschen beanspruchen können. Es gibt kein "Sondergewissen" des Wissenschaftlers, aufgrund dessen ihm anderes erlaubt oder geboten wäre als jedem Menschen. Wie das jeder anderen, so kann auch das Gewissen der wissenschaftlich tätigen Person irren, und die Maßstäbe von Wahrheit und Irrtum im Spruch des Gewissens können sich nur aus den allgemeinen Normen ergeben, die dem Menschen in Form seines Gewissens "in die Brust geschrieben" sind. 22 Hingegen trifft eben aufgrund der allgemeinen Grenzziehungen des Gewissens den Forscher spezifische Verantwortung dort, wo ihm die durch seine Erkenntnismöglichkeiten eröffnete Kompetenz Einsichten und Eingriffe in das Leben anderer Menschen verfiigbar macht. Hier kommt der Besinnung auf den unaufhebbar praktischen Horizontjeglichen theoretisch verfiigbaren Wissens entscheidende Bedeutung zu. Es gibt ein Recht der Person auf Nicht22
Vgl. grundsätzlich dazu Schockenhoff 2003.
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wissen, sofern mögliches diagnostisches oder anderweitig theoretisches Wissen über ihre leibliche Konstitution ohne konkreten Bezug auf ihr konkret nützende Heilungs- oder Hilfshandlungen gewonnen werden kann oder gewonnen worden ist; die Verantwortung fiir die Wahrung dieses Rechts auf Nichtwissen gegenüber jedem gesellschaftlichen Zugriff auf die durch seine Forschung verfiigbar gemachte Information liegt in jedem Fall wesentlich beim Forscher. Die Verbesserung der Lebensqualität oder sogar der leiblichen oder seelischen Konstitution "der Menschheit" ist keine positive ethische Vorgabe an die Wissenschaft, sondern kann sich allenfalls als in die Forschung zurückwirkender abstrakter Reflex konkret hilfsund heilungsbezogener Anwendungen ihrer Erkenntnisse ergeben. Die dafiir einschlägigen Fragen gehören als Probleme der negativen Begrenzung ethischer Verantwortung in die Bereiche der medizinischen und der Bioethik, nicht in den der Wissenschaftsethik. So verlangt die Konkretisierung des wissenschaftlichen Ethos im Umgang mit den gesellschaftlichen und kulturellen Folgen der Forschung eine wesentlich wechselbezogene Reflexionsleistung, aus deren Rekonstruktionsbedingungen die konkret fiir ihre Forschungen verantwortliche Person niemals hinweggedacht werden kann: Was ihm ethisch erlaubt und verboten ist, muss der Wissenschaftler aus der universalen Perspektive beurteilen, die ihm durch das ihn wie jede andere Vernunftperson verpflichtende Gewissen gegeben ist, aber er - wie jeder andere ethisch urteilsfähige Adressat oder Interessent seiner Forschung- muss eben aus dieser Perspektive die spezifische Kompetenz und Verantwortung ermessen, die dem Forscher durch das von ihm verwaltete und verantwortete Berufsfeld zukommt. Insofern - also was ihren idealtypischen Reflexionsgang, nicht was den Kreis ihrer realen Verpflichtungswirkung angeht- ist die Wissenschaftsethik wesentlich die Ethik des wissenschaftlichen Berufes. Für ein Festhalten an dieser eher berufsorientierten Anlage der Wissenschaftsethik sprechen Gesichtspunkte der Motivation (z. B. kann fiir die Frage, ob eine der medizinischen Wissenschaft mögliche technologische Entwicklung ethisch akzeptabel sei, die Entscheidungsrelevanz des ärztlichen Ethos als Sinnvorgabe der Medizin durch keine anderweitigen Erwägungen ersetzt werden), der Zurechnung (die mit der Komplexität der kollektiven Prozesse der wissenschaftlichen Forschung einhergehende "Trennung von Handlungs- und Verantwortungssubjekt" (Zimmerli 1987, 107Y3 macht das in23
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Vgl. dazu auch Nida-Rümelin 1996a, insbes. 799 zur Asymmetrie zwischen Ethos der epistemischen Rationalität und der Verantwortung für die Folgen des Fortschritts.
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dividuelle Ethos des Forschers zu einer unersetzlichen Konkretisierungsinstanz der ethischen Beurteilung wissenschaftlichen Handeins) und der Vermittlung (weder rechtliche noch gesellschaftliche Kontrolle allein, sondern wesentlich die überzeugende Vermittlung ethischer Maßstäbe im Zuge der Ausbildung beruflicher Entscheidungsträger wird konkrete ethische Verantwortung im Wissenschaftssystem verankern). Daher ist es sinnvoll, die Grundstruktur wissenschaftsethischer Reflexion zweistufig anzuordnen: Zunächst als Rekonstruktion des durch die Natur der wissenschaftlichen Forschung konstituierten Ethos der wissenschaftlich tätigen Person, sodann als Herausarbeitung der ethischen Verantwortung, die sich durch die Bedeutung der wissenschaftlichen Forschung für die von ihr getragenen oder beeinflussten gesellschaftlichen Zusammenhänge ergibt.
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Wissenschaftsethos und Forschungsverantwortung
Das Wissenschaftsethos ergibt sich aus der Natur des wissenschaftlichen Denkensund Handeins als der methodischen Suche nach allgemein verbindlicher, allgemein überprüfbarer und daher notwendigerweise auch allgemein zugänglicher Wahrheit. 24 Insofern wissenschaftliche von nichtwissenschaftliehen Aussagen letztlich nicht auf der inhaltlichen Ebene, sondern nur in Bezug auf die Maßstäbe ihrer Überprüfung abgegrenzt werden können (Hempel 1972; Stegmüller 1969 1; Wandschneider 1975)/5 kommt diesem auf Wahrheit gerichteten Ethos bis hin zu den durch es implizierten Forschertugenden (vgl. Charpa 2001, Kapitel 2; Köchy 2003, 166ft) fundamentale Bedeutung nicht etwa nur für die praktische Anwendung, sondern geradezu gleichursprünglich auch für die theoretische Fundierung gelingender Forschung zu. Zu den Hauptinhalten des Wissenschaftsethos gehören die Konsequenzen aus der Einsicht in den prinzipiell hypothetischen Charakter empirischer Theorien, also die vorbehaltlose Prüfung gewonnener Ergebnisse und ihrer methodischen Verallgemeinerung sowie die Sicherung ihrer intersubjektiven Nachprütbarkeit und me24 25
Zur Abschwächung der Wahrheitsverpflichtung zum ,,Prinzip des Gemeinbesitzes wissenschaftlichen Wissens" vgl. Nida-Rümelin 1996a, 781 ff. Aus wissenschaftssoziologischer Sicht siehe Merton 1972. Vgl. ferner Mittelstraß 1982 und Mittelstraß 1992. Zum Kreuzungspunkt von Grenz- und Wertaspekt der wissenschaftlichen Erklärung Rescher 1985, insbesondere Kapitel Vlli.
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thodischen wie sprachlichen Nachvollziehbarkeit,Z6 der Respekt vor geistigem Eigentum, also die Trennung zwischen eigenem und fremdem Gedankengut sowie die kritische und ideologiefreie Stellungnahme zu vorliegenden Forschungsergebnissen, aber auch das Verständnis für die Pluralität methodischer Standards und die zumindest in der heuristischen Dimension der Wissenschaft gegebene Notwendigkeit, mit konkurrierenden Auffassungen tolerant und selbstkritisch umzugehen. Dieses wissenschaftsintern konstituierte Ethos wird ergänzt durch die Elemente spezifischer Verantwortung, die der forschenden Person im Umgang mit den unmittelbar von ihrer Forschung betroffenen Menschen erwachsen. Als Form der Angewandten Ethik fmdet die Wissenschaftsethik in dieser Hinsicht ihre Ergebnisse primär vermöge der ethischen Beurteilung konkreter Konflikt- und Störungslagen, in welche der direkte Umgang der Forschenden mit ihren Methoden und Ergebnissen hineinführt. Dazu gehören im naturwissenschaftlich-medizinischen Bereich insbesondere die Probleme der Rechtfertigung für den zu Forschungszwecken dienenden Eingriff in die leibliche und seelische Integrität von Personen. Vor allem jede Art der "fremdnützigen", also nicht ausschließlich der Heilung des von ihr betroffenen Kranken dienenden Forschung sowie der Umgang mit Einwilligungsunfähigen fordern höchste ethische Sensibilität der wissenschaftlich tätigen Person, die dafür immer die Letztverantwortung trägt. Fürall diese Forschungsbereiche gilt im Prinzip das für die Beurteilung von Humanexperimenten ausschlaggebende Instrurnentalisierungsverbot (vgl. Lenk 1992, 231-248): Die Forschung an menschlichen Personen darf diese in keinem Fall zum bloßen Mittel für Zwecke anderer machen, das heißt, sie ist ungeachtet aller positiven oder erhofften Folgen nur insoweit zulässig als sie zum Nutzen des unmittelbar Betroffenen auch ohne diese zusätzlichen Folgegesichtspunkte für andere Personen begründet wäre. In der sozialwissenschaftliehen Forschung erwächst aus dem Instrurnentalisierungsverbot das Gebot des Respekts vor der Privatsphäre befragter Personen, ihrer Information über die Reichweite und mögliche Folgen der Forschungsergebnisse sowie des Schutzes gewonnener Daten vor Missbrauch und vor ihrer Verwendung zum Nachteil der Betroffenen. Über das Instrumentalisierungsverbot gegenüber menschlichen Personen hinaus haben die aus ihrer eigenen Natur gebotenen normativen Maßstäbe der Einstellung des Wissenschaftlers gegenüber seiner For26
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Zum Verhältnis von wissenschaftlicher Vernunft und Öffentlichkeit siehe Kant 1983a, B 766ff, B 78lff.
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schung intrinsische Konsequenzen in Bezug auf die Verantwortung fiir die allgemeinen Auswirkungen, die aus der wissenschaftlichen Forschung fiir Natur, Kultur und Gesellschaft entstehen; zu den ethischen Legitimationsbedingungen der Forschung gehört eine Reflexionsebene, auf der individuelles Ethos im Umgang mit eigenem wissenschaftlichen Handeln allein prinzipiell nicht genügt, sondern zu der die Urteilsbildung über langfristige, interdependente und politisch relevante Folgezusammenhänge gehört, aufgrund derer die eigene wissenschaftliche Erkenntnis auch und gerade in ihrer intersubjektiven Bedeutung das Leben von Menschen und damit auch die von ihnen abhängige Umwelt prägen und verändern wird. Hans Jonas (1979) und Robert Spaemann (1989 und 2001) haben das aus dieser Einsicht hervorgehende Prinzip des verantwortungsethischen Umgangs mit den Möglichkeiten der Wissenschaft formuliert, dass die Verantwortung des Wissenschaftlers fiir die Wirkungen der eigenen Forschung auch die Verpflichtung ihr gegenüber begrenzt, dass also die Verpflichtung auf das Ethos grundsätzlich uneingeschränkter Suche nach Wahrheit eine sie noch einmal sinngebend balancierende Dimension im Respekt vor dem findet, worüber die Wahrheit zu sagen ist, das heißt vor der Wirklichkeit. Wo es, wie beim menschlichen, aber auch beim tierischen Leben, zur Wirklichkeit von Seiendem gehört, von Natur aus auf etwas aus zu sein, dort ist der Gesichtspunkt seiner fortschreitenden und möglicherweise vollständigen Verfiigbarmachung fiir wissenschaftliche Erkenntnis nur bis zu der Grenze legitim, bis zu der sich der Eingriff in seine Natur überhaupt ethisch rechtfertigen lässt. Es ist dieser Gesichtspunkt, der sich am Normalfall der Entwicklung des Individuums einer Art zeigenden Natur, durch den menschliches und damit auch wissenschaftliches Handeln gegenüber Lebewesen und insbesondere gegenüber höheren Tieren ethisch beurteilbar wird und auch bewertet werden muss. Es wäre irrefiihrend, von einer Würde "des Tieres" zu sprechen, aber es gibt würdeloses, entwürdigendes Verhalten von Menschen gegenüber Tieren. Wo in die Natur tierischen Lebens, in seine Daseinsbedingungen und seine elementaren Bestrebungen ohne adäquate Rechtfertigungsgründe eingegriffen wird und insbesondere dann, wenn das Tier wie ein technisches Produkt, als Konsumgut, Reproduktionsmaschine und Warenlieferant behandelt wird, verstößt der entsprechend handelnde Mensch gegen die vernünftigen Legitimationsbedingungen seines Tuns, die ihm gegenüber der gesamten Wirklichkeit in ihrem pluralen Schichtungsgefüge aufgegeben sind (Nida-Rümelin 1996b und 1996c). Er kann sich zwar nur vor anderen vernünftigen Wesen ethisch rechtfertigen,
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aber keineswegs nur fiir das, was er diesen gegenüber tut; das heißt, der Verantwortungskreis fiir sein Tun ist weitaus größer als der Kreis der Instanzen, die ihm gegenüber diese Verantwortung einklagen können- was ja seine Verantwortlichkeit gegenüber den nicht zu diesem Kreis gehörenden Wesen gerade noch einmal erhöht. Dies hat wissenschaftsethische Bedeutung insbesondere fiir die Frage des Tierversuchs. Kein Tier darf sinnlos getötet und keinem Tier dürfen sinnlos Schmerzen zugefiigt werden- nicht weil Tod oder Schmerz an sich schlecht oder böse wären und auch nicht, weil Wohlergehen und Schmerzvermeidung etwas an sich Wertvolles wären/ 7 sondern weil es je evidenter zur Natur desto höher entwickelter Tiere gehört, Wohlergehen zu erstreben und Schmerzzufiigung zu vermeiden. Diesen natürlichen Verhaltensweisen darf der Mensch legitimerweise nur entgegenwirken, wenn es fiir die Erfiillung seiner eigenen Verpflichtungen gegenüber seinen Mitmenschen notwendig und geboten und gegenüber den dabei geopferten Schutzgütern der Tiere verhältnismäßig ist. Der Tierversuch begründet sich unter diesen Voraussetzungen aus der besonderen Verantwortung des Forschers fiir legitime Zwecke, insbesondere der Heilung und der Sicherung der Lebensgrundlagen von Menschen. Bei der Abwägung dieser Zwecke gegen die Opfer, die den fiir die Forschung verwendeten Tieren abverlangt werden, zählen Gesichtspunkte der Selbstbestimmung, der Erhöhung der menschlichen Lebensqualität und der gesellschaftlich geltenden Standards in ganz anderer Weise, als wenn die Schutzgüter von Menschen auf dem Spiel stünden; dennoch aber bleibt das Gewissen des Forschers auch hier letzter Maßstab des Zumutbaren. Forschungszwecke, die der Kosmetik dienen, sind anders zu gewichten als therapeutische. Die wesentlichen Aspekte ergeben sich auch hier aus den allgemeinen Forderungen an das menschliche Gewissen, nicht aus einer wissenschaftlichen Sonderethik: Wer an Tieren forscht, hat die Pflicht, sich über den Zweck seines Tuns genau zu informieren, die Gesichtspunkte des Tierschutzes ernsthaft zu erwägen, sich sein Gewissensurteil zu bilden und die dabei hervortretenden Gesichtspunkte nicht durch Gewinnstreben, Gleichgültigkeit oder Furcht vor nachteiligen Folgen korrumpieren zu lassen- Forderungen, die im Kernjedes Handeln auch auf der Ebene der wissenschaftlichen Forschung leiten müssen und die wichtiger sind als eine noch so weit entwickelte Folgenabschätzung. 27
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Zur kritischen Diskussion des "Sentientismus" in verschiedenen Varianten der Tierethik vgl. Nida-Rümelin 2002, 275-302.
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Wissenschaftliches Fehlverhalten
Auf Wahrheit ist der Forschende nicht nur theoretisch, sondern auch in Form der Wahrhaftigkeit gegenüber den öffentlichen und privaten Institutionen verpflichtet, die er zur Erlangung seiner Forschungsressourcen benötigt, ferner in Form der Fairness gegenüber den auf seinem Gebiet tätigen Kollegen und Konkurrenten (vgl. Merton 1985b). "Wissenschaftliches Fehlverhalten", insbesondere Unredlichkeit im Umgang mit Forschungsergebnissen, Quellenangaben und Finanzierungsressourcen (vgl. DiTroccio 1994) ist zu einem intensiv bearbeiteten Handlungsfeld akademischer wie öffentlicher Wissenschaftskontrolle geworden und hat die Erarbeitung und Standardisierung umfangreicher Verhaltensrichtlinien notwendig gemaches Die Erfindung und Fälschung von Forschungsergebnissen, die irreführende Darstellung mit dem Ziel der Erlangung sachlich nicht begründeter fmanzieller Förderung, die Nichterwähnung früherer Forschungsbeiträge bis hin zum Plagiat und die irreführende Information der Öffentlichkeit über das wissenschaftlich Erreichte sind Handlungsweisen, die dem ethischen Identitätsprofil wissenschaftlichen Tuns unmittelbar entgegengesetzt sind. Der Natur der Sache nach kann die Sicherung vor solchem Fehlverhalten nur in einem Prozess der Selbstkontrolle erfolgen. 29 Dieser Prozess kann nur an die vorhandenen Qualifikations- und Bewertungsmechanismen anknüpfen, die durch das zum wissenschaftlichen Beruf gehörige System der Ausbildung und der Publikation gegeben sind. Spezielle Verantwortung triffi: in dieser Hinsicht somit diejenigen, die fiir Forschungseinrichtungen und Publikationsorgane leitend tätig sind. Maßstäbe ihrer Verantwortung aber können nur wiederum diejenigen Kriterien sein, die an das Handeln jeder wissenschaftlich tätigen Person anzulegen sind und die sich aus dem originären Ethos der Forschung ergeben. Zu diesen Kriterien gehören schon auf der Ebene des individuellen Forschers die sorgfaltige Erarbeitung von Forschungsergebnissen nach den Regeln des Faches, ihre nachprüfbare Dokumentation, die korrekte Zusammenarbeit mit Kollegen und Mitarbeitern, die Sicherung von Primärdaten, die Offenlegung des Weges, der zu den Ergebnissen geführt hat, methodische Reflexionsfahigkeit und ein Bewusstsein fiir die Rechenschaftspflicht gegenü28
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V gl. etwa die Richtlinien zu "professional ethics" der AAAS (American Association of Advanced Science), des IIT (IIlinois Institute ofTechnology) sowie die Empfehlungen der DFG (Deutschen Forschungsgemeinschaft) zur "Selbstkontrolle in der Wissenschaft". Zur rechtlichen Beurteilung siehe Heldrieb 1987 und ferner Kohn 1986. V gl. die Empfehlungen der Kommission "Selbstkontrolle der Wissenschaft" der Deutschen Forschungsgemeinschaft von 1998.
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ber der Öffentlichkeit. Forschungseinrichtungen tragen die Verantwortung für eine angemessene Organisation des Forschungsbetriebes in überschaubaren Dimensionen, die Sicherung unbedingter Qualitätsmaßstäbe für die Ausbildung des wissenschaftlichen Nachwuchses, die Etablierung von Instanzen der Vertrauenssicherung in Konfliktfällen sowie der unbedingte Vorrang von Gesichtspunkten der Qualität und Originalität von Forschungsbeiträgen gegenüber allen quantitativen Maßstäben. Auf der den einzelnen Forschungseimichtungen noch einmal übergeordneten Ebene geht es um die Sicherung hochwertiger Standards des wissenschaftlichen Wettbewerbs und der Qualitätskontrolle, die Etablierung von Regeln der Untersuchung möglicher Fälle des wissenschaftlichen Fehlverhaltens, der Anhörung der Betroffenen und eines präzisen, rechtlich begründeten Systems von Sanktionen. Wissenschaftliche Publikationsorgane legitimieren sich durch ein nachvollziehbar geregeltes System der Beurteilung eingesandter Beiträge und die Qualität und Neutralität der für die Entscheidung über die Auswahl der Publikationen zuständigen Gutachter. Erwogen wird die Etablierung eines Ombudsmanns oder Gremiums, das wissenschaftlich tätigen Personen in Fragen der wissenschaftlichen Umedlichkeit und der Auseinandersetzung mit ihr zur Seite stehen. Auch auf diesem Gebiet wird freilich das Entscheidende in der Person zu suchen sein, die sich im Zugang zum wissenschaftlichen Berufund in der Weitergabe der zu ihm gehörenden Maßstäbe zu bewähren hat. Kein Kontrollsystem kann wirksamer sein als der unbedingte Wille der wissenschaftlich Verantwortlichen, im Umgang miteinander und vor allem mit denen, denen sie das Rüstzeug des Faches weiterzugeben haben, Qualität und Unabhängigkeit der Forschung zum letzten Maß der Berechtigung zu machen, an ihr mitzuwirken. Die wissenschaftlichen "Seilschaften", die immerwährende Versuchung, sachliche und persönliche Elemente der Wissenschaft zu vermischen, sind die innerstenQuellen von Korruption in der Wissenschaft. Ebenso verhängnisvoll sind freilich die Mechanismen einer auf Schau und kurzsichtigen "Verkauf' gerichteten Atmosphäre, in welcher die Aussichten und die gesellschaftliche Bedeutung möglicher Forschung zunehmend dargestellt werden müssen. Die Substanz des wissenschaftlichen Ethos wird nur zu sichern sein, wenn die dafür Verantwortlichen sich immer wieder darauf besinnen, dass sie nicht die Bediener eines sozial erwünschten Kompetenzund Leistungsangebots sind, sondern die Sachwalter des von ihnen weiterzugebenden und neu zu begründenden Anspruchs des Menschen auf wahre Erkenntnis, vor dem sich auch Kultur und Gesellschaft ihrer Zeit zu legitimieren haben.
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Wissenschaftsethik
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Einführung in die Angewandte Ethik
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Systematische Bibliografie
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Wirtschaftsethik (lngo Pies I Markus Sardison) Enderle, G. et al. (Hg.) (1993): Lexikon der Wirtschaftsethik. Herder, Freiburg im Breisgau et al. Homann, K./ Blome-Drees, F. (1992): Wirtschafts- und Unternehmensethik. Vandenhoeck & Ruprecht, Göttingen. Korff, W. et al. (1999): Handbuch der Wirtschaftsethik. Bde. 1-4, hrsg. im Auftrag der Görres-Gesellschaft, Gütersloher Verlagshaus, Gütersloh.
Wissenschaftsethik (Walter Schweidler) Lenk, H. (Hg.) (1991): Wissenschaft und Ethik. Reclam, Stuttgart. Ott, K. (1997): IPSO FACTO- Zur ethischen Begründung normativer Implikate wissenschaftlicher Praxis. Suhrkamp, Frankfurt am Main. Zehetmair, H. (Hg.) (1997): Wissens-Werte - Ethik und Wissenschaft - Eine Wahlverwandtschaft im Widerspruch. R. S. Schulz, Starnberg.
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Autorenverzeichnis Albrecht, Reyk, Dip/. Betriebswirt; geb. 1975, Mitarbeiter am Lehrstuhl fiir Augewandte Ethik an der Friedrich-Schiller-Universität (FSU) in Jena. Dicke, Klaus, Prof Dr.; geb. 1953, Rektor der FSU Jena, Inhaber des Lehrstuhls fiir Politische Theorie und Ideengeschichte, geschäftsfUhrender Herausgeber der Zeitschrift fiir Politikwissenschaft. Gröschner, Rolf, Prof Dr.; geb. 1947, Inhaber des Lehrstuhls für Öffentliches Recht und Rechtsphilosophie an der FSU Jena. Knoepjjler, Nikolaus, Prof Dr. mult.; geb. 1962, Lehrstuhlinhaber fiir Angewandte Ethik an der FSU Jena und Leiter des dortigen Ethikzentrurns. Kunzmann, Peter, Prof Dr. ; geb. 1966, außerplanmäßiger Professor fiir Philosophie an der Universität in Würzburg, wissenschaftlicher Mitarbeiter und Dozent am Lehrstuhl für Augewandte Ethik der FSU Jena. Leiner, Martin, Prof Dr.; geb. 1960, Professur für Systematische Theologie mit Schwerpunkt Ethik an der FSU Jena. Lembcke, Oliver, Dr. ; geb. 1969, wissenschaftlicher Mitarbeiter am Lehrstuhl für Öffentliches Recht und Rechtsphilosophie und Lehrbeauftragter am Institut für Politikwissenschaft an der FSU Jena. Pies, Ingo, Prof Dr.; geb. 1964, Inhaber des Stiftungslehrstuhls fiir Wirtschaftsethik an der Martin-Luther-Universität in Ralle-Wirtenberg und Leiter des Wirtenberg-Zentrums fiir Globale Ethik. Sardison, Markus, Dip/. Kfm.; geb. 1976, Doktorand am Lehrstuhl fiir Wirtschaftsethik an der Martin-Luther-Universität in Ralle-Wirtenberg und am Wirtenberg-Zentrum für Globale Ethik. Schweidler, Walter, Prof Dr.; geb. 1957, Professor am Lehrstuhl fiir Philosophie unter besonderer Berücksichtigung der Praktischen Philosophie an der Ruhr-Universität in Bochum.
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Einführung in die Angewandte Ethik
Siegetsleitner, Anne, Dr.; geb. 1968, wissenschaftliche Mitarbeiterin und Dozentin am Lehrstuhl für Allgewandte Ethik an der FSU Jena. Sorgner, Stefan Lorenz, M A.; geb. 1973, Mitarbeiter am Lehrstuhl für Angewandte Ethik an der FSU Jena. Weber, Florian, M A.; geb. 1978, wissenschaftlicher Mitarbeiter am Lehrstuhl für politische Theorie und Ideengeschichte an der FSU Jena. Zude, Heiko Ulrich, Dr.; geb. 1967, wissenschaftlicher Mitarbeiter am Lehrstuhl für Allgewandte Ethik an der FSU Jena.
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