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German Pages 362 Year 2015
Kirsten Staudt Strategien des Gehörtwerdens
Edition Kulturwissenschaft | Band 69
2015-06-10 11-15-47 --- Projekt: transcript.titeleien / Dokument: FAX ID 0362400327150446|(S.
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4) TIT3075.p 400327150454
Kirsten Staudt beschäftigt sich seit vielen Jahren mit Erinnerungskultur und Geschichtspolitik und hat dazu an der Universität des Saarlandes promoviert. Nach längeren Auslandsaufenthalten, u.a. in Frankreich und Indien, lebt sie derzeit in Moskau.
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Kirsten Staudt
Strategien des Gehörtwerdens Der Völkermord an den Armeniern als Politikum: ein deutsch-französischer Vergleich
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Inhaltsverzeichnis
Vorwort | 7 1 Einleitung | 11
1.1 Hinführung zum Thema | 11 1.2 Fragestellung der Arbeit | 16 1.3 Forschungsstand | 19 1.4 Methodisches Vorgehen | 24 1.5 Aufbau der Arbeit | 35 2 Gruppeneinfluss und Geschichtspolitik | 37
2.1 Zum Verhältnis von Geschichtspolitik und kollektivem Gedächtnis | 37 2.2 Gruppengedächtnisse offizialisieren – ›Erinnerungslobbying‹? | 48 2.3 Was bedingt die Durchsetzung? – Einflussfaktoren des geschichtspolitischen Felds | 68 3 ›Erinnerungsgemeinschaften‹ in den internationalen Beziehungen | 87
3.1 Geschichte als Faktor in den internationalen Beziehungen | 87 3.2 »Erinnerungsgemeinschaften« als internationale Akteure | 99 3.3 Zusammenfassung und Bedeutung für die Untersuchung | 107 4 Armenische Forderungen zur Anerkennung des Völkermords | 109
4.1 Geschichtliche, politische und kulturelle Relevanz des Genozids | 109 4.2 Armenische Gemeinschaften in Deutschland und Frankreich | 130 5 Die Integration des ›armenischen Gedächtnisses‹ | 185
5.1 Frankreich: Rezeption in Öffentlichkeit und Politik | 185 5.2 Deutschland: Rezeption in Öffentlichkeit und Politik | 234
6 Funktionale Analyse geschichtspolitischen Engagements | 265
6.1 Gehör finden – Geschichtspolitischer Durchsetzungsprozesse | 265 6.2 Rezeptionsfaktoren des ›Erinnerungslobbyings‹ | 269 6.3 Umkämpfte Geschichte – Erläuterung anhand des Feldmodells | 274 6.4 Fazit: Macht im geschichtspolitischen Feld | 278 7 Ausblick: Geschichte als politische Herausforderung | 283
7.1 Staatliches Interesse an ›Erinnerungsgemeinschaften‹ | 283 7.2 Symbolisches und kulturelles Kapital von Erinnerungsgemeinschaften | 287 7.3 Geschichtspolitik und Außenwirkung | 294 7.4 Ideen für eine bessere Vereinbarkeit von Identitäts- und Außenpolitik | 305 8 Schlussbetrachtung | 311
8.1 Zusammenführung der Ergebnisse | 311 8.2 Epilog | 313 9 Literaturverzeichnis | 317
9.1 Primärquellen | 317 9.2 Sekundärliteratur | 330 9.3 Interviews | 353 10 Abbildungsverzeichnis | 355 Danksagung | 357
Vorwort
Jede wissenschaftliche Untersuchung kann auf die eine oder andere Art einen Bezug zur Aktualität herstellen – daraus zieht sie ihre Relevanz. Je offensichtlicher dieser Bezug ist, umso spannender mag die Fragestellung scheinen – in den meisten Fällen wird sie dadurch allerdings auch sensibler. Michel Marian pfiff in einem Pariser Bistrot leise durch die Zähne, als ich ihm mein Konzept erklärte: Geschichtspolitische Entscheidungen als Ergebnis von Interessenvertretung darzustellen und mithilfe von Bourdieus Feldtheorie zu erläutern. Es könne in der Tat ein gewisses Risiko darin liegen, einen »regard froid« auf ein »sujet chaud« zu werfen, bemerkte Marian. Dem ist wohl schwer zu widersprechen. Die Notwendigkeit »des Verblassens von Leid und Betroffenheit«1 für die wissenschaftliche Objektivität versetzt den Forscher, dessen Thematik sich um einen Genozid dreht, in eine »uncomfortable position, to say the least«2. Um in einer solchen Situation Missverständnissen vorzubeugen, stellte Jean-Michel Chaumont seinem 1997 erschienen und regelmäßig zitierten Werk Die Konkurrenz der Opfer ein seitenlanges Vorwort voran. Denn er wusste: Indem er die Funktion der Singularitätsthese des Holocausts bei der Abgrenzung der Juden von anderen Opfergruppen beschrieb, sah er sich dem Verdacht der Relativierung der Shoah oder der Missachtung der jüdischen Opfer ausgesetzt. Nichts davon war sein Ziel. Indes wollte der Belgier Chaumont unterstreichen, dass das Opfergedenken auch eine Form der Positionierung ist, die mit bestimmten diskursiven Strukturen arbeitet.3
1
Assmann, Aleida: Erinnerungsräume. Formen und Wandlungen des kulturellen Gedächtnisses, München: C. H. Beck 1999, S. 14.
2
Semelin, Jacques: Purify and Destroy. The Political Uses of Massacre and Genocide, London: Hurst & Company 2007, S. 362.
3
Chaumont, Jean-Michel: Introduction in: ders.: La concurrence des victimes. Génocide, identité, reconnaissance, Paris: Éditions La Découverte 1997, S. 9-21.
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Diesen Strukturen fällt auch in der folgenden Arbeit eine wichtige Rolle zu. Sie sind aber nur ein Teil einer Analyse, die die geschichtspolitische Betätigung zweier Länder – Frankreich und Deutschland – zu einem bestimmten Thema – dem Völkermord an den Armeniern – zum Objekt hat. Das Thema ist in den internationalen Beziehungen von Bedeutung, weil es ein besonders markantes Beispiel dafür ist, dass Uneinigkeit über geschichtliche Abläufe immer häufiger zum Konfliktstoff zwischen Staaten wird. Weltweit setzen Armenier bzw. Menschen armenischer Abstammung sich dafür ein, dass Staaten die Deportationen von und Massaker an Armeniern im Osmanischen Reich 1915 mit bis zu eineinhalb Millionen Toten als Genozid anerkennen. Die vorliegende Arbeit beschäftigt sich mit der Frage, wie und warum diese und andere Forderungen von der Politik aufgegriffen werden, sprich: unter welchen Bedingungen geschichtspolitische Interessenvertretung Aussicht auf Erfolg hat. In diesem Kontext von »Lobbying« zu sprechen, mag delikat erscheinen; nüchtern betrachtet ist es stating the obvious. Denn die scharfe Trennung von Advocacy und Lobbying, auf der auch eine Gesprächspartnerin im Interview beharrte, ist aus politikwissenschaftlicher Sicht nicht aufrecht zu erhalten: Bei strittigen Themen werden Fürsprecher und Gegner sich immer gegenseitig des Lobbyings, der Interessenvertretung, beschuldigen und für sich selbst den Status eines Advocates, des Vertreters eines Rechtes, in Anspruch nehmen. Viel wichtiger scheint mir daher, dem Begriff des »Lobbyings« seinen anrüchigen Nimbus zu nehmen, weshalb ich im theoretischen Teil der Arbeit ausgiebig auf den diesbezüglichen Forschungsstand eingehe. Letztendlich gilt es, zu zeigen: das so genannte lobbying mémoriel oder Erinnerungslobbying existiert, es ist aber weder so illegitim noch so eindimensional, wie seine Verwendung in den Medien oder gar der Fachliteratur gelegentlich suggeriert. Gleichwohl kann man seine Zielrichtung und Wirkungsweise kritisch hinterfragen und zur Debatte stellen: Was wird bezweckt, was wird erreicht? Die historische Frage, ob es sich bei dem, was den Armeniern 1915 zugestoßen ist, um einen Völkermord handelt, ist nicht Gegenstand meiner Arbeit. Wie an meiner Begriffswahl zu sehen, gehe ich davon in Übereinstimmung mit dem Großteil historischer Forschung aus. Persönlich halte ich jedoch eine Fixierung auf diese Frage nicht für zielführend, sowohl wegen der konzeptuellen Schwächen des Begriffs als auch wegen seines politischen Instrumentalisierungspotentials.4 Dass die Türkei den Bestrebungen der Armenier mit zahlreichen Interven-
4
Vgl. hierzu Kapitel 4.1.1.3.
V ORWORT
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tionen begegnet und dabei an vielen Stellen weitaus massiver auf ihre Position aufmerksam macht als diese,5 ist mir ebenfalls bewusst. Stand der vorliegenden Untersuchung ist April 2014, als sie von der Universität des Saarlandes als Dissertation angenommen wurde. Ein Jahr später, im April 2015, haben die Geschehnisse von 1915 anlässlich ihres hundertsten Jahrestags Medien und Politik in Deutschland erneut ─ und über das bisherige Maß hinaus ─ beschäftigt. Nach ausführlichen öffentlichen Diskussionen haben alle Bundestagsfraktionen sie als Völkermord bezeichnet. Diese jüngsten Entwicklungen konnten für die Publikation nicht mehr integriert werden. Sie zeigen, wie stark evolutiv Geschichtspolitik ist und wie spannend das Thema bleibt. Indes schmälern sie nicht den Aussagegehalt dieser Studie. Diese verfolgt über die Darstellung der Motivation und Aktivitäten der Armenier und deren politischer Rezeption hinaus eine übergeordnete Fragestellung: Was kann aus diesem Fall für die Rolle von Geschichte im nationalen und internationalen Kontext abgeleitet werden ─ und welchen Mechanismen ist sie unterworfen? Einige formale Hinweise zum Schluss: Die Begriffe »Armenier« und »armenischstämmige Personen / Menschen / Bürger« etc. werden im Folgenden gleichbedeutend verwendet; wo sich »Armenier« lediglich auf die Staatsbürger Armeniens bezieht, ist dies kenntlich gemacht. Zur besseren Lesbarkeit ist zudem in diesem Buch mit der Nennung der männlichen Funktionsbezeichnung, sofern nicht anders gekennzeichnet, immer auch die weibliche Form mitgemeint. Zuletzt das eigentlich Selbstverständliche: Meinen Gesprächspartnern verdanke ich viele Einblicke und Anregungen; nichtsdestoweniger sind alle Folgerungen und etwaige Wertungen, inklusive ihrer möglichen Defizite, rein meine persönlichen.
5
Wie Christoph Bergner bemerkt, habe er mit armenischen Organisationen vor Verabschiedung der Bundestagsresolution 2005 wenig Kontakt gehabt, während die erkennbar auf Vordrucken basierenden Schreiben von türkischer Seite ganze Ordner gefüllt hätten; auch der Gesprächspartner im Interview Nr. 18 bestätigt, dass ihn viele Nachrichten von türkischer Seite ereilt hätten; was die Finanzierung von Lehrstühlen durch die Türkei oder auch die Intervention durch türkische Diplomaten anbelangt, siehe die entsprechenden Anmerkungen in den einzelnen Kapiteln (insb. 4.1.2.1, 4.2.2.1). Seyhan Bayraktar hat sich dem innertürkischen Diskurs hinsichtlich des Genozids an den Armeniern und der außenpolitischen Positionierung der Türkei in dieser Sache in ihrer Dissertation ausführlich gewidmet, vgl. deshalb diesbzgl. Bayraktar, Seyhan: Politik und Erinnerung. Der Diskurs über den Armeniermord in der Türkei zwischen Nationalismus und Europäisierung, Bielefeld: transcript Verlag 2009.
1 Einleitung
1.1 H INFÜHRUNG ZUM T HEMA »Il n’est pire crime pour la démocratie que l’oubli [...].«1 In dieser Zuspitzung manifestiert sich eine Dramatik, die im Kontext des NSU-Prozesses oder von NPD-Hetze gegen Asylanten nicht überraschen würde. Jedoch stammt das Zitat weder aus Deutschland – die Sprache legt es nahe –, noch geht es der Sprecherin dabei um die problematische Vergangenheit des eigenen Landes. Tatsächlich leitete mit dieser kühnen Behauptung die französische Abgeordnete Valérie Boyer am 22.12.2011 ihre Ausführungen zu einem von ihr in die Assemblée nationale eingebrachten Gesetzesvorschlag ein. Dieser sah vor, die Leugnung von Völkermorden mit einer Strafzahlung von 45.000 Euro oder mit bis zu einem Jahr Gefängnis zu ahnden.2 Dabei war es kein Geheimnis, welchen Völkermord die Nationalversammlung dabei vor allem im Blick hatte: das Gesetz sollte es der Türkei bzw. Anhängern der türkischen Geschichtsschreibung unmöglich machen, in Frankreich zu behaupten, bei der weitgehenden Vernichtung der armenischen Bevölkerung im Osmanischen Reich im Jahr 1915 habe es sich nicht um einen Genozid, sondern vielmehr um einen ›Kollateralschaden‹ des Ersten Weltkriegs gehandelt.3
1
»Für die Demokratie gibt es kein schlimmeres Verbrechen als das Vergessen [...].« Valérie Boyer in: Assemblée Nationale: Débats parlementaires. Journal Officiel de la République française (2011)128: Compte rendu intégral de la séance du jeudi 22 décembre 2011 (im Folgenden zitiert als: JO-2011), S. 9113.
2
Vgl. Assemblée Nationale: Proposition de loi n°3842 portant transposition du droit communautaire sur la lutte contre le racisme et réprimant la contestation de l’existence du génocide arménien, als pdf abgerufen unter http://www.assemblee-nationale.fr/ 13/pdf/propositions/pion3842.pdf, Stand: 30.01.2014.
3
Vgl. Kapitel 4.2.3.1, vgl. auch das Exposé des motifs der Proposition de loi n°3842, a.a.O. sowie – verstärkt – den Exposé des motifs einer erneuten Gesetzesvorlage
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Entsprechend verschnupft reagierten türkische Führung und Medien: Dieses Gesetz sei ein Affront gegen die Türkei; der türkische Ministerpräsident Erdoğan verstieg sich gar dazu, in der Nähe der französischen Botschaft in Ankara ein Mahnmal für den angeblich von den Franzosen verübten Genozid an den Algeriern errichten wollen zu lassen.4 Nach einer veritablen sechswöchigen diplomatischen Krise zwischen Frankreich und der Türkei wurde der inzwischen auch vom französischen Senat bestätigte Gesetzesentwurf vom Verfassungsrat für nichtig erklärt: das Gesetz schränke die Meinungsfreiheit in unzulässiger Weise ein.5 Da war der Schaden schon für alle Beteiligten groß: für die Türkei, deren hysterische Reaktion nicht eben von demokratisch verfasster Gelassenheit zeugte, aber auch für Frankreich, dessen Motivation viele Beobachter ähnlich wie Erdoğan einschätzten: »Dies ist ein Versuch, mit Feindseligkeit gegenüber der Türkei Stimmen zu gewinnen«6, empörte sich dieser in Richtung Sarkozys. Auch im Land selbst, genauso wie im Ausland, sah man in der großen Zahl armenischstämmiger Franzosen und den anstehenden Präsidentschaftswahlen den wesentlichen Motivator für dieses Gesetz.7 Die Vermutung, dass soziale Gruppen für die Anerkennung ihrer Geschichte werben und dazu auch ihr Gewicht als Wähler in die Waagschale werfen, hat nicht nur in Frankreich gar immer häufiger einen neuen Begriff auftauchen lassen: »lobbying mémoriel«8.
durch Frau Boyer: Assemblée Nationale: Proposition de loi n°690 tendant à la transposition en droit interne de la Décision-cadre 2008/913/JAI du 28 novembre 2008 sur la lutte contre certaines formes et manifestations de racisme et de xénophobie au moyen du droit pénal unter http://www.assemblee-nationale-fr/14/pdf/propositions/pion 0690.pdf. Stand: 30.01.2014. 4
Vgl. Garibow, Konstantin: Türkei sollte sich über Völkermord an Algeriern keine Sorgen machen in: radio Stimme Russlands vom 17.01.2012 unter http://german. ruvr.ru/2012/01/17/64017859/, Stand: 24.01.2014.
5 6
Vgl. Kapitel 4.3.2.1. Zit. nach: Michael Martens und Michaela Wiegel: Aufstand für die Massen in: Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 25.01.2012.
7 8
Vgl. Kap. 4.3.5.6. Generell bei Benbassa, Esther: Préface: »Juste mémoire« ou raisonnable oubli, in: Michel, Johann: Gouverner les mémoires. Les politiques mémorielles en France [Préface d’Esther Benbassa], Paris: Presses universitaires de France 2010, S. IX-XV, hier S. XIV sowie Benjamin Stora [Interview mit BS, propos recueillis par Régis Meyran]: »L’Histoire ne sert pas à guérir les mémoires blessées«, in: BDIC / Matériaux pour l’histoire de notre temps, 2007/1, Nr. 85, S. 10-13, hier S. 11: »Le cercle des lobbies mémoriels s’agrandit [...].« Sehr oft wird der Begriff in Verbindung mit den Pieds-
E INLEITUNG | 13
Im Lichte der verschiedenen Gesetzesinitiativen der vergangenen zwanzig Jahre – ob Loi Gayssot, Loi Taubira oder Loi du 23 février 2005 9– erscheint ein sol-
Noirs und den Erinnerung an den Algerienkrieg genannt, so z. B. bei Gilles Manceron: Les images et l’impensé colonial en France, unter http://www.crasc-dz.org/article868.html, Stand: 10.02.2014; Audrey Salor: Maison de l’histoire de France : le soupçon de l’identité mythifiée vom 20.03.20212 unter http://tempsreel.nouvelobs. com/electionpresidentielle2012/20120318.OBS4039/maison-de-l-histoire-de-francele-soupcon-de-l-identite-mythifiee.html, Stand: 10.02.2014 sowie Yann ScioldoZürcher: Memory and influence on the Web: French colonial repatriates from 1950 to the present, in: Social Sciene Information 51(4) 475–501, hier S. 477 (als »memory lobbying«) und Jan C. Jansen: ›Memory Lobbying‹ and the Shaping of »Colonial Memories« in France (Ankündigung des gleichnamigen Vortrags bei einer Konferenz am Deutschen Historischen Institut Paris vom 07.-09.03.2012, als pdf unter http://www.dhi-paris.fr/uploads/tx_dhipevent/Pieds_noirs_programme_01.pdf, Stand: 10.02.2014; Jansen verwendet die Bezeichnung Lobbies de mémoire vor allem für die rapatriés und die Veteranen des Algerienkriegs (Vgl. Jansen, Jan C.: Politics of remembrance, Colonialism an the Algerian War of independence in France, in: Pakier, Małgorzata und Bo Stråth [Hrsg.]: A European Memory? Contested Histories and Politics of Remembrance, New York (u.a.): Berghahn Books 2010, S. 275-293, hier S. 278). Kazimierz Wóycicki gebraucht den Begriff etwas abgewandelt; er spricht bei den Gesprächen über Polen und Deutschland (2. Teil, 31.07.2007) von verschiedenen nationalen »Erinnerungslobbys«, die es innerhalb Europas zu identifizieren und ihre Sichtweisen zu verstehen gälte, unter www.deutsch-polnischer-journalistenpreis.de/ _files/gesprache_de.doc, Stand: 15.01.2012. 9
Die Loi Gayssot von 1990 verbot die Leugnung des Holocaust, die Loi Taubira von 2001 (nicht zu verwechseln mit dem ebenso genannten Gesetz von 2013, das die rechtliche Gleichstellung homosexueller Partnerschaften in Frankreich regelte) erkannte den Sklavenhandel als Verbrechen gegen die Menschheit (die Kritik an der üblichen deutschen Übersetzung »Verbrechen gegen die Menschlichkeit« fasst Rainer Huhle in der ersten Fußnote seines Beitrags »Vom schwierigen Umgang mit ›Verbrechen gegen die Menschheit‹ in Nürnberg und danach« (Nürnberger Menschenrechtszentrum, Februar 2009, unter http://www.stiftung-evz.de/fileadmin/user_upload/EVZ_ Uplads/Handlungsfelder/Handeln_fuer_Menschenrechte/Menschen_Rechte_Bilden/hu hle-verbrechen_gegen_die_menschheit.pdf, Stand: 12.12.2014) konzise zusammen. Dem folgend, wird in dieser Arbeit durchgängig von »Verbrechen gegen die Menschheit« gesprochen) an, mit dem Gesetz vom 23. Februar 2005 sollten die »positiven Leistungen« der französischen Kolonialherren in Algerien gewürdigt und deren Behandlung im Lehrplan als verbindlich festgelegt werden. Zudem gilt das Gesetz vom
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cher Trend in der Tat plausibel. Auch die Herkunft der Abgeordneten Boyer – sie stammt aus Marseille, wo besonders viele armenischstämmige Franzosen leben – gibt Anlass zu der Vermutung, dass ihre Gesetzesinitiative nicht ohne wahltaktische Hintergedanken vorgelegt wurde. Nichtsdestoweniger scheint eine Reduktion dieses ganzen Vorgangs auf ein wahltaktisches Manöver zu kurz gegriffen. Schließlich geht es im Kern nicht nur um eine historische, sondern vor allem um eine moralische Frage. Anhand der Parlamentsdebatte um das Gesetz wird schnell deutlich, dass sich hier Politiker zu Wort melden, die sich zum Teil bereits lange für die ›armenische Sache‹ engagieren und ihrer Überzeugung mit viel Pathos Ausdruck verleihen. Dabei verwundert allenfalls, dass ausgerechnet der Einsatz gegen die Leugnung des Völkermords an den Armeniern eine derart zentrale Rolle offenbar auch für das Selbstverständnis dieser Politiker als französische Staatsbürger spielt – während andere historische Ereignisse, wie der Völkermord in Ruanda von 1994, in dessen Kontext es durchaus noch offene Fragen hinsichtlich der Rolle französischer Soldaten gibt, 10 politisch unterthematisiert bleiben. Unterthematisiert im politischen Diskurs zumindest blieben auch die konkreten Folgen der Loi Boyer. Denn in der Türkei kochte infolge der Debatte eine nationalistische, antiarmenische Stimmung hoch, so dass sich Außenstehende die Frage stellen mussten: Hat dieses Gesetzesvorhaben, das dem Schutz der Armenier dienen sollte, ihrer Sicherheit nicht eher geschadet? Hat es die vereinzelten liberalen Positionen in der Türkei nicht eher geschwächt und dem Volkszorn preisgegeben?11 Wie bei vorangegangenen außenpolitischen Spannungen um historische Themen – sei es beim deutsch-polnischen Konflikt um das ›Zentrum gegen Vertreibungen‹ oder bei der französisch-algerischen Debatte um das Gesetz zur Anerkennung der Leistungen der französischen Kolonisation 12 – hat damit eine
29. Februar 2001, das die Anerkennung des Genozids an den Armeniern durch Frankreich festlegt, als vierte ›loi mémorielle‹. Zu den ›lois mémorielles‹ vgl. u.a. Zaoui, Michel: Droit et MÉMOIRE, in: Controverses 1(2006)2, S. 45-53, insb. S. 49 f. 10 Vgl. [o. A.]: France-Rwanda : il est grand temps d’ouvrir les archives, in: Le Monde vom 07.04.2014, unter http://www.lemonde.fr/afrique/article/2014/04/07/france-rwan da-il-est-grand-temps-d-ouvrir-les-archives_4396889_3212.html, Stand: 09.04.2014. 11 Vgl. Kapitel 4.1.2.4; 5.1.3.3; 5.2.3.3. 12 Vgl. hierzu u. a. Thierry Oberle: L’Algérie s’insurge contre le vote français sur la colonisation, in: Le Figaro vom 01.12.2005 sowie Patrick Roger: L’Algérie outrée par le vote sur la colonisation, in: Le Monde vom 01.12.2005; zu den Hintergründen auch Guy Pervillé: Histoire et mémoire de la décolonisation en Algérie et en France: les
E INLEITUNG | 15
vermeintlich nationale Regelung eines geschichtspolitischen Themas im bilateralen Verhältnis zu Zerwürfnissen geführt. War dies in den ersten beiden Fällen vielleicht noch einer gewissen Unachtsamkeit geschuldet gewesen, so war die Konfrontation mit der Türkei programmiert. Doch gleich, ob man diese Inkaufnahme positiv oder negativ bewertet: Es bleibt die Feststellung, dass ein Teil der französischen Politik bereit war, für die Verteidigung eines historischen Themas, das nicht wesentlicher Teil der französischen Geschichte selbst ist, erhebliche Missstimmungen mit einem Partnerstaat zu verantworten. Was Eric Savarèse als Folge einer »Gedenkära« in Frankreich sieht, ist damit eingetroffen: »Avec l’entrée de la République dans l’ère des commémorations et compte tenu de l’importance croissante accordée aux politiques commémoratives, c’est un véritable déplacement des enjeux qu’il convient d’interroger: initialement affaire de sociologie et d’histoire, la mémoire est progressivement devenue un problème politique.«13
›Erinnerung‹ ist dabei nicht nur zu einem politischem Problem, einem enjeu auf der nationalen Ebene, geworden, sondern spielt zunehmend auch außenpolitisch eine Rolle. Dieses Phänomen ist, wie der oben angesprochene deutsch-polnische Fall belegt, nicht auf Frankreich beschränkt. In einer Epoche, in der ›Erinnerung‹ ein zunehmender Platz eingeräumt wird,14 ist, im Gegenteil, mit einer Zunahme solcher ›Gedenkkonflikte‹ zu rechnen. In einem Bericht der französischen Nationalversammlung empfiehlt die zuständige Kommission, »Erinnerungsgesetze« in Zukunft zu vermeiden und statt-
causes de l’échec du traité d’amitié franco-algérien (2003-2007) in: Olivier Dard, Daniel Lefeuvre [Hrsg.]: L’Europe face à son passé colonial, Paris: Riveneuve éditions 2008, S. 13-32. Zur Debatte um das Zentrum gegen Vertreibungen ist die Materiallage extrem umfangreich; das Portal zeitgeschichte-online hat eine Übersicht der Literaturund Presselage zusammengestellt: http://www.zeitgeschichte-online.de/thema/materialien-zur-debatte-um-das-zentrum-gegen-vertreibungen, Stand: 02.04.2014. 13 Savarèse, Eric: L’invention des Pieds-Noirs, Paris: Séguier 2002, S. 14. 14 Harald Welzer und Claudia Lenz sprachen gar von einer »Memorymania«, dies.: Opa in Europa. Erste Befunde einer vergleichenden Tradierungsforschung, in: Harald Welzer [Hrsg.]: Der Krieg der Erinnerung. Holocaust, Kollaboration und Widerstand im europäischen Gedächtnis, Frankfurt am Main: Fischer Taschenbuch-Verlag 2007, S. 7-40, hier. S. 7.
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dessen parlamentarische Resolutionen zu verabschieden.15 So könne der Standpunkt des Parlamentes deutlich gemacht werden, ohne durch eine gesetzliche Regelung Strafen anzudrohen und so in den Verdacht der offiziellen Geschichtsschreibung oder gar der Beschränkung der Freiheit von Forschung und Lehre zu geraten. Mit Blick auf die Außenbeziehungen der Staaten kann jedoch angezweifelt werden, dass sich hierdurch die Problematik von Konflikten durch gegensätzliche Vergangenheitsinterpretationen beseitigen ließe. Schließlich stand am Ursprung der Debatten in Polen und zwischen Deutschland und Polen keine gesetzliche ›Erinnerungsvorschrift‹. Allein die offizielle Aufnahme des Partikulargedächtnisses einer Gruppe in den Erinnerungskorpus der Nation scheint Grund genug zu sein, die Gemüter zu entzünden. Vor dem Hintergrund dieser Beobachtungen liegt es nahe, die Mechanismen unter die Lupe zu nehmen, die politisches Handeln im Hinblick auf Geschichte und Gedenken bedingen – unter Berücksichtigung des Spannungsfeldes, das sich zwischen den Gruppierungen, die für sich einen Platz im nationalen Gedächtnis fordern, und dem internationalen Kontext ergibt.
1.2 F RAGESTELLUNG
DER
ARBEIT
In der folgenden Studie soll die eingangs angesprochene ›Lobbyarbeit‹ als Gedächtnis- und Identitätsthematik verknüpft werden mit der politikwissenschaftlichen Fragestellung nach der Durchsetzung von Interessen in Abhängigkeit vom außenpolitischen Kontext. Folgende Fragen sind zu beantworten: • •
Mit welchen Mitteln versuchen soziale Gruppen, die nationale ›Verortung‹ ihres kollektiven Gedächtnisses durchzusetzen? Welche Faktoren bedingen die politische Rezeption ihrer Forderungen?
15 Vgl. Assemblée Nationale – XIIIe Législature: Rapport d’information n°1262: Rassembler la Nation autour d’une mémoire partagée [Rapport d’information fait en application de l’article 145 du Règlement au nom de la mission d’information sur les questions mémorielles, Président – Rapporteur: M. Bernard Accoyer, Président de l’Assemblée nationale], Paris: November 2008 (im Folgenden zitiert als: Rapport Accoyer (2008)), hier S. 92-101.
E INLEITUNG | 17
•
Inwiefern ist der Begriff des ›Erinnerungslobbyings‹ hierfür zutreffend und welche Rolle nimmt ein solches als Faktor der internationalen Beziehungen ein?
Diese Fragestellungen werden erörtert anhand des Beispiels des politischen Umgangs in Deutschland und Frankreich mit den Forderungen der Armenier und armenischstämmigen Bürger 16 , den an ihren Vorfahren verübten Genozid im Jahr 1915 anzuerkennen. Das Thema wurde aus aktuellem Anlass aufgegriffen: Der oben beschriebene bilaterale Zwist zwischen Frankreich und der Türkei wurde Anfang 2012 anlässlich des Loi Boyer genannten Gesetzesvorhabens virulent. 17 Dies war die bislang ausgeprägteste außenpolitische Konsequenz eines Gesetzesvorhabens mit historischem Bezug. Die aktuelle Diskussion um den Völkermord an den Armeniern ist noch nicht beendet: Während armenische Verbände weiterhin ein Gesetz zum Schutz vor Leugnung und Revisionismus fordern, kündigt sich 2015 mit dem hundertsten Jahrestag des Völkermords eine Fortführung der Debatte an. Für die Untersuchung hat dieses Thema den Vorteil, dieselbe Problematik in zwei Ländern beleuchten zu können, wobei die unterschiedlichen Gegebenheiten und deren Einflüsse herausgearbeitet werden.18 Theoretisch baut die Arbeit auf drei Hauptforschungsbereichen auf: Zum einen dem über die vergangenen 30 Jahre stetig gewachsenen Bereich der ›Gedächtnisforschung‹, wobei kollektiven Gedächtnissen und nationaler Identität eine besondere Rolle zukommt. Zweitens greift die Arbeit auf Interessen-, Lobby- und Korporatismusforschung zurück, die wiederum Teil der Policyforschung, also
16 »Armenisch« und »armenischstämmig« wird in dieser Arbeit. sofern sich aus dem Kontext nichts anderes ergibt, synonym verwendet. Dabei ist zu bedenken, dass auch die so Bezeichneten durchaus beide Formen verwenden (z. B. »français d’origine arménienne« ebenso wie »les Arméniens de France« bzw. »Conseil de coordination des organisation arméniennes« etc.). 17 Siehe Kap. 1.1; Neben der aufgeladenen Rhetorik (vgl. das obige Zitat Erdoğans), die vor allem auf Verweisen von türkischer Seite auf die problematische Geschichte Frankreichs mit Blick auf Algerien fußte, verhängte die türkische Regierung sogar Sanktionen gegen Frankreich, die erst nach dem Amtsantritt von Präsident Hollande wieder aufgehoben wurden (vgl. Perrier, Guillaume: Turquie : quelles sanctions contre la France? vom 27.12.2011 unter http://istanbul.blog.lemonde.fr/2011/12/27/turquie -quelles-sanctions-contre-la-france/, Stand: 07.03.2014 sowie die Notiz zur Aufhebung derselben in der Rubrik En bref in: Libération vom 22.06.2012). 18 Zur Wahl des Vergleichsländer s. Kapitel 1.4.2.
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der Untersuchung der Entstehung politischer Entscheidungen und Leitlinien, ist. Und schließlich integriert sie diese beiden Forschungsschwerpunkte in den Kontext der internationalen Politik, wo Geschichte als Faktor der zwischenstaatlichen Beziehungen eine zunehmende Rolle spielt, die Bedeutung von ›Erinnerungsgemeinschaften‹ im bilateralen Bereich jedoch noch wenig erforscht ist. Die Studie schließt damit eine Lücke im Bereich der »Unterscheidung von kollektiver Erinnerung und den instrumentell auf Interessenverfolgung und Machterwerb ausgerichteten Politiken der Anerkennung beziehungsweise der Geschichtspolitiken.«19 Die von Lindenberger und Blaive hier aufgerissene Dichotomie scheint in ihrer klaren Trennung von Identität und Interesse geradezu manichäisch und muss, insbesondere mit Blick auf das gewählte Fallbeispiel der Erinnerung an einen Völkermord, bedenklich erscheinen. Die Annahme, dass der Gedächtnisdiskurs sozialer Gruppen derart gestaltet ist, um in der politischen Arena eine Wirkung zu erzielen, kann leicht dahingehend interpretiert werden, einen Missbrauch unterstellen zu wollen, wie Trigano warnt. 20 Indes bemerkt Gaudin, dass diese Gratwanderung die Untersuchung staatlicher Politik und politischer Soziologie grundsätzlich betrifft: »L’histoire des études de politiqes publiques (comme celles de sociologie politique) semble marquée par un balancement périodique entre des problématiques centrées sur les luttes d’intérêts, qu’on pourrait qualifier de cyniques ou de ›réalistes‹, et de perspectives qui font grand cas des idées et des valeurs dans l’explication des choix collectifs.«21
Eine Betrachtung, die kein rein kulturwissenschaftlicher Zugang sein, sondern politische Wirkungen konzeptualisieren will, kann deshalb nicht die Einsicht außer Acht lassen, »dass der politische Umgang mit Geschichte unweigerlich verwickelt ist in den konstitutiven Macht- und Interessenkomplex.«22 Auch Trigano erkennt dies an und rät deshalb das kulturelle und politische Umfeld in den
19 Lindenberger, Thomas und Muriel Blaive: Zeitgeschichte und Erinnerungskonflikte in Europa, in: Aus Politik und Zeitgeschichte (2012)1-3, S. 21-27, hier S. 26. 20 Trigano, Shmuel: »ABUS de mémoire« et »concurrence des victimes« – une dépolitisation des problèmes, in : Controverses 1(2006)2, S. 39-44, hier S. 40. 21 Gaudin, Jean-Pierre: L’Action publique. Sociologie et politique, Paris: Presses de Sciences Po / Dalloz 2004, S. 135. 22 Schmid, Harald: Konstruktion, Bedeutung, Macht. Zum kulturwissenschaftlichen Profil einer Analyse von Geschichtspolitik, in: Horst-Alfred Heinrich und Michael Kohlstruck [Hrsg.]: Geschichtspolitik und sozialwissenschaftliche Theorie, Stuttgart: Franz Steiner Verlag 2008, S. 75-98, hier S. 92.
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Blick zu nehmen, um die Wirkungsfaktoren zu entschlüsseln: »Même si manipulation il y a dans la politique politicienne, celle-ci ne peut réussir que si le contexte socio-politique et culturel l’appelle de ses voeux et la porte.«23 Vor diesem Hintergrund kann es sich ein interdisziplinärer Zugang zur Rolle sozialer Gruppen im ›Feld‹ der Geschichtspolitik nicht leicht machen. Renault umschreibt die Komplexität der Analyse: »En définitive, l’analyse des revendications de reconnaissance doit faire intervenir l’ensemble des distinctions qui viennent d’être présentées pour éviter des analyses unilatérales, dont le prix serait tout aussi bien la simplification théorique que la méconnaissance de leur contenu politique spécifique.«24
Der theoretische Forschungsstand in den einzelnen Feldern, auf die dabei zurückgegriffen wird, wird im Folgenden umrissen.
1.3 F ORSCHUNGSSTAND Der Themenkomplex »Gedächtnis und Erinnerung« hat sich in den vergangenen 20 Jahren zu einem »Paradigma der Kulturwissenschaften«25 entwickelt. »Gedächtnis« im kulturwissenschaftlichen Forschungszusammenhang meint dabei nicht das individuelle Gedächtnis, sondern das gesellschaftliche Erinnern, das der Vergegenwärtigung der Vergangenheit und damit der Begründung und Verstärkung von Identität dient.26 Die Entwicklung dieses Begriffs, seine Verwen-
23 Trigano (2006), S. 41. 24 Renault, Emmanuel: Théorie de la reconnaissance et sociologie de l’injustice, in: Yann Guillaud und Jean Widmer [Hrsg.]: Le Juste et l’Injuste. Émotions, reconnaissance et actions collectives, Paris: L’Harmattan 2009, S. 51-75, hier S. 68. 25 Schwelling, Birgit: Politische Erinnerung. Eine akteurs- und handlungsbezogene Perspektive auf den Zusammenhang von Gedächtnis, Erinnerung und Politik, in: HorstAlfred Heinrich und Michael Kohlstruck [Hrsg.]: Geschichtswissenschaft und sozialwissenschaftliche Theorie, Stuttgart: Franz Steiner Verlag 2008, S. 99-121, hier S. 99; Arenhövel, Mark: Das Gedächtnis der Systeme, in: Heinrich/Kohlstruck (2008), S. 5974, hier S. 60. Max Paul Friedman und Padraic Kenney sprechen gar von »memory« als einer »new subdiscipline of the humanities« (dies.: Introduction: History in Politics, in: dies. [Hrsg.]: Partisan Histories. The Past in Contemporary Global Politics, Basingstoke / New York: Palgrave Macmillan 2005, S. 1-14, hier S. 2. 26 Vgl. Kap. 2.1.1.
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dung in Deutschland und Frankreich und die neuesten Trends dazu sind in den Kapiteln 2.1.1 und 2.1.2 nachgezeichnet. Dem soll hier nicht vorgegriffen werden. Über die dort zitierten Werke hinaus zeugt eine Vielzahl von Sammelbänden davon, dass das »in den Kulturwissenschaften zentrale Postulat der Interdisziplinarität«27 auch für das Gebiet der Erinnerungs- und Gedächtnispolitik gilt. Hier lässt sich wiederum eine Teilung vornehmen in theoretisch orientierte Werke einerseits28 und andererseits Veröffentlichungen, welche sich dem Themenkomplex vorrangig über Fallbeispiele annähern.29 Die Beleuchtung des Anteils gesellschaftlicher Gruppen an Geschichtspolitik ist in den vergangenen Jahren vor allem in Frankreich erfolgt. Neben Johan Michels Gouverner les mémoires30 ist hier vor allem Sarah Gensburgers Dissertation zu nennen, in der sie die Einführung des Titels ›Gerechte unter den Völkern‹ in Frankreich nachzeichnet.31 Emmanuelle Comtat analysiert in Les pieds-noirs et la politique32 das Verhalten einer innergesellschaftlichen Gruppe, deren be-
27 Schwelling (2008), S. 100. 28 Schwelling, Birgit [Hrsg.]: Politikwissenschaft als Kulturwissenschaft: Theorien, Methoden, Problemstellungen, Wiesbaden: Verlag für Sozialwissenschaften 2004; Claudia Fröhlich und Horst-August Heinrich: Geschichtspolitik. Wer sind ihre Akteure, wer sind ihre Rezipienten?, Stuttgart: Franz Steiner Verlag 2004; Horst-August Heinrich und Michael Kohlstruck: Geschichtspolitik und sozialwissenschaftliche Theorie, Stuttgart: Franz Steiner Verlag 2008; Joachim Landkammer, Thomas Noetzel und Walther C. Zimmerli [Hrsg.]: Erinnerungs-Management. Systemtransformation und Vergangenheitspolitik im internationalen Vergleich, München: Fink 2006; Beatrix Bouvier und Michael Schneider [Hrsg.]: Geschichtspolitik und demokratische Kultur. Bilanz und Perspektiven, Bonn: Dietz 2008. 29 Wagner, Bernd für das Institut für Kulturpolitik der kulturpolitischen Gesellschaft e. V. [Hrsg.]: Jahrbuch für Kulturpolitik 2009. Thema: Erinnerungskulturen und Geschichtspolitik, Essen: Klartext Verlag 2009; Deutsch-Französisches Institut: Frankreich-Jahrbuch 2010, Wiesbaden: Verlag für Sozialwissenschaften 2011; Pascal Blanchard und Isabelle Veyrat-Masson [Hrsg.]: Les guerres de mémoires. La France et son histoire: enjeux politiques, controverses historiques, stratégies médiatiques, Paris: Éditions la Découverte, 2008. 30 Michel, Johann: Gouverner les mémoires. Les politiques mémorielles en France [Préface d’Esther Benbassa], Paris: Presses universitaires de France 2010. 31 Gensburger, Sarah: Les Justes de France. Politiques publiques de la mémoire, Paris: Presses de la Fondation nationale des Sciences politiques 2010. 32 Comtat, Emmanuelle: Les pieds-noirs et la politique. Quarante ans après le retour, Paris: Presses de la Fondation nationale des sciences politiques 2009.
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sondere Identität aufgrund eines historischen Ereignisses (des Algerienkriegs) herausgebildet hat. Die Bedeutung des Gebrauchs von Geschichte für einzelne Akteure im öffentlichen Raum unterstreicht auch Catherine Coquery-Vidrovitch, die das Thema aus dem Blickwinkel des Umgangs mit der Kolonialgeschichte behandelt.33 Der kritische Blick von Coquery-Vidrovitch, die auch einzelne Interessen in diesem Zusammenhang beleuchtet, ist verstärkt bei denjenigen Autoren zu finden, die eine immer größere Anzahl von ›Opfergruppen‹ ausgemacht zu haben glauben, die, jede für sich, bestimmte erinnerungspolitische Forderungen an den Staat stellten.34 Mehrere Autoren kritisieren dabei das emotionale Mobilisierungspotential, das durch den Bezug auf historische Themen aktiviert werde.35 Auf deutscher Seite wird dieser Aspekt weniger beleuchtet. Jüngere Studien zum Verhältnis von Politik und Geschichte bieten eher Übersichten über die Zusammenhänge an, denn aktiv Stellung zu beziehen, und integrieren zudem den Gedächtnisbegriff in diese Relation.36 Sehr ausführlich wird dafür die ›Europäisierung‹ beziehungsweise ›Transnationalisierung‹ von Erinnerungsorten und damit von Identitäten diskutiert.37 Während in Kapitel 2.1 die Entwicklung des Lobbyingbegriffs, dessen Strategien und Erscheinungsformen ausführlich besprochen werden, ist hier auf zwei Werke besonders hinzuweisen: Rachel Anderson Paul und David M. Paul beschreiben in Ethnic lobbies and US foreign policy 38 das von ihnen geleitete Unterfangen, den Einfluss ethnischer Gruppen auf die US-Außenpolitik zu bewerten. Dabei nehmen sie auch die Armenier in den USA in den Blick. In Irre-
33 Coquery-Vidrovitch, Catherine: Enjeux politiques de l’histoire coloniale, Marseille: Agone 2009. 34 Chaumont (1997), op. cit.; Erner, Guillaume: La société des victimes, Paris: Éditions La Découverte 2006; Benbassa, Esther: La souffrance comme identité, Paris: Fayard 2007. 35 Vgl. Prochasson, Christophe: L’empire des émotions. Les historiens dans la mêlée, Paris: Demopolis 2008; Offenstadt, Nicolas: L’histoire bling-bling. Le retour du roman national, Paris: Éditions Stock 2009. 36 Vgl. König, Helmut: Politik und Gedächtnis, Weilerswist: Velbrück 2008; Kölsch, Julia: Politik und Gedächtnis. Zur Soziologie funktionaler Kultivierung von Erinnerung, Wiesbaden: Westdeutscher Verlag 2000. 37 Siehe hierzu Kap. 2.1.2. 38 Paul, David M. and Rachel Anderson Paul: Ethnic lobbies and US foreign policy, Boulder (Colorado) [et al.]: Lynne Rienner Publishers 2008.
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dentism. Ethnic conflict and International Politics39 kommt Thomas Ambrosio ebenfalls auf diese zu sprechen, wobei er auch die Nutzung der sensiblen Erinnerung an den Völkermord als Faktor bei internationalen Konflikten (wie der Situation in Berg-Karabach) thematisiert. Dabei wird dem Gedächtnis indes eine mehr instrumentelle Funktion zugewiesen. Weniger im Fokus steht die Frage nach der Bedeutung von Akzeptanz der eigenen (Gruppen-)Erinnerung und wie dies sich im internationalen Kontext auswirkt. Um tatsächlich »Importe aus anderen Wissenschaftsfeldern«40 in den Politikwissenschaften stärker zu nutzen, um »[i]nformelle Abläufe und unübersichtliche Akteurskonstellationen« 41 transparenter zu machen, muss das Gedächtnis jedoch auch als Referenzpunkt für die eigene Identität und nicht nur als ›Verhandlungsmasse‹ im internationalen Tauziehen betrachtet werden. Als so betrachtete Einflussgröße der internationalen Beziehungen ist Geschichte bislang jedoch unterkonzeptualisiert geblieben. Geschichtspolitische Betrachtungen waren zumeist national begrenzt, Untersuchungen ›transnationaler Erinnerungsorte‹ hingegen vorrangig am thematischen Gegenstand und weniger an den dahinterstehenden Politiken orientiert. 42 Deshalb kann die von Valérie Rosoux 2001 veröffentlichte Studie zum bilateralen Umgang mit belasteter Geschichte43 durchaus als Pionierarbeit bezeichnet werden. In bemerkenswert umfangreicher Analyse hat sie die geschichtlichen Bezugnahmen hochrangiger Politiker mit Blick auf die deutsch-französischen und französisch-algerischen Beziehungen herausgearbeitet. Gleichwohl liegt dabei der Fokus auf dem Staat bzw. auf den Politikern als seinen Repräsentanten
39 Ambrosio, Thomas: Irredentism. Ethnic conflict and International Politics, Westport (CT): Praeger Publishers 2001. 40 Blatter, Joachim K., Frank Janning und Claudius Wagemann: Qualitative Politikanalyse. Eine Einführung in Forschungsansätze und Methoden, Wiesbaden: VS Verlag für Sozialwissenschaften / GWV Fachverlage GmbH 2007, hier S. 19. 41 Ebd., S. 18 (›i‹ im Original als Großbuchstabe). 42 Das Phänomen der ›Transnationalisierung‹ von Erinnerungsorten übersteigt zwar den nationalen Rahmen; dabei werden aber in der Regel vor allem der Erinnerungsort inhaltlich diskutiert (wie bei Leggewie (2011)) bzw. multilaterale Gedenkinitiativen beleuchtet (wie bei Kroh (2012)). Die Untersuchungen zielen jedoch nicht auf eine explizite Untersuchung der Politiken, die zu dieser Transnationalisierung geführt haben oder führen sollten. 43 Rosoux, Valérie-Barbara: Les usages de la mémoire dans les relations internationales. Le recours au passé dans la politique étrangère de la France à l’égard de l’Allemagne et de l’Algérie, de 1962 à nos jours, Brüssel: Bruylant 2001.
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als Handlungsträger, während die internen Mechanismen und gegebenenfalls Gruppen, die die staatliche Haltung bedingt haben, nicht beleuchtet werden. Christian Schülke, der mit seiner 2009 erschienenen Arbeit zum Gebrauch von Vergangenheitsbezugnahmen in den deutsch-polnischen Beziehungen an Rosoux anknüpft, unterstreicht die Bedeutung solcher Gruppen, wenn er schreibt: »A tous les moments de la période 1989-2005, il est frappant de voir comment des groupes d’intérêts a priori relativement peu puissants peuvent durablement détériorer les relations bilatérales.« 44 Indes erforscht er nicht, wie dieser negative Einfluss, der zudem die eigentliche Macht der jeweiligen Interessengruppen übersteigt, zustande kommt. Ein von Duncan Bell 2010 herausgegebener Sammelband nimmt sich schließlich dieser Lücke an, indem er der Frage nach dem Zusammenhang zwischen Erinnerung und internationaler Politik nachgeht, also auch Gruppen beleuchtet, deren belastete Vergangenheit nicht oder verspätet erst Eingang in die offizielle politische Rhetorik gefunden hat.45 Die darin enthaltenen, auf Fallbeispielen basierten Betrachtungen könnten als kulturwissenschaftlich-soziologischer Beitrag zu einer konstruktivistischen Politikanalyse aufgefasst werden; leider sind sie theoretisch dafür nicht genügend verknüpft. Dabei haben sich die Ansätze zur Analyse der internationalen Beziehungen längst ausreichend geöffnet, um einen solchen, auch theoretischen, Brückenschlag zu ermöglichen. Im Vergleich zum klassisch-realistischen Ansatz, der allein die Staaten als Akteure betrachtet und ihr Handeln als Resultat der jeweiligen Interessen denkt, bietet das konstruktivistische Modell hierfür zahlreiche Anknüpfungspunkte. Die Analyse der internationalen Beziehungen hat also längst die vielfältigen Interdependenzen zwischen nationaler und internationaler Politik erfasst. Nationale Identität hat sich dabei bereits als ein wesentlicher Untersuchungsgegenstand herausgebildet; ›Geschichtspolitik‹ und die Rolle der verschiedenen Akteure darin bleiben hingegen weitgehend vernachlässigt. In ihrem Bestreben, diese Lücke ein wenig zu schließen, schreibt sich die Arbeit in einen Trend der »Aufwertung gerade von kulturwissenschaftlichen Erkenntnissen und Strömungen in
44 Schülke, Christian: Les usages politiques du passé dans les relations germanopolonaises (1989 - 2005), Paris: L’Harmattan 2009, S. 167. 45 Bell, Duncan [Hrsg.]: Memory, Trauma and World Politics. Reflections on the Relationship between Past and Present, New York / Basingstoke: Palgrave Macmillan 2010.
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der deutschen Politikwissenschaft«46 ein. Die Methode, die dazu gewählt wurde, wird im Folgenden präsentiert.
1.4 M ETHODISCHES V ORGEHEN 1.4.1 Theoretischer Kontext47 Aufgrund der vielen Aspekte, die das Thema berührt, ist die Arbeit notwendigerweise interdisziplinär angelegt. Bereits das übergeordnete Feld der Geschichtspolitik, in dem sie angesiedelt ist, liegt an der Schnittstelle zwischen Politik-, Geschichts- und ggf. Kulturwissenschaft. Um einen Aspekt dieses Themas, nämlich die Verortung der kollektiven Gedächtnisse sozialer Gruppen im öffentlichen Raum, besser zu verstehen, wird hier auf verschiedene Ansätze aus den Sozialwissenschaften rekurriert: Der Lobbybegriff und die damit verbundenen Überlegungen stammen aus der Interessen- und Korporatismusforschung. Die Betrachtung des ›kollektiven Gedächtnisses‹ der Gruppe der Armenier sowie dessen Relation zur nationalen Identität in Deutschland und Frankreich erfordert einige Erläuterungen zum Gedächtnisbegriff, wie er seit drei Jahrzehnten in den Kulturwissenschaften paradigmatisch 48 verwendet wird. Um zu verstehen, wie Gedächtnisinteressen im politischen Feld wirksam vertreten werden, aber auch, wie Gedächtniskonstruktionen selbst als Kapital bei der Interessendurchsetzung wirken, wird auf Pierre Bourdieus ›Feldmodell‹ zurückgegriffen. Das Feldmodell ist ein soziologischer Ansatz, der das Handeln einzelner Akteure über die Machtbeziehungen in verschiedenen gesellschaftlichen Bereichen, den so genannten ›Feldern‹, erklärt. Schließlich erfordert die Situierung der Problematik im bilateralen Bereich den Rekurs auf theoretische Konzepte der internationalen Beziehungen. Hier wird vor allem der konstruktivistische Ansatz vorgestellt, der nationale Identität als staatlichen Handlungsmotivator versteht und Außenpolitik als Resultat des Wirkens verschiedener Akteure, nicht als staatliches Monopol, begreift. Mithilfe dieser Konzepte wird in der Untersuchung das politische Handeln in Deutschland und Frankreich analysiert. Der Vergleich zwischen den beiden Län-
46 Blatter (2007), S. 19. 47 Für detaillierte Ausführungen zu den genannten Konzepten und Begriffen siehe die Kapitel 2 und 3. 48 Vgl. Kapitel 1.3.
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dern soll auch verallgemeindernde Schlüsse zulassen, weshalb im Folgenden die Wahl der Vergleichsobjekte begründet wird. 1.4.2 Der Vergleich als methodische Grundlage der Fallstudie Aufbauend auf den oben skizzierten theoretischen Vorüberlegungen wird die Studie als deutsch-französischer Vergleich durchgeführt. Dabei geht es darum, durch die Betrachtung der Aktivitäten armenischer Gruppen in Deutschland und Frankreich sowie der Initiativen und Diskurse von und auf Seiten der Politik ein besseres Verständnis für die einzelnen Faktoren zu gewinnen, die die Politiker veranlassen, sich in einer bestimmten Weise für die Anliegen der Armenier einzusetzen. Dabei ist es offensichtlich, dass der hier gewählte Vergleich in der Konstellation asymmetrisch ist: Nicht nur unterscheidet sich die historische Implikation der beiden Staaten in den Genozid, auch stellt sich die heutige Minderheitensituation in den beiden Ländern unterschiedlich dar: Während man in Frankreich von rund einer halben Million armenischstämmiger Franzosen ausgeht, die zudem zum größten Teil seit mehreren Generationen in Frankreich beheimatet sind, ist diese Zahl in Deutschland nur rund ein Zehntel so hoch.49 Zugleich leben in Deutschland mehr türkischstämmige Menschen als in Frankreich, was die öffentliche und politische Thematisierung zusätzlich erschweren könnte. Indes ist, wie Michael Werner ausführt, jedem Kultur- und Gesellschaftsvergleich ein gewisses Maß an Asymmetrie inhärent.50 Entscheidend für die Sinnhaftigkeit der Analyse sei nicht die absolute Vergleichbarkeit, sondern die grundsätzliche Existenz »möglicher Parallelen und konzeptionell eingebauter Symmetrien«51. Gerade politische Betrachtungen sehen sich dabei mit der Herausforderung konfrontiert, einzelne policies vor dem Hintergrund teils sehr diverser Gesellschaften und Systeme zu erörtern. Geschichtspolitische Fragestellungen, so scheint es, verstärken dieses Problem: sie verknüpfen politische Entscheidungen, Interessen und Durchsetzungsstrategien mit Identitätsfragen, was die Komplexität der Rahmenbedingungen zusätzlich erhöht. Friedman und Ken-
49 Vgl. Kapitel 4.2.1.1, 4.2.1.2. 50 Vgl. Werner, Michael: Disymmetrien und symmetrische Modellbildungen in der Forschung zum Kulturtransfer, in: Hans-Jürgen Lüsebrink und Rolf Reichardt [Hrsg.]: Kulturtransfer im Epochenumbruch. Frankreich – Deutschland 1770 bis 1815, Leipzig: Leipziger Universitätsverlag 1997, S. 87-101, hier S. 88 f. 51 Ebd., S. 101.
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ney haben dies im Vorwort zu der von ihnen editierten Sammlung Partisan Histories. The Past in Contemporary Global Politics offensiv adressiert: »We have deliberately selected asymmetric cases from five continents to compare with one another. Comparison is a useful tool of analysis whose purpose here is not to conflate the different examples into an overarching global phenomenon, but to highlight differences and commonalities. One might not expect to find much similarity among contemporary political conflicts drawn from Europe, Asia, Africa, and the Americas, but comparing such divergent areas and their unique experiences does yield insight into the way the past can be instrumentalized for political purposes in a broad range of circumstances.«52
Insofern muss die Frage für die vorliegende Studie in Anlehnung an Werners Postulat lauten, worin die Argumente bestehen, die den Vergleich rechtfertigen. Dabei ist zum einen die Seite der Armenier zu betrachten, zum anderen die politische Rezeptionsseite zu beleuchten. Für Erstere gilt, dass selbstverständlich der historische Hintergrund, der die kollektive Identität der Armenier weltweit geprägt hat, derselbe ist.53 Das lässt sich auch daran ablesen, dass, obwohl die in Frankreich bzw. in Deutschland ansässigen Armenier oft aus geographisch unterschiedlichen Regionen stammen und zu verschiedenen Zeitpunkten in das jeweilige Land eingewandert sind, 54 ihre politischen Forderungen im Wesentlichen die gleichen sind. Ebensolches gilt für die Wege, auf denen sie diese in den politischen Betrieb einzubringen suchen: Unabhängig von der Größe der Gruppe unterscheiden diese sich nicht wesentlich, vielmehr haben sie sich zeitlich versetzt, mit der Entwicklung des Organisationsgrades der jeweiligen Gruppe, ausgebildet.55 Diese Parallelität bietet einen ersten Ansatzpunkt für Vergleichbarkeit: Vor dem Hintergrund ähnlicher Forderungen und Ansätze zu deren Durchsetzung richtet sich das Augenmerk nun auf die Bedingungen, unter welchen die Politik diese umsetzt. Wie bereits angesprochen, sind die Bedingungen hierfür in Deutschland und Frankreich unterschiedlich, weshalb die Rezeption der armenischen Forderungen in Medien und Politik in den beiden Ländern, im Gegensatz zu deren Formulierung und Einbringung in den politischen Prozess, getrennt betrachtet wird.56 Indes verweisen gerade die Unterschiede auf interessante Punkte: Die Tatsache,
52 Friedman und Kenney (2005), S. 3. 53 Vgl. Kap. 4.1.1.1, Kap. 4.1.2.2 , Kapitel 4.1.2.3 und Kapitel 4.1.2.4. 54 Vgl. Kap. 4.2.1. 55 Vgl. Kap. 4.2 und 4.3. 56 Vgl. das Unterkapitel zum Aufbau der Arbeit (1.5).
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dass der Völkermord an den Armeniern in Deutschland trotz eines geringeren Anteils armenischstämmiger Wähler am Elektorat sehr wohl politisch rezipiert wird – wenn auch weniger umfangreich als in Frankreich – verweist auf die Bedeutung moralischer Argumente und deren diskursiver Integration in das jeweilige nationale Narrativ. Wären die Ausgangslagen hingegen zu ähnlich, wäre es deutlich schwieriger, hier sinnvolle Schlüsse zu ziehen: in einer Situation, wie sie beispielsweise in Frankreich und den USA besteht, spitzt sich die Frage nach der Durchsetzung armenischer Forderungen oft lediglich auf den Kontrast zwischen innenpolitischem Druck und außenpolitischen strategischen Interessen zu. Das deutsche Beispiel ist hier erhellend, weil es, bei geringerem ›innerem Druck‹, Fragen nach moralischem Recht und Aufarbeitung aufwirft. Schließlich wird der sinnvolle Vergleich auch durch die qualitative Dimension der Studie ermöglicht: Durch Interviews mit Politikern, die sich in besonderer Weise für die Angelegenheiten der Armenier in ihrem jeweiligen Land eingesetzt haben, konnten deren Standpunkte und Motivationen direkt hinterfragt werden.57 Zusammenfassend lässt sich sagen, dass die Untersuchung eines Themas, für das in den zwei betrachteten Ländern unterschiedliche Ausgangslagen hinsichtlich historischer Beteiligung am erinnerten Geschehen und quantitativer Bevölkerungslage herrschen, dadurch gerechtfertigt ist, dass die Forderungslage einerseits so ähnlich ist und sich zudem auch auf beiden Seiten Erfolge vergleichen lassen, deren Ausgestaltung mit den qualitativen Befunden dieser Arbeit erklärt wird. Letztlich geht es schließlich nicht darum, eine deskriptive Erhebung hinsichtlich des Umgangs mit dem besonderen Fall des Völkermords an den Armeniern in Frankreich und Deutschland durchzuführen, sondern durch die Analyse der verschiedenen Situationen, Motivationen und Argumentationen Rückschlüsse ziehen zu können hinsichtlich der Wirkmacht einzelner Gruppen im geschichtspolitischen Feld – und ihren Bedingungen.
57 Dabei ist es klar, dass auch direkte Gespräche Möglichkeiten der Manipulation bieten. Nichtsdestoweniger bieten sie dem Interviewer die Gelegenheit, sich über das Studium einzelner Zitate und Reden hinaus ein persönliches Bild vom Engagement seines Gegenübers zu machen. Weitere Angaben zur Durchführung der Interviews enthält der folgende Unterpunkt (1.4.3).
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1.4.3 Zum Korpus 1.4.3.1 Parlamentsdebatten Für die Analyse des Diskurses in der dezidiert politischen Arena sind die Dokumentationen von fünf Parlamentsdebatten ausgewählt worden, darunter vier französische und eine deutsche. Die Diskrepanz liegt darin begründet, dass sich der deutsche Bundestag nur einmal mit der Thematik des Armeniergenozids befasst hat,58 während im Hémicycle der Assemblée Nationale gleich viermal dazu Stellung bezogen wurde: 199859, 200160, 200661 und 201162. Dabei ging es 1998 und 2001 jeweils um die offizielle Anerkennung des Genozids an den Armeniern durch einen Gesetzestext, der rein deklaratorischer Natur war und sich auf die Aussage beschränkte: »La France reconnaît publiquement le génocide arménien.«63 Dass es dazu überhaupt eines Gesetzes bedurfte, liegt in einer Verfassungsbesonderheit der Fünften Republik begründet, die es dem Parlament zunächst nicht erlaubte, Resolutionen zu beschließen. Wollten sich die Volksvertreter in einer gemeinsamen Entschließung mit Blick auf einen bestimmten Sachverhalt positionieren, mussten sie dies daher bis zur Reform vom 23. Juli 2008 in Gesetzesform tun.64 Obiger Artikel wurde 1998 von der Assemblée verabschiedet, von der Regierung Jospin allerdings nie dem Senat vorgelegt, wes-
58 Deutscher Bundestag, Plenarprotokoll 15/172 – Stenografischer Bericht der 172. Sitzung vom Donnerstag, den 21. April 2005 (im Folgenden zitiert als: Plenarprotokoll 15/172). 59 Compte rendu intégral de la séance du 29 mai 1998, Quelle: Webseite der Assemblée Nationale unter http//archives.assemblee-nationale.fr/11/cri/1997-1998-ordinaire1/233 .pdf, Stand: 30.01.2014 (im Folgenden zitiert als: Compte rendu intégral 1998). 60 Assemblée Nationale: Débats parlementaires. Journal Officiel de la République française (2001)6: Compte rendu intégral des séances du jeudi 18 janvier 2001 (im Folgenden zitiert als: JO-2001). 61 Assemblée Nationale: Débats parlementaires. Journal Officiel de la République française (2006)82: Compte rendu intégral des séances du jeudi 12 octobre 2006 (im Folgenden zitiert als: JO-2006). 62 JO-2011. 63 LOI no 2001-70 du 29 janvier 2001 relative à la reconnaissance du génocide arménien de 1915 (1) in: Journal Officiel de la République Française n°25 vom 30. Januar 2001, S. 1590. 64 Vgl. Rapport Accoyer, S. 223 sowie zur Reform z. B. Sylvain Niquège: Les résolutions parlementaires de l’article 34-1 de la Constitution in: Revue française de droit constitutionnel n°84 (Oktober 2010), S. 865-890.
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halb er als Gesetz zunächst nicht in Kraft treten konnte.65 Nachdem sich der Senat 2001 auf eigene Initiative hin des Textes angenommen und ihn befürwortet hatte, ging er erneut zur Abstimmung ans Parlament und wurde wiederum beschlossen, woraufhin er am 29. Januar 2001 in Kraft trat. 2006 und 2011 sollte dieser Anerkennung die bereits erwähnte strafrechtliche Konsequenz folgen. Zwar zielte diese auf alle von der Republik anerkannten Genozide, de facto wäre diese Regelung indes nur bei der Anzweiflung der Shoah und des Armeniergenozids zum Zuge gekommen, da einzig diese bislang von Frankreich offiziell als Völkermorde bestätigt sind. Die unterschiedlichen Zielsetzungen von 1998 und 2001 einerseits und 2006 und 2011 andererseits spiegeln sich auch im jeweiligen Charakter der Diskussionen wider: Im ersten Fall kann eigentlich nicht von »Debatten« gesprochen werden; vielmehr handelte es sich um konsensgeprägte Aussprachen. Die Befürwortung des Gesetzesvorhabens war einhellig, Gegenpositionen wurden nicht geäußert. Ähnliches gilt für die Bundestagsdebatte von 2005, die mit der 90. Jährung des Genozids zusammenfiel. Initiiert wurde diese durch den Beschlussantrag des christdemokratischen Abgeordneten Christoph Bergner. Darin wird das Schicksal der Armenier am Ende des Osmanischen Reiches thematisiert, eingeordnet und bewertet. Auch die Duldung der Geschehnisse von 1915 durch Deutschland als alliiertem Kriegspartner der Osmanen wird genannt und verurteilt. Im Gegensatz zum französischen Gesetz, das nur den erwähnten einen Satz umfasst, beschreibt der deutsche Text die Geschehnisse ausführlich. Die Vokabeln »Völkermord« bzw. »Genozid« werden dabei bewusst vermieden.66 Aufmerksam zu machen ist zudem auf den unterschiedlichen Umfang der französischen und deutschen Diskussionen. So sprachen im Bundestag lediglich sieben Redner zu Bergners Beschlussvorlage. Zum Vergleich: Bei der Debatte der Assemblée nationale 2001 waren es 27. Die deutlich größere Anzahl von Rednern in den französischen Debatten hat eine stärkere Gliederung der vorgebrachten Argumente notwendig gemacht. Zugleich hat die Vielzahl der Redner eine quantitative Auswertung erst ermöglicht. Dies gilt aufgrund der wenig konträr geführten Diskussionen für die zentralen Motive der französischen Debatten von 1998 und 2001. Dabei haben sich die möglichen Motive aus einer ersten Lektüre ergeben und sind dann nach vorher festgelegten Kategorien – Ziele, Argumente, identitäre Referenzen und Wertappelle – gruppiert worden. Im nächs-
65 Vgl. Gouyoumdjian, Alexandre: Une rupture sur le génocide arménien, in: La Croix vom 01.07.1999. 66 Vgl. Kap. 5.2.3.3.
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ten Schritt ist der Beitrag eines jeden Redners dahingehend überprüft worden, ob er eines dieser Motive enthält. Dies ergab für jedes Motiv eine Gesamtanzahl von Nennungen. Diese wurde sodann noch einmal nach der politischen Zugehörigkeit der Redner unterteilt. Ein Beispiel: 2001 wurde in zehn der insgesamt 26 (den Regierungssprecher nicht eingerechnet) Redebeiträgen an das devoir de mémoire appelliert, davon dreimal durch Redner aus dem rechten politischen Spektrum, viermal aus dem linken und dreimal aus dem Zentrum. Ziel war hierbei, eventuell hervorstechende Differenzen zwischen »Links« und »Rechts« auszumachen. Neben der quantitativen Auswertung ist eine Betrachtung des Debattenverlaufs und die Beleuchtung besonders typischer oder bemerkenswerter Zitate erfolgt. Für 2006 und 2011 stellte sich die Ausgangsbasis anders dar: Zum einen ist in diesen Jahren die Aussprache nicht mehr einmütig geführt worden, was eine quantitative Auswertung erschwert: Die Erwähnung eines Motivs kann dadurch nicht mehr automatisch der Befürwortung der Entscheidungsvorlage zugeordnet werden, so dass die Aussagekraft eines solchen Vorgehens litte. Es wird deshalb vor allem auf einzelne Zitate sowie die Argumentationslinien der Befürworter und Gegner eingegangen. Auch bei der Bundestagsdebatte wird die Aussage einer quantitativen Analyse durch die geringe Anzahl der Redner eingeschränkt. Deshalb wird auch hier die Argumentation der Redner nicht mit der Nennungshäufigkeit einzelner Motive, sondern vielmehr durch einzelne Zitate belegt. 1.4.3.2 Pressekorpus Der der Untersuchung zugrunde liegende Pressekorpus umfasst die ersten Halbjahre 2005 und 2012.67 Diese beiden Zeiträume sind bewusst ausgewählt worden, da sie sich an wichtigen Debatten um die armenischen Anliegen in den beiden Ländern orientieren: im Juni 2005 verabschiedete der Bundestag auf Berg-
67 Berücksichtigt sind alle Artikel im Zeitraum 01.01.2005 – 31.07.2005 bzw. 01.11. 2011 – 30.06.2012, die sich explizit mit dem Thema des Armeniergenozids befassen. Der Halbjahreszeitraum ist um einen bzw. zwei Monate ausgedehnt worden, um alle wesentlichen Äußerungen und Argumente der beiden Perioden einzufangen: Nach der Verabschiedung der Bundestagsresolution im Juni 2005 wurden noch bis in den Juli hinein sowohl in Deutschland wie auch in Frankreich Beiträge zu der Thematik publiziert, die sich explizit auf die Annahme der deutschen Resolution bezogen. 2012 hingegen setzte die Diskussion im November 2011 ein, nachdem die Pläne, im Dezember desselben Jahres ein Gesetz gegen die Leugnung von Genoziden in die Assemblée Nationale einzubringen, publik geworden waren.
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ners Antrag hin die Resolution, mit der die Bundesrepublik sich zur Mitschuld des Deutschen Reiches an der Vertreibung und Vernichtung der Armenier 1915 bekannte und sich dafür aussprach, auf eine Verständigung zwischen Türken und Armeniern in dieser Sache hinzuwirken. Bereits zuvor hatte die Thematik in Deutschland durch den so genannten ›Schulbuchstreit‹ mediale Aufmerksamkeit erregt: Als erstes Bundesland hatte Brandenburg angekündigt, den Völkermord an den Armeniern in die Lehrbücher für den Geschichtsunterricht aufzunehmen. Nachdem der türkische Botschafter interveniert hatte, wurde der Plan zunächst zurückgezogen, was in der Presse Empörung hervorrief. Schließlich bestätigte der brandenburgische Ministerpräsident Platzeck, der Lehrstoff würde wie geplant im Unterricht behandelt. Frankreich hingegen befand sich Anfang 2012 in dem eingangs erwähnten Streit mit der Türkei, weil Nationalversammlung und Senat die Loi Boyer gegen Genozidleugnung verabschiedet hatten. Die heftigen Reaktionen von türkischer Seite sorgten dafür, dass dem Thema national wie international viel Beachtung geschenkt wurde. Durch das besondere Augenmerk, das in den beiden Zeiträumen auf die Thematik gerichtet war, finden sich jeweils eine Vielzahl von Presseartikeln, die das Stimmungsbild in den beiden Ländern gut repräsentieren. Zugleich erlauben sie, herauszuarbeiten, wie das Thema jeweils im Nachbarland wahrgenommen wurde bzw. ob und welche Wechselwirkungen sich feststellen lassen. Für die Untersuchung wurden die großen französischen Tageszeitungen Le Monde, Le Figaro, L’Humanité, Libération und La Croix herangezogen. In Deutschland wurden die relevanten Artikel aus der Frankfurter Allgemeinen Zeitung, der Süddeutschen Zeitung, der Welt, der tageszeitung und der Frankfurter Rundschau analysiert. Ziel war es jeweils, ein Berichterstattungs- und Meinungsbild der großen überregionalen Tageszeitungen aus dem linken und rechten politischen Spektrum zu erhalten. Als ›relevant‹ wurden Beiträge eingestuft, die sich inhaltlich wesentlich mit der Thematik des Genozids an den Armeniern bzw. mit dem politischem Umgang damit befassen. Die Beiträge wurden nach Häufigkeit gegliedert (Gesamtanzahl der Beiträge pro Halbjahr nach Land und Medium) und auf Aussagen von Politikern, Vertretern armenischer Verbände und anderer Personen des öffentlichen Lebens untersucht. Schließlich wurden auch die Standpunkte der jeweiligen Zeitungen betrachtet und knapp zusammengefasst – so, wie sie in Kommentaren und durch die Wiedergabe von Zitaten deutlich wurden. Ergänzt wurde diese Auswahl durch weitere relevante Artikel aus den Jahren ab 1980. Die Beiträge wurden für Deutschland hauptsächlich per Schlagwortsuche in den Zeitungsdatenbanken Lexis Nexis und europress recherchiert, ergänzende
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Beiträge auch über Google. Für Frankreich konnte auf die einschlägigen Dossiers de presse der Bibliothek des Institut d’Études Politiques in Paris zurückgegriffen werden, in denen Beiträge zur ›armenischen Frage‹ in der französischen Presse von Anfang der 1980er bis Mitte der 2000er Jahre archiviert sind.68 1.4.3.3 Leitfadengespräche Um die Motivationen der einzelnen Akteure besser zu verstehen und auch hinterfragen zu können, wurden mit Politikern, Vertretern armenischer Verbände bzw. Aktivisten für armenische Anliegen, Diplomaten und Journalisten Leitfadengespräche geführt. Die Gesprächspartner wurden zum Teil über ihre Nennung in Zeitungsbeiträgen identifiziert; weitere kamen durch das so genannte ›Schneeball-Verfahren‹69 hinzu – Gesprächspartner wurden gebeten, weitere Personen zu nennen, die einen besonderen Bezug zu oder Kenntnisse in dem Thema haben. Ansprechpartner im diplomatischen Dienst wurden über ihre Funktionen in den zuständigen Referaten – Kaukasus respektive Türkei – ausgemacht. In Deutschland wurden hierzu 17 Gespräche geführt, in Frankreich zehn (mit insgesamt 13 Gesprächspartnern 70 ). Insgesamt wurden also 30 Personen befragt.71 Unterschiede in der Anzahl der Gesprächspartner erklären sich zum einen aus der etwas höheren Gesprächsbereitschaft auf deutscher Seite, wo Anfragen insgesamt sehr zügig und wohlwollend bearbeitet wurden. Zudem sollten die Interviews eventuell vorhandene Materialdefizite bei einzelnen Gruppen kompensieren. So wurden in Deutschland mehr ›Experten‹ zum Thema konsultiert als in Frankreich, wo es eine Fülle von Fachpublikationen gibt. Die Befragten fungierten zumeist als Repräsentanten ihrer jeweiligen Gruppe (Vertreter armenischer Anliegen, Politiker, Diplomaten etc.). 72 Um die Atmosphäre bei einem für viele sensiblen Gesprächsthema nicht zusätzlich zu belas-
68 Artikel, die aus dieser Recherche hervorgegangen sind und in dieser Arbeit zitiert werden bzw. auf die referiert wird, sind in Fußnoten sowie im Literaturverzeichnis angeführt. 69 Vgl. dazu auch Ruß, Sabine: Interessenvertretung als Problemkonstruktion. Schwache Interessen im politischen Kräftefeld moderner Demokratie am Beispiel Wohnungsloser in Frankreich und den USA, Baden-Baden: Nomos 2005, S. 23. 70 Bei einem Termin waren drei Mitarbeiter des Quai d’Orsay anwesend und gaben Auskunft. 71 Eine Übersicht der Gesprächspartner, zusammen mit Ort und Datum der Interviews, findet sich im Anhang. 72 Vgl. Mayer, Horst Otto: Interview und schriftliche Befragung. Entwicklung, Durchführung und Auswertung, 5. Auflage, München / Wien: Oldenbourg Verlag 2009, S. 38 f.
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ten, wurde auf Tonmitschnitte verzichtet. Stattdessen wurden während der Gespräche stichpunktartig Notizen gemacht, die im Anschluss an jedes Interview in einer vorher angelegten Tabelle notiert wurden. Im Vergleich zu Transkriptionen ist dies weniger genau, was aber vertretbar schien, da die Interviews nicht als Hauptquelle der Untersuchung dienen, sondern die vorhandenen Daten lediglich ergänzen.73 Einzelne, besonders bedeutsam oder repräsentativ erscheinende Zitate wurden wörtlich notiert und zum Teil auch in der Arbeit verwendet. In den Fußnoten sind die Interviews zum großen Teil durchnumeriert; im Anhang findet sich eine Zuordnung der Zahlen zu den Funktionen der jeweiligen Befragten. Das Vorgehen dient der Anonymisierung – einige Gesprächspartner hatten explizit darum gebeten; aus Konsistenzgründen und auch mit Rücksicht auf sensible Aussagen wurde es auf die meisten Befragten aus Politik und armenischen Verbänden ausgedehnt. Der Sprecher wurde dann explizit genannt, wenn die Person für die Aussage von besonderer Relevanz ist: dies ist insbesondere bei Christoph Bergner und François Rochebloine der Fall, denen als Initiatoren der Bundestagsresolution bzw. des französischen Gesetzes zur Anerkennung des Genozids eine herausragende Position zukommt und die ihre Motivation zur Einbringung der jeweiligen Gesetzestexte im Gespräch erläutert haben. Auch Cem Özdemir ist auf deutscher Seite nicht ein Sprecher unter mehreren, sondern besetzt aufgrund seines Engagements in der Sache eine prominente Position. Ebenfalls namentlich zitiert sind die befragten Experten, deren Einschätzungen zum Thema weniger sensibel sind als diejenigen der direkt politisch Beteiligten. 1.4.3.4 Ergänzende Quellen: Reden, Zeitschriften, Sekundärliteratur Neben historischen Werken zum Völkermord an den Armeniern sind vor allem solche Studien herangezogen worden, die sich mit dem ›kollektiven Gedächtnis‹ der Armenier insbesondere in der Diaspora befassen. Gerade in Frankreich liegt hierzu eine Vielzahl von Monographien und einzelnen Beiträgen vor. Zusätzlich sind Werke in englischer Sprache hinzugezogen worden sowie die Veröffentlichung des ehemaligen Vorsitzenden des Zentralsrats der Armenier in Deutschland, Azat Ordukhanyan, »Armenier in Deutschland«74.
73 Vgl. Lauth, Hans-Joachim, Gert Pickel und Susanne Pickel: Methoden der vergleichenden Politikwissenschaft. Eine Einführung, Wiesbaden: VS Verlag für Sozialwissenschaften / GWV Fachverlage GmbH 2009, S. 173 f., S. 182. 74 Ordukhanyan, Azat: Armenier in Deutschland. Geschichte und Gegenwart; Vortrag am 19. April 2008 in Erfurt, Erfurt: Der Ausländerbeauftragte beim Thüringer Ministerium für Soziales, Familie und Gesundheit, 2. Auflage 2009.
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Per Internet wurden zudem Ansprachen recherchiert, die sich mit dem Gedenken an den Genozid an den Armeniern befassen. Diese wurden in der Regel im Kontext von Gedenkveranstaltungen am 24. April, dem Genozid-Gedenktag der Armenier, vorgetragen und stammen von Politikern, Vertretern armenischer Verbände sowie kirchlichen und gesellschaftlichen Repräsentanten. Zudem wurden mehrere Exemplare der Zeitschriften Nouvelles d’Arménie Magazine (NAM) und Armenisch-Deutsche Korrespondenz (ADK) gesichtet, miteinander verglichen und besonders relevante Artikel zitiert.75 Gerade in Frankreich liegt überdies nicht nur eine Vielzahl historischer Werke zum Völkermord an den Armeniern vor,76 sondern auch eine ganze Reihe von Publikationen, die sich mit dem ›Gedächtnis‹ der Armenier, ihrer Integration in Frankreich und ihren Zielen befassen, vor.77 Darüber hinaus hat die Autorin selbst an zwei Gedenkveranstaltungen in Paris teilgenommen: an derjenigen der französisch-armenischen Jugendorganisationen am 23. April 2013 auf dem Platz des Panthéon sowie der zentralen Gedenkfeier und Demonstration am 24. April 2013 an der Place du Canada. Dort sprachen Ara Toranian und Mourad Papazian, Chefredakteur von Nouvelles d’Arménie Magazine und Vorsitzender des Conseil de coordination des organisations arméniennes de France (CCAF).
75 Dazu wurden insbesondere die Jahrgänge 2005 und spätes 2011 herangezogen, um Eindrücke aus denselben Zeitabschnitten zu gewinnen, die auch für die Presseanalyse verwendet wurden. Hinzu kommen mehrere Exemplare des Jahrgangs 2001, also dem Jahr, in dem Frankreich den Genozid an den Armeniern offiziell anerkannte, sowie für Frankreich der Erstlingsjahrgang der NAM, 1996. 76 Wie z. B. Chaliand, Gérard und Yves Ternon: 1915, le génocide des Arméniens, Brüssel: Éditions Complexe, 5. Auflage 2006 oder Kévorkian, Raymond: The Armenian Genocide. A Complete History, London / New York: I. B. Tauris 2011 (zum Zeitpunkt der Konsultation an der Bibliothèque nationale de France war nur die englische Ausgabe verfügbar). 77 Hervorgehoben sei – neben Beiträgen von Anahide Ter Minassian (Les arméniens de France, in: Les Temps Modernes (1988)504-505-506, S. 189-234) und den Monographien von Annick Lenoir-Achdijan (Appréhender la nation, vivre en diaspora: regards arméniens, Brüssel: Bruylant-Academia 2006) sowie Claude Mouradian und Anouche Kunth (Les Arméniens en France. Du chaos à la reconnaissance, Toulouse: les éditions de l’attribut 2010) vor allem die detailreiche und analytisch hervorragende Studie von Laurence Ritter (La longue marche des Arméniens. Histoire et devenir d’une diaspora, Paris : Robert Laffont 2007).
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Schließlich reiste die Autorin auch zur Jahrestagung 2012 des Zentralrats der Armenier in Deutschland (ZAD), welche am 04.11.2012 in Hamburg stattfand und notierte ihre Eindrücke aus den Vorträgen und dem Umfeld der Veranstaltung.
1.5 AUFBAU DER ARBEIT In Kapitel 2 dieser Arbeit geht es darum, zu erarbeiten, was mit dem Begriff ›Erinnerungslobbying‹ gemeint und wie dieser zu verwenden ist. Dazu erfolgt zunächst eine Auseinandersetzung mit dem Konzept der ›Geschichtspolitik‹; den verschiedenen Termini, mit denen von ihr gesprochen wird, ihren Zielen und Akteuren. Um die Rolle einzelner sozialer Gruppen im Rahmen von Geschichtspolitik zu verstehen, werden die theoretischen Überlegungen zum ›kollektiven Gedächtnis‹ vorgestellt, sodann ›Erinnerungslobbying‹ als Prozess der Verortung des kollektiven Gedächtnisses einer Gruppe im Rahmen des ›offiziellen Gedächtnisses‹ einer Nation und somit als Teil von Geschichtspolitik definiert. Die Verwendung des Begriffs ›Lobbying‹ wird in diesem Zusammenhang kritisch diskutiert. Dabei wird zwischen dem in der Öffentlichkeit verbreiteten Bild der negativen und illegitimen Einflussnahme und dem politikwissenschaftlichen, breit angelegten und neutralen Verständnis von Interessenvertretung unterschieden. Um Letzteres auf die Untersuchung geschichtspolitischer Prozesse übertragen zu können, werden die Arten von Lobbyingaktivitäten, die in der Forschung unterschieden werden, und deren Mittel beschrieben. Zur Übertragung des Lobbyingbegriffs auf Geschichtspolitik sind die spezifischen Mechanismen – Ziele, Argumente, Wirkungen – von Geschichtspolitik zu erläutern. Dazu wird Pierre Bourdieus ›Feldmodell‹ herangezogen. Dieses wird, zusammen mit seinen Untersuchungsinstrumenten, in Kapitel 2.3.1 vorgestellt. Daran schließt sich die Diskussion an, inwiefern ›Geschichtspolitik‹ als eigenständiges ›Feld‹ im Sinne Bourdieus betrachtet und analysiert werden kann. In Kapitel 3 erfolgt die Situierung der Problematik des nationalen ›Erinnerungslobbyings‹ im internationalen Kontext. Hier wird zunächst ein Überblick über die bisherigen Forschungsansätze zur Rolle von Geschichte in den internationalen Beziehungen gegeben. Alsdann werden vor dem Hintergrund der konstruktivistischen Theorie die Wirkmöglichkeiten so genannter ›Erinnerungsgemeinschaften‹ in den internationalen Beziehungen durch den erfolgreichen Einsatz von ›Erinnerungslobbying‹ erörtert.
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Diese Konzepte werden dann anhand der Fallstudie – dem politischen Umgang mit dem Armeniergenozid in Deutschland und Frankreich – überprüft und ausgewertet. Dazu wird zunächst, in Kapitel 4, der historische Sachverhalt dargestellt und dessen Bedeutung für Armenier und Türken dargelegt. Bei der Frage nach geschichtspolitischen Aktivitäten der Armenier in Frankreich und Deutschland wird zunächst auf die Selbstorganisation sowie auf Forderungen, Motive, Argumente und Strategien der armenischen Seite eingegangen. Dabei wird – von der Organisation abgesehen – nicht nach Deutschland und Frankreich gegliedert, da die Positionen starke Parallelen aufweisen. Diese werden in den einzelnen Punkten dann für die beiden Länder nachgezeichnet. Der politischen ›Rezeptionsseite‹ ist das fünfte Kapitel gewidmet. Hier wird zwischen Frankreich und Deutschland unterschieden. Zunächst werden für Frankreich die Einstellungen zu den Anliegen der Armenier auf Seiten von Politik, Medien und Intellektuellen dargelegt. Anschließend wird analysiert, welche der in Kapitel 2.3.2.2 als durchsetzungsrelevant postulierten Faktoren für die Entstehung dieser Positionen offenbar entscheidend gewesen sind. Schließlich werden vor dem Hintergrund der politischen Situation in Frankreich und der (historischen) französischen Identität Erklärungsmuster für die zuvor ausgemachte Gewichtung der Rezeptionsfaktoren angeboten. Für die Analyse der deutschen Positionen wird in Kapitel 5.2 analog zum oben für Frankreich beschriebenen Vorgehen verfahren.78 Auf Basis dieser Studie werden in Kapitel 6 Vergleiche und allgemeine Schlüsse gezogen. Zunächst wird die Gesamtheit der armenischen Aktivitäten zur Anerkennung ihres kollektiven Gedächtnisses aufgegriffen und die Anwendbarkeit des Begriffs ›Erinnerungslobbying‹ diskutiert. Darauf folgt eine zusammenfassende Gewichtung der ›Rezeptionsfaktoren‹, die mithilfe der Konzepte und Termini des ›Feldmodells‹ erklärt wird. Zuletzt wird in Kapitel 7 die Aktivität des ›Erinnerungslobbyings‹ als Faktor in den internationalen Beziehungen betrachtet. Mit Blick auf die Studie werden Einflüsse und Probleme beschrieben, die sich durch die Aktivität der ›Erinnerungsgemeinschaften‹ im bilateralen Bereich bilden können. Das letzte Kapitel fasst die Erkenntnisse der Arbeit zusammen und bietet Ansätze zur Reflexion hinsichtlich der Integration kollektiver Gedächtnisse sozialer Gruppen im Spannungsfeld identitärer Relevanz verschiedener Akteure.
78 Einzig die Position der »Intellektuellen« wurde in Deutschland nicht gesondert untersucht, da es in Deutschland keine mit Frankreich vergleichbare Debatte in intellektuellen Kreisen gegeben hat.
2 Gruppeneinfluss und Geschichtspolitik
2.1 Z UM V ERHÄLTNIS VON G ESCHICHTSPOLITIK KOLLEKTIVEM G EDÄCHTNIS
UND
2.1.1 Charakteristika des kollektiven Gedächtnisses Im Gegensatz zur Psychologie oder Medizin etwa ist mit dem Begriff »Gedächtnis« im kulturwissenschaftlichen Kontext nicht das individuelle, neuronal basierte Erinnerungsvermögen designiert. Vielmehr bezeichnet der Begriff den gemeinschaftlichen Vergangenheitsbezugsrahmen einer Gruppe. Das Gedächtnis umfasst nicht nur die Erinnerung an vergangene Ereignisse, es impliziert auch deren Interpretation für die heutige Identität der Gruppe.1 Durch ihre identitätskonstituierende Wirkung kommt kollektiven Gedächtnissen eine Funktion zu: sie legitimieren die heutige Wirklichkeit und gegenwärtige Ansprüche durch Bezugnahme auf die Vergangenheit.2 Um dies zu ermöglichen, ist zunächst ein Prozess der Auswahl relevanter Vergangenheitsereignisse vonnöten. Gedächtnis beruht nicht allein auf Erinnerung, sondern auf der Kombination erinnerter und vergessener Geschehnisse. Wesentliches Merkmal des Gedächtnisses ist deshalb die Selektivität. Diese Selektivität bringt zum Ausdruck, dass das Gedächtnis kein Element der Vergangenheit ist, sondern seinen Fluchtpunkt in der Gegenwart hat.3 Memoriell aufge1
Vgl. Assmann, Jan : Communicative and Cultural Memory, in: Astrid Erll und Ansgar Nünning [Hrsg.] : A companion to cultural memory studies, Berlin / New York: De Gruyter 2010, S. 109-118, hier S. 113 f. Auf S. 114 hält Assmann fest : »Memory is knowledge with an identity-index […].«
2 3
Vgl. König (2008), S. 114. Vgl. dazu auch Blanchard, Pascal und Isabelle Veyrat-Masson: Introduction – Les guerres de mémoires: un objet d’étude, au carrefour de l’histoire et des processus de médiatisation, in: dies. [Hrsg.] (2008), S. 15-49, hier S. 41: »La mémoire en effet se pen-
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nommen werden nur solche Ereignisse, die im Heute soziale oder politische Relevanz besitzen. Damit ein Ereignis ausreichend wirkungsmächtig ist, um als Gründungsmythos4 für eine soziale Gruppierung zu dienen, muss es einschneidender, wenn nicht gar traumatischer Natur sein. Dass kollektiv erlittene Traumata deshalb ein wesentlicher Begründungsfaktor für Gruppenidentitäten sind, ist deshalb fast schon ein Allgemeinplatz.5 In einer jüngeren Veröffentlichung führt Kühner darüber hinaus die unterschiedliche Bedeutung von Traumata für Individuen und Gruppen aus, indem sie betont, »[...] dass Kollektive selbstverständlich nicht im engeren Sinne ›traumatisiert‹ sind, sondern dass es bei ›kollektiven Traumata‹ darum geht, dass bestimmte massenhafte individuelle traumatische Erfahrungen im Laufe der Zeit auch für das kollektive Gedächtnis eine wichtige Bedeutung bekommen können.«6
Darüber hinaus bedarf es einer regelmäßigen Vergegenwärtigung des konstituierenden Ereignisses in Form von Ritualen (z. B. jährliche Treffen, Pilgerfahrten, Jahres- und Gedenktage etc.).7 Diese Rituale dienen der Vereinheitlichung der Erinnerung in der Gruppe und der individuellen Aneignung des daraus hervorgehenden ›Gedächtnisses‹ durch die Mitglieder. Denn selbst wenn die Mitglieder der Gruppe die identitätsbegründenden Ereignisse selbst miterlebt haben, sind ihre jeweiligen Erinnerungen daran zunächst notwendigerweise heterogen. Aufgrund der Notwendigkeit solcher ›Einübung‹ relevanter Ereignisse und deren
se dans le présent, elle se distingue en cela du souvenir [...].« sowie Kölsch, Julia (2000), S. 32 – Kölsch führt die Funktion des Gedächtnisses hier wie folgt aus: »[...] es regelt das Verhältnis von Erinnerung und Vergessen, wobei Vergessen für neue Anschlüsse ebenso Raum schafft, wie Komplexitätsreduzierung gewährleistet.« 4
Unter »Mythos« wird hier mit Jan Assmann die »zur fundierenden Geschichte verdichtete Vergangenheit« verstanden; vgl. ders.: Das kulturelle Gedächtnis. Schrift, Erinnerung und politische Identität in frühen Hochkulturen, 6. Auflage, München: C. H. Beck 2007, S. 78.
5
Vgl. u.a. Irwin-Zarecka, Iwona: Frames of Remembrance. The Dynamics of Collective Memory, New Brunswick: Transaction Publishers 1994, S. 47.
6
Kühner, Angela: Trauma und kollektives Gedächtnis, Gießen: Psychosozial-Verlag 2008, S. 24.
7
Vgl. Rosoux, (2001), S. 12 f.
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Interpretation bescheinigt Nancy Wood dem kollektiven Gedächtnis einen performativen Charakter.8 Eine solche Performativität kann nur gelingen, wenn sich Personen der Organisation und Steuerung dieses Prozesses annehmen: »Keine Identität ohne Identitäter«9. Badie beschreibt deren Funktion: »Dernier élément, qui est fondamental: cette référence identitaire sera bien entendu captée par des agents spécialisés (nous les appellerons ›entrepreneurs identitaires‹) dont le projet consiste à ›offrir‹ des marques identitaires, des définitions variables de leur contenu, au gré des intérêts politiques qui s’affirment.«10
Kollektives Gedächtnis braucht also Führungspersönlichkeiten, die das Gedächtnis nach außen (gegenüber Nicht-Gruppenmitgliedern) repräsentieren und nach innen orchestrieren, formen und vermitteln. Zusammenfassend kann das Gedächtnis eines Kollektivs im kulturwissenschaftlichen Sinn als durch Führungspersönlichkeiten geformtes und mittels Ritualen durch das Kollektiv verinnerlichtes Narrativ der gemeinsamen Vergangenheit der Gruppe bezeichnet werden, wobei selektiv Aspekte der Vergangenheit ausgewählt werden, die die Gruppenidentität begründen und die Ansprüche der Gruppe in der Gegenwart legitimieren. Zur Erklärung von Konstituierung und Funktion kollektiver Gedächtnisse hat die Wissenschaft eine Fülle von Begriffen geprägt, die zum Teil globale Geltung erlangt haben, zum Teil vor allem den jeweiligen nationalen Forschungskontext prägen. Im Folgenden sollen die wesentlichsten daraus vorgestellt und, wo notwendig, die unterschiedlichen nationalen Forschungstraditionen und -schwerpunkte erläutert werden.
8
Vgl. (auch für die vorangeganen Ausführungen zur Wirkung der Ritualisierung auf die Gruppe) Wood, Nancy: Vectors of Memory. Legacies of Trauma in Postwar Europe, Oxford / New York: Berg 1999, S. 2.
9
Jensen, Uffa: Keine »Identität« ohne Identitäter? Eine Sammelrezension, H-Soz-uKult vom 19.11.2000, unter: http://hsozkult.geschichte.hu-berlin.de/rezension/buecher /2000/jeuf1100.htm, Stand: 12.02.2013.
10 Badie (2012), S. 126.
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2.1.2 Die Evolution des Gedächtnisbegriffs in den Kulturwissenschaften Basierend auf der Einsicht, daß es »nirgends in der Geschichte [...] eine politische Gemeinschaft ohne gemeinsame Erinnerung« 11 gegeben habe, hat bereits Nietzsche »den konstruktiven, identitätssichernden Charakter des Gedächtnisses betont« 12 . Gemeinsames Gedächtnis als identitätsstiftendes Element wurde ab dem 19. Jahrhundert vor allem mit Blick auf die Nation als notwendiges Element betrachtet.13 Die erste Theorie zur Funktion und Prägung kollektiver Gedächtnisse hat in den 1920er Jahren der französische Soziologe Maurice Halbwachs vorgelegt, auf den auch der Begriff des »kollektiven Gedächtnisses« zurückgeht.14 Halbwachs machte die Konzeption für ganze Gesellschaften und darin enthaltene Gruppierungen anwendbar, indem er das kollektive Gedächtnis als »kontinuierliche Denkströmung« 15 definiert, die der Gruppe ein auf Ähnlichkeiten beruhendes Gesamtbild ihrer selbst präsentiert. 16 Halbwachs’ Konzeption vom kollektiven Gedächtnis blieb danach im wissenschaftlichen Diskurs über Jahrzehnte allenfalls latent vorhanden. Publikumswirksam aufgegriffen und auf Disziplinen außerhalb der Soziologie angewendet wurde der Begriff in Frankreich erst durch den Historiker Pierre Nora. Nora veröffentlichte Ende der 1970er Jahre den Beitrag »La mémoire collective« als Teil von Jacques Le Goffs Sammlung neuer Ansätze der Geschichtswissenschaft. 17 Er legte damit das theoretische Fundament für die Publikation seines großen Forschungsprojektes »Les lieux de mémoire«, dessen Ergebnisse von 1984 bis 1992 publiziert wurden. Darin ist Nora der Frage nachgegangen, welche konkreten »Erinnerungsorte« für das französische Nationalbewusstsein prägend sind. Unter »Orte« versteht Nora dabei mate-
11 Wolfrum (1999), S. 17. 12 König, S. 114. 13 Vgl. Erll, Astrid: Kollektives Gedächtnis und Erinnerungskulturen, 2. Auflage, Stuttgart / Weimar: J. B. Metzler 2011, S. 49; Renan, Ernest: Qu’est-ce qu’une nation? Vorlesung an der Sorbonne vom 11. März 1882, abrufbar unter http://fr.wikisource.org/wiki/ Qu%E2%80%99est-ce_qu%E2%80%99une_nation_%3F, Stand: 22.06.2012. 14 Vgl. Halbwachs, Maurice: Das kollektive Gedächtnis, Frankfurt am Main: Fischer Wissenschaft 1985. 15 Ebd., S. 68. 16 Vgl. ebd., S. 75. 17 Nora, Pierre: La mémoire collective, in: Jacques Le Goff [Hrsg.]: La nouvelle histoire, Paris: Retz-CEPL 1978, S. 398-401.
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rielle und immaterielle ›Orte‹, in denen sich das Wesen der französischen Nation konkretisiert.18 Die zunehmende Bedeutung der Erinnerung in der Geschichtswissenschaft spiegelt sich in Le Goffs Werk von 1988 wider, in dem er das Verhältnis von »Geschichte und Gedächtnis« thematisiert.19 Damit hat er einer Debatte vorgegriffen, die seit den 1990er Jahren den französischen Gedächtnisdiskurs dominiert und in der französischen Öffentlichkeit stark rezipiert wird. Diese kreist um die Frage, ob die Deutungshoheit über die Vergangenheit Historikern zukomme bzw. ob demgegenüber eine Pflicht der Nation zur Erinnerung sowie zur angemessenen Repräsentation diverser Opfergruppen bestehe. 20 Zum Ausdruck kommt diese Kontroverse in Benjamin Storas Ausdruck »guerres de mémoires«, die in der nationalen Öffentlichkeit ausgetragen würden.21 Prägend für die deutsche Gedächtnisforschung ist die Anfang der 1990er Jahre von dem Altertumswissenschaftler Jan Assmann eingeführte Unterteilung des ›kollektiven Gedächtnisses‹ in »kommunikatives« und »kulturelles« Gedächtnis.22 Assmann spezifiziert dabei den recht allgemeinen Begriff des kollektiven Gedächtnisses, indem er es in das ungeformte, mündlich basierte kommunikative Gedächtnis und das geformte, institutionalisierte kulturelle Gedächtnis aufteilt. Kennzeichnend für das kommunikative Gedächtnis ist laut Assmann dessen Abhängigkeit von Personen, die bestimmte eigene Erlebnisse der Vergangenheit mündlich weitergeben. Hingegen sei das kulturelle Gedächtnis durch seine Formung und Ritualisierung auf Dauer angelegt, um innerhalb der Gemeinschaft zu überdauern. Die Übergangsphase zwischen beiden nennt Jan Vansina den »floating gap«, laut Niethammer die Bezeichnung für einen »definitorisch nicht präzi-
18 François definiert die Erinnerungsorte als »materielle wie auch um immaterielle, langlebige, Generationen überdauernde Kristallisationspunkte kollektiver ERinnerung, die durch einen Überschuss an symbolischer und emotionaler Dimension gekennzeichnet sind.« (François, Étienne: Ist eine gesamteuropäische Erinnerungskultur vorstellbar? Eine Einleitung, in: Bernd Hennigsen, Hendriette Kliemann-Geisinger, Stefan Troebst [Hrsg.]: Transnationale Erinnerungsorte: Nord- und südeuropäische Perspektiven, Berlin, Berliner Wissenschafts-Verlag 2009, S. 13-30, hier S. 16). 19 Dt.: Le Goff, Jacques: Geschichte und Gedächtnis, Frankfurt / New York: Campus 1992. 20 Vgl. dazu auch Blanchard und Veyrat-Masson (2008), S. 16: »L’opposition entre histoire et mémoire est devenue un des paradigmes majeurs du débat intellectuel actuel.« 21 Stora, Benjamin: Préface: La France et »ses« guerres de mémoires, in: Blanchard / Veyrat-Masson (2008), S. 7-13. 22 Vgl. Assmann, J., (2007), S. 45, S. 50 ff.
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sierbaren Bereich zwischen den Erlebnisgemeinschaften der Miterlebenden und den kulturellen Symbolisierungen der Nachwelt.«23 Die scharfe chronologische Trennung zwischen kommunikativem und kulturellem Gedächtnis hat Aleida Assmann durch die Einführung der Begriffe »Funktions- und Speichergedächtnis« zu überwinden versucht. Dabei ist das Funktionsgedächtnis das ›bewohnte‹, genutzte Gedächtnis einer Gesellschaft, während das Speichergedächtnis als Archiv für die derzeit nicht genutzten, gegebenenfalls nicht benötigten, Gedächtniselemente dient.24 Die aufgezeigten Entwicklungslinien in der französischen und deutschen Forschungspraxis zum kollektiven Gedächtnis, die jeweils eigene nationale Schwerpunkte in der Analyse von Gedenkprozessen bedingt haben,25 korrespondieren in den vergangenen Jahren vermehrt miteinander bzw. weisen Überschneidungen auf. Grund hierfür ist zum einen der internationale Erfolg des Konzepts der ›Erinnerungsorte‹ (ob dessen mittlerweile durchaus von einem konzeptuellen Exportschlager gesprochen werden kann). So ist dieses in Deutschland nicht nur mit großem Interesse aufgenommen worden,26 es ist inzwischen auch von Étienne François und Hagen Schulze für Deutschland analog angewendet worden.27 Darüber hinaus sind in der jüngsten Vergangenheit – auch mit Blick auf die gemeinsame Kultur und zunehmende Integration Europas – vermehrt die jeweils nationalen Erinnerungsorte verglichen worden. Ziel ist dabei oft, als Destillat
23 Niethammer, Lutz: Diesseits des ›Floating Gap‹. Das kollektive Gedächtnis und die Konstruktion von Identität im wissenschaftlichen Diskurs, in: Kristin Platt und Mihran Dabag: Generation und Gedächtnis. Erinnerungen und kollektive Identitäten, Opladen: Leske + Budrich 1995, S. 25-50, hier S. 27. 24 Assmann, Aleida: Funktionsgedächtnis und Speichergedächtnis – Zwei Modi der Erinnerung, in: Platt / Dabag (1995), S. 169-185. 25 Vgl. zur Feststellung der Unterschiedlichkeit von französischem und deutschem Gedächtnisdiskurs auch Hudemann, Rainer: Transnationale Erinnerung. Methoden – Strukturen – Faktoren, in: Majerus, Benoît u. a. [Hrsg]: Dépasser le cadre national des ›lieux de mémoire‹; innovations méthodologiques, approches comparatives, lectures transnationales, Brüssel: Lang 2009, S. 263-274, hier S. 264. 26 Vgl. François, Étienne: Pierre Nora und die »Lieux de mémoire« in: Pierre Nora [Hrsg.]: Erinnerungsorte Frankreichs, München: C. H. Beck 2005, S. 7-14, hier S. 7. 27 François, Étienne und Hagen Schulze [Hrsg.]: Deutsche Erinnerungsorte, München: C. H. Beck 2001.
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›transnationale Erinnerungsorte‹ zu gewinnen, die allen Europäern als identitäre Referenz dienen können.28 Gleichfalls als internationaler ›Gedächtnis-Trend‹ kann die steigende Zahl von Gruppen bezeichnet werden, die ob eines kollektiven traumatischen Erlebnisses in der Vergangenheit für sich einen Opferstatus reklamieren. Diese bereits seit den 1990er Jahren zu beobachtende Entwicklung, die ihre historische Referenz ebenfalls im Holocaust findet29 und nach Jean-Michel Chaumont zu einer »Konkurrenz der Opfer«30 geführt hat, kann in Frankreich als Teil der bereits erwähnten »guerres de mémoire« verortet werden;31 in Deutschland ist sie insbesondere relevant im Zuge der Thematisierung deutscher Opfer des Zweiten Weltkriegs.32
28 Vgl. für die zuletzt große Zahl von Veröffentlichungen zu diesem Thema unter anderem Pakier, Małgorzata und Bo Stråth [Hrsg.]: A European Memory? Contested Histories and Politics of Remembrance, New York (u.a.): Berghahn Books 2010; Matthias Weber et al. [Hrsg.]: Erinnerungsorte in Ostmitteleuropa. Erfahrungen der Vergangenheit und Perspektiven (Schriften des Bundesinstituts für Kultur und Geschichte der Deutschen im östlichen Europa, Band 42), München: Oldenbourg Verlag 2011; Leggewie, Claus: Der Kampf um die europäische Erinnerung. Ein Schlachtfeld wird besichtigt, Bonn: Bundeszentrale für politische Bildung 2011; Buchinger, Kirstin: Europäische Erinnerungsräume, Frankfurt am Main [et al.]: Campus Verlag 2009. Hudemann hebt hervor, dass, trotz häufiger Überschneidungen, transnationale und europäische Erinnerungsorte nicht per se kongruent sind (vgl. Hudemann (2009). S. 264 f. Als bislang schlagendstes Beispiel für einen transnationalen gilt der Holocaust (vgl. Kroh, Jens: Transnationale Erinnerung; der Holocaust im Fokus geschichtspolitischer Initiativen, Frankfurt am Main: Campus 2008; Assmann, Aleida: Auf dem Weg zu einer europäischen Gedächtniskultur? Wiener Vorlesungen, Wien: Picus 2012, S. 30 ff., insb. S. 35) sowie Kühberger, Christoph und Clemens Sedmak [Hrsg.]: Europäische Geschichtskultur - Europäische Geschichtspolitik. Vom Erfinden, Entdecken, Erarbeiten der Bedeutung von Erinnerung für das Verständnis und Selbstverständnis Europas, Innsbruck/Wien: Studienverlag 2009. 29 Vgl. Chaumont (1997), op. cit., ebenfalls Lefebrve und Trigano (2006), S. 13 und Benbassa (2007), S. 231. 30 Chaumont (1997), op. cit. 31 Als Experte für die Geschichte Frankreichs in Algerien prägte Stora den Begriff zunächst für die Debatte um die Erinnerung des Algerienkriegs. Inzwischen ist er indes auf alle Felder der französischen Gedächtnisdebatte ausgeweitet und beinhaltet somit auch Opferkonkurrenzen außerhalb des Algerien-Kontextes. 32 Vgl. Assmann, A. (2006), S. 183; vgl. auch Fache, Thomas: Gegenwartsbewältigungen. Dresdens Gedenken an die alliierten Luftangriffe vor und nach 1989, in: Jürg Ar-
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2.1.3 Geschichtspolitik: Prägung nationaler Erinnerungsräume durch die Politik Im vorhergehenden Kapitel wurde die Bedeutung des kollektiven Gedächtnisses für die nationale Identität sowie seine legitimierende Funktion thematisiert. Beides macht sich die Politik zunutze, wenn sie zur Rechtfertigung gegenwärtiger Aktionen bzw. der aktuellen Herrschaftsstruktur bestimmte Ereignisse der Vergangenheit auswählt und das Gedenken an diese inszeniert. »Geschichtspolitik« ist das »gebräuchlichste Wort zur Bezeichnung der politischen Thematisierung von Geschichte«33. Wie beim kollektiven Gedächtnis selbst ist das Objekt dabei nicht die unabänderliche Vergangenheit, sondern der Umgang mit dieser im Heute: »Geschichtspolitik, so lautet folglich die erste Unterscheidung, zielt nicht auf das vergangene Geschehen selbst, sondern auf die Beeinflussung gegenwärtiger Erzählungen und Interpretationen desselben, auf ›Vergangenheitsnarrative‹, mit denen Geschichte und Geschichten konstruiert werden.«34
Insofern ist Geschichtspolitik die staatlich gelenkte Etablierung eines Funktionsgedächtnisses. Das Phänomen als solches ist nicht neu. Wie Annette Wieviorka bemerkt, zieht die Historiographie gar ihre Faszination aus ihrer politischen Relevanz: »Tout d’abord, les usages de l’histoire ont toujours été politiques, donc publics. C’est d’ailleurs parce qu’ils sont politiques que les enjeux de l’histoire sont aussi passionants. Il est donc naïf de penser qu’il pourrait exister une histoire – un peu comme ›l’art pour l’art‹ – qui serait maintenue à l’extérieur des débats politiques.«35
nold, Dietmar Süß und Malte Thießen [Hrsg.]: Luftkrieg. Erinnerungen in Deutschland und Europa, Göttigen: Wallstein 2009, S. 221-238. 33 Kohlstruck, Michael: Erinnerungspolitik. Kollektive Identität, Neue Ordnung, Diskurshegemonie, in: Birgit Schwelling [Hrsg.]: Politikwissenschaft als Kulturwissenschaft: Theorien, Methoden, Problemstellungen, Wiesbaden: Verlag für Sozialwissenschaften 2004, S. 173-194, hier S. 178. 34 Schmid, Harald (2008), S. 76. 35 Wieviorka, Annette: L’Etat et les mémoires: Où en est-on? Entretien avec Annette Wieviorka du 01.04.2009, in: Regards sur l’actualité no. 350, S. 79-94, hier S. 82.
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Bezüglich der Terminologie herrscht im deutschsprachigen Raum einiger Abgrenzungsbedarf. »Geschichtspolitik« ist geprägt von der Arbeit des Historikers Edgar Wolfrum.36 Dieser entwickelte »die Konzeption von Geschichtspolitik als Handlungs- und Politikfeld, auf dem meinungsprägende Eliten innergesellschaftlich um Deutungsmacht mittels Geschichte ringen.«37 Geschichtspolitik ist mithin diskursiv angelegt.38 Davon abgegrenzt ist der Terminus »Vergangenheitspolitik«, mit welchem Norbert Frei die Aufarbeitung der Vergangenheit inklusive des juristischen Umgangs beschreibt. Die von ihm angeführten Beispiele für Vergangenheitspolitik in Deutschland betreffen daher die juristisch-politische ›Bewältigung‹ des ›Dritten Reichs‹ in der BRD.39 Schließlich finden parallel die Bezeichnungen »Erinnerungspolitik« 40 , vereinzelt auch »Gedächtnispolitik« 41 Verwendung, wobei inhaltlich die Grenzen zur »Geschichtspolitik« verschwimmen. 42 Schmid sieht die Problematik des Begriffs »Erinnerungspolitik« darin,
36 Vgl. Wolfrum, Edgar: Geschichtspolitik in der Bundesrepublik Deutschland. Der Weg zur bundesrepublikanischen Erinnerung 1948 – 1990, Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft 1999. 37 Heinrich, Horst-August: Geschichtspolitische Akteure im Umgang mit der Stasi, in: Fröhlich / Heinrich (2004), S. 9-32, hier S. 30. 38 Vgl. Meyer, Erik: Memory and Politics, in: Astrid Erll und Ansgar Nünning [Hrsg.]: A companion to cultural memory studies, Berlin / New York: De Gruyter 2010, S. 173-180, hier S. 176. 39 Vgl. v. a. Frei, Norbert: Vergangenheitspolitik. Die Anfänge der Bundesrepublik und die NS-Vergangenheit, München: Beck 1996; Frei, Norbert, außerdem: 1945 und wir. Das Dritte Reich im Bewusstsein der Deutschen, München: Deutscher TaschenbuchVerlag 2009. Schmid (2008, S. 77) kritisiert die Verwendung von »Vergangenheitspolitik« als »begriffslogisch absurd«, da die Vergangenheit als Gesamtheit des Geschehenen sich der politischen Beeinflussung entziehe. »Geschichte« hingegen, der das selektive Element des Historiographischen innewohne, könne sehr wohl Gegenstand von Politik sein. Dem ist nur insofern zuzustimmen, als es sich um die politische Repräsentation und Verwendung von Geschichte handelt. Frei hingegen analysiert in seinen Studien ein anderes Phänomen, für das eine terminologische Abgrenzung notwendig war. 40 Vgl. Reichel, Peter: Politik mit der Erinnerung. Gedächtnisorte im Streit um die nationalsozialistische Vergangenheit, Frankfurt am Main: Fischer Taschenbuch 1999; der Begriff findet sich auch bei Lindenberger / Blaive (2012), S. 25 sowie bei Kohlstruck (2004), a.a.O. 41 König (2008), S. 116. 42 Vgl. Schwelling (2008), S. 102.
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dass dieser auf die persönliche Erinnerung abstelle, welche sich der politischen Beeinflussung entziehe.43 Auch wenn diese Behauptung mit Blick auf Welzers Studien zum Verhältnis von kommunikativem Gedächtnis und persönlicher Erinnerung in Zweifel gezogen werden kann,44 ist »Geschichtspolitik« als »gegenwärtige öffentliche Repräsentation einer kollektiv relevanten Vergangenheit zu politischen Zwecken«45 intuitiver und hat sich vor allem in Forschung wie öffentlichem Diskurs bislang durchgesetzt. Zwar könnte »Gedächtnispolitik« aufgrund des inhärenten Verweises auf den memoriell-rituellen Charakter dem Bezeichneten inhaltlich am nächsten kommen und würde zudem die französischdeutsche Terminologie bezüglich des Gegenstands homogenisieren. Mit Rücksicht auf die Gebräuchlichkeit des Begriffs soll hier aber der »Geschichtspolitik« der Vorzug gegeben werden. In Frankreich wird analog zur deutschen »Geschichtspolitik« der Begriff »politiques du passé«46 verwendet, der jedoch zunehmend von den Termini »politiques mémorielles«47 oder auch »politiques publiques de la mémoire«48 überlagert wird. Dass diese noch jünger sind als ihre deutschen Entsprechungen und auch hier eine einheitliche Definition fehlt, notiert Michel: »L’existence de politiques mémorielles précède leur reconnaissance institutionnelle et leur objectivation scientifique. L’expression est nouvelle, encore faiblement canonisée en science politique [...].«49 Als diskursiv begründetes Phänomen erwächst Geschichtspolitik nicht aus einer beispielsweise von einer Regierung oder Administration unilateral getroffenen Entscheidung, sondern entsteht aus dem Widerstreit unterschiedlicher Kräfte, welche, basierend auf ihren aktuellen Interessen, in einer pluralistischen Öffentlichkeit um Deutungshoheit über geschichtliche Ereignisse streiten.50 Eine Analyse von Geschichtspolitik kann deshalb einerseits die Diskurse, in denen Geschichtsbilder verhandelt werden und deren Resultate betrachten. Sie kann in-
43 Vgl. Schmid (2008), S. 78. 44 Vgl. Welzer, Harald: Das kommunikative Gedächtnis. Eine Theorie der Erinnerung, München: C. H. Beck, 2. Auflage 2008, S. 18 ff. 45 Schmid (2008), a.a.O. 46 Andrieu, Claire, Marie-Claire Lavabre und Danielle Tartakowsky [Hrsg.]: Politiques du passé. Usages politiques du passé dans la France contemporaine, Aix-en-Provence: Publications de l’Université de Provence 2006. 47 So durchgängig verwendet bei Michel (2010). 48 Gensburger (2010), op. cit. 49 Michel (2010), S. 2. 50 Vgl. ebd.
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des auch auf die administrativen Entstehungsbedingungen dieser Diskurse und ihrer Ergebnisse zielen: »Mit dem Stichwort ›Geschichtspolitik‹ konzentrieren sich die Politologen auf eine Dimension, die in den Geisteswissenschaften notorisch vernachlässig wird: Es geht ihnen um Fragen der Organisation, Finanzierung, Verwaltung, Bürokratie und vor allem um die politischen Entscheidungsprozesse, ›die Gedächtnisstrukturen und Erinnerungsleistungen mitbestimmten [...]‹.«51
Dabei ist ein Verständnis der Akteure in diesem Prozess, ihrer Motivationen und Interessen sowie ihrer (versuchten) Einflussnahmen notwendig, um das Zustandekommen und die Zielrichtung der beteiligten Narrative nachzuvollziehen. Welche Mitwirkenden dabei in Frage kommen und welche Instrumente diese einsetzen, wird daher im folgenden Unterpunkt erläutert. 2.1.4 Akteure – Geschichtspolitik als umkämpftes Gebiet sozialer Gruppen Im Einleitungsteil seiner Studie zur Geschichtspolitik in Deutschland nennt Wolfrum bereits ihre Akteure: dabei habe es sich um »politische Eliten« gehandelt, die sich » – in einem Wechselspiel mit Publizistik, Wissenschaft und öffentlicher Meinung – verschiedener Erinnerungsstrategien, umstrittener Inszenierungen, integrierender und desintegrierender Rituale und polarisierender Diskurse bedienten.«52 »Politische Eliten« ist ein weitläufiger Begriff. Wie Kroh darlegt, umfasst er »neben Politikern vor allem Mitarbeiter und Referenten aus Parlamenten, Ministerien oder anderen politischen Organisationen.«53 Aufbauend auf Wolfrum ist in der Literatur der Personenkreis, dem ein Einfluss auf Geschichtspolitik zugeschrieben wird, zunächst um soziale Eliten erweitert worden. So zählt Meyer »journalists, intellectuals and scholars« 54 zu diesem Kreis. Ausschlaggebend hierbei sei, dass diese Individuen und Gruppen einen »privileged access to the political public sphere«55 besäßen. Der Verweis auf die öffentliche Sphäre impliziert zugleich die Erinnerung an das diskursive Element der Geschichtspolitik: Sie mag von politischen Eliten geprägt und ihre Durchsetzung von ihnen veran-
51 Assmann, A. (2006), S. 274. 52 Wolfrum (1999), S. 2. 53 Kroh (2008), S. 47 f. 54 Meyer (2010), S. 176. 55 Ebd.
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lasst sein – nichtsdestoweniger konstruiert sie sich im öffentlichen Raum. Darauf bezieht sich auch Michel, wenn er den Akteursbegriff im Kontext der Geschichtspolitik noch weiter fasst: »La réduction méthodologique des politiques mémorielles aux interventions qui émanent d’acteurs publics, disposant d’une légitimité propre et du monopole de certains instruments coercitifs, n’implique en rien, bien au contraire, de fermer les yeux sur le rôle des acteurs sociaux dans la formation de ces politiques publiques.«56
Als solche zählt er »associations, les partis politiques, les Églises, voire les familles« auf. Folgerichtig müsse eine Analyse von Geschichtspolitik nicht nur auf die »quasi-öffentlichen« Akteure abstellen – die Repräsentanten der Politik; ebenso wenig auf allein auf die sozialen Gruppierungen, die einen Platz in der nationalen Erinnerung beanspruchten, sondern vor allem auf die Interaktionen zwischen den beiden. Geschichtspolitik ist also keine Einbahnstraße, sondern ensteht im Austausch von Politik und öffentlichen Akteuren. Inwieweit der Einfluss letzterer mit den Mitteln der Interessenvertretungs- und Lobbyingforschung untersucht werden kann, wird im Folgenden erörtert.
2.2 G RUPPENGEDÄCHTNISSE OFFIZIALISIEREN – ›E RINNERUNGSLOBBYING ‹? 2.2.1
›Lobbying‹ als zweischneidiger Begriff
2.2.1.1 Die Wahrnehmung von »Lobbying« in Öffentlichkeit und Politik Die Konnotation des Lobbying-Begriffs im öffentlichen Raum variiert, abhängig vom kulturellen Kontext, stark. Im anglophonen Raum, wo sich der Begriff herausgebildet hat, verfügt die – auch professionelle – Einflussnahme auf politische Entscheidungen über eine lange Tradition und gilt als Teil des demokratischen Prozesses.57
56 Michel (2010), S. 6. 57 Vgl. Hassenteufel, Patrick: Sociologie politique: l’action publique, Paris: Armand Colin 2008, S. 171; ebenso Beaufort, Viviane de: Lobbying, portraits croisés. Pour en finir avec les idées reçues, Paris: Éditions Autrement 2008, S. 9 und 209; zur Entwicklung der Wahrnehmung von Interessengruppen in der Politik in den USA vgl. v. a. Pe-
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Hingegen ist »Lobbying« in Deutschland wie in Frankreich überwiegend negativ belegt. 58 Dass das Wort »presque obscène«59 anmutet, wie Debouzy behauptet, erklärt er für Frankreich mit dem vorherrschenden traditionellen Verständnis der Rolle des Staates. Danach sollten staatliche Entscheidungen und Gesetze Ausdruck der volonté générale sein und dem Allgemeinwohl dienen. Die Beeinflussung durch Partikularinteressen erscheint in diesem Kontext als illegitime Störung.60 In Deutschland haben insbesondere Skandale in der Vergangenheit, wie die fast schon sprichwörtliche Einflussnahme des Waffenlobbyisten Schreiber, zu einem engen Verständnis von Lobbying geführt, das dieses hauptsächlich an finanzielle Ressourcen gekoppelt sieht. Damit ist Lobbying in der öffentlichen Wahrnehmung in anrüchige Nähe zur Korruption gerückt.61
tracca, Mark P.: The Rediscovery of Interest Group Politics in: ders. [Hrsg.]: The Politics of Interest, Boulder/San Francisco/Oxford: Westview Press 1992, S. 3-31, hier S. 5 ff.; dagegen sieht Kollman »deeply negative sentiments among the general population.« (Kollman, Ken: Outside Lobbying. Public Opinion and interest group strategies, Princeton: Princeton University Press 1998, S. 5, vgl. ebenso S. 78.) Diese seien von dem Verdacht bestimmt, dass durch Interessenvertretung, oft beeinflusst durch große finanzielle Mittel, wichtige Fragen der Politik entschieden würden. 58 Vgl. Kleinfeld, Ralf, Ulrich Willems und Annette Zimmer: Lobbyismus und Verbändeforschung: Eine Einleitung, in: dies. [Hrsg.]: Lobbying: Strukturen, Akteure, Strategien, Wiesbaden: VS Verlag für Sozialwissenschaften 2009, S. 7-35, hier S. 10; Wehrmann, Iris: Lobbying in Deutschland – Begriff und Trends, in: Kleinfeld et. al. [Hrsg.], 2009, S. 27-64, hier S. 47; Beaufort (2008), S. 7 und 9; Willems und von Winter sprechen gar von einer »populär-populistischen Verbändeaversion« (Winter, Thomas von und Ulrich Willems: Interessenverbände als intermediäre Organisationen. Zum Wandel ihrer Strukturen, Funktionen, Strategien und Effekte in einer veränderten Umwelt, in: dies. [Hrsg.]: Interessenverbände in Deutschland, Wiesbaden: VS Verlag für Sozialwissenschaften 2007, S. 13-50, hier S. 15). 59 Debouzy, Olivier: Lobbying: The French Way, in: Institut français des relations internationales (IFRI) [Hrsg.]: les notes de l’ifri n°54: Entreprises et politique étrangère. Le lobbying à Paris, Washington et Bruxelles, Paris: Ifri 2003, S. 5-23, hier S. 6. 60 Vgl. Debouzy (2003), S. 13; ebenso die Ausführungen von Jansen: Jansen, Peter: Frankreich, in: Werner Reutter und Peter Rütters [Hrsg.]: Verbände und Verbandssysteme in Westeuropa, Opladen: Leske und Budrich 2001, S. 125-150, hier S. 125 und S. 127 ff. sowie von Guillaume Courty in Beaufort (2008), S. 157 ff. 61 Leif, Thomas und Rudolf Speth: Anatomie des Lobbyismus. Einführung in eine unbekannte Sphäre der Macht, in: dies. [Hrsg.]: Die stille Macht. Lobbyismus in Deutschland, Wiesbaden: Westdeutscher Verlag 2003, S. 7-32, hier S. 9.
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Bei den Politikern selbst scheint die Rolle auch der berufsmäßigen Lobbyisten als Informationsträger inzwischen anerkannt zu sein. Die stetig steigende Komplexität der politischen Problemstellungen macht die Heranziehung des und den Austausch mit dem Lobbyisten als Träger von Expertenwissen wünschenswert.62 Lobbying wird da zum »Tauschgeschäft«63, wo seine Vertreter für Einflussoptionen auf politische Entscheidungen deren Qualität durch die ihnen eigene Expertise zumindest potentiell positiv beeinflussen. Der Notwendigkeit dieses Austauschs entspricht die hohe Zahl von Lobbyisten bzw. Interessenvertretungen zum Beispiel in Berlin und Brüssel: Etwa 2.100 Lobbyisten sind derzeit beim Bundestag registriert und versuchen, ihren Einfluss dort geltend zu machen. Die Gesamtzahl der Lobbyisten in Berlin wird auf 5.000 geschätzt. In Brüssel liegt ihre Zahl je nach Schätzung und Kriterien bei 15.000 bis 30.000.64 Bedingt ist der große Zuwachs in den vergangenen zwanzig Jahren durch den Umzug der Bundesorgane und -regierung nach Berlin einerseits bzw. durch die Vollendung des europäischen Binnenmarktes durch den Vertrag von Maastricht andererseits. Beides hat zu einer Konzentration von Entscheidungsmacht in Berlin bzw. Brüssel geführt und die dortige Ansiedlung einer Vielzahl professioneller Einflussnehmer befördert.65 Während die Politiker aus der Bereitstellung von Wissen durch Interessenvertreter wie beschrieben einen Vorteil ziehen können, soll möglichen negativen Effekten durch Verhaltens- und Transparenzregeln vorgebeugt werden.66 Hier zeigt
62 Vgl. dazu die ähnlich lautenden Aussagen in: Deutscher Bundestag: Drucksache 16/8453 vom 07.03.2008: »Einführung eines verpflichtenden Lobbyistenregisters« Antrag der Abgeordneten Wolfgang Neskovic, Ulla Jelpke, Sevim Dagdelen, Jan Korte, Ulla Lötzer, Kersten Naumann, Petra Pau und der Fraktion DIE LINKE. 63 Der Begriff »Tauschgeschäft« findet sich in diesem Kontext bei einer Reihe von Autoren; siehe beispielhaft Wehrmann (2009), S. 39. 64 Für den Bundestag: Ständig aktualisierte Fassung der öffentlichen Liste über die Registrierung von Verbänden und deren Vertretern unter http://www.bundestag.de/ dokumente/lobbyliste/lobbylisteaktuell.pdf, Stand: 08.02.2013, für Berlin: http:// www.lobbycontrol.de/schwerpunkt/lobbyplanet-berlin/, Stand: 12.02.2013, für Brüssel: Koch-Mehrin, Silvana: Lobbyismus zwischen Brüssel und Berlin – ein Sonderfall der Politikberatung, in: Steffen Dagger und Michael Kambeck [Hrsg.]: Politikberatung und Lobbying in Brüssel, VS Verlag für Sozialwissenschaften: Wiesbaden 2007, S. 32-41, hier S. 34. 65 Vgl. Wehrmann (2009), S. 36. 66 Vgl. Piepenbrink, Johannes: Editorial, in: Aus Politik und Zeitgeschichte 19/2010 vom 10.05.3020, S. 2.
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sich, dass die Vorsicht vor allem dem Einsatz finanzieller Ressourcen gilt. Beispielsweise verpflichtet der Internal Revenue Service (IRS) in Washington tätige Lobbyisten, ihre zur Durchsetzung ihrer Anliegen getätigten Ausgaben jährlich zu veröffentlichen. Hauptsächlich ehrenamtliche Betätigungen erscheinen damit als weniger bedenklich bzw. sind keiner offiziellen Messgröße unter-worfen.67 2.2.1.2 Das Verständnis von »Lobbying« aus wissenschaftlicher Sicht Gegenüber jenen Sichtweisen, die einseitig auf die materiellen Ressourcen als Charakteristikum des Lobbying abstellen und die befürchtete Manipulation der Politik kritisieren, herrscht in Politikwissenschaft und Politischer Soziologie 68 ein umfassenderer und neutraler Lobbyingbegriff vor. Lobbying wird darin als legitime Interessenvertretung betrachtet, die zum demokratischen Prozess in einer pluralistischen Gesellschaft gehört.69 In diesem Zusammenhang ist es als Phänomen zunächst im Kontext der PluralismusForschung beleuchtet worden. Vor dem Hintergrund der politischen Einbindung von – teils staatlich organisierten bzw. beeinflussten – Verbänden ist die Interessenvertretung in korporatistische Theorien integriert worden. In jüngerer Zeit erfolgt die Betrachtung der Thematik aufgrund der Erkenntnis, dass die Interessen und die sie repräsentierenden Akteure immer vielfältiger werden,70 wieder vermehrt vor dem Hintergrund pluralistischer Ansätze.71
67 Vgl. Paul, David M. and Rachel Anderson Paul: Ethnic lobbies and US foreign policy, Boulder, Colorado [et al.]: Lynne Rienner Publishers 2008, S. 60. 68 Die Auseinandersetzung mit Interessenvertretung und Lobbying im politischen Prozess findet klassischerweise und hauptsächlich in den Disziplinen Politikwissenschaft und Politische Soziologie statt, denen auch das Gros der in dieser Arbeit zitierten Werke entnommen ist. Dass aufgrund der Bedeutung von Kommunikationsinstrumenten für das Lobbying (vgl. hierzu Wehrmann (2009), S. 46) oder von Governmental Relations für Unternehmen Betrachtungen ebenfalls z. B. auf dem Gebiet der Kommunikationswissenschaft und Betriebswirtschaftslehre erfolgen (können), steht dem nicht entgegen. 69 Vgl. Reutter, Werner: Einleitung. Korporatismus, Pluralismus und Demokratie, in: ders./ Rütters (2001), S. 9-30, hier S. 9; außerdem Kleinfeld et al. (2009), S. 7; außerdem S. 11: »Von der Politikwissenschaft werden die [...] Befürchtungen in Richtung Interessenvertretung und speziell Lobbying nicht geteilt.«; ähnlich bei Willems und von Winter (2007), S. 41, außerdem Kollman (1998), S. 6. 70 Vgl. Speth, Rudolf: Das Bezugssystem Politik – Lobby – Öffentlichkeit, in: Aus Politik und Zeitgeschichte 19/2010 vom 10.05.3020, S. 9-15, hier S. 9; Sebaldt, Martin
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Die Definitionen von Lobbying betonen – neben Überschneidungen im Kern – unterschiedliche Schwerpunkte. Gemeinsam ist den verschiedenen Definitionen das beschriebene Ziel des Lobbyings: dieses liegt in der Beeinflussung von »Politikergebnissen«72 (Regierungsentscheidungen bzw. Gesetzgebung oder anderen staatlichen Direktiven) im eigenen Interesse.73 Ein noch weiter angelegtes Ziel nennt Wehrmann mit der »Prägung von Inhalten«74, die letztlich jedwedem Lobbying zugrunde liege. Geklärt werden muss zunächst, ob »Lobbying« nur direkte Einflussversuche (z. B. durch Kontakte zu Politikern) bezeichnet oder auch indirekte Maßnahmen (z. B. über mediale Positionierung) einschließt. Die Definition von Hassenteufel, der unter Lobbying nur die direkte Kontaktaufnahme zu Entscheidern in Politik und Administration versteht und alle sonstigen Wege, politischen Druck aufzubauen, gesondert auflistet, 75 scheint hier zu kurz gegriffen. Zwar sagen auch Kleinfeld et al., dass Lobbying »die direkten und in der Regel informellen Versuche von Vertretern gesellschaftlicher Interessen, auf die Akteure des politischen Entscheidungsprozesses konkret einzuwirken«76, bezeichnet. Indes lassen sie nicht außer Acht, dass es »gleichwohl eingebettet ist in eine umfassendere Strategie des öffentlichen Auftritts sowie der Kontaktpflege zwischen Politik und gesellschaftlichen Gruppen und Organisationen [...]«77. Für dieses extensive Verständnis spricht auch, dass eine Trennung zwischen Interessenvertretung und
und Alexander Straßner: Verbände in der Bundesrepublik Deutschland. Eine Einführung, Wiesbaden: VS Verlag für Sozialwissenschaften 2004, S. 306. 71 Vgl. Sebaldt und Straßner (2004), S. 306 f. – Sebaldt spricht hier von einem »Übergang zu einem Zeitalter des organisierten Pluralismus«; ausführlich dargelegt bereits in Sebaldt, Martin: Organisierter Pluralismus. Kräftefeld, Selbstverständnis und politische Arbeit deutscher Interessengruppen, Opladen: Westdeutscher Verlag 1997. 72 Kleinfeld et al (2009)., S. 10; ähnlich Leif und Speth (2003), S. 9. 73 Vgl. Kleinfeld et al., a.a.O.; Wehrmann (2009), S. 38 f.; Drucksache 16/8453 vom 07.03.2008; Zetter, Lionel: Lobbying: the art of political persuasion, Petersfield (Hampshire): Harriman House, 2. Auflage 2011, S. 3. 74 Wehrmann (2009), S. 39. 75 Vgl. Hassenteufel (2008), S. 178 ff. 76 Kleinfeld et al. (2009), S. 10; vgl. ähnlich die bereits genannte Drucksache 16/8453 vom 07.03.2008. 77 Kleinfeld et al. (2009), S. 10.
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Lobbying in der Literatur mehrheitlich abgelehnt wird und die Begriffe folglich synonym verwendet werden können.78 Schließlich variieren die Positionen zur Gemeinwohlorientierung des Lobbying: Speth scheint die negative öffentliche Wahrnehmung von Lobbyingaktivitäten, zu reflektieren, wenn er feststellt: »Das Lobbying kennzeichnet das Bestreben, ›ein möglichst großes Stück vom Kuchen‹ zu bekommen, ohne selbst zur Lösung übergreifender Fragen beizutragen.«79 Demgegenüber steht Takes Beobachtung, dass Nichtregierungsorganisationen (NGOs) sich von Protestzusammenschlüssen entwickelt hätten hin zu Partnern, die ihre Lobbyingmacht nutzten, um zur Problemlösung beizutragen.80 Zur Vereinbarkeit beider Aussagen kann Hassenteufels differenzierte Betrachtung von Interessen beitragen. Demnach teilen sich die Interessen, die von den Akteuren im öffentlichen Raum verfolgt werden, in materielle sowie Macht- und Identitätsinteressen. 81 Eine derartige Näherung löst den Widerspruch zwischen dem NGO-Beispiel und der Annahme einer ausschließlichen Förderung des Eigeninteresses, die Speths »Kuchenmetapher« zugrunde liegt, insofern auf, als dass NGOs nicht nur einen materiellen, d. h. einen Gewinn in der Sache zu erzielen haben, sondern auch über ein langfristiges Interesse am Machterhalt verfügen, dessen Erfüllung über gesteigerte Problemlösungsorientierung begünstigt wird.82
78 Vgl. Wehrmann (2009), S. 39 f.; Paul & Paul (2008), S. 60 sowie Kleinfeld et al. (2009), S. 12: »Dass der Begriff Lobbyismus in der politikwissenschaftlichen Interessengruppen- und Verbändeforschung bislang eher selten verwendet wurde, hat vor allem damit zu tun, dass in der Politischen Soziologie der Begriff des Lobbyismus lange Zeit gerade wegen der in politischer Öffentlichkeit wie politischem Journalismus mit ihm assoziierten negativen Sach- und Werturteile als Bezeichnung des Sachverhalts vermieden wurde.« Auch Kollman (1998, S.3) beschränkt den Begriff nicht auf direkte Kontakte, vielmehr differenziert er zwei verschiedene Strategien, die er gleichsam beide unter den »Lobbying«-Begriff fasst. 79 Speth (2010), S. 11. 80 Vgl. Take, Ingo: Zwischen Lobbyismus und Aktivismus in: Ralf Kleinfeld, Annette Zimmer und Ulrich Willems [Hrsg.]: Lobbying: Strukturen, Akteure, Strategien, Wiesbaden: VS Verlag für Sozialwissenschaften 2009 , S. 196-216, hier S. 209 f. 81 Vgl. Hassenteufel (2008), S. 116; vgl. zum Begriff des Interesses auch Winter, Thomas von: Sozialpolitische Interessen. Konstituierung, politische Repräsentation und Beteiligung an Entscheidungsprozessen, Baden-Baden: Nomos Verlagsgesellschaft 1997, S. 29 ff. 82 Eine solche Auslegung kritisieren Willems und von Winter (2007), S. 20: »Solche Erklärungsstrategien sind allerdings kaum noch mit dem subjektiven Handlungssinn der
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Doch auch wenn dadurch das Bild von Lobbyingakteuren gestützt wird, die ausschließlich partikulare Interessen zu fördern suchen – eine Gefahr für das Gemeinwohl ergibt sich dadurch laut Kleinfeld et al. nicht automatisch: »Vielmehr liegt der Reiz pluralistischer Ordnungsvorstellungen gerade darin, dass sich ein solches Gemeinwohl erst ex-post aus der Konkurrenz um Einfluss ergibt, wobei organisierte Interessen das Recht haben, die ihnen zur Verfügung stehenden Ressourcen in die Waagschale zu werfen, wohingegen die politisch-staatlichen Adressaten gesellschaftlicher Einflussstrategien ihrerseits die Möglichkeit haben, durch Verfahrensspielregeln ein Minimum an Fairness und Transparenz dieses Wettbewerbs um Einfluss zu gewährleisten.«83
Auf Basis der vorhergehenden Ausführungen wird für die vorliegende Arbeit ein Lobbyingbegriff zugrunde gelegt, der Lobbying als direkte Interessenvertretung unterschiedlicher sozialer Akteure versteht, die in der Regel in eine Strategie eingebettet sind, welche auch indirekte Maßnahmen einschließt, um politische Entscheidungen im Sinne des Lobbying betreibenden Akteurs zu beeinflussen. Dessen Ziele müssen nicht notwendigerweise am Gemeinwohl orientiert sein; gleichwohl leistet deren Artikulation im Rahmen einer pluralistischen Gesellschaftsauffassung einen wichtigen Beitrag zur politischen Konsensfindung. 2.2.2 Zu einem neutralen Verständnis von ›Erinnerungslobbying‹ Mit Blick auf die für die vorliegende Arbeit relevanten Fragestellungen sollen im Folgenden einige Forschungsaspekte und Erkenntnisse der Interessenvertretung vorgestellt werden. 2.2.2.1 Klassifizierung von Lobbyingaktivitäten Einer Kategorisierung des Lobbying wird sich in der Literatur von verschiedenen Seiten genähert. Wehrmann geht vn den angestrebten Zielen des Lobbying aus, wenn sie eine Unterteilung in Beschaffungs-Lobbyismus und GesetzesLobbyismus vornimmt: »Der Beschaffungs-Lobbyismus befasst sich vorwiegend mit der Akquirierung öffentlicher Aufträge. [...] Beim Gesetzes-Lobbyismus da-
Akteure zu vereinbaren.« Indes scheint es berechtigt, festzuhalten, dass den vordergründigen Zielen einiger Akteure auch sekundäre strukturelle Motivationen zugrunde liegen können. 83 Kleinfeld et al. (2009), S. 7.
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gegen wird versucht, Einfluss auf die Ausgestaltung rechtlicher Rahmenbedingungen zu nehmen.«84 Beauforts Typisierung ist mit derjenigen Wehrmanns insofern kongruent, als auch sie von Lobbying financier ou de projet und Lobbying normatif ou décisionnel spricht. Allerdings fügt sie diesen noch das staatlich betriebene Lobbying diplomatique hinzu, das Lobbying juridique (beschränkt auf die Marktregulierung in der Europäischen Gemeinschaft) sowie das Lobbying de communication, mit dem sie öffentliche Kampagnen bezeichnet.85 Am letzten Begriff wird deutlich, dass diese Abgrenzungen nicht überschneidungsfrei sind. So können selbstverständlich auch Kampagnen strategischer Teil eines Gesetzes-Lobbyismus sein. Beaufort sieht diese Unschärfe, möchte aber mit dieser zusätzlichen Kategorie operieren, mit der (nicht sehr überzeugenden) Begründung, dass eine ausschließlich kampagnenbasierte Strategie nicht auf die »klassischen« Lobbyinginstrumente rekurriere und somit einen eigenen Ansatz darstelle.86 Eine für die deutsche Forschungslandschaft der vergangenen zwanzig Jahre grundlegende Herangehensweise differenziert die Interessenvertretung nach den Ressourcen, die den Akteuren zur Verfügung stehen. Ressourcen sind dabei vor allem finanzieller Natur, können aber auch im Organisationsgrad des Interesses und der Vernetzung seiner Repräsentanten bestehen. Die resultierenden Kategorien werden als starke und schwache Interessen bezeichnet.87 Clement et al. fassen dies in der folgenden Definition zusammen: »Als ›schwach‹ werden die Interessen von Akteuren bezeichnet, die über wenige Ressourcen verfügen und aus strukturellen Gründen politisch schwer organisierbar sind.«88
84 Wehrmann (2009), S. 38. 85 Vgl. Beaufort (2008), S. 10. 86 Vgl. ebd. 87 Vgl. dazu insb. Winter, Thomas von und Ulrich Willems: Die politische Repräsentation schwacher Interessen: Anmerkungen zum Stand und zu den Perspektiven der Forschung, in: dies. [Hrsg.]: Politische Repräsentation schwacher Interessen, Opladen: Leske und Budrich 2000, S. 9-38 sowie Winter, Thomas von: Soziale Marginalität und kollektives Handeln. Bausteine einer Theorie schwacher Interessen, in: Von Winter /Willems [Hrsg.] (2000), S. 39-60; außerdem Ruß (2005), op. cit. 88 Clement, Ute et al.: Einleitung: Public Governance und schwache Interessen, in: dies. et al. [Hrsg.]: Public Governance und schwache Interessen, Wiesbaden: VS Verlag für Sozialwissenschaften 2010, S. 7-26, hier S. 7. Clement et al. verweisen auch auf Nullmeiers Kriterien zur Trennung von starken und schwachen Interessen (S. 14): Ressourcen, Kompetenzen, Leistungen/Performanzen und Wirkungen. Diese Kriterien werfen allerdings das Problem auf, dass die Stärke bzw. Schwäche von Interessen stets nur ex post
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Die Unterscheidung zwischen »starken« und »schwachen« Interessen hat indes etwas an Gewicht eingebüßt. Dies liegt zum einen an der inzwischen grundsätzlich erhöhten ›Schlagkraft‹ schwacher Interessen, die Kleinfeld et al. auf das allgemein gestiegene Ausbildungsniveau (und damit eine bessere Organisationsfähigkeit durch mehr potentielles Führungspersonal) 89 sowie den größeren Reichtum (und damit mehr finanzielle Ressourcen), schließlich auch auf die durch neue Technologien vereinfachte Kommunikation und ›Mobilmachung‹ zurückführen. 90 Dies spiegelt sich bei den Nichtregierungsorganisationen wider, die vormals schwache Interessen (wie z. B. den Umwelt- oder Tierschutz) zunehmend professionell vertreten.91 Analog konstatieren Winter und Willems ein begriffliches Verschwimmen zwischen den Bezeichnungen »Verband« und »soziale Bewegung«.92 Die darauf aufbauende Empfehlung der beiden Forscher, den Begriff des »Interessenverbands« weit auszulegen, steht einer Differenzierung eben jener Verbände jedoch nicht entgegen. Entscheidend ist, welche Kategorisierung hilfreich ist, um die Wahl der verschiedenen Mittel und Strategien der Interessenvertretung zu erklären. Für das folgende Unterkapitel, in dem diese Instrumente besprochen werden, soll deshalb eine einzige schematische Trennlinie eingeführt werden: Der Vorgehensweise des »klassischen Lobbying« werden die Erfolgsmuster der »moralisch-politischen Mobilisierungsagenturen« 93 gegenübergestellt. (Kollman operiert in diesem Zusammenhang mit den Begriffen inside und outside lobbying.94 ) Diese Unterscheidung erlaubt, die verschiedenen strategischen Schwerpunkte zu beleuchten und gleichwohl zu bedenken, dass auch die
zu beurteilen wäre. Dies mag für ein abschließendes Fazit hinsichtlich der gesamtgesellschaftlichen Relevanz eines Interesses nützlich sein, erschwert jedoch zusätzlich die Diskussion der unterschiedlichen Strategien der Interessenvertretungen bei strukturell (also ressourcen- und organisationsbedingt) starken bzw. schwachen Interessen, da der Output, also die politische Wirkung, als Kriterium herangezogen wird. Für die vorliegende Arbeit ist deshalb die zitierte Definition von Clement et al. maßgeblich. 89 Zur Bedeutung des Führungspersonals in der Interessenvertretung vgl. Wilson, Frank L.: Interest-group politics in France, Cambridge: Cambridge University Press 1987, S. 232. 90 Vgl. Kleinfeld et al. (2009), S. 19. 91 Vgl. hierzu den bereits zitierten Beitrag Takes (2009) sowie Reuter und Rütters (2007), S. 131. 92 Vgl. Winter und Willems (2007), S. 23. 93 Begriff von Lietzmann, zitiert nach Kleinfeld et al. (2009), S. 14. 94 Vgl. Kollman (1998), S. 3.
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aus den »neuen sozialen Bewegungen« heraus entstandenen Interessenvertretungen durchaus »starke« Repräsentanten ihrer Anliegen sein können. 2.2.2.2 Erfolgsstrategien des »klassischen Lobbying« sowie »moralisch-politischer Mobilisierungsagenturen« Das »klassische Lobbying« Das Hauptaugenmerk des ›klassischen Lobbyings‹ liegt auf der Beziehungspflege zu politischen Entscheidungsgrößen. »Letztlich zeichnet also den erfolgreichen Lobbyisten das Vermögen aus, sich ein leistungsfähiges Kontaktnetzwerk zu den jeweils zuständigen Experten in Parlament und Verwaltung zu knüpfen und seine Einflussnahme vor allen Dingen durch sachliche Zuarbeit zu entfalten.«95
Dabei betreibt der Lobbyist sein Metier als – eingangs beschriebenes – »Tauschgeschäft«, bei dem er Expertise und Informationen gegen politischen Einfluss handelt. Dies geschieht zum größten Teil über die klassischen Kommunikationswege96 – Brief, E-Mail, Telefon, aber auch persönliche Begegnungen z. B. in politischen Klubs. Da der Lobbyist sein Anliegen, um erfolgreich zu sein, zu einem möglichst frühen Zeitpunkt in den politischen (Entscheidungs-) Prozess einbringen muss,97 ist sein Hauptadressat die ressortspezifische Exekutive, d. h. auf auf bundesdeutscher Ebene: die Ministerialbehörden.98 Klassisches Lobbying ist aufwendig im Hinblick auf materielle Ressourcen, da dafür eigene, oft spezialisierte Mitarbeiter benötigt werden. Diese können entweder selbst bereitgestellt werden (z. B. über die Governmental-Affairs-Abteilungen großer Unternehmen) oder als externe Unterstützung engagiert werden (die große Zahl entsprechender Agenturen firmieren in Deutschland oft als Kommunikations- oder PublicAffairs-Agenturen, die professionellen Lobbyisten gerne als »Politikberater«).99
95 Sebaldt und Straßner (2004), S. 157. 96 Vgl. Wehrmann (2009), S. 46 sowie Kleinfeld et al. (2009), S. 12 f. 97 Vgl. Zetter (2011), S. 3. 98 Vgl. Sebaldt und Straßner (2004), S. 152; ebenso Leif und Speth (2003), S. 25. 99 Vgl. Skowronek, Andreas: Bloß nichts Verbindliches. Das Zusammenspiel von Ministerien und Lobbyisten, in: Thomas Leif und Rudolf Speth [Hrsg.]: Die stille Macht. Lobbyismus in Deutschland, hier zitiert nach einer pdf-Ausgabe des Westdeutschen Rundfunks: http://www.wdr.de/tv/monitor/dossiers/pdf/leif_speth_lobbyismus.pdf , S. 375-380, hier S. 375.
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Lobbying als »moralisch-politische Mobilisierung« Soziale Gruppen, Zusammenschlüsse und Organisationen, die über verhältnismäßig geringe finanzielle und personelle Ausstattung verfügen, sehen sich bei der Vertretung ihrer Interessen mit »spezifische[n] Strategieprobleme[n]«100 konfrontiert. Zwar kommt, wie Winter bemerkt, »der Ressourcenausstattung nicht jene Schlüsselstellung zu, die über Erfolg und Scheitern der Verbandsbildung in diesen Gruppierungen entscheidet.« 101 Dies bedeutet indes, dass die entsprechenden Gruppen verstärkt alternative Wege der Interessendurchsetzung finden müssen. Deshalb scheinen sie vermehrt auf so genannte Grassroots mobilization zu setzen.102 Dabei wird auf verschiedenen, leicht zugänglichen Wegen – per Petition, Brief, Demonstration etc. – für das Anliegen der Gruppe geworben. Ziel ist es, den Eindruck eines möglichst großen Drucks ›von unten‹ zu erzeugen. Damit stützen sich die Gruppierungen auf ihre wichtigste Ressource: »[...] the primary resource of mass-based organizations is not money, but people.« 103 Dies trifft auch dann zu, wenn die Organisation selbst (noch) nicht massenbasiert ist: In diesem Fall gilt es, die Öffentlichkeit für das eigene Anliegen zu sensibilisieren, um möglichst zahlreiche Mitstreiter zu gewinnen. Erreicht wird dies durch die »Rahmung von Problemen«104, die diese als allgemein relevantes gesellschaftliches Problem konstruiert.105 Zwar bemerken Alemann und Eckert: »Im öffentlichen Meinungskampf gilt es als Standardargument, das Eigeninteresse als das allgemeine Wohl auszugeben.«106 Um in diesem Kontext Anerkennung zu finden, legitimierten Gruppierungen ihr Anliegen »im Allgemeinen über die Be-
100 Winter und Willems (2000), S. 19. 101 Winter (2000), S. 55. 102 Vgl. u. a. Paul & Paul (2008), S. 97; zum Entstehung des Grassroots-Lobbying auch Petracca (1992), S. 21. 103 Paul & Paul (2008), S. 97; ebenso Kollman (1998), S. 104 sowie Baumgartner, Frank R. et al.: Lobbying and Policy Change. Who wins, who loses and why, Chicago / London: The University of Chicago Press 2009, S. 194: »Material resources can sometimes be trumped by sheer numbers [...].« Baumgartner et al. verweisen hier darauf, dass durch die Anzahl der Unterstützer die Prominenz des Themas zum Ausdruck kommt, aber auch elektoraler Druck auf Politiker ausgeübt wird, die sich zur Wiederwahl stellen wollen. 104 Kleinfeld et al. (2009), S. 20. 105 Vgl. Ruß (2005), S. 17 und S. 353. 106 Alemann, Ulrich von und Florian Eckert: Lobbyismus als Schattenpolitik, in: Aus Politik und Zeitgeschichte 15-16/2006 vom 10.04.2006, S. 3-10, hier S. 5.
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zugnahme auf internationale Normen« 107 , wie zum Beispiel den Menschenrechtsschutz. Hassenteufel spricht hier von der »adéquation entre la construction du problème et les valeurs dominantes qui facilitent sa prise en compte.«108 Auf eine derartige Mobilisierungskampagne kann dann der direkte Kontakt mit den politischen Entscheidern folgen, um den Ausgang des Issues konkret zu beeinflussen. David beschreibt diesen Prozess so: »Pour se faire entendre, beaucoup d’associations et de mouvements sociaux pratiquent donc le lobbying citoyen, c’est-à-dire la pression sur les pouvoirs publics via l’interpellation de l’opinion publique par des techniques que les entreprises ne peuvent pas utiliser: parrainage par des célébrités, campagnes de cartes postales et de pétitions, manifestations de rue, affichage sauvage, concerts grand public, happenings, communication virale sur Internet. Une fois le rapport de force établi et leurs actions médiatisées, des associations parviennent parfois à obliger les responsables politiques à les recevoir. Elles entrent alors dans une démarche de lobbying traditionnel, où il leur faudra argumenter et convaincre pour agir sur les politiques publiques.«109
Um zu einem solchen ›idealtypischen‹ Ablauf zu gelangen, müssen die jeweiligen Gruppierungen die »Suggestionskraft ihrer Kampagnenpolitik«110 voll entfalten. Entscheidend hierfür ist oft ihre Repräsentation in den und durch die Medien. Auf deren Agenda zu erscheinen, ist für die moralisch-politischen Mobilisierungs-agenturen von besonderer Bedeutung, hat aber für Interessenpolitik
107 Take (2009), S. 201; Take illustriert dies am Beispiel von NGOs. Baumgartner et al. weisen darauf hin, dass verschiedene Lobbyinggruppen zum Teil mit Verweis auf denselben Werterahmen konträre Positionen vertreten: »When gun owners propose privacy and individual freedom justifications for their views, they are evoking fundamental values with which virtually all Americans agree. Similarly, when their opponents refer to child shootings and the high level of violence in America, they also evoke concerns shared by the vast majority of Americans. These are stark debates, however, and relatively clear in their structures because the focus of the debate is on the substance of issue: One side wants to protect gun ownership, the other wants to restrict it.« (Baumgartner, Frank R. et al. (2009), S. 51). 108 Hassenteufel (2008), S. 47. 109 David, Vincent: Quelles évolutions du lobbying associatif? Interview, in: Beaufort (2008), S. 68-70, hier S. 69. 110 Kleinfeld et al., S. 14.
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insgesamt an Bedeutung gewonnen.111 Agenda Setting als Element erfolgreichen Lobbyings wird daher im Folgenden thematisiert. »Agenda Setting« als wesentliches Element erfolgreichen Lobbyings Der Bedeutungsgewinn des Agenda Setting für den Erfolg der Lobbyarbeit hat zwei Gründe. Zunächst ist mit Vowe ein gestiegener Stellenwert der öffentlichen Meinung »im Prozess der Durchsetzung von Interessen«112 festzustellen. Dieser kann unter anderem auf die gestiegene Anzahl von Partikularinteressen und den damit einhergehenden, oben beschriebenen Relevanzzuwachs des »Campaigning«, also der Kampagnenpolitik, zurückgeführt werden. Eine weitere Erklärung bietet Speth, der betont, die Handlungsorientierung von Politikern erfolge zunehmend anhand von »Mehrheitsmeinungen, die massenmedial verbreitet und über moderne Meinungsforschung erkennbar gemacht werden.« 113 Zwar kann eine Beeinflussung der öffentlichen Meinung auch durch Stellungnahmen und Positionierungen zu bestehenden Themen angestrebt werden; bei einem bislang wenig diskutierten Thema ist es jedoch gegebenenfalls zunächst notwendig, die mediale Aufmerksamkeitsschwelle (und damit zumeist die der Öffentlichkeit) zu überwinden. So ist es oft eines der Ziele der von Interessengruppen veranstalteten »Events«, wie beispielsweise Versammlungen oder Tagungen, ein Ereignis mit Nachrichtenwert zu kreieren.114 Diese Proaktivität ermöglicht es den Gruppen zudem, das Ereignis in ihrem Sinne zu »framen«, also den Tenor und Rahmen der Berichterstattung mitzugestalten.115
111 Vgl. ebd., S. 20 sowie Hassenteufel, S. 47 und Vowe, Gerhard: Das Spannungsfeld von Verbänden und Medien: Mehr als öffentlicher Druck und politischer Einfluss, in: Thomas von Winter und Ulrich Willems [Hrsg.]: Interessenverbände in Deutschland, Wiesbaden: VS Verlag für Sozialwissenschaften 2007, S. 465-488, hier S. 468. 112 Vowe (2007), S. 467. 113 Speth (2010), S. 13. 114 Vgl. Vowe (2007), S. 471. 115 Vgl. Vowe (2007), S. 468; ebenso Kleinfeld et al. (2009), S. 20 und Speth (2010), S. 13. Donati definiert den Frame als »vorstrukturierte, standardisierte und generelle Struktur (in dem Sinne, dass sie bereits Teil des Rezipientenwissens ist), die ReKognition erlaubt und so die Wahrnehmung strukturiert.« (Donati, Paolo R.: Die Rahmenanalyse politischer Diskurse, in: Reiner Keller, Andreas Hirseland, Werner Schneider und Willy Viehöver [Hrsg.]: Handbuch sozialwissenschaftliche Diskursanalyse, Band 1: Theorien und Methoden, Wiesbaden: VS Verlag für Sozialwissenschaften, 3. erweiterte Auflage 2011, S. 159-191, hier S. 165.
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Damit ist der zweite Grund für die gestiegene Bedeutung des Agenda Setting im Kontext des Lobbying tangiert. Lobbyarbeit – direkt oder indirekt – erfolgt oft reaktiv. Dabei versucht die Interessengruppe, auf existierende politische Vorhaben einzuwirken. Wenn es Gruppierungen nun gelingt, über die Beeinflussung der medialen Agenda die politischen Themen zu dominieren, gewinnen sie dadurch – neben der Opportunität, das Framing mitzubestimmen – einen zeitlichen Vorteil, der ihre möglichst frühzeitige Involvierung in den Diskussions- und Verhandlungsprozess garantiert. 116 Welche Faktoren begünstigen nun die mediale und öffentliche Wahrnehmung eines Themas? Hassenteufel sieht vier Eigenschaften, die hierfür relevant sind. Da diese eine gute Basis für die spätere Analyse der Themen- und Problemkonstruktion von Interessenvertretern bilden, seien sie hier kurz erläutert:117 a) »L’intensité dramatique du problème« Gemeint ist das dramatische Moment eines Geschehnisses bzw. eines Problems. Inwieweit ist es geeignet, als außergewöhnlich wahrgenommen zu werden respektive Betroffenheit zu erregen? b) »La légitimité scientifique du problème« Hier geht es um die objektive Größenordnung des Problems, ausgedrückt durch Zahlen und Statistiken. Von Bedeutung kann dies insbesondere dann sein, wenn es darum geht, die Anzahl der Betroffenen zu nennen und damit Vergleiche zu anderen, ähnlichen Ereignissen oder Fragestellungen zu ziehen. c) »L’existence de relais qui vont porter un problème au sein des arènes publiques« Dieser Punkt betrifft die machtvolle Unterstützung oder gar Anwaltschaft für ein Thema. Dies kann durch Verfechter in der Politik geschehen, erklärt aber auch das Streben nach einer »parrainage par des célébrités«, das David im erwähnten Zitat als Mittel der Interessenvertretung nennt. d) »La réceptivité de l’opinion publique au problème« Dieses Konzept rekurriert wiederum auf die Konstruktion des Issues als gesamtgesellschaftliches Problem. Die Aufnahmebereitschaft der öffentlichen Meinung gegenüber dem Anliegen ist umso größer, je weniger dieses als Partikularinteres-
116 Vgl. Speth (2010), S. 13. 117 Vgl. im Folgenden Hassenteufel (2008), S. 47 ff. [Erläuterungen und Überlegungen d. Autorin].
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se wahrgenommen, sondern als Ausdruck allgemein verbindlicher Werte akzeptiert wird. Voraussetzung für eine öffentliche – und darüber auch politische – Rezeption ist zudem die Reduktion von Komplexität. Gerade um internationale Aufmerksamkeit auf ein spezifisches Problem zu lenken und zur Hilfe zu motivieren, sind konkrete Handlungsvorschläge notwendig, wie Autesserre beschreibt. Dabei könnten in der Regel nicht alle Faktoren, die eine komplizierte politische Situation beeinflussen, berücksichtigt weren. Für das Beispiel des Kongo zeigt sie, dass Advokaten eines internationalen Eingreifens sich dort deshalb auf drei Narrative konzentriert haben, die sich als wirkmächtig erwiesen und tatsächlich die Beteiligung der internationalen Gemeinschaft im Kongo veranlasst haben. 118 Vereinfachende Narrative seien daher als Handlungsanstoß gut geeignet: »The need to find a simple narrative is all the more important in the case of the Congo given that policy makers, and the general public, usually perceive the conflict there as extremely complex and intractable.«119 Gleichwohl warnt sie vor den langfristigen Folgen einer Komplexitätsreduktion, die politisch nicht hinterfragt wird. Im Falle des Kongo habe sich die Lage vor Ort durch die ergriffenen Maßnahmen teilweise verschlimmert, da die dominanten Narrative die lokale Problematik nicht voll erfasst hätten. 2.2.2.3 Zusammenfassung der Vorüberlegungen Für das Verständnis aller Gedächtnisdiskurse konstitutiv ist die Feststellung, dass es beim Thema Erinnerung aus kulturwissenschaftlicher Sicht nicht um das persönliche Erinnern des Individuums geht, sondern um das geformte kollektive Gedächtnis einer Gruppe, das dieser durch Führungspersönlichkeiten anhand von Ritualen vermittelt wird und identitätskonstituierend ist. Dazu wird für Ereignisse der Vergangenheit ein – den historischen Kontext oft reduziert wiedergebendes – Narrativ entwickelt, das für die Mitglieder der Gruppe in ihrer heutigen Situation sinnstiftend und – für sie und ihr Führungspersonal – handlungslegitimierend wirkt. Besondere Bedeutung erlangt das kollektive Gedächtnis mit Blick auf die Nation. Diese kann sich nur aufgrund eines gemeinsamen, selektiven historischen Bewusstseins als solche denken. Außerdem rekurrieren ihre politischen Akteure auf bestimmte Aspekte der Vergangenheit, die die gegenwärtige Wert-
118 Vgl. Autesserre, Séverine: Dangerous tales: Dominant narratives on the Congo and their unintended consequences, in: African Affairs 111(2012)443, S. 202-222. 119 Ebd., S. 208.
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ordnung und die darauf basierenden politischen Entscheidungen zu begründen scheinen. Diese vermitteln sie in staatlich organisierten Formen wie zum Beispiel Gedenktagen oder Zeremonien. Dass die politische Klasse in diesem Kontext nicht einfach ein allgemein vorhandenes geschichtliches Bewusstsein widerspiegelt und dieses zelebriert, sondern eine gezielte Auswahl trifft in Abhängigkeit von den akuten Bedürfnissen, hat Wolfrum gezeigt. Er hat damit den Terminus der »Geschichtspolitik« geprägt, womit das Feld umrissen ist, auf dem staatliche und intellektuelle Eliten, aber auch soziale Gruppen mit den ihnen zur Verfügung stehenden Mitteln historische Narrative im Rahmen der Nation zu beeinflussen suchen. Sofern diese versuchte Einflussnahme durch eine soziale Gruppe auftritt, kann durchaus von einer Form der Interessenvertretung gegenüber staatlichen Stellen gesprochen werden. Interessenvertretung ist nach der pluralistischen Theorie legitimer – und notwendiger – Bestandteil des demokratischen Systems. Als Synonym der organisierten Interessenvertretung kann grundsätzlich das Lobbying betrachtet werden. Auch wenn der Begriff im öffentlichen Raum – wie insbesondere für Deutschland und Frankreich festgehalten werden konnte – negativ konnotiert ist, wird er in der Literatur überwiegend neutral und extensiv verwendet. So findet er nicht nur auf die Vertretung ›starker‹, wie beispielsweise Industrieinteressen, Anwendung, sondern auch auf ›schwache‹ Interessen, also solche Anliegen, zu deren Durchsetzung nur geringe finanzielle Mittel bereitstehen und die in geringerem Maße organisationsfähig scheinen. Überdies ist aufgezeigt worden, dass durch die mediale Entwicklung, aber auch durch die stärker egalitäre Verteilung von Geld und Bildung die Trennlinie zwischen starken und schwachen Interessen an Schärfe verloren hat. Bislang ›schwache‹ Interessen nutzen die Möglichkeiten der Kampagnenführung, um durch Mittel wie das grassroots lobbying ihre Anliegen auf die politische Agenda zu setzen und zum Erfolg zu führen. Eine soziale Gruppe, die für die Übernahme eines bestimmten Geschichtsbildes durch den Staat und damit für dessen nationale ›Offizialisierung‹ streitet, betreibt damit eine Form von Lobbying. 2.2.2.4 Begriffsdefinition »Erinnerungslobbying« kann deshalb der Versuch sozialer Gruppen bzw. nichtstaatlicher Akteure genannt werden, Einfluss auf Träger politischer Mandate bzw. die Administration auszuüben, um einem geschichtlichen Ereignis gemäß dem in der Gruppe vorherrschenden Narrativ offizielle Anerkennung zu verschaffen durch politische Erklärungen sowie durch Vermittlung an die Bevölkerung mithilfe der Instrumente der Geschichtspolitik. Damit wird ein Erinne-
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rungsort geschaffen und im Sinne der Gruppe ausgestaltet. Erinnerungslobbying ist damit Teil des konstitutiven Prozesses von Geschichtspolitik. Inwieweit ist »Erinnerungslobbying« der treffende Begriff für die in der Literatur beschriebene Beteiligung von Gruppen an diesem Prozess? Zunächst ist hier der Wortteil der Erinnerung in den Fokus zu rücken. Er ist insofern diskutabel, als dass er eine Begründung des Vorzugs des Erinnerungsbegriffs gegenüber den ebenfalls möglichen Vokabeln »Geschichte« und »Gedächtnis« fordert. Hier könnte eingewendet werden, dass auch die gängige Bezeichnung »Geschichtspolitik«, wie dargelegt, auf das Wort »Geschichte« rekurriert. Indes kann dieses im Kontext des Lobbyings nicht analog verwendet werden. »Geschichtspolitik« impliziert bereits den Prozess der Verwendung von Geschichte, es wird Politik mit der Geschichte und zur Repräsentation von Geschichte gemacht. »Kollektiv relevante Vergangenheit« wird öffentlich verhandelt. Hingegen ist für das Erinnerungslobbying der Zug des Partikularen charakteristisch: es geht ja gerade darum, eine noch nicht kollektiv kanonisierte Vergangenheit, so, wie sie sich für ein Gruppengedächtnis darstellt, offiziell zu verorten. Damit ist es Teil des geschichtspolitischen Prozesses. »Geschichtspolitisches Lobbying« wäre deshalb als Terminus möglich, aber umständlich. Natürlich zielt das Erinnerungslobbying letztlich auf das kollektive Gedächtnis der Nation. Ein etwaiger Begriff »Gedächtnislobbying« taucht jedoch nicht umsonst in der Literatur nicht auf: Das ›Erinnerungslobbying‹ definiert sich weniger über den Zielort – das nationale oder übernationale Gedächtnis – sondern über die Durchsetzung dessen, was vermittelt werden soll. Es bezieht sich sowohl auf den Prozess des Erinnerns, als auch auf den Inhalt dieser »Erinnerung«. Daher ist es im vorliegenden Kontext adäquater. Im Französischen entfällt der Differenzierungsbedarf, da »mémoire«, sowohl die Erinnerung120 als auch das Gedächtnis meint. Der Begriff des »lobbying mémoriel« wird daher in dieser Arbeit synonym mit »Erinnerungslobbying« verwendet. Zu hinterfragen ist schließlich die Verwendung der Vokabel »Lobbying«. Zweifel können dabei durch zwei Umstände entstehen: Zum einen die negative Besetzung des Wortes in der deutschen und der französischen Öffentlichkeit, zum anderen die ausschließliche Anwendung des Begriffs auf den Vorgang des
120 Sofern nicht das anekdotische, persönliche »souvenir« gemeint ist, welches im hier beschriebenen Kontext allerdings keine wissenschaftliche Verwendung findet. Blanchard und Veyrat-Masson sehen den Grund für die Abwesenheit des »souvenir«Begriffs in dessen mangelndem Gegenwartsbezug: »La mémoire en effet se pense dans le présent, elle se distingue en cela du souvenir […].« (a.a.O., S. 41).
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direkten Einwirkens auf Politik und Administration durch einige Autoren. Zum ersten Einwand ist anzumerken, dass bezüglich des negativen Lobbying-Bilds nicht nur deutliche länderspezifische Unterschiede bestehen, sondern auch erhebliche Differenzen den Ruf des Lobbying im öffentlichen Raum einerseits und dessen wissenschaftliche Betrachtung andererseits kennzeichnen. Dies bedeutet, dass es zunächst eine große Offenheit gegenüber der Aktivität »Lobbying« im angelsächsischen Raum gibt, die durch die zunehmende Professionalisierung der Interessenvertretung auch in den ›Kontinentaldemokratien‹ einen Wahrnehmungswandel bewirkt. Einzelne Veröffentlichungen der letzten Jahre zielen gerade darauf, diesen Prozess zu befördern.121 Insgesamt wird in der Fachliteratur – auch im Hinblick auf Deutschland und Frankreich – für eine wertungsneutralere Verwendung des Lobbying-Begriffs plädiert und der Terminus entsprechend als einer von mehreren Fachtermini, ohne die Konnotation des Bedenklichen oder gar Anrüchigen, eingesetzt. In diesem Kontext ist schließlich die in der Literatur teilweise gebräuchliche Definition von Lobbying als einer strategischen Option der Interessenvertretung zu diskutieren. Wenn Lobbying nur den Versuch direkter Einflussnahme designiert, inwiefern ist es dann als Bezeichnung für die oft indirekten und mediatisierten Äußerungen in Gedächtnisdiskursen geeignet? Hier ist auf die oben beschriebene, ebenfalls gängige synonyme Verwendung von Lobbying mit Interessenvertretung zu verweisen. Lobbying kann dabei direkt erfolgen, gleichwohl sind auch andere Strategien zur Interessendurchsetzung bis hin zu den ›Graswurzelbewegungen‹ unter den Begriff zu fassen. Für die formelle Einführung des Ausdrucks »Erinnerungslobbying« spricht auch dessen wiederholtes Auftreten – in dieser oder ähnlicher Form und insbesondere im französischsprachigen Raum – ohne dass das Phänomen im Rahmen der Mechanismen von Interessenvertretung und Geschichtspolitik beleuchtet würde. »Erinnerungslobbying« oder »lobbying mémoriel« haftet damit der Ruch eines illegitimen Aktes an, bei dem die vorgeblich neutrale – oder zumindest: Partikularinteressen übergreifende staatliche Geschichtspolitik – von einzelnen sozialen Gruppen usurpiert wird. Dieser Unschärfe ist nicht durch Begriffsvermeidung, sondern nur durch eine Klärung des Phänomens beizukommen. Aufbauend auf der im Eingang dieses Unterkapitels formulierten Definition und den Überlegungen, auf denen sie fußt, wird im Rahmen dieser Arbeit davon ausgegangen, dass Erinnerungslobbying ein legitimes Ausdrucksmittel in einer pluralistischen Gesellschaft ist. Dass dabei besondere Problematiken zu berücksichtigen sind, zum Beispiel, weil unzureichende Transparenz hinsichtlich der
121 Vgl. z. B. Beaufort (2008).
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Geschichtsbilder und ihnen zugrunde liegender Moral und Interessen besteht oder es vorgeblich »nur um Worte« geht, wird dabei nicht ausgeblendet. Im Folgenden sollen die Charakteristika des Erinnerungslobbyings anhand von Hypothesen beschrieben werden. Diese sowie die Annahmen zur Handhabung des Erinnerungslobbyings durch die Politik dienen dann als Fluchtpunkt für die Analyse des Fallbeispiels der Armenier in Deutschland und Frankreich. 2.2.2.5 Hypothesen 1. Erinnerungslobbying ist oft primär Ausdruck des Identitätsbedürfnisses einer sozialen Gruppe. Die Erlebnisgeneration eines traumatischen historischen Ereignisses sucht dieses tendenziell zunächst zu verdrängen und sich eine Identität aufzubauen, die auf positiven Gemeinsamkeiten – kulturelle Aspekte, Integrations- und Aufbauleistungen – basiert. Insbesondere bei Flüchtlingen und Vertriebenen droht mit zunehmender Integration in die ›Empfangsgesellschaft‹ – oft in der zweiten oder dritten Generation – auch eine Assimilation, die die weitere Existenz der Gruppe mit ihren kulturellen Besonderheiten gefährdet. Da nicht mehr alle Mitglieder der Gruppe eine gemeinsame Vergangenheit bzw. ein kulturelles System teilen, das ausreicht, sie als Gemeinschaft zu identifizieren und politisch nutzbar zu machen, bedarf es eines Ziels mit Mobilisierungspotenzial. An dieser Stelle setzt die Instrumentalisierung des historischen Traumas an: es schafft in der Gruppe Identifikation und Einigkeit122 und legitimiert deren Anliegen nach außen durch einen »Kult des Leidens und der Opferschaft [...], der Ansprüche an eine eigene, dann wieder nationale Erinnerung am besten zu begründen scheint.«123 Mit Blick auf die Institutionalisierung des Opferstatus stellt Benbassa deshalb fest: »La reconnaissance officielle pour la première fois de la mémoire de la Shoah, passant
122 Vgl. Paul & Paul (2008), S. 114: »Finally, collective memories are an important component of identity since ›ethnicity cannot be politicized unless an underlying core of memories, experience, or meaning moves people to collective action‹. Indeed, research suggests that existence of a common historical trauma may provide unity to an otherwise diverse ethnic community, and unity may play a major role in determining the group’s success. There is evidence that a number of ethnic groups included in this study are motivated by historical traumas or use collective memories to motivate ethnic brethren.« sowie Kapitel 2.2.1. 123 Welzer, Harald: Erinnerungskultur und Zukunftsgedächtnis, in: Aus Politik und Zeitgeschichte 60(2010)25-26, S. 16-23, hier S.17.
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par le pouvoir judiciaire, a aussi ouvert une brèche pour la consolidation du ›lobbying mémoriel‹.«124 2. Erinnerungslobbying rekurriert auf moralische Argumente und will damit seine Durchsetzung als zwingend erscheinen lassen. Die Aufwertung von Opfergruppen ist einhergegangen mit der Universalisierung des Menschenrechtskonzepts.125 Dessen allgemeine Durchsetzung erfordert von den Staaten der Welt, seine Verletzungen anzuprangern und deren Opfer in Schutz zu nehmen. Eine Gruppe, der es gelingt, als Opfer von Menschenrechtsverletzungen Gehör zu finden, appelliert damit an die moralische Verpflichtung des Staates, sich für ihre Belange einzusetzen. 3. In der Tradition der ›moralisch-politischen Mobilisierungsagenturen‹ sucht Erinnerungslobbying die direkte Beeinflussung von Politikern, nutzt aber vor allem auch die Methoden des ›grassroots lobbying‹, um die eigenen Themen auf die politische Agenda zu setzen und breite Unterstützung für sie zu gewinnen. Soziale Gruppen, die ein erinnerungspolitisches Anliegen vertreten, verfügen nicht zwingend über große finanzielle Ressourcen. Dafür können sie, um politischen Druck auszuüben, auf die Zahl ihrer Mitglieder und die Mobilisierung der Öffentlichkeit zurückgreifen. Idealerweise gelingt es der Gruppe, ihr Thema als wahlentscheidend für eine möglichst große Anzahl von Bürgern darzustellen. Die öffentliche Meinung versucht sie zu diesem Zweck zu prägen, indem sie ihrem Anliegen eine starke Präsenz verschafft (Agenda Setting) und es in einen Kontext stellt, der der eigenen Interpretation dient (Rahmung oder Framing). Dies kann über direkte Kontakte zu den Medien geschehen, aber auch über die Inszenierung berichtenswerter Ereignisse wie Gedenkfeiern oder Demonstrationen. Petitionen, Briefe und Umfragen sind hingegen Wege, politische Institutionen direkt zu veranlassen, sich mit dem Begehr zu befassen. Schließlich begünstigen Kontakte zu Politikern oder die politische Betätigung von Aktivisten der Gruppe die Sensibilisierung der Zielgruppe für das Gruppenschicksal und dessen Deutung.
124 Benbassa, Esther (2010), S. XIV. 125 Vgl. Wieviorka, Annette: L’Etat et les mémoires: Où en est-on? Entretien avec Anette Wieviorka du 01.04.2009, in: Regards sur l’actualité no. 350, S. 79-94, hier S. 92 sowie Lindenberger und Blaive (2012), S. 26.
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2.3
W AS BEDINGT DIE D URCHSETZUNG ? – E INFLUSSFAKTOREN DES GESCHICHTSPOLITISCHEN F ELDS
2.3.1
Geschichtspolitik als Politikfeld?
2.3.1.1 Geschichtspolitik: ein Politikfeld wie jedes andere? »Zu den unmerklichen Veränderungen gehört nicht zuletzt, dass Geschichte zu einem regelrechten Politikfeld auf der nationalen und auf der internationalen Ebene geworden ist [...].«126
Mit dieser Beobachtung steht Faulenbach 2008 nicht alleine: Auch Schwelling konstatiert einen Trend, »den Zusammenhang von Politik und Vergangenheit in einem eigenständigen Politikfeld zu verorten.«127 Uneinigkeit scheint indes noch darüber zu herrschen, wie sich die Besonderheiten der Geschichtspolitik auf die Betrachtung als »Feld« auswirken und wie dies in der Analyse zu berücksichtigen ist. Um der Frage nachzugehen, inwiefern Geschichtspolitik als eigenständiges Feld aufgefasst und die Analyse von dieser Definition profitieren kann, rekapitulieren wir kurz die wesentlichen Elemente des Begriffs: »Geschichtspolitik« bezeichnet die Verwendung von Vergangenheit zu legitimatorischen Zwecken. Dazu gehört die Auswahl einzelner Ereignisse, deren Bedeutung im Sinne des heutigen Kontextes interpretiert wird. Die Analyse von Geschichtspolitik kann einerseits die Repräsentation und Inszenierung dieser Ereignisse ins Blickfeld rücken, sie kann aber auch die dahinterliegenden administrativ-politischen Entstehungsprozesse beleuchten. An der Entstehung und Formulierung von Geschichtspolitik sind nicht nur politische Eliten beteiligt, sondern auch soziale Gruppen, Intellektuelle, Medien etc. Dies liegt begründet in der diskursiven Natur von Geschichtspolitik, welche sich im öffentlichen Raum durch Austausch und Diskussion konstituiert.128
126 Faulenbach, Bernd: Zeitenwende 1989/90 – Pardigmenwechsel in der Geschichtspolitik?, in: Bouvier, Beatrix und Michael Schneider [Hrsg.]: Geschichtspolitik und demokratische Kultur. Bilanz und Perspektiven, Bonn: Dietz 2008, S. 85-95, hier S. 95. 127 Schwelling (2008), S. 102. 128 Vgl. Kap. 2.1.3.
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Durch diese Diskursivität steht Geschichtspolitik im Gegensatz zu anderen, »klassischen« Politikfeldern. Zielen diese auf Entscheidungen, traditionellerweise in Form eines Gesetzes, ab, so lebt jene von den Wortbeiträgen zu, Appellen an und Evozierungen von Vergangenheit im öffentlichen Raum. Nichtsdestoweniger kann Geschichte auch staatlich kanonisiert werden, z. B. durch Aufnahme einer bestimmten Interpretation in Geschichtsbücher oder durch offizielle Gedenktage. Die Mittel, die die Akteure einsetzen, um eine Kanonisierung zu erreichen – Gedenkveranstaltungen, lokale Mahnmale etc. – sind dabei teilweise selbst schon Ausdruck einer bestimmten Politik. Hierin wird die diskursive Natur von Geschichtspolitik besonders deutlich. Diese Abgrenzung lässt Schwelling den Vorschlag von Leggewie und Meyer, »Geschichtspolitik analog zu anderen Politikfeldern und mit den Mitteln der klassischen Politikfeldanalyse zu untersuchen« 129 , in Zweifel ziehen: »[...] in kulturwissenschaftlicher Perspektive greift das Konzept deshalb zu kurz, weil mit den klassischen Instrumenten der Policy-Analyse wiederum nur ein Aspekt und eine Funktion von Handlungen im politischen Prozess akzentuiert wird.«130 Zugleich berge die »ausschließliche« Verortung von Geschichtspolitik in einem eigenständigen Politikfeld die Gefahr, Wechselwirkungen mit anderen Bereichen der Politik zu vernachlässigen.131 Hier führt Jannings Ansatz weiter, unter »Politikfeld« nicht nur die klassischen »Policies« zu fassen, sondern mit einem soziologisch begründeten Feldbegriff im Sinne Bourdieus zu arbeiten. 132 Damit verschiebt sich der Analyseschwerpunkt vom Prozess, welcher der Formulierung und Verabschiedung bestimmter Gesetze zugrunde liegt, hin zu einer Betrachtung der Akteure, ihrer Positionen im Feld, den Identifikationsangeboten, die sie machen und den Gesetzmäßigkeiten, auf denen ihr Handeln fußt. Eine solche Auffassung hat den Vorteil, Geschichtspolitik im politischen Kontext zu verorten, ohne ihre Besonderheiten – Bedeutung des Diskurses, legitimatorische Funktion und identitätsstiftende Wirkung – zu vernachlässigen. Im Gegensatz zum Terminus des abgeschlossenen Systems beinhaltet der Feldbegriff auch das ständige Veränderungspotential, die Kämpfe um Deutungsmacht sowie die Wechselwirkungen mit anderen politischen Feldern, die der Geschichtspolitik innewohnen. Bourdieus Feldkonzept wird daher im Folgenden vorgestellt.
129 Schwelling (2008), S. 105; vgl. hierzu auch Meyer, E. (2010), S. 179. 130 Ebd., S. 106. 131 Vgl. ebd., SS. 107 und 110. 132 Vgl. Kap. 2.3.1.1.
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2.3.1.2 Der Feldbegriff Bourdieus Pierre Bourdieu bedient sich mit dem Feldbegriff in den Naturwissenschaften, um die Mechanismen sozialer Interaktion zu beschreiben.133 So wie in der Physik von »Kräftefeldern« gesprochen wird, stellt sich Bourdieu verschiedene soziale Sphären als ›Felder‹ dar, die von den sie beherrschenden Kräften definiert werden. Ein Feld grenzt sich dabei von einem anderen ab, indem es den ihm zugehörigen Akteuren unterschiedliche Arten von ›Gewinn‹ verspricht und deshalb anderes ›Kapital‹ und ›Einsatzstrategien‹ erfordert. 134 Zum Beispiel gelten auf den ›Feldern‹ Wissenschaft und Wirtschaft verschiedene Erfolgsmaßstäbe: Streben die Wissenschaftler nach Reputation unter Ihresgleichen, so sind die Akteure der wirtschaftlichen Sphäre in der Regel vor allem an monetärer Remuneration interessiert. Um diese oder jene zu erlangen, setzen sie das ihnen zur Verfügung stehende ökonomische, kulturelle und soziale Kapital gemäß den Regeln ihres ›Feldes‹ möglichst effektiv ein.135 Janning sieht darin einen Spielcharakter: »Aus der Perspektive von Individuen gesehen erscheint das Feld also als ›Spielfeld‹, in dem statusaufwertende Einsätze getätigt werden, Gruppenzugehörigkeiten aus-gebildet und stabilisiert werden und Konkurrenzbeziehungen definiert werden.«136 Diesem entsprechend, sind die Feldstrukturen nicht fix, sondern eine Momentaufnahme der aktuellen Kapitalverteilung und des damit verbundenen Kräfteverhältnisses zwischen den Akteuren. Dadurch unterscheidet sich das Feld vom Luhmann‹schen »System«: es ist kein geschlossener, sich selbst regulierender Kosmos, sondern ständigem Wandel durch die in ihm ausgefochtenen Kämpfe unterworfen: »Dans tout champ on trouvera une lutte.«137 Es sind diese wechsel-
133 Vgl. Rehbein, Boike und Gernot Saalman: Feld (champ), in: Gerhard Fröhlich und Boike Rehbein [Hrsg.]: Bourdieu-Handbuch. Leben – Werk – Wirkung, Stuttgart / Weimar: Verlag J. B. Metzler 2009, S. 99-103, hier S. 99. 134 Vgl. Janning, Frank: Das politische Organisationsfeld. Politische Macht und soziale Homologie in komplexen Demokratien, Opladen / Wiesbaden: Westdeutscher Verlag GmbH 1998, hier S. 201: »Der Feldbegriff ruht auf einer Kapitaltheorie auf, der Bourdieu eine ressourcenbezogene, aber nicht unbedingt ökonomisch dominierte Ausrichtung verleiht.« 135 Zu Bourdieus Kapitalbegriffen (zu denen er ggf. noch das »symbolische Kapital« rechnet) vgl. ebd., S. 202 sowie Rehbein, Boike: Die Soziologie Pierre Bourdieus, Konstanz: UVK Verlagsgesellschaft 2006, S. 112 f. 136 Vgl. Janning (1998), S. 220. 137 Bourdieu, Pierre: Questions de sociologie, Paris: Les Éditions de Minuit 1980, S. 113; zur Abgrenzung der Theorien Bourdieus und Luhmanns vgl. Wissing, Hubert: Intellektuelle Grenzgänge. Pierre Bourdieu und Ulrich Beck zwischen Wissenschaft und Poli-
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seitigen, sich ändernden Beziehungen der Feldakteure untereinander, die Regeln, denen ihr Handeln dabei unterworfen ist und die Illusio 138 , also das feldspezifische Interesse, von dem sie geleitet werden, die Bourdieu mittels der Feldkonzeption zu analysieren sucht. Janning fasst diese Aspekte zusammen: »Bourdieus Intention, den ›Raum der Beziehungen‹ zu analysieren, innerhalb dessen die Akteure agieren, lenkt ja erst einmal die Aufmerksamkeit weg von den Akteuren, ihren Interessen und Strategien, und hin zur Struktur des Feldes, die bewirkt, daß die der Feldlogik Unterworfenen so handeln, wie sie handeln. Aber diese Kennzeichnung des Feldes als Kraftfeld, das seine Elemente in Spannungsverhältnisse zueinander setzt, muß ergänzt werden durch die Erkenntnis, daß sich die Existenz eines Feldes nur deshalb reproduziert, weil es Akteure gibt, die aufgrund ihrer spezifischen Dispositionen und Interessenlagen alles daran setzen, darin möglichst effizient zu investieren. Erst durch diese Hinzufügung läßt sich erklären, daß das Feld ebenso als ein Kampffeld aufzufassen ist, in dem um die Umgestaltung und die Verteidigung der etablierten Kräfteverhältnisse gerungen wird.«139
Der Kampf um die Kapitalverteilung setzt Partizipationsmöglichkeiten am Feld voraus. Insofern kann der Versuch des Ausschlusses einzelner Akteure auf das Bewahren der eigenen Positionen gerichtet sein: »Zu den Strategien, ein Definitionsmonopol innerhalb des Feldes oder eines bestimmten Einflussbereiches des Feldes zu errichten, gehört es, der gegnerischen Fraktion die Zugehörigkeit zum Feld abzusprechen bzw. ihren Aktivitäten eine Relevanz für die feldspezifischen Belange zu bestreiten.«140
Das Feld ist keine universelle Analyseeinheit, sondern setzt voraus, dass die zu untersuchende Lebensdomäne »[selbstreferenziell etabliert]« 141 ist. Während
tik, Wiesbaden: VS Verlag für Sozialwissenschaften 2006, S. 91 f. und Mougnol, Simon: Le champ de Bourdieu. Épistémologie et ambitions herméneutiques, Paris: Connaissances et Savoirs 2007, S. 50. Zur Unterscheidung von Luhmanns und Bourdieus Herangehensweise allgemein vgl. auch Kabobel, Jana: Die politischen Theorien von Luhmann und Foucault im Vergleich, Würzburg: Königshausen & Neumann 2011. 138 Rehbein und Saalman (2009, S. 100) definieren die Illusio als den »von allen im Feld Agierenden geteilten Glauben«. 139 Janning (1998), S. 206. 140 Ebd., S. 214. 141 Vgl. Lemieux, Cyril: Le crépuscule des champs. Limites d’un concept ou disparition d’une réalité historique?, in: Michel de Fornel und Albert Ogien: Bourdieu.
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Lemieux der Ansicht ist, dass dies erst seit dem 20. Jahrhundert zutreffend ist und das Feld sich deshalb nur zur Erfassung moderner europäischer Gemeinschaften eigne,142 kennt Bourdieu selbst auch »le champ de la religion au Moyen Âge«143. Festzuhalten bleibt, dass das Feld in jedem Fall nicht nur gegenstands-, sondern auch epochenabhängig ist. Dies gilt für die Religion ebenso wie z. B. für die Mode, die heute gänzlich anderen Regeln unterworfen ist als vor zweihundert oder vierhundert Jahren.144 So wie das Feld historisch bedingt und in ständigem Wandel begriffen ist, so sind auch die Mechanismen, nach denen die Kapitalverteilung erfolgt und die Positionen der einzelnen Akteure im Feld bestimmt werden, nicht dauerhaft fixiert. Wenn Bourdieu diese »Feldgesetze« herauszuarbeiten sucht, geht er damit allerdings über eine momentane empirische Beobachtung hinaus: »Elles [les lois des champs sociaux, d. A.] implémentent des principes structuraux de régulation qui en font des lois théoriques.«145 Die Feldgesetze beschreiben also nicht nur, wie etwas ist – sie dekonstruieren auf Basis einer strukturalistischen Betrachtung auch, weshalb sich die Verhältnisse wie beobachtet darstellen. 2.3.1.3 Das politische Feld bei Bourdieu Obwohl Janning bemerkt, dass dem ›Feld‹ im Sinne Bourdieus »ein nur rudimentär angelegter Begriff der interorganisationellen Beziehungen und eine fehlende Anbindung der politischen Konflikte an komplexere Akteurskonstellationen« 146 zugrunde liegt, hält Dulong Bourdieus Konzept gerade im politischen Kontext für besonders fruchtbar: »Il s’avère en effet particulièrement heuristique pour qui cherche à comprendre le fonctionnement et l’organisation de la vie politique.«147 Um dies nachzuvollziehen, sind einige Differenzierungen zu treffen. Das »politische Feld« bei Bourdieu ist zunächst von dem gängigen Begriff des Politikfeldes abzugrenzen. »Politikfeld« ist in der deutschen Politikwissen-
Théoricien de la pratique, Lassay-les-Châteaux: Éditions de l’École des Hautes Études en Sciences Sociales 2011, S. 75-100, S. 75 f. 142 Vgl. ebd. 143 Bourdieu (1980), S. 113. 144 Vgl. ebd. 145 Servais, Olivier: L’épistémologie pratique de Pierre Bourdieu, Paris: L’Harmattan 2012, S. 183. 146 Janning (1998), S. 189. 147 Dulong, Delphine: La construction du champ politique, Rennes: Presses universitaires de Rennes 2010 [Collection Didact Sciences politiques], S. 11.
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schaft in der Regel die Entsprechung des angelsächsischen policy.148 Somit beschäftigt sich die Politikfeldanalyse mit der Fragestellung, wie politische Inhalte, Ziele und Strategien in einzelnen Politikbereichen formuliert werden.149 Derartige Untersuchungen sind jedoch großteils prozess- und auf die Durchsetzung einzelner ›Issues‹ fokussiert. Hingegen sieht Bourdieu das politische Feld als »dem Machtfeld zugehörig und um die Interessenkonflikte von Repräsentanten und Mandatsträgern organisiert.«150 Insofern Bourdieus Auffassung vom politischen Feld auf Repräsentation(sfähigkeit) basiert, wird wieder seine geographische und epochale Abhängigkeit offenbar: es gilt für pluralistische, demokratisch organisierte Gesellschaften der Gegenwart. In diesen sind die Möglichkeiten zur politischen Partizipation abhängig von den sozialen Voraussetzungen verteilt: politisch tätig sein kann, wer über die notwendigen sozialen Fähigkeiten, zum Beispiel Sprachmächtigkeit, verfügt und sich überdies für zur politischen Betätigung autorisiert hält.151 Personen, auf die dies zutrifft, sind als Repräsentanten von der Unterstützung ihrer Mandanten abhängig, während letztere auf die Vertretung ihrer Interessen durch die Repräsentanten angewiesen sind. Aufgrund dieser Zuteilung ist das politische Feld in Gruppen aufgeteilt: Zu solchen müssen Einzelne sich zusammentun, um ihre Interessen repräsentierbar zu machen.152 Dabei rekurrieren sie auch auf die (Identifikations-)Angebote, die die Mandatsträger ihnen unterbreiten: »Es ist aber weiter davon auszugehen, daß sich die Akteure nicht einfach selbst zu kohärenten Gruppenzusammenhängen zusammenschließen, sondern ihre Zuordnung zu sozialen Gruppen bzw. Gruppenidentitäten von den Angeboten spezifischer Interessenvertreter bzw. Repräsentanten abhängig machen.«153 So ist der Erfolg einer politischen Idee, mehr noch als durch ihren Inhalt, durch ihre Mobilisierungskraft bedingt. Umgekehrt treten soziale Gruppen erst
148 Vgl. Janning (1998), S. 190. 149 Vgl. hierzu beispielsweise Blum, Sonja und Klaus Schubert: Politikfeldanalyse, 2. Auflage, Wiesbaden: VS Verlag für Sozialwissenschaften / Springer Fachmedien 2011. 150 Janning (1998), S. 218 f. 151 Bourdieu spricht in diesem Zusammenhang von »compétence« und verwendet den Begriff im »[technischen wie im juristischen]« Sinne (vgl. Bourdieu, Pierre: Propos sur le champ politique [avec une introduction de Philippe Fritsch], Lyon: Presses universitaires de Lyon 2000, S. 56). 152 Vgl. Janning (2009), S. 342 ff. 153 Janning (1998), S. 218.
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dann öffentlich in Erscheinung, wenn ihre Belange politisch vertreten werden.154 Diese gegenseitige Bedingtheit bewirkt allerdings auch, dass die Gruppe sich von anderen unterscheiden muss, damit ihre Interessen repräsentierbar sind – und dass dem Politiker, der diese vertritt, daran gelegen ist, diese Unterschiede zu betonen. Deshalb »leistet die Repräsentation von sozialen Konflikten im politischen Feld durch die Bereitstellung von Lösungs- und Bearbeitungsstrategien nicht nur eine Thematisierung dieser Konflikte, sondern trägt tendenziell auch zur Reifikation der Gruppen und Konflikte sowie deren Merkmale bei.«155
Aus dieser Beobachtung leitet Janning ab, »dass die von politischen Akteuren herausgestellten distinktiven Merkmale der Gruppenzugehörigkeit und Klassifikation selbst zur Festschreibung sozialer Tatbestände beitragen [...].« 156 Die Kräfte im politischen Feld forcieren also den Fortbestand gewisser Konfliktlinien. Die Teilnahme am politischen Feld ist, wie ausgeführt, den Kompetenten vorbehalten, denn: »Il leur appartient de parler de politique.«157 Wie auch in anderen Feldern, versuchen diese, den Kreis der Partizipatoren zu minimieren, indem sie neuen potentiellen Teilnehmern die notwendigen Kompetenzen absprechen.158 Anhand der vorangegangenen Erläuterungen wird die Dynamik des politischen Feldes, die im beständigen Kampf um Erhalt oder Umbruch der gegenwärtigen Machtstrukturen besteht,159 noch einmal deutlich. Dies wirft die Frage auf, wie die Akteurspositionen einerseits und deren ›Schlachtstrategien‹ andererseits transparent gemacht werden können.160 Um sie zu beantworten, ist davon aus-
154 Vgl. ebd., S. 235 (gleichlautend auch 2009, S. 346) sowie S. 218 und S. 240 (gleichlautend auch 2009, S. 348). Bourdieu (2000, S. 63) formuliert dies: »La politique est une lutte pour des idées mais pour un type d’idées tout à fait particulier, à savoir les idées-forces, des idées qui donnent de la force en fonctionnant comme force de mobilisation.« 155 Janning (2009), S. 349. 156 Ebd. 157 Bourdieu (2000), S. 56 (Hervorhebung im Original). 158 Vgl. Bourdieu (2000), S. 55 f. sowie die Ausführungen des vorherigen Unterkapitels. 159 Diese Eigenschaft teilt das politische Feld mit anderen Feldern (vgl. vorgehendes Subkapitel) – sie sind in diesem Sinne homolog, also strukturähnlich. 160 Bourdieu nennt drei notwendige Schritte für die Feldanalyse im Allgemeinen (Bourdieu 1992, S. 80): »analyser la position du champ par rapport au champ de pouvoir«,
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zugehen, dass die Feldstrukturen das Resultat der Anwendung mehrerer Praxisformen 161 sind. Als eine solche sind die argumentativen Strömungen, die den sprachlichen Äußerungen und Einlassungen zu einer Thematik zugrunde liegen, aufzufassen, also der Diskurs. Die Diskursanalyse, deren Ziel es ist, die der politischen Realität zugrunde liegenden Strukturen mithilfe einer sprachlichen Analyse freizulegen, hat sich deshalb zu einem wichtigen Instrument der Politikfeldanalyse entwickelt.162 Ihre Bedeutung und Grenzen in diesem Kontext sollen im folgenden Punkt erläutert werden. 2.3.1.4 Feldanalyse durch Diskursdekonstruktion und Rekurs auf ›Référentiels‹ Der Diskurs im Foucault’schen Sinn ist »eine Ordnung«163, die den Äußerungen seiner Teilnehmer einen bestimmten Sinn verleiht. Diskursteilnehmer verfügen über ein institutionalisiertes Instrumentarium an gemeinsamen Begriffen,164 wel-
»établir la strucutre objective des relations entre les positions occupées par les agents ou les institutions qui sont en concurrence dans ce champ«, »analyser les habitus des agents«. Indes wird bei dieser Aufzählung bereits deutlich, dass damit nicht alle Praxisformen, die das Feld strukturieren, Berücksichtigung finden. 161 Den theoretischen Ansätzen des Strukturalismus und Poststrukturalismus – zu denen Bourdieus Feldkonzeption wie Foucaults Diskursbegriff zählen – gehen von einer konstruktivistischen Herangehensweise aus. Der Konstruktivismus – im Gegensatz zur realistischen Schule – postuliert nicht, dass alle zum Verständnis der Welt notwendigen Fakten und Zusammenhänge augenscheinlich sind, sondern dass Realität durch Praxishandlungen geschaffen, also konstruiert wird. 162 Vgl. Janning, Frank et al.: Diskursnetzwerkanalyse. Überlegungen zur Theoriebildung und Methodik, in: ders. et al [Hrsg.]: Politiknetzwerke. Modelle, Anwendungen und Visualisierungen, Wiesbaden: VS Verlag für Sozialwissenschaften / GWV Fachverlage 2009, S. 59-92, hier S. 60 f. 163 Landwehr, Achim: Historische Diskursanalyse, 2. Auflage, Frankfurt / New York: Campus 2009, S. 67 f. 164 Lüsebrink nennt hier im Einzelnen »eine eigene Begrifflichkeit, ein eigenes, typisches Vokabular, charkteristische Topoi [...], ihre eigene Syntax [...] und ihre spezifischen Handlungsumsetzungen.« Vgl. Lüsebrink, Hans-Jürgen: Interkulturelle Kommunikation. Interaktion, Fremdwahrnehmung, Kulturtransfer, Stuttgart / Weimar: J. B. Metzler 2005, S. 104.
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ches »den mit diesem Diskurs vertrauten Subjekten das gemeinsame Denken, Sprechen und Handeln erlaubt.«165 Foucault sieht den Diskurs als Ausdruck und Instrument der Macht.166 Grund hierfür ist, dass das im Diskurs dominierende Framing die Rezeption und damit den Wert einzelner Argumente bestimmt.167 Wer über Deutungsmacht im Diskurs verfügt, hat deshalb politischen Einfluß. Deutungsmacht meint hier die »Selbstevidenz von Wissenseinheiten«168, wenn also die Evozierung eines Begriffs und seine Kontextualisierung in einer bestimmten Art und Weise keiner weiteren Erläuterung bedürfen. Wer dies für sich in Anspruch nehmen kann und dem Diskurs somit ›seinen Stempel aufdrückt‹, gibt die Steuerungsmechanismen auch für andere vor und gewinnt somit an Macht. »Diskurs und Macht sind also insofern untrennbar miteinander verwoben, als man zwar [...] die Wahrheit sagen kann, man sich aber nur im Wahren befindet, wenn man den Regeln des Diskurses gehorcht.«169 Deshalb muss die Diskursanalyse, so Jäger, »das jeweils Sagbare«170 in einem Feld erfassen ebenso wie »die Strategien, mit denen das Feld des Sagbaren ausgeweitet oder auch eingeengt wird.«171
165 Ebd. 166 Zima spricht vom »machtvermittelten Charakter von Subjektivität und Kommunikation« (Peter V. Zima: Was ist Theorie?, Tübingen / Basel: A. Francke Verlag 2004, S. 197 f.). Der Diskursbegriff wird im Kontext dieser Arbeit in diesem Foucault’schen Sinne und nicht als Habermas’ Resultat der idealen Gesprächssituation verwendet. Die Diskursanalyse wird im vorliegenden Kontext als Instrument der Dekonstruktion von Sinnzusammenhängen verwendet, was von Habermas nicht vorgesehen ist. Dieser verfolgt, wie Landwehr darlegt, mit dem Diskursbegriff kein analytisches Ziel, sondern ein »philosophisch-normatives« (Landwehr (2009), S. 64). 167 Vgl. Jäger, Siegfried: Diskurs und Wissen. Theoretische und methodische Aspekte einer Kritischen Diskurs- und Dispositionsanalyse, in: Reiner Keller, Andreas Hirseland, Werner Schneider und Willy Viehöver [Hrsg.]: Handbuch sozialwissenschaftliche Diskursanalyse, Band 1: Theorien und Methoden, Wiesbaden: VS Verlag für Sozialwissenschaften, 3, erweiterte Auflage 2011, S. 91-124, hier S. 94. 168 Diaz-Bone, Rainer: Die interpretative Analytik als methodologische Position, in: Brigitte Kerchner und Silke Schneider [Hrsg.]: Foucault: Diskursanalyse der Politik. Eine Einführung, Wiesbaden: VS Verlag für Sozialwissenschaften / GWV Fachverlage GmbH 2006, S. 68-84, hier S. 78. 169 Landwehr (2009), S. 73. 170 Jäger (2011), S. 94 (Hervorhebung im Original). 171 Ebd. (Hervorhebung im Original).
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Dabei ist der Begriff des ›Référentiel‹ bedeutsam. Er stammt aus der Organisationstheorie, wo er von Bruno Jobert und Pierre Muller als »l’ensemble des normes ou des référents d’une politique«172 definiert wird. Demnach muss ein politisches Anliegen, um erfolgreich zu sein, in ein Bild gefasst sein, das auf allgemein akzeptierte Wertvorstellungen zurückgreift. Jobert und Muller fügen damit einem Modell wie dem des Bourdieu’schen Felds einen interessanten Aspekt hinzu: Während Bourdieu mithilfe der Begriffe von sozialem und symbolischem Kapital erkunden will, über welche immateriellen ›Ressourcen‹ die Akteure verfügen, um sich im Feld zu positionieren, wirft das Konzept der ›Référentiels‹ die Frage auf, wer darauf hingewirkt hat, dass manche ›Ressourcen‹ eine hohe Wirkmacht besitzen und andere nicht. Die Konstruktion dieser Bezugspunkte determiniert die Machtoptionen wesentlich, da sie das Bild eines Politikfeldes in den Köpfen bestimmt und damit die akzeptierten Handlungsoptionen eingrenzt.173 Zwar erfolgt diese ›Konstruktion‹ gesamtgesellschaftlich,174 doch manifestiert sich in ihrem Resultat, so Jobert und Muller, »le résultat d’un rapport de force dans lequel le plus fort impose ses conceptions.«175 Die Foucault’sche Konzeption der ›Deutungsmacht‹ gliedert sich somit in zwei unterschiedliche Fragestellungen: zum einen muss es der Diskursanalyse darum gehen, die argumentative Positionierung eines Anliegens bzw. mehrerer Anliegen zu durchleuchten: Gelingt es, die Sache, um die es geht, in der öffentlichen Debatte mit den richtigen Werten und Bildern zu verbinden? Darüber hinaus gilt es, transparent zu machen, welche Bilder dies sind und woher sie rühren. Um dieses »fonctionnement social du langage«176 nachzuweisen, werden im Rahmen der Diskursanalyse die im Diskurs getätigten Aussagen in den Blick gerückt, die sich »durch ihr regelmäßiges und wiederholtes Auftauchen« 177 auszeichnen. So werden einerseits Machtstrukturen in einem bestimmten Feld ent-
172 Jobert, Bruno und Pierre Muller: L’Etat en action. Politiques publiques et corporatismes, Paris: Presses universitaires de France 1987, S. 52. 173 Vgl. ebd. S. 70: »Le référentiel d’une politiqe publique, entendu comme représentation des rapports global/sectoriel, a donc pour effet de structurer le champ d’une politique. Il en détermine l’extension géographique ou sociale, et hiérarchise ses objectifs.« 174 Vgl. Gaudin (2004), S. 221. 175 Jobert / Muller (1987), S. 69. 176 Lüsebrink, Hans-Jürgen und Rolf Reichardt: La »Bastille« dans l’imaginaire social de la France à la fin du XVIIIe siècle (1774-1789), in: Revue d’Histoire Moderne et Contemporaine Nr. 30, April-Juni 1983, S. 196-234, hier S. 234. 177 Landwehr (2009), S. 71.
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hüllt. Darüber hinaus gibt dies Antworten darauf, wie die Diskursteilnehmer versuchen, gegenwärtige Deutungsschemata zu bewahren oder anzugreifen.178 Dazu gehören – neben den inhaltlichen Strategien – auch Allianzen zwischen »Spielern« mit ähnlichen Zielen. Janning et al. (2009) haben Modelle entwickelt, die es erlauben, Akteurs- und Diskurskoalitionen aufzudecken und in Relation zu setzen.179 Somit erlaubt die Diskursanalyse, der als autonomer Methode der Modellcharakter zur Erklärung soziologischer Zusammenhänge fehlt,180 in Kombination mit dem Feldkonzept Aussagen über Akteure, Kapital und Strukturen im Feld.181 Auf die eingangs vorgestellte Diskussion, inwiefern Geschichtspolitik ein eigenes Politikfeld darstellt und entsprechend mit den Mitteln der Politikfeldanalyse untersucht werden soll, kann daher geantwortet werden: Dies ist sehr wohl möglich, wenn man dabei die Besonderheiten der Geschichtspolitik, insbesondere ihren diskursiven Charakter, berücksichtigt. Eine reine Diskursanalyse jedoch würde die strukturelle Machtdimension des Gegenstands vernachlässigen. Hier bietet Bourdieus Konzept des politischen Felds ein gutes ›Scharnier‹, indem es die Diskursanalyse als Instrument nutzt zur Freilegung von Machtverhältnissen, von Kapitaleinsätzen und von Partizipationsstrategien einzelner Akteure.
178 Mills betont, dass Foucaults Interesse genau diesem »wie« gilt, nicht etwa der Beurteilung des Diskursinhalts. »Er ist vielmehr an den Mechanismen interessiert, durch die ein Diskurs als dominanter Diskurs produziert wird, unterstützt durch öffentlich Gelder, durch die Bereitstellung von Gebäuden und Personal seitens des Staates und durch die Achtung der gesamten Bevölkerung [...].« (Sara Mills: Der Diskurs, Tübingen / Basel: A. Francke Verlag 2007, S. 20; vgl. ebenso Donati (2011), S. 179). 179 Vgl. Janning et al. (2009), a.a.O. 180 Vgl. Diaz-Bone (2006), S. 80. 181 Zum Vorgehen bei der Diskursanalyse vgl. Hajer, Maarten A.: Argumentative Diskursanalyse. Auf der Suche nach Koalitionen, Praktiken und Bedeutung, in: Reiner Keller, Andreas Hirseland, Werner Schneider und Willy Viehöver [Hrsg.]: Handbuch sozialwissenschaftliche Diskursanalyse Band 2: Forschungspraxis, Wiesbaden: VS Verlag für Sozialwissenschaften, 4. Auflage 2010, S. 271-298, insb. S. 282 f.
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2.3.2
Erfolg im geschichtspolitischen Feld
2.3.2.1 Die ›Illusio‹ des geschichtspolitischen Feldes – wie definiert sich ›Erfolg‹? Um den Erfolg von ›Erinnerungslobbying‹ beurteilen zu können sowie die Einflüsse, die ihn positiv oder negativ bedingen, bedarf es zunächst der Klärung, woran der Erfolg zu messen sei. Als politischer Erfolg soll hier das Erreichen der formulierten Ziele in möglichst umfänglichem Maße definiert werden. Für das Erinnerungslobbying ist dies im Allgemeinen, wie oben beschrieben, die staatliche ›Kanonisierung‹ eines geschichtlichen Ereignisses gemäß dem in der Lobbygruppe vorherrschenden Narrativ. Wichtig ist dabei, dass Kanonisierung nicht nur die Anerkennung eines historischen Sachverhaltes durch offizielle Stellen beinhaltet, sondern auch dessen Einbindung in und Gebrauch für staatliche Rituale. Bei Infragestellung oder Angriff des so geschaffenen Erinnerungsortes – ob von innen oder von außen – ist dieser mit den Mitteln der Politik oder gar der Justiz zu verteidigen. So wird aus dem kollektiven Gedächtnis einer sozialen Gruppe eine Komponente der nationalen Identität. Damit sind drei Erfolgskriterien postuliert: die Anerkennung durch staatliche Organe, die Vermittlung durch staatliche Institutionen und Rituale sowie die Verteidigung nach innen und außen durch Politik und ggf. Justiz. Ob bei einer sozialen Gruppe von Erfolg hinsichtlich ihrer geschichtspolitischen Bemühungen gesprochen werden kann, hängt also davon ab, welcher dieser Schritte erreicht wird und in welchem Maß. Hinzu kommt die inhaltliche Betrachtung, inwieweit der offizielle Erinnerungsort dem Gruppennarrativ entspricht. Es kann angenommen werden, dass die Gruppe, die mit der Etablierung des Erinnerungsortes auch ihre eigene Identität zu stärken sucht, ein öffentliches Gedenken anstrebt, dessen Inhalte möglichst weit mit den von der Gruppe gesetzten Schwerpunkten übereinstimmen. Als viertes Erfolgskriterium wird hier daher inhaltliche Kongruenz vorgeschlagen. Bei der Evaluierung der Funktionsweise von Erinnerungslobbying ist neben der Erfolgsmessung auch die Frage von Bedeutung, welche Determinanten den Erfolg bestimmen bzw. wahrscheinlicher werden lassen. Die Analyse betrachtet deshalb nicht nur Erfolgskriterien, sondern auch Erfolgsfaktoren, durch die die staatliche Rezeption bedingt ist und welche daher im nächsten Punkt als ›Rezeptionsfaktoren‹ erarbeitet werden.
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2.3.2.2 Was macht den Erfolg wahrscheinlicher – Rezeptionsfaktoren Der Erörterung der möglichen Rezeptionsfaktoren und ihrer Komponenten ist vorwegzunehmen, dass diese natürlich keine mathematische Berechnung der Erfolgsaussichten erlauben. Ziel ist vielmehr, auf Basis der Forschung zur Interessenvertretung und zu kollektiven Gedächtnissen und Identitäten die wesentlichen Faktoren zu bestimmen, die die Übernahme des »Gruppengedächtnisses« durch die Politik wahrscheinlich machen. Darüber hinaus sollen die Determinanten dieser Faktoren benannt werden, um anhand des Fallbeispiels die Gewichtung der Rezeptionsfaktoren zu ermöglichen. In den Hypothesen zu den Charakteristika des Erinnerungslobbyings ist bereits dessen Zugehörigkeit zu den »moralisch-politischen Mobilisierungsagenturen« angemerkt worden. Diese sind auf die moralische Schlagkraft ihrer Argumente und auf die Mobilisierungsfähigkeit ihrer Mitglieder und Unterstützer angewiesen. Daraus leitet sich der erste Erfolgsfaktor des Erinnerungslobbying ab: Politische Opportunität Gemeint ist der wahltaktische Nutzen, den sich Politiker von der Unterstützung eines Gruppenanliegens versprechen. Indikatoren hierfür sind die Größe der Gruppe und der Zeitpunkt des Lobbyings (kurz vor Wahlen etc.). Indes ist anzumerken, dass nicht nur die Gruppengröße selbst entscheidend ist: Auch die Anzahl der Unterstützer spielt eine Rolle oder die Allianzen, die die Gruppe mit Vertretern ähnlich gelagerter Interessen eingegangen ist, um das eigene politische Gewicht zu erhöhen. Schließlich kann es noch eine Differenz geben zwischen der Gruppengröße und der dargestellten Gruppengröße: Da die genaue – je nach statistischen Schwierigkeiten auch die ungefähre – personelle Anzahl einiger Minderheiten oder sozialen Gruppierungen schwer zu ermitteln ist, ist es auch von Bedeutung, wie die Gruppe ihr Volumen nach außen präsentiert bzw. als wie gewichtig sie wahrgenommen wird. Gleichzeitig muss beleuchtet werden, ob und welche »Gegenlobbys« es zu dem Projekt gibt und wie diese ihr Gewicht geltend machen. Als Anhaltspunkt kann hier ferner die geographische Herkunft eines Politikers dienen: Stammt er aus einem Wahlkreis, in dem eine bestimmte Volksgruppe eine große Zahl von Wählern stellt? In welchem Kontext beschäftigt er sich mit dem Thema – als arrivierter Politiker oder am Beginn seiner Karriere, da er noch Themen besetzen muss? Ein weiterer Opportunitätsfaktor kann darin bestehen, ein erinnerungspolitisches Thema aufzugreifen und als Argument zu verwenden, um das eigene Profil
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zu schärfen. Damit wird nicht nur die spezielle ›Erinnerungsgemeinschaft‹182 angesprochen, sondern darüber hinausgehene Wählerkreise. Identitäts-/ Wertrelevanz Es ist bereits gesagt worden, dass die moralische Argumentation einen wesentlichen Aspekt der moralisch-politischen Mobilisierungsagenturen darstellt. Ob sie erfolgreich sein kann, hängt im Wesentlichen davon ab, ob die genannten Werte mit denen des Adressaten übereinstimmen und für diesen so bedeutsam sind, dass er um ihretwillen glaubt, für das Anliegen der Lobbygruppe eintreten zu müssen. Auf die Interaktion zwischen sozialen Gruppen und dem Staat bezogen bedeutet dies: Gelingt es, in Öffentlichkeit und Politik ein hinreichendes Verantwortungsbewusstsein herzustellen, das das Eintreten für den Gegenstand des Lobbyings als moralische Notwendigkeit erscheinen lässt?183 Dafür ist zunächst zu erheben, welche Argumente die Gruppe und ihre Unterstützer für ihr Anliegen vorbringen und auf welche moralischen Kategorien sie sich berufen.184 Überdies ist von Bedeutung, ob dabei auf eine Implikation desjenigen Staates, der zur Handlung veranlasst werden soll, in das historische Ereignis verwiesen wird beziehungsweise wie die nationale Verantwortung in dieser Sache begründet wird. Ebenso sind Gegenargumente und Appelle, die ebenfalls auf Wertvorstellungen rekurrieren, aufzuzeigen. Im nächsten Schritt ist zu prüfen, ob, in welchem Ausmaß und mit welchen Variationen diese Begründungen von der Politik übernommen werden. Schließlich soll eine Einordnung in das nationale Identitätsnarrativ und dessen Wertesystem erfolgen: Wie bedingt dieses die Bereitschaft seitens der Politik, sich der Rationale der Lobbygruppe bzw. deren Gegenstimmen verpflichtet zu fühlen? Realpolitische Argumente Die Gefährdung grundsätzlicher und langfristiger strategischer Ziele, aber auch kurz- und mittelfristiger politischer oder ökonomischer Vorteile kann demgegenüber ein Grund sein, auf ein erinnerungspolitisches Anliegen nicht oder nur in abgewandelter Form einzugehen. Diese Ziele müssen nicht auf den zwischenstaatlichen Bereich beschränkt sein: auch innenpolitisch liegen dem politi-
182 Zum Begriff der ›Erinnerungsgemeinschaft‹ vgl. Kapitel 3.2.3. 183 Vgl. hierzu Hassenteufels Kriterium der »réceptivité de l’opinion publique au problème«, Kapitel 2.2.2.2. 184 Vgl. hierzu auch die von Hassenteufel postulierten Faktoren hinsichtlich der medialen und öffentlichen und medialen Rezeption eines Themas wie in Kapitel 2.2.2.2 vorgestellt.
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schen Handeln einige Motive zugrunde (wie sozialer Frieden, nationale Einheit), die die Reaktion der Politik in die eine oder andere Richtung beeinflussen können. Für die Analyse bedeutet das, die innenpolitische Situation vor diesem Hintergrund zu beleuchten. Außerdem ist aufzuzeigen, welche bi-(oder multi-)lateralen Beziehungen betroffen sein könnten und auf Basis der Ausgangssituation, der strategischen Ziele und der beteiligten Akteure eine Abschätzung hinsichtlich des Einflusses auf die erinnerungspolitischen Äußerungen und Entscheidungen zu treffen. Das folgende Schaubild zeigt die drei beschriebenen Faktoren, die die Durchsetzungswahrscheinlichkeit eines geschichtspolitischen Anliegens beeinflussen: Abbildung 1: Rezeptionsfaktoren im geschichtspolitischen Feld
2.3.2.3 ›Erinnerungslobbying‹ als Kapitaleinsatz Die Evaluierung des ›Erinnerungslobbyings‹ erfordert nicht nur die Frage nach seinen (potentiellen) Akteuren, sondern insbesondere nach seinen Mitteln und jeweiligen Erfolgsaussichten. Auf welche Weise positionieren die Akteure ihr Anliegen, um ihm zur Durchsetzung zu verhelfen? In der Feldsprache gilt es herauszufinden, welches Kapital den Akteuren zur Verfügung steht und wie dieses eingesetzt wird. ›Erinnerungslobbying‹ ist in dieser Logik der Einsatz des ökonomischen, sozialen, kulturellen und symbolischen Kapitals einer sozialen Gruppe zum Zwecke der nationalen Anerkennung und gesamtgesellschaftlichen Vermittlung eines zunächst gruppenspezifischen Erinnerungsortes.
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Betrachtet man, welche konkreten Argumente soziale Gruppen im geschichtspolitischen Kontext für sich in Anspruch nehmen können, so lassen sich zwei übergeordnete »Kapitalarten« ausmachen: Das Gruppengedächtnis als kollektives Gedächtnis der sozialen Gruppe ist zunächst das »Rohmaterial«, ohne das ›Erinnerungslobbying‹ nicht möglich ist. Damit die Gruppe Anerkennung und Vermittlung eines Erinnerungsortes fordern kann, muss ein solcher für die Gruppe existieren. Um über die Gruppe hinaus Aufmerksamkeit zu erlangen, müssen zwei der von Hassenteufel185 angeführten Eigenschaften möglichst weitgehend zutreffen: Die »[dramatische Intensität]« des Ereignisses muss möglichst groß sein, um es aus anderen (historischen) Geschehnissen hervorstechen zu lassen. Zugleich braucht es ein hohes Maß an »[wissenschaftlicher Legitimität des Problems]«. Beides scheint sich zunächst aus dem historischen Geschehen objektiv zu ergeben. Der gruppenspezifische Erinnerungsort besteht indes nicht nur aus dem historischen Geschehen als solchem, sondern auch aus dessen Bedeutungsinterpretation: Warum ist dies für die Gruppe und weitere Kreise über sie hinaus von Relevanz? Die Frage kann von Experten beantwortet werden sowie von Anwälten186 des Themas, aber natürlich kann auch die Gruppe selbst eine Kontextualisierung vornehmen, die die Bedeutung ihres Anliegens herausstreicht. Insofern hat das Gruppengedächtnis, wie jedes kollektive Gedächtnis, die Komponente der historischen Gegebenheiten und deren Bedeutung für die Gruppe, aber auch die der Kontextualisierung in einem Werte- und Identitätsdiskurs. Zweitens kann die Gruppe auf ihren Organisationsgrad zurückgreifen. Dabei kommt es einerseits auf Größe und Mobilisierungsfähigkeit der Gruppe an: für wie viele Menschen ist das Thema von Bedeutung, wie viele sind bereit, sich dafür einzusetzen? Optimale Organisation beinhaltet auch eine gute Vernetzung in Politik und Öffentlichkeit, um das Anliegen auf die Tagesordnung zu bringen und Unterstützer außerhalb der eigenen Gruppe zu finden. Dazu können auch prominente Mitglieder der Gruppe beitragen – wenn sie bereit sind, sich für das Anliegen der Gruppe öffentlich einzusetzen.187 Nach dieser Unterscheidung können die vier allgemeinen Kapitalarten Bourdieus den zwei Kapitalformen des Erinnerungslobbyings relativ klar zugeordnet werden: das Gruppengedächtnis vereint in sich die Bestandteile des symbolisch-
185 Vgl. Kapitel 2.2.2.2. 186 Im Sinne von Advocacy. 187 Eben dieser Aspekt findet sich bei Hassenteufel im Kriterium »L’existence de relais qui vont porter un problème au sein des arènes publiques« wieder; vgl. Kapitel 2.2.2.2
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kulturellen Kapitals, während im Organisationsgrad die ökonomisch-sozialen Elemente zusammengefasst sind. Die soziale Gruppe verfügt also über zwei Arten von Kapital, mit denen sie die offizielle Gedächtnisbildung im geschichtspolitischen Feld beeinflussen kann. Um zu verstehen, wie dieser Kapitaleinsatz auf die Durchsetzung des Anliegens wirkt, hilft die Verbindung mit den zuvor dargelegten Rezeptionsfaktoren des Erinnerungslobbyings. Auch hier kann eine recht klare Zuordnung getroffen werden. Die inhaltliche Komponente des Anliegens, das Gruppengedächtnis, ist die Basis für den Identitäts- und Wertediskurs, in dessen Rahmen die Verortung des partikularen Gedächtnisses im nationalen Rahmen erfolgt. Der Organisationsgrad hingegen wirkt auf die Perzeption seitens der Politik: Wie groß ist das opportunistische Potential (oder auch die Bedrohung), die von der jeweiligen sozialen Gruppe ausgeht? Diese Wirkungen sind im folgenden Schaubild dargestellt: Abbildung 2: Einfluss des geschichtspolitischen ›Kapitals‹ auf die Rezeptions-faktoren
In der folgenden Betrachtung soll daher – nicht nach mathematischer Maßgabe, sondern unter Abwägung der angeführten Faktoren – die Korrelation zwischen ›Kapitalarten‹ und Erfolgsfaktoren anhand des Fallbeispiels beleuchtet werden. 2.3.3 Grenzen der Feldkonzeption Kritisch zu betrachten an Bourdieus Feldmodell ist vor allem, dass der Soziologe – er teilt dieses Verfahren mit Luhmann – den Akteuren im Feld eine rein funktionale Rolle zuweist. Die Unterstellung, jegliches Handeln diene der Verbes-
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serung der Feldposition und sei durch die feldspezifische Illusio motiviert, blendet individuelle, auch inhaltliche Faktoren aus. Ursache für diese Betrachtungsweise ist die bereits erwähnte Analogie zwischen sozialem und magnetischem Feld, also die Fundierung sozialer Regeln durch physikalische Gesetzmäßigkeiten. Diese Problematik ist bereits in den Ursprüngen der Soziologie, bei Auguste Comte, angelegt durch die »Konzeption einer in der Soziologie gipfelnden Pyramide der Wissenschaften: jede in der Hierarchie höher rangierende müsse den Prinzipien aller niedrigeren ebenfalls gerecht werden.«188
Übersehen wird dabei, dass, wie bereits die Opposition der Begriffe »soziale Regeln« und »physikalische Gesetzmäßigkeiten« andeuten soll, beides keineswegs identisch ist: der Mensch ist in seinem Handeln nicht ausschließlich natürlich bedingten Zwängen unterworfen.189 Insofern ist das Modell des »Feldes« eine sinnvolle Übertragung eines naturwissenschaftlichen Begriffs auf einen sozialwissenschaftlichen Gegenstand, wenn es darum geht, diesen zu verbildlichen und dadurch verständlicher zu machen. Der Fehler tritt auf, wenn das Modell nicht mehr nur als Methodik zur Beobachtung und Verdeutlichung verwendet wird, sondern die beobachteten Muster – zumal als ausschließliche – Vorschriften auf das Feld »rückübertragen« werden. Adornos berechtigte Kritik an Comte gilt deshalb auch für Bourdieu: »Darin entspringt die Versuchung, Ordnungsschemata, die einzig der Klassifikation eines als unstrukturiert vorgestellten Materials sich verdanken, dann dem Material zuzuschreiben, als wären sie dessen Struktur.«190
188 Adorno, Theodor W.: Über Statik und Dynamik als soziologische Kategorien, in: ders.: Gesellschaftstheorie und Kulturkritik, Frankfurt am Main: Suhrkamp 1975, S. 26-45, hier S. 31. 189 Vgl. ebd., S. 30. 190 Ebd., S. 31. Eine weitere Gemeinsamkeit von Bourdieu und Comte besteht darin, dass sie diese »Rückübertragung« aus einer Verquickung von (natur-)wissenschaftlichem Anspruch in der Methode und Willen zur gesellschaftlichen Kritik heraus vornehmen. So konstatiert Adorno für Comte: »Aber seine politische Tendenz ebenso wie seine quasi-naturwissenschaftliche Methode fährt ihm in die Parade.« (Ebd., S. 32) Mit Blick auf Bourdieu hält Zima fest: »Der hier hervortretende Widerspruch in Bourdieus Wissenschaftssoziologie, ein Widerspruch zwischen Feldautonomie und subjektiver Autonomie, hängt mit dem bei ihm latenten Gegensatz zwischen
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Zwar weist Zima darauf hin, dass Bourdieu diese Problematik keineswegs unbemerkt geblieben sei und verteidigt diesen dahingehend, dass er nicht behaupte, daß z. B. »Wissenschaft als reine Strategie auf eine ›Funktion im Feld‹ reduzierbar ist.«191 Indes verdeutlicht auch er, dass Bourdieu keine überzeugende Lösung vorgelegt hat, wie die Subjektivität des Einzelnen in die Feldfunktion zu integrieren sei. Zima schließt mit der hoffnungsschwangeren Aufforderung: »Es käme darauf an, Bourdieus Theorie der Felder ernst zu nehmen, ohne die Subjekte an den Feldrand abzudrängen.«192 So soll das dargelegte Modell des geschichtspolitischen Feldes und der Möglichkeiten des Kapitaleinsatzes im Folgenden als »Ordnungsschema« im Sinne Adornos verwendet werden. Den Akteuren werden dabei nicht ihre individuellen – ideologischen oder idealistischen – Überzeugungen abgesprochen. Gleichwohl sollte eine Analyse des Diskurses innerhalb einer sozialen Gruppe sowie der Argumente, mithilfe derer sie ihre Anliegen positioniert, helfen, aufzuzeigen, dass auch die individuellen Überzeugungen kollektiven Konstruktionen unterworfen sind.
dem Willen zur Gesellschaftskritik (der bei Luhmann fehlt) und einer funktionalen Betrachtungsweise zusammen, die (wie bei Luhmann) zu Systematisierung und Entsubjektivierung tendiert.« (Zima (2004), S. 183) Zima will in der kritischen Haltung Bourdieus allerdings nichts Negatives sehen, sondern betrachtet diese als »Voraussetzung für kreative Erkenntnis« (Ebd., S. 185) im sozialwissenschaftlichen Bereich. Tatsächlich scheint der Widerspruch nicht in der Positionierung des jeweiligen Wissenschaftlers zu liegen, sondern in der Leugnung derselben durch die Postulierung eines quasi-naturwissenschaftlichen Anspruchs. 191 Zima (2004), S. 181. 192 Ebd., S. 183.
3
›Erinnerungsgemeinschaften‹ in den internationalen Beziehungen
3.1 G ESCHICHTE
ALS F AKTOR IN DEN INTERNATIONALEN B EZIEHUNGEN
3.1.1 »Choix du passé« und »Poids du passé« Der Rekurs auf die gemeinsame Vergangenheit im deutsch-französischen bzw. französisch-algerischen Verhältnis zeuge, so Rosoux, von einem »choix« bzw. einem »poids du passé«. Im ersten Fall seien bewusst solche Referenzen ausgewählt worden, die Gemeinsamkeiten zu unterstreichen helfen und somit in die Zukunft weisen, während im letzteren Evozierungen der Vergangenheit eine Belastung im bilateralen Verhältnis darstellten. Rosoux spricht vom Unterschied »entre les reconstructions [choix] et les empreintes [poids] du passé ou, en d’autres mots, entre les utilisations et les effets du passé.«1 Damit haftet der Wahl (›choix‹) der Vergangenheit etwas Konstruiertes an, während eine Vergangenheit, die als Last (›poids‹) auf die Gegenwart drückt, dies unwillkürlich zu tun scheint. Für Annette Wieviorka hingegen drückt sich diese Opposition offenbar im politischen Willen zur Historisierung gegenüber einer mit Ressentiments beladenen Erinnerung aus. So findet sie, das ›Mémorial‹ des Ersten Weltkriegs in Frankreich sei in Wahrheit vielmehr ein ›Historial‹, denn: »Plus personne ne veut maintenir vivant le souvenir de la guerre franco-allemande, de la haine, de cette relation difficile qui a duré au moins un siècle.«2 Auch wenn Rosoux die Grenzziehung zwischen Geschichte und Erinnerung weniger von deren Präsenz
1
Rosoux (2001), S. 155.
2
Wieviorka, A. (2009), S. 87.
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in der Gegenwart abhängig macht, sondern in ihrer Finalität begründet sieht, 3 ist doch beiden gemein, dass sie davon auszugehen scheinen, die ›Last‹ der Vergangenheit sei etwas, was es politisch zu überwinden gelte. Diese implizite Chronologie korrespondiert nicht mit den Erkenntnissen Schülkes aus der Beobachtung der deutsch-polnischen Beziehungen: Er konstatiert demgegenüber immer wieder Wechsel zwischen positiven und negativen Rückgriffen auf die geteilte Geschichte. Dabei unterstreicht er, dass auch diejenigen geschichtlichen Verweise, die sich belastend auf das bilaterale Verhältnis auswirken, bewusst eingesetzt werden, wenn auch mehr mit Blick auf die innendenn auf die außenpolitischen Konsequenzen.4 Schließlich haben Henry Rousso und Eric Conan bereits 1994 in ihrer Anamnese zum französischen Umgang mit den Vichy-Jahren die Frage aufgeworfen, wie eine historische Last in die eigene Geschichte integriert werden könne, ohne sich damit unter den Bann eines Dämons zu stellen. Sie wollen »[...] inviter à réfléchir sur les usages du passé, sur les formes parfois ambiguës que peut revêtir l’entretien du souvenir, et plus encore sur la manière d’assumer le poids du passé sans tomber dans l’incantation vaine ou le ressassement compulsif.«5
Die hier betonte Notwendigkeit des assumer le poids du passé macht deutlich, dass eine ›gewählte‹ Vergangenheit bei allem politischen Willen und rhetorischer Kunst schwierige und schmerzhafte Aspekte nicht einfach ausblenden kann. Damit die Dominanz einer als Last empfundenen Vergangenheit zurücktritt hinter ein geteiltes, Zukunftsperspektiven eröffnendes Geschichtsnarrativ, muss wiederkehrenden Polemiken der Nährboden entzogen werden. In diesem Kontext spielt eine Rolle, ob das umstrittene Geschichtskapitel zu einem ›Abschluss‹ gelangt ist oder ob die damaligen Ungerechtigkeiten ungesühnt geblieben sind oder gar fortbestehen. Jean-Serge Massamba-Makoumbou stellt deshalb fest: »La finalité première des politiques de la mémoire reste la constitution d’une mémoire tranquillisée.«6 Ebenso unterstreicht Markus Meckel, Geschich-
3
Geschichte zielt demnach auf das Verständnis der Vergangenheit, Erinnerung auf das Verstehen der Gegenwart, vgl. Rosoux (2001), S. 162.
4 5
Vgl. Schülke (2009), S. 165. Vgl. Rousso, Henry und Eric Conan: Vichy, un passé qui ne passe pas, Paris: Fayard 1994, S. 13 (Hervorhebung d. A.).
6
Massamba-Makoumbou, Jean-Serge: Politiques de la mémoire et résolution des conflits, Paris: L’Harmattan 2012, S. 75.
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te müsse »ruhen können«7, damit sie die Gegenwart nicht mehr belaste. Auch hier wird wieder deutlich, dass Geschichte – im Gegensatz zur ›klassischen‹ Geschichtspolitik des 19. und beginnenden 20. Jahrhunderts – zunehmend nicht als Reservoir an Ereignissen mit Vorbildcharakter aufgefasst wird, sondern als Hypothek, die es politisch zu bewältigen gilt. Die Frage nach historischer Gerechtigkeit erfährt deshalb zunehmende Aufmerksamkeit. Diesem Konzept wird im folgenden Unterpunkt nachgegangen. 3.1.2. ›Historische Gerechtigkeit‹ – moralische Verpflichtung, juristische Aufgabe? Der Begriff der ›historischen Gerechtigkeit‹ findet zunehmend Verwendung, wenn es um die Behandlung schwieriger, oft gewaltträchtiger Vergangenheit geht. Im politischen Zusammenhang gerne aufgegriffen, um die moralische Legitimität politischer Forderungen zu unterstreichen,8 wird er inzwischen auch in wissenschaftlichen Abhandlungen und Symposien konzeptuell diskutiert.9 Trotz bestehender Skepsis gegenüber dem Begriff – Schefczyk sieht diese in einem »ungelösten Definitionsproblem« 10 begründet – lassen sich grundsätzlich zwei Kategorien von Fällen einteilen: Zum einen ist das Ziel die Aufarbeitung von Verbrechen in Staaten und Regionen, die sich in einer Umbruchssituation befinden und einen Modus vivendi für ihre ehemals verfeindeten Bürger finden müssen. Beispiele hierfür sind Südafrika nach dem Ende der Apartheid, Ruanda nach dem Völkermord an den Tutsi oder das Balkangebiet nach dem Bürgerkrieg in den
7 8
Interview mit Markus Meckel vom 27.11.2012. Vgl. z. B. Vaatz, Arnold: Die historische Gerechtigkeit wiederherstellen. Rede zur SED-Opferrente vom 01.03.2007 unter http://www.cducsu.de/Titel__die_historische_ gerechtigkeit_wiederherstellen/TabID__1/SubTabID__2/InhaltTypID__2/InhaltID__ 6866/inhalte.aspx, Stand: 01.12.2013.
9
Vgl. Meyer, Lukas H.: Historische Gerechtigkeit, Berlin [u.a.]: de Gruyter 2005; Claudia Fröhlich, Horst-Alfred Heinrich und Harald Schmid [Hrsg.]: Jahrbuch für Politik und Geschichte 1 (2010): Historische Gerechtigkeit. Geschichtspolitik im Vergleich, Stuttgart: Franz Steiner Verlag 2010 sowie die Tagung des ›Einstein-Forums‹ zum selben Thema im Juli 2001, vgl. Kerstin Decker: Historische Gerechtigkeit: Kriminalfall Geschichte vom 26.07.2001 unter http://www.tagesspiegel.de/weltspiegel/ gesundheit/historische-gerechtigkeit-kriminalfall-geschichte/244162.html, Stand: 01. 12.2013.
10 Schefczyk, Michael: Der Unterschied zwischen historischem Unrecht und historischem Übel in: Journal für Generationengerechtigkeit 9(2009)1, S. 1-9, hier S. 1.
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1990er Jahren. Dabei spielen oft Gerichte eine Rolle, die lokal eingesetzt werden können (so in Ruanda) oder international agieren (wie es der Internationale Strafgerichtshof für das ehemalige Jugoslawien in Den Haag zum Beispiel für die Kriegsverbrechen auf dem Balkan tut). Einen Sonderfall stellt die in Südafrika eingesetzte Wahrheits- und Versöhnungskommission unter dem Vorsitz des Erzbischofs Desmond Tutu dar: Im Gegensatz zur klassischen Gerichtsbarkeit verzichtete diese auf die Verhängung von Strafen, wenn die Angeklagten sich ihrer Vergangenheit stellten.11 Hier tritt ein wesentlicher Unterschied zwischen dem Selbst- und Geschichtsverständnis der südafrikanischen Kommission und dem Internationalen Strafgerichtshof (IStGH) zutage: Letzterer wendet internationales Recht auf rechtlich standardisierte – und damit wiederholbare – Straftaten an, um zu einem Urteil hinsichtlich Schuldig- oder Nichtschuldigkeit zu gelangen. Seine Tätigkeit betrachtet der Gerichtshof auch als Beitrag zur Prävention: potentielle ›Täter‹ sollen nicht von Straffreiheit ausgehen dürfen. 12 Demgegenüber betrachtet die Kommission den ganz spezifischen Kontext des Apartheidregimes, das historisch überwunden ist – Mission der Kommission ist es nun, den verschiedenen Teilen der Gesellschaft einen Überblick über das Geschehene zu bieten und gleichzeitig Vertrauen in eine gemeinsame Zukunft zu schaffen. Beide Vorgehensweisen sind nicht ohne Kritik geblieben: die Straffreiheit für schwere Verbrechen wurde als für die Betroffenen und ihre Angehörigen oft un-annehmbar gerügt, während die Aufnahme von Ermittlungen seitens des IStGH von manchen als Belastung für die Stabilität eines gerade zur Ruhe gekommenen Landes betrachtet wird.13 Die beiden Institutionen zeigen exemplarisch, wie schwierig sich die Umsetzung von ›Gerechtigkeit‹ bei großen gesellschaftlichen Verbrechen gestalten kann, auch wenn diese noch nicht sehr lange zurückliegen. Umso komplizierter scheint es, der zweiten Kategorie von Fällen ›gerecht‹ zu werden: nämlich jenen, die bereits viele Jahrzehnte zurückliegen bzw. bei denen die maßgeblichen Akteure nicht mehr leben. Weniger als um ›Schuld‹ oder ›Unschuld‹ scheint es hierbei – unabhängig davon, ob die Aufarbeitung über einen Gerichtsprozess, über parlamentarische
11 Vgl. Decker (2001), a.a.O. 12 Vgl. Benvenuto, Francesca Maria: Das Weltgericht. Der Internationale Strafgerichtshof soll globale Gerechtigkeit üben - in politischen Grenzen, in: Le Monde Diplomatique Nr. 10255 vom 8.11.2013, abgerufen unter http://www.monde-diplomatique. de/pm/2013/11/08.mondeText1.artikel,a0033.idx,8, Stand: 01.12.2013. 13 Vgl. ebd.
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Akte oder andere Formen der gesellschaftlichen Auseinandersetzung mit der Vergangenheit angestrebt wird – um die Positionierung der Gesellschaft gegenüber den historischen Verfehlungen zu gehen. Ricœur spricht deshalb von einer gesellschaftlichen dette, einer Schuldigkeit also, die nicht die Form einer Schuld (culpabilité), sondern eines Erbes (héritage) habe.14 Davon zeugt auch der im deutschen Sprachraum verbreitete Terminus der »historischen Verantwortung«15. Im Begriff der dette kommt die enthaltene Verpflichtung allerdings besser zum Ausdruck: Es steht einer Gesellschaft nicht frei, sich mit historischer Schuld auseinanderzusetzen; vielmehr handelt es sich nach heutigem westlichen Verständnis um eine Notwendigkeit, der sich zu widersetzen bedeutete, gegen gültige moralische Konventionen zu verstoßen. Janna Thompson führt beides auf englisch im Begriff der historical obligation zusammen: »A historical obligation is a moral responsibility incurred by individuals as citizens, owners or executives of corporations, or members of some other inter-generational association or community, as the result of the commitments or actions of their predecessors.«16
Eine solche Haltung wird in der Regel aus dem Primat der Menschenrechte abgeleitet: 17 Verbrechen gegen die Menschheit fordern von den Nachgeborenen, sich deren Verteidigung besonders anzunehmen, spezifisch mit Blick auf das Geschehene. Indes gehen die Meinungen darüber auseinander, wie dies zu tun sei. Für Fritz Bauer und Hannah Arendt besteht die Aufgabe darin, die Entstehungsbedingungen des Verbrechens zu erforschen, um diesen Mechanismen auf die Spur
14 Ricœur, Paul: La mémoire, l’histoire, l’oubli, Paris: Seuil 2000, S. 108. 15 Vgl. Tillmanns, Jenny: Was heißt historische Verantwortung?: Historisches Unrecht und seine Folgen für die Gegenwart, Bielefeld: transcript Verlag 2012, aber auch die Webseite des Auswärtigen Amtes, das darüber hinaus die ›historische Verantwortung‹ Deutschlands ausschließlich auf das Verhältnis zu den Juden im Allgemeinen und dem Staat Israel im Besonderen bezieht, vgl. »Außenpolitik in historischer Verantwortung« unter http://www.auswaertiges-amt.de/DE/Aussenpolitik/AktuelleArtikel/1204 19-DeutschjuedischeBeziehungen.html, Stand: 02.12.2013. 16 Thompson, Janna: Collective Responsibility for Historical Injustices, in: Lukas H. Meyer [Hrsg.]: Justice in Time. Responding to Historical Injustice, Baden-Baden: Nomos Verlagsgesellschaft 2004 [Interdisziplinäre Studien zu Recht und Staat, Band 30], S. 101-115, hier S. 101. 17 Vgl. Wieviorka, (2009), S. 92.
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zu kommen.18 Ein solches Streben nach Verstehen wird von Elie Wiesel abgelehnt: Er sieht die Verantwortung in der Erinnerung an das Schreckliche, nicht in der Suche, das Unverständliche zu verstehen.19 Jenny Tillmanns arbeitet heraus, dass es für eine verantwortungsvolle Erinnerung zudem kennzeichnend sei, dass sie das Bewusstsein für die Unterscheidung zwischen ›Tätern‹ und ›Opfern‹ aufrechterhalte.20 Ihr Konzept der »aktiven Historisierung« (im Gegensatz zu einer »passiven Historisierung«, die lediglich das Verstreichen der Zeit ohne bewusste Auseinandersetzung mit dem Geschehenen meint)21 zielt auf ein Erfahrbarmachen der Problematik: Sie fordert die »Überwindung der zeitlichen und räumlichen Distanz zur Vergangenheit« 22 vor dem Hintergrund des »Uneinholbarkeitscharakter[s] der Geschichte«23. Auch Micha Brumlik sieht die Unterteilung in ›Täter‹ und ›Opfer‹ als Voraussetzung für einen »gesellschaftlichen Gesundungsprozess«24. Nach Jean Améry ist es zum Zwecke der Bewahrung des Wissens um die Wahrheit darüber hinaus notwendig, dass die Opfergruppe nicht aufhört, Ressentiments gegen die Täter zu nähren.25 Derlei scharfe und zum Teil emotional aufgeladene Einteilungen werden von David Heyd wie Bernd Schäfer abgelehnt. Schäfer warnt davor, das erlebte Leid zum einzigen oder Hauptbezugspunkt einer Gruppe zu machen; dies führe zu neuen Gräben innerhalb der Gesellschaft.26 Heyd nennt Amérys Fixierung auf die Vergangenheit und seinen Unwillen, sich einer optimistischeren Perspektive
18 Vgl. Brumlik, Micha: Gerichtstag: Fritz Bauer und Hannah Arendt zu historischer Gerechtigkeit angesichts der Shoah, in: Claudia Fröhlich, Horst-Alfred Heinrich und Harald Schmid [Hrsg.]: Jahrbuch für Politik und Geschichte 1 (2010), Stuttgart: Franz Steiner Verlag 2010, S. 29-43, hier S. 41. 19 Vgl. ebd., S. 45. 20 Vgl. Tillmanns (2012), S. 24. 21 Vgl. ebd., S. 23 ff. 22 Ebd., S. 25. 23 Ebd. 24 Brumlik (2010), S. 45. 25 Vgl. Heyd, David: Ressentiment and Reconciliation. Alternative Responses to Historical Evil, in: Lukas H. Meyer [Hrsg.]: Justice in Time. Responding to Historical Injustice, Baden-Baden: Nomos Verlagsgesellschaft 2004 [Interdisziplinäre Studien zu Recht und Staat, Band 30], S. 185-197, hier insb. S. 193. 26 Vgl. Schäfer, Bernd: Historical Justice in International Perspective: How Societies Are Trying to Right the Wrongs of the Past, Konferenzbericht der vom 27.-29. März 2003 am GHI gehaltenen Konferenz in: GHI Bulletin (2003)33, S. 92-98, hier S. 93.
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zuzuwenden, eine »revolt against life«27. Zugleich erinnert Henning Melber daran, dass die in einem bestimmten historischen Zusammenhang korrekten Kategorien ›Täter‹ und ›Opfer‹ sich keinesfalls perpetuieren müssen.28 Ein veranwortungsvoller Umgang mit schuldbeladener Geschichte sieht sich deshalb auch vor die Herausforderung gestellt, dem historischen Trauma der Opfer Tribut zu zollen und gleichzeitig den Weg in die Zukunft zu weisen. Die historische Verantwortung beinhaltet also zweierlei: Verantwortung gegenüber der eigenen Gesellschaft bzw. der Menschheit, die Wiederholung des Verbrechens zu verhindern, und Verantwortung gegenüber den Opfern und ihren Nachfahren, denen die vergangenen Verbrechen besonderes Leid verursacht haben, so dass die ihnen entstandenen materiellen und imateriellen Schäden nach Möglichkeit gemindert werden. Neben der Uneinigkeit darüber, wie dies konkret zu geschehen habe, werfen insbesondere finanzielle ›Reparationen‹ die Frage auf, wie weit ›historische Verantwortung‹ zurückreicht. Sie bleibt in der Literatur letztlich unbeantwortet, allenfalls eine Unterscheidung zwischen moralischer und materieller Verantwortung kann ausgemacht werden. So lehnt Schäfer finanzielle Entschädigungsleistungen für Nachkommen von Sklaven in den USA ab: »Demanding reparations today would create an illusion of infinite corrective justice and actually impair the prospects of redistributive social reform on behalf of poor African-Americans.«29 Indes konstatiert auch er mit Andrew Valls, dass es wohl eines symbolischen Ausdrucks der Distanzierung bedürfe. Einen solchen hält Brumlik für weit wirkungsvoller als eine rein finanzielle ›Wiedergutmachtung‹: »Wenn man Gerechtigkeit also als einen Prozess begreift, in dessen Verlauf beide Parteien eine gemeinsame Sprache zur ›Wiedergutmachung‹ der Vegangenheit entwickeln müssen, dann bergen symbolische Kompensationen, Gedenkveranstaltungen, Mahnmalinitiativen oder individuelle Hilfangebote ein größeres Potential, als ›gerecht‹ empfunden zu werden und langfristig unter den Nachkommen von Tätern und Opfern versöhnlich zu wirken.«30
27 Heyd (2004), S. 190 (Hervorhebung im Original). 28 Vgl. Melber, Henning: Über die Mühen des Erinnerns und die Last des Erinnert werdens. Namibisch-deutsche Geschichte in der Gegenwart, in: Steffi Hobuß und Ulrich Lölke [Hrsg.]: Erinnern verhandeln. Kolonialismus im kollektiven Gedächtnis Afrikas und Europas, Münster: Westfälisches Dampfboot, 2. Auflage 2007, S. 46-60, hier S. 52 f. 29 Schäfer (2003), S. 94. 30 Brumlik (2010), S. 58.
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Finanzielle Kompensationen für lange zurückliegendes Unrecht bergen zudem das Problem, dass es immer schwerer wird, den Nachweis zu erbringen, dass die sich heute als Geschädigte Bezeichnenden aufgrund der damaligen Handlung wirklich schlechter gestellt sind, als wenn diese unterblieben wäre, wie Lukas Meyer ausführt. Dieses »Nicht-Identitätsproblem«31 sei ab einer gewissen zeitlichen Differenz nicht mehr zu lösen. Meyer stellt der Vergangenheitsgerechtigkeit deshalb die »Zukunftsgerechtigkeit« 32 als Erfordernis gegenüber: Eine angemessene Reaktion auf begangenes Unrecht könne nicht nur rückwärtsgewandt sein, sie müsse auch vom Willen zu einem fairen Verhältnis in der Zukunft zeugen. Der Rekurs auf die Gerichtsbarkeit wird also mit zunehmender zeitlicher Entfernung immer problematischer. Zugleich offenbaren die Hürden, die sich dabei auftun, die gesellschaftliche Unzulänglichkeit einer Auseinandersetzung mit historischem Unrecht, die auf den juristischen Rahmen beschränkt bleibt. Zwar greift Bensaïd im Hinblick auf die großen Prozesse um Menschheitsverbrechen zu kurz wenn er behauptet, die Mission des Richters erschöpfe sich in der Feststellung der Schuld oder Unschuld. 33 Zugleich ist ihm beizupflichten, wenn er die Erwartungshaltung an die Justiz, wie sie Étienne François beschreibt, für überzogen hält: »Der systematische Rückgriff auf das Recht und die Gerichte ist das letzte Merkmal der späten Debatte um Vichy. Dabei dient der Rekurs auf die Justiz nicht nur dazu, eine Wiedergutmachung für die Opfer durchzusetzen, sondern auch dazu, gleichzeitig eine legitime und allgemein verbindliche Deutung der Vergangenheit zu erzielen.«34
Dabei sind Historiker als eine Art ›Zeuge‹ zu den Prozessen geladen worden. Gegen diese Rolle hat Henry Rousso sich gewehrt: Er bezweifelt, dass die histo-
31 Meyer, Lukas H.: Historische Gerechtigkeit. Möglichkeit und Anspruch, in: Claudia Fröhlich, Horst-Alfred Heinrich und Harald Schmid [Hrsg.]: Jahrbuch für Politik und Geschichte 1 (2010): Historische Gerechtigkeit. Geschichtspolitik im Vergleich, Stuttgart: Franz Steiner Verlag 2010, S. 11-28, hier S. 13. 32 Ebd., S. 11, S. 26 f. 33 Vgl. Bensaïd, Daniel: Qui est le juge? Pour en finir avec le tribunal de l’Histoire, Paris: Fayard 1999, S. 25. 34 François, Etienne: Frankreich und das Vichy-Syndrom, in: Harald Schmid und Justyna Krzymianowska [Hrsg.]: Politische Erinnerung. Geschichte und kollektive Identität (Peter Reichel zum 65. Geburtstag), Würzburg: Köngishausen & Neumann 2007, S. 185-195, hier S. 190.
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rische Expertise hinreichende Voraussetzung für ein juristisches Urteil sein könne: »En mon âme et conscience, je pense que l’historien ne peut pas être un témoin et que sa capacité d’expertise s’accomode assez mal des règles et des objectifs qui sont ceux d’une juridiction de jugement [...]; l’argumentation d’un procès n’est pas de même nature que l’argumentation universitaire.«35
Étienne François befürchtet gar eine Instrumentalisierung der Zeithistoriker und ihrer Expertenposition.36 Bei den historisch orientierten Prozessen habe man es schließlich nicht mit »fachwissenschaftlichen Kontroversen« 37 zu tun gehabt, sondern mit den Interessen Betroffener und den Strategien zu deren Durchsetzung. Indes kann ein gesamtgesellschaftlich akzeptiertes Vergangenheitsbild weder Resultat wissenschaftlichen Urteils allein sein, noch dieses ignorieren. Massamba-Makoumbous Fazit ist daher einleuchtend: »En conclusion, demander au procès d’assumer la responsabilité d’écrire l’histoire contraste avec sa vocation principale. Il n’en demeure pas moins qu’il y concourt par une voie parallèle.«38 Welche Rolle kann dem juristischen Prozess in diesem Kontext zugemutet werden? Norbert Frei verteidigt in einem Radiointerview den Prozess um den NS-Kriegsverbrecher Demjanjuk vor allem wegen des Bedeutung für die Nachkommen der Opfer – und die liegt, wie man seiner Schilderung entnehmen kann, mehr in dem Umstand, gehört worden zu sein als letztendlich im Urteil.39 Die Diskursivität von Geschichtspolitik drückt sich darin aus, dass nicht das Urteil im Vordergrund steht – sondern die Auseinandersetzung mit der Vergangenheit, zu der die ganze Gesellschaft durch den Prozess gezwungen wird.40
35 Henry Rousso beim Prozess um Maurice Papon, zitiert nach Bensaïd (1999), S. 19. 36 Vgl. François (2007), S. 194. 37 Ebd., S. 191. 38 Massamba-Makoumbou (2012), S. 143. 39 Vgl. »Mord verjährt nicht«. Historiker Norbert Frei über die letzten NS-Prozesse gegen »vergleichsweise kleine Einzeltäter«; Interview von Ute Welty mit Norbert Frei vom 27.12.2012 unter http://www.deutschlandradiokultur.de/mord-verjaehrt-nicht.100 8.de.html?dram:article_id=232344, Stand: 02.12.2013. 40 Analog betont Meckel, das Wesen von Geschichtsaufarbeitung sei nicht die Feststellung eines Sachverhaltes, sondern der Prozess von den Erörterung (Interview mit Markus Meckel vom 27.11.2012).
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Somit wird deutlich: Obwohl sie als ›Zeugen‹ in einem gerichtlichen Verfahren benötigt werden, erschöpft sich darin nicht die gesellschaftliche Rolle von Opfern und Historikern. Vielmehr arbeiten sie zusammen mit Jurisprudenz und Politik an einer gesamtgesellschaftlichen Aufgabe, die als kontinuierlicher Prozess angelegt sein muss, um dem Ziel der Vergegenwärtigung der Vergangenheit nahe zu kommen: ihre Bedeutung für die Zukunft immer wieder zu verhandeln. Die vielen Perspektiven auf historische Verantwortung und Aufarbeitung sind vorangehend erörtert worden, um die – inhaltliche, Erwartungs- und Beteiligungs- – Komplexität darzulegen, die der Wunsch nach Erzeugung ›retrospektiver Gerechtigkeit‹ bereithält. Auf internationaler Ebene ist diese Komplexität verdichtet: Neben der Konfrontation mit den verschiedenen Erwartungshaltungen sind die politischen Vertreter einer Nation bei deren Formulierung innenwie außenpolitischen Zwängen unterworfen, und die Zahl der (offiziellen und inoffziellen) Akteure ist potentiell erhöht. Sofern es um die juristische Aufarbeitung völkerrechtlicher Verbrechen geht, kann die Völkergemeinschaft ein – für die beteiligten Länder geltendes – Mandat haben, Ermittlungen zu initiieren. Doch bereits hier sieht sie sich mit dem Defizit konfrontiert, dass die ausschließliche Beschäftigung mit juristischen Fragen die landesspezifische Problematik der Zukunftsgerechtigkeit unzureichend zu berücksichtigen droht. Zugleich besteht ein vor allem von der ›westlichen‹ Staatengemeinschaft propagierter Konsens, nach dem die Aufarbeitung gewalttätiger Vergangenheit eine moralische Verpflichtung ist und als »Gradmesser für den Prozess der Demokratisierung insgesamt«41 herangezogen wird. Umgekehrt ist festzuhalten, dass in einem de-
41 Paulmann, Volker: Die Arbeit am kollektiven Gedächtnis. Erinnerungsorte in Deutschland und Südafrika – zur Struktur eines politschen Feldes, in: Steffi Hobuß und Ulrich Lölke [Hrsg.]: Erinnern verhandeln. Kolonialismus im kollektiven Gedächtnis Afrikas und Europas, Münster: Westfälisches Dampfboot, 2. Auflage 2007, S. 73-90, hier S. 73. Weniger absolut formuliert, doch in die gleiche Richtung zielt Norbert Lammerts Aussage: »Aus der Art und Weise, wie sich eine Gesellschaft und ein Staat zur eigenen Geschichte verhalten, lassen sich Rückschlüsse auf das jeweilige Selbstverständnis ziehen.« (Lammert, Norbert: Bikini-Verkäufer am FKK-Strand? Der Staat und die Erinnerungskultur, in: Wagner, Bernd für das Institut für Kulturpolitik der kulturpolitischen Gesellschaft e. V. [Hrsg.]: Jahrbuch für Kulturpolitik 2009. Thema: Erinnerungskulturen und Geschichtspolitik, Essen: Klartext Verlag 2009, S. 33-39, hier S. 33), s. a. Verdeja, Ernesto: The elements of political reconciliation, in: Alexander Keller Hirsch [Hrsg.]: Theorizing post-conflict reconciliation. Agonism, restitution and repair, Oxon / New York: Routledge 2012, S. 166-181, hier S. 178 f.
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mokratisch nicht voll entwickelten Land Defizite im aufrichtigen Umgang mit der eigenen Geschichte stärker als Symptome mangelnder Meinungsfreiheit und gesellschaftlicher Kontroverse ins Auge fallen. Damit rücken viele ›nichtwestliche‹ Staaten aufgrund ihrer geschichtspolitischen Gepflogenheiten in den Fokus der Kritik. Bei einer solchen Konstellation bleibt es nicht aus, dass international gültigen Maximen von den monierten Ländern immer wieder strategische Motivationen unterstellt werden. ›Historische Gerechtigkeit‹ ist deshalb auch ein Feld geworden, auf dem die Wertedissonanzen der Gegenwart an historischen Fällen abgearbeitet werden, wie im Folgenden aufgezeigt wird. 3.1.3 Infragestellung oder ›Neuinterpretation‹ internationaler Werte als Machtfrage Zur Aufgabe des Menschenrechtsschutzes gehört zunächst die Verhinderung von Menschenrechtsverletzungen. Da dies allgemein die am schwierigsten durchzusetzende Aufgabe ist, verlagert sich der Fokus der Internationalen Gemeinschaft oft auf die retrospektive Bestrafung der strafrechtlichen Verfolgung von Menschenrechtsverletzungen, aber auch auf deren moralische Verurteilung. Bereits die strafrechtliche Ahndung ruft häufigen Protest hervor: Gerade mit Blick auf den Internationalen Strafgerichtshof unterstellen einige Vertreter afrikanischer Länder rassistische Kriterien bei der Ermittlungsaufnahme. 42 Dass dieser Verdacht gerne von Seiten Angeklagter genutzt wird, um die Legitimität der sie verfolgenden Institution in Frage zu stellen, sei hier nicht diskutiert. Sie können dies jedoch nur tun, weil ihr Vorwurf für viele Menschen offenbar nicht einer gewissen Plausibilität entbehrt: Der ›Westen‹ nutze die von ihm geschaffenen Institutionen, um in einer postkolonialen Welt weiter Macht über schwächere Länder auszuüben. Diese Sichtweise konzentriert sich nicht auf die Chancen, die die universelle Durchsetzung international vereinbarter Regelungen bietet, sondern nährt sich aus dem Gefühl jahrzehntelanger Ausbeutung und Unterlegenheit. Für die Aufarbeitung historischen Unrechts stellt sich diese Problematik in verstärktem Maße: Diesbezügliche Aufforderungen erscheinen in einem solchen – komplexbelasteten – Licht als Versuch, die Geschichte nichtwestlicher Länder zu kritisieren und so die eigene Überlegenheit zu unterstreichen. Zur Debatte steht dabei weniger das Recht, das verteidigt werden soll, als die Legitimität des
42 Vgl. Benvenuto (2013), a.a.O. sowie Vignoli, Maria Elena: ICC on trial before the African Union vom 11.10.2013 unter http://beyondthehague.com/2013/10/11/icc-ontrial-before-the-african-union/, Stand: 07.12.2013.
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›Westens‹, die Bewertungsmaßstäbe für andere festzusetzen. Eine solche Haltung beobachtet Minassian heute für die Verurteilung von Genoziden. Er stellt dabei fest, dass die Infragestellung der Normen eigentlich eine Infragestellung des Okzidents sei.43 Hier steuere man auf eine »rupture systématique de l’architecture du monde«44 zu. Dieser Bruch im internationalen System rühre allerdings nicht nur von der Opposition zwischen den traditionell mächtigen Staaten und den Entwicklungsstaaten und deren Postulierung unterschiedlicher Wertmaßstäbe her. Vielmehr zeuge er auch von einer veränderten Akteurskonstellation auf internationaler Ebene. Die mediatisierte Globalisierung habe die Zivilgesellschaft als neuen Akteur auf dieser Bühne hervorgebracht. Menschen hätten Teil an den Vorgängen in anderen Gegenden der Welt, wodurch das Internationale intersozial werde.45 Es ist ein Allgemeinplatz, dass die Teilnahme an geographisch entlegenen Vorgängen umso größer ist, je stärker die emotionale Beteiligung. Historische Debatten haben als Themenkomplex, der Identitätsfragen immer auch berührt, ein besonders hohes Mobilisierungspotential. Nach dieser Betrachtung sind sie deshalb nicht nur ein Sujet unter mehreren, die zwischen Staaten diskutiert werden. Sie können durch ihre mobilisierende Kraft auch die Akteurslandschaft im internationalen System verändern. Die Machtfrage, die bei der Beurteilung historischer Debatten mitschwingt, stellt sich daher nicht nur zwischen orientalen und okzidentalen Ländern, zwischen erster und zweiter oder gar dritter Welt. Sie ist auch die Frage einer veränderten Beteiligung am internationalen Geschehen, deren Beantwortung davon abhängt, welche Zugangs- und Einflussmöglichkeiten man – neben den Staaten – den Teilnehmern einräumt. Eine Orientierung im Rahmen des konstruktivistischen Ansatzes zur Betrachtung der internationalen Beziehungen wird deshalb im nächsten Punkt vorgenommen.
43 Interview mit Gaïdz Minassian vom 04.03.2013. 44 Minassian, Gaïdz: Bataille mondiale sur les normes in: Le Monde vom 12.01.2012. 45 Interview mit Gaïdz Minassian vom 04.03.2013.
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3.2 »E RINNERUNGSGEMEINSCHAFTEN « ALS INTERNATIONALE A KTEURE 3.2.1 Akteure in der konstruktivistischen Theorie Der klassischen, sich auf Vordenker wie Hobbes und Machiavelli berufenden Schule des Realismus46 in den internationalen Beziehungen steht seit den 1980er Jahren eine andere Herangehensweise gegenüber: der Konstruktivismus. Im Gegensatz zu den ›Realisten‹, die im internationalen System Staaten am Werke sehen, die jeweils nach Interessenmaximierung streben, ziehen die ›Konstruktivisten‹ den realistischen Begriff des ›Interesses‹ grundsätzlich in Zweifel: Ihrer Ansicht nach sind Interessen nicht naturgegeben, zum Beispiel durch die Distribution von Ressourcen. Interesse ist nach konstruktivistischer Auffassung immer eine Variable, die auch von äußeren Umständen, insbesondere aber von deren Wahrnehmung abhängt. Hierbei spielt die Identität eines Staates eine wesentliche Rolle: »[...] or chaque acteur raisonne et agit selon le ›reflet de soi‹, le reflet qu’il a de lui-même. [...] Les ›identités‹ sont donc les moteurs principaux à analyser.«47 Dies hat mehrere Konsequenzen: Wenn die Interessen des Staates ›konstruiert‹ sind, ist die erste Frage, welchen Einflüssen, insbesondere welchen Akteuren, dieser Konstruktionsprozess unterworfen ist. Zweitens ist zu betrachten, wie die Staaten versuchen, dieser Identität im internationalen Umfeld Geltung zu ver-leihen – für welche Politiken, welche – auch immateriellen – Ziele, sie sich einsetzen. Schließlich werden durch den konstruktivistischen Blick auch andere Akteure als lediglich die Nationalstaaten in der internationalen Arena wahrgenommen: welche z. B. Nichtregierungsorganisationen sind ebenfalls an der Durchsetzung definierter Werte beteiligt? Vereinfacht gesagt, gibt es zwei Analysefelder für konstruktivistische Betrachtungen:48 Die internationale ›Bühne‹ einerseits, auf der es den Einfluss bestimmter ›Konstruktionen‹ nachzuweisen und deren Vertreter es zu benennen
46 Zur Entwicklung von Realismus und Neorealismus vgl. Robert Frank: Histoire et théories des relations internationales, in: ders. [Hrsg.]: Pour l’histoire des relations internationales, Paris: Presses universitaires de France 2012, S. 41-82, hier S. 42-48. 47 Ebd., S. 71. 48 Vgl. hierzu auch Weller, Christoph: Perspektiven eines reflexiven Konstruktivismus für die Internationalen Beziehungen, in: ders. und Cornelia Ulbert [Hrsg.]: Konstruktivistische Analysen der internationalen Politik, Wiesbaden: VS Verlag für Sozialwissenschaften / GWV Fachverlage GmbH 2005, S. 35-64, hier S. 36.
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gilt. Andererseits den lokalen (ggf. auch: intra-organisationellen) Raum, in dem der ›Konstruktionsprozess‹ nachzuzeichnen ist: wie haben sich bestimmte Werte, bestimmte Identitäten, durchgesetzt? Erstaunlicherweise hat letzteres, die gesellschaftliche Konstruktion internationaler Politik, wenn man Christoph Weller folgt, die geringere Aufmerksamkeit erfahren.49 Weller hat selbst versucht, dem Abhilfe zu verschaffen, indem er eine Studie über die Rolle der öffentlichen Meinung in der Außenpolitik vorgelegt hat.50 Pierre Milza resümiert, dass darüber hinaus auch lokale, zunächst als rein sozial betrachtete Politiken – wie die Arbeitsmarktpolitik – vor dem Hintergrund von Migrationsbewegungen in den Fokus der Forschung zu internationalen Beziehungen gerückt sind.51 Dabei wird nicht nur ein hoher Grad von Interdependenz zwischen Innenund Außenpolitik offenbar. Auch das traditionelle Akteursverständnis, das sich in der realistischen Auffassung nur auf die Staaten als Handelnde im internationalen Kontext beschränkte, wird hinterfragt. Die Dekonstruktion der Staatsidentität hat gezeigt: Der ›Staat‹ sei damit lediglich »als eine strukturelle Einheit zu sehen, der [sic] aber nicht von sich aus agiert.«52. Neben der Frage, auf welche Weise vorrangig innenpolitische Themen und Debatten sich im äußeren Auftreten dieser ›strukturierenden Einheit‹ widerspiegeln, gilt die Aufmerksamkeit darüber hinaus den Beteiligten an diesem Prozess: Wer hat Einfluss auf die Konstruktion der ›Staatsidentität‹ und der daraus abgeleiteten Ziele? Und wer – neben dem ›Staat‹ geht deren Durchsetzung auf internationaler Ebene nach? Während konstruktivistische Ansätze dabei generell von einem erweiterten Akteurskreis ausgehen, der zum Beispiel den oben erwähnten Nichtregierungsorganisationen ebenfalls Einfluss bei globalen Interaktionen zuspricht, betrachten Verfechter einer wirklichen ›internationalen Zivilgesellschaft‹ 53 wie Ber-
49 Vgl. ebd., S. 48. 50 Vgl. Weller, Christoph: Die öffentliche Meinung in der Außenpolitik. Eine konstruktivistische Perspektive, Wiesbaden: Westdeutscher Verlag 2000. 51 Vgl. Milza, Pierre: Migrations et relations internationales, in: Robert Frank [Hrsg.]: Pour l’histoire des relations internationales, Paris: Presses universitaires de France 2012, S. 329-343, hier S. 337 f. 52 Holtz, Andreas und Nina von Dahlem: Kultur Macht Politik. Konstruktvismus und die politische Beziehung von Kultur und Macht, Frankfurt am Main: Peter Lang 2010, S. 105. 53 Badie verwendet hierfür den Begriff »civisme international«, vgl. Badie, Bertrand: La diplomatie des droits de l’homme. Entre éthique et volonté de puissance, Paris: Fayard 2002, S. 270.
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trand Badie auch das Individuum als internationalen Akteur. Der durch die Mediatisierung unmittelbar an weltweiten Vorgängen beteiligte Bürger entwickle einen »militantisme qui sort du seul cadre national.«54 Diese zunehmende Komplexität resultiere gar in einer »crise globale de l‹autorité«55, wie es Robert Frank formuliert, einem Mangel an Instanzen zur verbindlichen Regelung internationaler Streitigkeiten. Auch wenn es an einer Festlegung, was genau ein konstruktivistischer Ansatz ist, mangelt,56 sind also wesentliche Kennzeichen eines solchen festzuhalten: ›Macht‹ und ›Reichtum‹ sind weder absolute Größen noch die alleinigen Antriebskräfte im internationalen Feld. 57 Vielmehr sind Selbst- und Fremdbilder wesentliche Handlungsmotivationen für Staaten, aber auch für das erweiterte Akteursfeld im internationalen Raum. 58 Dadurch verändert sich der Machtbegriff, der im Wesentlichen als Einflussgröße aufgefasst wird;59 sowohl für die Durchsetzung von Interessen auf internationaler Ebene als auch für deren Konstituierung im nationalen Raum. Die so entstehenden Wechselwirkungen zwischen nationalem und internationalem Feld, gepaart mit einer größeren Vielfalt der Akteure, werfen neue Optionen der Einflussnahme und damit der Machtausübung auf.
54 Ebd. 55 Vgl. Frank (2012), S. 80. 56 Vgl. Holtz / Von Dahlem (2010), S. 102. 57 Vgl. hierzu Shannon, Vaughn P.: Introduction: Ideational Allies – Psychology, Constructivism, and International Relations, in: ders. und Paul A. Kowert [Hrsg.]: Psychology and Constructivism in International Relations. An ideational alliance, Ann Arbor: The University of Michigan Press 2012, S. 1-29, hier S. 4. 58 Vgl. Larson, Deborah Welch: How Identities Form and Change: Supplementing Constructivism with Social Psychology, in: Paul A. Kowert und Vaughn P. Shannon [Hrsg.]: Psychology and Constructivism in International Relations. An ideational alliance, Ann Arbor: The University of Michigan Press 2012, S. 57-75, hier S. 57. 59 Vgl. Guzzini, Stefano: Power, Realism and Constructivism, Abingdon/ New York: Routledge 2013, S. 93. Cornelia Ulbert thematisiert in diesem Kontext auch »das Besipiel des Kampfes um politische Macht als Deutungsmacht«, vgl. dies.: Konstruktivistische Analysen in der internationalen Politik. Theoretische Ansätze und methodische Herangehensweisen, in: dies. und Christoph Weller [Hrsg.]: Konstruktivistische Analysen der internationalen Politik, Wiesbaden: VS Verlag für Sozialwissenschaften / GWV Fachverlage GmbH 2005, S. 9-34, hier S. 25.
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3.2.2 Nationales Handeln, internationale Wirkung? Letzteres greifen Fiona Adamson und Madeleine Demetriou auf,60 die aus dem Thema ›Migration‹ ein weiteres, ganz neues Forschungsfeld keimen sehen: die Rolle von Diasporas als Akteur der internationalen Beziehungen. Dabei handelt es sich auch hier um ein Transnationalisierungsphänomen. Adamson und Demetriou untersuchen den Einfluss sozialer Einheiten, die in verschiedenen Ländern parallel existieren und gleichwohl über einen längeren Zeitraum eine gemeinsame Identität aufrecht erhalten haben, die sich auf ein – reales oder vorgestelltes – Heimatland bezieht.61 Bei dem Ansatz, diese Einheiten im Hinblick auf ihre Wirkungen auf die internationalen Beziehungen zu untersuchen, stützen die beiden Forscherinnen sich auf einen aus dem cultural turn hervorgegangenen Trend, der dem Konzept der ›Diaspora‹ und seiner Erforschung in den Geistesund Sozialwissenschaften seit Beginn der 1990er Jahre großen Raum verleiht.62 Adamson und Demetriou schlagen nun vor, dieses Konzept auch hinsichtlich seines internationalen politischen Einflusses fruchtbar zu machen. Sie weisen darauf hin, dass bei der Entwicklung und Pflege von Diasporas identitäre und realpolitische Ziele auch grenzüberschreitend eng verknüpft sind: »Developing countries in particular have, in the past decade or so, attached increasing importance to their overseas nationals‹ political and economic potential.«63 Die beiden Forscherinnen sagen nicht, dass die politische Mobilisierung der Diaspora auf Initiative des ›Mutterlandes‹ erfolgt oder ob dieses lediglich von einer solchen profitiert. Im Gegenteil, die verstärkte politische Präsenz von Diasporas »due to the self-conscious efforts of political entrepreneurs who use this new environment to articulate, politicize and activate various diasporic identifications and practices«64 legt eher eine Verselbständigung des Konzeptes nahe. In jedem Fall gehe es hier aber um eine neue, transnationale politische Organisationsform, die den klassischen Nationalstaat gar herausfordern könne.
60 Adamson, Fiona B. und Madeleine Demetriou: Remapping the Boundaries of ›State‹ and ›National Identity‹: Incorporating Diasporas into IR Theorizing, in: European Journal of International Relations 2007 13:489, S. 489-526. 61 Vgl. ebd., S. 497. 62 Vgl. Chivallon, Christine: Introduction – Diaspora: ferveur académique autour d’un mot, in: dies. und William Berthomière [Hrsg.]: Les diasporas dans le monde contemporain. Un état des lieux, Paris / Pessac: Éd. Karthala und MSHA 2006, S. 15-27, hier SS. 15, 18. 63 Adamson / Demetriou (2007), S. 501. 64 Ebd., S. 497.
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Sicher hat die gestiegene weltweite Mobilität sowohl identitäre als auch ökonmische Folgen. Indes gilt es, zu hinterfragen, ob diese zwingend in Opposition zum Nationalstaatsprinzip stehen müssen. Vielmehr ist die Frage interessant, welche Synthesen sich – wertebezogen wie materialistisch – aus dieser Konstellation ableiten; inwieweit also auch die Interessen des Nationalstaates – des ›neuen Heimatlandes‹ – von der politischen Betätigung der Diaspora profitieren können und umgekehrt. Zugleich stellt sich die Frage, welcher Diasporabegriff einem solchen Ansatz zugrunde gelegt werden muss. Verschiedene Definitionen zeigen einige Gemeinsamkeiten:65 Es handelt sich demnach bei einer Diaspora um eine organisierte soziale Gruppierung mit gemeinsamen ethnischen, religiösen oder kulturellen Wurzeln in einem – tatsächlichen oder imaginären – ›Heimatland‹, zu dem die Gruppe immer noch – teils nostalgisch geprägte66 – Bindungen pflegt. Zugleich existiert die Diaspora nicht nur in einem einzigen Land als Minorität, sondern in mehreren und ist somit eine transnationale Gruppierung. Eine solche Gruppe kann über ihre eigenen, transnationalen Strukturen verfügen, die ihr erlauben, ihre Interessen und ihre Identität auch international einzubringen. Gleichwohl sind auch Diasporagruppierungen vor allem innerhalb eines Staates organisiert und adressieren den Großteil ihrer politischen Anliegen an die nationale Politik. Dieses Einwirken hat zwei Besonderheiten: Durch den Bezug, den die Gruppe zu mindestens einem anderen Land – insbesondere dem ›Herkunftsland‹ hat, steigt die Wahrscheinlichkeit internationaler Resonanz des innenpolitischen Engagements. Zum anderen fürchten Diasporagruppen die vollständige Assimilation an ihr ›Gastland‹, die einer »Identitätsdiffusion«67 gleichkäme. Ihre politischen Forderungen ebenso wie der von ihr gepflegte Diskurs müssen deshalb nicht nur auf die Durchsetzung konkreter Maßnahmen zielen, sondern auch auf die identitäre Stärkung und den Fortbestand der Gruppe als solcher. Paul & Paul haben sich in ihrer bereits erwähnten Studie auf den direkten Einfluss ethnisch motivierten Lobbyings hinsichtlich der US-amerikanischen
65 Vgl. ebd. sowie den Überblick über verschiedene Definitionen von ›Diaspora‹ bei Lenoir-Achdijan (2006), S. 22. 66 So zitiert Achdijan Bruneau mit der Formulierung, die Gruppe binde ein »idéal collectif«; vgl. Achdijan (2006), S. 22. 67 Hettlage, Robert: Diaspora: Umrisse zu einer soziologischen Theorie, in: Mihran Dabag und Kristin Platt [Hrsg.]: Identität in der Fremde, Bochum: Universitätsverlag Dr. N. Brockmeyer 1993, S. 75-105, hier S. 100.
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Außenpolitik beschränkt.68 Dabei gehen sie allerdings von einer statischen, als gegeben betrachteten Diasporaidentität aus und betrachten vor allem materielle bzw. militärisch-strategische Forderungen, die die ›Heimatländer‹ fördern sollen (Kredite, militärische Unterstützung etc.). Den Prozess der außenpolitischen Wirkung innenpolitischer Forderungen vor dem Hintergrund der besonderen Diasporaidentität – und dem Wunsch nach ihrer Erhaltung – zu erforschen, ist indes (noch) komplexer. Welche innenpolitischen, identitär motivierten Forderungen können derlei Gruppen stellen, die zunächst keine außenpolitischen Maßnahmen betreffen, aber dennoch – beispielsweise durch die Kollision mit Zielen und Werten anderer Länder – einen außenpolitischen Effekt haben können? Wenn Dabag und Platt den insbesondere für die jüdische und die armenische Gemeinschaft außerordentlich wichtigen Platz betonen, den die eigene Geschichte bei der Bewahrung der kollektiven Identität in der ›Fremde‹ hat,69 verweisen sie auf ein in diesem Kontext besonders relevantes Feld: die Geschichtspolitik. Die Frage, die sich hier stellt, ist, inwieweit die Gruppen die für ihre Identität so konstitutive Geschichte im öffentlichen Rahmen einbringen. Um sie zu beleuchten, müssen nicht alle Prämissen des Diasporakonzepts übernommen werden. So wie Paul & Paul für die Beleuchtung des direkten Einflusses sozialer Gruppen auf Außenpolitik den Standpunkt der ethnischen Betrachtung wählen, soll für das geschichtspolitische Engagement die Prämisse des Vorliegens einer ›Erinnerungsgemeinschaft‹ gewählt werden. Damit wird ein vor allem im europäischen Kontext bislang verwendeter Begriff nutzbar gemacht, um Wechselwirkungen zwischen Innen- und Außenpolitik zu erläutern. Das Konzept wird im folgenden Punkt erläutert. 3.2.3 ›Erinnerungsgemeinschaft‹: Definition und Klassifizierung Auf den Begriff der ›Erinnerungsgemeinschaft‹ wird gerne zurückgegriffen, wenn nach Fundamenten für eine gesamteuropäische Identität gesucht wird. Damit ist dann das Dach gemeint, unter dem sich die vielen nationalen ›Identitäten‹ des Kontinents wiederfinden können.70
68 Vgl. Paul & Paul (2008), mehrfach zitiert in Kapitel 2. 69 Dabag, Mihran und Kristin Platt: Diaspora und das Kollektive Gedächtnis, in: dies. [Hrsg.]: Identität in der Fremde, Bochum: Universitätsverlag Dr. N. Brockmeyer 1993, S. 117-144, hier S. 130. 70 Vgl. z. B. Klaus Schönhoven: Europa als Erinnerungsgemeinschaft. Abschiedsvorlesung an der Sozialwissenschaftlichen Fakultät der Universität Mannheim am 13.
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Demgegenüber definiert Franziska Metzger den Terminus sehr offen und unabhängig von einem bestimmten Kontext als ›Kommunikationsgemeinschaft‹. Kommunikationsgemeinschaften seien überindividuell und übergenerationell. Letzteres erfordere den Rückgriff auf ein geteiltes Gedächtnis, weshalb die Kommunikationsgemeinschaft immer auch eine Erinnerungsgemeinschaft sein müsse.71 Erinnerungsgemeinschaften seien daher eine Form »identitätsbildender Kommunikationsgemeinschaften«72. Der Begriff der ›Erinnerungsgemeinschaft‹ ist also auf verschiedenen Ebenen anzuwenden. In dieser Arbeit, in der es um den Einfluss einzelner, innerstaatlicher Gruppen auf grenzüberschreitende Beziehungen geht, meint ›Erinnerungsgemeinschaft‹ denn auch nicht das oberhalb der nationalen Ebene angesiedelte Zusammenwachsen, zum Beispiel auf europäischem Niveau. Im Gegenteil: Hier geht es um eine partikulare Gruppierung, die sich durch ihr spezifisches ›Gedächtnis‹ auszeichnet und eine Minorität im Rahmen des nationalen Kollektivs darstellt. Solange es für diese Minorität keinen transnationalen Bezug gibt, bleiben all ihre Bestrebungen, ihr kollektives Gedächtnis im öffentlichen Raum zu verorten, zumeist ein rein innenpolitisches Phänomen. Doch gerade in Diaspora(ähnlichen)-Situationen ist die Wirkung der Gruppe als Erinnnerungsgemeinschaft interessant: Wie versucht sie, ihre Geschichte in einen staatlichen Kanon einzubringen und damit ihre identitäre Anerkennung zu verwirklichen? Wie wird dies vor dem transnationalen Hintergrund der Gruppe international rezipiert? ›Transnational‹ muss hier gar nicht heißen: in mehreren Ländern beheimatet. Darin unterscheidet sich die ›Erinnerungsgemeinschaft‹ von der Diaspora, die qua Definition parallel in verschiedenen Ländern existiert. Für die ›Erinnerungsgemeinschaft‹ hingegen ist lediglich ein internationaler Bezug notwendig. In der
September 2007, erschienen bei der Friedrich-Ebert-Stiftung [Reihe: Gesprächskreis Geschichte, herausgegeben von Dieter Dowe, Heft 75], Bonn: Friedrich-Ebert-Stiftung 2007 sowie Wolfgang Stephan Kissel und Ulrike Liebert [Hrsg.]: Perspektiven einer europäischen Erinnerungsgemeinschaft. Nationale Narrative und transnationale Dynamiken seit 1989 [Reihe: Europäisierung – Beiträge zur transnationalen und transkulturellen Europadebatte, Band 7], Münster u. a.: LIT-Verlag 2010. 71 Vgl. Metzger, Franziska: Geschichtsschreibung und Geschichtsdenken im 19. und 20. Jahrhundert, Bern u. a.: Haupt Verlag 2011 [Reihe: UTB], S. 93 ff., S. 158 ff.; für die von Metzger sogenannte »überindividuelle Vergemeinschaftung«, respektive »übergenerationelle Vergemeinschaftung« siehe S. 93; für den obligtorischen Rückgriff der Kommunikationsgemeinschaft auf das Gedächtnis S. 94. 72 Ebd., S. 158.
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Regel wird dies die Verbindung zu mindestens einem anderem Land – beispielsweise dem Herkunftsland der Vorfahren – sein; gegebenenfalls ist aber auch die internationale Relevanz der eigenen Geschichte ausreichend, beispielsweise aufgrund ihrer menschenrechtlichen Bedeutung. Dies verweist auf einen weiteren Unterschied: die Bedeutung des Erinnerungsgegenstands. Zwar spielt für die Diasporamitglieder die Herkunft eine wesentliche Rolle. Das Bewusstsein für den gemeinsamen Hintergrund, der mit zunehmender Dauer des ›Exils‹ auch idealistische Züge annehmen kann,73 schweißt die – ansonsten möglicherweise sehr heterogene – Gruppe zusammen und verleiht ihr eine besondere Identität. Dies unterstreicht die Bedeutung einer kollektiven ›Erinnerung‹ für die Abgrenzung und politische Konstituierung der Gruppe. In gängigen Definitionen von ›Diaspora‹ bleibt die Natur dieser Erinnerung indes weitgehend ausgeblendet. Dabei ist davon auszugehen, dass traumatische Ereignisse wie Vertreibungen, das heißt ein erzwungenes ›Exil‹, anders erlebt werden und mitunter wesentlich höhere Bindewirkungen haben als zum Beispiel eine aus rein wirtschaftlichen Erwägungen vorgenommene ›Auswanderung‹. Dies liegt nicht nur an den Unrechtserfahrungen, sondern auch an der Temporalität: Eine Gruppe, die das ›Heimatland‹ zum gleichen Zeitpunkt verlässt, konserviert mit größerer Wahrscheinlichkeit ein ähnliches Heimatbild, teilt mehr Auswanderungs- und Integrationserfahrungen als Menschen, die zeitlich versetzt und individuell Ortswechsel vollzogen haben. Um als ›Erinnerungsgemeinschaft‹ politische Aufmerksamkeit zu erregen, ist es vonnöten, dass die Gruppe also nicht nur über einen Bezug zu einem anderem als dem nationalen ›Gedächtnisrahmen‹ verfügt, sondern auch, dass ihre Identität möglichst homogen und an einem historischen Ereignis festzumachen ist. Als Faktor in den internationalen Beziehungen sollen ›Erinnerungsgemeinschaften‹ deshalb wie folgt verstanden werden: Erinnerungsgemeinschaften sind soziale Gruppen, die innerhalb eines nationalen Gefüges eine Minderheit darstellen und ihre identitäre Differenz als Gruppe aus einem von den Gruppenmitgliedern oder ihren Vorfahren geteilten historischen Ereignis beziehen. Dieses historische Ereignis verweist über den nationalen Rahmen des aktuellen Heimatlandes der Gruppe hinaus, weshalb Forderungen der Gruppe nach einer staatlichen Rezipierung und ggf. Kanonisierung ihres Gedächtnisses auch das historische und identitäre Selbstverständnis mindestens eines anderen Landes betreffen.
73 Vgl. hierzu Ritivoi, Andreea Deciu: Yesterday’s self. Nostalgia and the Immigrant Identity, Lanham/Oxford: Rowman & Littlefield Publishers 2002; auch Michel-Chich, Danielle: Déracinés. Les pieds-noirs aujourd’hui, Paris: Plume 1990, S. 91.
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Diese Definition soll helfen, im Folgenden Wechselwirkungen zwischen nationaler und internationaler Ebene bei der Beleuchtung historischer Diskussionen herauszuarbeiten. Die Fragestellungen, die dabei im Vordergrund stehen, werden im folgenden Punkt formuliert.
3.3 Z USAMMENFASSUNG UND B EDEUTUNG FÜR DIE U NTERSUCHUNG In diesem Kapitel ist es darum gegangen, darzulegen, auf welche Überlegungen und Konzepte sich die Untersuchung des Einflusses einer nationalen Minderheit auf die internationalen Beziehungen gründen kann, den diese Minderheit aufgrund ihres besonderen historischen Hintergrunds und der Forderung nach dessen Anerkennung ausübt. Dabei sind solche Minderheiten als Erinnerungsgemeinschaften bezeichnet worden. Deren internationale Relevanz kann aus verschiedenen Aspekten hergeleitet werden: einerseits handelt es sich dabei oft um Diaspora- oder diasporaähnliche Gemeinschaften, die dadurch einen natürlichen Bezug zu mindestens einem weiteren Land aufweisen. Andererseits kann auch das historische Ereignis – durch die Beteiligung anderer Länder daran oder durch seine menschenrechtliche Relevanz – internationalen Bezug haben. Dass dieser – teils rein historische, teils identitär fortbestehende – internationale Bezug auch zur Klassifizierung der ›Erinnerungsgemeinschaft‹ als Akteur auf internationaler Ebene führt, ist über die konstruktivistische Theorie der Internationalen Beziehungen hergeleitet worden. Danach liegt das Monopol für internationale Aktivität nicht bei den Nationalstaaten alleine, und diese sind nicht nur von naturgegebenen ›Interessen‹ geleitet, sondern auch von ihrer – national verhandelten – Identität und den damit verbundenen Werten. Für die ›Erinnerungsgemeinschaften‹ ergeben sich dadurch folgende Beteiligungsmöglichkeiten an der internationalen Politik: Zum einen können sie selbst auf der internationalen Bühne in Erscheinung treten und bei internationalen Organisationen für ihre Anliegen werben. Vor allem aber können sie die nationale Identität des Staates, in dem sie beheimatet sind, beeinflussen beziehungsweise ihre eigene Geschichte und Existenz als wesentlichen Teil dieser Identität, gegebenenfalls als seine Verkörperung, darstellen. Somit wirken sie auf zweierlei Weise: durch die Beteiligung an Fragen nationaler Identität finden sie Widerhall im internationalen System. Durch die explizite Verknüpfung ihrer konkreten Anliegen mit dieser Identität gelingt es ihnen ebenfalls, den Einsatz ihres Heimatstaates für die Anliegen zu mobilisieren.
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Vor dem Hintergrund der erläuterten Konzepte bezüglich geschichtlicher Themen im internationalen Kontext stellen sich hinsichtlich der Rolle, die ›Erinnerungsgemeinschaften‹ im internationalen Feld einnehmen, mehrere Fragen: Was bedeutet die Existenz von Erinnerungsgemeinschaften für die Fähigkeit von Staaten, die Vergangenheit in ihren bilateralen Beziehungen zu ›wählen‹ oder auferlegt zu bekommen (choix vs. poids)? Welche Rolle spielen Erinnerungsgemeinschaften bei der Formierung von choix und poids du passé? Wie verwenden Erinnerungsgemeinschaften das Konzept der ›historischen Gerechtigkeit‹ – und was bedeutet ihre Aktivität für dessen Durchsetzung? Inwiefern spiegelt sich im Umgang mit Erinnerungsgemeinschaften ein Wertegefälle zwischen verschiedenen Teilen der Welt, und welche Konflikte kristallisieren sich unter der Oberfläche der historisch orientierten Diskussion? Um diese Fragen zu beantworten, wird in der nun folgenden Fallstudie ein Konflikt beleuchtet, der immer wieder zu internationalen Auseinandersetzungen führt: die Weigerung der Türkei, mit Blick auf die weitgehende Vernichtung der armenischen Bevölkerung des Osmanischen Reiches 1915 von einem ›Völkermord‹ zu sprechen. Die folgende Betrachtung zeichnet zuerst den historischen Hintergrund des Konfliktes nach, um dann aufzuzeigen, wie die Armenier und ihre Nachkommen in Frankreich und Deutschland die Anerkennung des Genozids durchzusetzen suchen – und welche Reaktionen sie dabei von Seiten der Politik erfahren. Auch werden die diskursiven Strukturen freigelegt, anhand derer die Verknüpfung der armenischen Anliegen mit der jeweiligen staatlichen Identität erfolgt.
4
Armenische Forderungen zur Anerkennung des Völkermords
4.1
G ESCHICHTLICHE , POLITISCHE R ELEVANZ DES G ENOZIDS
4.1.1
Historischer Hintergrund
UND KULTURELLE
4.1.1.1 Armenier im Osmanischen Reich und die Massaker 1915 Als altes Kulturvolk 1 leben Angehörige der armenischen Ethnie seit mehr als zweitausend Jahren auf dem Gebiet des heutigen Kaukasus sowie der Türkei; dort besonders in den heutigen ostanatolischen Provinzen sowie dem zeitweisen Königreich Kleinarmenien in der Region Kilikien am Mittelmeer. 2 Wesentlich für das armenische Selbstverständnis ist die Rolle der Armenier in der Geschichte des Christentums: Armenien war das erste Land, das das Christentum zur offiziellen Staatsreligion erhoben hat.3 Nachdem der armenische Staat im Mittelalter aufgehört hatte, zu existieren, lebten die meisten Armenier auf dem Gebiet des Osmanischen Reiches. Dort führten sie eine vorwiegend friedliche Existenz. Zwar blieben ihnen einige Rechte verwehrt, die ausschließlich Muslimen vorbehalten waren (wie das Recht, vor Gericht auszusagen oder das Recht, Waffen zu tragen). Nichtsdestoweniger fan-
1
Vgl. Kurkchiyan, Marina und Edmund Herzig: Introduction: Armenia and the Armenians, in: dies. [Hrsg.]: The Armenians. Past and present in the making of national identity, Abingdon / New York: RoutledgeCurzon 2005, S. 1-22, hier S. 1.
2
Vgl. Balakian, Peter: The Burning Tigris. The Armenian Genocide and America’s Response, New York: HarperCollins Publishers 2003, S. 53.
3
Zekiyan, Boghos Levon: Christianity to modernity, in: Kurkchiyan / Herzig [Hrsg.] (2005), S. 41-64, insb. S. 50 f.
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den die meisten als Kaufleute oder Bauern im pluralistischen Osmanischen Reich ihr Auskommen.4 Das Zusammenleben der Ethnien im Reich gestaltete sich mit der Verbreitung des Nationalismuskonzeptes – also der Einheit von Staat und Nation – im Laufe des 19. Jahrhunderts zunehmend schwieriger.5 Während unter den Armeniern der Wunsch nach Selbstbestimmung erstarkte, versuchte der regierende osmanische Sultan, derlei Bestrebungen zu unterdrücken und begegnete ihnen
4
Z. B. nennt Chaliand den ottomanischen Staat bis zur Mitte des 19. Jahrhunderts »relativement tolérant« (Chaliand, Gérard: Mémoire et Modernité, in: Les Temps Modernes (1988)504-505-506, S. 434-449, hier S. 443). Jedoch sieht Balakian im Status der Christen im Osmanischen Reich bereits die Wurzel der folgenden Probleme (2003, S. 40-43, im Folgenden S. 43): »At the heart oft he problem [...] was the legal, political, and social status of Christians in the Ottoman Empire.« Zum Problem der Besteuerung der Armenier im Osmanischen Reich vgl. Balakian, S. 41, sowie Bernstein, Eduard : Die Leiden des armenischen Volkes und die Pflichten Europas (Rede, gehalten in einer Berliner Volksversammlung am 26. Juni 1902), in : Donat, Helmut [Hrsg.] : Armenien, die Türkei und die Pflichten Europas, Bremen : Donat Verlag 2005, S. 19-55, hier S. 36 ff. Auch Hosfeld sieht die Situation der Armenier kritisch : »Die meist in den Tälern lebenden armenischen Bauern waren ihnen [den kurdischen Großgrundbesitzern, d. A.] tributpflichtig. Nahezu vollständig, rechtlos, waren sie auch regelmäßiges Ziel von Raubzügen zur Erntezeit, bei Hochzeiten oder an Markttagen.« (Hosfeld, Rolf: Operation Nemesis. Die Türkei, Deutschland und der Völkermord an den Armeniern, Köln: Kiepenheuer & Witsch 2005, S. 44) Einheit besteht in der Literatur hinsichtlich der Verschärfung des Problems gegen Ende des 19. Jahrhunderts, siehe folgende Fußnote.
5
Vgl. Akçam, Taner: The Young Turk’s Crime against Humanity: the Armenian genocide and ethnic cleansing in the Ottoman Empire, Princeton: Princeton University Press 2012, S. 449; Chaliand (1988), S. 443 ff.; Burdy, Jean-Paul: La Turquie candidate et le génocide des Arméniens: entre négation nationaliste et société civile, in: Pôle Sud (2005)23, S. 77-93, S. 79 sowie Suny, Ronald Grigor: Writing Genocide. The Fate of the Ottoman Armenians in: ders., Fatma Müge Göçek und Norman M. Naimark: A question of genocide: Armenians and Turks at the end of the Ottoman Empire, Oxford / New York: Oxford University Press 2011, S. 15-41, S. 28 ff., dort ist auch die Sicht von Dadrian dargestellt, der der religiösen Zugehörigkeit mehr Bedeutung für die Verschlechterung des Verhältnisses zwischen Türken und Armeniern im Osmanischen Reich beimisst als nationalen Gefühlen. Dadrians Sicht wird von Suny hingegen als einseitig kritisiert: Dadrian sei vor allem von dem Ziel geleitet, die Opferrolle der Armenier zu herauszuarbeiten, so dieser (vgl. Suny, a.a.O., S. 30).
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mit Repressalien. Ab den 1890er Jahren kam es dadurch wiederholt zu schweren Massakern an den Armeniern.6 Die jungtürkische Bewegung, aus deren Reihen später auch der Gründer der türkischen Republik, Mustafa Kemal Atatürk, hervorging, machte es sich zum Ziel, den Sultan zu stürzen und eine türkische Republik zu gründen. Zunächst betrachteten Armenier und Jungtürken einander daher als Verbündete. 7 Die Jungtürken übernahmen Regierung und Verwaltung ab dem Jahr 1908. Im Zuge des I. Weltkriegs beschlossen sie, die Armenier in entlegene syrische Wüstengebiete zu ›deportieren‹. Offizieller Grund hierfür war, dass die Armenier im Verdacht standen, mit den herannahenden russischen Truppen zu sympathisieren. Als ›fünfte Kolonne‹ des Feindes hätten sie demnach in den an Russland grenzenden Provinzen die Verteidigung der türkisch-russischen Front gefährdet. 8 Während der Durchführung der »Deportationen« verhungerten und verdursteten viele Armenier oder starben an Krankheiten. Überdies kam es zu zahlreichen Massakern, die viele weitere das Leben kosteten. So forderte dieses Vorgehen unter den Armeniern – je nach Schätzung – mehrere hunderttausend bis eineinhalb Millionen Todesopfer.9 Die Überlebenden wurden zu großen Teilen ausgebürgert und waren nicht befugt, auf türkisches Gebiet zurückzukehren. Viele erhielten durch Intervention des Flüchtlingsbeauftragten des Völkerbundes, des Norwegers Fridjöf Nansen, einen so genannten »Nansen-Pass«, der es ihnen ermöglichte, als Staatenlose Aufnahme in einem anderen Land zu finden. In großen Gruppen emigrierten die Armenier nach Russland, in den Nahen und Mittleren Osten, nach Frankreich und in die USA.10
6
Vgl. Balakian (2003), S. 36-62: The Sultan and the Armenian Question sowie Killing Fields. The Massacres of the 1890s.
7
Vgl. Chaliand (1988), S. 444; Margaret Lavinia Anderson: Who Still Talked about the Extermination oft he Armenians? German Talk and German Silences, in: Suny / Göçek / Naimark (2011), S. 199-217, hier S. 200.
8
Schaefgen, Annette: Schwieriges Erinnern: Der Völkermord an den Armeniern, Berlin: Metropol Verlag 2006, S. 28 f., auch Thelen, Sibylle: Die Armenierfrage in der Türkei, Bonn: Bundeszentrale für politische Bildung 2011 (Originalausgabe: Berlin: Verlag Klaus Wagenbach 2010), S. 33.
9
Vgl. zu den Diskussionen um das Vorgehen und die unterschiedlichen Angaben zu den Todesopfern auch Kapitel 4.1.1.2.
10 Vgl. Ter Minassian (1998) S. 200.
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4.1.1.2 Die Bewertung der Ereignisse von 1915 als »Genozid« Die oben geschilderten Ereignisse werden in der historischen Literatur sowie von den Nachkommen der Beteiligten im Grundsatz übereinstimmend wiedergegeben. Strittig ist das Ausmaß der Vernichtung, also die Anzahl der Todesopfer, sowie die Intention, die hinter den Deportationen stand, das heißt, ob sie tatsächlich den Kriegsumständen geschuldet waren und die Front durch temporäre Verbringung der Bevölkerung in ein anderes Gebiet schützen sollten – oder ob der Krieg dem Regime lediglich als Vorwand diente, lange gehegte Vernichtungsabsichten gegenüber den Armeniern umzusetzen, um einen ethnisch homogenen türkischen Staat zu schaffen. Entsprechend unterscheiden sich die Interpretationen der Vorgänge, die, je nach Position des Sprechers, als »tragische Ereignisse«, »Massaker« oder »Genozid«, also Völkermord, bezeichnet werden.11 »Genozid« als Begriff ist 1944 von dem Juristen Raphael Lemkin geprägt worden.12 Er leitet sich von dem griechischen Wort »genos« für »Volk« und der lateinischen Vokabel »caedere« für »töten« ab. Lemkins Ziel war, mit dem Genozidbegriff einen neuen strafrechtlichen Tatbestand zu definieren, der als besonders schweres »Verbrechen gegen die Menschheit« von der ganzen Menschheit zu ahnden ist und keiner Verjährungsfrist unterliegt.13 Seinen ersten Anwendungsfall – und auch den Anlass seiner rechtlichen Prägung – fand der Terminus bei der Ahndung des Mordes an den europäischen Juden. Lemkin selbst hat indes bestätigt, dass die Armeniertragödie ihn erstmals zu den Reflexionen bewogen habe, die in dem Genozidbegriff gemündet sind.14 Im Fall der Armenier von einem »Genozid« zu sprechen, heißt also, eine rechtliche Kategorie auf einen Zeitraum anzuwenden, in dem diese noch nicht als Straftatbestand existierte. Doch geht es in der heutigen Debatte nicht um eine
11 Vgl. dazu Rémond, René: Quand l’État se mêle de l’histoire (entretiens avec François Azouvi), Paris: Stock 2006, S. 30 f. sowie ders.: Pourquoi abroger les lois mémorielles?, in: Regards sur l’actualité (2006)325, S. 17-25, S. 21 f. und Suny, Ronald Grigor und Fatma Müge Göçek: Introduction: Leaving It to the Historians in: Suny / Göçek / Naimark (2011), S. 3-11, hier S. 9. 12 Lemkin, polnischer Jude, verwendete den Begriff zuerst in seinem im Exil verlegten Werk Axis Rule in Occupied Europe. Laws of Occupation – Analysis of Government – Proposals for Redress (Washington: Carnegie Endowment for International Peace 1944). 13 Vgl. Burdy (2005), S. 78. 14 Vgl. Karpinski, Franziska: Raphael Lemkin (1900-1959), Legal scholar and creator of the term »genocide«, in: Transatlantic Perspectives vom 07.03.2013 unter http://www. transatlanticperspectives.org/entry.php?rec=137, Stand: 15.08.2013.
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die strafrechtliche Verfolgung – als die Forderung nach Anerkennung des Völkermords an den Armeniern aufkam, waren alle potentiell Verantwortlichen bereits verstorben –, sondern um eine historische Bewertung.15 Nach der 1951 in Kraft getretenen UN-Konvention gegen Völkermord ist dieser definiert als »eine der folgenden Handlungen, die in der Absicht begangen wird, eine nationale, ethnische, rassische oder religiöse Gruppe als solche ganz oder teilweise zu zerstören: a) Tötung von Mitgliedern der Gruppe; b) Verursachung von schwerem körperlichem oder seelischem Schaden an Mitgliedern der Gruppe; c) vorsätzliche Auferlegung von Lebensbedingungen für die Gruppe, die geeignet sind, ihre körperlicheZerstörung ganz oder teilwese herbeizuführen; d) Verhängung von Maßnahmen, die auf die Geburtenverhinderung innerhalb der Gruppe gerichtet sind; e) gewaltsame Überführung von Kindern der Gruppe in eine andere Gruppe.«16 Bezüglich der Armenier akzeptiert die Türkei insbesondere nicht die Existenz einer Vernichtungsabsicht, also eines staatlichen Willens zur Zerstörung der armenischen Minderheit. Türkisch-national orientierte Historiker verweisen darauf, dass die Deportationen ein legitimes Mittel im Rahmen des Krieges gewesen seien, das überdies durch die angebliche Illoyalität der Armenier zum osmanischen Staat notwendig geworden sei. Die lebensfeindlichen Bedingungen der Deportationen – unzureichend Wasser und Nahrung, Angriffe auf die Deportierten – seien dem Krieg geschuldet gewesen, der die Versorgung und den Ordnungserhalt auf dem gesamten osmanischen Gebiet erschwert habe. Massaker an
15 Strittig ist, ob gegen die Türkei als Rechtsnachfolgerin des Osmanischen Reiches materielle Ansprüche geltend gemacht werden könnten, die Angst davor scheint jedenfalls auch ein Grund für die Türkei zu sein, den Genozidvorwurf zurückzuweisen, vgl. z. B. Hamit Bozarslan: Der Genozid an den Armeniern als Herausforderung: Erinnerung, nationale Identität und Geschichtsschreibung in der Türkei, in: Kerstin Buchinger, Claire Gantet und Jakob Vogel [Hrsg.]: Europäische Erinnerungsräume, Frankfurt / New York: Campus Verlag 2009, S. 267-280, hier S. 271 f. 16 Aus »Konvention über die Verhütung und Bestrafung des Völkermordes« vom 09. Dezember 1948, hier zitiert nach Christian Tomuschat / Christian Walter: Völkerrecht, Textsammlung, 6. Auflage, Baden-Baden: Nomos 2014, S. 132-134, hier S. 132.
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den Armeniern seien zwar vorgekommen, jedoch nicht zentral angeordnet gewesen. Schließlich wird die Zahl der getöteten oder im Zuge der Verbringungen verstorbenen Armenier mit ›nur‹ etwa 300 000 angegeben und darauf verwiesen, dass andere Bevölkerungsgruppen im Krieg ebenso hohe oder höhere Verluste hätten hinnehmen müssen.17 Demgegenüber ordnet die Mehrheit der internationalen Forscher die Vorgänge in den Kontexte der Unterdrückung der Armenier seit dem ausgehenden 19. Jahrhundert ein. Während des Krieges habe sich der Großteil der Armenier loyal zum osmanischen Staat verhalten. Zudem seien nicht nur die Armenier aus den ostanatolischen Provinzen nahe der russischen Grenze deportiert worden, sondern ebenso diejenigen aus Istanbul und anderen Teilen des Reiches, was den Vorwurf der »fünften Kolonne« hinter der Front als Vorwand entlarve. Schließlich werden Zeitzeugenberichte (inbesondere deutscher und amerikanischer Diplomaten) sowie weitere historische Quellen als Beleg anerkannt, der den staatlichen Vernichtungswillen dokumentiere. Der Vergleich mit anderen Kriegsopfern auf osmanischem Gebiet hinke, da die Armenier eben gerade nicht den direkten Kriegsfolgen, sondern einer staatlichen Maßnahme zum Opfer gefallen seien.18
17 Vgl. Thelen (2011), S. 33-39; Vigen Guroian: Collective Responsibility and Official Excuse Making: The Case of the Turkish Genocide of the Armenians, in: Richard Hovannisian [Hrsg.]: The Armenian genocide in perspective, New Brunswick u.a. : Transaction Books, 1986, S. 135-152; Burdy (2005), hier S. 83-86; auch Bozarslan (2009), S. 274 f.; Fatma Müge Göçek: Reading Genocide. Turkish Historiography on 1915, in: Suny / Göçek / Naimark (2011), S. 42-52. 18 Vgl. u. a. Dadrian, Vahakn: Histoire du génocide arménien, Paris: Éditions Stock, 2. Auflage 1999; Kévorkian (2011), op. cit.; Akçam, Taner: The Young Turk’s Crime against Humanity: the Armenian genocide and ethnic cleansing in the Ottoman Empire, Princeton: Princeton University Press 2012; Dadrians Geschichte des Genozids an den Armeniern wird oft von Verfechtern der ›armenischen‹ Position als Standardwerk zitiert; seine Darstellung wird allerdings auch von Suny, der zu der Thematik forscht und keinesfalls eine negationistische Haltung vertritt, als teilweise tendenziös kritisiert, vgl. Suny, Ronald Grigor: Writing Genocide. The Fate of the Ottoman Armenians, in: Suny / Göçek / Naimark (2011), S. 15-41, hier S. 30; der Grund für das von Suny als einseitig kritisierte Streben nach vollständiger Exkulpation der Armenier und der rein negativen Darstellung des Islams und seiner Kräfte mag darin liegen, das Dadrian seine Arbeit als Widerlegung der türkischen Leugnung begreift und vor allem darauf konzentriert ist , den Genozidnachweis zu erbringen, (vgl. Ternon, Yves: Historiens d’État et vérités historiques (sur les documents ANDONIAN), in: Les Temps Modernes (1988)504-505-506, S. 49-67, hier S. 64). An diesem Beispiel zeigt sich,
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Objektive Institutionen sollten bereits die Frage klären, ob es sich bei der Vernichtung großer Teile der armenischen Bevölkerung von 1915 um einen Genozid gehandelt hat. So kommt ein Gutachten des International Center for Transitional Justice (ICTJ), welches 2002 auf Anfrage der Turkish-Armenian Reconciliation Commission (TARC) angefertigt wurde, zu dem Schluss, dass die UNKon-vention aufgrund der Non-Retroaktivität zwar nicht juristisch auf den Fall der Armenier anwendbar sei, man es aber sehr wohl mit einem Ereignis zu tun habe, auf das der Begriff ›Genozid‹ lexikalisch Anwendung fände.19 Mit diesem Spruch waren aber weder die armenische Seite, insbesondere mehrere DiasporaOrganisationen, noch die türkische letztlich einverstanden.20 4.1.1.3 Kritik an der Genoziddebatte Allein es werden mittlerweile die Stimmen lauter, die die Reduktion der historischen Diskussion auf die Frage: »Genozid – ja oder nein?« kritisieren. Der in der Türkei geborene und arbeitende (2007 ermordete) armenische Publizist Hrant Dink hatte bereits seit vielen Jahren angemahnt, die historische Aufarbeitung nicht auf den Genozidbegriff zu fixieren und zusätzlich zu erschweren: »Die Geschichte braucht eine ethische Annäherung; juristische Begriffe, die international eine bestimmte Bedeutung haben, verhindern, dass wir lernen, was damals passiert ist.«21 Dass sich die Diskussion um die historischen Ereignisse derart auf die digitale Entscheidung um das Wort »Genozid« fokussiert, ist Autoren, die
dass der Völkermord an den Armeniern auch unter Historikern kein ›kaltes‹ Thema geworden und die Kritik von Kundrus und Strotbek an der Bedeutung des GenozidBegriffs gerade in diesem Fall besondere Berechtigung hat (vgl. folgendes Subkapitel). 19 Vgl. »The applicability of the United Nations convention on the prevention and punishment of the crime of genocide to events which occurred during the early twentieth century. Legal analysis prepared for the international center for transitional justice« unter http://ictj.org/sites/default/files/ICTJ-Turkey-Armenian-Reconciliation-2002-En glish.pdf. 20 Vgl. Philips, David L.: Unsilencing the past: track two diplomacy and TurkishArmenian reconciliation, New York: Berghahn Books 2004, S. 114 f. sowie eine später (24.03.05) veröffentlichte Stellungnahme des Armenian National Committee of America unter http://www.anca.org/assets/pdf/hill_notes/032505.pdf, Stand: 29.07.13. 21 Zitiert nach Cem Sey: »Türken und Armenier sind psychisch krank«, sagt Hrant Dink; Über den Vorteil des Zusammenlebens, die unversöhnliche armenische Diaspora und die Debatte im Bundestag [Interview mit Hrant Dink] in: die tageszeitung vom 14.04. 2005.
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sich vorwiegend mit der armenischen Gemeinschaft befassen, zufolge ein Ergebnis der türkischen Negationspolitik: so hätten die Armenier in den 1960er und 1970er Jahren durch die breite Debatte um den jüdischen Holocaust mit »Genozid« ein Wort gefunden, das sie der offiziellen türkischen Geschichtsschreibung entgegenstellen konnten.22 Kreis erläutert dazu: »Die Kategorie ›Genozid‹ ist im Wettbewerb der Opfer und Opfererinnerungen darum derart populär, weil sie mit internationaler Anerkennung verbunden ist.«23 Da es aus rechtswissenschaftlicher Sicht darauf ankommt, »ob eine maßgebende Instanz jeweils festhält, dass ein Genozid ein Genozid sei«24 und als solche »internationale Tribunale, internationale Untersuchungskommissionen und Ausschüsse, aber auch nationale Gerichte und Parlamentsbeschlüsse«25 genannt werden, suchen Vertreter der armenischen Gemeinschaften, diese Instanzen anzurufen und den Genozid feststellen zu lassen. Juristische Folgen sind dabei kaum noch zu erwarten (siehe oben), allerdings haben derlei Beschlüsse, durch die politische Institutionen sich eine historische Bewertung zu eigen machen, eine politische Signalwirkung. Aus Sicht der Armenier bietet die Anerkennung als Genozid daher eine internationale Klassifizierung, welche die türkischen Argumente zur Relativierung des Geschehens26 ausschließt und ächtet. Die daraus oft resultierende Fokussierung auf die Anerkennung kritisiert indes nicht nur Dink. Inzwischen haben sich weitere Autoren für eine Differenzierung ausgesprochen.27 Wie Dink
22 Vgl. Ritter (2007), S. 223, S. 232; Dink führt die Fokussierung auf den Genozidbegriff nicht nur auf die türkische Leugnungspolitik zurück, sondern betrachtet sie auch als Resultat der Ungleichbehandlung des jüdischen und des armenischen Völkermords durch die internationale Politik und Öffentlichkeit: »Le monde a privé les Arméniens de la compassion dont il a fait preuve envers les Juifs, après le génocide. Et cela a causé le plus grand dommage à l’identité arménienne.« (Dink, Hrant: Deux peuples proches, deux voisins lointains, Arles: Actes Sud 2009, S. 66). 23 Kreis, Georg: Zur Strafbarkeit von Genozidleugnung vor dem Hintergrund der Genozide im Ersten und Zweiten Weltkrieg, in: Hans-Lukas Kieser und Elmar Plozza [Hrsg.]: Der Völkermord an den Armeniern, die Türkei und Europa, Zürich: Chronos Verlag 2006, S. 169-17, hier S. 170. 24 Kreis (2006), a.a.O. 25 Ebd. 26 Vgl. den vorhergehenden sowie den folgenden Unterpunkt. 27 Vgl. neben den im Folgenden Genannten auch Semelin (2007), insbesondere S. 310, wo Semelin den armenischen Fall als »most emblematic battle in this area« bezeichnet. Einen guten Überblick über die Entstehung des Genozidbegriffs, die Intentionen
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meinen sie, dass geschichtliche Aufarbeitung sich nicht auf einen Terminus reduzieren lasse, dessen Definition zudem Resultat eines »politischen Kompromisses«28 sei. Tanner führt die Fixierung auf die ethnische Dimension im Genozidbegriff gar auf eine »anachronistische [...] Weltsicht«29 zurück. Dass die Vokabel trotzdem soviel Zugkraft entfalte, erklärt er mit der »These, der Völkermord sei das ›Verbrechen der Verbrechen‹« 30 . Dieser verbreiteten Auffassung stellt sich auch Barth entgegen: »Die Frage, ob ein bestimmter Fall als Genozid bezeichnet wird oder ob diese Benennung aus historischer Perspektive nicht sinnvoll ist, beinhaltet keine moralische Normenhierarchie.«31 Aufgrund des diesbezüglich oft bestehenden – und gegebenenfalls auch gewollten – Missverständnisses bezüglich der Hierarchisierung von Leid warnen Kundrus und Strotbek vor einem »hochpolitischen Kampfbegriff«32. Mit Barth kritisieren sie, dass sich daran »alle Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler nolens volens abarbeiten«33,
seines Urhebers Lemkin und seine politischen Implikationen bietet Anson Rabinbach: Begriffe aus dem Kalten Krieg: Totalitarismus, Antifaschismus, Genozid Göttingen: Wallstein 2009; vgl. des Weiteren Akçam, Taner: Dialogue Across an International Divide: Essays Towards a Turkish-Armenian Dialogue, Cambridge (MA): Zoryan Institute 2001, S. 24; außerdem Goltz, Gabriel: Das Jahr 2005: ein Meilenstein in der Debatte in der Türkei über das Schicksal der Armenier im Osmanischen Reich 1915/16?, in: Hans-Lukas Kieser und Elmar Plozza [Hrsg.]: Der Völkermord an den Armeniern, die Türkei und Europa, Zürich: Chronos Verlag 2006, S. 21-35, hier S. 33, Kreis (s. u.) sowie Chetail, Vincent: Génocide: le mot et la chose, in: Bertrand Badie und Sandrine Tolotti: L’état du monde 2009. 50 idées-forces pour comprendre l’actualité mondiale, Montréal: Éditions de la Découverte / Éditions du Boréal 2008, S. 6166. 28 Barth, Boris: Genozid und Genozidforschung, Version 1.0, in: Docupedia-Zeitgeschichte, 03.05.2011, unter www. docupedia.de/zg/Genozid_und_Genozidforschung. pdf, Stand: 10.03.2013, S. 1. 29 Tanner (2006), S. 192. 30 Ebd.; die Problematik der »allenthalben zu lesenden Formel ›crime of crimes‹« thematisieren auch Kundrus und Strotbek (2006), S. 401. 31 Barth (2011), S. 14. 32 Kundrus und Strotbek (2006), S. 397, ähnlich Birthe Kundrus, die mit Heitmeyer von der »Skandalisierungsfalle« durch die starke moralische Aufladung des Begriffs spricht (Kundrus, Birthe: Entscheidung für Völkermord? Einleitende Überlegungen zu einem historiographischen Problem in: Mittelweg Nr. 36 (6/2006), S. 4-17, hier S. 8). 33 Ebd., S. 402.
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ohne dass dies »Einsichten über das empririsch höchst vielgestaltige Wesen von entgrenzter Gewalt«34 tatsächlich befördere. Doch Jan-Philipp Reemtsma, der die Existenz des Begriff selbst als »das Ergebnis juristischer Fehler bei der Vorbereitung des Nürnberger Prozesses und der gekonnten Lobby-Arbeit eines einzelnen Juristen« 35 bezeichnet, nennt dessen Vermeidung »illusorisch«36. Gerade weil er eine solch besondere politische Bedeutung erlangt habe, könnten betroffene Gruppen nicht mehr darauf verzichten, ohne den Eindruck zu erwecken, das ihnen widerfahrene Unrecht wiege minder schwer. Aus diesem Grund bleibt der Tatbestand ›Völkermord‹ auch – und vor allem – im Verhältnis der Armenier zur Türkei zentral. Die Positionen der heutigen Beteiligten werden nun kurz vorgestellt. 4.1.2
Die Bedeutung des Armeniergenozids für Armenier und Türken heute
4.1.2.1 Die Türkei Die repressive Haltung des türkischen Staats, was die kritische Thematisierung des den Armeniern zugefügten Unrechts anbelangt, hat nicht unmittelbar nach dem I. Weltkrieg eingesetzt. Unter dem Druck der Siegermächte richtete die Türkei 1919 zunächst Sondergerichte ein, um die auch von Mustafa Kemal (Atatürk) verurteilten »Massaker« zu untersuchen und zu bestrafen. Eine Reihe von Verantwortlichen wurde zu Haft bzw. zum Tode verurteilt. Die Verurteilten, darunter auch der mutmaßliche Hauptverantwortliche Talaat Pascha, konnten sich jedoch zum Großteil der Verbüßung ihrer Strafe entziehen, indem sie sich – teilweise mit Unterstützung der deutschen Regierung – ins Ausland absetzten.37 Mit der Veränderung der politischen Rahmenbedingungen durch den Vertrag von Lausanne, der der Türkei im Vergleich zu seinem Vorgängerabkommen (dem Vertrag von Sèvres) wieder ein größeres Gebiet zusicherte und ihre politische Bedeutung stärkte, wechselte auch Atatürks Position: Sein Fokus lag nun
34 Ebd.; Vgl. auch Barth (2011), S. 13: »Hitzige und moralisch hochgradig aufgeladene Diskussionen um die Frage, ob ein bestimmter Fall Genozid gewesen sei, haben verschiedentlich die historische Forschung eher behindert als vorangetrieben.« 35 Reemtsma, Jan Philipp: Ansprache zum 24.4.2007 zum Gedenken an die Opfer des Genozids von 1915 im Französischen Dom zu Berlin, abrufbar auf der Webseite der Armenischen Gemeinde zu Berlin: http://www.armenische-gemeinde-zu-berlin.de/ downloads.html, Stand: 05.01.2013. 36 Ebd. 37 Vgl. u. a. Balakian (2003), S. 331-347; Hosfeld (2005), S. 13-15, S. 282-293.
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darauf, die junge Republik zu konsolidieren und zu modernisieren. Diesem Zweck diente ein stark nationalistisch geprägtes Geschichtsverständnis, das die Führer der jungtürkischen Bewegung zu Helden und zu »Vätern der Republik« stilisierte. Türkischer Nationalstolz wurde zur Tugend, die Existenz von Minderheiten geleugnet. Die lange Kultur der Armenier auf türkischem Gebiet und die Umstände ihres Verschwindens zu thematisieren, wäre dem als staatstragend erachteten patriotischen Narrativ zuwidergelaufen.38 Vor dem Hintergrund dieser im Wesentlichen fortbestehenden Lehre versucht die Türkei seit Jahrzehnten im In- und Ausland, eine offene Diskussion über das Schicksal der Armenier zu unterbinden. Einer Leugnung bzw. Nichtthematisierung der historischen Pluralität Anatoliens folgte die Verbreitung eines Armenierbildes, das diese pauschal zu Staatsfeinden des Osmanischen Reiches stempelte und das Vorgehen gegen sie somit als gerechtfertigt erscheinen ließ. Diese Sichtweise, deren abgeschwächte Form die heute übliche Strategie der Rechtfertigung, Relativierung und Minimierung der Opferzahlen ist, wurde von im staatlichen Auftrag agierenden Historikern unterfüttert und in Schule und Medien verbreitet.39 Doch auch international hat sich die Türkei für die Durchsetzung dieses Bildes stark gemacht: von politischem Druck auf internationale Gremien und Staaten, die sich mit den Ereignissen von 1915 und deren Bewertung befassen bis zur Finanzierung geschichtswissenschaftlicher Lehrstühle in den USA betreibt der türkische Staat zu diesem Zweck einen auch finanziell erheblichen Aufwand.40 In den vergangenen zehn Jahren haben Beobachter indes wiederholt Anzeichen einer Liberalisierung des Diskurses in der Türkei bemerkt. Unter anderem durch die Stärkung der Minderheitenrechte, die mit Blick auf einen potentiellen EU-Beitritt erfolgt ist, ist eine vorsichtige Diskussion sensibler Themen möglich geworden.41 Vorherrschend ist jedoch weiterhin eine »vom Nationaldiskurs bestimmte monolithische Sichtweise«42. Diese erklärt Goltz wie folgt:
38 Vgl. Bozarslan (2006), S. 270 f. 39 Vgl. ebd. 40 Eine Übersicht bzgl. solcher Aktivitäten liefert Burdy, Jean-Paul (2005), S. 84; Balakian zitiert einen Vorfall in den USA, bei dem durch die falsche Adressierung eines Schreibens zufällig transparent wurde, dass ein vorgeblich neutraler Wissenschaftler (Heath Lowry) den türkischen Botschafter über Entwicklungen in der Forschung zum Armeniergenozid informierte und entsprechende Reaktionen für die Botschaft entwarf, vgl. Balakian (2003), S. 383 f. 41 So vermutet Goltz, dass das Jahr 2005 »als ein Wendepunkt in der Debatte über das Schicksal der Armenier im Osmanischen Reich 1915/16 in der Türkei eingehen« wird.
120 | STRATEGIEN DES G EHÖRTWERDENS »Die weit überwiegende Mehrheit der Politiker, der Verwaltungselite und der Akademiker in der Türkei ist fest von der Richtigkeit der offiziellen türkischen Interpretation überzeugt. Sie sehen in der Völkermordfrage vor allem eine große außenpolitische Auseinandersetzung mit Kräften, die der Türkei – aus den verschiedensten Gründen – schaden wollen. Die internationale Völkermord-Kontroverse ist für sie nichts als der Versuch, der Türkei einen fremden Willen aufzuzwingen.«43
Daher fordert die Türkei weiterhin eine »unabhängige Historikerkommission«44, besetzt mit türkischen und armenischen Wissenschaftlern sowie eine vollständige Öffnung der armenischen Archive. Die türkische Regierung ist offenbar überzeugt, dass ein solches Gremium unweigerlich zu einer für die Türkei entlastenden Bewertung der Geschehnisse gelangen würde, während aus armenischer Sicht allein die Annahme eines historischen Klärungsbedarfs als Zumutung empfunden wird. Die ›Historikerkommission‹ wird von vielen armenischen Interessenvertretern, aber auch von einigen neutralen Beobachtern als taktischer Ver-
(Goltz 2006, S. 21) Als (weitere) Anzeichnen der Öffnung wurde der große Erfolg des Buches von Fethiye Cetin gewertet, die über die Enthüllung ihrer Großmutter schrieb, eine islamisierte Überlebende der Deportationen zu sein sowie die Konferenzen an Istanbuler Universitäten, in denen sich seit 2005 Historiker unterschiedlicher Prägungen zu den Ereignissen von 1915 und der Geschichte der Minderheiten im Osmanischen Reich austauschen, vgl. hierzu auch Bayraktar (2009), S. 281 sowie Pekesen, Berna: Mißverstandener Druck von außen. Über Rolf Hosfelds Buch »Operation Nemesis« und die aufkeimende türkische Vergangenheitsdebatte, in: Internationale Politik Juni 2005, S. 90-94. 42 Goltz (2006), S. 31. 43 Ebd., S. 33. 44 Vgl. Duran, Ragip: Le tabou arménien a la vie dure en Turquie, in: Libération vom 15.04.2005; der Vorschlag ist nicht nur von armenischen Vereinigung heftig kritisiert worden (vgl. für die frz. associations vgl. ebd. unter der Rubrik Monde – Réactions), er wird auch von wissenschaftlicher Seite als taktisches Manöver kritisiert (vgl. Bayraktar 2009). Ein Beitrag in Le Monde lässt allerdings vermuten, dass die Idee der »Historikerkommission« ursprünglich von französischer Seite als Vermittlungsvorschlag eingebracht worden ist. So wird Jean-Louis Debré nach einem Türkeibesuch mit den Worten zitiert, er denke, »œuvre utile sur la question arménienne« gemacht zu haben: »En effet, les autorités turques se sont dites prêtes à ›étudier‹ la proposition d’une commission internationale d’historiens qui ait accès à l’ensemble des archives.« (Patrick Roger: A Ankara, Jean-Louis Debré et le premier ministre turc ont ouvert un dialogue sans concession, in: Le Monde vom 07.02.2005).
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such der Türkei bewertet, Gesprächsbereitschaft zu signalisieren, um das Thema von der Agenda fremder Parlamente, insbesondere desjenigen der USA, fernzuhalten. Wirklich öffnen wolle sich die türkische Regierung in der Frage jedoch nicht. 45 4.1.2.2 Die armenische Diaspora Alle internationalen Diskussionen um die armenische Kultur und Vergangenheit haben es hinsichtlich der Akteure mit einer Besonderheit zu tun: Während es einen armenischen Staat gibt, der seit dem Zusammenbruch der Sowjetunion auch unabhängig agieren kann, gehört der größte Teil der Armenier weltweit einer Diasporagemeinde an. Von den nach Schätzungen etwa 6-8 Millionen Armeniern insgesamt sind nur 3,25 Millionen armenische Staatsbürger. 46 Die übri-
45 Vgl. Bayraktar (2009), S. 234 ff., S. 280, S. 284; auch Govciyan, Alexis: 24 avril. Témoignage sur la reconnaissance par la France du génocide arménien de 1915, Paris: le cherche midi 2003, S. 140. 46 Für die 3,25 Millionen Armenier vergleiche die Angaben des armenischen Außenministeriums: http://www.germany.mfa.am/de/overview, Stand: 08.10.2012, für die 6-8 Millionen Armenier weltweit vgl. Jean-Paul Ribes [et al.]: Balises in: L’Express vom 9. April 1992 und Iskyan, Kim: Forget Constantinople. Can Armenians remember genocide without ignoring the future? vom 22.04.04 unter http://www.slate.com/articles/ news_and_politics/foreigners/2004/04/forget_constantinople.html, Stand: 29.07.13; Insbesondere armenisch geführte Webseiten gehen von noch höheren Zahlen aus, die aber bereits auf den Seiten selbst Diskussionen und Widersprüche von Lesern hervorrufen (so wird auf der Seite Armenia Diaspora unter der Rubrik »Population« die Gesamtzahl der Armenier weltweit mit etwa 10 Millionen beziffert, von denen 2,08 Millionen auf die Türkei entfielen, was auch in den Kommentaren Widerspruch erntet – vgl. http://www.armeniadiaspora.com/population.html, Stand: 29.07.13). Von der Schwierigkeit, die Zahl der Armenier genau zu bestimmen, spricht Anahide Ter Minassian bereits 1988 mit Blick auf Frankreich: Da die infrage kommenden Personen inzwischen fast alle französische Staatsbürger sind, ist es schwierig, eine genaue Zahl auszumachen (Ter Minassian 1988, S. 219). Butler unterscheidet überdies zwischen einer ethnischen Zugehörigkeit zur armenischen Minderheit und einer Identifikation mit der Diaspora, die die Teilhabe an deren Gemeinschaft erfordere (Vgl. Butler, Kim D.: Defining Diaspora, Refining a Discourse, in: Diaspora 10(2001)2, S. 189-219, hier S. 191). Ter Minassian begegnet diesem definitorischen Mangel pragmatisch: »Faute d’une définition précise, il faut accepter que sont arméniens ceux qui se ›sentent‹ ou se ›savent‹ arméniens. Ce sentiment ou ce savoir sont une mémoire transmise et transmuée.« (Ter Minassian 1988, S. 231).
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gen sind in verschiedenen Ländern beheimatet, mit Konzentrationen in den USA, in Frankreich, dem Nahen Osten und Russland.47 Galten sie zunächst einfach als »Migranten«, so kann aufgrund der Bewahrung einer gemeinsamen »armenischen« Identität und eigenen, auch transnational agierenden Organisationsstrukturen mittlerweile von einer etablierten Diaspora gesprochen werden.48 Die gemeinschaftliche Organisation in der Diaspora geht dabei auf die armenische Kirche und die beiden großen politischen armenischen Parteien des ausgehenden 19. Jahrhunderts zurück: die nationalistische Daschnak-Partei sowie die sozialistische Huntschak-Partei. Die heutigen armenischen Minderheiten gelten in ihren jeweiligen Ländern in der Regel als gut integriert,49 aber auch als verhältnismäßig starke Bewahrer ihrer Identität50 und als gut vernetzte Anwälte ihrer Gemeinschaft und des armenischen Staates.51
47 Ca. 1,3-1,5 Mio. in Russland, 800.000 in den Vereinigten Staaten, 300.000–500.000 in Frankreich (zu unterschiedlichen Angaben zur Größe der armenischen Diaspora in Frankreich vgl. Kapitel 4.2.1.1) und je knapp 100.000 in Syrien, dem Libanon und Iran (vgl. Ribes [et al.] (1992), a.a.O.); vgl. außerdem Renaud de Chazournes: Les Arméniens, un peuple écartelé in: Quotidien de Paris vom 16.6.1988, S. 19; die Webseite Armenia Diaspora (siehe vorhergehende Fußnote) nennt auch hier wesentlich höhere Zahlen: 2,25 Mio. in Russland, 1,4 Mio. in den USA, 234.000 im Libanon. 48 Vgl. zur Definition des Diasporabegriffs Achdijan (2006), S. 22. 49 Für Frankreich vgl. dazu Ritter (2007), S. 110, ebenso die zahlreichen, gleichlautenden Aussagen von politischer Seite, s. Kapitel 4.3.3.2. 50 Vgl. Ritter (2007), S. 94; Ter Minassian (1988), S. 223. 51 Vgl. für die USA z. B. Iskyan, Forget Constantinople, a.a.O: »The ArmenianAmerican lobby in the United States is powerful enough to ensure that Armenia receives, on a per-capita basis, more development aid than almost any other Third World country.«; ebenso armenische Quellen selbst: »Leur lobbyistes entretiennent de bonnes relations avec les membres les plus influents du Congrès et collaborent à la rédaction d’une législation favorisant l’Arménie.« (Radelat, Ana: Lobbying, mode d’emploi in: NAM N°13, Mai 1996, S. 8-13, hier S. 8); Paul & Paul verweisen u. a. auf die Beteiligung der »Armenian Americans« bei der Durchsetzung des Embargos gegen Aserbaidschan bzw. den Bemühungen, die amerikanischen Beziehungen mit der Türkei zu schwächen , vgl. Paul & Paul (2008), S. 17 f. S. 109 f., S. 144, außerdem halten sie fest: »It is clear from the policymaking interviews that the Armenian lobby has established itself as one of the most influential of the ethnic lobbies [...].« (S. 143); für Frankreich vergleiche die Angaben in der folgenden Fallstudie; für Libanon die Aussage aus dem Interview 25 vom 14.03.13: Demnach sei die Ablehnung des Vorschlags seitens der libanesischen Regierung, 2008 die Leitung der UNIFIL
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Für den Erhalt der Identität der Mitglieder spielt der Genozid eine kaum zu überschätzende Rolle: Basierend auf der Abstammung der Armenier in der Diaspora – die Meisten sind Nachkommen von Genozid-Überlebenden – ist die Gemeinschaft dominiert von einem »root paradigm of an endangered people.«52 Dieses manifestiert sich in Genozid-Ereignis und -Begriff, deren Evozierung die Notwendigkeit des bewussten Erhalts der armenischen Nation verdeutlichen sollen.53 Somit erhält die Erinnerung an den Völkermord für die Diaspora eine einigende und mobilisierende Funktion: »La sélection dans le passé de cet événément fondateur de la diaspora, dont chaque famille a une mémoire particulière, rend désormais possibles les projets communs.«54 Zwanzig Jahre nach dieser Beobachtung von Ter Minassian konstatiert Ritter durchaus kritisch, dass dieses Mobilisierungspotential sich zunehmend zum Zwang für die Mitglieder der armenischen Diaspora entwickelt habe: »En même temps, la centralité qu’acquiert le génocide dans l’identité arménienne modifie celle-ci et, finalement, aboutit à ne plus les faire connaître qu’à travers leur dimension de victimes. La fabrication de la mémoire arménienne finit par enfermer les individus dans une sorte de prescription à se constituer tous en défenseurs de la cause.«55
Durch diese einhellige Verteidigung der ›armenischen Sache‹, der Anerkennung des Genozids und – je nach Organisation – der ›Restitution‹ der ehemals osmanischen Gebiete mit armenischer Bevölkerung,56 scheint es überraschend, dass die Forderungen an die nunmehrigen Heimatstaaten hinsichtlich des Umgangs mit dem Schicksal der Armenier im Osmanischen Reich sich fundamental geändert haben: Bis etwa zum Zweiten Weltkrieg adressierten die Armenier selbst dieses nicht öffentlich, sie wehrten sich sogar gegen die Thematisierung durch andere. Als Grund wurde dabei der Wunsch angeführt, die schrecklichen Ereignisse hin-
(United Nations Interim Force in Lebanon) von Deutschland an die Türkei zu übertragen, auch auf die Vorbehalte armenischestämmiger Libanesen zurückzuführen. 52 Pattie, Susan P.: Armenians in diaspora, in: Edmund Herzig und Marina Kurkchiyan [Hrsg.]: The Armenians. Past and present in the making of national identity, Abingdon / New York : RoutledgeCurzon 2005, S. 126-146, hier S. 128. 53 Vgl. Lenoir-Achdijan (2006), S. 211. 54 Ter Minassian (1988), S. 230; ähnlich Akçam (2001), S. 13, der von dem Völkermord als »the most crucial factor in the genesis of a symbol of common identity« spricht. 55 Ritter (2007), S. 250. 56 Zum Begriff der ›armenischen Sache‹ oder ›cause arménienne‹ siehe Fußnote 69 desselben Kapitels.
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ter sich zu lassen und nicht daran erinnert zu werden.57 Das Umdenken ist in den 1960er / 70er Jahren erfolgt: Seit am 24. April 1965 hunderttausende Menschen in den Straßen Erewans für die internationale Anerkennung des Genozids demonstrierten, setzt sich auch die Diaspora für dieses Ziel ein.58 Eine bereits 1973 anvisierte Anerkennung durch die Vereinten Nationen wurde durch Intervention der Türkei verhindert.59 In der Folge haben armenische Organisationen vor allem auf nationaler Ebene für die Anerkennung des Völkermords und später auch für die strafrechtliche Verfolgung von dessen Leugnung gekämpft. Um diesem Anliegen ausreichend Aufmerksamkeit zu sichern, griffen sie in den 1970er und 1980er Jahren teilweise auch zu terroristischen Mitteln: durch Anschläge der bekanntesten terroristischen Organisation ASALA (Armenian Secret Army for the Liberation of Armenia) kamen mehrere Dutzend Personen, zumeist türkische Diplomaten, ums Leben, mehrere hundert Menschen wurden verletzt.60 Inzwischen wird die Forderung nach einer Anerkennung des Völkermords ausschließlich mit friedlichen Mitteln vorgebracht – in Gedenkfeiern, Demonstrationen, Zeitungsannoncen, Kolloquien etc. Bisher haben über zwanzig Länder den Völkermord offiziell anerkannt,61 außerdem einzelne Institutionen wie z. B. das europäische Parlament.
57 Videlier, Philippe: French Society and the Armenian Genocide, in: Richard Hovannisian [Hrsg.]: The Armenian Genocide. Cultural and Ethical Legacies, New Brunswick / London: Transaction Publishers 2007, S. 325-333, hier S. 332. 58 Vgl. Mouradian / Kunth (2010), S. 40; wie Ter Minassian anführt, wurde daraufhin auch in Frankreich das Comité de défense de la cause arménienne – CDCA gegründet (vgl. Ter Minassian 1988, S. 230). Ritter sieht das Einsetzen dieser Forderung und der Politisierung vor dem Hintergrund der zunehmendem Auseinandersetzung der Kinder und Enkel von Holocaust-Überlebenden mit dem Genozid-Phänomen – vgl. Ritter (2007), S. 223. 59 Dabei ging es um die Erwähnung des ›Genozids an den Armeniern‹ in einem Bericht der Vereinten Nationen, der entsprechende Paragraph wurde auf Drängen der Türkei gestrichen, vgl. Michael M. Gunter: Armenian History and the Question of Genocide, Basingstoke: Palgrave Macmillan 2011, S. 85. 60 Vgl. Schaefgen (2006), S. 78; (die ASALA forderte über die Anerkennung des Genozids hinaus Reparationszahlungen und die territoriale Attribuierung der ehemals »westarmenischen« Gebiete an Armenien wie im Vertrag von Sèvres vorgesehen.) 61 Diese sind Argentinien, Belgien, Bulgarien, Kanada, Chile, Zypern, Frankreich, Griechenland, Italien, Libanon, Litauen, die Niederlande, Polen, Russland, die Slowakei, Schweden, die Schweiz, Ungarn, der Vatikan und Venezuela (vgl. die Auflistung auf
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4.1.3.3 Der armenische Staat Dass die Republik Armenien und die armenische Diaspora zwei unterschiedliche »Entitäten«62 bilden, die, obwohl sie derselben Nation angehören, »nevertheless fundamentally differ from one another in their collective identity and politics «63, kommt auch in ihrem Umgang mit dem Genozid zum Ausdruck. Auch unter dem Eindruck des Völkermords erlangten die nationalistischen armenischen Kräfte unmittelbar nach dem I. Weltkrieg einen eigenständigen armenischen Staat unter dem Schutz der Siegermächte.64 Als indes durch den Vertrag von Lausanne das armenische Staatsgebiet im Vergleich zum Vorgängerabkommen (Sèvres) stark reduziert und kurz darauf in die Sowjetunion eingegliedert wurde, fiel das Thema einer Tabuisierung im öffentlichen Leben anheim. Die sowjetische Führung wollte keinen nationalistischen Diskurs im Kaukasus aufkommen lassen und fürchtete, dass der Genozid einen solchen nähren könnte. Erst nach Stalins Tod setzte eine diesbezügliche Liberalisierung ein, was auch die Massendemonstration in Erewan ermöglichte.65 Nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion und der Konstituierung der ersten unabhängigen Republik Armenien seit 1923 änderte sich das politische Tableau wiederum. Die erste unabhängige Regierung bemühte sich um einen pragmatischen, an der Verbesserung der wirtschaftlichen Lage orientierten Kurs und strich die Historie des Genozids sogar aus den Lehrplänen: die armenischen Schulkinder sollten nicht mit einer von Opferrhetorik dominierten Volksgeschichte aufwachsen.66 Außenpolitisch diente die Anführung des Genozids vor allem der Unterstützung des jungen Staates sowie seiner Rechte und Interessen. Dies betraf insbesondere den Schutz der territorialen Integrität, die für Armenien auch das Gebiet
der in den USA erscheinenden armenischen Wochenzeitung »The Armenian weekly« http://www.armenianweekly.com/2012/04/24/obama-again-betrays-pledge-to-recogni ze-armenian-genocide/, Stand: 24.04.12, abgerufen am 05.01.13; diese Aufzählung umfasst nur diejenigen Länder, die bei der Anerkennung auch das Wort »Genozid« ausdrücklich verwendet haben. 62 Panossian, Razmik : Homeland-diaspora relations and identity differences, in: Edmund Herzig und Marina Kurkchiyan [Hrsg.]: The Armenians. Past and present in the making of national identity, Abingdon / New York : RoutledgeCurzon 2005, S. 229243, hier S. 229. 63 Ebd. 64 Vgl. Ter Minassian (1988), S. 196 ff. 65 Vgl. Schaefgen (2006), S. 69 f. 66 Vgl. ebd., S. 70 sowie Ritter (2007), S. 267.
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Berg-Karabach beinhaltet. Die offizielle Anerkennung des Völkermords war dagegen zweitrangig.67 Auch wenn die Erinnerung an den Genozid im gegenwärtigen Armenien an Bedeutung gewonnen hat – regelmäßige Gedenkfeiern zum 24. April sowie ein Mahnmal in Erewan, das häufig von ausländischen Staatsgästen besucht wird, zeugen davon – so scheint von politischer Seite auf den Völkermord vorrangig im Kontext anderer Forderungen Bezug genommen zu werden. Entsprechend verweist der armenische Außenminister Oskanjan in einem Interview mit der »Welt« auf 1915, um für eine Öffnung der türkisch-armenischen Grenze und für die armenischen Interessen in Berg-Karabach zu werben; beides Determinanten der armenischen Außenpolitik.68 Der scheinbare Pragmatismus der Republik Armenien, wenn es um die »armenische Sache«69, den Genozid geht, hat in der Diaspora wiederholt Irritationen und Unmut hervorgerufen.70 Die Diskrepanz hinsichtlich des Stellenwerts, der dem Völkermord-Gedenken jeweils eingeräumt wird, nährt sich aus mehreren historischen und kulturellen Unterschieden: Einerseits ist ein wesentlich größerer Anteil der Diaspora-Armenier Nachfahre von Genozid-Überlebenden als dies bei den armenischen Staatsbürgern der Fall ist. Diese stammen vorwiegend aus den ehemals ostarmenischen Provinzen und damit nicht aus dem Osmanischen Reich.71 Darüber hinaus bildet der Genozid für die Diasporaarmenier das stärkste identitätsstiftende Element, während in Armenien selbst durch den staatlichen
67 Vgl. Panossian (2005), S. 235; zu den Prioritäten der Ter-Petrossian-Regierung außerdem: Meg Bortin: Armenia Says Thaw with Turkey is Key to Independence in: International Herald Tribune vom 25.-26. Mai 1991. 68 Vgl. »Türkei muß Genozid anerkennen"; Interview mit Armeniens Außenminister Oskanjan zum Massaker von 1915 (Fragen: Aschot Manutscharjan in: Die Welt vom 20.04.2005. 69 Die Forderungen der Armenier nach Anerkennung des Genozids werden oft als »die armenische Sache« bezeichnet, wobei der Begriff nicht auf die Anerkennung beschränkt sein muss (siehe die Webseite der Armenian Cause Foundation; eine genaue Definition fehlt indes). Analog gibt es in Frankreich das »Comité de Défense de la Cause Arménienne« (http://www.cdca.asso.fr/s/index.php?r=0), eine in Erevan ansässige »Armenian Cause Foundation« (http://www.armeniancause.net/?page_id=2) und das »Armenian National Comittee of America« wirbt mit der Konferenz »Armenian Cause 2.0« (http://www.anca.org/conference/). Stand der Webseiten jeweils 01.04. 2014. 70 Vgl. Ritter (2007), S. 267; Panossian (2005), S. 230. 71 Vgl. Akçam (2001), S. 11 f.
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Rahmen auch andere Gemeinsamkeiten als Referenz dienen. 72 Die Prioritäten der Diaspora sind deshalb am Erhalt der Identität, oft über demonstrative Opposition zur Türkei, orientiert – antitürkische Überzeugungen sind vorherrschend bei ihren Mitgliedern73 – während für die armenische Staatsführung die Sicherheit des Landes, eine möglichst pro-armenische Lösung des Karabach-Konflikts sowie wirtschaftlicher Aufschwung Vorrang haben. In der Folge versuchen beide Entitäten, die Diskurshoheit zu behalten. Die Diaspora kann dabei ihr wirtschaftliches Gewicht geltend machen, während die armenische Regierung versucht, mittels eines »Diaspora-Ministeriums« den Dialog aufrechtzuerhalten und die Diaspora-Initiativen zu »domestizieren«.74 Die unterschiedliche Bedeutung, die der Genozid für die Diaspora und den armenischen Staat habe, und der verschiedenartige Gebrauch, den beide davon machten, bedeute jedoch nicht, so Ritter, dass die Wahrnehmung des Ereignisses fundamental verschieden sei. Im Gegenteil: »[...] quelles que soient les approches de l’État et de la diaspora et les nuances sur le dossier, la mémoire arménienne de diaspora et d’Arménie sur le génocide est profondément la même.«75 4.1.2.4 Die Position der Armenier in der Türkei In dem Land, das die historischen Ereignisse von 1915 lange hartnäckig leugnete und auch heute noch relativiert, war es lange nicht möglich, das armenische Schicksal offen zu thematisieren. Diesbezügliche Äußerungen können noch immer gemäß Paragraph 301 des türkischen Strafgesetzbuches wegen »Beleidigung des Türkentums« strafrechtlich verfolgt werden. Zudem sind die meisten Türken durch das patriotische türkische Narrativ, das von reinen Schutz- und Verteidigungsmaßnahmen ausgeht, und den Schulunterricht mit einem negativen Armenierbild sozialisiert.76
72 Vgl. Kapitel 4.1.2.3 sowie Lenoir-Achdijan (2006), S. 193. 73 Vgl. Pattie (2005), S. 128 sowie Akçam (2001), S. 19 ff., auch Marian (2011), S. 11 sowie Dink (2009), S. 70. 74 Vgl. Mouradian / Kunth (2010), S. 54. 75 Ritter (2007), S. 302 f. 76 Vgl. Dixon, Jennifer M.: Education and National Narratives: Changing Representations of the Armenian Genocide in History Textbooks in Turkey in: The International Journal for Education Law and Policy, Sonderausgabe zu Legitimation and Stability of Political Systems: The Contribution of National Narratives (2010), S. 103-126; Vgl. auch die Klage eines türkischen Vaters gegen das türkische Erziehungsministerium, das noch 2009 Lehrer angewiesen hatte, ihren Schülern einen Spielfilm zu zeigen, der die ›offizielle‹ türkische Sicht auf die Ereignisse von 1915 in offenbar bruta-
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Dagegen setzten Aktivisten wie der türkisch-armenische Publizist Hrant Dink das Prinzip der Aufklärung und offenen Diskussion. Dink forderte einen offeneren Umgang mit Geschichte – und grenzte sich mit diesem Ziel von der armenischen Diaspora ab, die die Genozidthematik oft auf die digitale Beantwortung der Frage »Völkermord: Ja oder Nein?« zu reduzieren schien.77 Für die Armenier in der Türkei, so Burdy, sollte die Genozidfrage vor allem innerhalb der Türkei diskutiert werden und sei dort Teil größerer Fragen nach Presse- und Forschungsfreiheit.78 Erste diesbezügliche Erfolge zeigten sich vor dem Hintergrund der Entwicklung des öffentlichen Diskurses in der Türkei.79 Indes scheinen sich Initiativen zur politischen Anerkennung des Genozids durch andere Staaten zunächst immer kontraproduktiv auf die Situation und die Diskussionsfreiheit der Armenier in der Türkei ausgewirkt zu haben. In einer Abwehrreaktion der ausländischen Maßnahmen haben türkische Medien die armenische Minderheit im Land aufgefordert, klar für ihren Staat Position zu ergreifen. Die Armenier gerieten dadurch wiederholt in die schwierige Situation, entweder ihre Geschichte zu leugnen oder den Zorn ihrer Mitbürger auf sich zu ziehen.80 Hrant Dink umging diese Zwickmühle, indem er auf die vermeintliche historische Wahrheit gar nicht einging, sondern sich einzig auf die Legitimität geschichtspolitischer Mittel bezog, als er ankündigte, sogleich nach Frankreich zu reisen und dort den Genozid zu bestreiten, sollte Frankreich tatsächlich ein Gesetz gegen dessen Leugnung verabschieden. 81 An dieser Reaktion wird noch einmal der Unterschied zur armenischen Diaspora deutlich: Aufgrund ihrer verbreiteten antitürkischen Ressentiments begegnen die Diasporamitglieder mit Skepsis der Loyalität der türkischen Armenier gegenüber dem türkischen Staat und blicken auf deren Türkischsprachigkeit herab.82
len Bildern illustriert und den Armeniern grausame Übergriffe auf die türkische Bevölkerung zuschreibt: Rainsford, Sarah: Turkish children drawn into Armenia row vom 21.03.2009 unter http://news.bbc.co.uk/2/hi/7956056.stm, Stand: 04.03.2014. 77 Vgl. [o. A.]: That controversial G-word in: The Economist, 03.02.2001 sowie Kapitel 4.1.1.3 und 5.1.1.2. 78 Vgl. Burdy (2005), S. 89. 79 Vgl. Kapitel 4.1.2.1. 80 Vgl. Mani, Jégo: La reconnaissance du génocide arménien par la France, in: Le Monde vom 31.01.2001. 81 Vgl. Suny / Göçek (2011 – Introduction), hier S. 9; zur kritischen Haltung Dinks vgl. auch ders. (2009), S. 148 f. sowie Kap. 4.1.1.3. 82 Vgl. Burdy (2005), S. 89.
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Gleichzeitig bleibt die Situation der Armenier in der Türkei ambivalent: Nach der Ermordung Dinks solidarisierten sich über hunderttausend Istanbuler mit ihnen, indem sie an dem Trauerzug für den Ermordeten teilnahmen. Doch zu Beginn des Jahres 2012, im Kielwasser der Auseinandersetzung um das französische Gesetz gegen die Leugnung des Armeniergenozids, beherrschten wieder antiarmenische Parolen die Demonstrationen.83 Selbst der türkische Premierminister sprach unverhohlen Drohungen aus – wenn auch nicht gegen seine eigenen Staatsbürger, so doch gegen die vermuteten 10 000 – 20 000 Armenier, die sich illegal in der Türkei aufhalten und dort arbeiten.84 Nazaret Nazaretyan betont daher, dass es noch immer viel Mut erfordere, in der Türkei über die Problematik zu sprechen. Für die Dokumentation des Projektes Speaking to one another, im Rahmen dessen Armenier und Türken über ihren Blick auf die Geschehnisse von 1915 sprachen, mussten denn auch die Aussagen der türkischen Beteiligten anonymisiert werden, da diese Furcht vor Konsequenzen bei einer Veröffentlichung hatten.85 Diese prekäre Situation hat laut nach Aussage eines Gesprächspartners zwei Seiten: einerseits sei es nach dem großen Erfolg von Fethiye Çetins Buch86 fast schon ›Mode‹ geworden, armenische Vorfahren zu haben. Zugleich bleibe dies ein nur in klaren Grenzen geduldeter Diskurs, zu dem die Politik keine Stellung beziehe.87
83 Vgl. Nordhausen, Frank: Anti-armenische Faust der Türkei in: Frankfurter Rundschau vom 13.03.2012, unter http://www.fr-online.de/meinung/auslese--rassismus-inder-tuerkei-anti-armenische-faust-der-tuerkei,1472602,11884188.html, Stand: 08.08. 2013. 84 Vgl. Keetman, Jan: Die illegalen Armenier von Istanbul, in: Die Presse vom 01.04.2010, abgerufen unter http://diepresse.com/home/panorama/welt/555832/Dieillegalen-Armenier-von-Istanbul, Stand: 22.10.2012. 85 Interview mit Nazaret Nazaretyan vom 30.10.2012. 86 Çetin, Fethiye: My grandmother. An Armenian-Turkish Memoir, London / New York: Verso 2008 (Taschenbuchauflage 2012). 87 Interview 7 vom 28.11.2012.
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4.2
ARMENISCHE G EMEINSCHAFTEN IN D EUTSCHLAND UND F RANKREICH
4.2.1
Historie und Organisation
4.2.1.1 Frankreich Unter den europäischen Ländern ist Frankreich dasjenige mit der größten armenischen Minderheit. Zwischen 300.000 und 500.000 Franzosen sind armenischer Abstammung.88 Armenische Präsenz in Frankreich hat eine lange Tradition: Ab dem 19. Jahrhundert wurden Söhne wohlhabender Armenier aus dem osmanischen Reich und aus der Kaukasusregion zum Studieren nach Frankreich geschickt. Daher existierte bereits vor dem I. Weltkrieg eine armenische Gemeinde in Paris.89 Das Gros der Einwanderer waren indes Flüchtlinge und Überlebende der Massaker und Deportationen im osmanischen Reich im Zuge des I. Weltkrieges. Sie erreichten Frankreich folglich ab 1915 und bis in die 1920er Jahre hinein. Da die staatenlosen Flüchtlinge in der Regel per Schiff ankamen90 und sich dann – bedingt durch ihre Beschäftigung in den Seiden- und anderen Fabriken sowie später im Einzelhandel und im Dienstleistungsgewerbe – in den Industriezentren ansiedelten, finden sich auch heute noch die größten armenischen Gemeinden in Marseille, um das RhôneTal und im Großraum Paris.91 Dass dieser Zustrom auch die französische Wirtschaft unterstützt hat, wird bei Ter Minassian deutlich, die die Armenier »à la fois des réfugiés politiques et une main-d’œuvre importée«92 nennt. In der Gruppe der armenischen Einwanderer und ihrer Nachkommen, der so genannten »communauté arménienne«, herrscht hingegen bis heute ein idealisiertes Frankreichbild vor, das Frankreich vor allem als Land der Freiheit und
88 Zur Problematik der statistischen Erfassung der Mitglieder der armenischen Minderheit vgl. Ter Minassian (1988), S. 219, S. 231; Szlakmann, Charles: La quatrième génération de la diaspora in: Le Monde vom 13./14. April 1986,; Langellier, Jean-Pierre: Les Arméniens, un mois après la reconnaissance du génocide in: Le Monde vom 21.02.2001; Hervieu-Léger, Benoît: Génocide arménien – Blocage sénatorial in: Réforme N° 2872 vom 27.04.2000 sowie Lacombe, Marcia: Le génocide arménien aux portes du Sénat in: Libération vom 21.03.2000; die Veränderung der statistischen Angaben über die Jahre ist dargelegt in Kapitel 4.2.5.6. 89 Vgl. Ter Minassian (1988), S. 189 ff. 90 Vgl. Théolleyre, Jean-Marc: Être Arménien en France, in: Le Monde vom 06.03.1981. 91 Vgl. Ter Minassian (1988), S. 222. 92 Ebd., S. 201.
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der Menschenrechte stilisiert93 und von Ritter kritisch als »légende communautaire«94 bezeichnet wird. War die Erwartungshaltung vieler Armenier während der ersten Jahre von der Hoffnung bestimmt, in ihre Heimat zurückkehren zu können,95 so gelten die Armenier heute allgemein als sehr gut, geradezu exemplarisch, in die französische Gesellschaft integriert.96 Gleichwohl haben sie sich als Gruppe, als communauté, eine starke eigene Identität bewahrt, 97 die auch in ihren organisationellen Strukturen Ausdruck findet. Heute gibt es ca. 300 armenische Vereine und Verbände, die teils vorwiegend kulturell, teils politisch orientiert sind. Der Großteil dieser verschiedenen associations ist durch den Conseil de coordination des organisations arméniennes de France (CCAF) repräsentiert. Beim Blick auf dessen Führung werden auch die guten Verbindungen der armenischen Zusammenschlüsse in die Politik deutlich: So ist der Vizepräsident des CCAF, Mourad Papazian, Kommunikationsberater des amtierenden Staatspräsidenten Hollande. 98 Der einflussreichste Politiker, der selbst Teil der communauté arménienne ist, ist der konservative Abgeordnete Patrick Devedjian, der sich auch immer wieder für die Anliegen der Gemeinschaft öffentlich ausgesprochen und
93 Vgl. Ritter (2007), S. 98; auch Ter Minassian (1988), S. 200. 94 Ritter (2007), a.a.O. 95 Vgl. Ter Minassian (1988), S. 214. 96 Vgl. Ritter (2007), S. 110; ebenso bzw. verstärkend äußern sich mehrere Redner in den französischen Parlamentsdebatten zum Genozid an den Armeniern; vgl. auch Kapitel 4.3.3.2. 97 Vgl. Ritter (2007), S. 94; Ter Minassian (1988), S. 223. 98 Vgl. Wieder, Thomas: François Hollande s'engage à pénaliser la négation du génocide arménien, in: Le Monde vom 16.03.2012, S. 5. Die teils scheinbar engen Bindungen zwischen Repräsentanten der armenischen communauté und Politikern treten auch in der oben erwähnten Parlamentsdebatte vom 18.01.2001 zur Anerkennung des Genozids an den Armeniern zutage, wo mehrere Redner die Rolle und Präsenz der armenischen Organisationen erwähnen und der Abgeordnete René Rouquet von zwei ihrer Hauptfunktionären der letzten Dekaden, Ara Toranian und Alexis Govciyan, nur mit Vornamen spricht (»Avec eux, avec Ara et Alexis, je mesure le caractère historique et exemplaire de cette reconnaissance.«).
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ihnen eine Stimme auf der politischen Bühne verliehen hat.99 Für die engen Verbindungen des CCAF in die höchsten Chargen der französischen Politik spricht auch, dass zwei Monate nach der Wahl des Staatspräsidenten im Mai 2012 bereits ein Treffen zwischen diesem und der Führung des CCAF anberaumt war.100 Das größte Medium der communauté arménienne ist »Nouvelles d’Arménie Magazine« (NAM), eine Zeitschrift, die monatlich Meldungen aus der Türkei und der Kaukasusregion bringt, vor allem aber über politische Anliegen der Armenier in Frankreich berichtet und sogar Anzeigen in der französischen Tagespresse finanziert, um für die cause arménienne zu werben.101 Als wissenschaftliches Magazin veröffentlicht die »Revue Arménienne des Questions Contemporaines« Beiträge zur »armenischen Frage« und zu Armenien betreffenden Themen. Außerdem finden sich in Frankreich mehrere armenische Radiostationen insbesondere in den Regionen mit relativ hohem armenischen Bevölkerungsanteil (zum Beispiel Radio Arménie FM Lyon 102.6). In Valence, wo 10% der Einwohner als armenischstämmig gelten, ist 2005 ein Museum eröffnet worden, das über armenische Geschichte und Kultur informieren soll sowie als Kulturund Recherchezentrum dient: das »Centre du Patrimoine Arménien« (CPA). Im Internet finden sich zahlreiche Webseiten mit französisch-armenischem Hintergrund. Diese lassen sich grob in zwei Kategorien einteilen: Vorwiegend kulturell-sozial orientierte Plattformen wie NetArmenie.com und armenoscope.com dienen dem Austausch und der Information zwischen Mitgliedern der communauté. Dem Gedenken an den Armeniergenozid und der Einsatz für die cause
99
Vgl. z B. den Redebeitrag Devedjians in der Parlamentsdebatte vom 18.01.2001 zur Anerkennung des Genozids an den Armeniern sowie seine Beiträge und Erwähnungen in der Tagespresse (vgl. z. B.: Fabre, Clarisse: La reconnaissance du génocide arménien embarrasse les députés, in: Le Monde vom 12.11.2000). Devedjian hat überdies Anfang der 1980er Jahre die Verteidigung armenischer Terroristen übernommen, die für die Geiselnahme in der türkischen Botschaft in Paris verantwortlich waren (vgl. P. J.: Les revendiations arméniennes font l'unanimité des grands partis politiques in: Le Monde vom 8. März 1986).
100 Vgl. o. A.: Génocide arménien : Hollande confirme un nouveau texte, in: Le Figaro vom 07.07.2012 (aktualisiert am 09.07.2012), unter http://www.lefigaro.fr/politique/ 2012/07/07/01002-20120707ARTFIG00459-genocide-armenien-hollande-confirmeun-nouveau-texte.php, Stand: 08.08.2013. 101 Vgl. die Website von Nouvelles Arménie Magazine: www.armenews .com; zuletzt konsultiert am 18.10.2012 sowie die von »Aznavour pour l’Arménie« und »Nouvelles Arménie Magazine« unterschriebene Anzeige: Reconnaissance du génocide armé-nien: le Jour J, in: Le Figaro vom 29.05.1998.
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arménienne dienen historisch-politische Seiten wie collectifvan.org (Vigilance arménienne contre le négationnisme) oder imprescriptible.fr.102 Schließlich werden in der Öffentlichkeit auch prominente Künstler mit armenischen Vorfahren als Vertreter der communauté wahrgenommen, so zum Beispiel Charles Aznavour und André Manoukian. 4.2.1.2 Deutschland Obwohl nach Frankreich die zweitgrößte armenische Minderheit in Europa, ist die deutsche im Vergleich zur französischen klein: 50 000 Mitglieder zählt die armenische Gemeinschaft in Deutschland. Dabei gibt es keine deutlichen regionale Konzentration wie in Frankreich; größere Gruppierungen finden sich indes in Köln, München, Berlin, Halle, Hamburg, dem Rhein-Main-Gebiet sowie in Baden-Württemberg.103 Armenische Einwanderer sind seit den 1960er Jahren sukzessive nach Deutschland gekommen: zunächst als Gastarbeiter, dann vor dem Hintergrund des Nahostkonfliktes, in Folge der iranischen Revolution und schließlich aufgrund des Zerfalls der Sowjetunion.104 Organisiert sind die Armenier in »über vierzig armenische[n] Vereine[n], Organisationen und Einrichtungen.«105 Deren Mehrheit ist in einer der beiden zentralen Dachorganisationen Mitglied, dem Zentralrat der Armenier in Deutschland (ZAD) oder der Armenischen Diözese in Deutschland.106 Neben den Zusammenschlüssen von Armeniern gibt es auch solche Organisationen, die »durch Deutsche und / oder die in der Bundesrepublik ansässigen Ausländer mitbegründet« sind und »einen pro-armenischen Charakter«107 haben. Dazu zählt vor allem die 1914 in Berlin gegründete und 1972 wiedergegründete »Deutsch-Armenische Gesellschaft« (DAG), die seit 1973 die Zeitschrift »Armenisch-Deutsche Korrespondenz« (ADK) herausgibt. 108 Seit 1998 beschäftigt sich das »MESROP-Arbeitsstelle für Armenische Studien« an der Universität Halle-Wittenberg wissenschaftlich mit der armenischen Kultur.109
102 Stand: 12.02.2014. 103 Vgl. Ordukhanyan (2009), S. 25 f., S. 40 f. sowie die Angaben der armenischen Botschaft
in
Deutschland:
http://www.germany.mfa.am/de/community-overview/,
Stand: 20.10.2012. 104 Vgl. Ordukhanyan (2009), S. 30 f. 105 Ordukhanyan (2009), S. 39. 106 Ebd., S. 43 f. 107 Beides ebd., S. 42. 108 Vgl. ebd., S. 61 f. sowie Schaefgen (2006), S. 100. 109 Vgl. die Webseite des Instituts: http://www.mesrop.uni-halle.de/, Stand: 20.10.2012.
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Die Erforschung des Armeniergenozids und von Genozidphänomenen im Allgemeinen sowie von Diasporagemeinschaften steht im Fokus des Instituts für Diaspora- und Genozidforschung an der Universität Bochum,110 dessen Einrichtung durch einen armenischen Spender ermöglicht wurde.111 Schließlich besteht seit 1999 die »Arbeitsgruppe Anerkennung« (AGA), in der sich Armenier und Nichtarmenier zusammengeschlossen haben, um sich für die Anerkennung des Armeniergenozids durch die Bundesrepublik Deutschland einzusetzen. Die AGA, deren Vorsitzende Tessa Hofmann seit Jahrzehnten als Aktivistin für die Anerkennung des Völkermords an den Armeniern wirbt, versteht sich als Menschenrechtsorganisation, deren Ziel die Verhinderung weiterer Völkermorde ist.112 4.2.1.3 Vergleichende Betrachtung Die armenischen Gemeinschaften in Deutschland und Frankreich unterscheiden sich in einigen wesentlichen Punkten. Augenfällig ist zunächst der Größenunterschied: Leben in Frankreich nach großzügigen Schätzungen eine halbe Million Menschen armenischer Abstammung, so trifft dies in Deutschland nur auf maximal 50 000, also ein Zehntel, zu. Von Bedeutung ist neben der Anzahl aber auch die Herkunft und der persönliche Hintergrund dieser Gruppen: Die meisten Franzosen mit armenischen Wurzeln haben Vorfahren, die infolge des Genozids zu Beginn des 20. Jahrhunderts in Frankreich eingewandert sind. Ihre Verbindung zu Frankreich ist deshalb lang etabliert und steht vor allem in direktem Bezug zum Völkermord im Osmanischen Reich. Demgegenüber sind die Deutschen mit armenischem Hintergrund eine äußerst heterogene Gruppe: eine Vielzahl von ihnen wanderte in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts aus der Türkei ein, aber auch aus Armenien selbst, aus Russland und aus dem nahen Osten. Zudem erfolgte dieser Zuzug in Etappen und mit starker regionaler Verteilung, von Ballungszentren oder Gleichzeitigkeit kann deshalb kaum gesprochen werde. Dies hat auch Folgen für die Organisation: Der Zentralrat der Armenier ist ein verhältnismäßig kleiner Verein, der noch im Begriff ist, stabile Strukturen zu etablieren.113 Traditionsreicher ist die Deutsch-Armenische Gesellschaft, die jedoch einen ganz anderen Charakter hat: Nach dem Vorbild des Missionars Jo-
110 Vgl. die Webseite des Instituts: http://www.ruhr-uni-bochum.de/idg/, Stand: 20.12. 2012. 111 Vgl. Ordukhanyan (2009), S. 58. 112 Vgl. die Webseite der Gruppe: http://www.aga-online.org/aboutus/index.php? locale=de, Stand: 04.04.13. 113 Interviews 7 (29.11.2012) und 8 (19.12.2012).
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hannes Lepsius sind darin vor allem Deutsche und Armenier zusammengeschlossen, die sich für Armenien interessieren und engagieren. Hingegen sind die armenischstämmigen Franzosen herausragend stark und gut organisiert, pflegen enge Beziehungen in die Politik, verfügen über populäre Repräsentanten und beträchtliche finanzielle Mittel114. Dabei kommt ihnen auch ihr Integrationsgrad zugute: Parallel zur Zugehörigkeit zu einer stark entwickelten communauté sind sie hervorragend in die gesellschaftlichen und professionellen Strukturen Frankreichs eingebunden. Geht es um die Durchsetzung erinnerungspolitischer Anliegen, ist natürlich auch das Verhältnis der armenischen Minderheit im jeweiligen Land zu anderen Minderheiten, insbesondere der türkischen, zu berücksichtigen. In Deutschland, wo einer überschaubaren armenischen Minderheit knapp drei Millionen Türken oder türkischstämmige Deutsche gegenüberstehen, wird die Diskrepanz besonders deutlich.115Aufgrund der sehr viel größeren Präsenz der armenischstämmigen Franzosen überrascht zunächst, dass die Größe ihrer Gruppe in etwa gleich ist mit derjenigen ihrer türkischstämmigen Mitbürger. 116 Diese Präsenz erklärt sich allerdings aus dem deutlich höheren Organisations- und möglicherweise auch Bildungsgrad der Armenier.117
114 Vgl. Le défi démocratique, Interview mit Mourad Papazian [propos receuillis par Ara Toranian], in: NAM N°63, April 2001, S. 14-15. 115 Vgl. Bundesministerium des Innern / Bundesamt für Migration und Flüchtlinge: Migrationsbericht des Bundesamtes für Migration und Flüchtlinge im Auftrag der Bundesregierung: Migrationsbericht 2012, veröffentlicht am 15.01.2014, als pdf abrufbar unter http://www.bamf.de/SharedDocs/Anlagen/DE/Publikationen/Migrations berichte/migrationsbericht-2012.pdf?__blob=publicationFile,
Stand:
04.03.2014,
hier S. 189. Die hier genannte Anzahl der Türken schließt auch nichtethnische Türken, wie Kurden, oder religiöse Minderheiten, wie die Aleviten, ein. (vgl. Ordukhanyan (2009), S. 28). Aus ethnischer Sicht müssen von der Gesamtsumme deshalb etwa 20-30% abgezogen werden. Sie bleibt dennoch beträchtlich. 116 Interview 24 vom 07.03.2013. 117 Interviews 18 vom 08.04.2013 sowie 24 vom 07.03.2013.
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4.2.2
Politische Forderungen
4.2.2.1 Überblick über die Forderungen Politische Anerkennung des Genozids Wie in zahlreichen Staaten, stellt die Anerkennung des Genozids auch in Frankreich und Deutschland ein zentrales Anliegen der armenischen Vereinigungen dar. Gefordert wird dabei, dass von staatlicher Seite offiziell festgehalten wird, dass es sich bei den Ereignissen von 1915 um einen Genozid gehandelt hat. In Frankreich ist dies mit dem Gesetz vom 29. Januar 2001 erfolgt. Der deutsche Bundestagsbeschluss aus dem Jahr 2005 wird bei Aufzählungen von armenischen Organisationen teilweise zwar als Anerkennung gewertet.118 Zugleich wird die Resolution jedoch als »halbherzig« 119 kritisiert, da sie den Genozidbegriff meidet. Wie eine Aktivistin erläutert, gehe es bei der Forderung nach Anerkennung ja gerade um die Feststellung des Völkermordtatbestandes und weniger um eine geschichtliche Erörterung.120 Das Anliegen bleibt deshalb unvermindert bestehen, seine Erfüllung wird bis spätestens 2015, zum hundertsten Jahrestag des Völkermordes, gefordert.121 Übernahme ins offizielle Gedächtnis Neben der politischen Feststellung des Genozids fordern die Armenier dessen Repräsentation im »offiziellen Gedächtnis«122. Ausdruck hiervon können Denk-
118 Von der Arbeitsgruppe Anerkennung wird fälschlicherweise behauptet, Deutschland spreche von einem »Genozid entsprechend der UN-Völkermordkonvention von 1948«, vgl. http://www.aga-online.org/aboutus/index.php?locale=de; geführt wird Deutschland auch als Land, das den Genozid anerkannt hat unter http://www. armenian-genocide.org/recognition_countries.html; auf http://www.imprescriptible. fr/pedagogie/pedagogie/100_reponses/8.htm taucht es in einer ähnlichen Aufzählung nicht auf, Stand jeweils: 24.03.2014. 119 Ordukhanyan (2009), S. 28 sowie Webseite der AGA, http://www.aga-online. org/aboutus/index.php?locale=de, Stand: 04.04.13, außerdem Vartkes Alyanak beim Gedenkgottesdienst im Berliner Dom am 24.04.05, zitiert nach (o. a.): EKD-Chef Huber bittet um Verzeihung in: Süddeutsche Zeitung vom 25.04.2005. 120 Interview 9 vom 26.02.2013. 121 Interview 7 vom 28.11.2012. 122 Ricœur spricht von »offizieller Geschichte«, um »l ́histoire apprise et célébrée publiquement« (Ricœur, Paul: La mémoire, l’histoire, l’oubli, Paris: Seuil 2000, S. 104) zu bezeichnen. Aufgrund ihres kommemorativen Charakters kann in Anleh-
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und Mahnmäler sein, aber auch die Unterrichtung kommender Generationen durch Aufnahme des Themas in die Lehrpläne ist von zentraler Bedeutung.123 Lokale Denkmäler sind in Frankreich zahlreich, die erste stèle wurde 1972 in Décines eingeweiht.124 In Deutschland gibt es acht Khatchkare, armenische Gedenksteine mit orthodoxem Kreuz.125 Seit 2003 besitzt Frankreich auch ein zentrales Mahnmal. Dieses repräsentiert den armenischen Komponisten und Genozid-Überlebenden Komitas und befindet sich auf der Place du Canada in Paris. Das Denkmal selbst wurde von armenischen Verbänden finanziert, der französische Staat stellte die Stätte sowie den Sockel bereit.126 Auch in Deutschland fordern armenische Verbände ein »sichtbares Zeichen«127 in Berlin. Ein Mahnmal in der Stadtmitte wird von den Behörden indes abgelehnt; die Freigabe ist nun für den Charlottenburger Friedhof erfolgt.128 Das offizielle Gedächtnis umfasst nicht nur die Repräsentation im öffentlichen Raum. Insbesondere die Vermittlung der historischen Ereignisse im Schulunterricht stellt ein wiederholt vorgetragenes Anliegen dar.129 In Deutschland ist
nung kann hier in Anlehnung an die Ausführugnen zum »kollektiven Gedächtnis« präziser vom »offiziellen Gedächtnis« gesprochen werden. 123 Vgl. z. B.: Schawarsch Owassapian: Eröffnungsrede zur zentralen Gedenkfeier zum Völkermord an den Armeniern, 24. April 2009, Frankfurter Paulskirche unter http://www.a-rm.de/wp-content/uploads/2008/04/paulskirche-2009-eroffnungsrededr-owassapian.pdf, Stand: 12.08.2013 sowie ders.: Ansprache vom 24.04.2004. 124 Vgl. Videlier, Philippe: French Society and the Armenian Genocide, in: Richard Hovannisian [Hrsg.]: The Armenian Genocide. Cultural and Ethical Legacies, New Brunswick / London: Transaction Publishers 2007, S. 325-333, hier S. 332. 125 Interview 6 vom 19.12.2012. 126 Vgl. Govciyan (2003), S. 23-30, zur Finanzierung S. 26. 127 Die Formulierung fand sich so auf einem Poster am Rande der Jahrestagung des ZAD in Hamburg am 04.11.2012 (Beobachtungen d. A.), vgl. außerdem die Rede von Jochen Mangelsen, Schriftsteller, bei der Gedenkfeier in Kehl am 24.04.2011; als Forderung des ZAD wird der Begriff auch zitiert im Blogbeitrag Armenier fordern Mahnmal in Berlin unter http://www.readers-edition.de/2011/04/23/armenierfordern-mahnmal-in-berlin/ vom 23.04.2011, Stand: 08.02.2014. 128 Interview 9 vom 26.02.2013. 129 Vgl. ebd. sowie Pressemitteilung des ZAD vom 01.04.13: Zum 24. April 2013. Erklärung des Zentralrats der Armenier in Deutschland (ZAD) zum Gedenken an die Opfer des türkischen Völkermords an den Armeniern von 1915 unter http:// www.zentralrat.org/de/ERKLÄRUNG_DES_ZENTRALRATS_DER_ARMENIER _IN_DEUTSCHLAND, Stand: 02.04.2014.
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der Armeniergenozid indes nur in Brandenburg Bestandteil des Lehrplans. Vorausgegangen war eine Polemik in den deutschen Medien, da der türkische Botschafter offenbar versucht hatte, beim brandenburgischen Ministerpräsidenten Platzeck zu intervenieren, um die Behandlung des Themas im Schulunterricht zu verhindern.130 In Frankreich wird der Genozid an den Armeniern seit Mitte des 20. Jahrhunderts gelehrt; seit den 1990er Jahren ist er Teil des Lehrplans.131 Dass damit auch französische Schulen in der Türkei das Thema behandeln, hat bereits zu Kritik durch das türkische Erziehungsministerium geführt. Erneut kam es zu Protesten von türkischer Seite, als in dem im Sommer 2012 erschienenen neuen Geschichtsbuch für die dritte Klasse (das heißt, für etwa 15jährige Schüler) zwei Seiten explizit diesem Thema gewidmet waren, inklusive Bildern und kartographischem Material.132 ›Leugnungsverbot‹ Analog zur strafrechtlichen Verfolgung von Leugnungen des Holocaust in Frankreich und Deutschland133 fordern die armenischen Verbände, die Infragestellung des Armeniergenozids oder die Herabsetzung seiner Opfer unter Strafe zu stellen. Damit soll gegen Personen vorgegangen werden, die öffentlich bezweifeln, dass es sich bei den Ereignissen von 1915 um einen Völkermord gehandelt habe bzw. die Vorgänge als kriegsbedingte Maßnahmen rechtfertigen. Während in Deutschland ein derartiger Gesetzesentwurf es bisher nicht auf die Agenda der Legislative geschafft hat, ist in Frankreich ein entsprechender
130 Vgl. z. B. Küpper, Mechthild: Interesse geweckt. Auf Druck der Türkei: Platzeck läßt den Völkermord an den Armeniern aus dem Lehrplan streichen, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 31.01.2005. 131 Vgl. Vercasson, Ania: France: Les manuels scolaires et la question du génocide arménien, 31.08.12 unter www.actualitte.com/scolarite/france-les-manuels-scolaireset-la-question-du-génocide-armenien-36403.htm, Stand: 17.04.13; auch in Frankreich war die Aufnahme in die Lehrbücher immer Bestandteil armenischer Forderungen, vgl. Govciyan, Alexis: La priorité est au consensus [Interview, propos recueillis par Ara Toranian], in: NAM N° 63, April 2001, S. 16-17, hier S. 16. 132 Vgl. ebd. sowie (o. A.): Ankara réagit à l’enseignement du «génocide arménien» dans les manuels scolaires, unter http://www.turquie-fr.com/ankara-reagit-a-lenseign ement-du-genocide-armenien-dans-les-manuels-scolaires/06/09/2012/, Stand: 09.08. 2013. 133 In Frankreich durch die so genannte Loi Gayssot vom 13.07.1990, in Deutschland insb. durch §130 Abs. 3 StGB.
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Anlauf bereits dreimal unternommen worden: 2006, 2011 und 2012.134 Wie eingangs beschrieben, wurde dieses zwar zuletzt vom Senat bestätigt, vom Conseil Constitutionnel jedoch am 28.02.2012 für nichtig erklärt, da es gegen das Grundrecht der Meinungsfreiheit verstoße.135 Damit kann auf türkischen bzw. türkisch-französischen und anderen Webseites weiterhin verbreitet werden, es habe keinen Genozid an den Armeniern gegeben. Gleichwohl lässt sich beobachten, dass dieser ›Meinungsfreiheit‹ bereits jetzt Grenzen gesetzt sind. Dies wurde einerseits 1993 deutlich, als der amerikanische Orientalist Bernard Lewis der Zeitung Le Monde ein Interview gab, in dem er auf Rückfrage den Genozid an den Armeniern als »armenische Version« der Geschichte bezeichnete.136 Lewis wurde daraufhin von armenischen Organisationen verklagt und zivilrechtlich zur Zahlung eines symbolischen Euro verurteilt. Zwar sah ich das Gericht nicht befugt und in der Lage, über den geschichtlichen Sachverhalt zu richten, warf Lewis jedoch vor, mit seiner »einseitigen« Darstellung seine Sorgfaltspflicht als Historiker vernachlässigt zu haben.137 Weniger bekannt ist der Fall des Verlags Robert Laffont, der 2005 ebenfalls zur Zahlung eines Euros verurteilt wurde. In der Ausgabe des Jahres 2003 der Enzyklopädie Quid hatte der Verlag die Völkermordabsichten hinter den Ereignissen von 1915 als strittig dargestellt und auch auf die offizielle türkische Haltung verwiesen. Das Gericht hat daraufhin festgestellt »que le Quid avait eu recours à un vocabulaire approximatif banalisant la réalité.«138
134 Vgl. Woitier, Chloé: Génocide arménien: 13 ans de blocage au Parlement français vom 19.12.2011 unter http://www.lefigaro.fr/actualite-france/2011/12/16/01016-20 111216ARTFIG00439-genocide-armenien-13-ans-de-blocage-au-parlement-francais .php, Stand: 19.05.13. 135 Vgl. Conseil Constitutionnel: Décision n° 2012−647 DC du 28 février 2012, als pdf unter http://www.conseil-constitutionnel.fr/conseil-constitutionnel/root/bank/pdf/con seil-constitutionnel-104949.pdf, Stand: 08.08.2013. 136 Vgl. Un entretien avec Bernard Lewis [propos receuillis par J. P. Langellier et J. P. Peroncel-Hugoz], in: Le Monde vom 16.11.1993. 137 Vgl. Lewis, Bernard: Lettre au Monde (Une lettre de Bernard Lewis), in: Le Monde vom 10.06.1995. 138 Zit. nach: Le Monde – Dépêches vom 08.07.2005 vgl. auch: [o. A.]: Fabrice Frémy: »Ce n'est pas aux juges de dire l'histoire«; Le directeur du Quid invoque la liberté d'opinion in: Le Figaro vom 25.05.2005, sowie Cécilia Gabizon: Le Quid jugé pour négation du génocide arménien; L'éditeur publie les thèses officielles turques, in: Le Figaro vom 25.05.2005.
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Reparationen Über die Form und den Umfang von Wiedergutmachungsleistungen herrscht auch innerhalb der armenischen Gemeinschaften kein klares Bild. Forderungen beziehen sich einerseits auf im Zuge des Genozids durch den osmanischen Staat konfisziertes Vermögen und Wertsachen. Kompensation hierfür wird vom türkischen Staat verlangt, aber auch ausländische Versicherungsgesellschaften finden sich mit Ansprüchen konfrontiert: viele Armenier hatten vor 1915 eine Lebensversicherung abgeschlossen; ihre Nachkommen haben selten Leistungen daraus erhalten.139 Die weitestgehende Forderung wird in der Regel von Vertretern der Daschnak-Partei geäußert: Unter dem Schlagwort »nos terres«140 streben diese die Herausgabe der im Vertrag von Sèvres Armenien zugesprochenen Territorien an – dies würde den größten Teil Anatoliens betreffen. Naturgemäß wird diese Position von der Türkei rundweg abgelehnt. Beobachter kritisieren, dass die Radikalität der Forderung einerseits Ängste in der Türkei schüre, die die offene Vergangenheitsaufarbeitung behinderten. Zudem nutze die türkische Regierung diese Forderung Einzelner als Vorwand, um jegliche Diskussionen zu blocken.141
139 Vgl. Bundesberufungsgericht überdenkt Urteil zu Versicherungsauszahlungen an armenische Nachkommen des Genozids unter http://haypressnews.wordpress.com/ 2011/11/10/bundesberufungsgericht-uberdenkt-urteil-zu-versicherungsauszahlungen -an-armenische-nachkommen-des-genozids/, Stand: 22.04.12. 140 Das Stichwort »nos terres« tauchte laut Marian (vgl. Marian, Michel: La diaspora arménienne de France et la Turquie: un regard historique, in: ders. und Christian Makarian: Les Arméniens de France
et la Turquie
La possibilité d’un dialogue?, Note franco-turque N°5, Institut français des relations internationales [Programme Turquie contemporaine], Janvier 2011, S. 5-15, hier S. 6) erstmals bei den Demonstrationen in Erewan 1965 auf. Die Forderung wird noch heute von Vertretern der Daschnak-Partei aufrechterhalten: In seinem Discours prononcé le 24 avril 2006 par Mourad Papazian, abrufbar auf der Webseite des CCAF unter http://www. ccaf.info/item.php?r=0&id=154 (Stand: 12.08.2013) fordert Papazian »l’édification d’une Arménie libre, indépendante et réunifiée pour que tous ensemble, nous puissions reprendre possession de Van, Mouch, Kars, Sassoun, Bitlis et Erzeroum.«; vgl. dazu und zu dem Collectif 2015 Réparation en France auch Minassian (2006), S. 108. 141 Vgl. Minassian, Gaïdz: Caucase du sud, la nouvelle guerre froide: Arménie, Azerbaïdjan, Géorgie, Paris: Éditions Autrement 2006, S. 108. Martirosyan beschreibt die ambivalente Haltung des armenischen Staates in dieser Sache: Grundsätzlich stelle der Staat keine territorialen Ansprüche, es sei denn, die Anwendbarkeit des
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Hingegen wird im Interview auch eine moderate Variante von ›Reparationen‹ umrissen: aus Sicht des Gesprächspartners geht es vor allem um den Erhalt und Wiederaufbau armenischer Kulturstätten, also die Verpflichtung der heutigen Türkei, die Bewahrung des armenischen patrimoine sicherzustellen.142 4.2.2.2 Heterogenität der Forderungen Die genannten Forderungen erhalten in den Reihen der armenischstämmigen Deutschen und Franzosen unterschiedlich breite Zustimmung. Weitgehender Konsens ist der Wunsch nach Anerkennung und öffentlicher Thematisierung des historischen Geschehens. Dahinter steht wohl einerseits das Streben nach allgemeiner Verbesserung der Kenntnisse hinsichtlich Geschichte und Schicksal des armenischen Volkes. Zweifelsohne ist dieses Bemühen aber erhöht durch Position der türkischen Regierung, die ein erhöhtes Maß an Aufklärung erforderlich zu machen scheint. Schließlich sei allen Armeniern gemeinsam, so Kantian im Interview, dass sie »ernst genommen werden« 143 wollten. Ähnlich erklärt eine Interviewpartnerin, die Armenier »wollen sich nicht immer erklären müssen«144 wenn es darum geht, die Geschichte ihrer Familie und ihres Volkes zu schildern. Aus diesem Grund verteidigt sie die obligatorische Verwendung des Genozidbegriffs: Es gehe nicht um den Begriff, stellt sie fest. Wer aber heute den Begriff ablehne, ziehe in der Regel auch das gesamte Geschehen, seine Ursache und seine Wirkung, in Zweifel. Ist auf individueller Ebene also der Wunsch nach Aufklärung und Akzeptanz der eigenen Geschichte dominant, spiegelt sich dies in den Forderungen der armenischen und assoziierten Organisationen im Anspruch an ihre Heimatländer auf ein klares Bekenntnis zum ›Genozid‹-Tatbestand wider. Weitere Forderungen bauen darauf auf: ein ›Leugnungsverbot‹ wird, obwohl von einzelnen Mitgliedern der Gruppe nicht als zielführend betrachtet,145 von den Organisationen zum Schutz ihrer Mitglieder gefordert. Restitutionen und Reparationen werden von der armenischen Regierung weder verlangt noch endgültig ausgeschlos-
Vertrags von Sèvres solle noch einmal diskutiert werden – was dann für die Türkei auch mit Blick auf die Kurden weitreichende Folgen hätte. Vgl. Martirosian (2004), S. 168. 142 Interview 22 vom 17.03.2013. 143 Interview mit Raffi Kantian vom 01.03.2013. 144 Interview 8 vom 22.02.2013. 145 Vgl. Interview mit M. Marian, in: La Croix vom 23.01.2012; vgl. auch die o. zit. Position Hrant Dinks.
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sen, 146 von einigen Repräsentanten der Diaspora-Organisationen hingegen als klares Ziel genannt. Und auch dabei scheint Uneinigkeit oder zumindest Unklarheit darüber zu herrschen, was diese im konkreten Fall umfassen sollten: Vom Erhalt des armenischen Kulturguts in der Türkei über Schadensersatzleistungen bis hin zu Grenzrevisionen werden sehr unterschiedliche Konzeptionen aufgebracht. Im Gegensatz zur Situation in den 1990er Jahren, als die armenische Regierung eine sehr viel zurückhaltendere, wenn nicht gegensätzliche Position zu den Forderungen der Diaspora-Organisationen vertrat,147 haben sich beide ›Fraktionen‹ seit Beginn der Ära Kotcharian deutlich angenähert.148 Gleichwohl bleibt es die Diaspora, die die geschichtspolitische Initiative in ihren Heimatländern ergreift. Die armenische Regierung bezieht gegebenenfalls unterstützend Stellung,149 tritt aber offenbar nicht mit eigenen Wünschen an ausländische Regierungen heran.150 Die unterschiedlich weitreichenden Vorstellungen innerhalb der armenischen Gemeinschaft zeigen, dass das ultimative Ziel der Aktivitäten nicht einheitlich definiert ist. Die Möglichkeiten reichen von einer Annäherung der armenischen und türkischen Staaten, die vor allem Armenien eine wirtschaftliche Perspektive eröffnen würde, über ein Bekenntnis des türkischen Staates zur Realität des Genozids hin zur Gleichbehandlung mit der Shoah oder gar Visionen der Wiedererlangung eines großarmenischen Staates. Diese Varietät korrespondiert mit einer Unbestimmtheit hinsichtlich der Adressaten der Forderungen, die im Folgenden erläutert wird.
146 Vgl. Minassian (2006), S. 108. 147 Vgl. Kapitel 4.1.2.3. 148 Vgl Gaillard., Franck; R. Kotcharian ou l’art de l’équilibrisme, NAM N°65, juin 01, S. 22-26, insb. S. 24 sowie Govciyan (2001), S. 16: »Depuis l’accession de Robert Kotcharian à la présidence de l’Arménie, la diaspora et Erevan ont sur cette question un avis convergent.« Robert Kotcharian war der zweite Präsident der Republik Armenien (nach Levon Ter-Petrossian) und amtierte von 1998-2008. Martirosian findet sogar: »International recognition of the Armenian genocide [...] has become Armenia’s geopolitical priority.« (Martirosian, Tigran: Recognition oft he Armenian genocide as part of South Caucasian and Mid-Eastern politics, in: Central Asia and the Caucasus 26(2004)2, S. 164-169, hier S. 166). 149 Vgl. Oskanjan (2005), a.a.O. 150 Interview 10 vom 29.11.2012, Interview 26 vom 15.05.2013.
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4.2.2.3 Unbestimmtheit der Adressaten Auf den ersten Blick scheinen die von armenischen und assoziierten Organisationen vorgetragenen Forderungen klare Adressaten zu haben: die jeweiligen Heimatländer sind aufgefordert, den Genozid anzuerkennen, seine Leugnung strafrechtlich zu verfolgen, ihn im Geschichtsunterricht zu lehren etc. Die historische Konstellation sowie die aktuelle Haltung der Türkei legen jedoch nahe, dass die geforderten Maßnahmen auch mit Blick auf den Staat am Bosporus konzipiert sind. In den Interviews findet sich diese Vermutung bestätigt: Die Rede ist von einer »hilfsweisen«151 Anerkennung des Genozids durch Drittstaaten, die Loi Boyer wird als nötig bezeichnet, da die Türkei den Genozid leugne. Ändere die Türkei ihre Position, müsste Frankreich keine Gesetze verabschieden, um den Negationismus zu bestrafen.152 Eine nähere Betrachtung der Forderungen enthüllt, unter Berücksichtigung der rechtlichen, politischen und identitären Implikationen, mehrere mögliche Zielrichtungen: Aus juristischer Sicht kann die Anerkennung des Genozids durch ein ausländisches Parlament eine Urteilsfunktion haben.153 In diesem Fall nimmt das Parlament die Aufgabe eines Tribunals wahr. Damit würde es im Beispielfall zum neutralen Dritten, dessen Spruch den Mangel einer internationalen Gerichtsentscheidung kompensiert. Indes kann die Forderung der Anerkennung an ein drittes Parlament auch ein Mittel sein, um Druck auf die Türkei auszuüben, ihre eigene Position zu revidieren.154 Schließlich kann die Forderung auch darauf abzielen, die Berücksichtigung des »armenischen Gedächtnisses« in der Geschichts- und Erinnerungskultur des jeweiligen Landes zu befördern. Somit würde sich die grundsätzlich gute Integration der Armenier auch auf die historische Darstellung erstrecken und es ihnen erlauben, sich als vollständig integriert zu betrachten, ohne sich vollständig assimilieren zu müssen. Hinsichtlich der Forderung nach einem Leugnungsverbot lässt sich festhalten, dass es zunächst eine Antwort auf den türkischen Negationismus sein soll.155 In diesem Fall ist es sowohl eine politische Reaktion als auch eine strafrechtliche Regelung, die die Würde der eigenen Bürger vor diesem Negationismus schützen soll. Allerdings können auch Gesetze wie die Loi Boyer der Versuch eines
151 Interview 9 vom 26.02.2013. 152 Interview 22 vom 17.03.2013. 153 Vgl. Kreis (2006), S. 170. 154 Vgl. Akçam (2001), S. 11. 155 Interview 22 vom 17.03.2013.
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Druckmittels sein, um in der Türkei einen Revisionsprozess anzustoßen.156 Darüber hinaus wird auch immer wieder darauf verwiesen, dass es sich bei Gesetzen gegen Genozidleugnung um die Umsetzung einer EU-Richtlinie handele157 und bei einem so schweren Verbrechen wie einem Völkermord die strafrechtliche Gleichbehandlung, zum Beispiel von Shoah und Armeniergenozid, sichergestellt werden müsse. Schließlich existiert ein dritter Adressat, der die die Grenzen des Nationalstaats übersteigt: das universelle ›Menschheitsgedächtnis‹. Govciyan führt dazu – basierend auf der Auffassung des ehemaligen armenischen Präsidenten Kotcharian158 – aus: »Personne ne parle de relations avec l’étranger dans cette affaire; il s’agit d’un acte politique qui concerne l’humanité dans son ensemble et la mémoire universelle, portée par des citoyens français d’origine arménienne.«159
Anhand dieser Beispiele wird deutlich, dass die Forderungen, die sich vordergründig an die »Heimatstaaten« richten, nur teilweise deren Politik zum eigentlichen Ziel haben. Ebenso dienen sie als Mittel, um die türkische Politik zur Bewegung zu animieren und gleichzeitig, um deren Geschichte und gegenwärtige Position zu verurteilen. Schließlich zielen sie auf die Schaffung eines transnationalen Erinnerungsortes; ein Menschheitsverbrechen, das seinen Platz im Gedächtnis der ganzen Menschheit hat. In den im Rahmen dieser Studie geführten Interviews wurden alle diese Faktoren angeführt, ohne dass einer klar dominant gewesen wäre. Dies legt die Ver-mutung nahe, dass die Motivationen und Zielrichtungen für ihre Initiativen auch von den Armeniern selbst vielfältig gesehen werden und unterschiedliche, teils individuelle Schwerpunkte gesetzt werden. So beurteilt der ehemalige Sprecher einer großen armenischen Jugendorganisation in Frankreich die ›Loi Boyer‹ als »affaire francofrançaise« 160 und rein interne Angelegenheit, während Devedjian anlässlich einer Demonstration verlauten ließ, tatsächlich sei die Türkei Adressat dieses Gesetzes.161
156 Vgl. die entsprechende hoffnungsfrohe Äußerung von Dominique Souchet in: JO2011, S. 9121: »Le vote de notre proposition de loi peut donc constituer un signal important pour tous ceux qui, au sein de la société civile turque, tentent courageusement de secouer le joug du négationnisme d’État [...].« 157 Vgl. Boyer in: JO-2011, S. 9111. 158 Vgl. Gaillard (2001), S. 24. 159 Govciyan (2003), S. 178 (Hervorhebungen d. A.). 160 Interview 24 vom 07.03.2013. 161 Grosser, Alfred: Contre les lois mémorielles, in: La Croix vom 04.01.12.
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Für die Politik ergibt sich durch die multiplen Zielrichtungen die Problematik, dass selbst bei einem vordergründigen Erfolg, also der Erfüllung einer der Forderungen, dieser rasch als Pyrrhussieg erscheint und neue Maßnahmen konzipiert werden. Der Grund hierfür ist darin zu vermuten, dass die hoch symbolischen Forderungen bei ihrer Erfüllung zunächst den Eindruck vermitteln, ein wesentliches Ziel erreicht zu haben. Sukzessive wird dann jedoch bewusst, dass die symbolträchtige Maßnahme nicht in alle erhofften Richtungen wirkt, zumindest nicht in dem Umfang, dass sie die Problemursache beseitigen würde. Zugleich stellt der Erfolg die Akteure vor die Herausforderung, den Wegfall eines Mobilisierungsinstruments so schnell kompensieren zu müssen, dass das Erfolgsmoment nicht verloren geht. Besonders deutlich wurde dies auf der französischen Seite nach der Anerkennung des Genozids durch die Nationalversammlung am 18. Januar 2001. Was einerseits als großer Erfolg und Ergebnis jahrelanger Bemühungen der armenischen Organisationen zu gelten hat, warf gleichzeitig die Frage nach dem weiteren Vorgehen auf.162 So finden sich die armenischen Organisationen dies- und jenseits des Rheins in dem Paradoxon wieder, dass sie einerseits ihre Forderungen erfüllt sehen wollen, um anschließend die Fokussierung auf die Genozidthematik zurückfahren und sich anderen Aufgaben widmen zu können. Sowohl auf deutscher wie auf französischer Seite wird im Gespräch beklagt, dass das Thema ›Genozid‹ in den Gremien der jeweiligen Vereine enorme Energie, Zeit- und Geldmittel konsumiere. Damit blockiere es die intensivere Förderung anderer Bereiche wie beispielsweise des Kulturbetriebs.163 Zugleich lassen die obigen Ausführungen vermuten, dass selbst ein Erreichen der Ziele den Aufwand hinsichtlich der Genozidproblematik nicht signifikant verringern würde. Erstens wirkt er, insbesondere im Hinblick auf den 100. Jahrestag des Deportationsbeginns am 24. April 1915, innerhalb der Gruppe einend. Darüber hinaus wird das Grundbedürfnis des ›ernst genommen werden Wollens‹ zwar durch politische Bekenntnisse und Gesetze gewürdigt. Letztlich kann aber nicht allen Adressaten dieser Maßnahmen die Lösung oktroyiert werden. Sie bleibt deshalb unvollständig und ruft nach weitergehenden Mitteln.
162 Vgl. auch Wieviorka, M. (2005), S. 128: »Un exemple ici est celui des communautés arméniennes en France: durant une vigtaine d’années, elles ont été portées avant tout par l’exigence de reconnaissance du génocide de 1915 [...]. Un paradoxe est que la reconnaissance du génocide, qui a été si vitale pour ces communautés, et si mobilisatrice, une fois obtenue, risque de laisser ces mêmes communautés sans projet ni dynamisme.« Vgl. hierzu auch Marian, (2011), S. 14. 163 Interviews 6 vom 19.12.2012 sowie 22 vom 17.03.2013.
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4.2.2.4 Vergleich und Fazit Die Forderungen der armenischen – und verbündeten – Organisationen an den deutschen und den französischen Staat ähneln sich bzw. sind großenteils identisch: Verlangt wird die offizielle Anerkennung bzw. Bestätigung, dass es sich um einen Genozid gehandelt hat; darüber hinaus soll dessen Leugnung unter Strafe gestellt, das Wissen darüber im staatlichen Schulunterricht vermittelt und ein zentrales Mahnmal, neben den zahlreichen kleineren, lokalen Gedenkstätten, errichtet werden. All dies scheinen Maßnahmen zu sein, die die Beeinflussung des jeweiligen offiziellen Gedächtnisses zur Absicht zu haben scheinen. Indes zeigen die diesbezüglichen Äußerungen, der internationale Kontext und die transnationale Kongruenz der Maßnahmen, dass dabei vordergründig nicht ein bestimmtes nationales Gedächtnis im Blick ist, sondern dass ein transnational verbindlicher und universell gültiger Erinnerungsort in Opposition zu dem von der Türkei propagierten Geschichtsbild etabliert werden soll. Die jahrzehntelang rigid ablehnende Haltung der Türkei führt dazu, dass die Deutungshoheit gegen sie durchzusetzen versucht wird.164 Dieser Ansatz wird nicht von allen Mitgliedern der armenischen Gemeinschaft in dieser Form vertreten. Zwar denken auch kritische Beobachter, dass sich der türkische Staat ohne Druck von außen nicht bewegen wird.165 Ob Initiativen wie das angestrebte ›Leugnungsverbot‹ dabei zielführend sind, wird jedoch nicht einhellig beantwortet. Das Thema ›Reparationen‹ scheint den größten Raum für Interpretationen zu lassen. Von der armenischen Regierung nicht gefordert, aber auch nicht ausgeschlossen, werden in der Diaspora sehr unterschiedliche Vorstellungen, vom Erhalt des armenischen Kulturguts in der Türkei über Entschädigungszahlungen bis hin zu Grenzrevisionen geäußert. Der »gut ausgehandelte Kompromiss«166, der nach Klingenbergs Vermutung als einziger eine dauerhafte Lösung bieten könnte, erscheint vor diesem Hintergrund in weiter Ferne. Die Radikalität einzelner Forderungen wird derweil von der türkischer Seite als Vorwand genutzt, einen solchen gar nicht zu suchen.
164 Vgl. auch Marian (2011), S. 11: »[...] parce qu’enfin la plaidoirie arménienne s’adresse non à la Turquie, mais à un tribunal mondial virtuel, imaginaire des conférences de la paix de 1919, qui serait ensuite chargé de communiquer la sentence à l’État turc.« 165 Interviews 16 (27.11.2012), 14 (20.12.2012), Michel Marian (06.03.2013). 166 Interview mit Matthias Klingenberg vom 06.11.2012.
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Motivationen
4.2.3.1 ›Geschichtsauthentizität‹: »Die Armenier wollen sich nicht immer erklären müssen.« Unter den Gründen, die die Gesprächspartner in den Interviews für ihren Einsatz angeführt haben, ist zunächst der so grundlegende wie überzeugende Wunsch nach Kongruenz des durch die eigene Familie Erlebten mit dessen äußerer Darstellung zu nennen. Diese Kongruenz soll hier mit ›Geschichtsauthentizität‹ betitelt werden, also die Authentizität der Geschichtsschreibung im Hinblick auf die in der Familie und in der Gemeinschaft bezeugten Vorfälle. Hierzu fallen im Gespräch wie in Reden oft die Begriffe ›Wahrheit‹ und ›Wahrhaftigkeit‹.167 Diese Betonung des Wunsches nach ›Wahrheit‹ speist sich ohne Zweifel aus der Position der türkischen Regierung, die den Erinnerungen, die in jeder armenischen Familie auf die ein oder andere Art vorhanden sind, im eigenen Land über Jahrzehnte keinen Raum zugewiesen hat und sie heute in ein Narrativ einbettet, das von den Betroffenen als vollkommene Umdeutung empfunden wird. Diese Umdeutung stellt die Authentizität der familiären Erfahrungen und ihrer – innerlichen und äußerlichen – Folgen infrage und wird deshalb als Angriff auf die eigene Identität wahrgenommen. Um diesen abzuwehren, können die Betroffenen auf ihre Familiengeschichte oder historische und juristische Studien zurückgreifen. Indes belegt das Zitat hinsichtlich der Müdigkeit der Armenier, sich rechtfertigen zu müssen,168 den Wunsch nach verbesserten Kenntnissen und einer allgemein akzeptierten Interpretation des Geschehens. Die offizielle Feststellung des Genozids kann in diesem Kontext als Option erscheinen, den gefühlten Rechtfertigungsdruck zu mildern. Durch die Anerkennung des historischen Geschehens und die Verbreitung des Wissens um seine Realität wird die Einheit von Selbst- und Fremdwahrnehmung hergestellt, ohne dass die Betroffenen selbst dafür immer wieder Argumente vorbringen müssen. Kantians Aussage, die Armenier wollten »ernst genommen werden«169, bestätigt dies: eine Vergangenheit, die die Familie und das ganze Volk geprägt hat, soll nicht von außen als eine Art ›Phantomschmerz‹ perzipiert werden.
167 Interview 8 vom 22.02.13, vgl. auch die Rede des damaligen ZAD-Vorsitzenden zu den Gedenkfeiern in der Paulskirche (Owassapian (2009), a.a.O.). 168 Vgl. Kapitel 4.1.3.2. 169 Vgl. ebd.
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4.2.3.2 Bewältigung eines ›kulturellen Traumas‹ Dieser ›Wunsch nach Wahrheit‹ im Geschichtsbild wird verstärkt durch einige psychologische Besonderheiten in der kollektiven Identität der Armenier. Hier ist zunächst die Bedrohungswahrnehmung zu nennen.170 Lenoir-Achdijan nennt dieses Verhalten mit Hovanessian eine »psychologie du survivant«171. Die Bedrohungswahrnehmung betrifft einerseits den armenischen Staat, dessen Existenz gesichert werden muss.172 Andererseits trifft es auch auf die Mitglieder der Diaspora zu, die zum Teil Türken und türkischem Einfluss in ihren heutigen Heimatländern noch immer mit Angstgefühlen begegnen. So berichtet ein Journalist im Interview, er sei verblüfft gewesen, zu erfahren, dass mancher junge Armenier Kreuzberg meide – weil dort so viele Türken wohnen.173 Eine weitere Gesprächspartnerin bestätigt dies am Beispiel der EU-Beitrittsperspektive der Türkei: diese werde von vielen in Europa lebenden Armeniern als Schreckensszenario wahrgenommen, die sich dadurch auch in ihrer neuen Heimat von den Türken verfolgt fühlten. Sie entdeckt in dieser Denkweise einen problematischen »Determinismus«, in dem die Armenier sich weiterhin als Opfer und die Türken als Täter betrachten.174 Durch die Wortwahl armenischer Repräsentanten wird dies untermauert: so beharren offizielle Verlautbarungen auf der ›TäterOpfer-Trennung‹175; Formulierungen wie die des ZAD-Vorsitzenden Ordukhanyan, der von den »heutigen Sultane[n] und Wesire[n] Ankaras«176 spricht, sug-
170 Vgl. das von S. Pattie konstatierte »root paradigm of an endangered people«, zit. in Kap. 4.1.2.2; ebenso Ritter (2007), S. 209. 171 Lenoir-Achdijan (2006), S. 211. 172 Vgl. Kap. 4.1.2.3. 173 Interview 16 vom 27.11.2012. 174 Interview 9 vom 26.02.2013. In dieser Einschätzung geht die Befragte mit dem ermordeten Hrant Dink konform: »L’insécurité qu’éprouve, à l’heure qu’il est, le monde arménien face à la Turquie reste déterminante.« (Dink (2009), S. 61). 175 Ordukhanyan, Azat / Zentralrat der Armenier in Deutschland: Persönliche Erinnerungen an die Vergangenheit in Armenien und in der Türkei. Stellungnahme des Zentralrats zum Ausstellungsprojekt »Speaking to One Another« unter http:// www.hay-society.de/haysociety/gemeindeleben/266-deutschland-ist-kein-ehrlichermakler, Stand: 12.08.2013; aufgeschlossener präsentiert sich der Beitrag von Raffi Kantian zum selben Thema in der Armenisch-Deutschen Korrespondenz: Miteinander reden. »Wenn sie bloß nicht weggegangen wären«/ »Wem soll man verzeihen? Was soll man verzeihen« in: ADK (2011-3)153, S. 51-52. 176 Ordukhanyan, Azat: Eröffnungsrede zur Gedenkfeier zum Völkermord an den Armeniern Ostersonntag, 24. April 2011, Frankfurter Paulskirche unter http://www.
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gerieren, dass die Regierung der Türkei sich im Wesen seit 1915 nicht geändert habe. Mit der ›Täter-Opfer‹-Rhetorik korrespondiert auf französischer Seite die Opposition ›victimes-bourreaux‹.177 Zwar betont ein französischer Aktivist, der zudem gebürtiger türkischer Staatsbürger ist, dass Rache keinesfalls das Ziel sei.178 Gleichwohl beobachtet Minassian im armenischen Unterbewusstsein eine starke Tendenz, im Türkischen die Verkörperung alles Bösen sehen zu wollen und die Türkei deshalb mit möglichst kompromisslosen Forderungen zu konfrontieren: »Dans celui [l’inconscient, d. A.] des Arméniens, l’exigence de pardon et de réparation de la part de l’interlocuteur turc fait perdre du terrain à la raison jusqu’à le percevoir comme le symbole de l’anti-civilisation. Ne rien voir d’autre que la repentance du Turc signifie ne pas le voir et le définir non comme un interlocuteur fréquentable mais comme le seul responsable de ses maux pour lesquels il doit payer le prix fort.«179
Libaridian macht hingegen darauf aufmerksam, dass die Bedrohungswahrnehmung nicht allein durch den Genozid bedingt sei; sie liege auch darin begründet, dass die Armenier über weite Strecken der Geschichte keinen eigenen Staat be-
arm.de/wp-content/uploads/2008/04/Paulskirche-2011-Er%C3%B6ffnungsrede-Ord ukhanyan.pdf, Stand: 12.08.2013. 177 Vgl. für die Opposition Armenier – Türken z. B. Bret in: Compte rendu intégral 1998, S. 5. »Bourreaux« und »victimes« findet in Genozidfällen allgemein Anwendung in Frankreich; für Kambodscha vgl. z. B. Raspiengeaus, Jean-Claude: La mémoire du survivant et les mots du bourreau, in: La Croix vom 16.01.2012 unter http://www.la-croix.com/Culture/Actualite/La-memoire-du-survivant-et-les-mots-du -bourreau-_EP_-2012-01-16-758375 (Stand: 12.08.2013); allgemeine Betrachtungen zu den Tätern, den »bourreaux:« Mesnard, Philippe: la représentation des bourreaux, in: Vacarme 02, printemps 1997 unter http://www.vacarme.org/article958.html, (Stand: 12.08.2013); sowohl Chetail als auch Benbassa kritisieren diese im Genozidsbegriff angelegte »dialectique toute manichéenne« (Chetail, Vincent: Génocide: le mot et la chose, in: Bertrand Badie und Sandrine Tolotti: L’état du monde 2009. 50 idées-forces pour comprendre l’actualité mondiale, Montréal: Éditions de la Découverte / Éditions du Boréal 2008, S. 61-66, hier S. 61; vgl. auch Benbassa (2010), S. XIV). 178 Interview 22 vom 17.03.13. 179 Minassian (2006), S. 106, vgl. dazu auch Akçam (2001), S. 23.
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sessen und immer als Minderheit existiert hätten. 180 Gleichwohl – und nachvollziehbarerweise – scheint dieses ohnehin vorhandene Gefühl im Genozid zu kumulieren. So ist dieser emblematisch für den Eindruck der Armenier, schutzlos zu sein und keinen angemessenen Platz in der Geschichtsschreibung zu belegen.181 Zugleich finden diese Angst und Frustration in der Türkei ihr Gegenüber, das für diesen Umstand verantwortlich gemacht wird. Neben diesen beiden Faktoren – der Selbstwahrnehmung als bedrohtem Volk und der fortwährenden Betrachtung alles Türkischen als Bedrohungsursache – scheint ein weiterer Aspekt handlungsleitend zu sein: das Gefühl einer Verpflichtung gegenüber den Vorfahren, die von den traumatischen Ereignissen selbst betroffen waren – das Gefühl, »etwas tun zu müssen«182. Ein Interviewpartner betont, sich seiner verstorbenen Großmutter, selbst Überlebende des Genozids, gegenüber in der Pflicht zu sehen: »Am Ende meines Lebens möchte ich sagen können: ›Oma, ich habe alles getan, was ich konnte.‹«183 Der Eindruck, eine Schuldigkeit erfüllen zu müssen, wird offenbar von je mehr Nachkommen von Genozid-Opfern geteilt, je weniger tatsächlich Betroffene noch am Leben sind und für sich selbst sprechen können. So stellt Chaliand fest: »Au moment où je prends ma mesure du temps que j’ai traversé et où tout le monde est mort, il est temps de se souvenir de cette histoire et de rendre aux ancêtres ce qui leur est dû [...].«184 Dies erklärt, warum gar solche Mitglieder der communauté arménienne, die ihre Abstammung lange nicht betont oder als Ankerpunkt für politische Standpunkte betrachtet haben, sich mit fortschreitendem Lebensalter der Problematik zuwenden und Position beziehen. Exemplarisch ist in diesem Kontext die Figur des Chansonniers Charles Aznavour, der seine arménité 1980 noch als »Folklore«185 bezeichnete. 2002 identifizierte er sich ausreichend mit seiner Herkunft, um in dem Film »Ararat« mit großer Ernsthaftigkeit den Charakter eines armenischen Regisseurs zu mimen.186 Bereits zuvor hatte er begonnen, Petitionen und Aufrufe für die Anerkennung des Armeniergenozids durch die fran-
180 Vgl. Libaridian, Gerard J.: Entwicklung und Struktur der armenischen Diaspora, in: Mihran Dabag und Kristin Platt [Hrsg.]: Identität in der Fremde, Bochum: Universitätsverlag Dr. N. Brockmeyer 1993, S. 160-170, hier S. 163. 181 Vgl. ebd. 182 Interview 8 vom 22.02.2013. 183 Interview 7 vom 28.11.2012. 184 Chaliand, Gérard: Mémoire de ma mémoire, Paris: Éditions Julliard 2003, S. 25. 185 ›L’Arménie c’est notre folklore‹ déclare Charles Aznavour, in: Le Monde vom 21.11.1980. 186 Ararat, Regie: Atom Egoyan, Kanada / Frankreich 2002.
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zösische Republik zu unterstützen.187 Heute ist Aznavour Botschafter der Republik Armenien in der Schweiz und tritt immer wieder als Sprecher auf, wenn armenische Organisationen in Frankreich auf ihre Forderungen aufmerksam machen.188 Hettlage erklärt dieses Schuldigkeitsgefühl mit der Diasporasituation: »Man glaubt es seiner verlorenen Heimat [...] schuldig zu sein, deren Kultur lebendig zu erhalten, nicht zu erlahmen und vor allem keine lauen Kompromisse einzugehen.« 189 Bei den Armeniern trifft dieser Versuch des Kulturerhalts auf die Verarbeitung eines historischen, in vielen Familien aber auch persönlich erlebten Traumas. Makarian führt deshalb das in der dritten und vierten Nachfolgegeneration der Opfer deutlich gestiegene Engagement für die ›armenische Sache‹ auf »mécanismes liés à la transmutation du contexte post-traumatique«190 zurück. Allerdings erklärt er nicht, worin diese Mechanismen bestehen sollen. Um dies zu verstehen, ist die Erklärung Jeffrey Alexanders hilfreich, welche Wirkung die Gewalterfahrung der Vorfahren auf die Selbstwarnehmung der Gruppe hat: »Trauma is not the result of a group experiencing pain. It is the result of this acute discomfort entering into the core of the collectivity‹s sense of its own identity.« 191 Diese Definition korrespondiert mit der bereits festgestellten Bedrohungswahrnehmung innerhalb der armenischen Gemeinschaft. Eyerman legt am Beispiel der schwarzen Bevölkerung in den USA – und ihrem Blick auf die Sklaverei – dar, dass ein solches, eine Gruppe betreffendes kulturelles Trauma
187 So gehörte er zu den Unterzeichnern des Aufrufs »Pour la vérité sur le génocide arménien« in: Le Monde vom 10.06.1987; zusammen mit Nouvelles d’Arménie Magazine lancierte seine Stiftung Aznavour pour l’Arménie in Le Figaro vom 29.05.1998 den Aufruf »Reconnaissance du génocide arménien: le Jour J«. 188 So z. B. am 12.03.2011 bei einer Demonstration für ein Anti-Negationismus-Gesetz vor dem französischen Senat; seine kurze Rede ist auf youtube abrufbar unter http:// www.youtube.com/watch?v=yS-KU9ojHeA, Stand: 12.08.2013. 189 Hettlage, Robert: Diaspora: Umrisse zu einer soziologischen Theorie, in: Mihran Dabag und Kristin Platt [Hrsg.]: Identität in der Fremde, Bochum: Universitätsverlag Dr. N. Brockmeyer 1993, S. 75-105, hier S. 98. 190 Makarian, Christian: Arménie / Turquie: le facteur émotionnel, in: Marian, Michel und Christian Makarian: Les Arméniens de France
et la Turquie: La possibilité d’un dialogue?, Note franco-turque N°5, Institut français des relations internationales [Programme Turquie contemporaine], Janvier 2011, S. 16-20, hier S. 17. 191 Alexander, Jeffrey C.: Toward a theory of cultural trauma, in: ders. et al.: Cultural trauma and collective identity, Berkeley / London: University of California Press 2004, S. 1 – 30, hier S. 10.
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nicht unmittelbar aus den historischen Vorkommnissen folgt. Vielmehr geht ihm ein Verarbeitungsprozess voraus, der die einzelnen – selbst, im eigenen Umfeld oder durch andere Mitglieder der Gruppe – erlebten Ereignisse in ein verbindliches Bedeutungsnarrativ einbettet: »If slavery was traumatic for this generation of intellectuals, it was so in retrospect, mediated through recollection and reflection [...]. While it may be necessary to establish some event as the significant ›cause‹, its traumatic meaning must be established and accepted, a process which requires time, as well as mediation and representation.«192
Dadurch vermischen sich im kulturellen Trauma zwei Kategorien, wie Fassin und Rechtman feststellen: die psychologische des individuellen Traumas und die moralische des retrospektiven Urteils über das Ereignis.193 Vor diesem Hintergrund ist Aleida Assmanns Beobachtung, dass der »Holocaust [...] mit zeitlicher Distanz nicht farbloser und blasser geworden, sondern paradoxerweise näher gerückt und vitaler geworden«194 ist, nicht so »paradox«195, wie Assmann meint. Im Gegenteil scheint die starke Mediatisierung, verbunden mit der enormen moralischen Bedeutung des ›Zivilisationsbruchs‹, erst die Mythisierung196 des Gegenstands ermöglicht zu haben. Im Falle des Armeniergenozids hat sich das kulturelle Trauma ebenfalls über einen langen Zeitraum etabliert und gefestigt. Die Bedrohungswahrnehmung durch einen türkischen Staat, der noch immer als Aggressor empfunden wird, versetzt die Mitglieder der armenischen Gemeinschaft in einen Zustand »kollektive[r] Ohnmacht« 197 . Das verstärkte Engagement der nachfolgenden Genera-
192 Eyerman, Ron: Cultural Trauma. Slavery and the Formation of African American Identity, Cambridge (UK): Cambridge University Press 2001, S. 2. 193 Vgl. Fassin, Didier und Richard Rechtman: The Empire of Trauma. An inquiry into the condition of victimhood, Princeton / Oxford: Princeton University Press 2009, S. 284. 194 Assmann, Aleida: Erinnerungsräume. Formen und Wandlungen des kulturellen Gedächtnisses, München: C. H. Beck 1999, S. 14. 195 Ebd. 196 Vgl. Leggewie, nach dem der Holocaust »negativer Gründungsmythos Europas« ist (Leggewie (2011), S. 15 (zur Definition des Mythos J. Assmann, zit. in Kap. 2.1.1, zu seiner Funktion insb. Bizeul, Yves: Theorien der politischen Mythen und Rituale, in: ders. [Hrsg.]: Politische Mythen und Rituale in Deutschland, Frankreich und Polen, Berlin: Duncker & Humblot 2000, S. 15-39). 197 Interview 8 vom 22.02.2013.
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tionen kann in diesem Sinne auch als Möglichkeit betrachtet werden, aus dieser innerfamiliär und kulturell erlebten Ohnmacht herauszutreten und so vom Objekt der Geschichte zu deren Akteur zu werden.198 4.2.3.3 Die Genozidfrage als Mobilisierungsinstrument Nach Hettlage ist Diasporagemeinschaften ein tief verwurzeltes »Distinktionsbedürfnis«199 eigen. Gerade solche Mitglieder der Gemeinschaften, die am stärksten assimiliert sind, 200 versuchen nach seiner Beobachtung deshalb, Prozesse anzustoßen, die einer vollständigen »Identitätsdiffusion«201 entgegenwirken sollen. Dabag und Platt erläutern, dass in der armenischen – wie in der jüdischen – Kultur der Rekurs auf die Geschichte dabei essentiell ist: ›Vergessen‹ käme einem Identitätsverlust gleich.202 Dass Identitätsbewahrung demgegenüber einen permanenten Konstruktionsprozess bedeutet, betont Ter Minassian: »Groupe minoritaire en France, au Liban, aux Etats-Unis, les Arméniens ne cessent de ›se produire‹ en réemployant, à d’autres fins et pour des usages nouveaux, les moyens dont ils disposent.«203 Die Genozidfrage und der Einsatz dafür können aufgrund ihrer Zentralität für die armenische Identität in der Diaspora204 in diesem Sinne auch als Mittel der Identitätswahrung gedeutet werden. Ter Minassian unterstreicht, dass die Mobilisierungswirkung der Genozidfrage sich über den Kampf um Anerkennung hinaus auf die Gruppe auswirkt: »La sélection dans le passé de cet événement fondateur de la diaspora, dont chaque famille a une mémoire particulière, rend désormais possibles les projets communs.«205 Solche ›Projekte‹ müssen indes nicht ausschließlich auf den Erhalt der Gemeinschaft nach innen abzielen. Die gewonnene Geschlossenheit und
198 Hinzu kommt, wie Dabag und Platt bemerken, dass die Erlebnisgeneration nicht über die Mittel und das Umfeld verfügte, sich der Fragestellung zu widmen. Aus praktischer Sicht haben die gute Integration und der wirtschaftliche Erfolg der Nachfolgegenerationen das Engagement erst möglich gemacht. (vgl. Dabag, Mihran und Kristin Platt: Diaspora und das Kollektive Gedächtnis, in: dies. [Hrsg.]: Identität in der Fremde, Bochum: Universitätsverlag Dr. N. Brockmeyer 1993, S. 117-144, hier S. 140 f.). 199 Hettlage (1993), S. 82. 200 Vgl. ebd. (1993), S. 86. 201 Ebd. (1993), S. 100. 202 Vgl. Dabag und Platt (1993), S. 130. 203 Ter Minassian (1988), S. 228. 204 Vgl. Dabag und Platt (1993), S. 132. 205 Ter Minassian (1988), S. 232.
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Vernetzung im politischen Betrieb stärken den Einfluss der Gemeinschaft auch in anderen Fragen. Zudem versprechen sie, diesen dauerhaft zu sichern: das Engagement in der Genozidfrage ist für ihre Mitglieder oft der erste Zugang zur Politik und Grund, sich parteilich zu engagieren.206 Bei erfolgreichem Parcours kann dies langfristig Kontakte und Bindungen in die höchsten Zirkel der Macht schaffen. So gilt Mourad Papazian, Chef der französischen und europäischen Daschnak-Partei, als enger und langjähriger Vertrauter François Hollandes. 207 Dieser Mobilisierungseffekt werde, so ein Repräsentant armenischer Organisationen, nicht bewusst forciert.208 Vielmehr sei die Empörung über die türkische Leugnungspolitik unter armenischstämmigen Jugendlichen ohnehin so groß, dass diese sich gern engagierten. Dass dies nicht von langfristigem Kalkül hinsichtlich einer politischen Karriere getragen sein muss, steht jedoch nicht dem Schluss entgegen, dass die Gemeinschaft im Ganzen von dem Engagement und der aus ihm folgenden Vernetzung profitiert. Schließlich wird die Erinnerung an den Völkermord in einem ganz konkreten Kontext evoziert: als Argument im Berg-Karabach-Konflikt. Wie Ambrosio ausführt, appellierten die armenischen Organisationen in den USA beim Versuch der Annexion Berg-Karabachs durch Armenien erfolgreich an die GenozidErinnerung, um eine Verurteilung des Einmarschs durch die Vereinigten Staaten zu verhindern.209 Bis heute wird diese Verbindung hergestellt, wenn von der Sicherheit der armenischen Minderheit in Azerbaidjan die Rede ist; insbesondere auch von Vertretern der Republik Armenien, 210 die sich hier den Diskurs der Diaspora zu eigen machen, um ihr Hauptziel zu verteidigen.211 4.2.3.4 Fazit Die Funktionen, die die Genozidfrage für die Armenier hat, sind hier anhand der Kategorien »Geschichtsauthentizität«, »Bewältigung eines kollektiven Traumas« und »Mobilisierungsinstrument« dargestellt worden. Auffällig ist dabei die Ver-
206 Vgl. (o. A..): Jules Boyadjian: dans la roue de Hollande, in: Extension S – Le magazine de l’Institut d’Etudes Politiques de Bordeaux, N° 31 (Januar 2012), S. 14-15. 207 Vgl. neben dem bereits zitierten Beitrag von Wieder (2012, a.a.O.) auch: Ariane Bonzon: Les têtes turques de Hollande vom 23.06.2012, unter http://www.slate.fr/ story/58263/hollande-turquie, Stand: 11.02.2014. 208 Interview 22 vom 17.03.2013. 209 Ambrosio, Thomas: Irredentism. Ethnic conflict and International Politics, Westport (CT): Praeger Publishers 2001, hier S. 153-155. 210 Vgl. Oskanjan (2005), a.a.O. 211 Vgl. Ritter (2007), S. 253.
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mischung von bewussten und unbewussten Ebenen. Während der Wunsch nach einer ›wahren‹ Geschichtsschreibung offensichtlich erscheint und auch entsprechend oft genannt wird, ist der traumatische Aspekt wesentlich vielschichtiger. So ist das Gefühl von Schuldigkeit und Handlungsnot noch auf individueller Ebene präsent. Die Übertragung der Bedrohungswahrnehmung jedoch und die Vorbehalte gegenüber der türkischen Kultur werden eher von außen observiert, während die Betroffenen selbst nicht von Angst sprechen, sondern ein Bild zeichnen, dass die von ihnen gezeichnete Gefahrensituation plausibilisiert. Sicher kann diese in Anbetracht der bereits angeführten Äußerungen des türkischen Ministerpräsidenten Erdoğan sowie nationalistischer Demonstrationen in der Türkei im Jahr 2012212 nicht als pathologische Empfindung bezeichnet werden. Allerdings ist die Armenierfrage für viele Türken »nicht so wirklich ein Thema«213, während sie auf armenischer Seite ungleich dominierender ist. Hier soll noch einmal auf den Begriff der »kollektiven Ohnmacht« zurückgekommen werden. Diese gründet im Völkermordereignis, in dem die Armenier als Gruppe der ›Tätereinheit‹ der Türken schutzlos ausgeliefert waren. Die heutige Rhetorik verdeutlicht das Fortbestehen dieser Auffassung bei Teilen der Armenier. Wie bereits angesprochen, ist die Aktion vor diesem Hintergrund auch ein Mittel, nicht in der ›Ohnmachtsstarre‹ zu verharren. Interessant ist an dieser Deutung, dass dabei nicht ein ›produktives Ziel‹, wie zum Beispiel die Verbesserung der türkisch-armenischen Beziehungen oder die Öffnung der türkischen Zivilgesellschaft, verfolgt werden muss. In erster Linie geht es um ein SichWehren, um den »Determinismus«214 der Geschichte zu überwinden. Wie Kühner zum Phänomen des kollektiven Traumas schreibt, wirken »Plädoyers für Amnestie und Vergessen oder fehlendes Engagement für Bestrafung [...] auf die Opfer wie eine stille Zustimmung zu dem, was geschah.«215 Auch danach können die Initiativen der Armenier zunächst als Maßnahmen der Thematisierung betrachtet werden, die ein öffentliches Schweigen brechen und eine Positionie-
212 Vgl. Strittmatter, Kai: Furcht der Kindertage. Türkische Nationalisten hetzen wieder gegen Armenier, in: Süddeutsche Zeitung vom 02.03.2012. 213 Interview mit Matthias Klingenberg vom 06.11.2012; ähnlich die Aussage Nazaretyans, der für das STOA-Projekt festhält, es sei bei seiner Präsentation in Deutschland – trotz der bewussten Wahl des Ausstellungsortes Neukölln – von Türken wenig besucht worden (Interview mit Nazaret Nazaretyan vom 30.10.2012). 214 Vgl. Kap. 4.2.3.2. 215 Kühner (2008), S. 72 f.
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rung erzwingen sollen. 216 Dieser Erklärungsansatz bietet sich auch an, um die zuvor thematisierte Unklarheit der Adressaten und gar die Heterogenität der Forderungen zu erhellen: Wo das Ziel darin besteht, sich aus der gedachten Dominanz des Gegenübers zu befreien, kommt symbolischen Siegen eine besondere Bedeutung zu. Indes verstärken diese – zumindest zunächst – die Opposition zwischen den streitenden Parteien, so dass die Problematik danach keineswegs verringert scheint.217 Die funktionale Seite der ›Armenierfrage‹ für die armenische Gemeinschaft als Ganzes – das Engagement junger Menschen und die politische Vernetzung – taucht im Gespräch gar nicht auf und scheint bewusst kaum eine Rolle zu spielen. Im Gegenteil, die Problematik wird als Frage von Wahrheit und Gerechtigkeit wahrgenommen und gerade deshalb scheint so große motivatorische Wirkung zu entfalten. 4.2.4
Argumente
4.2.4.1 Universelle Argumente Die universellen, also länderübergreifenden Argumente, die nicht spezifisch auf die Situation in einem Land zugeschnitten sind, lassen sich nach Kategorien gruppieren. Die erste Kategorie von Argumenten sind dabei die Wertappelle. Bei den Wertappellen wird argumentiert, dass die Forderungen der Armenier aus Respekt vor einem universell gültigen Wert an sich erfüllt werden müssen. Am häufigsten wird hier die »Wahrheit« genannt beziehungsweise die »Wahrhaftigkeit«.218 Auch an »Gerechtigkeit«219 wird appelliert. Die Wiederherstellung
216 Dieser Auffassung entspricht, dass das armenische Schicksal in der Öffentlichkeit als Objekt eines »Schweigekartell[s]« (Jochen Mangelsen: Rede zur Gedenkefeier am 24. April 2011 in Bremen; ebenso Giordano, Ralph: Aghet. Ansprache bei der Zentralen Gedenkfeier zum Völkermord an den Armeniern am 24. April 2010 in der Frankfurter Paulskirche unter http://www.zentralrat.org/files/Paulskirche-2010-Ged enkrede-Ralf%20Giordano.pdf, Stand: 26.02.2014) empfunden wird. 217 Vgl. auch Akçam (2001), S. 23: »In extending this argument, it is maintained that even at the risk of increasing the tensions in Turkish-Armenian relations, it is worth trying to get Turkey to recognize the genocide by inducing foreign parliaments to exert pressure on Turkey.« 218 Interview 8 vom 22.02.2013; Interview 6 vom 19.12.2012; Interview mit Rolf Hosfeld vom 30.11.2012; Giordano (der pathetisierend von der »Majestät der Wahrheit«
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der »Opferehre«220 gehört ebenso zu den wertbasierten Zielen. Allen drei Zielen dient die Thematisierung des Genozids. So will Giordano die Opfer ehren, »indem wir das Schweigen brechen«221. Neben den drei konkreten Zielen Wahrheit, Gerechtigkeit und Ehre wird auch an die »europäischen Werte« 222 appelliert. Gemeint ist eine Haltung, die den Schutz der Menschenrechte im Zweifelsfall über den Verweis auf staatliche Souveränität und diplomatische Interessen stellt. Hofbauer leitet diese Haltung aus der Argumentation Habermas’ und Lévys ab: »Sie betrieben die Ablösung des ›legalistischen Institutionalismus‹ durch einen ›werteorientierten Universalismus‹, dessen Subjekt der ›Weltbürger‹ zu sein habe, was immer damit auch gemeint sein möge. Der Begriff ›Menschenrecht‹ nahm darin eine zentrale Stellung ein [...].«223
Gleichzeitig verweist der Begriff des ›werteorientierten Universalismus‹ auf eine die rein europäische Dimension übersteigende Ebene. In diesem Sinne mag der Appell an die ›europäischen Werte‹ ein Mittel sein, das Verhalten der Türkei als ›uneuropäisch‹ zu stigmatisieren. Häufiger jedoch als die Einordnung in einen europäischen Wertekanon findet sich die
spricht, vgl. Giordano, Ralph: Paulskirchen-Ansprache vom 24.04.2010 sowie ders.: Von der Majestät der Wahrheit; Frankreichs Entscheidung zum Völkermordgesetz ist ein Fehlurteil, in: Jüdische Allgemeine vom 08.03.2012); Owassapian (2009), a.a.O. 219 Vgl. z. B. Einladung der armenischen Gemeinde zu Berlin zum Gedenktag für die Opfer des Genozids an den Armeniern 2011, unter http://armenische-gemeinde-zuberlin.de/Flyer2011.pdf, Stand: 15.08.2013. 220 Siehe folgende Fußnote. 221 Giordano (2010), a.a.O. 222 Martirosyan, Armen: Grußwort von Armen Martirosyan, Botschafter der Republik Armenien in der Bundesrepublik bei der Gedenkfeier zum Völkermord an den Armeniern am 24.04.2011 in der Frankfurter Paulskirche, als pdf unter http://www.arm.de/wp-content/uploads/2008/04/Paulskirche-2011-Grusswort-BotschafterMartirosyan.pdf, Stand: 04.03.2014 (hier insb. S. 3). 223 Hofbauer, Hannes: Verordnete Wahrheit, bestrafte Gesinnung. Rechtsprechung als politisches Instrument, Wien: Promedia 2011, hier S. 40). Vergleiche zum ›werteorientierten Universalismus’ auch Giordanos Formel von der »internationale[n] Humanitas« (Giordano 2010, a.a.O.), die dasselbe Phänomen anruft.
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Universalisierung des Genozids. Dabei wird dieser als »Menschheitsverbrechen« bezeichnet und damit aus seinem besonderen kulturellen Umfeld und Kontext herausgehoben. Als »Menschheitsverbrechen« 224 stellt er eine besonders grobe und emblematische Verletzung der Menschenrechte dar, die an dieser Stelle ebenfalls betont werden. Oft werden sie in Opposition zum ›Kommerz‹ gestellt, das heißt, eine Nichtthematisierung des Armeniergenozids als Ausdruck eines rein materialistischen Interesses in den Außenbeziehungen gewertet.225 Dem wird eine humanistische Einstellung gegenübergestellt, die aufgrund ihrer menschenrechtlichen Ausrichtung die Forderungen der Armenier priorisiert. Im Zuge der Universalisierung als ›Menschheitsverbrechen‹ kann die Referenz an die Shoah nicht ausbleiben.226 Diese wird auf verschiedene Arten hergestellt. So werden die Namen der Wüstenlager der Armenier mit denen deutscher Konzentrationslager in Verbindung gebracht. 227 Andererseits erinnerte die französisch-armenische Zeitschrift Nouvelles d’Arménie Magazine an den 60. Jahrestag der Befreiung von
224 Vgl. Owassapian (2009), a.a.O.; Presseerklärung des ZAD zum 24. April 2013, a.a.O.; Einladung zur Gedenkfeier am 24. April 2013 in Leer, unter http://www.agaonline.org/event/attachments/einladung-bremen-27042013-1.pdf, Stand: 22.04.13; Offener Brief des ZAD an die Bundeskanzlerin vom 25.02.12, unter http://www. zentralrat.org/de/node/10874, Stand: 22.02.13. 225 Entsprechend häufig beklagen die Armenier, sie würden von der Politik lediglich als »Störenfriede« in den internationalen Beziehungen wahrgenommen, vgl. Einladung der armenischen Gemeinde zu Berlin zum Gedenktag für die Opfer des Genozids an den Armeniern 2012 unter http://armenische-gemeinde-zu-berlin.de/24april2012. pdf, Stand: 15.08.2012; auch Jeismann spricht vom »politisch störenden Massenmord« (Jeismann, Michael: Mihran Dabag. Der Beharrliche, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 01.02.2005). Devedjian nennt das ökonomische Argument unter anderen, stellt dies jedoch als besonders verwerflich heraus: »Je ne m’abaisserai pas à qualifier ceux qui pensent qu’il faut ignorer les crimes pour continuer à vendre des armes ou même des usines.« in: JO-2001, S. 554. 226 Vgl. Lefebrve und Trigano (2006), S. 13: »C’est donc autour, ou aux alentours, de la Shoah conçue comme référent que se structurent bien des revendications mémorielles.« 227 Vgl. dazu Deir ez Zor is Auschwitz of Armenians: RA President; Ansprache des armenischen Präsidenten Serge Sargsyan in Syrien, unter http://news.am/eng.news/ 17450.html vom 24.03.2010, Stand: 12.02.2014 sowie Jean Eckian: Deir es Zor, un modèle pour Auschwitz?, in: NAM online vom 15.12.2011 unter http://www. armenews.com/article.php3?id_article=75244, Stand: 12.02.2014.
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Auschwitz, indem sie als Titelbild einen Judenstern druckte mit der Schlagzeile »Ils sont tombés«.228 Ils sont tombés ist ein Chanson von Aznavour, das vom Schicksal der beim Genozid getöteten Armenier handelt. Darüber hinaus wird der Armeniergenozid besonders häufig als Vorläufer des Holocaust dargestellt. Die Bezeichnung als »erster Genozid des 20. Jahrhunderts« streicht diese Rolle heraus.229 Besonders häufig wird auf das Hitler zugeschriebene Zitat verwiesen, »Wer erinnert sich heute noch an die Armenier?«.230 Somit wird der scheinbare ›Erfolg‹ des jungtürkischen Regimes bei der Vernichtung der armenischen Bevölkerung und insbesondere dessen unzureichende Thematisierung in der Weltöffentlichkeit zum Argument, das die Shoah erst möglich gemacht hat. Vertreter armenischer Organisationen betonen deshalb oft, dass sie sich dem jüdischen Volk verwandt fühlen, da sie das gleiche Schicksal
228 Vgl. Titelseite der NAM N°105 vom Februar 2005. 229 Mangelsen spricht vom »Holocaust vor dem Holocaust« (Gedenkrede Bremen 2011); Martirosyan stellt fest: »Der armenische Völkermord wurde zum Präzedenzfall für ethnische Säuberungen und geplante Massaker der Völker im 20. Jahrhundert.« (Martirosyan Frankfurt 2011). 230 Hitler soll dies wenige Tage vor Kriegsbeginn auf dem Obersalzberg zu Offizieren gesagt haben, um eventuelle Bedenken hinsichtlich des Einmarschs in Polen und der Vernichtung des polnischen Volkes zu zerstreuen (vgl. Klaus Wiegrefe: Todesmärsche nach Aleppo in: Der Spiegel 16/1005 unter http://www.spiegel.de/spiegel/ print/d-40077677.html, Stand: 22.04.13 sowie Goltz, Hermann: Praktische Kritik der Unmenschlichkeit unter http://www.kulturstiftung-des-bundes.de/cms/de/mediathek /magazin/magazin13/praktische_kritik_der_unmenschlichkeit/,
Stand:
22.04.13).
Ohne den expliziten Bezug zu Polen herauszustellen (was in diesem Kontext selten geschieht), suggeriert das Zitat allerdings, er habe sich damit auf die Vernichtung der Juden bezogen, so dass eine direkte Linie zwischen den Genoziden entsteht (vgl. z. B. Jungk zieht Parallelen zwischen Genozid an den Armeniern und Holocaust, in: Der Standard vom 11.09.11 unter http://derstandard.at/1315006045240/Literatur festival-Berlin-Jungk-zieht-Parallelen-zwischen-Genozid-an-Armeniern-und-Holoca ust, Stand: 22.04.13). Vgl. auch Assemblée Nationale – XIe Législature: Rapport n° 925.- Rapport fait au nom de la commission des affaires étrangères sur la proposition de loi de M. Didier Migaud et plusieurs de ses collègues (n° 895), relative à la reconnaissance du génocide arménien de 1915, Rapporteur: René Rouquet; Mise en distribution: 28. Mai 1998, http://www.assemblee-nationale.fr/11/pdf/rapports/ r0925.pdf, Stand: 25.07.2013 (im Folgenden zitiert als: Rapport Rouquet), hier S. 5.
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teilten.231 Besonders augenfällig wird diese Parallele in der Formulierung »der Holocaust vor dem Holocaust«232 als Bezeichnung des Armeniergenozids. Im extremen Fall werden nicht nur die Ähnlichkeiten zwischen dem armenischen und dem jüdischen Schicksal betont, sondern es wird auch eine Gleichsetzung zwischen den Jungtürken und Nationalsozialisten angestrebt.233 Um die fortdauernde Handlungsnotwendigkeit hinsichtlich eines Ereignisses darzulegen, welches als historischer Vorgang abgeschlossen ist, bedarf es der Herstellung eines unmittelbaren Bezugs zur Gegenwart. Deshalb enthält der Diskurs armenischer Verbände neben der Universalisierung auch die Komponente der Aktualisierung. Das Hauptargument, auf das dabei rekurriert wird, sind Stantons acht Stufen eines Völkermordes. Danach ist die letzte Etappe eines Völkermords dessen Leugnung: die Täter beseitigen die Spuren des Verbrechens und machen gegebenenfalls die Opfer für die Geschehnisse verantwortlich.234 Aus dieser Sicht ist der Genozid an den Armeniern noch nicht abgeschlossen, da die Nachfahren der
231 Vgl. Aznavour, Charles: Ich habe einen Traum, in: Die Zeit Nr. 14 vom 31.03.2005 sowie aus Sicht eines jüdischen Unterstützers auch Giordano (2010), a.a.O. 232 Mangelsen, Jochen: Gedenkrede an der Gedenkfeier für die Opfer des Genozids an den Armeniern, Am Khatchkar Bremen, 24.04.2011, unter http://www.zentralrat. org/files/Microsoft%20Word%20%20Gedenkrede_Jochen_Mangelsen_in_Bremen, %2024.04.2011.pdf, Stand: 05.03.2014. 233 Giordano unterstellt gar, den Türken sei es um die Vernichtung all derjenigen gegangen, die nicht der »türkischen Herrenrasse« angehörten (vgl. Giordano 2010). Wenn auch die (bisweilen extrem) nationalistische Gesinnung des jungtürkischen Regimes in der Literatur unbestritten ist, so scheint der Mangel einer ›Rassentheorie‹ als Fundament des Völkermordes – neben dem Merkmal der industriellen Vernichtung der Juden im ›Dritten Reich‹ – gerade einer der fundamentalen Unterschiede zwischen Armeniergenozid und Shoah zu sein. Jörg Später kommentiert das Bestreben, das er auch bei Rolf Hosfeld sieht, den Holocaust und den Genozid an den Armeniern auch terminologisch gleich zu fassen, deshalb zynisch: »Nur Gaskammern konnte Hosfeld im Osmanischen Reich nicht finden.« – Später, Jörg: Politik mit einem Massenmord in: Süddeutsche Zeitung vom 12.04.2005). 234 Vgl. Stanton, Gregory H.: The 8 Stages of Genocide, als pdf unter http://www. genocidewatch.org/images/8StagesBriefingpaper.pdf, Stand: 07.08.2013.
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Täter sich weiterhin in die Leugnungstradition stellen. 235 Die weitestgehende Interpretation dieser Sicht behauptet gar, die Verleugnung töte die Opfer ein zweites Mal. 236 Es ist diese Argumentation, die die ›Intervention‹ von außen nicht nur rechtfertigt, sondern geradezu als Verpflichtung erscheinen lässt: bei schlimmsten Menschenrechtsverbrechen, zu denen der Genozid zweifelsohne zählt, kann das Souveränitätsprinzip aufgehoben werden. Gleichzeitig werden diejenigen Politiker, die sich gegen die von den Armeniern vorgeschlagenen Maßnahmen aussprechen, angeklagt: Sie vertreten in dieser Argumentationskette nicht einen von mehreren möglichen Standpunkten zu einem historischen Thema, sondern sie plädieren für die Nichteinmischung in ein fortdauerndes Menschenrechtsverbrechen und tolerieren die Verletzung der Würde der Opfer.237 Die dargelegte Argumentation ist in Frankreich und Deutschland auf Seiten der armenischen Organisationen, ihrer Vertreter und assoziierter Verbände gleichermaßen dominierend. Daneben werden auch landesspezifische Gründe angeführt, die im Folgenden beleuchtet werden. 4.2.4.2 Landesspezifische Argumente Frankreich Der speziell auf die französische Situation abzielenden Plädoyers beruhen auf der guten Integration und Bekanntheit der Armenier in Frankreich sowie auf dem unter diesen traditionell vorherrschenden Frankreich-Bild. Einerseits wird die Integration der Armenier in Frankreich als exemplarisch bezeichnet und ihr Modellcharakter zugesprochen: »L’exemple arménien pourrait faire école pour l’avenir.«238 Dabei wird auf der Bewahrung der ursprüngli-
235 Vgl. Mangelsen, Jochen: Rede zur Gedenkfeier am 24. April 2010 in Kehl: »Es ist noch nicht vorbei.« sowie Rede zur Gedenkfeier am 24. April 2011 in Bremen: »[...] er ist bis heute nicht beendet.« 236 Rapport Rouquet (1998), S. 5: »Nier son existence atteint directement les survivants, insulte la mémoire des victimes et les assassine une seconde fois.« 237 Vgl. Jonanneau, Bernard: Poursuivre les négationnistes, in: La Croix vom 27.02.12; ebenso Devedjian, Patrick: Un peuple a le droit d'exprimer une vision de son histoire, in: La Croix vom 17.01.12; Interview 9 vom 26.02.2013. 238 Rede von Mourad Papazian, erstem Sekretär der französischen Daschnak-Partei, am 03.04.2007 in Alfortville zur Unterstützung der sozialistischen Präsidentschaftskandidatin Ségolène Royal, unter http://www.cdca.asso.fr/s/detail.php?r=9&id=471, Stand: 03.04.2014.
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chen Besonderheiten beharrt: »Intégration sans assimilation.« 239 Aus der vollständigen Integration der Armenier in die französische Gesellschaft, als deren ultimativer Beweis die Verteidigung der Republik durch Résistance-Mitglieder wie Manoukian betrachtet wird, 240 wird überdies eine Schuldigkeit Frankreichs gegenüber den Armeniern abgeleitet: Ihr Beitrag zu Frankreich sei groß gewesen, das Land müsse dies würdigen. In diesem Zusammenhang spielt das idealisierte Bild eine Rolle, das unter Armeniern vom französischen Staat generell vorherrscht. Ter Minassian beobachtet dazu: »La France occupait une place exceptionnelle dans l’imaginaire arménien, elle avait nourri les rêves arméniens avant de les décevoir.«241 Frankreich habe traditionell als Land der Freiheit und der Menschenrechte gegolten und als solches bereits um die Wende vom 19. zum 20. Jahrhundert armenische Intellektuelle inspieriert, die es als Vorbild für einen künftigen armenischen Staat gesehen hätten. Dass dieser Eindruck über Jahrzehnte fortwirkte, wird an Govciyans Schilderung deutlich, der seinen Emigrationswunsch beschreibt, nachdem er als Schüler in Istanbul von dem Genozid an den Armeniern erfahren hat: »En fait, je veux quitter la Turquie, aller dans le pays des droits de l’homme, de la Révolution de 1789, de la Résistance aux nazis, le pays qui a accueilli des rescapés du génocide.«242 Offenbar aufgrund dieser Idealisierung übersteigt die Anerkennung durch Frankreich die Bedeutung desselben Schrittes durch andere Staaten. Mit Devedjian stimmt Govciyan überein, die Opfer hätten nun ein »moralisches Grab«243 erhalten. Insofern erscheint die Aktion durch den französischen Staat nicht nur als Teil einer Strategie, mit der Druck auf die Türkei ausgeübt werden soll, son-
239 Ebd. 240 Vgl. Mandel, Maud S.: In the Aftermath of Genocide. Armenians and Jews in Twentieth-Century France, Durham / London: Duke University Press 2003, S 183: »In the postwar years, the organized Armenian community celebrated and mourned Manouchian’s Resistance activities and high-profile death as an indication of their patriotism, resistance, and loyalty to France throughout the occupation.« sowie Fraisseix, Patrick: Le droit mémoriel, in: Revue française de droit constitutionnel 2006/3, n°67, S. 483-508, hier S. 487. Zur allgemeinen Integration der Armenier vgl. auch Ritter (2007), S. 111: »Républicaine, voire républicaniste, la communauté arménienne de France est en apparence la meilleure illustration de l’ ›intégration à la française‹, intégration qu’elle met elle-même en avant – paradoxalement, surtout, lorsqu’il s’agit d’obtenir une avancée pour la communauté.« 241 Ter Minassian (1988), S. 200. 242 Govciyan (2003), S. 20. 243 »une ultime sépulture morale«, Govciyan (2003), S. 23.
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dern auch als Endzweck. Aufgrund seiner überlegenen und historisch legitimierten moralischen Position kommt Frankreich eine besondere Autorität beim Urteil über die Geschichte zu. Die Wirkung auf die Türkei wird dabei nicht ignoriert. Es wird behauptet, dass diese ihre Position nur unter massivem Druck von außen ändern werde. Dabei wird jeder in Frankeich unterstützter Initiative im Zweifel ein positiver Veränderungsdruck unterstellt, ohne dass zwischen einzelnen Maßnahmen stark differenziert würde. Somit kann ausgeklammert werden, welche Wirkung eine Forderung im Einzelnen tatsächlich hat und die Diskussion um mögliche Alternativen vermieden werden. Deutschland In Deutschland folgen den allgemeinen Argumenten andere Schwerpunkte als in Frankreich. An erster Stelle steht hier die »Mitverantwortung« 244 am Genozid durch das Bündnis mit der Türkei im Ersten Weltkrieg. Die Beschäftigung mit den Ereignissen von 1915 sei deshalb auch Teil der Aufarbeitung der eigenen, deutschen Geschichte. Zudem wird von Deutschland eine besondere Sensibilität beim Thema Völkermord gefordert. Die schwierige Vergangenheit Deutschlands und das an den Juden begangene Verbrechen machten es zur Pflicht, vor anderen, ähnlich gelagerten historischen Ereignissen nicht die Augen zu verschließen.245 Gleichzeitig wird der Holocaust als Hindernis bei der Behandlung des Armeniergenozids wahrgenommen: der Platz, den dieser einnehme, sei so dominant und die Angst, die Thematisierung anderer Völkermorde könne als Anzweiflung seiner Singularität interpretiert werden, daher so groß, dass die Politik davor zurückschrecke. Die Position der jüdischen Verbände in Deutschland verschärfe dieses Problem zum Teil, da sie dem Genozid an den Armeniern keinen gleichwertigen Platz im öffentlichen Raum zukommen lassen wollten und daher die Unterschiede zwischen beiden Ereignissen betonten.246
244 Vgl. Giordano (2010), a.a.O., Eine Befragte spricht von »halber Mitverantwortung« (Interview 9 vom 26.02.2013); vgl. auch Pressemitteilung der Evangelischen Kirche in Deutschland: Rat der EKD: »Erinnerun um der Veröhnung willen«. Erklärung zum Völkermord an den Armeniern vom 21.04.2005. 245 Mangelsen, Jochen: Rede zur Gedenkfeier am 24. April 2010 in Kehl unter http://www.zentralrat.org/files/Kehl_2010_Gendenkrede_Dr.Jochen_Mangelsen.pdf, Stand: 26.02.2014. 246 Interview 7 vom 28.11.2012.
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Schließlich sieht sich die deutsche Politik mit dem Vorwurf der Armenier konfrontiert, aufgrund der großen türkischen Minderheit in Deutschland zu türkeifreundlich zu sein – aus Wahltaktik, aber auch, um den inneren Frieden zu wahren. Die Armenier betrachten dies einerseits als Affront und Hemmnis ihrer eigenen Integration: Deutschland mache es ihnen als Armeniern nicht leicht, sagt ein Gesprächpartner.247 Darüber hinaus würden sie in diesem Kontext durch die Politik lediglich als »Störenfried« 248 wahrgenommen. Die Durchsetzung ihrer Anliegen stehe unter diesem Vorzeichen. 4.2.4.3 Fazit und Vergleich Die grundlegenden Argumente, die von den Armeniern zur Erfüllung ihrer Forderungen angeführt werden, sind auf deutscher und französischer Seite gleich: Indem auf das Verleugnen als letzte Etappe eines Völkermordes verwiesen wird, wird dessen Fortdauer in die Gegenwart begründet. Der Völkermord an den Armeniern ist damit kein historisches Ereignis mehr, sondern eine aktuelle Menschenrechtsverletzung. Damit ist die Stellungnahme dazu keine historische Frage, sondern eine moralische und politische Pflicht. Appelle an Wahrheit, Gerechtigkeit und ›europäische Werte‹ zielen auf diese Demonstration. Gleichzeitig wird die Schwere des Verbrechens unterstrichen, indem sein – angeblicher – Vorbildcharakter für die Shoah betont wird. Der Genozid an den Armeniern reiht sich damit in die ›Menschheitsverbrechen‹ ein, deren zu gedenken Teil des europäischen Wertekonsenses ist. Neben der transnationalen Darstellung, die die Legitimität der Forderungen begründet, fallen landesspezifische Diskurse ins Auge. Zunächst liegen diese im unterschiedlichen Bild des Gast- oder Heimatlandes. Die armenischstämmigen Franzosen haben ein idealisiertes Frankreich-Bild; sie assoziieren damit Freiheit und Menschenrechte. Auf dieser Basis hat die Anerkennung ihrer Geschichte durch Frankreich eine besondere Bedeutung für sie: Das Land ist berufen, Menschenrechtsverletzungen zu ahnden. Sein Spruch hat universelle Wirkung und integriert die armenische Tragödie zudem in eine bedeutungsvolle Tradition. Zwar sind auch in Deutschland viele Armenier gut integriert, doch besetzen sie keinen festen Platz in deren Vorstellungswelt, was auch an den allgemein schwachen Kenntnissen über die armenische Geschichte und Kultur deutlich wird. 249 Da-
247 Interview 6 vom 19.12.2012, vgl. auch Ordukhanyan (2009), S. 27 f. 248 Einladung (Faltblatt) der armenischen Gemeinde zu Berlin zur Gedenkfeier am 24.04.10; auch Jeismann spricht von einem »politisch störenden Massenmord an den Armeniern«, FAZ vom 01.02.05. 249 Vgl. Ordukhanyan (2009), S. 27.
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rüber hinaus sehen sich die Armenier in Deutschland mit der überragenden geschichtspolitischen Bedeutung der Shoah konfrontiert, die die Thematisierung anderer Völkermorde erschwert. Gleichzeitig verweisen sie auf die Rolle Deutschlands beim Armeniergenozid, aus der die Notwendigkeit verstärkten Engagements beim heutigen Gedenken und der Aufarbeitung erwachse. Die Erwartungshaltungen der Armenier an das jeweilige Land und ihre Beobachtungen zur Platzierung ihres Anliegens im jeweiligen Kontext spiegeln im Wesentlichen das Spannungsfeld wider, in dem sich auch die jeweilige Rezeption bewegt. Bevor diese analysiert wird, sollen im Folgenden nun aber zunächst die Mittel beleuchtet werden, mit denen die geschichtspolitischen Anliegen jeweils durchzusetzen versucht werden. Obwohl sie in Deutschland und Frankreich in verschiedenem Ausmaß auftreten, unterscheiden sie sich kaum in ihrer Natur. Sie werden deshalb nicht explizit getrennt erläutert. 4.2.5
Strategien des Gehörtwerdens
4.2.5.1 Von Dispersität zu Homogenität: Mobilisierung der eigenen Basis Wie oben dargelegt wurde, hat die Erfahrung von familiären Traumata und Ungerechtigkeit bereits eine stark mobilisierende Wirkung bei armenischen Jugendlichen und Erwachsenen in der Diaspora. Gleichwohl zeigt das Beispiel Frankreich, dass die große Präsenz des Themas ›génocide arménien‹ seit Ende der 1990er Jahre250, die Anerkennung des Genozids durch Frankreich 2001 und die Errichtung eines zentralen Mahnmals in Paris auch Folge einer Koordinierung und Fokussierung der Anstrengungen der Gemeinschaft sind. Die organisatorische Konzentration beschreibt Govciyan: Im Oktober 1994 formierte sich das »Comité du 24 avril«, um die Gedenkfeiern zum 80. Jahrestag des Genozids vorzubereiten. Schnell wurde das Ziel dahingehend erweitert, Bevölkerung und Medien über Geschichte und Anliegen der Armenier zu informieren, die offizielle Anerkennung des Genozids durch Frankreich durchzusetzen und gegen die Genozidleugnung vorzugehen.251 Die Bündelung all dieser Aktivitäten im Rahmen einer Gruppe scheint große Energien freigesetzt zu haben:
250 Vgl. hierzu die Analyse der ›Themenkonjunktur‹ in Kapitel 4.3.2.3. 251 Vgl. Govciyan (2003), S. 37 f.
166 | STRATEGIEN DES G EHÖRTWERDENS »On aura rarement vu, dans l’histoire du mouvement politico-associatif, une telle mobilisation de tous, avec une véritable énergie déployée, à tous les niveaux et partout, pour arriver, avant la fin du siècle, à l’objectif que tout le monde s’est fixé.«252
Das zielgerichtete Vorgehen erfordert nicht nur eine geschlossenes Auftreten nach außen, sondern auch die Kommunikation der Ziele, Maßnahmen und Argumente. Insofern hat es sicher unterstützend gewirkt, dass seit 1993 dazu ein Medium vorhanden ist: die Zeitschrift Nouvelles d’Arménie Magazine (NAM). Aufgrund ihrer besonderen Bedeutung für die ›armenische Sache‹ in Frankreich253 sind eine Reihe von Ausgaben in den Korpus dieser Arbeit einbezogen und analysiert worden. In den 1990er Jahren erscheint diese monatlich und umfasst etwa 50 Seiten. Die Anmutung ist die einer recht professionell aufgemachten Illustrierten.254 Dabei ist deutlich, dass die Vermittlung der Lebenswirklichkeit im nunmehr unabhängigen Armenien sowie die Selbstdefinition der Diaspora-Armenier im Verhältnis zum armenischen Staat zentrale Themen sind. 255 Darüber hinaus wird über prominente Mitglieder der armenischen Diaspora in Frankreich, wie Künstler und Fußballer, berichtet sowie über die französische Außenpolitik gegenüber Armenien. Schließlich ist die NAM auch eine Plattform für Werbung und Information bezüglich armenischem Diaspora-Leben in Frankreich: zahlreiche Kleinanzeigen weisen auf Geschäfte mit armenischen Inhabern hin, ein »guide pratique« listet armenische épiciers und grossistes auf. Darüber hinaus nimmt die NAM mit Blick auf die ›armenische Sache‹ eine Vorreiterrolle bei der Erläuterung ein, wie ein organisiertes Lobbying aussehen
252 Govciyan (2003), S. 40. 253 Vgl. die diesbzgl. Aussage von Patrick Devedjian in NAM N°12, April 1996, S. 10: »Et je trouve qu’il est bien que les Nouvelles d’Arménie, dont on voit qu’elles ont une démarche moderne, et je ne dis pas cela pour vous faire plaisir mais parce que je le pense, aient su innover dans un domaine et par une méthode qui, pour d’autres groupes de pression ou d’autres communautés, est plutôt habituel...« 254 Für eine Übersicht der untersuchten Ausgaben vgl. die Auflistung im Literaturverzeichnis. 255 So enthält. z. B. NAM N°9, Januar 1996, ein Interview mit Lucia Ter Petrossian, der Frau des armenischen Staatspräsidenten, mehrere Artikel zur Diskussion zur eventuellen Einführung einer doppelten Staatsbürgerschaft für Diaspora-Armenier (s. Literaturverzeichnis / Beiträge von Marian und Muradian), ein Interview mit dem armenischen Botschafter in Frankreich und eine Fotodokumentation der Metro von Erewan.
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kann. So publiziert sie Reportagen über die Aktivitäten der armenischen Verbände in den USA oder befragt Politiker zu der Thematik. Außerdem veröffentlicht sie Umfragen, die die französische öffentliche Meinung zur Anerkennung des Genozids an den Armeniern widerspiegeln und holt Stellungnahmen von Politi-kern ein.256 Beim Vergleich dieser frühen NAM-Ausgaben mit solchen aus dem Jahren 2001 und 2005 fällt auf, dass Design, aber auch Schwerpunkt und Ton des Blattes sich teilweise geändert haben. Der Umfang ist gestiegen, das Layout ist auf eine sehr grelle Aufmachung mit großen Schlagzeilen umgestellt worden. Über Armenien wird deutlich weniger berichtet: so umfasst die Ausgabe Nummer 104 vom Januar 2005 92 Seiten, von denen fast die Hälfte der Rubrik »Actualité« gewidmet ist. Die Entwicklung reflektiert eine Diasporagemeinde, die ihre identitäre Unsicherheit im Verhältnis zum armenischen Staat überwunden zu haben scheint und verstärkt ihre eigenen Belange verfolgt. Die Nouvelles d’Arménie Magazine erreicht offenbar eine recht starke Verbreitung, bis zu 22 000 Exemplare werden monatlich aufgelegt.257 Der besondere Charakter der NAM als Kommunikations- und auch als Mobilisierungsinstrument innerhalb der armenischen Gemeinde wird im Vergleich zur größten deutschen Zeitschrift für armenische Belange, der Armenisch-Deutschen Korrespondenz (ADK) besonders deutlich. Die ADK erscheint seit 1973 vierteljährlich. Auf 50-60 Seiten behandelt sie die Themen Armenien & Kaukasus, Armenien & Deutschland, Türkei & Orient; berichtet aus Kirche, Diaspora, Kunst und Wissenschaft und weist auf Veranstaltungen und Veröffentlichungen hin. Das Layout ist vorwiegend schwarz-weiß; der Aufmachungscharakter bewegt sich zwischen wissenschaftlicher Veröffentlichung und Nachrichtenmagazin. Kleinanzeigen, Verweise auf armenische Supermärkte oder Kuchenrezepte und Geschenkempfehlungen für Weihnachten, wie sie in Nouvelles d’Arménie Magazine auftauchen,258 kommen nicht vor.
256 Vgl. das Interview mit François Rochebloine, Präsident der ›groupe d’amitié France – Arménie‹ im Parlament in: NAM N°11, März 1996, S. 26-27; die Veröffentlichung der Ergebnisse der Studie des Institut Louis Harris: Les Français et le génocide arménien sowie die dazu eingeholten Stellungnahmen von Politikern in NAM N°12, S. 4-14; außerdem Radelat (1996), a.a.O. sowie Le génocide arménien au Parlement, in: NAM N°14, Juni 1996, S. 22. 257 Vgl. den Eintrag Journaux – Bulletins auf der Webseite der Association Culturelle Arménienne de Marne-la-Vallée (France) unter http://www.acam-france.org/con tacts/journaux/, Stand: 08.05.13. 258 Vgl. NAM N°18 vom Oktober 1996.
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Auch inhaltlich heben sich die Beiträge ab: statt Fotografien und personalisierten Reportagen aus der armenischen Lebens- und Arbeitswelt werden in der ADK vor allem Zahlen und Fakten zur wirtschaftlichen und politischen Entwicklung des Landes publiziert. »Aus der Diaspora« berichtet weniger aus Deutschland, sondern vielmehr über die Entwicklungen weltweiter armenischer Enklaven in Iran, Libanon, Syrien etc. Insgesamt erscheint es im Vergleich zu NAM weniger das Ziel der ADK zu sein, dem internen Austausch einer Gemeinschaft zu dienen, sondern den interessierten deutsch-armenischen Leser über die letzten Entwicklungen zu informieren. Die Genozidfrage wird auf etwa zehn Prozent der Seiten beleuchtet. Dabei nimmt die ADK einen Standpunkt ein, der an Aufarbeitung und Anerkennung orientiert ist; hingegen scheint sie sich nur sehr bedingt als Mobilisierungsinstrument in dieser Sache zu verstehen. Der eher zurückhaltende Ton, der von der Redaktion unter der langjährigen Leitung von Raffi Kantian bewusst gewählt worden ist, 259 wird an einer im April 2013 veröffentlichten Beteiligungsempfehlung an einer Facebook-Aktion deutlich: »Doch beim Vorstellen soll es nicht bleiben, wir wollen für sie werben und Sie bitten – soweit Sie davon überzeugt sind – gleiches zu tun mit Links auf Ihrer Webseite, bei Facebook und Twitter. Kurzum: Spread the news.«260
Mit ihren Schwerpunktthemen, dem wissenschaftlich orientierten Informationsangebot und dem eher nüchternen Tonfall wendet sich die ADK, im Gegensatz zu NAM, weniger an eine armenische Diasporagruppe mit einem Mobilisierungsziel, sondern steht vielmehr in der Tradition der deutsch-armenischen Gesellschaft, die den Austausch zwischen Deutschen und Armeniern zum Ziel hat.261 Ebenso geht auch der Druck für Anerkennung nicht primär von einer rein armenischen Organisation aus. Zwar setzen sich die armenischen Gemeinden und der Zentralrat der Armenier auf verschiedenen Wegen dafür ein, doch in der ›Arbeitsgruppe Anerkennung‹, deren Vorsitzende Tessa Hofmann lange das Thema in Deutschland vorrangig repräsentiert hat,262 engagieren sich Deutsche
259 Interview mit Raffi Kantian vom 01.03.2013. 260 Kantian, Raffi: Werben für die Anerkennung_1 / Drumming up support for the recognition_1 vom 15. April 2013, unter http://www.deutscharmenischegesellschaft. de/?p=3947, Stand: 08.05.13. 261 Vgl. http://www.deutscharmenischegesellschaft.de/?page_id=9, Stand: 14.08.2013. 262 Interviews 16 am 27.11.2012 und Christoph Bergner am 29.11.2012.
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und Armenier; 263 der Verein versteht sich als Menschenrechtsorganisation. 264 Darüber hinaus kommen Aufrufe an die Politik von verschiedenen Urhebern; so stammt der beim Dialog über Deutschland so erfolgreiche Vorschlag, der die strafrechtliche Verfolgung der Leugnung des Genozids an den Armeniern forderte, von einem Deutschen aus Baden-Württemberg.265 Bei einigen Aktionen, wie 2012 bei einer Demonstration vor der türkischen Botschaft in Berlin, ist eine gewisse Kooperation zu beobachten.266 Dennoch sind die Anstrengungen nicht in derselben Weise wie in den 1990er Jahren in Frankreich im Comité du 24 avril vereinheitlicht. Bei dieser Beobachtung ist allerdings auch die Struktur der armenischen Gemeinde in Frankreich und Deutschland zu erwähnen. Dadurch, dass diese in Deutschland wesentlich kleiner und noch nicht so gut integriert ist wie in Frankreich, könnte eine Fokussierung rein auf deren Mobilisierung nicht ausreichend wirken. Es gilt daher, auch Personen anzusprechen, die nicht durch familiäre Traumaweitergabe einen unmittelbaren Bezug zu der Thematik mitbringen. Die dazu unternommenen Schritte werden in den folgenden Punkten erläutert. 4.2.5.2 Vom Lokalen zum Nationalen: Erinnerungsorte Die Schaffung eines Erinnerungsortes ist zugleich Mittel und Ziel, wenn es darum geht, ein historisches Ereignis im kollektiven Gedächtnis zu verankern. Ziel, indem es dem Ereignis eine bestimmte imaginäre Gestaltung (was seinen Inhalt, Ablauf und seine Bedeutung betrifft) sowie einen festen Platz zuweist. Mittel, indem physische Orte, die das Ereignis verkörpern, die Verankerung eines solchen Ortes in der Erinnerung begünstigen können.
263 Vgl. die Angaben zum Vorstand auf der Webseite des Vereins: http://www.agaonline.org/contact/index.php?locale=de, Stand: 08.05.13. 264 Vgl. Reconnaissance: la démission allemande, Interview mit Tessa Hoffmann [Propos recueillis par Marie-Aude Panossian et Ara Toranian], in: Nouvelles d’Arménie Magazine
unter
http://www.aga-online.org/documents/attachments/aga_31.pdf,
Stand: 12.08.2013. 265 Vgl. Gesetz gegen die Leugnung des Völkermordes an den Armeniern und Aramäern, am 03.02.2012 um 08:12 Uhr von Norbert Voll erstellt unter https:// www.dialog-ueber-deutschland.de/DE/20-Vorschlaege/10-Wie-Leben/Einzelansicht/ vorschlaege_einzelansicht_node.html?cms_idIdea=2487, Stand: 12.08.13. 266 Notizen der Autorin während des Vortrags von A. Ordukhanyan zu den Tätigkeiten des vergangenen Jahres bei der Jahrestagung des Zentralrats der Armenier in Hamburg am 04.11.2012.
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Mit Blick auf die Forderungen der Armenier ist zunächst festzuhalten, dass diese die Verortung des an ihnen begangenen Genozids an einem festen Platz im historischen Gedächtnis anstreben. Seine physische Übersetzung findet dieser Wunsch in der Einforderung eines zentralen Mahnmals, das das Ereignis vergegenwärtigen soll. Es ist bereits dargelegt worden, dass der Durchsetzung eines solchen Mahnmals ein langer Weg vorausgehen kann: in Frankreich hat es bis 2003 gedauert, bis ein solches eingeweiht werden konnte; in Deutschland sieht die Beschlusslage bisher nur eine Gedenkstätte auf dem Charlottenburger Friedhof vor.267 In beiden Ländern haben die Gemeinschaften deshalb den Weg gewählt, zunächst lokale Gedenkstätten zu etablieren. In Frankreich haben diese zumeist die äußere Form einer Stele (stèle), in Deutschland sind zu diesem Zweck Gedenksteine in Form armenischer Kreuze (Khatchkare) aufgestellt worden, deren erster 2005 in Bremen.268 Diese lokalen Stätten dienen einerseits dem Gedenken vor Ort. So finden am 24. April jeden Jahres nicht nur die erwähnten zentralen Gedenkfeiern in Frankfurt und Paris statt, sondern zudem eine Vielzahl von lokalen Veranstaltungen mit eigenen Programmen und Reden. 269 Gleichzeitig sind sie eine Form, die Integration der Erinnerung in den öffentlichen Raum zu befördern, ohne dieselben politischen Hürden überwinden zu müssen, die ein zentrales Mahnmal erfordern würde. Auch bei anderen Forderungen wird einer regionalen Variante der Vorzug gegeben, wenn die bundesweite Durchsetzung zum jeweiligen Zeitpunkt zu schwierig erscheint. So setzen die armenischen Verbände in Ermangelung eines ›Fortschritts‹ auf Bundesebene auf eine Anerkennung des Genozids im Wortlaut durch die Landesparlamente. Dadurch soll das Thema vorangetrieben und der Druck auf die Bundesregierung erhöht werden.270 Naturgemäß ist dieser Ansatz in einem zentralistischen Staat wie Frankreich nicht durchführbar. Dass aber auch hier die Durchsetzung der armenischen Anliegen dem Muster ›lokal zu national‹ folgt, ist nicht nur den Gedenkstätten, sondern auch den politischen Netzwerken zu entnehmen, wie im folgenden Unterkapitel gezeigt wird.
267 Vgl. Kap. 4.3.2.1. 268 Vgl auch ebd. 269 Die von Nouvelles d’Arménie Magazine bereitgestellte Übersicht der Gedenkveranstaltungen zum 24.04.2013 umfasst 48 Städte: http://www.armenews.com/article. php3?id_article=88712, Stand: 23.04.13. 270 Interview 6 vom 19.12.2012. Dieses Vorgehen ist im Übrigen konform mit demjenigen der armenischen Organisationen in den USA, wo bereits mehrere Bundesstaaten den Armeniergenozid anerkannt haben.
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4.2.5.3 Von der Selbstverteidigung zum Advokatenauftrag: Petitionen und Netzwerke Dieser Punkt spiegelt die verschiedenen Wege politischer Thematisierung und Entscheidungsherbeiführung wider, die sozialen Gruppen zur Verfügung stehen. Zunächst können sie selbst politische Institutionen auffordern, tätig zu werden. Ein Beispiel hierfür ist die Petition. So hat die ›Arbeitsgruppe Anerkennung‹ im Jahr 2000 eine von 16 000 Personen unterzeichnete Petition dem Petitionsausschuss des Bundestags übermittelt, in der die Anerkennung des Genozids an den Armeniern gefordert wurde. Der Antrag wurde zunächst an das Auswärtige Amt weitergereicht und anschließend abschlägig beschieden.271 Ein weiterer Versuch wurde im Rahmen der 2012 von der Bundesregierung gestarteten Initiative »Dialog über Deutschland« unternommen. Im Rahmen dieser Initiative waren alle Bürger aufgefordert, ihre Ideen und Anregungen zur Zukunft der Bundesrepublik auf einer Internetplattform einzugeben. Dort konnte dann über diese diskutiert und abgestimmt werden; die Autoren der 20 Anregungen mit den meisten »Unterstützer«-Stimmen waren im August 2012 eingeladen ihre Ideen mit der Kanzlerin zu diskutieren. Von den rund elfeinhalbtausend eingereichten Vorschlägen erhielt die Forderung nach einem Gesetz zur strafrechtlichen Verfolgung der Leugnung des Armeniergenozids die meisten (156.870) Stimmen. 272 Neben einer offensichtlich großen Zahl von Unterstützern waren hierfür technische Mängel (durch einfache Entfernung eines Cookies konnte jeder Nutzer einen Vorschlag beliebig oft »unterstützen«)273 sowie eine Mobilisierung der ar-
271 Vgl. Gemeinsame Erklärung zur Entscheidung des Petitionsausschusses des Deutschen Bundestages, abrufbar auf der Webseite der Arbeitsgruppe Anerkennung unter http://www.aga-online.org/documents/attachments/aga_14.pdf, Stand: 12.08.2013; außerdem das Schreiben vom 06.09.2001 des Leiters des Parlaments- und Kabinettreferats im Auswärtigen Amt an die Petenten unter http://www.aga-online.org/ documents/attachments/aga_12.pdf, Stand: 13.02.2014: »Der Ausschuss hält darin [in der Beschlussempfehlung, d. A.] jedoch Initiativen wie mit der Petition geforderte nicht für geeignet, Wunden der Vergangenheit zu heilen und zur Versöhnung beizutragen, zumal die Bewältigung der Vergangenheit in erster Linie Sache der betroffenen Länder sei.« 272 Vgl.
https://www.dialog-ueber-deutschland.de/DE/20-Vorschlaege/10-Wie-Leben/
vorschlag_einstieg_node.html?cms_gts=476850_Dokumente%253Dvotes#Inhalt, Stand: 06.05.13. 273 Vgl. Beuth, Patrick: Bürgerbeteiligung im Netz mit fragwürdigen Ergebnissen, vom 13.04.12 unter http://www.zeit.de/digital/internet/2012-04/dialog-fuer-deutschlandergebnis-manipulation, Stand: 06.05.13.
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menischen Gemeinschaft verantwortlich, die sogar nationale Grenzen überstieg: so wurde am 20. März 2012 in den Nouvelles d’Arménie Magazine dazu aufgerufen, für den entsprechenden Vorschlag zu stimmen, und sogar jeder dazu notwendige »Klick« auf französisch erklärt.274 Unbeeindruckt von der hohen Anzahl von Unterstützern, erklärte die Kanzlerin beim Treffen mit den Vorschlagsautoren, diese Initiative nicht aufgreifen zu wollen.275 Auch aufgrund solcher »Misserfolge« (sowie bedingt durch bessere Organisation und Planung) hat sich bei den Repräsentanten der armenischen Anliegen offenbar ein Bewusstsein für die Notwendigkeit eigener politischer Netzwerke eingestellt. In Frankreich wird der Aufbau solcher Netzwerke bereits seit den 1990er Jahren gezielt verfolgt. Wie bereits angesprochen, folgt er ebenfalls dem Muster »lokal zu national«. Grund für das zunächst regional basierte Vorgehen ist vermutlich die einfachere Erreichbarkeit regionaler Politiker sowie deren stärkerer Angewiesenheit auf lokale Unterstützung. So berichtet Govciyan, dass armenische Organisationen in den 1990er Jahren Soiréen veranstaltet haben, zu denen sie lokale Politiker und Honoratioren einluden, um diese mit der Problematik und ihren Anliegen vertraut zu machen. Ein ähnliches Vorgehen lässt sich derzeit in Deutschland beobachten. 2011 hat der Zentralrat der Armenier die Aktion »ZAD trifft Politik« ins Leben gerufen. Im selben Jahr fanden 5-6 Treffen statt,276 vorwiegend mit Abgeordneten des nordrhein-westfälischen Landtags. Auf nationalem Niveau gestaltet sich der Zugang schwieriger. Dort werden gezielt Politiker angesprochen, deren Herkunft oder Funktion eine besondere Sensibilität für die Thematik vermuten lässt. So war und ist für die armenische Gemeinde in Frankreich Patrick Devedjian natür-
274 Armenews / ›Stéphane‹: Appel Important à Agir : les Arméniens d’Allemagne ont besoin du Soutien de la Communauté Arménienne du Monde, Aufruf vom 20.03. 2012, http://www.armenews.com/article.php3?id_article=78042, aufgerufen am 12. 07.12 und zuletzt am 24.01.13 (inzwischen nur noch mit Abonnement vollständig abrufbar); eine Facebook-Gruppe namens Voting: Anti-Leugnungs-Genozid-Gesetz (bis 15.April), die zur Abstimmung im Rahmen dieser Initiative aufruft, hat 5888 Mitglieder
(https://www.facebook.com/groups/331420986901801/?ref=ts&fref=ts,
Stand: 06.05.13). 275 Gathmann, Florian: Merkels Bürger-Dialog im Kanzleramt: »Insgesamt sind wir ja sehr tolerant durchgekommen«, spiegel online vom 03.07.12, unter http://www. spiegel.de/politik/deutschland/wie-merkel-mit-den-buergern-diskutiert-a-842305. html, Stand: 06.05.13. 276 Interview 6 vom 19.12.12.
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licher Repräsentant auf nationalem Niveau. 277 In Deutschland hat die Reihe »ZAD trifft Politik« ein Treffen mit der Menschenrechtsbeauftragten der CDUBundestagsfraktion, Erika Steinbach, beinhaltet.278 Die Funktion solcher Treffen ist zweierlei: durch sie werden einerseits Kanäle bereitgestellt, die die Anliegen der Gemeinschaften im politischen Rahmen thematisieren können. Zweitens bereiten sie eine Unterstützerbasis für diese Anliegen vor, so dass ihre Initiativen nicht, wie im Deutschen Bundestag im Jahr 2000, auf mangelnde Unterstützung und Zuständigkeit treffen. Schließlich beschränkt sich das angestrebte Netzwerk nicht nur auf Politiker. »Multiplikatoren« sollen mit der Frage vertraut gemacht werden.279 In diesem Sinne ist auch das Treffen mit dem Leiter der Bundeszentrale für politische Bildung zu sehen: Dieser habe den Faden aufgegriffen und sich anschließend beim Bonner Bürgermeister für die Aufstellung eines lokalen Gedenksteins eingesetzt, lobt ein Gesprächspartner.280 4.2.5.3 Vom partikularen zum übergreifenden Interesse: Allianzen Ein Element in der Untermauerung der Rolle der armenischen Geschichte ist die Verbindung des armenischen Schicksals mit demjenigen anderer Opfergruppen. Neben der Verbreiterung des Unterstützerkreises verdeutlicht sie die universelle Dimension des Verbrechens. Nennenswert sind in diesem Zusammenhang vor allem drei Gruppen: Jüdische Verbände, ›Vertriebene‹ und solche Gruppen, die auf das ihnen durch den türkischen bzw. osmanischen Staat widerfahrene Unrecht aufmerksam machen wollen. Die Position der jüdischen Verbände zu den armenischen Bestrebungen ist in Frankreich positiver als in Deutschland. 281 Die lange von einigen Repräsentanten
277 Vgl. Kap. 4.2.1.1. 278 »ZAD trifft Politik: Zentralrat der Armenier in Deutschland startet Reihe von Politikergesprächen«, Pressemitteilung vom 28.03.2010, unter http://www.zentralrat. org/de/node/816, Stand: 15.02.2013; zur Kooperation des ZAD mit Steinbach vgl. auch das folgende Unterkapitel. 279 Interview 8 vom 22.02.2013. 280 Interview 6 vom 19.12.2012. 281 So nahm der Präsident des CRIF (Conseil Représentatif des Institutions juives de France), Richard Prasquier, am 24.04.2012 an der offiziellen Gedenkfeier des Genozids an den Armeniern teil, vgl. Ara Toranian: La France a commémoré officiellement le génocide des Arméniens vom 27.04.12 unter http://www.crif.org/fr/ tribune/la-france-comm%C3%A9mor%C3%A9-officiellement-leg%C3%A9nocidedes-arm%C3%A9niens/30939; er erklärt außerdem in einem Interview mit Nou-
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des israelischen Staates mutmaßlich aus Angst vor der Relativierung des Holocaust vertretene Weigerung, den Armeniergenozid anzuerkennen,282 hat auch in Deutschland dazu geführt, dass etwa der Zentralverband der Juden in Deutschland sich lange nicht offen mit den Armeniern solidarisiert hat. Inzwischen wird die Aufarbeitung des Völkermords an den Armeniern zurückhaltend unterstützt.283 Einzelne Mitglieder der jüdischen Gemeinde, wie Ralf Giordano, engagieren sich hingegen sehr stark für die ›armenische Sache‹ und verweisen dabei explizit auf ihre Holocaust-Biographie. 284 Giordano bildet hiermit jedoch eine Ausnahme unter den deutschen Juden. Entsprechend fällt auch das Résumé von Vertretern armenischer Verbände auf französischer bzw. deutscher Seite aus: Während jene die jüdische Gemeinde explizit zu den Unterstützern der armenischen Anliegen zählen,285 sehen diese sie (zumindest in der Vergangenheit) eher als Hindernis.286 Der Name, den sich das zentrale Repräsentationsorgan armenischer Interessen in Deutschland gegeben hat – »Zentralrat der Armenier« – verweist derweil explizit auf den »Zentralrat der Juden«, der in der deutschen Öffentlichkeit eine wichtige Rolle spielt. In Frankreich ist die Namensähnlichkeit nicht so groß, nichtsdestoweniger findet Le Monde im Jahr 2000, das Comité du
velles d’Arménie Magazine: »J’ai toujours considéré que notre relation avec les Armé-niens est d’une proximité particulière, à bien des égards exceptionnelle [...]. Nous serons toujours au côté de nos amis arméniens contre ceux qui essaient de mettre en doute la réalité du génocide qui fut perpétré envers leur peuple.« (vom 11.02.13, unter http://www.crif.org/fr/lecrifenaction/interview-de-richard-prasquieraux-nouvelles-d%E2%80%99arm%C3%A9nie/35058), Stand jeweils: 06.05.13. Marian (vgl. Marian (2011), S. 10) führt die stärkere Kongruenz jüdischer und armenischer Position zum Genozid an den Armeniern auf die gemeinschaftliche Verteidigung ihrer Anliegen im Rahmen der Ligue des droits de l’Homme zurück, die sich gleichzeitig gegen die Unterdrückung der Armenier durch den Sultan wandte und für die jüdische Seite in der Dreyfus-Affäre Partei ergriff. 282 Vgl. u. a. Tossati, Marco: Israel and the Armenian Genocide, in: Vatican Insider vom 06.03.2012 unter http://vaticaninsider.lastampa.it/en/blog-san-pietro-e-dintorni en/detail/articolo/15965/; Stand: 15.08.2013; auch Raffi Kantian: Die Knesset und der Völkermord an den Armeniern, in: ADK (2011-2)152, S. 25. 283 Vgl. ddp Interview mit ZDJ-Generalsekretär Stephan J. Kramer vom 21.04.10, unter http://www.zentralratdjuden.de/de/article/2966.html , Stand: 22.01.12. 284 Vgl. die Aufforderung Giordanos an den Bundestag, die er mit »Überlebender des Holocaust« unterzeichnet hat (in: Giordano (2010), a.a.O.). 285 Vgl. Govciyan (2003), S. 42. 286 Interview 7 vom 28.11.2012.
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24 avril sei »un type de représentation analogue au Conseil représentatif des institutions juives de France (CRIF).«287 Neben dem Schulterschluss mit der jüdischen Gemeinde, der vor allem mit Blick auf die Parallelen zur Shoah gesucht wird, suchen die armenischen Gemeinschaften auch das Bündnis mit anderen Gruppen, die sich in Opposition zum türkischen Staat sehen. Dies sind zunächst die Assyrer, Chaldäer, Aramäer und Pontosgriechen, die ebenfalls Opfer der nationalistischen Politik im Zuge der türkischen Staatsgründung wurden. Während in Frankreich nur selten auf diese verwiesen wird, werden sie bei Gedenkfeiern in Deutschland im überwiegenden Teil der Reden genannt. Finden die genannten Volksgruppen eher rhetorisch Erwähnung, ist die Affinität zu kurdischen und alevitischen Vertretern politisch bedeutsam und zugleich ein wichtiges ›personales Reservoir‹ für Demonstrationen und andere gemeinschaftliche Aktionen in Ländern wie Deutschland, wo die Armenier selbst nicht sehr zahlreich sind. An einer Demonstration im Jahr 2010 gegen die Vergabe eines Toleranzpreises an den türkischen Ministerpräsidenten Erdoğan, zu der auch der ZAD aufgerufen hatte, nahmen 80.000 Menschen teil, darunter mehrere türkeistämmige Minderheitengruppen.288 Wie erwähnt, erhalten die Armenier ebenfalls rhetorische Unterstützung durch die Vorsitzende des Bundes der Vertriebenen (BdV), Erika Steinbach. Diese war zum einen zeitweise Menschenrechtsbeauftragte des Bundestags. Ihren Einsatz für die Armenier begründet sie allerdings durch die Anspielung auf Parallelen in deren Schicksal und dem der deutschen ›Heimatvertriebenen‹, 289 und hat daher auch die Integration des Völkermords an den Armeniern in das »Zentrum gegen Vertreibungen«290 in Berlin befördert.
287 Weill, Nicolas: Plusieurs milliers de personnes ont réclamé la reconnaissance du génocide des Arméniens, in: Le Monde vom 26.04.2000. 288 Interview 6 vom 19.12.2012. 289 Vgl. Ansprache von Erika Steinbach, Mitglied des Deutschen Bundestags zur Gedenkfeier zum Völkermord an den Armeniern, Ostersonntag, 24. April 2011, Frankfurter Paulskirche, unter http://www.a-rm.de/wp-content/uploads/2008/04/Pauls kirche-2011-Ansprache-Steinbach.pdf, Stand: 13.08.2013. 290 ›Stéphane‹: Berlin – Une exposition permanente sur le génocide des Arméniens, Webseiteneintrag der NAM vom 25.10.2012 unter http://www.armenews.com/ mot.php3?id_mot=4, Stand: 23.04.2013. Auf die Person Steinbach angesprochen, erklärt ein armenischer Interviewpartner: »Sie ist unser Freund« (Interview Nr. 6 vom 19.12.2012) – schließlich spreche sich Steinbach für eine Anerkennung des Genozids an den Armeniern aus. Dass dies in erster Linie aus Eigeninteresse ge-
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Zu den Multiplikatoren gehören auch die Kirchen – neben der armenischen Kirche insbesondere die katholische sowie die protestantischen Kirchen. Govciyan zählt sie bereits 2003 zu den unterstützenden Organisationen291; dies hat sich auch in Deutschland inzwischen bestätigt. Als Beleg ist dabei neben der Rede des Trierer Bischofs Ackermann zum Gedenken an den Völkermord an den Armeniern 2010 in der Frankfurter Paulskirche ist dabei z. B. auch auf den Aufruf der evangelischen Kirche zur Anerkennung des Völkermords zu verweisen. 292 In Frankreich fällt ferner die Verknüpfung mit der Forderung nach Anerkennung weiterer Genozide auf. So tut Laurent Leylekian, Sprecher des Zusammenschlusses Observatoire arménien, 2012 in der französischen kund, das Ziel sei-
schehen könnte, kritisiert Micha Brumlik: »Auch der vom ›Zentrum‹ ausgelobte ›Franz-Werfel-Menschenrechts-preis‹ legt sicher ganz bewußt eine Parallele zwischen dem Genozid an den Armeniern und der Vertreibung der Deutschen nahe.« (Brumlik, Micha: Bund der Durchtriebenen. Wie das Konzept für das »Zentrum gegen Vertreibungen« die Unterschiede zwischen den Opfern verwischt, in: Jüdische Allgemeine vom 19.01.2006, unter http://www.juedische-allgemeine.de/article/view/ id/5101, Stand: 10.04.2014). Die augenscheinliche Allianz zwischen beiden Gruppen verspricht den Armeniern daher Prominenz, dem BdV moralische Legitimation. Aufgrund des umstrittenen Rufs des BdV in Deutschland werden dazu auch von armenischer Seite Bedenken geäußert (vgl. z. B. Toros Sarian: Erika Steinbach und der Zentralrat der Armenier in Deutschland, Blogbeitrag vom 25.09.2010 unter http://spyurk.de/toros-sarian-artikel-erika-steinbach-und-der-zentralrat-der-armenierin-deutschland/, Stand: 19.01.15 sowie Talin Bahcivanoglu: Erika Steinbach und der Stein der Weisheit unter http://www.hay-society.de/haysociety/meinung-a-debat te/163-erika-steinbach-und-der-stein-der-weisheit.html, Stand: 19.01.15), unabhängig davon besuchten Vorstandsmitglieder des ZAD am 30.08.2014 den »Tag der Heimat« des BdV (vgl. »Bund der Vertriebenen – ›Deutschland geht nicht ohne uns‹«, Mitteilung des ZAD unter http://www.zentralrat.org/de/node/10984, Stand: 19.01.15). 291 Vgl. Govicyan (2003), S. 42. 292 Ackermann, Stephan: Ansprache zur zentralen Gedenkfeier zum Völkermord an den Armeniern am 24. April 2010, Frankfurter Paulskirche; nachzulesen auf der Webseite von Radio Vatikan: http://de.radiovaticana.va/storico/2010/04/25/d:_%E2%80%9 Eden_v%C3%B6lkermord_anerkennen%E2%80%9C/ted-375057,
Stand:
25.02.
2014; Rat der Evangelischen Kirche Deutschlands: Erinnern um der Versöhnung willen: Erklärung zum Völkermord an den Armeniern, 21.04.2005, abrufbar unter http://www.ekd.de/presse/pm68_2005_ratserklaerung_armenier.html, Stand: 25.02. 2014.
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ner Vereinigung sei erst erreicht, wenn Frankreich den Völkermord in Rwanda offiziell anerkannt habe: »Il y a un devoir moral à étendre notre combat à nos amis tutsis.«293 4.2.5.5 Von Indifferenz zur Emotionalisierung: öffentliche Meinung Wer in einer Demokratie politischen Einfluss ausüben möchte, hat ein Interesse daran, darzulegen, dass die öffentliche Meinung seinen Standpunkt teilt. Es gilt also, die Öffentlichkeit auf das eigene Thema und Anliegen aufmerksam zu machen und den eigenen Standpunkt zu vermitteln. Dabei ist offensichtlich, dass einige Aktionen mehrere Funktionen einnehmen: So wird bei Demonstrationen oft die Politik zum Handeln aufgefordert; gleichzeitig wird die Öffentlichkeit adressiert: direkt durch Ansprache der Anwesenden, mehr aber noch durch die Schaffung eines berichtenswerten ›Events‹, das anschließend durch die Medien vermittelt wird. Die Armenier nutzen das Mittel der Demonstration immer wieder; der 24. Mai wird in Paris auch mit einem Umzug begangen.294 In Deutschland finden öffentliche Proteste – in wesentlich kleinerem Umfang – vor allem vor der türkischen Botschaft in Berlin statt.295 Ebenso fungieren die Gedenkfeiern in mehrere Richtungen: um des Gedenkens selbst Willen, aber auch als Einladung an die Politik und Medien, sich mit der Thematik zu befassen. Außerdem haben – seit den 1980er Jahren – armenische Initiativen immer wieder Aufrufe zur Genozidanerkennung in Tageszeitungen platziert. 296 Hier
293 Zit. nach Gorce, Bernard: »Notre combat ne s’arrête pas aujourd’hui«. Laurent Leylekian, porte parole de l’Observatoire arménien, in: La Croix vom 25.01.2012. 294 2013 führte dieser von der Place du Canada zu den Champs-Elysées, Anne Hidalgo legte zuvor als Stellvertreterin des Bürgermeisters von Paris einen Kranz am Komitas-Mahnmal nieder (Beobachtung d. Autorin). 295 Vgl. Krüger, Karen: Das armenische Zeichen, in: Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung vom 22.01.2012; von solchen Demonstrationen berichtete auch der ZADVorsitzenden Azat Ordukhanyan bei der jährlichen Sitzung des ZAD in Hamburg am 04.11.2012 (Notizen d. Autorin). Die erwähnte Großdemonstration mit 80.000 Teilnehmern in Bochum im Jahr 2010 ist hier nicht repräsentativ, da der ZAD zwar mit dazu aufgerufen hatte, es jedoch nicht primär um die armenischen Ziele ging. 296 Solidarité franco-arménienne: Pour la vérité sur le génocide arménien, in: Le Monde vom 10.06.1987; Solidarité franco-arménienne: 18 juin 1987. Le parlement européen reconnaît le génocide arménien, in: Le Monde vom 30.06.1987; Comité Helsinki France: 77 ans après 1915 est-il encore trop tôt pour que la Turquie reconnaisse le
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sind die Adressaten ebenfalls vielfältig: auf der einen Seite eine Maßnahme, um Druck auf die politischen Entscheider auszuüben, vermittelt sie gleichfalls dem breiten Publikum die Aktualität des Themas sowie Umfang der Unterstützer. Abgesehen von der Anzahl der Unterstützer ist deren Prominenz ein Faktor, der sich günstig auf die öffentliche Meinung auswirken kann. Die Zeitungsaufrufe erwähnen diese deshalb zumeist namentlich; berühmte Bürger armenischer Abstammung können das Thema einem breiten Publikum vermitteln.297 Darüber hinaus wirken einzelne Mitglieder der Gemeinschaft bzw. Vertreter der ›armenischen Sache‹ auch direkt auf das in den Medien vermittelte Bild ein, indem sie Zeitungsartikel und Leserbriefe verfassen, in denen sie die Problematik aus ihrer Sicht schildern, gegenläufige Aussagen kritisieren und auf ihre Forderungen verweisen.298 Schließlich kommt die essentielle Bedeutung des Internets bei der Meinungsbildung auch, wenn nicht besonders, in der Frage des Armeniergenozids zum Ausdruck. Die ›offiziellen Thesen‹ des türkischen Staates zur armenischen Frage finden sich nicht nur auf den Webseiten des türkischen Außenministeriums. Darüber hinaus existieren mehrere Plattformen in verschiedenen Sprachen, die teilweise dem politischen Austausch der türkischen Community allgemein dienen und auf denen die ›türkischen Positionen‹ verfochten werden. Bei tetedeturc.fr scheint es gar Hauptziel zu sein, gegen die armenische Gemeinschaft in Frankreich und ihre Forderungen zu propagieren.299 Dem steht auf armenischer Seite
génocide des Arméniens?, in: Le Monde vom 24.04.1992; Solidarité francoarménien-ne: 24 avril 1915 - 24 avril 1993. Les Arméniens attendent depuis 78 ans, in: Le Monde vom 24.04.1993; Création du comité francais pour la reconnaissance du génocide arménien, Unterstützungsaufruf, in: Le Monde vom 25.04.1996; Aznavour pour l'Arménie und Nouvelles d'Arménie Magazine: Reconnaissance du génocie arménien: le Jour J, in: Le Figaro vom 29.05.1998. 297 Neben Persönlichkeiten wie Aznavour (vgl. Kap. 4.2.1.1; Kap.: 4.2.4.2) trifft dies auch auf Robert Guédiguian zu, der erklärt: »L’arménité m’est venue avec la notoriété, car la communauté m'a mis alors en avant.« (zit. nach Michel, Olivier Arméniens. Le génocide que Marseille n’oublie pas, in: Le Figaro vom 02.04.2005). 298 Vgl. bspw. die Leserbriefe von Tessa Hofmann, Jochen Mangelsen und Henri Grigorjan in der tageszeitung vom 18.03.2005. 299 Vgl. z. B. The Armenian Allegation Of Genocide The Issue And The Facts, unter http://www.mfa.gov.tr/the-armenian-allegation-of-genocide-the-issue-and-the-facts. en.mfa. (Stand: 25.02.2014) Dort ist u. a. die Rede von 600.000 getöteten Armeniern in der Periode von 1912-1922. Denen werden für dieselbe Zeit 2,5 Millionen getötete Muslime gegenübergestellt. Es bleibt unerwähnt, dass in dieser Zahl die im Ersten
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eine Vielzahl »eigener« Webseiten gegenüber. Neben Nachrichtenportalen wie haypress.de oder der Online-Version von Nouvelles d’Arménie Magazine widmen sich viele Seiten auch ganz der Genozidfrage.300 Die virtuelle Auseinandersetzung hat inzwischen die sozialen Netzwerke erreicht: Auf Facebook kann man eine Reihe von Seiten abonnieren oder »liken«, die den einen oder anderen Standpunkt verfechten.301
Weltkrieg gefallenen türkischen Soldaten enthalten sind. Ein Vergleich zwischen Kriegsopfern und staatlich veranlassten Tötungen der eigenen Bürger scheint allerdings makaber. Außerdem wird behauptet, alle Beschuldigten seien nach dem Krieg durch ein englisches Kriegsgericht in Malta freigesprochen worden. Die Todesurteile gegen führende jungtürkische Funktionäre aufgrund des Vorgehens gegen die Armenier bleiben unerwähnt. Dieser Standpunkt wird in der pdf-Broschüre »Armenian allegations and historical facts« auf 73 Seiten ausgeführt. Sowohl in der Broschüre als auch direkt auf der Seite des Ministeriums sind Übersichten der durch armenische Terroristen getöteten türkischen Diplomaten und Funktionäre enthalten. Diese gehören selbstverständlich zum schwierigen Themenkomplex der armenischtürkischen Beziehungen, haben hingegen keine Relevanz für die Wahrheit der historischen Ereignisse von 1915, vgl. http://www.mfa.gov.tr/data/DISPOLITIKA/ ErmeniIddialari/Ermeni_ingilizce_Soru_CevapKitapcigi.pdf; die Übersicht aller Stellungnahmen und Publikationen des türkischen Außenministeriums findet sich unter
http://www.mfa.gov.tr/sub.en.mfa?c4aa6758-dde9-477c-98c6-335c94c2fe18,
darunter mehrere Stellungnahmen des amerikanischen Historikers Justin McCarthy, der für seine pro-türkischen Thesen bekannt ist. Anderslautende Forschungsergebnisse (und damit die große Mehrheit der internationalen Wissenschaft zu dem Thema) bleiben unerwähnt. Die Webseite tetedeturc.com hat vor allem Inhalte, die der Verbreitung des ›türkischen Standpunktes‹ dienen; darüber hinaus finden sich agitatorische Beiträge, die den Armeniern extreme antitürkische Ressentiments unterstellen (»Dossier Choc: Ils élèvent leurs enfants dans la haine«), verbreitete »turcophobie« anlasten und letztere mit Antisemitismus gleichsetzen. Schließlich werden außer der ›armenischen‹ auch die ›griechische‹, ›zypriotische‹ und ›kurdische Frage‹ behandelt (http://www.tetedeturc.com/home/). Stand der Websites jeweils 06.05.13. 300 Vgl. Kap. 3.2.1.1. 301 Facebook-Seiten/Gruppen, die den Armeniergenozid thematisieren und auf denen dessen Anerkennung gefordert wird (Beispiele, die Gesamtzahl liegt deutlich darüber): La Voix des Franco-Arméniens von 2012, 1004 ›Gefällt mir‹-Angaben, https:// www.facebook.com/ArmenianVoices; La Turquie doit reconnaître le génocide arménien vom 28.08.12, 704 ›Gefällt mir‹-Angaben, https://www.facebook.com/La TurquieDoitReconnaitreLeGenocideDesArmeniens; Génocide arménien ! Il faut
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4.2.5.6 Von politischer Kür zur Pflicht: elektoraler Druck Der potentielle Einfluss auf den Ausgang einer Wahl, gar die Aussicht, das »Zünglein an der Waage« zu sein, wird häufig als das größte Druckmittel einer sozialen Gruppe betrachtet. Vor allem zu Beginn des Jahres 2012 ist in deutschen Tageszeitungen oft auf Sarkozys vermeintliches Kalkül im Hinblick auf die anstehenden Präsidentschaftswahlen verwiesen worden, um die Gesetzesinitiative gegen die Leugnung von Genoziden und die diplomatische Krise zwischen Frankreich und der Türkei zu erklären.302 Tatsächlich ist das Abstimmungsverhalten im Hinblick auf den Genozid komplexer, als es zunächst den Anschein haben mag. Es setzt sich einerseits zusammen aus dem Stimmenpotential, also der Größe der Gruppe. In Abhängigkeit vom Wahlsystem ist die Stimmenkonzentration fundamental, also die Frage, ob die Gruppe regional einen signifikanten Anteil an Stimmen repräsentiert. Außerdem ist die Mobilisierungsfähigkeit wichtig – inwiefern sind die Anliegen der Gruppe für ihre Mitglieder wahlentscheidend? Dem gegenüber steht die Frage nach Anzahl und Organisation derjenigen potentiellen Wähler, die die Anliegen der Gruppe ablehnen. Für Frankreich ist hier zunächst die Anzahl der potentiell beeinflussbaren Wähler in den Blick zu rücken. Verbreitet wird von 500.000 armenischstämmigen Franzosen ausgegangen, um deren Stimmen es zu kämpfen gelte. Ein näherer Blick auf diese Zahl wirft Fragen auf. So schreibt Anahide Ter Minassian 1988, es sei »couramment admis«, dass es 300.000 Armenier in Frankreich gebe; gibt allerdings zu bedenken, dass eine Wissenschaftlerin mit strengen Maßstäben die Gruppe 1979 nur auf 150.000 Mitglieder schätzte. In einem Zeitungsartikel
qu’il soit reconnu!!!! vom 16.02.2010, 1386 ›Gefällt mir‹-Angaben, https://www. facebook.com/pages/G%C3%A9nocide-Armenien-Il-faut-quil-soit-reconnu-/353402 983695; Facebook-Seiten/Gruppen, die die Leugnung des Genozids an den Armeniern zum Inhalt haben (ebenfalls Beispiele): Il n’y a pas de génocide arménien, Gründungsdatum nicht bekannt, 1298 Mitglieder, https://www.facebook.com/ groups/238951426178688/; Je nie le génocide arménien, alors quand allez-vous venir me chercher? vom 23.01.12, 1077 ›Gefällt mir‹-Angaben, https://www. facebook.com/pages/Je-nie-le-g%C3%A9nocide-armenien-alors-quand-allez-vousvenir-me-chercher-/178680738899772; NON à une loi sur la négation du Génocide Arménien!, gegründet am 21.12.2011, https://www.facebook.com/groups/3322364 63456048/, Stand jeweils 06.05.13. 302 Vgl. Gottschlich, Jürgen: Völkermord im Wahlkampf; Jürgen Gottschlich über Frankreich und den Genozid an den Armeniern, in: tageszeitung vom 25.01.12 sowie Stefan Ulrich: Krieg der Worte, in: Süddeutsche Zeitung vom 22.12.12.
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von 1986 wird die Anzahl der Mitglieder der communauté arménienne in Frankreich auf 250.000 beziffert,303 1996 wird in Nouvelles d’Arménie Magazine vom armenischen Botschafter von 300.000 armenischstämmigen Franzosen gesprochen.304 Ab dem Jahr 2000 wird vorwiegend die Zahl von 450.000 genannt,305 teilweise wird aber weiterhin eine niedrigere Zahl von 300.000 Mitgliedern verwendet.306 Während im Laufe der Debatte Anfang 2012 die Zahl von 500.000 vorherrschend war, wird inzwischen auch von 600.000 ausgegangen.307 Für diese Entwicklung bieten sich mehrere Erklärungsansätze. Zunächst einmal ist die mangelnde Definition von »armenischstämmig« ausschlaggebend. Dabei ist nicht näher spezifiert, ob es sich um eine rein armenischstämmige Linie (wie sie offenbar der niedrigen Schätzung von 1979 zugrunde liegt) handeln muss, oder ob beispielsweise – als entgegengesetzter Extremfall – ein armenischstämmiger Großelternteil ausreichend ist, um ›dazuzugehören‹. Außerdem kann sich die Anzahl tatsächlich noch einmal durch Zuzug, beispielsweise nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion, verändert haben. Es ist allerdings unwahrscheinlich, dass dies ausreichen würde, die großen Unterschiede zu erklären. Auffällig ist schließlich, dass sich eine Zahl von annähernd einer halben Million im Kontext der Verabschiedung des Gesetzes zur Anerkennung des Genozids an den Armeniern etabliert hat. Zum etwa gleichen Zeitpunkt wird ein Vertreter der Gemeinschaft in den Medien mit der Aussage zitiert: »Désormais il y aura un ›vote arménien‹.«308 Die in den Medien kolportierte Zahl der Franzosen armenischer Abstammung steigt also mit der Politisierung der Gemeinschaft. Dabei ist nicht mehr zu identifizieren, ob die Zahl auf der Außendarstellung der Gemeinschaft beruht, die einen möglichst großen Druck auf die Politik ausüben will; von den die Anliegen der Gemeinschaft repräsentierenden Politikern stammt, um sich politisch zu legitimieren oder ob sie gar anderen Ursprungs ist
303 Vgl. Szlakmann, Charles: La quatrième génération de la diaspora, in: Le Monde vom 13./14. April 1986. 304 Vgl. NAM N°12, avril 96, S. 5. 305 Vgl. Langellier, Jean-Pierre: Les Arméniens, un mois après la reconnaissance du génocide, in: Le Monde vom 21.02.2001, Hervieu-Léger, Benoît: Génocide armé-nien - Blocage sénatorial, in: Réforme N° 2872 vom 27.04.2000 sowie Lacombe, Marcia: Le génocide arménien aux portes du Sénat, in: Libération vom 21.03.2000. 306 Castagnet, Mathieu: Le long combat des Arméniens de France, in: La Croix vom 18.01.2001. 307 Vgl. Boyer in: JO-2011, S. 9113. 308 Ara Krikorian, zitiert nach Benoît Hervieu-Léger (2000), a.a.O.
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und von den beiden genannten Gruppen aufgegriffen wurde. Gleichwohl bleibt festzuhalten, dass die Anzahl der Gruppenmitglieder keine feste Größe ist, sondern abhängig von Definitionskriterien und die Auslegung offenbar in Abhängigkeit vom politischen Bedarf erfolgt. Über die Gesamtzahl der Gemeinschaftsmitglieder hinaus spielt deren regionale Verteilung eine Rolle. Die gesamte Anzahl kann allenfalls bei Präsidentschaftswahlen als Faktor von Bedeutung sein, da deren Auswertung landesweit erfolgt. Hingegen sind die Kandidaten für das Parlament (in geringerem Maße – aufgrund der indirekten Wahl – auch für den Senat) von den Verhältnissen in ihrem Wahlkreis abhängig. Hier kommt die starke regionale Konzentration der Armenier in Frankreich zum Tragen. So gelten in Valence, besonders aber in Marseille, 10% der Einwohner als armenischen Ursprungs.309 Ihr Gewicht ist bei Wahlen daher deutlich stärker als auf nationalem Niveau, wo sie nur 0,5 – 1% der Bevölkerung ausmachen. Für die Verbände gilt es hingegen, neben dem Eindruck eines besonders großen Stimmenpotentials denjenigen möglichst großer Entschlossenheit im Hinblick auf das Wahlverhalten zu vermitteln. Dies tun sie einerseits, indem sie Wahlempfehlungen an die Gemeinschaft aussprechen.310 Darüber hinaus kolportieren sie in Politik und Medien, dass die Haltung zu ihren Forderungen für die armenischstämmigen Wähler entscheidend sei. Dies gilt für »Alexis Govciyan, président du comité du 24 avril, qui ne cache pas que la question aurait été au centre du choix des 450.000 Français d’origine arménienne pour les prochaines élections.« 311 Mourad Papazian räsonniert ein Dutzend Jahre später ähnlich: »›Les Arméniens ont cru en 2007 à la promesse du candidat Sarkozy, je demande qu’il respecte sa promesse, son engagement‹, a-t-il [Mourad Papazian, d. Autorin] répété avant de, lui aussi, parler élections : ›nous représentons 500.000
309 De Royer, Solenn: Turquie. Arménie. En France, les Turcs et les Arméniens veulent cohabiter en paix. Les Arméniens - ou Français d'origine arménienne - craignent que le débat sur l'adhésion de la Turquie à l'Europe ne suscite des tensions, in: La Croix vom 18.01.05; Michel: Arméniens. Le génocide que Marseille n'oublie pas, a.a.O. 310 1993 sogar gegen die klassicherweise ›verbündeten‹ Sozialisten, vgl. Castagnet (2001), a.a.O.: »En 1993, certaines associations arméniennes appellent clairement à voter contre des députés socialistes.« 311 Castagnet (2001), a.a.O. ; dort auch im Hinblick auf die Wahlempfehlungen armenischer Organisationen: »En 1993, certaines associations arméniennes appellent clairement à voter contre des députés socialistes.«
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électeurs‹.« 312 Dieses Gewicht strategisch zu ignorieren, sei naiv, meinte Devedjian in der Vorbereitungsphase der Loi Boyer: »Wahlen erlauben es, gewisse Anliegen voranzutreiben.« 313 Hinsichtlich gegenläufigen Drucks durch andere soziale Gruppen ist zu vermerken, dass den armenischstämmigen eine etwa gleich große Gruppe türkischstämmiger Franzosen gegenübersteht. Auch wenn diese eigene Regionen haben, in denen sie konzentriert wohnen,314 haben sie allerdings bis Anfang 2012 kaum versucht, Gegendruck auszuüben.315 Es bleibt also festzuhalten, dass die Möglichkeit für die Armenier, zur Durchsetzung ihrer Anliegen elektoralen Druck auszuüben, nicht allein durch ihre Anzahl bedingt sind. Tatsächlich ist ihre Gruppengröße in Frankreich nicht sehr unterschiedlich von der der türkischen Gemeinschaft. Vielmehr sind sie durch ihre regionale Konzentration in der Lage, Advokaten zu gewinnen, die ihre Anliegen politisch einbringen und verteidigen. Durch ihre Präsenz in Politik und Medien gelingt ihnen zudem eine Außendarstellung, in der die Gruppe möglichst groß erscheint und ihre Anliegen wahlentscheidend für ihre Mitglieder sind. Dabei profitieren sie auch von der relativ schwachen Organisation und Mobilisierung der türkischstämmigen Franzosen. In Deutschland hingegen ist dieses Argument kaum ausgeprägt. Weder bundesweit noch an einzelnen Orten stellen die Armenier eine kritische Wählermasse dar. Demgegenüber über ist die Anzahl der türkischstämmigen Wähler beträchtlich und ihr Organisationsgrad hoch. Bislang konnten die Armenier in Deutschland deshalb nur auf ihre Argumente verweisen und auf die oben dargestellten Wege zurückgreifen, um politische Repräsentanten für ihre Anliegen zu finden. In der folgenden Rezeptionsanalyse des armenischen ›Erinnerungslobby-
312 Gabriel Vedrenne mit Catherine Boullay: Arménie: le double discours de Sarkozy vom 07.11.2011, unter http://www.europe1.fr/International/Armenie-le-double-discours-de-Sarkozy-756227/, Stand: 06.05.13. 313 Zit. nach Altwegg, Jörg: Wer erinnert, wird gewählt. Frankreichs Kandidaten für das Elysée und die Armenier, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 18.10.2011. 314 Diese sind nach Angaben Diefenbachers das Elsass und die Region Paris (Interview mit Michel Diefenbacher vom 08.04.2013). 315 Dann formierten sie sich, um gegen das Boyer-Gesetz zu protestieren, vgl. Le Monde vom 24.01.12 sowie Marc Sémo: Les Français d’origine turque font bloc, in: Libération vom 23.01.12; außerdem die Facebook-Seite Mobilisation contre projet de loi du génocide arménien vom 18.12.11 (851 ›Gefällt mir‹-Angaben), https:// www.facebook.com/pages/Mobilisation-contre-projet-de-loi-du-g%C3%A9nocidearm%C3%A9nien/245259048875389 (Stand: 06.05.13).
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ings‹ in Frankreich und Deutschland wird deshalb zu beachten sein, auf welchem Weg welcher Grad an Repräsentanz und Durchsetzung erreicht werden kann. 4.2.5.7 Fazit In der Betrachtung der Durchsetzungsbestrebungen der Armenier in Deutschland und Frankreich sind recht ähnliche Vorgehensweisen deutlich geworden. Dabei hat sich herausgestellt, dass der Erzeugung politischen Drucks zunächst die Homogenisierung der Ziele und Forderungen der Gruppe vorausgehen muss. Alsdann werden Kontakte geknüpft und versucht, den Erinnerungsgegenstand im öffentlichen Raum präsent zu machen – physisch (durch z. B. Gedenksteine) und durch Gedenkveranstaltungen. Viele dieser Maßnahmen zielen auf eine Sensibilisierung von Entscheidungsträgern und Öffentlichkeit. Erst ein Problembewusstsein außerhalb sowie eine Mobilisierung innerhalb der Gruppe erlauben es schließlich, die eigene Wählermasse als Gewicht in die Waagschale zu werfen. Die Armenier in Frankreich bzw. die armenischstämmigen Franzosen sind dabei bereits weiter fortgeschritten: Nicht nur haben sie der armenischen Gemeinschaft in Deutschland ihre schiere Größe voraus, sie haben auch lange vorher begonnen, sich nach klaren Zielen zu orientieren und aufzustellen. Darin wurden sie von bereits in den 1990er Jahren von Politikern, die sich für die ›armenische Sache‹ interessieren, ermuntert: »S’il n’y a pas de mobilisiation, nous ne pouvons nous substituer aux intéressés. [...] Il faut qu’il y ait davantage de pression de la diaspora.«316 Die in Frankreich sehr starke sozialistische Daschnak-Partei hat diese Idee aufgegriffen und vorangetrieben, auch über das französische Niveau hinaus. So bekräftigte ihr erster Sekretär Mourad Papazian bereits 2001: »Nous sommes en train de mettre en place un bureau de lobbying avec des professionnels pour assurer la défense de nos intérêts et mener le combat pour la reconnaissance du génocide arménien auprès des grands pays [...].«317 Inwiefern sich dieser zeitliche Vorsprung bei Organisation und Mobilisierung in der politischen Umsetzung der armenischen Ziele widerspiegelt, wird in der folgenden Analyse zu beleuchten sein.
316 François Rochebloine, Interview mit F. Rochebloine [propos receuillis par Ara Toranian], in: NAM N°11, März 1996, S. 26-27, hier S. 27. 317 Le défi démocratique, Interview mit Mourad Papazian [propos receuillis par Ara Toranian], in: NAM N°63, April 2001, S. 14-15, hier S. 15.
5
Die Integration des ›armenischen Gedächtnisses‹
5.1 F RANKREICH : R EZEPTION IN Ö FFENTLICHKEIT
UND
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5.1.1 Rekapitulation: ›Verortung‹ des ›armenischen Gedächtnisses‹ in Frankreich Die Forderungen der Armenier in Frankreich konnten in den vergangenen Jahren zum Teil durchgesetzt werden. Zunächst ist hier die Anerkennung des Genozids durch das Gesetz vom 29. Januar 2001 zu nennen. Dieses entspricht insofern weitgehend den Forderungen, als es die Völkermord-Bezeichnung offiziell festhält. Zwar wird darin nicht die Türkei beziehungsweise das Osmanische Reich als ›Schuldiger‹ benannt; hingegen wird die Tatsache, dass es sich um einen Akt mit Gesetzeskraft handelt, gern positiv hervorgehoben.1 Ein zentrales Denkmal besteht ebenfalls an einem öffentlichen Ort in der Hauptstadt. Überdies gehört der Armeniergenozid seit 2012 auch zum offiziellen Lehrplan und wird im Geschichtsbuch behandelt. Demgegenüber ist die strafrechtlichen Verfolgung der Genozidleugnung und damit die Ausweitung der Loi Gayssot auf alle in Frankreich anerkannten Völkermorde zwar wiederholt (2006, 2010 und 2011) Objekt von Gesetzesinitiativen gewesen,2 konnte bislang allerdings nicht Gesetzeskraft erlangen. Ebenso bleibt das Gedenken am 24. April ambivalent: Auf lokaler Ebene finden zahlreiche Veranstaltungen statt, im Rahmen derer örtliche Politiker Reden halten. Die von den armenischen Verbänden geforderte Teilnahme des Staatspräsidenten an der
1
So auch in Interview 9 vom 26.02.2013.
2
Vgl. Woitier: 13 ans de blocage... (2011), a.a.O.
186 | STRATEGIEN DES G EHÖRTWERDENS
zentralen Gedenkfeier in Paris bleibt hingegen eine Ausnahme (Chirac 2005, Sarkozy 2012).3 5.1.2
Entwicklung der Positionen auf der Rezeptionsseite
5.1.2.1 Politik Während der Genozid an den Armeniern noch unter der Präsidentschaft Giscard d’Estaings politisch nicht thematisiert wurde, erklärte François Mitterrand im Wahlkampf 1981, sich für eine Anerkennung einsetzen zu wollen.4 Darin spiegelt sich auch das besondere Verhältnis des Parti Socialiste zu den armenischen Organisationen wider: Dieser hatte bereits lange mit diesen, insbesondere mit der sozialistischen Daschnak-Partei, ein enges Verhältnis unterhalten.5 Als erster Präsident sprach Mitterrand erstmals offiziell von einem »Genozid«, als er sich bei einem Weihnachtsbesuch in der Stadt Vienne an die armenische Gemeinde wandte: »Il n’est pas possible d’effacer les traces du génocide qui vous a frappés. Cela doit être inscrit dans la mémoire des hommes et ce sacrifice doit servir d’enseignement aux jeunes en même temps que de volonté de survivre afin que l’on sache, à travers le temps, que ce peuple n’appartient pas au passé, qu’il est bien du présent et qu’il a un avenir.«6
Diese Ansprache mag auch eine Reaktion auf die terroristischen Anschläge armenischer Organisationen in Frankreich gewesen sein, darunter das fatale Bombenattentat am Flughafen Paris-Orly am 15. Juli 1983 mit neun Toten. Zumindest stellt Ter Minassian 1994 fest: »Les gestes français et internationaux entre 1984 et 1987 ont calmé le jeu.«7 Gleichzeitig besann Mitterrand sich damit auf
3
Vgl. Eudes, Yves: Pour la première fois, Jacques Chirac participe à la commémoration du génocide arménien, in: Le Monde vom 24./25.04.2005.
4 5
Vgl. Rapport Rouquet (1998), S. 31. P. J.: Les revendications... (1986), a.a.O. sowie Brocard, Véronique: Mitterrand aux Arméniens: je vous ai compris, comprenez-moi, in: Libération vom 09.01.1984; Michel Marian in Marian, Michel und Christian Makarian: Les Arméniens de France
et la Turquie.
La possibilité d’un dialogue?, Note franco-turque N°5, Institut français des relations internationales [Programme Turquie contemporaine], Janvier 2011, S. 9.
6
Zitiert nach: Rapport Rouquet (1998), S. 32; vgl. auch Brocard: Mitterrand aux Arméniens... (1984), a.a.O.
7
Zitiert nach: Un entretien avec Anahide Ter-Minassian et Claude Mutafian, in: Le Monde vom 26.04.1994 (Propos receuillis par Jean-Pierre Langellier, Jean-Pierre Pé-
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sein Wahlkampfversprechen. Seine Aussagen wurden von vielen Mitgliedern der armenischen Gemeinde zunächst als Anerkennung aufgefasst und mit großer Zustimmung aufgenommen.8 Nachdem bereits diese Geste Mitterrands zu diplomatischen Zwischenfällen im französisch-türkischen Verhältnis geführt hatte,9 betrieb der Präsident indes keine weiteren Schritte in Richtung einer offiziellen Anerkennung und bat die armenische Gemeinde hierfür um Verständnis.10 Politisch hatte sich zu dieser Zeit bereits ein grundsätzlicher Konsens hinsichtlich der Forderungen der Armenier gebildet: »En fait, sur les aspirations propres aux Arméniens dans leur ensemble, il y a, aujourd’hui, unanimitié des partis politiques.«11 Entsprechend bestand, bereits vor der Autonomie des armenischen Staates, im Parlament eine »Groupe d’études de la question arménienne«,12 die 1994 zur »Groupe d’amitié France-Arménie« wurde. Ihre Vorsitzenden François Rochebloine, Jean-Paul Bret und René Rouquet haben sich in Reden, Parlamentsdebatten, Interviews und durch Parlamentsberichte 13 besonders für Armenien und die armenische Gemeinde in Frankreich betreffende Anliegen eingesetzt. In den 1990er und 2000er Jahren standen derlei Bestrebungen, sofern sie auf die offizielle Anerkennung des Genozids zielten, in Opposition zu den Wünschen der Regierung bzw. des Präsidentenlagers. Dies wurde erstmals manifest, als nach dem Wahlgewinn der Sozialisten 1997 bei den Législatives deren Abgeordnete einen diesbezüglichen Gesetzesantrag stellten, gegen den ausdrücklichen Wunsch der Regierung Jospin.14 Die Position der Regierung änderte sich in
roncel-Hugoz); vgl. dazu auch die Aussage, dass junge Armenier die Anerkennung des Genozids durch das Europäische Parlament teilweise als positive Folge der terroristischen Anschläge sehen: De Chazournes, Renaud: Les Arméniens, un peuple écartelé, in: Quotidien de Paris vom 16.6.1988. 8
Vgl. Alexanian, Jacques der: Arménies, Arménie. Un nom pour héritage 1987-2000, Paris et al.: L’Harmattan 2001, S. 284.
9
Vgl. ebd., S. 284 f.
10 Brocard: Mitterrand aux Arméniens... (1984), a.a.O. 11 P. J.: Les revendications... (1986), a.a.O. 12 Interview mit François Rochebloine vom 15.05.2013. 13 Siehe Rapport Rouquet (1998); des weiteren die zahlreichen Zitate der Genannten im Rahmen der Auswertung der Parlamentsdebatten; François Rochebloine ist darüber hinaus Urheber des Anerkennungsgesetzes von 2001 (die ursprüngliche, vom Senat nicht bestätigte Gesetzesinitiative von 1998 stammt von René Rouquet). 14 Vgl. Roquelle, Sophie: L'Assemblée reconnaît le génocide arménien, in: Le Figaro vom 18.01.2001.
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dieser Sache lange nicht: in den Parlamentsdebatten 1998, 2001 und 2006 hat deren Beauftragter sich stets gegen solcherlei Vorhaben ausgesprochen. Diese Zurückhaltung galt auch für den Präsidenten Jacques Chirac, bis er 2005 erstmals am 24. April an einer offiziellen Gedenkfeier teilnahm. Nicolas Sarkozy wiederum hatte zwar während seines Wahlkampfes 2007 sich für ein Gesetz ausgesprochen, das die Leugnung des Genozids an den Armeniern unter Strafe stellt. Im Amt angekommen, unternahm jedoch auch er lange keine konkreten Schritte. Wie auf WikiLeaks veröffentlichten Dokumenten zu entnehmen ist, hat im Gegenteil ein französischer Gesandter der Türkei versichert, Sarkozy werde sich dafür einsetzen, dass ein solches Gesetz »[im Senat stirbt]«.15 Die Wende trat mit Sarkozys Armenien-Reise im Herbst 2011 ein. Vor Ort erklärte der Präsident, noch vor Ende seines laufenden Mandats ein entsprechendes Gesetz auf den Weg zu bringen. Beim in der Folge im Dezember 2011 von Valérie Boyer dem Parlament vorgelegten Entwurf wurde somit erstmals ein aus den Forderungen der associations arméniennes hervorgegangenes Vorhaben von Präsident und Regierung ausdrücklich unterstützt. Diese Unterstützung erstreckte sich indes nicht auf das Außenministerium. Das Urteil des französischen Außenministers Alain Juppé, bei dem Gesetz handele es sich um eine »connerie sans nom«16, ist der bislang harschste Ausdruck von Kritik seitens der französischen Diplomatie, wenn es um Gesetzesinitiativen bezüglich des Armeniergenozids geht. Dabei scheint die Vehemenz der Ablehnung mit der Intensivierung der Durchsetzungsbestrebungen in Frankreich zu korrespondieren. Mitte der 1990er Jahre vertraute der damalige französische Außenminister Hervé de la Charette noch auf die Möglichkeit einer vollständigen Externalisierung der Frage: »Nous considérons aujourd’hui que cette question doit être traitée sans passion. L’Arménie et la Turquie ont toutes deux intérêt à renouer le dialogue. Il n’appartient qu’à elles d’en déterminer les modalités.«17 Im Angesicht der offiziellen Anerkennung erklärte sein Nachfolger Hubert Védrine bereits deutliche Vorbehalte gegenüber einem solchen Projekt18 und warnte
15 Zitiert nach Biseau, Grégoire und Juliette Rabat: Le parcours sinueux d’une loi biaisée d’avance, in: Libération vom 22.12.2011. 16 In: Le Canard Enchaîné vom 21.12.2011, zitiert nach: Répères. Arménie. Génocide, in: Libération vom 22.12.2011. 17 Zitiert nach Interview mit Hervé de la Charette [propos receuillis par Ara Toranian], in: NAM N°17, November 1996, S.16-18, hier S. 17. 18 Vgl. Lacombe, Marcia: Le Sénat reconnaît le génocide arménien, in: Libération vom 09.11.2000.
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die Abgeordneten vor den »incidences sur la diplomatie française«19, falls es angenommen würde. Alain Juppé teilte diesen Standpunkt; in Anbetracht der offensichtlichen Wirkungslosigkeit seiner Einwände schloss er Anfang 2012 allerdings mit einem Kraftausdruck: »Aujourd’hui, je suis dans une situation où je ferme ma gueule.«20 Nachdem 2012 der Verfassungsrat das Gesetz für verfassungswidrig erklärt hat und mit François Hollande ein neuer Präsident gewählt worden ist, ist die Frage nach dem politischen Umgang mit dem Genozid an den Armeniern wieder offen. Obwohl Hollande der Ruf eines verlässlichen Unterstützers armenischer Anliegen vorauseilt,21 betreibt er bislang öffentlich weder eine erneute Gesetzesinitiative, noch hat er an den Feierlichkeiten zum 24. April persönlich teilgenommen. Dass Ara Toranian, Chefredakteur der Zeitschrift Nouvelles d’Arménie Magazine, diesen Umstand in seiner Rede vor dem Denkmal an der Place du Canada umgehend aufgriff und an den Präsidenten appellierte, seine Versprechen zu halten und fortan auch physisch an der Seite der Armenier zu stehen,22 lässt erwarten, dass der Genozid an den Armeniern das politische enjeu bleibt, das er seit über dreißig Jahren in Frankreich ist.23 5.1.2.2 Medienpositionen Bereits zu Beginn der 1980er Jahre setzte in den französischen Medien eine regelmäßige Berichterstattung zum Armeniergenozid ein.24 Dies kann auf die Erfahrung armenischen Terrors auf französischem Boden zurückgeführt werden,
19 Zitiert nach Roquelle (2001), a.a.O. 20 Zitiert nach L’Humanité vom 03.02.12 (aus der Rubrik »Zitate der Woche«). 21 Vgl. Discours de Mourad Papazian, Premier secrétaire de la FRA Dachnaktsoutioun (Parti Socialiste Arménien) le mardi 3 avril 2007 - Alfortville (94) unter http://www. cdca.asso.fr/s/detail.php?r=9&id=471, Stand: 13.08.2013, in dem Papazian das langjährige Engagement François Hollandes für die cause arménienne beschreibt; vor den Präsidentschaftswahlen 2012 lobt die Daschnak-Partei in Frankreich auf ihrer Webseite »Un engagement en faveur de la Cause Arménienne sans précédent« seitens Hollande (http://www.fra-france.com/print_article.php?id=727 vom 03.05.2012, Stand: 13.08.2013). 22 Rede des NAM-Chefredakteurs Ara Toranian zur Gedenkfeier des Genozids an den Armeniern am 24.04.2013 in Paris, Notizen der Autorin. 23 Vgl. Ter Minassian (1988), S. 230 f. 24 Einen guten Überblick über die Berichtssituation geben die ›Dossiers de Presse‹ der Bibliothek des Institut d’Études Politiques de Paris, die auch für diese Arbeit gesichtet wurden.
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welcher schlagartig das Rampenlicht auf die armenische Frage geworfen hatte. Zudem ist dadurch die armenische Gemeinschaft in Frankreich ins Zentrum der Aufmerksamkeit gerückt. Deren überwiegende Ablehnung der Terrormaßnahmen unter Betonung ihrer gelungenen Integration in Frankreich führte zu einer positiven Außendarstellung, auf deren Basis auch die schwierige Vergangenheit der Armenier neue Aufmerksamkeit erfuhr. Zugleich wurde die Thematik zu dieser Zeit erstmals Objekt politischen Diskurses und politischer Forderungen.25 Dass es um diese nach Abklingen der Terrorattacken zunächst ruhig geworden war, zeigt der Graph in Abbildung 3. Zu Beginn der 1990er Jahre taucht der Begriff »génocide arménien« nur noch vereinzelt in Artikeln der französischen Tagespresse auf. Indes hat er sich bis zum gegenwärtigen Zeitpunkt zunehmend als Themenkomplex etabliert. Einigen wenigen bis gar keinen Artikeln zu dem Thema zu Beginn der 1990er Jahre standen in einigen ›Spitzenjahren‹ mehrere hundert in den für die Untersuchung ausgewählten Tageszeitungen gegenüber. Der Verlauf des Graphen zeigt, dass das Thema 1998 mit der Gesetzesinitiative zur offiziellen Anerkennung des Genozids naturgemäß an medialer Aufmerk-samkeit gewinnt. Diese steigt jedoch noch an bzw. verdoppelt sich, als der Text 2000 schließlich vom Senat bestätigt und 2001 endgültig vom Parlament verabschiedet wird. Den quantitativen Höhepunkt der Berichterstattung erreicht das Thema 2006, als zum ersten Mal konkret die Leugnung des Genozids unter Strafe gestellt werden soll. Doch bereits in den beiden Jahren zuvor ist stark über das Anliegen berichtet worden: insbesondere im Kontext des europäischen Verfassungsprojekts und der Aufnahme der Beitrittsverhandlungen mit der Türkei ist deren Weigerung, den Völkermord an den Armeniern anzuerkennen, zunehmend zum Politikum geworden. Darüber hinaus ist das Thema der »Lois mémorielles« bereits durch das Gesetz vom 23. Februar 2005 brisant geworden: die darin festgeschriebene Würdigung der positiven Leistungen der Kolonisation im französischen Geschichtsunterricht hatte die Debatte um die Rolle der Politik in Geschichtsschreibung und -vermittlung angefacht.
25 Vgl. [o. A.]: Les partis français et la cause arménienne, in: Le Monde vom 14. Juni 1984; [o. A.]: La France vous aidera à faire triompher votre cause déclare M. Gaston Defferre aux Arméniens, in: Le Monde vom 27.04.1982; P. J.: Les revendications arméniennes... (1986), a.a.O.
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Abbildung 3: Entwicklung der Berichterstattung – Frankreich gesamt*
*Der Graph zeigt die Anzahl an Artikeln pro Jahr in den Zeitungen Libération, Le Monde, Le Figaro, L’Humanité und La Croix an, die den Begriff »génocide arménien« enthalten. Quelle ist die Datenbank Europress. Augenscheinliche Dopplungen bzw. Mehrfachnennungen (sofern der Titel eines Artikels mehrfach hintereinander auftauchte) traten in der Datenbank vereinzelt auf und wurden bereinigt.
Wenn die Berichterstattung nach 2006 auch massiv abnimmt, so fällt doch auf, dass sie nicht mehr ganz verschwindet und sich weiterhin auf dem Niveau von 1998 bewegt. Als das Thema Ende 2011 wieder an Aktualität gewinnt, steigt die Berichterstattung nicht mehr so stark an wie 2006. Neben einer Änderung des Kontextes (die o. g. verstärkenden Faktoren waren weggefallen) kann darin auch eine gewisse Übersättigung gesehen werden.26 Hier wird eine Besonderheit der Wahrnehmung des Armeniergenozids in der französischen Öffentlichkeit deutlich: Im Rahmen übergreifender, aktueller Diskussionen wie des EU-Beitritts der Türkei erfährt das Thema eine Berücksichtigung und wird als Problem wahrgenommen. Für sich selbst und als historisches Ereignis hingegen betrachtet, fehlt in den Augen der Leser offenbar der kontroverse Aspekt, der überhaupt erst einen politischen Handlungsbedarf notwendig macht. Der Vergleich der einzelnen Zeitungen für die ersten Halbjahre 2005 und 2012 – die für den Korpus ausgewählten Texte – bringt leicht unterschiedliche Schwerpunkte zum Vorschein. Konsens ist zunächst die Verwendung des Begriffs »génocide arménien«; in keinem Beitrag wird die Bezeichnung als Völkermord in Frage gestellt. Unterschiede bestehen in der Häufigkeit der Berichterstattung sowie in der Kontextualisierung. 26 Vgl. zu den Positionen der Leserbriefe die folgenden Ausführungen des Kapitels.
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Abbildung 4: Frankreich – Korpus nach Zeitungen
*Berücksichtigt sind alle Artikel der fünf Tageszeitungen im Zeitraum 01.01.2005 – 31.07.2005 bzw. 01.11.2011 – 30.06.2012, die sich explizit mit dem Thema des Armeniergenozids befassen.
Auffällig ist die unterschiedliche Anzahl von Artikeln im Korpus 2012 und 2005. 49 untersuchten Beiträgen 2005 stehen 2012 92 gegenüber, obwohl 2005 insgesamt mehr Beiträge den Begriff »génocide arménien« enthielten. Diese Differenz erklärt sich kaum aus der jeweils unterschiedlichen Periodendauer (7 Monate 2005 vs. 8 Monate 2012). Vielmehr konzentriert sich 2012 die Berichterstattung auf das erste Halbjahr, die Beiträge erläutern fast ausschließlich Umstände von und Reaktionen auf die Loi Boyer; 2005 hingegen sind sie auf den Jahresverlauf verteilt. Darüber hinaus wurden für den Korpus nur solche Artikel nach Argumenten untersucht, die den Armeniergenozid als zentrales Thema haben. Hier wird deutlich, dass 2005 wesentlich mehr Beiträge den génocide arménien nur kurz, am Rande oder als Argument für andere Themen verwenden. 2005 reflektiert La Croix die Armenierfrage am stärksten im Licht der lokalen armenischen Gemeinschaften in Frankreich. Auch Le Figaro berichtet von der Identität und Kultur der Franzosen armenischer Abstammung, trägt in diesem Kontext jedoch mehr die Debatte um die EU-Reife der Türkei aus. Einen Schritt weiter geht Le Monde, wo über diese Themen hinaus die Armenierfrage als Gegenstand der internationalen Beziehungen, dabei auch als theoretisches Problem der Konfrontation von östlichen und westlichen Werten beleuchtet wird.27 Beim Vergleich der jeweils eher zurückhaltenden Berichterstattung von L’Humanité und Libération fällt auf, dass in L’Humanité wiederum die Erklärungen und Referenzen in Frankreich gesucht werden – so wird der Chefredakteur von NAM, Ara Toranian, dazu befragt (der erklärt, die türkische Republik
27 Vgl. Minassian, Gaïdz: Bataille mondiale sur les normes (2012), a.a.O.
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sei »[auf den Leichen des armenischen Volkes]«28 erbaut), während Libération die innere Situation in der Türkei in den Vordergrund rückt (Exemplarisch wird der Schriftsteller Etyen Mahcupyan, in Istanbul lebender Armenier, mit den Worten zitiert: »La population turque n’a pas encore pleinement conscience du problème et, dans un tel contexte, imposer une solution ne peut que susciter des réactions hostiles.«29). Erstaunlich selten sind die Verweise auf die Haltung anderer Staaten: die Bundestags-Resolution zum Völkermord an den Armeniern findet nur in La Croix und Libération Erwähnung,30 wobei lediglich in letzterer angeregt wird, zu überlegen, welche Lehren auch andere Länder, Frankreich eingeschlossen, aus der selbstkritischen Haltung des Bundestags in dieser Frage ziehen können. Le Monde verweist ausschließlich auf die Anerkennung des Genozids durch den polnischen Sejm und auf die darauf folgende »Polemik« seitens der Türkei.31 Abbildung 5: Positionen zur Loi Boyer in der Tagespresse 2012
(a) Überwiegend neutraler Eindruck wird erzeugt durch die Gegenüberstellung zahlreicher wörtlicher Zitate (b) Viel Berichterstattung über Reaktionen seitens und Entwicklungen in der Türkei (hier als »neutral« gewertet) Insgesamt: Beiträge, in denen ganz überwiegend eine kritische oder befürwortenden Position (auch durch wörtliche Zitate) wiedergegeben wurde, wurden der jeweiligen Kategorie zugeordnet.
28 Zitiert nach: »Justice commence à être rendue aux survivants et à ce peuple«, Interview mit Ara Toranian, in: L’Humanité vom 23.04.2005. 29 Zitiert nach: Duran, Ragip: Quand la Turquie redécouvre sa mémoire arménienne in: Libération vom 10.02.2005. 30 Vgl. Notiz in der Rubrik Brève – Monde, in: La Croix vom 20.06.2005 und Dupuy, Gérard: Événement: Non négociable, in: Libération vom 25.04.2005. 31 Vgl. Notiz in der Rubrik International, in: Le Monde vom 23.04.2005.
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2012 wird die ›Armenierfrage‹ kaum im Kontext anderer Diskussionen aufgebracht, sondern zumeist das Gesetzesvorhaben diskutiert, mit dem die Leugnung des Genozids unter Strafe gestellt werden soll. Dabei fällt die tendenziell negative Haltung in der Tagespresse auf. An dem Vorhaben wird nicht nur der unterstellte elektorale Hintergedanke kritisiert, 32 sondern auch die Einschränkung eines Grundrechtes (der Meinungsfreiheit) zugunsten der Bewertung eines historischen Ereignisses33 sowie schließlich die Politisierung eines eigentlich außenpolitischen Themas 34 und die schlechte Durchführung des Projektes, die aus Sicht vieler Kommentatoren einen negativen Eindruck hervorheben musste. So attestiert La Croix dem Gesetz »un long et chaotique parcours«35 und bewertet die Entscheidung des Conseil Constitutionnel als »nouveau coup de théâtre«36, während Libération vom »parcours sinueux d’une loi biaisée d’avance« 37 spricht. Fürsprache erhält die Initiative von politischer Seite durch Patrick Devedjian, der sie in der Presse verteidigt, sowie durch einige Menschenrechtler und Dozenten.38 Nichtsdestoweniger scheint die Leserschaft die Redaktionsmeinungen insofern zu teilen, als dass zwar die historischen Ereignisse nicht infrage gestellt werden, das Gesetz jedoch überwiegend mit Kritik und Verwunderung
32 Vgl. Benbassa, Esther: Lois mémorielles et clientélisme électoral, in: Libération vom 17.01.2012 sowie Gautheret, Jérôme: Lois mémorielles, la folle mécanique, in: Le Monde vom 05.01.2012. 33 Vgl. u. a. Iacub, Marcela: Négationisme à répétition, in: Libération vom 04.02.12; Semo, Marc: La peur de l'effet boomerang. Pour les intellectuels turcs, la loi Boyer va accentuer la pression du gouvernement, in: Libération vom 22.12.2011. 34 Mit diesem Argument werden Christian Lequesne, Direktor des Centre d’études et de recherches internationales (CERI) und Pascal Boniface, Direktor des Institut de Relations Internationales et Stratégiques (IRIS) zitiert, in: La Croix vom 18.04.2012. 35 Castagnet, Mathieu: La loi sur les génocides attaquée devant le Conseil constitutionnel, in: La Croix vom 01.02.2012. 36 Ders.: Le Conseil constitutionnel censure la loi sur la négation du génocide arménien, in: La Croix vom 29.02.2012. 37 Biseau / Rabat: Le parcours sinueux... (2011), a.a.O. 38 Vgl. Devedjian, Patrick: Le négationnisme ravive les souffrances du génocide arménien, in: Le Monde vom 01.01.2012 sowie ders.: Un peuple a le droit d'exprimer une vision de son histoire, in: La Croix vom 17.01.2012, außerdem Jonanneau, Bernard: Poursuivre les négationnistes, in: La Croix vom 27.02.2012 sowie Louise L. Lambrichs: Le Conseil constitutionnel a décidé de rendre le négationnisme licite, in: Le Monde vom 06.03.2012.
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als scheinbar unnötiges Manöver aufgenommen wird. 39 Ein möglicher Erklärungsansatz für dieses Unverständnis seitens des Großteils der Bevölkerung findet sich in einer der ersten Ausgaben von Nouvelles d’Arménie Magazine: Dort wurde 1996 eine Umfrage publiziert, nach der 69 Prozent der Franzosen – trotz der damals geringen Berichterstattung – angaben, über den Völkermord an den Armeniern informiert zu sein und eine der die Mehrheit sich für eine offizielle Anerkennung des Genozids an den Armeniern aussprach. »L’opinion française ne se satisfait plus du prêt à penser. Et elle s’exprime massivement en faveur d’une cause qui – paradoxalement – bénéficie peut-être de sa discrétion médiatique.«40 Derselbe Mechanismus, nachdem viele Mitbürger einer scheinbar vernachlässigten moralischen Frage Solidarität entgegengebracht haben, könnte demnach über die Jahre fortwährender Thematisierung Ermüdungserscheinungen hervorgebracht und bei vielen die Frage aufgeworfen haben, welchem Zweck weitere Maßnahmen noch dienlich seien. 5.1.2.3 Intellektuelle Die Ansichten der französischen Intellektuellen, die sich zum politischen Umgang mit dem Armeniergenozid in Frankreich geäußert haben, sind vor allem anhand von Zeitungsartikeln nachzuvollziehen. Dabei hat die Anerkennung des Genozids durch Frankreich 2001 wenige Wortmeldungen von dieser Seite hervorgerufen; offenbar ist diese als wenig kontrovers empfunden worden. Im Zeitraum 1998-2002 – also ab kurz vor Beginn und bis kurz nach Ende der Diskussion des Themas innerhalb der Assemblée nationale – finden sich lediglich einzelne Beiträge im Kontext der ›Veinstein-Affäre‹. Gilles Veinstein, französischer Historiker und Spezialist für ottomanische Geschichte des 15. – 18. Jahrhunderts, hatte kurz vor seiner Berufung ans Collège de France einen Artikel veröffentlicht, in dem er sich mit den Massakern an den Armeniern 1915 beschäftigte. Während er weder deren Ausmaß noch Grausamkeit bestritt, befand er die Nachweise für eine zentral organisierte Vernichtungskampagne für nicht ausreichend. Er qualifizierte die Verbrechen deshalb nicht als ›Genozid‹. Dieser Artikel entfachte eine große Polemik in den französischen Medien; einige Politiker, Vertreter armenischer Organisationen und Intellektuelle forderten, dass Veinstein nicht ans Collège de France berufen werden dürfe. 41 Hierzu zählte auch
39 Vgl. die die in La Croix vom 12.01.12, Le Monde vom 07.01.2012. 40 Zitiert nach Les Français et le génocide arménien, in: NAM, a.a.O., S. 7. 41 Vgl. u.a. Weill, Nicolas: La mise en cause de l’historien Gilles Veinstein divise le Collège de France, in: Le Monde vom 27.01.1999; Coquery-Vidrovitch (2009, S. 120) spricht in dieser Angelegenheit von einer »polémique compliquée«.
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Alain Finkielkraut, der mit Jacques Le Goff, André Kaspi und anderen im Januar 1999 eine Petition veröffentlichte, in der er sich gegen die Ernennung Veinsteins aussprach.42 Demgegenüber regte Alfred Grosser an, die Diskussion zu nuancieren: Er finde es »[gefährlich]«43, das Fehlen des Wortes »Genozid« mit Negationismus gleichzusetzen.44 Sein Einwand endete mit einer Frage: »Mais les défenseurs de la mémoire doivent-ils être sourcilleux au point d’ajouter à la lutte pour la vérité l’exigence de la sanction?«45 Diese Kritik wurde spätestens im Zuge der Debatte um ein Anti-Negationismus-Gesetz von vielen weiteren intellektuellen Größen Frankreichs geteilt. Die stärkste Opposition zu jedweder gesetzlichen Regelung von Geschichte führte Pierre Nora mit dem Historiker-Zusammenschluss Liberté pour l’Histoire46 an. Die empörten Reaktionen aus armenischen Kreisen auf Noras Positionen47 rührten auch aus deren ironisierendem Vortrag her. So wies er vor der AccoyerKommission 2008 auf die Tragweite solcher legislativen Beurteilung von Geschichte hin: »Si la France doit s’ériger en procureur de son propre passé et en juge de la conscience universelle, allons-y gaiement aussi avec les Indiens d’Amérique!« 48 Missverständlich – und entsprechend negativ aufgenommen – war zudem seine Infragestellung der Omnipräsenz und Verbindlichkeit des Ge-
42 Vgl. Finkielkraut, Alain et al.: Une pétition d’intellectuels, in: Le Monde vom 27.01. 1999. 43 Grosser, Alfred: Du bon usage des interdits in: La Croix vom 03.02.1999. 44 Vgl ebd. 45 Ebd. 46 ›Liberté pour l’Histoire‹ wurde 2005 von Pierre Nora und einigen seiner Kollegen als Reaktion gegen die Klage gegen den Historiker Olivier Pétré-Grenouilleau ins Leben gerufen. Pétré-Grenouilleau war auf Basis der Loi Taubira wegen seines – in der Fachwelt angesehenen – Buches über den Sklavenhandel von einigen Aktivisten verklagt worden. 47 Papazian, Séta: Génocide arménien: le dérapage de Pierre Nora in: L’Arche vom 18.11.2011, online abgeufen unter http://larchemag.fr/2011/11/18/184/genocide-arme nien-le-derapage-de-pierre-nora-ii/; Stand: 11.07.2013; Toranian, Ara: Liberté pour l’histoire négationniste vom 05.03.2012 unter http://www.collectifvan.org/article. php?r=0&id=61910, Stand: 11.07.2013; Vgl. unter anderem die zahlreichen empörten Leserreaktionen im Forum auf Nouvelles d’Arménie Magazine online: http:// www.armenews.com/forums/viewtopic.php?pid=69928, Stand: 11.07.2013. 48 Nora, Pierre in: Rapport Accoyer (2008), S. 210.
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nozidbegriffs: »Si vous écrasez trois mouches, on peut aussi vous parler d’un génocide!«49 Gleichwohl, wenn auch mit bedachteren Worten und teils unterschiedlichen Argumenten, ist die darin zum Ausdruck kommende Ablehnung weit verbreitet: Esther Benbassa, Senatorin und Intellektuelle, bemängelt ein Übermaß an politischem Gedenken im öffentlichen Raum.50 Speziell mit Blick auf die strafrechtliche Verfolgung der Leugnung des Armeniergenozids erklärt sie, das Gesetz sei überflüssig, kontraproduktiv und verschärfe die Konkurrenz zwischen Minderheitengruppen.51 Letzterer Kritikpunkt wird auch von Grosser vertreten, der den Armeniern vorwirft, sich vor allem über die Anliegen und Geschichte ihrer communauté zu definieren und nicht primär über ihre französische Nationalität.52 Bereits 1996 hatte Grosser sich aus prinzipiellen Erwägungen gegen die Loi Gayssot und ähnlich geartete ›Meinungssanktionen‹ ausgesprochen: »Il n’en résulte pas, à mes yeux, que la loi deviendrait bonne si elle s’appliquait aux crimes contre les Arméniens par la Turquie ou contre les Ukrainiens par Staline. Autant je suis favorable à a répression de ›l’apologie des crimes des guerre, des crimes contre l’humanité‹, évoquée à l’article 13, autant je suis défavorable à un système de sanctions qui permet aujourd’hui aux négateurs d’Auschwitz d’insinuer qu’ils ont toutes les preuves de la non-existence du crime, mais que la loi leur interdit de les produire.«53
49 Pierre Nora im Interview mit France Inter vom 12.10.2011, abrufbar unter http:// www.franceinter.fr/emission-linvite-pierre-nora?&comments=votes, Stand: 11.07.13. Für sich genommen, erscheint die Bemerkung in der Tat unerhört. Aus dem Kontext des Gesprächs ergibt sich, dass es offensichtlich nicht Noras Absicht war, die Opfer von Genoziden zu diskreditieren, sondern die Politisierung und Omnipräsenz des Begriffs als solchem zu hinterfragen; die zugespitzte Formulierung rief in vielen Foren und auch von Seiten armenischer Verbände jedoch Empörung hervor. 50 Vgl. Benbassa, (2007), S. 228, S. 231. 51 Vgl. Benbassa: Lois mémorielles... (2012), a.a.O. 52 Vgl. Grosser, Alfred: Contre les lois mémorielles, in: La Croix vom 04.01.2012. 53 Grosser, Alfred: La surprise est de taille, in: NAM N°12, April 1996, S. 9; (Hervorhebung im Original) auf der deutschen Seite wird sein Standpunkt von Henryk M. Broder geteilt, der das deutsche Äquivalent zur Bestrafung von Holocaust-Leugnern abgeschafft sehen will: »Das Gesetz war gut gemeint, hat sich aber als kontraproduktiv erwiesen, indem es Idioten dazu verhilft, sich als Märtyrer im Kampf um die historische Wahrheit zu inszenieren.« (Broder, Henryk M.: Meine Kippa liegt im Ring, Beitrag im Tagesspiegel vom 21.10.2009, http://www.tagesspiegel.de/meinung/
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Die Einwände anderer Kommentatoren reflektieren deren Profession: Robert Badinter hält das Gesetz schlicht für verfassungswidrig,54 während Bertrand Badie die zunehmende Vermischung von Innen- und Außenpolitik sowie die Stigmatisierung des Fremden bedauert. 55 Luc Ferry schließlich spricht von einer »confusion monstrueuse du droit et de la morale«56. Position für die Ausweitung der Loi Gayssot auf alle von Frankreich anerkannten Völkermorde – und damit auch auf den Fall der Armenier – beziehen vor allem Bertrand-Henri Lévy57 und Serge Klarsfeld. Für Klarsfeld leitet sich die Notwendigkeit für ein solches Gesetz aus seiner Überzeugung ab, dass es ohne den Genozid an den Armeniern keinen Holocaust gegeben hätte. 58 5.1.2.4 Zusammenfassung Insgesamt ist eine recht frühe, starke Rezeption der Problematik des Armeniergenozids in der französischen Politik und Öffentlichkeit zu beobachten. Dazu haben mutmaßlich auch die terroristischen Anschläge armenischer Organisationen auf französischem Boden beigetragen. Wenn auch bereits Mitte der 1980er Jahre sich alle Parteien gleichermaßen verständnisvoll mit Blick auf die armenischen Anliegen äußerten, so ist die besondere Rolle des Parti Socialiste aufgrund seiner langjährigen Verbindung mit der sozialistischen armenischen Daschnak-Partei zu betonen. Gleichwohl haben sich auch sozialistische Staatsund Regierungschefs, ebenso wie ihre konservativen Kollegen, mit offiziellen Initiativen zur Anerkennung des Genozids und gegen dessen Leugnung zurückgehalten bzw. sogar dagegen opponiert. Die stärksten Widerstände kamen von Seiten des französischen Außenministeriums, das alle symbolträchtigen Vorstöße aus diplomatischen Erwägungen kritisierte.
kommentare/zentralrat-der-juden-henryk-m-broder-meine-kippa-liegt-im-ring/ 1282018.html; Stand: 24.01.13). 54 Vgl. Badinter, Robert: Le Parlement n’est pas un tribunal, in: Le Monde vom 15.01.2012. 55 Vgl. Badie, Bernard: La politique de stigmatisation, in: La Croix vom 10.01.2012. 56 Ferry, Luc: Retour sur le génocide arménien, le droit et la morale, in: Le Figaro vom 19.01.2012. 57 Vgl. Lévy, Bernard-Henri: Das ist Genozid; Warum es rechtens ist, dass die Leugnung jeglichen Völkermores, besonders desjenigen an den Armeniern, geahndet wird. Damit es auch die Letzten begreifen, offenbar auch die letzten Historiker, in: Die Welt vom 04.01.2012. 58 Vgl. Sabado, Elsa: Sans le génocide arménien, la Shoah n’aurait pas eu lieu. Interview mit Serge Klarsfeld, in: Libération vom 23.01.2012.
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Gerade in Reaktion auf solche Vorstöße, aber auch in Verbindung mit verwandten aktuellen Themen, erfolgt die Berichterstattung der Medien. Diese belegt, dass der Armeniergenozid seit Ende der 1990er Jahre dauerhaft politisch präsent ist. Wenn auch ein positives Bild von der armenischen Gemeinschaft in Frankreich gezeichnet wird, so ist die Berichterstattung zu der Forderung nach mehr Gesetzen inzwischen überwiegend ablehnend. Während insbesondere Libération und Le Monde dabei ein differenziertes Bild von den aktuellen Entwicklungen in der Türkei und der Bedeutung des Themas vor Ort zeichnen, so wird die Kritik am Konzept der Lois mémorielles medienübergreifend geteilt. Auch die Mehrheit der Intellektuellen warnt vor einer Zunahme staatlicher Regelung von Geschichte. Viele beurteilen die Forderung in Abhängigkeit ihres persönlichen Hintergrundes: So setzen sich die Historiker für unabhängige Geschichtsschreibung ein, Badie als Spezialist für Außenpolitik mahnt Zurückhaltung an, der Nazijäger Klarsfeld fordert die Verurteilung der ›Negationisten‹. Dabei steht der Völkermord selbst nie in Frage: ›Génocide arménien‹ ist ein feststehender Ausdruck; selbst 1996, vor den großen Berichterstattungswellen im Kontext der Anerkennungs- und Anti-Negationismus-Gesetze, ist der Genozid bereits 69% der Franzosen bekannt. Umso verwunderter äußert sich der Großteil der Zeitungsleserschaft über die politische Energie, die auf weitere diesbezügliche gesetzliche Regelungen verwandt wird. Um diesen Einsatz zu hinterfragen, werden im Folgenden die politischen Rezeptionsfaktoren analysiert. 5.1.3
Analyse der Rezeptionsfaktoren
5.1.3.1 Politische Opportunität Im Folgenden soll erörtert werden, inwiefern Politiker durch wahltaktische Motive dazu bewegt werden, sich für die Anliegen der Armenier einzusetzen. Darüber hinaus wird beleuchtet, in welchem Kontext sie das Thema nutzen, um sich zu positionieren und Aufmerksamkeit zu erregen. Schließlich soll auch die Instrumentalisierung des Armeniergenozids durch die Politik analysiert werden, um ihn als Argument für oder gegen andere aktuelle Belange einzusetzen. Wahltaktische Motive werden von den Kritikern der jüngsten Gesetze zum Armeniergenozid in Frankreich am stärksten betont.59 Sie können in zwei Gruppen eingeteilt werden: eine nationale und eine lokale Ebene.
59 Indirekt wie in La Croix (29.02.12), wo hervorgehoben wird, dass das Gesetz von einer Abgeordneten aus Marseille kommt, »où vit und forte communauté arménien-
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Auf nationaler Ebene ist der Zusammenhang am augenscheinlichsten: Nicht nur thematisieren Medien in Deutschland und Frankreich das Gewicht der »500.000 Armenier« und heben die Bedeutung des Genozids für deren Wahlentscheidung hervor.60 Auch erachteten die Präsidentschaftskandidaten 2012 es beide für notwendig, sich in dieser Frage zu positionieren und kurz vor den Wahlen zu den Gedenkfeiern zum 24. April teilzunehmen.61 Gleichwohl erscheint es fraglich, ob der Einfluss einer Gruppe, deren genaue Mitgliederzahl nicht bekannt ist und die sich einer ebenso großen, wenn auch weniger organisierten Gruppe türkischstämmiger Franzosen gegenüber sieht, wahlentscheidend ist. Die Analysen der Präsidentschaftswahlen von 2012 nennen deshalb den Armeniergenozid oder irgend ein anderes, mit Geschichte befasstes Thema, gar nicht unter den diesbezüglichen Faktoren. 62 Hinzu kommt, dass die armenischstämmigen Wähler selbstverständlich auch andere politische Interessen haben und diese vertreten sehen wollen, wie Wirtschaft, Erziehung Kultur etc. Vor allem ist zu hinterfragen, inwiefern die einer bestimmten sozialen Gruppe zugerechneten Wähler tatsächlich deren Forderungen in den Mittelpunkt ihrer Wahlentscheidung stellen. Emmanuelle Comtat hat sich mit dieser
ne"; explizit wie bei Esther Benbassa: Lois mémorielles ... (2012), a.a.O. oder Jérôme Gautheret (Éditorial – Analyses), in: Le Monde vom 05.01.12; in den deutschen Zeitungen wird dieser Aspekt ebenfalls widergespiegelt, vgl. Jürgen Gottschlich: Völkermord im französischen Wahlkampf, in: tageszeitung vom 25.01.12, Jürg Altwegg: Ein Historikerstreit, der die Franzosen mobilisiert. Geschichtspolitik: Ohne ArmenierGenozid keine Schoa?, in: FAZ vom 24.01.12; Ulrich: Krieg der Worte (2011), a.a.O. 60 Am deutlichsten wird dies in einem Bericht der taz zur Senatsentscheidung bzgl. des Boyer-Gesetzes reflektiert, der den Umgang mit dem Genozid ein »prioritäres Kriterium« für die Wahlentscheidung für die 500.000 Franzosen armenischer Herkunft nennt (tageszeitung vom 25.01.12). 61 Vgl.[o. A./AFP-Meldung]: Sarkozy et Hollande présents à la commémoration du génocide arménien, vom 24.04.2012 auf Le Point.fr unter http://www.lepoint.fr/ societe/sarkozy-et-hollande-presents-a-la-commemoration-du-genocide-armenien-2404-2012-1454676_23.php, Stand: 25.07.2013. 62 Vgl. Michael S. Lewis-Beck, Richard Nadeau, Eric Bélanger: French presidential elections, Basingstoke: Palgrave Macmillan 2012 sowie Dominique Reynié: L’ordre des enjeux. Sélection des enjeux, attribution des compétences et décision électorale, in: Pascal Perrineau [Hrsg.]: La décision électorale en 2012, Paris: Armand Collin Recherches 2013, S. 189-208 – In diesen Untersuchungen taucht die armenische Frage nicht als Entscheidungskriterium auf; d. h. Wahlforscher haben sie bislang nicht als ausreichend wichtig eingestuft.
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Thematik am Beispiel der Pieds-Noirs, vierzig Jahre nach deren ›Wiedereingliederung‹ ins Hexagone, befasst. Sie unterscheidet dabei zwei Arten von Abstimmungs-verhalten, das vote sanction, das verwendet wird, um Politiker ›abzustrafen‹, die die Interessen der Gemeinschaft nicht vertreten haben, und das vote enjeu, mit dem die Mitglieder der Gemeinschaft einem Politiker ihre Stimme aufgrund seiner Positionierung zu einem bestimmten, die Gemeinschaft betreffenden Thema leihen. Doch auch sie hält für beide Abstimmungsarten fest, dass sie schwierig nachzuweisen seien, da schließlich bei jeder Wahl eine Reihe von Determinanten wahlentscheidend sei.63 Sie kommt zu dem Schluss, es gebe »une certaine reconnaissance envers les hommes politiques qui, pendant leur mandat électoral, ont effectivement soutenu les rapatriés.«64 Gleichzeitig habe eine regelmäßige Bemühung von Versprechungen gegenüber der Gemeinschaft zu Wahlzeiten eher einen neutralen oder gar Ablehnung erzeugenden Effekt, da diese als Manipulationsversuche betrachtet würden.65 Analog zu den Ausführungen Comtats ist auch bei den Armeniern zwischen vote enjeu und vote sanction zu unterscheiden. Inwieweit ein vote enjeu – also eine Stimme, die auf einem Handlungsversprechen beruht – entscheidend sein kann, erscheint bei den Armeniern, ebenso wie bei den Pieds-Noirs, fraglich. Schließlich steht das Thema bereits hinreichend lange auf der Agenda, um bereits Gegenstand allerlei unerfüllter Versprechungen gewesen zu sein. Es bleibt am Wahltag die Belohnung rückblickend wirklich engagierter Advokaten der armenischen Sache bzw. das vote sanction, aufgrund dessen dem Kandidaten, der dafür keinen Einsatz gezeigt hat, die Stimme vorenthalten wird. Darauf verweisen auch die Kommentare in den Medien, wenn sie darauf anspielen, dass Sarkozy in dieser Sache sein Wahlkampfversprechen von 2007 gebrochen habe und daher nun fürchte, dafür von den armenischstämmigen Wählern ›abgestraft‹ zu werden.66 Die Initiative des Präsidenten Sarkozy von 2011 ist besonders interessant, um diesen Aspekt zu beleuchten, da sie mit herausragender Vehemenz vorangetrie-ben wurde.67 Zwar hatte Sarkozy im Wahlkampf 2007 tatsächlich angekündigt, ein Gesetz gegen den Negationismus zu unterstützen. Um einem derart va-
63 Vgl. Comtat, Emmanuelle: Les pieds-noirs et la politique. Quarante ans après le retour, Paris: Presses de la Fondation nationale des sciences politiques 2009, S. 280 f. 64 Ebd., S. 284. 65 Vgl. ebd. 66 Vgl. Altwegg: Ein Historikerstreit... (2012), a.a.O., allgemeiner bei Ulrich: Krieg der Worte (2011), a.a.O. 67 Vgl. L’Humanité vom 02.02.12: Sarkozy wolle »une loi à tout prix«.
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gen Versprechen nachzukommen, wäre allerdings vermutlich etwas weniger Engage-ment vonnöten gewesen und etwas mehr Taktik hilfreich. Wie bereits erwähnt, war der türkischen Seite noch im Mai desselben Jahres versichert worden, derlei Gesetzesinitiativen keine Unterstützung entgegenzubringen. 68 Doch nicht nur die diplomatische Glaubwürdigkeit wurde durch die plötzliche Kehrtwende beschädigt, auch die Glaubwürdigkeit des Manövers in der Öffentlichkeit war zu diesem Zeitpunkt durch die anstehenden Wahlen beeinträchtigt. Hingegen ist auffällig, dass sich die Initiative in einen Kontext einfügte, in dem der amtierende Präsident danach strebte, sich über außenpolitische und Identitätsfragen zu profilieren. 69 Zudem hatte er den Menschenrechtsdiskurs – unter besonderer Berücksichtigung von Frankreichs Rolle bei Menschenrechtsfragen – zum Unmut seiner Diplomaten bereits mehrfach zu forcieren gesucht.70 Die scheinbare Konsequenz in Menschenrechtsfragen hat in den Medien gelegentlich ein positives Echo gefunden.71 In diesem Zusammenhang scheint die Initiative bezüglich des Armeniergenozids mehr der Schärfung dieses Profils zu dienen, als nur konkret eine Gruppe ansprechen zu wollen. Auf lokaler bzw. regionaler Ebene stellt sich die Situation anders dar. Die starke regionale Konzentration armenischstämmiger Franzosen in den Ballungsräumen Marseille – Lyon – Paris72 ermöglicht einen gewissen Einfluss auf die lokalen Kandidaten. Ein Politiker unterstreicht im Gespräch, die Verteidiger von Gesetzesinitiativen zum Armeniergenozid stammten sämtlich aus Wahlkreisen
68 Vgl. Kapitel 4.2.2.1. 69 Dubouloz, Catherine: La campagne bleu marine de Sarkozy, in: Le Temps vom 02.05.2012, zitiert nach Courrier International http://www.courrierinternational. com/article/2012/05/02/la-campagne-bleu-marine-de-sarkozy, Stand: 25.07.2013 sowie Olga Vlassova: Nicolas Sarkozy : monsieur Sécurité, zitiert nach: Courrier International, Supplément au N°1121 vom 26.04.2012 unter http://www.courrierinternational.com/article/2012/04/26/nicolas-sarkozy-monsieur-securite, Stand: 13.08.2013. 70 So erwog er während mehrerer Tage öffentlich, nicht zur Eröffnungsfeier der Olympischen Spiele in Peking anzureisen. Ebenfalls wurde der Plan, den Dalai Lama zu treffen, zu einem diplomatischen Ärgernis: »Le problème, c’est qu’on leur a menti. Sarkozy a dit les yeux dans les yeux à son homologue Hu Jintao qu’il ne le verrait pas!« (Aussage eines französischen Diplomaten, zitiert nach: Delafon, Gilles: Le règne du mépris. Nicolas Sarkozy et les diplomates 2007 – 2011, Paris: éditions du Toucan 2012, S. 36). 71 Vgl. Roucaute, Yves: La »ligne Sarkozy« a fait sortir la France du relativisme et de ses lâchetés, in: Le Monde vom 16.03.12. 72 Vgl. Kap. 4.2.1.1.
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mit großer armenischer Bevölkerung.73 Eine Senatorin erklärt, dass Vertreter armenischer Organisationen in diesen Bezirken ihre Stärke auch direkt bei ihren Abgeordneten oder Senatoren zu nutzen suchten: So hätten diese sie im Vorfeld der Senatsabstimmung über die Loi Boyer im Januar 2012 aufgesucht und ihr gedroht, dass man sie nicht wähle, so sie dagegenstimme.74 Auch Rochebloine bestreitet nicht, dass derlei Abhängigkeiten zu wahltaktischen Aussagen bei einigen Kandidaten führen. Jedoch zeigt er sich skeptisch hinsichtlich des Einflusses solchen Verhaltens: Zwar hätten in seinem Wahlkreis zuletzt 80% der armenischstämmigen Wähler für ihn gestimmt. Indes führt er dies auf sein langjähriges Engagement zurück, das von den Wählern honoriert werde. Sporadische, wahlbedingte Solidaritätsbekundungen hält er sogar für schädlich: »On ne sert pas l’Arménie en faisant de l’électoralisme.«75 Gleichzeitig verweist er darauf, dass er zwar 500 armenische Familien in seinem Wahlkreis zähle – »pas énorme, mais elles sont bien organisées«76 –, aber auch 30.000 Türken. Ein Gesprächspartner weist in diesem Zusammenhang darauf hin, dass gerade diejenigen Politiker, die sich stark für armenische Anliegen einsetzten, wie Rouquet oder Rochebloine, etabliert und nicht auf die Unterstützung einer Gruppierung angewiesen seien. Für weniger bekannte Politiker bzw. Neulinge sei die Thematik allerdings ein Terrain, das ihnen erlaube, auf sich aufmerksam zu machen.77 Bei der Betrachtung der nationalen Ebene bleibt daher festzuhalten, dass die Präsidentschaftsanwärter zwar eine gewisse Rhetorik pflegen, jedoch, einmal im Amt, der realpolitischen Notwendigkeiten gewahr werden. Zudem stehen sie einer ebenso großen türkischstämmigen wie armenischstämmigen Gruppe gegenüber. Trotz der unterschiedlichen Organisationsgrade erscheint eine rein auf Stimmenfang ausgerichtete Positionierung deshalb zunächst unwahrscheinlich. Indes zeigt das Beispiel Sarkozy, dass der Armeniergenozid tatsächlich in Wahlkampferwägungen einbezogen werden kann, um eine spezielle Profilierung zu unterstützen. Verstärkt wurde dieser Effekt durch die Kandidatur Hollandes, der sich bereits zuvor für ein Gesetz gegen Genozidleugnung ausgesprochen hatte und eine entsprechende Initiative einbringen wollte.78
73 Interview 20 vom 21.03.2013. 74 Interview 21 vom 02.04.2013. 75 Interview mit François Rochebloine vom 15.05.2013. 76 Ebd. 77 Interview 24 vom 07.03.2013. 78 Vgl. Hanimann, Joseph: Überwachen und Strafen. Kann man historische Debatten per Gesetz regeln? Frankreichs Kontroverse um den armenischen Völkermord in: Süddeutsche Zeitung vom 23.12.2011.
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Die größeren Abhängigkeiten und deshalb auch Druckmöglichkeiten bestehen auf lokaler Ebene, was auch die befragten Beobachter einhellig bestätigen.79 Basierend auf dem Konzept des vote sanction, das die Politiker zu vermeiden suchen, bedeutet dies aber zunächst, sich den vorgebrachten Anliegen nicht ent-gegenzustellen bzw. als deren Unterstützer aufzutreten. Das jahrelange Eintreten für armenische Belange hingegen und Initiieren von Gesetzesinitiativen auch gegen den Willen der Regierung, das zeigen die Beispiele Rouquet und Roche-bloine, ist nicht vordergründig eine Frage von Stimmenfang. Vielmehr sind beide durch langjährige Kontakte mit den in ihren Herkunftsregionen ansässigen armenischstämmigen Familien geprägt. 80 Beide sind oft nach Armenien gereist und kennen die Situation im Land gut. Hingegen war François Rochebloine nie in der Türkei und hat offenbar mit den türkischstämmigen Bürgern seines Wahlkreises weniger Kontakt als mit den armenischstämmigen. 81 Dies zeigt, dass eine enge soziale Verbundenheit wirkungsvoller sein kann als das rein zahlenmäßige Wählerverhältnis. Entscheidend ist vielmehr der Sensibilisierungsgrad für das Anliegen; gepaart mit einer wenigen intimen Kenntnis der Gegenseite. Den Sensibilisierungsfaktoren auf der einen Seite soll anhand der Ergebnisse der Parlamentswahlen 2012 (Législatives) gegenübergestellt werden, inwiefern sich die Aufrufe der armenischen Organisationen tatsächlich auf die Wiederwahl der Abgeordneten auswirken. Anlass für diese Betrachtung sind entsprechende Aufrufe auf der Facebook-Seite Les Voix des Franco-Arméniens.82 Dort wurden sowohl die Namen derjenigen Parlamentarier aufgelistet, die sich der proposition de loi von Valérie Boyer von 2011, die auf die strafrechtliche Verfolgung von Genozidleugnung abzielte, angeschlossen hatten, als auch derjenigen, die nach deren Verabschiedung den Verfassungsrat angerufen hatten, da sie das Gesetz für verfassungswidrig hielten. Beide Auflistungen waren mit Aufrufen versehen: erstere Gruppe müsse unbedingt wiedergewählt werden, die Gesetzesgegner gelte es abzuwählen. Die in Abbildung 6 dargestellte Analyse hinterfragt nun, inwieweit das Wahlergebnis irgendeinen Einfluss solcher Aufrufe reflektieren könnte. Dazu wurde der Wiederwahlquote der 23 Gesetzesbefürworter diejenige
79 Interviews mit Michel Marian (06.03.2013), Nr. 21 (02.04.2013), Nr. 20 (21.03.2013) 80 Dies wird auch von den armenischen Organisationen z. T. so wahrgenommen; ein Beispiel hierfür findet sich bei Govciyan, der über René Rouquet schreibt (Govciyan (2003), S. 60): »Né en 1946 dans le Val-de-Marne, il a côtoyé depuis sa plus tendre enfance les Arméniens et il connaît bien, même très bien, la question.« 81 Interview mit François Rochebloine vom 15.05.2013. 82 Vgl. entsprechende Fußnote in Kapitel 4.3.5.3.
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der Gegner gegenübergestellt. Bei letzteren waren allerdings Bereinigungen vorzunehmen, um ein vergleichbares Bild zu erhalten. So nennt Les Voix des Franco-Arméniens 82 Gesetzesgegner, deren Wahl es zu verhindern gelte. Tatsächlich haben ›nur‹ 71 Deputierte den Verfassungsrat angerufen.83 Die elf weiteren Genannten bewarben sich zwar um einen Parlamentssitz hatten jedoch nicht, wie auf der Seite von Les Voix des Franco-Arméniens behauptet, die Invokation des Conseil Constitutionnel unterzeichnet (bei einigen von ihnen, wie Ciftci oder Pénicaud, die keine Abgeordneten gewesen waren, war das auch gar nicht möglich). Deshalb und weil unter ihnen parteilose Splitterkandidaten wie Ilker Ciftci oder junge Bewerber kleinerer Parteien wie François-Xavier Pénicaud sind, deren Wahl im Verhältnis zur Wiederwahl eines amtierenden Parlamentariers ohnehin eher unwahrscheinlich war, wurden sie hell markiert und von der Gesamtsumme abgezogen (das gilt natürlich auch für die gewählten unter ihnen wie Mignon oder Morange). Ebenfalls abgezogen wurden diejenigen Abgeordneten, die nicht mehr für die Nationalversammlung kandidierten und deren Wahl deshalb unmöglich war (in der Abbildung dunkel markiert). Nach dieser Bereinigung ist die Wiederwahlquote in beiden Gruppen mit je 70 Prozent tatsächlich genau gleich; ein Einfluss der jeweiligen Einstellung zur armenischen Frage lässt sich nicht nachweisen. Zugleich fällt auf, dass unter den Unterstützern des Gesetzes niemand ist, der seine politische Karriere beschließen möchte und nicht mehr antritt; bei den Gegnern trifft dies hingegen auf 20 Prozent zu. Aus dieser Kombination und den vorherigen Betrachtungen könnte man schließen, dass ein gefühlter Druck bei den Abgeordneten einiger Wahlbezirke durchaus vorhanden ist, das Wahlergebnis letztendlich von der Positionierung zu den Forderungen armenischer Organisationen alleine im Durchschnitt nicht abhängig ist. Gleiches gilt im Übrigen auch für die Seite der Türkei. Auf Turquie News waren die Namen der Abgeordneten, geclustert nach ihrer Einstellung zur Loi Boyer, ebenfalls aufgelistet worden.84 Doch auch von dieser Warte aus lässt sich kein Effekt auf das Wahlergebnis ausmachen.
83 Vgl. Conseil Constitutionnel: Décision n° 2012−647 DC du 28 février 2012,, a.a.O., S. 1. 84 Vgl. Liste des parlementaires qui ont saisi le Conseil Constitutionnel vom 03.02.2012 unter http://www.turquie-news.com/rubriques/france/liste-des-parlementaires-qui-ont, 7899.html, Stand: 07.08.2013.
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Abbildung 6: Wiederwahlquoten der Befürworter / Gegner der Loi Boyer bei den Parlamentswahlen 2012
Ein weiterer Opportunitätsfaktor wird durch die Pressenanalyse des ersten Halbjahrs 2005 deutlich: die Konnotierung des Armeniergenozids mit dem EUBeitritt der Türkei und damit das Instrumentalisierungspotentials des Themas. Von den untersuchten 43 Zeitungsartikeln evozieren 14 – also ein Drittel – den Genozid im Kontext des geplanten Türkei-Beitritts oder umgekehrt. Dies spiegelt die Rhetorik einiger Politiker wider, die – wie Philippe de Villiers – auf den Genozid verweisen, um die vermeintliche EU-Unreife der Türkei hervorzu-
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heben. Ebenso argumentierte Richard Mallié, der eine private ›Umfrage‹ auf seiner Webseite initiierte, die die Wahrnehmung dieses Zusammenhangs bestätigen sollte.85 Nicolas Sarkozy wurde 2011 unterstellt, mit seinem Vorstoß gegen die Leugnung des Genozids ebenfalls seine ablehnende Haltung gegenüber einem möglichen Beitritt untermauern zu wollen. Außerdem habe er persönlich ein negatives Verhältnis zu dem türkischen Ministerpräsidenten Erdoğan gehabt, den er auch bei sensiblen Themen wie dem Genozid habe »in die Schranken weisen«86 wollen. Das opportunistische Potential einer geschichtspolitischen Frage wie der nach dem Umgang mit dem Armeniergenozid ist deshalb entsprechend seiner Vielfalt differenziert zu betrachten: neben unterschiedlichen Druckmöglichkeiten auf lokaler und nationaler Ebene ist darüber hinaus zu trennen zwischen der Befürwortung des Themas, um die Gruppe der armenischstämmigen Gemeinschaft zufriedenzustellen und seiner Nutzung als Argument für andere politische Programmpunkte. Wenn ein linearer Bezug zu Wahlereignissen suggeriert wird, ignoriert dies die kontinuierliche Präsenz des Themas in den Medien sowie seine Kontextualisierung im Rahmen weiterer Fragestellungen. »Reste que le simple rappel des dates d’adoption de ces textes, 2001, 2006, 2011, suffit à donner corps à un soupçon d’arrière-pensées électoralistes [...].«87, behauptet Jérôme Gautheret Anfang 2012 in einem Éditorial von Le Monde. Diese Verkürzung verschweigt, dass die Anerkennung des Genozids per Gesetz 1998, also gerade nach dem Wahlsieg der politischen Linken, eingebracht und verabschiedet wurde, die dreijährige Verzögerung des Inkrafttretens Regierung und Senat geschuldet war. Die nächste große Debatte, 2006, fand in der Tat im Jahr vor den Präsidentschaftswahlen statt. Doch bereits 2005 hatte die mediale Berichterstattung zum génocide arménien im Kontext des Referendums über eine europäische Verfassung einen vorläufigen Höhepunkt erreicht. Die Entwicklung seit 2004 (vgl. Abb. 4) zeigt, dass die Initiative von 2006 keinesfalls ›aus dem Nichts‹ auftauchte. Für die plötzlich eingebrachte Gesetzesvorlage 2011 kann dies hingegen festgehalten werden. Doch auch hier hat die Betrachtung gezeigt, dass die ›Armenierfrage‹ sich für Sarkozy im Stil wie im Themenkatalog in einen gewissen Rahmen einfügte. Selbst wenn hier ein Bezug zur anstehenden Wahl recht offensichtlich erscheint, muss eine reine Reduktion auf den Versuch spontanen Stim-
85 Vgl. Roger, Patrick: Richard Mallié (UMP) et son référendum, in: Le Monde vom 20.03.2005; vgl. dazu auch Malliés Beitrag in den Nouvelles d’Arménie Magazine: Non, la Turquie n’a rien à voir avec l’Europe, in: NAM N°105, Februar 2005, S. 90. 86 Ulrich: Krieg der Worte (2011), a.a.O. 87 Gautheret: Lois mémorielles, la folle mécanique (2012), a.a.O.
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menfangs bei einer gesellschaftlichen Gruppe deshalb als zu vereinfachend bezeichnet werden. Der enge Bezug, den einige Abgeordnete aufgrund der Strukturen in ihren Wahlkreisen oder ihrer sonstigen Engagements zu armenischen oder türkischen Seite pflegen,88 scheint sich jedoch nicht nur aus wahltaktischen, sondern auch aus Gründen der Argumentation und Information stark auf ihre Haltung auszuwirken. Darüber hinaus würde eine ausschließliche Erklärung des politischen Engagements für den Armeniergenozid den moralischen Aspekt der Thematik vernachlässigen. Diesem wird daher im folgenden Punkt nachgegangen. 5.1.3.2 Identitäts- und Wertrelevanz Bei der Beantwortung der Frage, wie die Handlungsnotwendigkeit mit Blick auf den Armeniergenozid politisch begründet wird, wird in diesem Unterkapitel auf Bezüge zur französischen Geschichte und Identität abgestellt. Dazu werden Aussagen und Argumente aus Presse, Reden und Interviews herangezogen, vor allem aber die Parlamentsdebatten zu den Gesetzesinitiativen zur Anerkennung des Armeniergenozids bzw. gegen dessen Leugnung analysiert. Dabei kommt den von den Rednern angeführten Werten besondere Bedeutung zu. Gemeinsam mit den wesentlichen Argumenten wurde die Häufigkeit ihrer Nennung im Rahmen einer Debatte als Indikator ihrer Relevanz gewertet. Auf Basis dieser Quellen lassen sich auf Seiten der Gesetzesbefürworter drei wesentliche Argumente identifizieren. Diese werden im Folgenden dargelegt. Sodann wird der ›Gegendiskurs‹ der das Gesetz ablehnenden Politiker untersucht. Schließlich werden die Veränderungen im Diskurs über den Zeitraum 1998-2011 sowie eventuelle Differenzen zwischen den politischen Lagern beleuchtet. Argument 1: Anerkennung der armenischen Forderungen als Integrationsakt Bereits in den Debatten zur Anerkennung des Armeniergenozids 1998 und 2001 findet die als »vorbildlich«89 gerühmte Integration der Armenier in Frankreich viel Erwähnung. Diese »contribution à la nation et à la République«90 – durch
88 Michel Diefenbacher, Initiator der Prüfung der Loi Boyer durch den Verfassungsrat, war zu diesem Zeitpunkt Vorsitzender der »Groupe d’amitié France-Turquie« des Parlaments. 89 Rochebloine in: Compte rendu intégral 1998, S. 12; Lellouche in: ebd., S. 13; ähnlich David in: ebd., S. 14 , Foucher in: ebd., S. 15, Estrosi in: ebd., S. 16 und Teissier in: JO-2001, S. 557. 90 Lellouche in: Compte rendu intégral 1998, S. 13.
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Arbeit, Aufstieg, aber auch durch die Verteidigung Frankreichs im Krieg91 – erfordere, dass Frankreich den Armeniern etwas ›zurückgebe‹ in Form von Ehrung und Respekt.92 Devedjian nennt die Anerkennung des Genozids deshalb gar »[...] dernier acte d’intégration et – je n’hésite pas à le dire – d’amour que la France pouvait offrir en réparation à la souffrance de certains de ses malheureux enfants.«93
Einem klassischen Assimilationsmodell wird in der gesamten Diskussion ein Integrationsmodell gegenübergestellt, das eine Aktivität nicht nur von Seiten der Einwanderer für nötig erachtet, sondern auch vom französischen Staat, genauer: von »la nation«94. Interessant dabei ist, dass die beiden Aktivitäten nicht gleichzeitig erfolgen, sondern die Integrationsleistung des Staates eine ›Belohnung‹ für das erfolgreiche Aufgehen der armenischen Gemeinschaft in der französischen Gesellschaft darstellt. »L’histoire du peuple arménien se confond aujourd’hui avec la nôtre« 95 , konstatiert Estrosi und bestätigt damit: Aufgrund der gelungenen Integration der Armenier in Frankreich ist Geschichtspolitik durch Frankreich zur armenischen Geschichte eine Art ›Handeln in eigener Sache‹. Santini geht bei der historischen Begründung noch weiter zurück und behauptet, »seit den Kreuzzügen«96 stünden die Armenier an der Seite der Franzosen. Diese Verquickung von nationaler Geschichte als Schicksalsgemeinschaft findet ihren Ausdruck 2006 in der Formulierung Sylvie Andrieux’, die angibt, bei dem Gesetz gehe es darum, »[...] à protéger de façon définitive la mémoire de nos martyrs.«97 Die Formulierung ›nos martyrs‹ [Hervorhebung d. A.] macht wiederum deutlich, dass die Opfer des Genozids als französische Kriegshelden offenbar Eingang finden ins nationale Narrativ. Auch de Salles setzt das Gedenken der Genozidopfer gleich mit der Erinnerung an in der Schlacht gefallene Soldaten:
91 Neben der allgemeinen Feststellung »[...] ayant su verser leur sang pour la France dans les moments tragiques de son histoire.« (Muselier in: JO-2001, S. 558) findet sich vor allem die explizite Nennung des Résistance-Kämpfers Missak Manoukian, Sohn armenischer Einwanderer (vgl. Bret in: ebd., S. 552). 92 Vgl. ebd. 93 Devedjian in: ebd., S. 10. 94 Lellouche, a.a.O.: »[...] cette communauté a depuis longtemps mérité le respect et l’hommage de la nation.« 95 Estrosi in: ebd., S. 17. 96 Santini in: JO-2001, S. 556: »Il [ce peuple, d. A.] est avec nous, dit-on, depuis les Croisades.« 97 Andrieux in: ebd., S. 6099.
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»[...] rappeler la mémoire de ceux qui sont tombés.«98 Schließlich wird von der 2001 erfolgten Genozidanerkennung als ›victoire‹ gesprochen; auch hier wird der französische Staat als Mitkombattant der Armenier definiert.99 Gleichwohl wird die Solidarität mit den Armeniern nicht als einziges Argument in dieser Sache angeführt. Neben der solidarischen führen die Parlamentarier auch eine universelle sowie eine dogmatische Begründung an, wie die folgenden beiden Argumente zeigen. Argument 2: Anerkennung als Menschenrechtsschutz – Ausdruck der universalistischen Mission Frankreichs Dass es Frankreichs Aufgabe als ›Land der Menschenrechte‹ sei, zum Genozid an den Armeniern Stellung zu beziehen, erfährt von 1998 und 2001 von allen angeführten Motiven die häufigste Nennung: fast die Hälfte der Redner (47% bzw. 42%) verweisen darauf. Dass der Menschenrechtsschutz eine Stellungnahme zu einem historischen Ereignis in einem anderen Land fordert, wird auf zweierlei Weise begründet: Zum einen wird er gewissermaßen als ›Auftaktverbrechen‹ zu einer Reihe von Menschenrechtsverletzungen des 20. Jahrhunderts betrachtet, die ein »tout indissociable«100 bildeten und zu denen auch die Shoah gezählt wird. In diesem Kontext wird immer wieder auf das Hitler zugeschriebene Zitat verwiesen »Wer erinnert sich heute noch an die Armenier?«, mit dem er mögliche Bedenken hinsichtlich des geplanten Vorgehens in Polen habe zerstreuen wollen.101 Dem Armeniergenozid als »erstem Genozid des 20. Jahrhunderts«102 kommt damit eine Schlüsselfunktion zu: Weil er nicht als solcher benannt und geahndet wurde, sind die weiteren Völkermorde, einschließlich der Shoah, erst möglich geworden. Entsprechend werden durch den Holocaust geprägte Begriffe auf die Armenier übertragen: der Genozid an den Armeniern wird von dem Abgeordneten Hermier
98
Rudy Salles in: ebd., S. 6109 – »ceux qui sont tombés« kann dabei gleichermaßen als eigenständige Referenz an die Kriegsterminologie gelten wie als Bezug zum Chanson von Aznavour, das den Genozid an den Armeniern thematisiert: »Ils sont tombés«.
99
André Santini in: ebd., S. 6112.
100 Rochebloine in: Compte rendu intégral 1998, S. 12. 101 Vgl. Rochebloine in: JO-2001, S. 545; Devedjian in: ebd., S. 554; Meï in: ebd., S. 555. 102 Vgl. Rochebloine, a.a.O. sowie Blum in: ebd., S. 6; Boyer in: JO-2011), S. 9111; Souchet in: ebd., S. 9121.
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1998 mit anderen Völkermorden unter den Begriff »toute solution finale«103 gefasst. Mit seiner Aktion unterbricht Frankreich in dieser Logik die Kette geschichtlicher Kausalität und beschreitet den Weg einer Art ›retrospektiven Interventionismus‹, um nachzuholen, was damals versäumt wurde, und dadurch mit Blick auf die Zukunft präventiv zu wirken.104 Indes beschränkt sich der Wille zum Eingriff nicht nur auf ein rückwirkend gedachtes Bekenntnis. Die zweite Begründung einer akuten Handlungsnotwendigkeit erfolgt durch die Aktualisierung der Menschenrechtsverletzung. Wie auch bei der Argumentation von armenischer Seite beobachtet, wird dabei auf Gregory Stantons Beobachtung rekurriert, wonach die Verleugnung die letzte Etappe eines Völkermords darstellt.105 Daraus wird der Umkehrschluss gezogen, dass ein Völkermord, der von den Erben der Täter geleugnet wird, noch andauert – da die letzte Phase noch nicht abgeschlossen ist. Zweitens wird die Bedrohungssituation durch die heutige Türkei teils drastisch dargestellt, wenn Devedjian im dortigen System einen »fascisme larvé«106 entdeckt. An beiden Räsonnements – der Herstellung historischer Kausalität wie auch der Fortdauer des Genozids – wird deutlich, dass die französischen Abgeordneten aus ihrer Sicht nicht nur den Umgang mit Geschichte regeln, sondern aktiv in den Völkermordprozess eingreifen, als dessen Teil sie die Zurückweisung der historischen Fakten durch die Türkei sehen. In dieser »universellen Angelenheit«107 repräsentiere das französische Wirken »[...] un progrès immense pour la cause arménienne et plus généralement pour la cause de l’humanité.«108 Dass die Bedeutung symbolischer Akte durch Frankreich als sehr hoch eingeschätzt wird, erschließt sich aus Formulierungen, in denen behauptet wird, durch die debattier-
103 Hermier in: Compte rendu intégral 1998, S. 7. 104 Vgl. Zanchi in: JO-2006, S. 6104: »Par le vote de cette proposition de loi [...], nous leur rendrons leur existence humaine [...].«; ebenso Mallié in: JO-2011, S. 9124: »Notre pays a ainsi rendu au peuple arménien la part de lui-même qu’il avait perdu 85 ans plus tôt.«; fast gleichlautend Rouquet in: ebd., S. 9120. 105 Vgl. Boyer in JO-2011, S. 9133: »La négation des génocides, c’est la prolongation de la composante du crime [...].« sowie Mallié in JO-2006, S. 6100: »Le négationnisme n’est pas une opinion comme les autres : son but est d’achever le crime de génocide en effaçant sa trace de la mémoire collective.« 106 Devedjian in: JO-2001, S. 554. 107 »cause universelle«, so bei Marland-Militello in: JO-2006, S. 6109; ähnliche Formulierungen z. B. bei Rochebloine in: Compte rendu intégral 1998, S. 12 »Il s’agit, ne nous y trompons pas, d’un combat dont la portée est universelle, [...].« 108 Frédéric Dutoit in: JO-2006, S. 6097.
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ten Gesetze habe Frankreich »[den Negationismus beendet]« 109 . Das ab 2006 diskutierte ›Leugnungsverbot‹ ist deshalb nicht nur eine innenpolitische Angleichung der Gesetzeslage, wie insbesondere 2011 behauptet wird. Rochebloine betont den sakralen Charakter dieser Initiative 2006, indem er sagt, dieses Gesetz vollende die 2001 begonnene »Mission«110. ›Sakral‹ ist indes nicht nur der mit reichlich Kriegsvokabular111 durch Frankreich geführte »combat« 112 für die geschichtliche Wahrheit, sondern auch die Verpflichtung zum Gedenken an sich. Diesem devoir de mémoire als drittem Argument wird im Folgenden nachgegangen. Argument 3: Le »devoir sacré de mémoire«: Anerkennung als Erfüllung einer heiligen Pflicht Insbesondere 1998 und 2001, als es um die offizielle Anerkennung des Genozids geht, erfährt diese so genannte »Erinnerungspflicht« häufige Verwendung: 35% bzw. 39% der Redner sprechen von einem »devoir de mémoire«. Unklar ist dabei die genaue Bedeutung des Konzeptes. Wer wen oder auch sich selbst erinnert und mit welchem Ziel, ist je nach Autor offenbar unterschiedlich definiert. So spricht Guy Hermier davon, Frankreich müsse »exercer un devoir de mémoire concernant le premier génocide du XXe siècle.«113 Ob ›exercer‹ nun meint, dass Frankreich gedenken oder ob es eventuell die Türkei oder andere Instanzen erinnern muss, geht aus dem Satz nicht eindeutig hervor. 2001 sehen verschiedene Abgeordnete beide Interpretationen. So bemerkt Foucher, dass »la France sait rendre le devoir de mémoire qui lui incombe envers les Arméniens.«114 Danach betrifft die Pflicht also Frankreich; Gläubiger sind die Armenier. Demgegenüber beurteilt Salles die Gesetzesinitiative wie folgt: »Je vois dans notre démarche une perche tendue à la Turquie d’aujourd’hui pour qu’à son tour ce pays fasse son devoir de mémoire.«115 Weiterhin ist das Ziel dieser »Erinnerungspflicht« nicht genau benannt. Während bei Hermier aus dem Kontext hervorgeht, dass er deren Sinn darin sieht, die
109 Lilian Zanchi in: JO-2006, S. 6103. 110 François Rochebloine in: JO-2006, S. 6096. 111 Vgl. die o. g. Referenzen auf Worte wie »combat«, »ceux qui sont tombés«, »martyrs«, »victoire«. 112 U. a. Rouquet in: Compte rendu intégral 1998, S. 3; Salles in: JO-2001, S. 560; Bret in: ebd., S. 552; Boyer in: JO-2011, S. 9111, S. 9133. 113 Hermier in: Compte rendu intégral 1998, S. 7. 114 Foucher in: JO-2001, S. 550. 115 Salles in: ebd., S. 560.
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Geschichte sich nicht wiederholen zu lassen,116 sprechen sowohl Lellouche als auch Estrosi 1998 von einem »devoir sacré de mémoire«117. In dieser Formulierung ist das Ziel nebensächlich; das Erinnern ist vor allem ein heiliger Akt. ›Erinnerung‹ wird damit zweifach überhöht: Von einer Option wird sie zur Pflicht, schließlich gar zu einer religiösen Pflicht. Der eigentliche Diskussionsgegenstand wird so aus der Ebene des Argumentativen herausgelöst und seine Schutzwürdigkeit verabsolutiert. Die »Erinnerungspflicht« wird 1998 und 2001 deutlich stärker betont als 2006 und 2011. Hierfür ist der Gegenstand der Debatten und die jeweilige Argumentationsstrategie verantwortlich: Da die strafrechtliche Verfolgung der Genozidleugnung gerade nicht als ›loi mémorielle‹, sondern als nüchterne strafrechtliche Harmonisierung zur Gleichbehandlung aller Genozide gelten soll, wird kaum noch darauf rekurriert.118 Integration, Menschenrechtsschutz und Erinnerungspflicht stehen also im Zentrum der Argumentation der Befürworter der Gesetzesinitiativen. Dabei ist das Integrationsargument partikular, da es darauf abzielt, rückwirkend die spezifische Gruppe der armenischen Einwanderer zu belohnen. Das Argument des Menschenrechtsschutzes verdankt sich der universellen Aufgabe Frankreichs als »Land der Menschenrechte«, im Falle eines Genozids, auch eines historischen, zu ›intervenieren‹. Schließlich ist die Erinnerungspflicht zwischen Partikularismus und Universalismus situiert: sie wird als universell gültig postuliert, aber in diesem speziellen Fall als den Armeniern geschuldet betrachtet. Gegendiskurs: »Ce n’est pas au parlement de dire l’histoire« Kritische Positionen zu den Gesetzesinitiativen bezüglich des Armeniergenozids sind im französischen Parlament rar. 1998 und 2001 herrscht Einigkeit unter den Parlamentariern – alle Sprecher befürworten das Vorhaben der Anerkennung. Lediglich der jeweilige Regierungsvertreter äußert sich ablehnend. 2006 und 2011 finden sich Kritiker auch in den Reihen der Abgeordneten, wenn auch nur drei bzw. sechs Sprecher das Wort gegen die Initiative ergreifen (16% bzw. 25% der Gesamtrednerzahl). Ihre Argumentation ist dabei nicht vorwiegend ›realpolitisch‹, sondern ebenfalls wertorientiert fundiert: sie äußern grundsätzliche Bedenken hinsichtlich der strafrechtlichen Durchsetzung eines offiziellen Geschichtsbildes. Dabei äußern sie vor allem die Ansicht, dass Geschichte von Historikern ›gemacht‹ werden müsse und es nicht Sache des Parlamentes sei, diese
116 Vgl. Hermier, a.a.O. 117 Lellouche und Estrosi in: Compte rendu intégral 1998, S. 13 und 16. 118 Siehe die folgenden Ausführungen.
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festzulegen. Ein derartiges Vorgehen wird als undemokratisch, teilweise sogar »stalinistisch« 119 , abgelehnt. Kritisiert wird, dass damit unter Umgehung der Gewaltenteilung120 eine »pensée officielle«121 durchgesetzt zu werden versuche, die die Meinungsfreiheit einschränke122. Dabei tauchen immer wieder Referenzen an Pierre Nora123 und Bernard Accoyer124 auf. An Nora wird als Historiker und einen der Initiatoren und Präsident des Zusammenschlusses Liberté pour l’histoire appelliert.125 Nora wurde auch von Accoyer befragt, als dieser in seiner Eigenschaft als Parlamentspräsident eine Kommission zum Umgang mit ›Lois mémorielles‹ leitete.126 Die Ablehnung der Gesetzesentwürfe erfolgt also vor allem aus prinzipiellen Erwägungen. Der spezifische Umgang mit dem Armeniergenozid wird nur selten thematisiert, etwa wenn Catherine Colonna als Vertreterin der Regierung anmerkt, das vorgeschlagene Gesetz werde sich als kontraproduktiv erweisen.127 François Bayrou problematisiert als einziger die Dimension des kollektiven Gedächtnisses auf Seiten der Armenier, wenn er zu Protokoll gibt, dass diese ihren jüngeren Generationen aus seiner Sicht fälschlicherweise vermittelt hätten, der an ihnen verübte Genozid nehme in der Reihe mehrerer weiterer eine Sonderstellung ein.128 Schließlich verweist Tardy auf den Umstand, das Gesetz sei nicht verhältnismäßig, da die Leugnung des Armeniergenozids in Frankreich nicht strukturell sei und nicht das Potential gesellschaftlicher Spaltung berge.129 Alle Beteiligten argumentieren also überwiegend auf einer Ebene absoluter Wertrelevanz. Im Vordergrund steht nicht die Problemerörterung oder gar Lösungsfindung unter Einbeziehung der moralischen Gesichtspunkte wie des aktuell Erfolgversprechenden. Vielmehr ist die Debatte auf die Befürwortung oder Ablehnung des Gesetzes nach möglichst absoluten Maßstäben fokussiert.
119 Myard in: JO-2006, S. 6113. 120 Vgl. Diefenbacher in: JO-2011, S. 9123. 121 Ebd. 122 Vgl. Myard in: JO-2011, S. 9131. 123 Vgl. Lequiller in: JO-2006, S. 6105 und Piron in: ebd. S. 6113. 124 Vgl. Maurer in: JO-2011, S. 9129. 125 Vgl. Kap. 4.3.3.3. 126 Wie oben bereits erwähnt, endete die Untersuchung mit der Empfehlung, keine weiteren ›Erinnerungsgesetze‹ mehr zu verabschieden, die bestehenden jedoch beizubehalten, vgl. Rapport Accoyer (2008), S. 93-96. 127 Colonna in: JO-2006, S. 6106. 128 Bayrou in: JO-2011, S. 9132. 129 Tardy in: JO-2011, S. 9130.
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Bei der Debatte zeigen sich auf der Seite der Befürworter keine exklusiv parteigebundenen Argumente. Auf allen Seiten dominiert die Ansicht, dass sich in diesem Belang Frankreichs universalistische Mission 130 manifestiere bzw. »la France éternelle«131 zum Ausdruck komme, die über politischen Gräben steht. Die drei genannten Argumentationslinien sind im gesamten politischen Spektrum präsent. Gleichwohl ist eine Tendenz zu beobachten, nach der von der politischen Linken die Erinnerungspflicht und die Rolle Frankreichs als ›Land der Menschenrechte‹ stärker betont werden.132 Die Rechte hebt demgegenüber die gelungene Integration der Armenier in Frankreich und ihren Beitrag zur Größe des Landes mehr hervor. Auch ist auffällig, dass alle Gegenargumente aus dem rechten bzw. aus dem Zentrumslager vorgebracht werden. Das Hauptargument der Gegner – dass es nicht am Parlament sei, die Geschichte festzulegen – hat sich, auch aufgrund der großen Autorität Noras und seiner Kollegen sowie der großen Resonanz in den Medien – als wirkmächtig erwiesen. 2011 reagiert die Regierung, die sich erstmalig als Befürworterin des Gesetzes positioniert, darauf, indem sie die Fragestellung ganz dem Themenkontext der ›Erinnerungsgesetze‹ entziehen und sie als rein pragmatische gesetzliche Harmonisierung framen will: Im Vergleich mit der Debatte aus dem Jahr 2006, der ein ähnlicher Gesetzesvorschlag zugrunde liegt, ist zunächst festzuhalten, dass die Initiative wiederum vor allem als notwendige Folge aus der 2001 erfolgten Anerkennung dargestellt werden soll. Von Werten oder gar einer »Mission« ist dabei indes kaum die Rede: vielmehr dominiert das Bestreben, die Initiative nicht als erinnerungspolitisches Gesetz diskutieren zu lassen, sondern als strafrechtliche Konsequenz der Entscheidung von 2001 darzustellen, die dem Erhalt der inneren Ordnung diene (da sie eine Minderheit schütze) und insofern zwingend sei, als sie die Gleichbehandlung aller staatlich anerkannten Genozide postuliere. Man werde also keine weitere loi mémorielle verabschieden, sondern lediglich eine Angleichung infolge eines bestehenden Erinnerungsgesetzes vornehmen. Insbesondere Patrick Ollier als Vertreter der Regierungsposition133 ver-
130 Jean-Pierre Blazy in: JO-2001, S. 561: »Tendre vers l’universalité est aussi une mission historique et humaniste de la France.« 131 Patrick Devedjian in: Compte rendu intégral 1998, S. 9. 132 Die Anzahl der Nennungen sind für Redner aus dem rechten, zentristischen und linken Lager jeweils: Frankreich als ›Land der Menschenrechte‹: 1998: 2:1:5, 2001: 3:0:8; ›devoir de mémoire‹: 1998: 2:0:4, 2001: 3:3:4 (einzig für die ›Erinnerungspflicht‹ besteht 2001 kein auffälliger Unterschied mehr). 133 Die Regierung unterstützte 2011 erstmals uneingeschränkt eine den Armeniergenozid betreffende Gesetzesinitiative. 1998, 2001 und 2006 waren die Debatten jeweils
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teidigt die geplante Regelung in diesem Sinne und bescheinigt Kritikern, die ein erneutes geschichtspolitisches Gesetz durch den Staat bemängeln, sie hätten sich »trompés de débat«134. Auffällig ist hier das im Vergleich zu 2006 völlig konträre Framing durch die Regierung: hatte diese zuvor durch Colonnas Intervention noch versucht, das Problem außenpolitisch zu definieren und das Gesetzesvorhaben deshalb als nicht zielführend zu verwerfen, so stellt sie 2011 allein auf die innenpolitische Dimension ab: es müsse einerseits Kohärenz herrschen hinsichtlich der Rechtsfolgen, die sich aus der Leugnung jeglichen Völkermords ergeben und zugleich Diskriminierung bekämpft und nationale Einheit forciert werden. 5.1.3.3 Realpolitische Argumente Die Problematik der Maßnahmen zum Armeniergenozid hat zweierlei außenpolitische Dimension: zum einen steht dabei der Schaden zur Debatte, den die französisch-türkischen Beziehungen durch derlei Projekte nehmen könnten bzw. genommen haben. Bei dieser Betrachtung geht es meistens insbesondere um die wirtschaftliche, ggf. auch um die strategisch-militärische Kooperation.135 Mehrere Verteidiger der »armenischen Sache« sehen hierin der Hauptgrund für etwaige Gegenpositionen seitens der französischen Regierung oder des Außenministeriums.136 Daneben steht die Frage, welchen Effekt die in Frankreich beschlossenen Gesetze auf das Verhältnis der Türkei zu ihrer Geschichte und zu ihren Minderheiten haben, also auf die Ursachen des Negationismus.
gegen den Wunsch der amtierenden Regierungen zustande gekommen; entsprechend hatten sich auch die Regierungssprecher in der Nationalversammlung geäußert. 2011 beruhte die Initiative der Abgeordneten Valérie Boyer auf einer zuvor von Staatspräsident Sarkozy getätigten Zusage: auf Staatsbesuch in Armenien im Oktober 2011 hatte er angekündigt, sein Wahlversprechen zu erfüllen und vor Ablauf der Wahlperiode im Frühjahr 2012 ein entsprechendes Gesetz einbringen und verabschieden zu lassen. 134 Patrick Ollier in: JO-2011, S. 9133. 135 Vgl. u. a. P. J.: Les revendications... (1986), a.a.O., wo bereits auf die Allianz von Frankreich und der Türkei als NATO-Mitglieder verwiesen wird; 2000 erinnert Lacombe an die benötigte Unterstützung durch die Türkei für den Kosovo-Krieg: Lacombe (2000), a.a.O.; 2001 stellt der Economist fest: »No sooner was the presidential ink dry than Turkey scrapped a $205m deal with a French company to modernise 80 Turkish military aircraft.« [o. A.]: That controversial G-word, in: The Economist, 03.02.2001. 136 Vgl. Rochebloine in: JO-2001, S. 546 »Il vaut mieux perdre des marchés que son âme!«
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Zum Zeitpunkt der ersten Initiative in Frankreich zur Anerkennung des Genozids an den Armeniern befanden sich die türkisch-französischen Beziehungen in sehr gutem Zustand.137 Die militärische Schlüsselstellung, die die Türkei seit dem Kalten Krieg für die NATO hat, wurde ergänzt durch ihre zunehmende Wirtschaftskraft. Im beiderseitigen Verhältnis konnte Frankreich davon profitieren, dass in der Türkei traditionell eine eher frankophile Haltung vorherrschte.138 Während der Diskussion des Gesetzes zur offiziellen Anerkennung des Genozids drohte die Türkei mit dem Abbruch der Verhandlungen über einen Auftrag an Frankreich über 150 Hubschrauber. Nach der Proklamation des Gesetzes 2001 stornierte sie tatsächlich einen Auftrag über die Modernisierung von 80 Flugzeugen. 139 Armenische Repräsentanten verweisen darauf, dass nach 2001 das Handelsvolumen aber insgesamt entgegen der Drohgebährden der Türkei stark angestiegen sei. 140 Mehrere Redner im Parlament haben ähnlich argumentiert und die von der Türkei aufgebaute Drohkulisse so zu mindern gesucht.141 Auch innerhalb des französischen Außenministeriums gibt es Hinweise darauf, dass nicht alle Initiativen zwischen den beiden Ländern trotz heftiger Auseinandersetzungen an der Oberfläche gleich negativ beeinflusst wurden: so verrichtete 2011 zum ersten Mal ein türkischer Austauschdiplomat im Quai d’Orsay seinen Dienst. Dieser wurde auch im Kontext der Debatte um die Loi Boyer nicht abgezogen.142 Gleichwohl erließ die Türkei Anfang 2012 Sanktionen gegen Frankreich, die sie erst nach der Feststellung des Verfassungsrats aufhob, dass die Loi Boyer antikonstitutionell sei.143 Die Situation hatte sich 2011/12 im Vergleich zu derjenigen zehn Jahren zuvor insofern geändert, als dass die Türkei durch ihr anhaltendes wirtschaftliches Wachstum selbstbewusster geworden war. Mit einem
137 Vgl. Pope, Nicole: La Turquie a mis en garde les autorités françaises, in: Le Monde vom 30.05.1998; ebenso Masseret, Olivier: »La France reconnaît le génocide arménien de 1915«. Loi pour la mémoire ou geste diplomatique?, in : Confluences Méditerranée (2001)39, S. 141-152, hier S. 144. 138 Vgl. Perrier, Guillaume: Sortir de l'impasse avec la Turquie, in: Le Monde vom 01.04.2012. 139 Vgl. Hervieu-Léger (2000), a.a.O. sowie (o. A.): That controversial G-word, in: The Economist vom 03.02.2001. 140 Interview 22 vom 17.03.2013. 141 Vgl. u. a. Valérie Boyer in: JO-2011, S. 9112 f. 142 Interview 25 vom 14.03.2013. 143 Vgl. die entsprechende Meldung von Libération vom 22.06.12, dass Erdoğan Hollande eingeladen und angekündigt habe, die Sanktionen aufzugeben [Rubrik: en bref].
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Handelsvolumen von 12 Milliarden Euro rangierte sie wirtschaftlich an dritter Stelle der außereuropäischen Partner Frankreichs.144 Dies ist nicht nur Regierung und Außenministerium bewusst: Auch die befragte Senatorin erklärt, eine in ihrem Wahlkreis gelegene Fabrik und die dazugehörigen Arbeitsplätze seien unbedingt auf den türkischen Markt angewiesen.145 Hier verbindet sich die Opposition zu dem infrage stehenden Gesetz tatsächlich mit wirtschaftlichen Erwägungen. Doch der von Diplomaten beklagte »frein total à la coopération«146 betrifft nicht nur den wirtschaftlichen Bereich. »Au beau fixe depuis plusieurs années« 147 lautete noch 1998 in den Medien die Beschreibung der französischtürkischen Beziehungen. 2012 macht die Vermutung, die Loi Boyer könnte für das gegenseitige Verhältnis der »coup de grace«148 sein, deutlich, wie sehr sie sich in dem dazwischen liegenden Zeitraum verschlechtert haben. Bereits 2004 hat ein Senatsbericht in alarmierendem Ton auf die Verstimmungen hingewiesen: »Le vote [des Gesetzes zur Anerkennung des Genozids an den Armeniern von 2001, d. A.] a eu des effets désastreux sur le développement de nos coopérations avec la Turquie, tant en matière économique que scientifique ou culturelle: de nombreux projets ont été interrompus ou bloqués. Les Turcs interprètent encore ce vote comme un acte inamical à leur égard [...].«149
Dies hat offenbar auch negativ auf den politischen Einfluss Frankreichs auf die Türkei ausgewirkt: die diplomatischen Aktionen zielten in Folge der Verstimmungen vor allem darauf, die Wogen zu glätten: so wird berichtet, Frankreich habe zu den damals gerade wieder akuten massiven Repressionen gegen die Kurden aus diesem Grund nicht Stellung bezogen.150 Das Armenier-Thema wird
144 Sémo, Marc: Ankara annonce des rétorsions, in: Libération vom 23.12.2011. 145 Interview 21 vom 02.04.2013. 146 Interview 26 vom 15.05.2013. 147 Vgl. Pope, Nicole: La Turquie a mis en garde les autorités françaises, in: Le Monde vom 30.05.1998. 148 Perrier, Sortir de l’impasse... (2012), a.a.O. 149 Chaumont, Jacques: Rapport d’information N°395 2003-2004 fait au nom de la commission des Finances, du contrôle budgetaire et des comptes économiques de la Nation sur l’outil diplomatique en Turquie [Reihe: Rapports d’information des französischen Senats]. 150 Vgl. ebd.
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auf diplomatischer Ebene wenig, und schon gar nicht kritisch, angesprochen: man sei durch die jahrelangen Zwistigkeiten in dieser Sache in den Augen der Türken »décrédibilisés«151. Neben den Wirkungen auf die Einflussmöglichkeiten Frankreichs und seine Handlungsspielräume bei verwandten Themen ist es der Beitrag zur Lösung der ›armenischen Frage‹ selbst, der kontrovers diskutiert wird. Im Quai d’Orsay betrachtet man die französischen Gesetzesinitiativen zum Armeniergenozid als kontraproduktiv: »Elles fragilisent la position des gens qui travaillent là-dessus sur place.« 152 Gleichzeitig minderten sie auch in diesem Zusammenhang die Unterstützungsmöglichkeiten, die Frankreich denjenigen entgegenbringen könne, die sich vor Ort für eine offenere Geschichtsaufarbeitung einsetzen. Darauf verweist auch Colonna als Sprecherin der Regierung in der Parlamentsdebatte 2006. Sie zitiert türkische Intellektuelle, nach deren Erfahrung Initiativen von außen – wie die von Frankreich durchgeführte bzw. geplante – immer den gegenteiligen Effekt als den intendierten gehabt hätten. Den Parlamentariern, die das Gesetz gegen die Leugnung durchsetzen wollen, unterstellt sie Ignoranz und Arroganz: im Vergleich zu den Experten vor Ort hielten sie sich für »mieux placés qu’eux pour en juger«153. Eine ähnliche Position hatte die Regierung durch Masseret bereits 1998 vertreten. »Vous vous en rendez bien compte, le simple vote de ce texte ne va pas tout régler«154, hatte dieser den teils euphorischen Bekundungen der Abgeordneten entgegnet. In den Medien ist auf diesen zweischneidigen Effekt wiederholt hingewiesen worden. Bereits 2001 berichtet Le Monde, dass der Druck auf die Armenier in der Türkei infolge des französischen Gesetzes zur Anerkennung des Genozids zugenommen habe.155 Die Position des ermordeten türkisch-armenischen Publizisten Hrant Dink, der 2006 zum französischen Vorstoß zur strafrechtlichen Verfolgung der Leugnung des Armeniergenozids erklärte, es handele sich um eine »loi imbécile«156, wird in den französischen Medien nuanciert durch die Aussagen von Intellektuellen wie Taner Akçam oder Michel Marian, die einen gewis-
151 Interview 26 vom 15.05.2013. 152 Ebd. 153 Colonna JO-2006, S. 6106. 154 Masseret in: Compte rendu intégral 1998, S. 15. 155 Vgl. Mani: La reconnaissance... (2001), a.a.O. 156 Zitiert nach: (o. A.): La loi sur le génocide divise les intellectuels turcs, in: Le Monde vom 19.01.2012.
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sen Druck von außen als notwendig erachten.157 Indes wenden auch sie sich dagegen, die in Gesetzesform zu tun, wobei sie damit mit ihrem Kollegen Cengiz Aktar konform gehen: Dieser sagt eine »montée du nationalisme«158 in der Türkei als Effekt der Loi Boyer voraus. Hingegen glaubt man in der Assemblée Nationale an einen ganz anderen Effekt: 1998 liegt die Betonung noch stark auf einem potentiellen »effet d’entraînement«159, den man sich dahingehend erhofft, dass die Anerkennung durch Frankreich diejenige durch weitere Staaten nach sich ziehen möge. 2001 wird ein solcher Effekt nur noch von einem Redner beschworen. 160 Stattdessen werden weitaus konkretere, die Türkei betreffende Ziele ins Feld geführt: die Verbesserung der türkisch-armenischen Beziehungen fällt ebenso darunter wie die Stärkung der demokratischen Kräfte in der Türkei und die Förderung der demokratischen Entwicklung der Türkei allgemein.161 Gleichzeitig werden auch erstmals offene Reminiszenzen gegenüber der Türkei laut: zwar heben die Redner regelmäßig hervor, das Gesetz richte sich keinesfalls gegen die heutige Türkei,162 die für die Taten des osmanischen Staates nicht verantwortlich sei.163 Parallel fördert die Diskussion jedoch eine oft äußerst undiplomatisch formulierte Haltung gegenüber der Türkei zutage, in der sich herablassende Äußerungen mit Kritik
157 Vgl. ebd. sowie Rotivel, Agnès: »En Turquie, la question arménienne est liée à un combat pour les droits de l'homme«, Interview mit Michel Marian, in: La Croix vom 23.01.2012. 158 Zitiert nach: Marc Semo: La peur de l'effet boomerang. Pour les intellectuels turcs, la loi Boyer va accentuer la pression du gouvernement, in: Libération vom 22.12. 2011. 159 Vgl. Rouquet in: Compte rendu intégral 1998, S. 3, Bret in: ebd., S. 6 David in: ebd., S. 14 (1998 ist, wie bei Bret, die Rede von »répercussion« oder, wie bei Rouquet, von »résonances«. Der Begriff »effet d’entraînement stammt von Michèle Rivasi (siehe folgende Fußnote). 160 Rivasi in: JO-2001, S. 559. 161 Vgl. Rochebloine in: JO-2001, S. 546; Bret, S. 553; Santini in: ebd., S. 556; Rivasi in: ebd., S. 559, Blazy in: ebd., S. 561. 162 Rochebloine in: JO-2001, S. 546: »Du reste, aujourd’hui, qui songe à faire porter à la Turquie moderne la responsabilité de cette tragédie?«; ebenso Sarre in: ebd., S. 550: »[...] il est évident que ni le peuple turc, ni la Turquie actuelle, dont le regard sur leur propre histoire a évolué et évoluera encore, ne sauraient être mis en accusation sur la question qui nous occupe aujourd’hui.« etc. 163 Vgl. auch Rochebloine in: ebd., S. 546, Sarre in: ebd., S. 550, Jambu in: ebd., S. 558, Muselier in: ebd., S. 558, Raimond in: ebd, S. 561 etc.
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an der türkischen Politik allgemein mischen.164 Die Erwartungshaltung ist also genau entgegengesetzt: Frankreichs Initiative wird als Druckmittel gesehen, um politisch-gesellschaftliche Prozesse in der Türkei anzustoßen beziehungsweise zu beschleunigen. Im Gegensatz dazu werden 2011 kaum die potentiellen Auswirkungen der Loi Boyer auf die Türkei und die Kaukasus-Region erwähnt. Lediglich Diefenbacher als Gegner des Gesetzes mahnt an, in einer so fragilen Region dürfe man nicht »[Öl ins Feuer gießen]«.165 Die Befürworter hingegen sehen in der Initiative eine Antwort auf ein innenpolitisches Problem, wobei sie die möglichen Folgen für die internationale Politik weitgehend ausblenden. Bemerkenswert dabei ist der Einwand von Valérie Boyer selbst, die die Proteste seitens der Türkei als »une très grave ingérence dans les affaires intérieures de notre République«166 bewertet. Im Gegensatz zur vormaligen Rechtfertigung der Bewertung türkischer Geschichte seitens des französischen Parlaments, die aufgrund des Souveränitätsprinzips scheinbar notwendig war, wird dieses Prinzip nun umgekehrt: die Legitimität, mit der die Türkei ein Gesetz infrage stellt, das dem zivilen Frieden in Frankreich dienen soll, wird in Zweifel gezogen. Die außenpolitischen Folgen dieser Haltung hat die französische Staatsleitung immer, unabhängig von ihrer innenpolitischen Rhetorik in der Sache, zu minimieren versucht, indem sie die Gesetze zum Armeniergenozid gegenüber der türkischen Staatsführung in einer Weise kommentiert hat, die deren Intentionen bisweilen zu konterkarieren scheint. Während nach der Anerkennung des Genozids durch den Senat im Jahr 2000 Elysée und Regierung sich noch auf eine diplomatisch formulierte Note verständigt hatten, 167 reagierten die türkischen
164 So wiegelt Blum die Aussicht auf Repressalien durch die Türkei mit den Worten ab: »Qu’importe, nous n’avons que faire du chantage et sûrement pas de leçons à recevoir d’un gouvernement dont les méthodes de traitement des prisonniers politiques, comme de droit commun, datent du XIXe siècle. [...] D’un pays qui, à mon humble avis, ne saurait, de ce point de vue comme d’ailleurs de beaucoup d’autres, répondre aux critères d’adhésion à l’Union européenne.« (Blum in: JO-2001, S. 551). Devedjian kritisiert an der Türkei »son attitude actuelle à l’égard de sa propre population, des droits de l’homme bafoués, de la répression terrible de la minorité kurde ou de l’occupation militaire scandaleuse de Chypre malgré toutes les condamnations de l’ONU.« (Devedjian in: ebd., S. 554). 165 »souffler sur les braises«, Diefenbacher in: JO-2011, S. 9123. 166 Boyer in JO-2011, S. 9112. 167 Vgl. Lacombe, Marcia (2000), a.a.O. »Le ›devoir de mémoire‹ mis en avant lors des débats dans l’hémicycle et les considérations électorales l’ont donc emporté sur les
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Medien heftig auf einen Brief Sarkozys an Erdoğan vom 18.01.12, »une confuse autojustification mêlée d’une certaine contrition, le tout purgé de toutes les remontrances que M. Sarkozy avait pu faire à la Turquie [...].«168 Die außenpolitischen Implikationen der französischen Initiativen zum Armeniergenozid werden also unterschiedlich bewertet von Parlament, Außenministerium, Medien und Regierung. Während in der Assemblée nationale die außenpolitische Wirkung vorwiegend entweder optimistisch prognostiziert bzw. als in Kauf zu nehmende Nebenwirkung der Durchsetzung einer moralischen Errungenschaft gedeutet werden, weisen Diplomaten nicht nur auf die Schädigung französischer Interessen, sondern auch auf kontraproduktive Effekte hin. Diese werden gleichfalls in einigen Medien reflektiert, die ihren Lesern die Komplexität der Thematik vermitteln und verschiedene Positionen gegenüberstellen. Insbesondere wird in der Presse kritisch auf die Bestrebungen der jeweiligen Regierungen und Präsidenten hingewiesen, die über entsprechende Schreiben versucht haben, die bilaterale Beziehungspflege mit den Entscheidungen des Parlaments zu vereinbaren. Deren darin vorgenommene Verteidigung, in Verbindung mit einer gleichzeitigen Distanzierung, erweckte vielmehr den Eindruck einer Defensivposition statt der angestrebten demonstrativen französischen Unabhängigkeit. Zusammenfassend kann festgehalten werden, dass eine Schädigung des französisch-türkischen Verhältnisses – in wirtschaftlicher wie diplomatischer Hinsicht – durch die beschriebenen Gesetzesvorhaben absehbar war und bewusst in Kauf genommen wurde. Dies galt weitgehend als Preis für die Durchsetzung eines moralisch-ethischen Anliegens. Hingegen wurden potentielle Rückschläge in der türkischen Geschichtsaufarbeitung oder im türkisch-armenischen Verhältnis zwar in den Medien thematisiert, von Seiten der Politik jedoch kaum aufgegriffen. So verblieb die moralische Dominanz des Parlamentsdiskurses bei den Befürwortern der Gesetze.
enjeux diplomatiques et économiques. Ceux-ci restent pourtant primordiaux, comme en attestent les réactions des autorités françaises hier après le vote. L’Elysée et le gouvernement on fait une déclaration commune pour affirmer que le vote ›ne constitue pas une appréciation de la Turquie d’aujourd'hui et que ›la France souhaite continuer à entretenir et développer avec la Turquie des relations de coopération étroite dans tous les domaines‹.« 168 Nougayrède, Natalie: L’Elysée tente de réparer les dégâts avec la Turquie, in: Le Monde vom 26.01.2012.
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5.1.3.4 Fazit In diesem Kapitelabschnitt sind die im Theorieteil eingeführten drei ›Erfolgsfaktoren‹ für das ›Erinnerungslobbying‹ für die Durchsetzung der armenischen Anliegen in Frankreich untersucht worden. Dabei ergibt sich ein differenziertes Bild: Dies trifft in besonderem Maße für den Faktor ›Politische Opportunität‹ zu. Auf nationaler Ebene ist vor allem auffällig, dass weniger das Thema als solches in Wahlkontexten verwendet wird, sondern es häufig gebraucht wird, um als Argument in anderen Diskussionskontexten (wie dem EU-Beitritt der Türkei) zu fungieren oder der Profilschärfung einzelner Politiker zu dienen. Die Rezeption des Themenkomplexes ist daher deutlich von den weiteren Positionen des jeweiligen Politikers – ob er die Funktion des Präsidentschaftskandidat oder eine andere Aufgabe bekleidet, in der er nationalen Einfluss zu erlangen sucht. Lokal sind die Abhängigkeiten der Gewählten von den armenischen Verbänden, die je nach Region eine große Anzahl von Bürgern repräsentieren (wie Marseille) bzw. gut vernetzt sind, größer. Aber auch hier lässt sich zwischen den Motivationen unterscheiden. Während es für weniger bekannte Politiker eine Gelegenheit sein kann, sich bei den lokalen Wählern sowie auf nationaler Ebene zu profilieren, bedingen die teils engen Kontakte zwischen armenischen Organisationen und den politischen Vertretern auch, dass letztere mit der Materie oft sehr vertraut sind und sich aus moralischen Gründen dafür einsetzen. Als solche werden die Schuld Frankreichs gegenüber der Gruppe der Armenier aufgrund von deren besonderer Integrationsleistung genannt; außerdem die Notwendigkeit des ›Eingriffs‹ in einen ›fortdauernden‹ Völkermord aus menschenrechtlichen Gesichtspunkten und schließlich die ›Pflicht zu erinnern‹. In dieser Argumentation finden sich die wesentlichen Merkmale des kollektiven Gedächtnisses der armenischstämmigen Franzosen gespiegelt: die fortwährende Bedrohung ebenso wie die Idealisierung Frankreichs und die Bedeutungsüberhöhung französischen Handelns. Schließlich verweist das angerufene devoir de mémoire nicht nur auf einen im öffentlichen Diskurs verselbständigten moralischen Begriff, sondern auch auf die Ähnlichkeiten zum stärker erinnerten ›anderen Holocaust‹, der Shoah. Außenpolitisch ist die bereits beschriebene Beobachtung festzuhalten, dass im Sinne der universalistischen Idee von Frankreich die Wirkungseinschätzung der Maßnahmen innerhalb der Parlamentes sehr optimistisch geprägt ist. Differenzierende Kritik wird wenig vorgebracht und kaum diskutiert; außenpolitische Einwände werden vor allem als wirtschaftlich-machtpolitisch motiviert pauschal abgelehnt. Paradox erscheint dabei, dass die Debatten im Parlament, die die Abgeordneten als Ausdruck des Willens und auch des moralischen Empfindens der
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französischen Nation darstellen, nicht auf die Komplexität des Sujets, wie sie in den französischen Medien und der Öffentlichkeit durchaus wiedergegeben wird, eingehen. Dass die Diskussion eines historischen Themas wie des Armeniergenozids im Parlament mehrheitlich auf einige pauschale moralische Argumente beschränkt bleibt, hängt zum einen mit der Wirkungsmacht zusammen, die diese Argumente erzeugen, indem sie auf gesellschaftlich anerkannte Référentiels verweisen. Zugleich ist die Zusammensetzung des Parlamentes bei derlei Abstimmungen mit einigen weiteren Besonderheiten dafür verantwortlich, dass die Einschätzungen innerhalb der Assemblée nationale eher homogen bleiben. Beides wird im Folgeabschnitt dargelegt. 5.1.4
Erklärungsmuster
5.1.4.1 Bezugnahme auf ›Référentiels‹ zur Diskurslegitimation Im vorhergehenden Abschnitt ist gezeigt worden, dass der Diskurs im Parlament auf vier zentralen Argumenten fußt; drei auf der Seite der Befürworter, eins auf Seiten der Gegner der jeweiligen Gesetzesinitiativen. Im Folgenden wird verdeutlicht, inwiefern diese Argumente ihre Überzeugungskraft aus einem national etablierten Diskurs um die jeweils verwendeten Begriffe beziehen. Das erste Argument, das der gelungenen Integration der Armenier in Frankreich und der daraus abgeleiteten ›Verpflichtung‹ der Nation, diesen ›etwas zurückzugeben‹, könnte zunächst als Ausdruck von Kommunitarismus und damit als Widerspruch zum assimilatorischen französischen Modell der ›unteilbaren‹ Republik aufgefasst werden. Schließlich wird darin deutlich, dass selbst die so gut integrierten armenischstämmigen Franzosen nicht voll ›assimiliert‹ sind, sondern einen eigenen Referenzkanon bewahrt haben. Wie oben erwähnt, zielt genau darauf die Kritik von Grosser, der den Armeniern vorwirft, ihre ›armenische‹ Identität der französischen vorzuziehen. Auch Noras Zurückweisung der geschichtspolitischen Sanktionierung gruppenspezifischer kollektiver Gedächtnisse beruht großenteils auf seiner Favorisierung eines für alle Franzosen verbindlichen Geschichtsnarrativs.169 Bei näherer Betrachtung hingegen zeigt sich, dass sich gerade diejenigen Redner, die die gute Integration der Armenier in Frankreich mit den Anerkennungsforderungen hinsichtlich des Genozids verbinden, das klassische republi-
169 Vgl. Sabrow, Martin: »Erinnerung« als Pathosformel der Gegenwart, in: ders. [Hrsg.]: Der Streit um die Erinnerung, Leipzig: Akad. Verl.-Anst., 2008, S. 9-24 hier S. 11 – wie Sabrow schreibt, sind die Lieux de mémoire entstanden aus »Sorge um einen Zerfall der nationalen Erinnerungsgemeinschaft«.
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kanische Modell der ›nation une et indivisible‹ avancieren, indem sie die armenischen Einwanderer in das nationale Narrativ einbeziehen. Eine extreme Form dieser Integration ist die Behauptung, dass die französische und die armenische Nation »seit den Kreuzzügen« 170 Seite an Seite stünden. Doch vor allem mit der wiederholten Betonung des Résistance-Engagements einiger armenischstämmmiger Franzosen und Missak Manoukians im Besonderen171 erfolgt der Rückgriff auf ein zentrales Motive positiver, valorisierender französischer Geschichtsschreibung. Einer Geschichtspolitik, die auch in Frankreich zunehmend die Auseinandersetzung mit den negativen Seiten der Geschichte (Algerienkrieg, Kolonialzeit, Vichy-Regime) fokussiert,172 wird damit ein als Référentiel etablierter Erinnerungsort gegenübergestellt, der die Verteidigung der republikanischen Werte Freiheit und Menschenrechte symbolisiert.173 Gleichzeitig wird damit durch den Kriegs- und Märtyrerkontext eine Schuldigkeit gegenüber den damaligen Akteuren postuliert.174 Interessant ist dabei, dass dieser Appell an Einigkeit und geteilte Werte und Pflichten über die Evozierung von Helden und Identifikationsfiguren in der Tradition der Geschichtspolitik des 19. Jahrhunderts steht.175 Im Gegensatz zu dem von Michel ausgemachten »régime victimo-mémoriel«, nach dem die Anerkennung von Opfergruppen zur Zersplitterung der Nation führe, dient das Gedenken des Völkermords an den Armeniern im französischen Parlament ganz klar einem traditionellen republikanischen Narrativ. Michel hatte diesbezüglich eine Dichotomie aufgestellt:
170 Vgl. die Aussage Santinis in: JO-2001, S. 556, zitiert in Kapitel 4.2.3.2. 171 Vgl. Kapitel 4.2.3.2. 172 Vgl. Pfeil, Ulrich: Frankreichs Meistererzählung vom »Land der Menschenrechte«, in: Martin Sabrow [Hrsg.]: Leitbilder der Zeitgeschichte. Wie Nationen ihre Vergangenheit denken [Helmstedter Colloquien, Heft 13], Berlin: Akademische Verlagsanstalt 2011, S. 76-102, hier S. 101. 173 Vgl. dazu auch Bizeuls Ausführungen zum ›Mythos Résistance‹ in: Bizeul, Yves: Glaube und Politik, Wiesbaden: VS Verlag für Sozialwissenschaften / GWV Fachverlage GmbH 2009, S. 159. 174 Vgl. ebd., S. 162: »Ferner versucht man dadurch [durch mythische Erzählungen über vergangene Kriege, d. A.], die Opferbereitschaft der Staatsbürger zu steigern und diese davon zu überzeugen, sie stünden in der Schuld der heldenhaften Nationengründer bzw. Vorfahren [...].« 175 Vgl. ebd., S. 157.
226 | STRATEGIEN DES G EHÖRTWERDENS »À la différence des politiques d’unification nationale ou de réconciliation nationale, les politiqes mémorielles de reconnaissance victimaire (le régime victimo-mémoriel) ne visent pas à construire ou à reconstruire symboliquement la nation comme un tout, fût-il fantasmé.«176
Das Beispiel der Armenier zeigt, dass dies in dieser Trennschärfe nicht beibehalten werden kann. Für Frankreich mit seiner Positionierung als Antipode zum Negationismus gilt vielmehr, was Barcellini für die Türkei mit ihrer Leugnungspolitik hinsichtlich des Armeniergenozids und der damit einhergehenden Heldenverehrung beobachtet: »[...] les autorités [...] font du Renan.«177 Die Popularität eines solchen Ansatzes unter den Parlamentariern dürfte auch von einem Bedürfnis nach identitätsstiftenden Referenzpunkten gespeist sein. So stellt Bizeul fest, dass große nationale Erzählungen als Reaktion auf gesellschaftliche Fliehkräfte entstehen.178 Was für das Frankreich des 19. Jahrhunderts gilt, findet auch für die Phase der Anerkennungsbestrebungen hinsichtlich des Armeniergenozids Anwendung: »Depuis une dizaine d’années, le réveil des mémoires occultées est l’un des signes de la crise de l’identité nationale.«179 Dies liegt einerseits an einer Rückbesinnung auf die Vergangenheit, nachdem mit dem Ende des Kalten Krieges die Zukunftsutopien als identitäre Referenz an Wirkmacht eingebüßt haben180 sowie der zunehmend kritischen Aufarbeitung der jün-
176 Michel (2010), S. 72. 177 Barcellini, Serge: Le débat sur le génocide arménien ou les deux modèles mémoriels, in: Le Figaro vom 26.01.2012. 178 Vgl. Bizeul (2009), S. 157. 179 Citron, Suzanne: Le mythe national. L’histoire de France revisitée, Paris: Les Éditions de l’Atelier / Éditions Ouvrières 2008, S. 296. 180 Badie (2012, S. 126 ff.) weist darauf hin, dass seit den 1990er Jahren in den internationalen Beziehungen Identitätsfragen an Bedeutung gewonnen haben, die während des Kalten Krieges fast verschwunden gewesen seien; Auch Lindenberger und Blaive (2012, S. 23) verweisen auf diese Renaissance der Erinnerung nach dem Ende des Kalten Kriegs. In Le Monde vom 20.09.2005 schreiben Raphaëlle Branche, Claude Liauzu, Gilbert Meynier, Sylvie Thénault (La responsabilité des historiens face à l'histoire coloniale): »Dans nos sociétés, le passé est devenu l’enjeu d’un discours revendicatif de forces qui se posent en héritières des victimes, avec d’autant plus d’insistance qu’aucune utopie ne les projette vers l’avenir et qu’elles sont animées par une logique de concurrence victimaire.« (unter http://www.lemonde.fr/afrique/ article/2007/03/27/la-responsabilite-des-historiens-face-a-l-histoire-coloniale_88861
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geren französischen Vergangenheit. Doch auch soziale Unruhen, die auf die gescheiterte Integration eines Großteils der Vorstadtjugend zurückgeführt wurden, haben Aufmerksamkeit erregt. 181 Die Antwort Sarkozys, ein »Ministerium für Einwanderung und nationale Identität« zu schaffen, eine nationale Identitätsdebatte anzustoßen und die »positiven Errungenschaften« der französischen Zivilisation zu betonen,182 kann ebenfalls als Versuch gewertet werden, den anscheinend verloren gegangenen Zusammenhalt zu forcieren. Insofern sind die Initiativen zur Anerkennung des Armeniergenozids nicht nur Zeichen des oft monierten Kommunitarismus, sondern im Gegenteil Maßnahmen, die die Repu-blik ›une et indivisible‹ beschwören, indem sie die kollektive Erinnerung einer Minderheit in die nationale »Meistererzählung«183 integrieren. Am Beispiel der Selbstdarstellung als ›Land der Menschenrechte‹ wird dies wiederum besonders deutlich. Wie Pfeil zeigt, ist das Selbstbild als ›Land der Menschenrechte‹ seit der III. Republik konstitutiv für den französischen Nationalstolz. Mehr als auf die heutige Bedeutung bzw. Einhaltung der Menschenund Bürgerrechte in Frankreich verweise die Formulierung auf deren erstmalige Erklärung im Kontext der französischen Revolution. Diese zeuge von Frankreichs Charakter als ›auserwähltem Land‹, das den Auftrag habe, anderen Ländern ›voranzugehen‹ und ihnen den Weg zu Fortschritt und Humanismus zu zeigen.184 Die diesem Diskurs inhärente Gleichsetzung von Revolution, Republik und französischer Nation185 bietet auch einen Erklärungsansatz dafür, dass der Begriff von der politischen Linken noch deutlich häufiger angeführt wird. 186
5_3212.html, Stand: 06.04.2014). Ähnliches stellen auch Harald Welzer und Claudia Lenz fest, in: dies. (2007), hier S. 12. 181 Vgl. Musharbash, Yassin: Vorstadt-Unruhen: Rebellion gegen die Grande Nation, in: Spiegel online vom 04.11.2005 unter http://www.spiegel.de/politik/ausland/vor stadt-unruhen-rebellion-gegen-die-grande-nation-a-383288.html, Stand: 23.07.2013. 182 Vgl. Pfeil (2011), S. 95 ff. sowie Van Eeckhout,Laetitia: Nicolas Sarkozy relance le débat sur l'identité nationale, in: Le Monde vom 21.04.2009 unter http://www. lemonde.fr/politique/article/2009/04/21/nicolas-sarkozy-relance-le-debat-sur-l-identi te-nationale_1183372_823448.html, Stand: 23.07.2013. 183 Vgl. Jarausch, Konrad H. und Martin Sabrow: »Meistererzählung« – zur Karriere eines Begriffs, in: dies. [Hrsg.]: Die historische Meistererzählung: Deutungslinien der deutschen Nationalgeschichte nach 1945, Göttingen: Vandenhoeck und Rupprecht 2002, S. 9-32. 184 Vgl. Pfeil (2011), S. 82. 185 Vgl. ebd., S. 79. 186 Vgl. Kapitel 4.2.3.2.
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Allerdings merkt auch Pfeil an, dass gerade mit Blick auf das Narrativ vom ›Land der Menschenrechte‹ eine Diskrepanz zwischen legitimatorischem Diskurs und tatsächlichem Handeln bereits seit der III. Republik augenscheinlich sei. 187 Ähnlich bemerkt Badie, eine zu starke Betonung der Verbindung von Frankerich und Menschenrechten müsse »créer un sentiment de suspicion et une crainte de domination de la part des sociétés qui nous sont culturellement les plus éloignées. D’autant plus que la France fait comme les autres.«188 Diese Kontrastierung wird von weiten Teilen der politischen Klasse indes nicht nur nicht vorgenommen, sondern, wenn von außen auf offensichtliche Widersprüche hingewiesen wird, sogar indigniert zurückgewiesen. So reagierte derselbe Abgeordnete Lellouche, der die Inkaufnahme einer Verschlechterung der türkischarmenischen Beziehungen zum Wohle der ›moralischen Wahrheit‹ im Parlament propagiert hatte, empört auf die Kritik der Europäischen Kommission zur französischen Politik der Romaabschiebungen 2010, indem er die Entrüstung der Kommissarin Reding als »Entgleisung« und »ungebührend« bezeichnete.189 Hier wird deutlich, dass die »Meistererzählung vom ›Land der Menschenrechte‹«190 nicht nur ein akzeptiertes, sondern ein geradezu unantastbares Référentiel ist, dem gleichwohl ein großes Konfliktpotential im bilateralen Bereich innewohnt: von großer Wirkmacht im innenpolitischen Diskurs aufgrund seiner allgemeinen Akzeptanz, ist die daraus abgeleitete moralische Sonderrolle für den Betrachter, der die Konflikte zwischen Ideal und Realität sieht, schwer hinnehmbar. Schließlich wird mit dem devoir de mémoire auf einen Begriff referenziert, der die beginnende Vergangenheitsaufarbeitung in Frankreich in ein Dogma gefasst hat.191 Die Formel der Erinnerungspflicht, im politischen und assoziativen Diskurs gleichermaßen präsent,192 postuliert eine Verpflichtung, der Verfehlun-
187 Vgl. Pfeil (2011), S. 80. 188 Badie, Bertrand: Nouveaux mondes. Carnets d’après Guerre froide, Paris: Le Monde Interactif / CNRS Éditions 2012, S. 214. 189 Vgl. [ohne Autorennennung]: Roma-Abschiebungen: Paris schimpft über »Entgleisungen« der EU, in: Spiegel online vom 15.09.2010 unter http://www.spiegel.de/ politik/ausland/0,1518,717648,00.html, Stand: 20.07.2013. 190 Vgl. Pfeil (2011). 191 Vgl. hierzu auch Badie (2012), S. 231, Badie spricht hingegen vom devoir de mémoire als potentiellem »Paradigma«. 192 Neben den in dieser Arbeit angeführten Nennungen im Kontext des Armeniergenozids verweisen auch andere Gruppen auf ein devoir de mémoire hinsichtlich ihrer Geschichte, so zum Beispiel die ›repatriierten‹ Algerienfranzosen (›Pieds-noirs‹),
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gen der Vergangenheit zu gedenken; einerseits aus Respekt vor den Opfern, andererseits, um einer Wiederholung der Geschehnisse zu vorzubeugen. Die Verselbständigung einer solchen »Pflicht« haben Wissenschaftler aus verschiedenen Blickwinkeln wiederholt bemängelt. Im Gegensatz zu Hémery, Liauzu und Nanta, die 2006 angesichts der Omnipräsenz eines ›devoir de mémoire‹ ein ›devoir d’histoire‹ gefordert haben,193 stößt sich Paul Ricœur vor allem an einem unreflektierten Pflichtbegriff. Er schlägt vor, statt von ›Erinnerungspflicht‹ von ›Erinnerungsarbeit‹ (travail de mémoire) zu sprechen. 194 Theullot wiederum bestreitet ebenfalls die Begründbarkeit eines devoir de mémoire, moniert darüber hinaus das Pathos, das den Beschwörungen eines devoir de mémoire zumeist innewohne und plädiert für eine schlichte Anerkennung vergangener Verbrechen.195 Während besonders Politiker des sozialistischen Lagers noch 2005 den Begriff des devoir de mémoire verteidigt haben,196 ist die Verbindlichkeit des Konzepts spätestens seit der großen Resonanz auf Pierre Noras Initiative Liberté pour l’Histoire in Zweifel gezogen. Die Infragestellung, der der zunächst sehr populäre Ausdruck seit Ricœurs Überlegungen zunehmend ausgesetzt ist und die mit Noras Plädoyer für den Vorrang geschichtswissenschaftlicher Erkenntnisse vor erinnerungspolitischen Maßnahmen virulent geworden ist, schlägt sich in den Debatten zum Armeniergenozid nieder: War die Invokation des devoir de mémoire 1998 und 2001 noch ein dominierender Faktor,197 tritt sie bereits 2006 in den Hintergrund. 2011 wird dann fast ganz auf den Gebrauch des Terminus verzichtet: Um den vorhersehbaren Einwänden gegen das Anti-NegationismusGesetz zuvorzukommen, die sich nach den Empfehlungen der Accoyer-
vgl. hierzu Samson, Michel: Trente-cinq ans après leur départ d ́Algérie les piedsnoirs se sont retrouvés à Marseille in: Le Monde, 17.06.1997 sowie Un devoir de mémoire in: Réponses Rapatriés, Hors série de la Lettre de la Mission interministérielle aux rapatriés, Juli 2004, abrufbar unter http://www.premier-ministre.gouv.fr/ IMG/pdf/Supplement_N5.pdf, Stand: 04.04.2007. 193 Vgl. Hémery, Daniel, Claude Liauzu und Arnaud Nanta: Faire valoir le devoir d ́histoire, in: Libération,vom 08.06.2006. 194 Vgl. Ricœur, Paul: Geschichtsschreibung und Repräsentation der Vergangenheit, Münster/Hamburg/London: LIT Verlag 2002, S. 20. 195 Vgl. Theullot, Jean-François: De l’inexistence d’un devoir de mémoire, Nantes: Éditions Pleins Feux 2004, insb. S. 48. 196 Vgl. Mandraud, Isabelle und Sylvia Zappi: Les partis de gauche défendent le devoir de mémoire, in: Le Monde vom 16.12.2005. 197 6 bzw. 10 Redner benutzten ihn im Rahmen der Debatte.
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Kommission, keine weiteren Lois mémorielles zu verabschieden, abzeichneten, wurde dem Vorhaben durch das Framing als rein strafrechtliche Harmonisierung der erinnerungspolitische Charakter abgesprochen. Somit sollte es aus dem Bereich der Geschichtspolitik und den damit verbundenen Debatten herausgehalten werden.198 Die vorangegangene Darstellung macht deutlich, dass die Häufigkeit der Nennung und die Akzeptanz in der Nationalversammlung der vorgebrachten Argumente auf deren Bezug auf gesellschaftlich prägenden Référentiels beruht. Welche Deutungshoheit einer geschichtspolitischen Frage im Parlament vorherrscht, ist nicht nur vom gesellschaftlich Sagbaren199 abhängig, sondern vom gut Etablierten und damit unmittelbar Einleuchtenden; das Framing des jeweiligen Issues wird dem Wandel des gesellschaftlichen Kontextes angepasst. Dass die Vorherrschaft eines Diskurses im Parlament allerdings nicht nur von der Verbreitung der darin verwendeten Argumente, sondern auch von politischen Mechanismen bestimmt ist, wird im nächsten Punkt gezeigt. 5.1.4.2 Rahmenfaktoren der politischen Entscheidungsbildung Wie im Bericht der Kommission zu den so genannten Lois mémorielles ausgeführt wird, gehen diesen zumeist sehr einhellig geführte Debatten voraus: »La spécificité des lois mémorielles tient aussi au fait qu’elles ont été presque toutes adoptées à l’unanimité, à l’exception de la loi ›Gayssot‹ et de la loi du 23 février 2005 concernant les rapatriés qui ont dérogé à cette ›coutume‹. Cette volonté d’unanimité est intrinsèquement liée au but poursuivi par les lois mémorielles, qui est de faire du Parlement le lieu de la compensation des ›créances‹ de l’histoire.«200
Gerade bei den Debatten zum Genozid an den Armeniern wird diese Einstimmigkeit gerne betont und auch für kommende Abstimmungen eingefordert.201 Sie wird als Ausdruck einer Einmütigkeit unter den Repräsentanten der französischen Nation gewertet, deren Positionierung zur Geschichte damit unzweideutig erscheinen soll. Kritiker weisen indes auf das Zustandekommen solch ›einstim-
198 Vgl. Kap. 4.3.3.2. 199 Vgl. Kap. 2.3.1.3. 200 Rapport Accoyer, S. 35. 201 Vgl. Rochebloine in: JO-2001, S. 545, 546, 547; Foucher in: ebd., S. 549, 550; Bret in: ebd., S. 552 usw.; auch Lecoq in: JO-2011, S. 9117; Rouquet in: ebd., S. 9119 usw.
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miger‹ Parlamentsentscheidungen hin: Tatsächlich seien bei den Abstimmungen jeweils nur wenige Dutzend Abgeordnete zugegen gewesen. Diejenigen mit einer stark organisierten armenischen Gemeinschaft in ihrem Wahlbezirk könnten sich ein Fernbleiben nicht leisten, während das Gros ihrer Parteikollegen die Initiativen zwar nicht unbedingt befürworte, dem Ausgang des Verfahrens aber letztendlich mehrheitlich gleichgültig gegenüberstünde und es deshalb vorzöge, den auf das Wohlwollen der armenischstämmigen Wähler angewiesenen Kollegen nicht in den Rücken zu fallen.202 Zugleich bewegen sich die anwesenden Parlamentarier in einem relativ geschlossenen Informationskreis: die Kontakte zu den Repräsentanten armenischer Verbände sind in der Regel eng, weshalb deren Argumente gut bekannt sind. Das Außenministerium hingegen pflegt weder einen direkten Austausch mit den betreffenden Abgeordneten, noch mit den associations arméniennes. Inwiefern die Erwägungen des Quai d’Orsay in die Parlamentsdebatte einfließen, hängt deshalb maßgeblich von der Haltung von Matignon und Élysée ab, so wie sie von deren Sprechern in der Debatte repräsentiert wird. Dass kritische Einwände von dieser Seite im Parlament kaum inhaltliche Diskussion auslösen, sondern von den Abgeordneten als moralisch nicht begründeter Versuch der Beeinflussung des Parlamentes aus machtpolitischen Erwägungen interpretiert zu werden scheinen, führt Meckel auch auf die tendenziell eher schwache Rolle des Parlaments in der französischen Präsidialdemokratie zurück. Diese bewirke, dass rare Gelegenheiten, gegen die Regierungsmacht ein Gesetz durchzusetzen, gerne wahrgenommen würden. 203 Tatsächlich scheinen Aussagen wie die des Abgeordneten Lagarde, die Beziehungen zwischen zwei Staaten (in diesem Fall besonders der Türkei und Armenien) seien nicht Sache des Parlaments; dieses müsse lediglich äußern »ce que la nation française pense d’une situation«204 oder auch des Abgeordneten Lellouche, das Parlament müsse sich in der Außenpolitik von der ›Logik der Diplomaten‹ emanzipieren205 von einer gewissen ›Robin-Hood-Mentalität‹ zu zeugen und diese Vermutung damit zu bestätigen. So bewirken auch Parteilogik, Kommunikations- und Informationswege sowie Dynamiken der Präsidialdemokratie die Verteidigung eines Deutungskonsenses innerhalb der Assemblée nationale.
202 Interview 20 vom 21.03.2013. 203 Interview mit Markus Meckel vom 27.11.2012. 204 Lagarde in JO-2011, S. 9130. 205 Lellouche in JO-2001, S. 563.
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5.1.5 Fazit: Einfluss armenischer Verbände Die Anliegen der armenischen Verbände sind in Frankreich, wie gezeigt worden ist, wiederholt als Gesetzesvorlagen ins französische Parlament eingebracht worden und haben dort die Zustimmung der Mehrheit der Abgeordneten gefunden. Neben der Erläuterung der Wirkmacht der in der Nationalversammlung vorgebrachten Argumente und der katalytischen Wirkung prozessualer Rahmenbedingungen soll abschließend die Frage erörtert werden, inwiefern diese ›Erfolge‹ die Maßnahmen, Argumente und schließlich die Auffassung der armenischen Verbände reflektieren. Wie anhand der Auswertung der Parlamentsdebatten und ihrer Kontexte festgestellt werden konnte, benötigt die Umsetzung der armenischen Initiativen ein paar Vertreter auf politischer Seite, die sich dafür stark machen und die entspre-chenden Vorlagen auf die Agenda bringen. Ferner werden eine Gruppe von Unterstützern gebraucht, die für den Vorschlag votieren sowie ein Mechanismus, Gegenstimmen möglichst zu reduzieren. Mit Blick auf die Effekte der beobachteten »Strategien des Gehörtwerdens« ist zu notieren: Der enge Kontakt zu einigen Abgeordneten scheint der Trumpf der Organisationen zu sein. Dieser ist in der Regel mit einer Reihe von persönlichen Beziehungen untermauert und der Einsatz geht oft deutlich über das ›wahltaktisch Notwendige‹ hinaus. Betrachtet man die Zusammensetzung der Assemblée nationale bei den Abstimmungen, so hilft der Druck über Wählerstimmen offenbar, die Unterstützergruppe zu formieren. Auf nationaler Ebene kann hingegen eher von einem ›Anreiz durch Wählerstimmen‹ gesprochen werden, insofern als es durch die potentielle Ansprache von bis zu einer halben Million Wählern attraktiv ist, die Forderungen im Kontext anderer Themen (EU-Beitritt Türkei, Menschenrechtsdiskurs, nationale Identitätsfrage) aufzugreifen. Für beides ist die Mobilisierung der Basis Voraussetzung, um das Bild einer geschlossen vertretenen Forderung zu erwecken. Erinnerungsorte eröffnen dabei Gelegenheit zur Versammlung und zur Einbeziehung von Politikern bei Gedenkveranstaltungen. Beides sind damit unterstützende Faktoren. Allianzen sind in Frankreich ein weniger starkes Thema bei der direkten Wahrnehmung der Forderungen. Allerdings stößt die häufige Evozierung von Shoah und Armeniergenozid als zwei Ereignisse derselben Gattung kaum auf Widerspruch im öffentlichen Raum. Möglich ist dies, weil die jüdischen Organisationen sich als Verbündete und nicht als Konkurrenten der armenischen positionieren. Überraschend ist vor allem das anscheinend eher geringe Gewicht der öffentlichen Meinung. Während 1998 noch auf eine Umfrage verwiesen wird, die den
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Wunsch der Franzosen nach offizieller Anerkennung des Genozids ausdrücken soll, ist die kontroverse und zumeist ablehnende Haltung in der Presse 2011 kein Thema in der Parlamentsdiskussion. Hier zeigt sich, dass nur quantifizierte oder durch öffentliche Manifestationen ausgedrückte Positionen diskutiert werden. Das Mobilisierungspotential der Frage des Armeniergenozids ist für die allgemeine Bevölkerung allerdings eher gering, zumal sich um die Authentizität des Völkermords ohnehin ein breiter Konsens gebildet hat. Protestierend tritt allein die türkischstämmige Community auf, deren Proteste die Befürworter des BoyerGesetzes in ihrer Auffassung allerdings eher bestärken, da sie von der Vehemenz der staatlichen türkischen Ablehnung von Verantwortungsübernahme für die schwierige Vergangenheit zeugen. In der Argumentation vieler Politiker zeigt sich, dass die von armenischer Seite angeführten Argumente – europäische Werte, der Genozid als universelles Menschheitsereignis, die Fortdauer des Unrechts und die gute Integration der armenischen Einwanderer in Frankreich – weitgehend auch den politischen Diskurs prägen. Dort finden sie ihre Einbindung in die republikanische ›Meistererzählung‹ und ermöglichen damit deren Fortschreibung in einer Zeit zunehmend kritischer Geschichtsbeleuchtung. Der sakrale Charakter, der der ›Mission‹ Frankreichs gegen die Leugnung des Armeniergenozids von einigen Politikern zugesprochen wird, rührt daraus, dass das kollektive Gedächtnis der armenischen Diaspora mit dem französischen Selbstbild seit der III. Republik korrespondiert: der ›zeitliche Tunnel‹ und das daraus erwachsende Bedürfnis nach Sicherheit mit Frankreichs Gebaren als ›Schutzmacht‹; kongruent sind die Idealisierung Frankreichs als Land der Menschenrechte und die Bedeutung des Genozidbegriffs. Der Einflussbereich der armenischen Verbände besteht also vor allem in ihren engen Kontakten und ihrer guten Organisation und Mobilisierungskraft, die es ihr ermöglichen, ein geschlossenes Bild und lokal auch ein politisches Gewicht darzustellen. Dass ihre Forderungen Gehör finden, liegt aber auch an externen Faktoren: aktuellen Themen, die das Thema der Völkermordleugnung durch die Türkei als willkommenes Argument benötigen, der Verknüpfung von Gruppen- und nationalem Narrativ sowie der Delegitimierung gegenläufiger Argumente, die sich auf weniger starke Référentiels beziehen. Inwiefern die politische Rezeption der Problematik des Völkermords an den Armeniern von Gruppeneinfluss, politischer Situation und nationalem Narrativ abhängig ist, soll im Folgenden mit dem deutschen Beispiel, also einer gänzlich anderen Akteurskonstellation, kontrastiert werden.
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5.2 D EUTSCHLAND : R EZEPTION IN Ö FFENTLICHKEIT
UND
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5.2.1 Rekapitulation: ›Verortung‹ des ›armenischen Gedächtnisses‹ in Deutschland Zum politischen Thema ist der Genozid an den Armeniern mit der Petition avanciert, in der 2001 von 16.000 Petenten dessen offizielle Anerkennung gefordert wurde. Damals noch an den Auswärtigen Ausschuss überwiesen und in der Folge abgelehnt, hat der Bundestag 2005 dann doch in einer Resolution dazu Stellung bezogen. Die Resolution, die die Geschehnisse von 1915 ausführlich erläutert und an die Türkei appelliert, diesen Teil ihrer Geschichte aufzuarbeiten, ist von armenischer Seite zwar grundsätzlich begrüßt, allerdings oft auch als unzureichend und »halbherzig« verurteilt worden. Die Forderungen, die Bundesrepublik müsse den Völkermord offiziell auch als solchen benennen und dessen Leugnung unter Strafe stellen, haben bisher keine Advokaten in den Reihen der Politik gefunden. Auch in den Lehrplänen findet sich die Thematik nur ausnahmsweise: Lediglich Brandenburg sieht sie als Stoff für den Geschichtsunterricht vor. Ein nationales Denk- bzw. Mahnmal ist in Planung, die Genehmigung dafür aber – entgegen dem Wunsch des Zentralrats der Armenier in Deutschland – nicht »an einer zentralen Stelle in Berlin« erteilt worden, sondern für den Friedhof in Charlottenburg-Wilmersdorf. Mehrere kleine Denkmäler, oft in Form eines Kreuzsteins (Khatchkar) sind in verschiedenen Städten auf Initiative armenischer Verbände aufgestellt worden. Teils ist dies mit Unterstützung der lokalen Behörden erfolgt (Bremen), teils mussten auch hier Lösungen auf Friedhöfen gefunden werden. Als mit 300.000 Euro aus Bundesmitteln gefördertes Museum206 stellt darüber hinaus das Lepsiushaus in Potsdam den Genozid und das Wirken Johannes Lepsius’ dar und fungiert zudem als wissenschaftliche Begegnungsstätte. Mit seinem Konzept als deutsch-armenische Einrichtung ist es eine der Erfüllungsmaßnahmen der Resolution von 2005.207 Gleichwohl antwortet es auf keine zentrale Forderung von armenischer Seite.
206 Interview 10 vom 29.11.2012. 207 Die Renovierung der Lepsius-Villa und die Einrichtung einer deutsch-armenischen Begegnungsstätte waren bereits seit Ende der 1990er Jahre Ziel eines entsprechenden Fördervereins. Nach türkischen Protesten hat sich die politische Unterstützung für das Projekt allerdings über mehrere Jahre verzögert. (Vgl. zu alldem Schaefgen
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5.2.2
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Entwicklung der Positionen auf der Rezeptionsseite
5.2.2.1 Politische Akteure Im Gegensatz zu Frankreich wurde der Völkermord an den Armeniern mit der medialen Thematisierung Anfang der achtziger Jahre keine Frage, zu der auch Politiker Stellung bezogen. Die 2001 eingereichte Petition, in der die Anerkennung des Genozids gefordert wurde, hat erstmals auch von dieser Seite Reaktionen veranlasst. In diesen spiegelte sich bereits die herrschende politische Meinung wider: Die Vernichtung der Armenier von 1915 wird verurteilt und eine Aufarbeitung durch die Türkei gewünscht – Initiativen ausländischer Parlamente werden dabei jedoch eher als kontraproduktiv beurteilt. Mit Rücksicht auf die Sensibilitäten der Türkei, auf bestehende Initiativen zwischen der Türkei und Armenien sowie auf die belastete deutsche Vergangenheit wird von einer Annahme der Petition abgeraten.208 Ebenfalls bereits zu diesem Zeitpunkt kommt die große Einmütigkeit der deutschen Parteien in dieser Sache zum Tragen: keine der Bundestagsfraktionen propagiert eine Befürwortung der Petition. Dies wird auch von einem Mitglied der armenischen Gemeinde so eingeschätzt: Der Befragte sieht keine der deutschen Parteien als Vorreiterin in der Armenienfrage.209 2001 wirbt einzig Uwe Hiksch von der PDS für einen eigenen, interfraktionellen Antrag, der das Anliegen aufgreift.210 »Die LINKE« unterstützt auch heute noch gelegentlich die Anliegen der Armenier und hinterfragt die Umsetzung der Bundestagsresolution von 2005 im Rahmen von kleinen Anfragen kritisch.211 Von armenischer Seite erntet allerdings auch die LINKE Kritik, da sich keine klare Linie erkennen las-
(2006), S. 113-117.) Infolge der Resolution von 2005 wurde das Projekt wieder aufgegriffen und mit den o. g. Mitteln vorangetrieben. 208 Vgl. Schaefgen (2006), S. 128-131. 209 Interview 7 vom 28.11.2012. 210 Vgl. Schaefgen (2006), S. 128 f. 211 Vgl. Bundestagsdrucksache 14/9857 vom 12.08.2002: Kleine Anfrage der Abgeordneten Uwe Hiksch, Ulla Jelpke, Dr. Winfried Wolf und der Fraktion der PDS - Anerkennung des Völkermordes an den Armeniern; Bundestagsdrucksache 17/678 vom 10.02.2010: Kleine Anfrage der Abgeordneten Katrin Werner, Jan van Aken, Christine Buchholz, Wolfgang Gehrcke, Annette Groth, Stefan Liebich und der Fraktion DIE LINKE; Bundestagsdrucksache 17/1798 vom 19.05.2010: Kleine Anfrage der Abgeordneten Katrin Werner, Wolfgang Gehrcke, Annette Groth, Andrej Hunko, Harald Koch, Stefan Liebich und der Fraktion DIE LINKE: Deutsche Mitverantwortung für den Völkermord an den Armeniern.
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se: Die Tatsache, dass die LINKE Menschenrechtsverletzungen allerorten anzuprangern sucht und dabei zum Beispiel auch Aserbaidschan unterstützt, wird zumindest als Ausdruck mangelnder Stringenz betrachtet. 212 Als solcher kann außerdem gewertet werden, dass die LINKE mit Hakki Keskin als einzige Partei über lange Jahre einen Bundestagsabgeordneten in ihren Reihen hatte, der die Qualifizierung ›Völkermord‹ für den armenischen Fall ablehnt und eine sehr mit der türkischen Regierung konforme Position vertritt. 213 Keskin wurde für die Bundestagswahl 2009 von seiner Partei allerdings nicht mehr aufgestellt. Inzwischen setzt sich der noch junge »christlich-alevitische Freundeskreis« der CDU, dessen Sprecherin Madlen Vartian selbst armenischer Abstammung ist, ebenfalls für die politische Bewertung des Völkermords ein; eine Resonanz ist allerdings noch nicht auszumachen.214 Vorerst bleibt die »armenische Frage« in Deutschland politisch von Einzelpersonen besetzt: In den für diese Arbeit geführten Interviews sind dabei in diesem Zusammenhang immer wieder die Namen von Cem Özdemir, Markus Meckel, Norbert Lammert und Ruprecht Polenz, gelegentlich auch von Erika Steinbach und Bernhard von Grünberg gefallen. An den Nennungen zeigt sich, dass der Völkermord an den Armeniern in Deutschland vor allem ein ›Expertenthema‹ ist: Damit befassen sich hauptsächlich diejenigen Politiker, die aufgrund ihrer Funktion oder ihres persönlichen Hintergrunds dazu einen Bezug haben. Letzteres trifft auf den türkisch- bzw. tscherkessischstämmigen Vorsitzenden von Bündnis 90/Die Grünen, Özdemir, zu. Markus Meckel, bis 2008 SPDBundestagsabgeordneter, ist Experte für Fragen der Geschichts- und Erinnerungspolitik, Norbert Lammert, CDU-Bundestagspräsident, steht diesen Fragen qua Amtes nahe. Ruprecht Polenz ist Vorsitzender des Auswärtigen Ausschusses
212 Interview 7 vom 28.11.2012 – Der Gesprächspartner könnte sich dabei auf Anfragen wie die vom 02.04.2007 (Bundestagsdrucksache 16/4949) beziehen, in der die LINKE-Fraktion die Bundesregierung zu ihrer Haltung im Kaukasuskonflikt befragt und dabei auch die Politik der Republik Armenien kritisiert. Zu den Urhebern der Anfrage gehört unter anderem Hakki Keskin (s. obiger Text und folgende Fußnote). 213 Vgl. In der Türkei ist die Debatte schon weiter, Interview mit Cem Özdemir, in: die tageszeitung vom 12.01.2007 unter http://www.taz.de/1/archiv/archiv/?dig=2007/01/ 12/a0224, Stand: 12.11.2013. 214 Vgl. Wildermann, Marie: Leugnung von Völkermord soll bestraft werden. Christlich-alevitischer Freundeskreis der CDU fordert Rechtsgrundlage, in: deutschlandfunk (online) vom 11.01.2012 unter http://www.dradio.de/dlf/sendungen/tagfuertag/ 1649189/, Stand: 12.09.2013. Seit 2014 ist Madlen Vartian zudem stellvertrende Vorsitzende des Zentralrats der Armenier in Deuschland (ZAD).
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des Bundestags und besonders engagiert in allen die Türkei betreffenden Fragen. Erika Steinbach ist Menschenrechtsbeauftragte der CDU/CSU-Bundestagsfraktion, Bernhard von Grünberg integrationspolitischer Sprecher SPD-Landtagsfraktion in Nordrhein-Westfalen. Im Gegensatz zu Frankreich, wo das Interesse für die »armenische Frage« vor allem auf der eigenen armenischen Abstammung bzw. auf dem engen Kontakt zu armenischstämmigen Bürgern und Aktivisten beruht, ist der Zugang deutscher Politiker also in andere Kontexte eingebettet. Dies spiegelt sich auch in deren Positionierung wider: Zwar ist es auch in Deutschland grundsätzlich keine Schwierigkeit, für den armenischen Gedenktag am 24. April Redner zu gewinnen,215 im Gegensatz zu Frankreich halten diese ihre Ansprachen jedoch in der Regel frei von direkten Anschuldigungen gegen die Türkei und mahnen gar, wie Meckel das tut, auch den Blick auf die aktuellen, ›hausgemachten‹ Problem in Armenien an.216 Konkrete Unterstützung erwächst jedoch auch in Deutschland aus persönlichen Kontakten. Das gilt für den sachsen-anhaltinischen CDU-Abgeordneten Christoph Bergner, den Urheber der 2005 verabschiedeten Resolution. Wie er ausführt, hat ihn der damalige Professor für evangelische Theologie an der Universität Halle und Ostkirchenkundler, Hermann Goltz, auf das Thema aufmerksam gemacht.217 Dass sich der Bundestag dann auf seine Initiative hin mit dem Völkermord an den Armeniern auseinandergesetzt und einen Beschluss dazu verabschiedet hat, wurde allgemein mit Überraschung aufgenommen und von armenischen Verbänden begrüßt. 218 Allerdings sieht Bergner die Resolution nicht als Auftakt, dem weitere Maßnahmen folgen müssen; für ihn ist der politische Handlungsbedarf in Deutschland mit dem in der Resolution festgehaltenen Bekenntnis zur deutschen Verantwortung und der Einrichtung des Lepsiushauses vorerst gedeckt. 219 Eine Bundestagsabgeordnete, die sich mit einem Grußwort
215 Interview Nr. 7 vom 28.11.2012. 216 Vgl. Meckel, Markus: Rede zum Gedenktag für die Opfer des Völkermords an den Armeniern 1915 am 24. April 2009 im Französischen Dom zu Berlin anläßlich der Armenischen Gemeinde zu Berlin, abrufbar auf der Webseite der Armenischen Gemeinde zu Berlin: http://www.armenische-gemeinde-zu-berlin.de/downloads.html, abgerufen: 05.01.2013. 217 Interview mit Christoph Bergner vom 29.11.2012. 218 Ebd. – wie Bergner im Gespräch ausführte, habe er allenthalben sehr positive Rückmeldungen bekommen. 219 Interview mit Christoph Bergner vom 29.11.2012.
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bei der Gedenkfeier am 24. April an die Anwesenden richtete,220 bezeugt ebenfalls, dass dieser Beitrag aus einem persönlichen Kontakt herrührte: Eine ihrer Mitarbeiterinnen habe einen franco-armenischen Großvater und sei deshalb von der Problematik betroffen.221 Das größte öffentliche Interesse erfährt hingegen regelmäßig das Engagement von Cem Özdemir. Özdemir wirbt für einen differenzierten Umgang mit der Thematik und für die Stärkung der demokratischen Kräfte in der Türkei. Gleichzeitig anerkennt er den Völkermord an den Armeniern und hat auch die Erklärung unterzeichnet, mit deren Unterzeichnung sich von Dezember 2012 bis Januar 2013 30.000 Türken bei den Armeniern entschuldigt haben und nimmt an armenischen Gedenkveranstaltungen in Deutschland teil. In Deutschland erscheinende türkische Zeitungen, insbesondere die Hürriyet, haben darauf mit scharfer Kritik reagiert.222 Die deutsche Regierung ist bislang zurückhaltend geblieben. Zuletzt hat die Bundeskanzlerin, konfrontiert mit der aus dem Dialog über Deutschland hervorgegangenen Forderung, die Leugnung des Genozids unter Strafe zu stellen, diesem Ansinnen eine Absage erteilt. Eine Aufarbeitung müsse »von innen kommen« 223 ; die bestehenden Gesetze in Deutschland verböten darüber hinaus »strafwürdige Formen der Leugnung von Völkermorden«224. Dies entspricht offenbar der Haltung im Auswärtigen Amt. Dort hofft man, dass mit dem Erstarken der Zivilgesellschaft in der Türkei sich auch die geschichtliche Erkenntnis entwickelt. Hierzu unterstützt das Auswärtige Amt zivilgesellschaftliche Initiativen mit großen finanziellen Mitteln. 225 Hingegen wird
220 Drobinski-Weiß, Elvira: Grußwort auf der Gedenkveranstaltung der Armenischen Gemeinde Kehl e. V. am 24. April 2010 unter http://www.zentralrat.org/files/ Kehl_2010_Gendenkrede_Elvira_Drobinski_Weiss.pdf, Stand: 26.02.2014 (vorgetragen wurde es von einem Vertreter, da Frau Drobinski-Weiß einen Paralleltermin hatte). 221 Interview mit Elvira Drobinski-Weiß vom 29.11.2012. 222 Interview mit Cem Özdemir vom 25.02.2013, außerdem ders.: Alles Verräter in: Die Zeit Nr. 24 vom 09.06.2005, unter http://www.zeit.de/2005/24/H_9frriyet-t_9frk_ Medien, Stand: 07.03.2014. 223 Kanzlerin Merkel empfängt Teilnehmer des Online-Bürgerdialogs vom 04.07.2012, unter
https://www.dialog-ueber-deutschland.de/SharedDocs/Blog/DE/2012-07-04_
Kanzlerin_trifft_TN_Online-Dialog.html, Stand: 12.09.2012. 224 Ebd. 225 Das Projekt »Speaking to one another«, koordiniert vom Deutschen Volkshochschul-Verband, in dem armenische und türkische Studenten über ihre gemeinsame
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die Verwendung des Genozidsbegriffs abgelehnt mit dem Argument, dass ein Begriff, der eine derart einseitige Schuldzuweisung impliziert, die Fronten im Land zusätzlich verhärte.226 5.2.2.2 Medienpositionen Wie in Frankreich, setzte auch in Deutschland die Berichterstattung zum Genozid an den Armeniern Anfang der 1980er Jahre verstärkt ein. Hier waren ebenfalls die Terrorattacken armenischer Organisationen Anlass für die Auseinandersetzung mit der Thematik. Wie Schaefgen ausführt, fokussierten sich die deutschen Medien zunächst auf Kritik an den Attentaten und den damit verbundenen Forderungen. Im Verlauf des Jahrzehnts rückte indes zunehmend die türkische Haltung ins Zentrum einer kritischen Hinterfragung; über die Entscheidung des Europäischen Parlaments von 1987 hinsichtlich der Anerkennung des Völkermordes an den Armeniern wurde ebenso berichtet wie über die anderer internationaler Gremien. Gleichwohl erlangte die ›türkische Sichtweise‹ häufige Erwähnung, auch im Sinne einer gleichwertigen Gegenüberstellung mit den ›Vorwürfen von armenischer Seite‹.227 Ab 1990 verläuft die Berichterstattung, wie der Graph in Abbildung 7 zeigt, in auffallender Ähnlichkeit zu der französischen. Aus einer insgesamt geringen Berücksichtigung in den 90er Jahren stechen das Jahr 1995 – in dem anlässlich des 80. Jahrestags des Genozids verstärkt über diesen und das Gedenken daran publiziert wurde – und das Jahr 1998 mit der ersten französischen Parlamentsdebatte zur Anerkennung dieses Völkermords heraus. Ihren Höhepunkt erreicht die Kurve – im Gegensatz zu Frankreich, wo 2006 die meisten Artikel zum Thema erschienen – in Deutschland 2005. Die Gründe hierfür liegen neben der Beitrittsperspektive der Türkei zur Europäischen Union vor allem in dem so genannten »Schulbuchstreit« – der Genozid an den Armeniern wurde in den brandenburgischen Lehrplan für den Geschichtsunterricht aufgenommen, auf Druck türkischer Diplomaten wieder entfernt und nach großer öffentlicher Empörung über diesen Vorgang schließlich doch wieder integriert – sowie die Bundestagsresolution vom Juni 2005, die den Völkermord an den Armeniern zum Gegenstand hatte.
Vergangenheit sprechen, ist vom Auswärtigen Amt mit 800.000 Euro gefördert worden. (Interview 10 vom 29.11.2012). 226 Interview 10 vom 29.11.2012. 227 Vgl. Schaefgen (2006), S. 88-92.
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Abbildung 7: Entwicklung der Berichterstattung – Deutschland gesamt*
*Der Graph zeigt die Anzahl an Artikeln pro Jahr in den Zeitungen Frankfurter Allgemeine Zeitung, Süddeutsche Zeitung, taz – die tageszeitung, Die Welt, Frankfurter Rundschau und Der Tagesspiegel an, die entweder die Begriffe »Armenier« und »Völkermord« oder die Begriffe »Armenier« und »Genozid« enthalten. Quellen sind die Datenbank Lexis Nexis sowie die Online-Archive der Süddeutschen Zeitung sowie die Frankfurter Allgemeinen Zeitung. Augenscheinliche Dopplungen bzw. Mehrfachnennungen (sofern der Titel eines Artikels mehrfach hintereinander auftauchte) traten vereinzelt auf und wurden bereinigt; ebenso wurden die (wenigen) Artikel entfernt, die die Begriffe »Armenier« und »Völkermord« bzw. »Genozid« zwar in der Kombination enthielten, sich thematisch jedoch nicht mit dem Völkermord an den Armeniern befassten. Die y-Achse des Graphen ist bewusst nicht an die der französischen Variante des Graphen (vgl. Kap. 5.1.2.2) angepasst worden, die bis 400 Artikel reicht, um nicht den Eindruck völliger Vergleichbarkeit zu erzeugen. Vielmehr als absolute Zahlen soll hier die relative Entwicklung der Berichterstattung verdeutlicht werden.
Diese Ereignisse erklären auch die Menge an Artikeln im Korpus, die sich genau umgekehrt zu Frankreich verhält: In den ersten sieben Monaten von 2005 behandelten in den ausgewählten Medien 114 Beiträge das Thema (49 in Frankreich), von November 2011 bis Juni 2012 waren es lediglich 45 (Frankreich: 92). Der quantitative Vergleich der beiden Korpora belegt damit, dass die Berichterstattung in den beiden Ländern – obwohl sich die Kurven im Gesamtverlauf seit 1990 ähneln – nicht hauptsächlich denselben Anlässen folgt. Zwar sind äußere Ereignisse – wie die Jahrestage des Genozids 1995 und 2005 in beiden Kurve reflektiert, auch Maßnahmen wie die Anerkennung durch Frankreich 2001 und die daraus erwachsenen diplomatischen Schwierigkeiten finden in Deutschland Berücksichtigung. Für extreme Ausschläge im Verlauf – wie in Deutschland 2005 – müssen allerdings auch nationale Phänomene hinzukommen (»Schulbuch-
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Affäre«, Bundestags-Resolution) bzw. Verbindungen zu anderen nationalen Debatten hergestellt werden (EU-Beitritt der Türkei besonders in Frankreich). So erklärt sich zum Beispiel die deutlich unterschiedliche Verteilung der Berichterstattung auf das Jahr 2005 in Deutschland und Frankreich. Abbildung 8: Deutschland – Korpus nach Zeitungen*
*Berücksichtigt sind alle Artikel der fünf Tageszeitungen im Zeitraum 01.01.2005 – 31.07.2005 bzw. 01.11.2011 – 30.06.2012, die sich explizit mit dem Thema des Armeniergenozids befassen.
Hinsichtlich des Tenors, der der Berichterstattung zugrunde liegt, lassen sich 2005 drei Hauptströmungen ausmachen: Zum einen die erklärende Position, die die zaghafte Diskussion in der Türkei genau beleuchtet und die Bedeutung des Themas vor dem Hintergrund der türkischen Nationalgeschichte sowie der gegenwärtigen Probleme und politischen Konstellationen erläutert. Nach dieser Lesart, die vor allem von der tageszeitung und der Süddeutschen Zeitung vertreten wird, ist die Anerkennung des Völkermords vor allem eine innertürkische Angelegenheit, deren Problematik aus den der Türkei eigenen Dynamiken herrührt. ›Externe Aktivitäten‹, d. h. Erklärungen u. ä. aus dem Ausland, sollten den Aufarbeitungsprozess vor Ort unterstützen und nicht zu einer Verhärtung der Fronten beitragen. Demgegenüber plädiert die Welt zwar nicht aggressiv, aber offen für eine Anerkennung des Völkermords auch durch Deutschland. In Reportagen wird über den Völkermord berichtet und dessen internationale Anerkennung dargelegt; außerdem findet sich ein Gastbeitrag eines armenischen Autors sowie ein Interview mit dem armenischen Außenminister. Danach ist der Genozid an den Armeniern ein geschichtliches Ereignis mit universeller Bedeutung, zu der sich auch Deutschland bekennen sollte.
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Schließlich stellt vor allem die Frankfurter Allgemeine Zeitung darüber hinaus die Auswirkungen auf Deutschland dar: die Proteste türkischstämmiger Bürger in Deutschland werden als Ausdruck einer Parallelgesellschaft gewertet; in einem Gastkommentar schreibt Mihran Dabag, die Schulbuchaffäre habe gezeigt, dass es für Deutschland nicht darum gehe, »eine Aussöhnung zwischen Türken und Armenieren einzuleiten«, sondern »die eigene Duldung der Leugnung zu beenden.«228 Hier werden vor allem Fragen nach dem Umgang mit den innenpolitischen Folgen der türkischen Position aufgeworfen. Diesen Weg setzt die FAZ auch 2012 fort. Gemeinsam mit der Süddeutschen erläutert sie am ausführlichsten die Hintergründe des jüngsten Vorstoßes von französischer Seite. Beide lehnen die Gesetzesinitiative zum ›Leugnungsverbot‹ ab, doch während die FAZ darüber hinaus weiter den innerdeutschen Umgang mit der ›armenischen Frage‹ beleuchtet, bedeutet die Positionierung der SZ einen Kurswechsel: Hatten ihre Beiträge 2005 noch für Verständnis geworben, indem innertürkische Zusammenhänge dargestellt wurden, fasst Kai Strittmatter nun zusammen: »Das Land hat ein Problem. Ein großes Problem.«229 Nichtsdestoweniger erkennt Joseph Hanimann in der französischen Besessenheit, sich zu historischen Themen zu erklären, einen »seltsamen Phantomschmerz« 230 , der seinerseits als eigentümliches Phänomen dargestellt wird. Einzig in der Welt kommt mit Bernard-Henri Lévy mehrfach ein intellektueller Vertreter Frankreichs zu Wort, der die Gesetzesinitiative verteidigt. Der ›Völkermord an den Armeniern‹ ist dabei auch in deutschen Zeitungen ein fester Ausdruck; selbst wenn die türkischen Einwände und deren Bewegnisse dargestellt werden, wird das Ereignis selbst nicht in Zweifel gezogen.231 Aller-
228 Dabag, Mihran: Massage an Kanzlers Rückgrat. Schuldflucht: Deutsche, Türken und der Völkermord an den Armeniern, in: FAZ vom 20.06.2005, S. 35. 229 Strittmatter: Furcht der Kindertage... (2012), a.a.O. 230 Hanimann, Joseph: Überwachen und Strafen. Kann man historische Debatten per Gesetz regeln? Frankreichs Kontroverse um den armenischen Völkermord, in: Süddeutsche Zeitung vom 23.12.2011. 231 Der Genozidbegriff ist hingegen weniger üblich. Neben der größeren Gebräuchlichkeit des Ausdrucks »Völkermord« in deutschsprachigen Raum mag gerade im konfliktträchtigen Fall der Armenier hinzukommen, dass mit der Verwendung des Kunstbegriffs »Genozid« auf einen juristischen Sachverhalt verwiesen und damit in der Diskussion Partei ergriffen wird. »Völkermord« hingegen, wenn auch im Deutschen synonym mit »Genozid«, scheint aufgrund seiner nicht ausschließlich juristischen Prägung eher das Offensichtliche zu Umschreiben, indem er auf das Ergebnis des historischen Vorgangs verweist.
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dings finden sich in Deutschland wesentlich mehr Zuschriften türkischer oder türkischstämmiger Leser, die die aus ihrer Sicht zu ›einseitige‹ Berichterstattung kritisieren. An den Briefen von Deniz Gülen, die in ähnlicher Form am 10.05.2005 in der Frankfurter Allgemeinen und am 30.06.2005 in der SZ erschienen sind, wird deutlich, dass zu diesem Zweck die immer gleichen Argumente in verschiedenen Medien positioniert werden. Dabei verquickt sich eine Relativierung des historischen Ereignisses mit der Anschuldigung, die deutschen Politiker und Medien versuchten bewusst, die Türkei zu inkriminieren, um von der eigenen Schuld bezüglich des Holocaust abzulenken. In einem mit »Studenten der Universität Stuttgart« unterzeichneten Brief formulieren dies die Autoren wie folgt: »Eine einseitige Anerkennung der Schuld, eine Anerkennung des sog. ›Genozids‹ und somit die Gleichsetzung mit den deutschen Nazis und Übernahme der Verantwortung wie beim Holocaust werden die Türkei und die Türken niemals akzeptieren.«232
Doch auch von anderer Seite kommt Kritik: Bei der tageszeitung, die rät, das Thema aus deutscher Sicht mit Zurückhaltung zu behandeln, beschweren sich Jochen Mangelsen, Tessa Hofmann und Henri Grigorjan über die ›protürkische‹ Haltung.233 Im Gegensatz zu Frankreich, wo die Leserbriefe vor allem die Art der politischen Aktion kommentieren, wird in den Zuschriften in Deutschland noch der Konflikt um die Deutungshoheit über die Geschichte ausgetragen.
Als Ausnahme zu dem oben Gesagten kann überdies Eberhard Jäckels Rezension zu Guenter Lewy gelten (s. Kapitel 5.2.5). Derart unkritische Übernahmen von Auswertungen, die die ›türkische Sicht‹ zu untermauern scheinen, finden sich in Frankreich nicht. 232 Leserbrief von »Studenten der Universität Stuttgart (Fachrichtung Bauingenieurwesen)« in: Frankfurter Rundschau vom 15.03.2005. An dieser Zuschrift frappiert nicht nur die relative Anonymität der Unterzeichner, sondern insbesondere ihr vorformulierter Charakter. Eine wortgleiche Formulierung hat Dr. Turgut Aslan vom ›Verein türkischer Akademiker‹ in seinem Schreiben vom 03.03.2005 an Mitglieder der CDU-Bundestagsfraktion verwendet (die Antwort des Abgeordneten Dr. Christoph Bergner vom 14.03.2005 liegt der Autorin in Kopie vor). 233 Leserbriefe von Jochen Mangelsen, Tessa Hofmann und Henri Grigorjan in: die tageszeitung vom 18.03.2005.
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5.2.2.3 Zusammenfassung In Deutschland hat der Genozid an den Armeniern bis zur Verabschiedung der Bundestagsresolution von 2005 kein politisches Thema dargestellt. Dies hat sich mit Bergners Antrag zwar kurzzeitig geändert, indes bleibt das Thema nicht dauerhaft auf der politischen Bühne präsent. Die mediale Auseinandersetzung hat zeitweise hingegen sehr stark stattgefunden. Dabei bleibt die Darstellung der Thematik – von der versuchten Einmischung des türkischen Gesandten im Rahmen der ›Schulbuchaffäre‹ abgesehen – jedoch die eines innertürkischen Problems. Die Frage, die dabei hauptsächlich aufgeworfen wird, ist die, was die türkischen Reaktionen über das Land und gegebenenfalls auch über die in Deutschland lebenden Türken und türkischstämmigen Bürger aussagt. Die französische Position in der Frage wird, ganz im Gegensatz zum umgekehrten Fall, ebenfalls stark rezipiert, wobei die Presse – mit Ausnahme der ›Welt‹ – eine ablehnende Haltung gegenüber der Geschichtspolitik des Nachbarlandes einnimmt die sie in diesem Punkt als opportunistisch wahrnimmt. Politisch ist der Völkermord an den Armeniern in Deutschland also eher ein Nischenthema, das denjenigen Politikern vertraut ist, die sich aufgrund ihres jeweiligen – oft außenpolitischen – Schwerpunktes mit den Konflikten und der Geschichte der kaukasischen Region bzw. mit historisch belasteter Vergangenheit auseinandersetzen. Was dies für das Gehör der Armenier im politischen Raum bedeutet, wird im Folgenden anhand der Rezeptionsfaktoren betrachtet. 5.2.3
Analyse der Rezeptionsfaktoren
5.2.3.1 Politische Opportunität Unter »Politische Opportunität« wurden in Kapitel 4.3 diejenigen Aspekte beleuchtet, die Politiker in Frankreich vor allem aus wahltaktischen Gründen motivieren könnten, Forderungen der Armenier aufzugreifen und deren Durchsetzung im politischen Betrieb zu verfolgen. In diesem Zusammenhang ist die Ausgangslage für Deutschland eine völlig andere: Wie in den Kapiteln 4.2.1.2 und 4.2.1.3 dargelegt, stellen die Armenier rechtsrheinisch eine wesentlich kleinere Minderheit dar als linksrheinisch: Auf höchstens ein Zehntel der in Frankreich ansässigen armenischstämmigen Bevölkerung wird diejenige in Deutschland geschätzt. Zugleich bilden die Türken mit über drei Millionen die größte nationale Minderheit im Land. Wenn sich darunter auch nicht alle, wie dargestellt, als ethnische Türken (sondern zum Teil als Aleviten, Kurden etc.) betrachten, so ist doch offensichtlich, dass die Kräfteverhältnisse anders gelagert sind als in Frankreich. Hinzu kommt, dass die Armenier keine ausgeprägte regionale Konzentration aufweisen und zudem in den Städten,
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in denen sie größere Gemeinden bilden, die türkischen Einwohner ein deutliches stärkeres Gewicht haben. Wahltaktisch betrachtet, verfügen die Armenier damit lokal über keine besonderen Druckmittel. National stellt sich die Lage etwas anders dar: Gerade, wenn sie mit anderen strittigen Fragen, wie dem EU-Beitritt der Türkei, verknüpft wird, birgt die ›armenische Frage‹ ein gewisses Opportunitätspotential: Von Beitrittsgegnern kann sie genutzt werden, um einen vermeintlichen Wertedissens zwischen der Türkei und – dem christlichen – Europa zu illustrieren. Damit sind nicht nur die Armenier selbst angesprochen, sondern es kann an den moralischen Begriff weit darüber hinausgehender Wählerschichten appelliert werden. Dies kann, muss aber nicht anhand der ›armenischen Frage‹ aufgezeigt werden. Dass die Politik jedoch auf die Leugnungspolitik hinsichtlich des Genozids zurückgreift, liegt im Interesse der Armenier, um mehr Bekanntheit und Gewicht zu erlangen. So habe der Zentralrat der Armenier auf Anfrage Bundeskanzlerin Merkel anlässlich eines Besuchs in Ankara bei ihrem türkischen Kollegen Erdoğan einen Brief mit dem Forderungskatalog des ZAD aufgesetzt. Schließlich, so ein Interviewpartner, habe sie ein Druckmittel benötigt – für die Armenier eine gute Bühne. Sie profitierten in diesem Fall von der Bedeutung menschenrechtlicher Themen im deutsch-türkischen Verhältnis: »Die armenische Frage ist viel größer als die Armenier selbst.«234 Trotz dieses Zusammenhangs – und obwohl die Bundestagsresolution von 2005 auf einem CDU-Vorschlag basierte – waren journalistische Beobachter damals erstaunt, mit welcher Zurückhaltung im Ton und welch konstruktivem Engagement die Debatte auch von Unionsseite geführt wurde.235 Dieser Umstand ging auch darauf zurück, dass der Initiator der Resolution von 2005, Christoph
234 Interview 6 vom 19.12.2012. 235 In einem Beitrag der ›tageszeitung‹ beklagt Cem Sey am 21.04.2005 noch »taktisches Verhalten« sowohl bei Unionsparteien als auch bei SPD. Hingegen hält sein Kollege Stefan Reinecke am Folgetag fest: »Positiv formuliert: Wer befürchtet hatte, dass sich die Union mit dem Thema Armenien parteitaktisch gegen einen Türkeibeitritt in die EU munitionieren würde, wurde angenehm überrascht.« Vgl. Cem Sey: Der Antrag gegen das Verdrängen wird bald vergessen sein, in: die tageszeitung vom 21.04.2005 sowie Stefan Reinecke: Kein Hindernis für den EU-Beitritt, in: die tageszeitung vom 22.04.2005. Ein Journalist bestätigt im Interview, dass die Unionsfraktion erstaunlicherweise das Thema nicht instrumentalisiert hätte, um gegen einen Türkei-Beitritt Stimmung zu machen. Er führt dies jedoch auf die zu diesem Zeitpunkt strukturelle Schwäche der Union zurück, die noch vom Spendenskandal geschwächt gewesen sei; Interview mit Cem Sey vom 27.11.2012.
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Bergner, sich zunächst mit den Befürwortern eines türkischen EU-Beitritts in den eigenen Reihen, namentlich Volker Rühe und Ruprecht Polenz, zu dem sensiblen Thema ausgetauscht hatte.236 Eine SPD-Bundestagsabgeordnete und Expertin für Deutschlands Kaukasus-Beziehungen, sieht das ähnlich: Die Union brauche den Genozid nicht in dieser Debatte, in der die »üblichen Argumente« ausreichten.237 Darüber hinaus muss darauf verwiesen werden, dass es, aufgrund der besonderen innenpolitischen Situation, den deutschen Politikern mehr als den französischen darum gehen muss, einen tatsächlichen Beitrag zur Annäherung der türkisch-armenischen Position zu leisten. Schließlich soll die Integration der in Deutschland lebenden Türken und türkischstämmigen Deutschen auf Basis eines gemeinsamen Wertekanons vorangetrieben werden. Konfligierende Geschichtsdarstellungen und ausgeprägtes Nationalbewusstsein sind dabei nicht hilfreich. Es wird daher deutlich: Während ein lokales wahltaktisches Interesse kaum vorhanden ist, existiert es national in begrenztem Umfang durch die Verbindung mit übergreifenden Fragen. Ein einheitliches Gesellschaftsbild hingegen, das über gemeinsame Werte verbindend wirkt und ausgeprägte Nationalismen verhindert, ist aus der Sicht deutscher Politik sicher ein zentrales Anliegen. Jedoch scheint der Umgang mit dem Genozid an den Armeniern dabei nur eine Marginalie zu sein. Integration kann sich aus Sicht der meisten Politiker auch in der Einstellung zu anderen Themen manifestieren. Für sich genommen, wird dem Völkermord von 1915 kein Alleinstellungsmerkmal im Hinblick auf mangelnden Liberalismus in der Türkei attribuiert. Aufgrund der widersprüchlichen Interessenlage hinsichtlich der Relevanz des Völkermords kann diese, wenn überhaupt, im Sinne einer Opportunität allein als Argument im Kontext anderer Debatten genutzt werden. Im Kontrast zu Frankreich muss die ›Opportunitätsfrage‹ des Armenien-Themas in Deutschland allerdings weniger dahingehend gestellt werden, ob der politische Umgang damit ausschließlich von Opportunitätsfaktoren beeinflusst ist, sondern vielmehr, weshalb Politiker sich trotz der scheinbar geringen damit verbundenen Opportunitäten mit ihm befassen. Sicher trägt dazu auch der im Schema vernachlässigte Themenbedarf bei. Im Gespräch mit Christoph Bergner ist angeklungen, dass die Anregung von Bergners Freund Professor Hermann Goltz, den Völkermord an den Armeniern politisch zu thematisieren, dem damals neuen Bundestagsabgeordnete und Vorsitzenden der Parlamentariergruppe Südkaukasus durchaus auch eine Positionierungmöglichkeit bot. 238
236 Interview mit Christoph Bergner vom 29.11.2012. 237 Interview mit Bärbel Kofler vom 26.02.2013. 238 Interview mit Christoph Bergner vom 29.11.2012.
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Gleichwohl betont Bergner, dass er es auch für moralisch notwendig hielt, den Vorschlag aufzugreifen. Die diesbezüglichen Argumente werden im nächsten Punkt untersucht. 5.2.3.2 Identitäts- und Wertrelevanz Analog zur Analyse der historisch und kulturell relevanten Argumente bei der Durchsetzung armenischer Forderungen wird diese Dimension im Folgenden für Deutschland beleuchtet. Dabei sind zunächst zwei Argumente identifiziert worden, mit denen insbesondere in der Parlamentsdebatte von 2005 und den für diese Arbeit geführten Interviews die Notwendigkeit dafür begründet worden ist, dass Deutschland sich mit der ›armenischen Frage‹ politisch befasst. Es ist bereits gesagt worden, dass dieses ›Sich-Befassen‹ in Deutschland nicht mit dem Aufgreifen armenischer Forderungen gleichzusetzen ist. Hingegen ist das Thema wenig kontrovers in der deutschen Politik: wie dargestellt, ähnelten sich gerade die im Bundestagsprotokoll vom 21. April 2005 dokumentierten Positionen so stark, dass von einer »Gegenposition« kaum die Rede sein kann. Vielmehr ist hier herauszuarbeiten, mit welcher Begründung die politischen Akteure nicht die dezidierten Forderungen der Armenier aufgreifen, sondern einen im Vergleich zu Frankreich zurückhaltenden Ton wählen und Appelle für weitreichendere Maßnahmen zurückweisen. Argument 1: Deutsche Beteiligung als moralische Verpflichtung – von »Mitschuld« und »besonderer Zeugenschaft« Mehrere Redner verweisen als Begründung für die deutsche Stellungnahme zu den Geschehnissen von 1915 auf die deutsche Verstrickung in das damalige Geschehen. Markus Meckel spricht deshalb von einer »Mitverantwortung«239, die Episode sei »Teil unserer eigenen Geschichte«240. Den Begriff der »Mitverantwortung« gebraucht auch sein SPD-Kollege Nietan,241 während Fritz Kuhn von den Grünen darüber hinausgeht und aus dem »Mitwissen«242 Deutschlands auch eine »Mitschuld«243 Deutschlands ableitet, für die er sich im Namen seiner Fraktion bei den Armeniern entschuldigt.244 Etwas schwächer klingt diese Aussage bei Christoph Bergner von der CDU, dem Initiator des Antrags: Er nennt das
239 Markus Meckel in: Plenarprotokoll 15/172, S.16129. 240 Ders. in: ebd., a.a.O. 241 Dietmar Nietan in: ebd., S. 16135. 242 Fritz Kuhn in: ebd., S. 16131. 243 Ders. in: ebd., a.a.O. 244 Ders.. in: ebd., a.a.O.
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deutsche Vergehen »unterlassene Hilfeleistung« 245 und fordert ein »Eingeständnis dieser unserer Schuld«246, womit die Schuld klar eingegrenzt ist: Sie besteht in unterlassener Hilfeleistung, nicht jedoch in einer ursächlichen Beteiligung am Verbrechen. Lediglich der FDP-Abgeordnete Stinner sowie Friedbert Pflüger von der CDU argumentieren hinsichtlich der Berechtigung der Bundestagsaussprache nicht ausführlich mit der deutschen Rolle. Indes besteht die deutsche Rolle in den Augen der Redner nicht nur in derjenigen des Bündnispartners, der nicht gegen die Vernichtungspolitik seines Kriegsalliierten eingeschritten ist. Sie ist auch die des Landes, das wie kein anderer Staat das Geschehen vor Ort verfolgt habe und davon Zeugnis ablegen muss: »Dieser Zeugenpflicht dürfen wir uns nicht entziehen, wenn wir uns nicht erneut schuldig machen wollen.«247 Ziel der deutschen Aussprache ist also zuvorderst zweierlei: Einerseits eine Tilgung der damals durch unterlassenes Handeln angehäuften »Mitschuld«248 – durch ›Ent-Schuldigung‹. Darüber hinaus soll einem erneuten ›Sündenfall‹ entgegengewirkt werden. Hier wird deutlich, dass die Geschichte nicht als abgeschlossene Epoche betrachtet wird, sondern dass eine Verantwortung der Nachgeborenen besteht in Form von Zeugenschaft und Wahrhaftigkeit. Das deutsche Verhältnis zum Genozid an den Armeniern ist für die Mehrzahl der Redner deshalb eine Frage von Schuld – von bestehender, aber auch von zu verhindernder Schuld – aus der eine Schuldigkeit gegenüber den Armeniern, vor allem aber ein allgemeiner moralischer Imperativ erwächst: Authentisches Gedenken ist Voraussetzung für entlastete Gegenwart. Durch das Bekenntnis zur eigenen Rolle liefert der Bundestag nicht nur die Begründung für die eigene Thematisierung des Völkermords, er distanziert sich auch von der Haltung der damaligen deutschen Reichsregierung. Dass dabei Versuche, den Umfang der Schuld einzuordnen und zu limitieren (»unterlassene Hilfeleistung«, »Mitverantwortung«, »dieser unserer Schuld«) Hand in Hand gehen mit dem vorgeblichen Willen zur rückhaltlosen Distanzierung, lässt dem »Wunder in der Geschichte des deutschen Parlamentarismus« 249 etwas sehr Irdisches anhaften: Die ›Aufarbeitung‹ erfolgt in einem abgesteckten Rahmen; keinesfalls soll der Armeniergenozid Ansprüche nach irgendwelchen Seiten eröffnen. Mihran Dabag sieht darin den Unwillen, sich nach der ›Bewälti-
245 Christoph Bergner in: ebd., S. 16128. 246 Ders. in: ebd., a.a.O. 247 Ders. in: ebd., a.a.O. 248 Vgl. Kap. 4.4.3.2. 249 Giordano (2012): Von der Majestät der Wahrheit, a.a.O.
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gung‹ des Holocaust, dessen Lesart in der politischen Kaste ganz überwiegend Konsens ist, erneut mit »echter« Schuld auseinanderzusetzen.250 Argument 2: »Europäische Erinnerungskultur« als Auftrag – von »gemeinsamer Geschichtsbewältigung« als Grundlage der ›Aussöhnung‹ Nicht nur die deutsche »Mitschuld« wird von den Rednern als Begründung für die Relevanz des Völkermords an den Armeniern für Deutschland angeführt. Auch dessen Eigenschaft als Teil europäischer Geschichte sowie das Bestreben, die Türkei an dieser transnationalen Geschichtskultur teilhaben zu lassen, nehmen in den Erläuterungen der Redner viel Raum ein. Bergner erkennt die »europäische Erinnerungskultur« 251 in »gemeinsamer Geschichtsbewältigung« 252 . Diese sei Voraussetzung für die innereuropäische »Aussöhnung« 253 gewesen. Sein Kollege Markus Meckel sieht dies ähnlich: »Versöhnung setzt Offenheit voraus«254, postuliert dieser, denn schließlich sei das Ziel, dass »Geschichte endlich ruhen kann und unsere Zukunft nicht mehr belastet.«255 Wie Dietmar Nietan, bemerkenswerterweise als »Vertreter der jungen Generation«256, darüber hinaus ausführt, sollen dazu nicht nur die jeweiligen nationalen Verfehlungen gegenseitig bekannt werden; vielmehr wünscht er mit Wolfgang Thierse, »dass die nationalen kollektiven Erinnerungen Schritt für Schritt von einer europäischen kollektiven Erinnerung abgelöst werden [...].«257 Dieses Ziel ist getragen von der Überzeugung, dass ein geteiltes kollektives Gedächtnis, welches von den gleichen historischen Bewertungen geprägt ist, Grundbedingung ist für ein europäisches Zusammengehörigkeits- und Solidaritätsgefühl, das gemeinsamem Handeln und dauerhaftem Frieden zugrunde liegen muss. Es ist kein Zufall, dass dies im Kontext eines möglichen türkischen EUBeitritts bzw. einer Annäherung der Türkei an die Europäische Union unterstrichen wird. Nicht nur Bergner sieht in dem vorliegenden Antrag einen »Versuch, die Rechtsnachfolgerin des Osmanischen Reiches in das einzubeziehen, was man
250 Vgl. Dabag, Mihran: Massage an Kanzlers Rückgrat [...] (2005), a.a.O. 251 Christoph Bergner in: Plenarprotokoll 15/172, S. 16128. 252 Ders. in: ebd., a.a.O. 253 Ders. in: ebd., a.a.O. 254 Markus Meckel in: ebd., S. 16129. 255 Ders. in: ebd., a.a.O. 256 Dietmar Nietan in: ebd., S. 16134. 257 Ders. in: ebd., S. 16135.
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[...] ›europäische Erinnerungskultur‹ nennen könnte [....].« 258 Sein Kollege Friedbert Pflüger gibt eine ähnliche Parole aus: »Wir wollen die Annäherung der Türkei an Europa durch eine gemeinsame Erinnerungskultur verstärken.«259 Dass beide Abgeordneten der CDU angehören, also dem Lager entstammen, das sich im Bundestag skeptisch gegenüber einer EU-Vollmitgliedschaft der Türkei positioniert, kann freilich auch dahingehend interpretiert werden, dass es ihnen eigentlich darum geht, die vermeintlichen kulturellen Unterschiede zwischen dem Land am Bosporus und den EU-Staaten hervorzuheben. Fritz Kuhn als Redner von Bündnis 90/Die Grünen argumentiert denn auch anders: Für ihn geht es zuvorderst nicht darum, dass die Türkei eine Volte in ihrer Geschichtspolitik vollzieht. Er greift Meckels Kritik an staatlicher Unterbindung des beginnenden Aufarbeitungsprozesses und der Bedrohung von Personen des öffentlichen Lebens, die sich wie der Schriftsteller Orhan Pamuk abweichend von der ›offiziellen‹ Geschichte äußern, auf.260 Kuhns Konzeption von ›europäischen Werten‹ erschöpft sich deshalb nicht in einem bestimmten Geschichtsnarrativ. Vielmehr muss ein Austausch über herrschende und alternative Narrative möglich sein: »Ein Kernelement der europäischen Wertekultur ist, dass es freie Diskussionen über strittige Fragen geben kann.«261 Argument 3: Pädagogische Verantwortung: Deutschland weiß, wie man sich schwieriger Geschichte stellt Dass die Ablehnung einer offenen Geschichtsdebatte in der Türkei auf historisch bedingten Sensibilitäten beruht, ist den Bundestagsabgeordneten bewusst. Pflüger macht diese explizit und erläutert damit die Abwehrreaktionen vieler Türken.262 Gleichzeitig enthält dieser Teil seiner Rede eine Botschaft an deren türkisch(stämmige) Leser und Hörer: Er vermittelt, dass ein in der Türkei sozialisiertes Individuum keine Schuld trägt am eigenen Geschichtsbild, dass dieses jedoch nichts desto weniger falsche, da mehr ideologisch als historisch begründete Elemente aufweist. Verdächtigungen und Ablehnung will er darüber hinaus entgegenwirken, indem er etwaigen Gebietsansprüchen Armeniens an die Türkei jede deutsche Unterstützung klar versagt: 263 Die Debatte soll eine moralische
258 Christoph Bergner in: ebd., S. 16128. 259 Friedbert Pflüger in: ebd., S. 16133. 260 Vgl. Markus Meckel in: ebd., S. 16130. 261 Fritz Kuhn in: ebd., S. 16132. 262 Vgl. Friedbert Pflüger in: ebd., S. 16133. 263 Vgl. ders. in: ebd., a.a.O.
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bleiben und nicht von realpolitischen Ängsten, und sei es als Vorwand, beeinträchtigt werden. Den Weg zur moralischen Anerkennung hingegen will Deutschland mit seinen Erfahrungen ebnen: »Wir als Deutsche haben die Erfahrung gemacht, uns einer wahrhaftig noch furchtbareren Geschichte und Schuld zu stellen« 264 , so Meckel. Auch Stinner erinnert an »jahrzehntelange, schmerzhafte Erfahrungen«265, aus denen er zwei Lehren destilliert: Man dürfe nur das eigene Tun hinterfragen, nicht jedoch aufrechnen. Dabei sei externer Druck »durchaus hilfreich«266. Nachdem der Türkei so die Parallele der eigenen Herausforderungen aufgezeigt worden ist, werden Ratschläge formuliert, um schließlich die positive Perspektive aufzuzeigen: »Denn unsere schnelle Wiederaufnahme in die europäische Gemeinschaft demokratischer Staaten ist für uns wegweisend.«267 Neben der Versicherung, dass die Vorteile einer offenen Konfrontation mit der eigenen Geschichte die Nachteile überwiegen, rekurriert Nietan damit wieder ganz konkret auf die europäische Ebene: Europa ist das Bindeglied, das Deutschland trotz seiner Vergangenheit und unter der Bedingung von deren Aufarbeitung raschen Wiederaufbau und beispiellosen Aufschwung ermöglicht hat. Die ›Versöhnungsgemeinschaft‹ ist in dieser Lesart auch ein Verdienst der Deutschen, die den Mut hatten, sich ihrer Vergangenheit zu stellen. Diese Option wird nun auch der Türkei in Aussicht gestellt. Die besondere Rolle Deutschlands besteht darin, als Vorbild zu dienen, das den dazu notwendigen Prozess bereits abgeschlossen hat. So kann zumindest die Verwendung des Präteritums durch Stinner gedeutet werden: »Auch für uns war das über Jahrzehnte hinweg ein schmerzhafter Prozess.«268 Die Aufarbeitung ist demnach so weit fortgeschritten, das Gedenken so stark kulturell verankert, dass die Geschichte »unsere Zukunft nicht mehr belastet«269, wie Meckel es als Ziel für die Türkei und Armenien formuliert hat, die Erinnerung keinen Zwist und keine Belastung mehr darstellt. Als ›geheiltes Land‹ ist Deutschland ein Vorbild für Geschichtsaufarbeitung und will nun seinen Erfahrungsschatz teilen.
264 Markus Meckel in: ebd., S. 16129. 265 Rainer Stinner in: ebd., S. 16130. 266 Ders. in: ebd., S. 16130. 267 Dietmar Nietan in: ebd., S. 16134. 268 Rainer Stinner in: ebd., S. 16130. 269 Vgl. Kap. 4.4.3.2.
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5.2.3.3 Realpolitische Argumente Wie in Frankreich, so impliziert die Frage des Umgangs mit dem Völkermord an den Armeniern auch in Deutschland zwei realpolitische Dimensionen: das deutsch-türkische Verhältnis einerseits, die tatsächliche Wirkung etwaiger deutscher Beschlüsse zu diesem Thema auf dessen Aufarbeitung andererseits. Hinzu kommt ein dritter Aspekt, der in Deutschland gewichtiger ist als in Frankreich: Dabei geht es um den sozialen Zusammenhalt im Inland unter dem Druck einer hohen Anzahl türkischstämmiger Einwohner sowie einflussreicher türkischer Gemeinden und Medien. Neben den beiden außenpolitischen Dimensionen hat die ›armenische Frage‹ in Deutschland deshalb eine innenpolitische Seite, die naturgemäß auch einen Opportunitätsfaktor darstellen kann. Hinsichtlich der außenpolitischen Faktoren gelten ähnliche Bedingungen wie für Frankreich: Als Handelspartner verbinden Deutschland und die Türkei gar noch engere Beziehungen, als NATO-Bündnispartner ist die Türkei ein wichtiger Alliierter. In diesem Kontext besteht auch eine bedeutende Abhängigkeit der Türkei von Deutschland, das mit einem Investitionsbestand von 7 Milliarden Euro wichtigster ausländischer Investor am Bosporus ist. 270 Trotzdem gibt es keine wie in Frankreich geartete Kontroverse, in der innerdeutsche Politiker der Regierung und dem Außenministerium eine Abwehrhaltung aufgrund wirtschaftspolitischer Interessen unterstellten. Wenn auch die Wertung der Ereignisse von 1915 durch die Bundesregierung extrem zurückhaltend und im Gegensatz zur Erklärung manchen Politikers ausfällt,271 so werden vom Auswärtigen Amt keine offensichtlichen Interventionen gesucht. An der Erarbeitung der Bundestagsresolution hat das Amt nicht mitgewirkt; 272 ob das Bemühen Fritz Kuhns,
270 Vgl. Rede von Bundeskanzlerin Merkel bei der 9. ordentlichen Mitgliederversammlung der Türkisch-Deutschen IHK am 24. Juni 2013 in Berlin, unter http://www. bundeskanzlerin.de/Content/DE/Rede/2013/06/2013-06-25-dt-tuerk-ihk.html, Stand: 19.09.2013. 271 Während Fritz Kuhn für sich persönlich im Bundestag erklärt: »Es handelte sich um einen Genozid, also um Völkermord.« (Plenarprotokoll 15/172, S. 16131), zieht die Bundesregierung in der Beantwortung Kleiner Anfragen sich auf die Position zurück, dass die Völkermordkonvention nicht rückwirkend gelte und daher in diesem Fall keine Anwendung finde (vgl. z. B. Bundesdrucksache 17/1956: Kleine Anfrage der Abgeordneten Katrin Werner, Wolfgang Gehrcke, Annette Groth, weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE vom 04.06.2010, S. 5). 272 Interview 10 vom 29.11.2012, die Mitarbeit des AA bei derlei Resolutionen sei allgemein nicht üblich.
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den Völkermordbegriff aus der Resolution herauszuhalten,273 nur dem Versöhnungsgedanken geschuldet war oder auf Eingabe der rot-grünen Bundesregierung erfolgte, vermögen auch Weggefährten nicht zu beurteilen274 – seine Positionierung wurde jedenfalls im ganzen Haus mit Applaus begrüßt.275 Zwar hat auch in Deutschland der außenpolitische Berater des damaligen Kanzlers Schröder versucht, bei Markus Meckel, der die Resolutionsinitiative aufgegriffen hatte und in der SPD-Fraktion vorantrieb, zu intervenieren; letztendlich konnte jedoch als Kompromiss eine Verschiebung der Resolutionsverabschiedung vereinbart werden, so dass diese nicht mit einer geplanten Türkeireise von Bundeskanzler Schröder zusammenfiele.276 Die Wirkungen ausländischen Drucks auf die Auseinandersetzung mit dem Armenien-Thema in der Türkei wird in der deutschen Presse ähnlich kontrovers dargestellt wie in der französischen: Während Jürgen Gottschlich für die tageszeitung in der Öffnung der innertürkischen Debatte »im Wesentlichen eine Reaktion auf den zunehmenden Druck von außen«277 sieht, differenziert seine Kollegin Christiane Schlötzer von der Süddeutschen Zeitung zwischen politischem und Medienbetrieb: die Öffnung finde vor allem auf Seiten der Medien statt, indes sich die Politik in der gewohnten Abwehrrhetorik übe und »hohen propagandistischen Aufwand« 278 treibe, um die offizielle Position zu verteidigen. Den ›Druck von außen‹ macht über die Frankfurter Allgemeine Zeitung die Istanbuler Politikwissenschaftlerin Türkmen als einen der Faktoren des neuen »Neonationalismus«279 verantwortlich, während Hrant Dink im Interview mit Cem Sey von
273 Interview mit Markus Meckel vom 27.11.2012. 274 Interview mit Markus Meckel vom 27.11.2012. 275 Vgl. Plenarprotokoll 15/172, S. 16132. 276 Interview mit Markus Meckel vom 27.11.2012. 277 Gottschlich, Jürgen: Türkei stellt sich erstmals der Armenien-Frage; Intellektuelle fordern, den Völkermord an den Armeniern in der Endphase des Osmanischen Reiches endlich anzuerkennen. Bisher ist das Schicksal von rund einer Million verfolgter Armenier in der Türkei kein öffentliches Thema, in: die tageszeitung vom 02.03.2005 278 Schlötzer, Christiane: Stolz statt Scham. Warum die Türkei den Völkermord an den Armeniern leugnet, in: Süddeutsche Zeitung vom 18.04.2005. 279 Zit. nach: Hermann, Rainer: Eine Welle des Nationalismus. Groteske Auswüchse in der Türkei angesichts einer Schwächephase der AKP, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 25.04.2005.
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der taz im Voranschreiten der Diskussion auch einen Erfolg einer sich seit Jahren entwickelnden Demokratiebewegung sieht.280 Im Auswärtigen Amt beobachtet man, dass die Verwendung des Genozidbegriffs die Debatte in der Türkei vor allem lähme.281 Dieser Aspekt wird von der deutschen Politik deutlich stärker rezipiert als von der französischen. 282 Hier kommen die unterschiedlichen Zielrichtungen der jeweiligen Maßnahmen zum Tragen: Während es dem französischen Parlament vor allem um »Gerechtigkeit« gegenüber dem armenischen Volk geht, trägt die Resolution des Bundestags ihr Credo bereits im Untertitel: »Deutschland muss zur Versöhnung zwischen Türken und Armeniern beitragen«283. Diesem Versöhnungsgedanken entsprechend, wurde der Resolutionstext ohne die klare Bezeichnung »Völkermord« formuliert. Fritz Kuhn bekannte in seiner Bundestagsrede dazu: »Bei unserer Verantwortung für die Opfer geht es nicht nur um das Gedenken – darum geht es auch –, sondern darum, dass wir - unabhängig davon, dass wir im Sinne historischer Wahrheit Recht haben - Recht bekommen in Bezug auf das, was in der Türkei und in Armenien und zwischen diesen beiden Ländern heute tatsächlich stattfinden kann.«284
Dieser Gedanke, mit dem Catherine Colonna in der Assemblée nationale eine Minderheitenposition vertrat, dominiert das politische Handeln in Deutschland. Auf Versöhnung hinarbeiten heißt aus Sicht der deutschen Politiker: Zurückhaltung üben, um Abwehrreaktionen seitens der Türkei zu minimieren. Hinzu kommt, dass aufgrund der drei Millionen türkischen oder türkischstämmigen Bürger in Deutschland beim Thema »Armeniergenozid« nicht nur die Opportunitätsfaktoren im Vergleich zu Frankreich verschieden sind. Auch die realpolitischen Betrachtungen, namentlich die soziale Kohäsion im Inland, sind davon beeinflusst. Zwar kümmerten sich die meisten türkischstämmigen Ein-
280 Vgl. Sey, Cem und Hrant Dink: »Türken und Armenier sind psychisch krank«, sagt Hrant Dink; Über den Vorteil des Zusammenlebens, die unversöhnliche armenische Diaspora und die Debatte im Bundestag, Interview mit Hrant Dink, in: die tageszeitung vom 14.04.2005. 281 Interview 10 vom 29.11.2012. 282 Vgl. den einhelligen Applaus im Bundestag am 21.04.2005 auf Fritz Kuhns unten erwähntes Zitat (s. übernächste Fußnote) oder auch die Interviews mit Markus Meckel (27.11.2012) Cem Özdemir (25.02.2013). 283 Vgl. Plenarprotokoll 15/172, S. 16127. 284 Fritz Kuhn in: ebd., S. 16132.
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wohner nicht sonderlich um die »Scharfmacherei« 285 von Massenblättern wie Hürriyet, wie Daniel Bax in der tageszeitung meint. Dennoch erklären einige der oben zitierten Leserbriefe bzw. das massive Lobbying in Form von Briefen an Christoph Bergner, den Initiator der Bundestagsresolution,286 dass bei Politikern wie ihm der Eindruck entsteht, die türkische Diaspora werde »stark instrumentalisiert«287. Interventionen von Seiten der Diplomatie wie bei der ›Schulbuchaffäre‹ in Brandenburg oder die Reaktion des türkischen Präsidenten Gül auf die Bundestagsresolution verwenden außerdem die Behauptung, eine Thematisierung des Völkermords an den Armeniern in Deutschland belaste und stigmatisiere die türkischstämmige Bevölkerung in Deutschland und erschwere damit insbesondere die Integration von Jugendlichen.288 Im Gegensatz zu Frankreich droht die Türkei Deutschland damit nicht vor allem mit negativen außenpolitischen Folgen, sondern zeichnet ein inländisches Bedrohungsszenario. Für Deutschland zeichnet sich somit ein gewisses Paradoxon ab: Einerseits wird der ›Interpretationsstreit‹ um den Völkermord an den Armeniern ganz überwiegend als außenpolitische Angelegenheit betrachtet. Zugleich reklamieren die Politiker im Bundestag für sich ein Recht und gar eine Pflicht, sich mit Blick auf die deutsche Beteiligung an den Geschehnissen 1915 äußern zu dürfen bzw. zu müssen. Mit ihrer Erklärung wollen die Abgeordneten den Ball an die Türkei zurückspielen, um einen konstruktiven Beitrag zur Lösung eines internationalen Problems zu lösen. Die Türkei argumentiert genau konträr: Während sie dem
285 Bax, Daniel: Sturm im Teeglas; Die nationalistische Welle schwappt aus der Türkei auch nach Deutschland. Eine unrühmliche Rolle spielt dabei wieder einmal die Zeitung »Hürriyet«, in: die tageszeitung vom 07.05.2005. 286 Interview mit Christoph Bergner vom 29.11.2012: das Material, das man von türkischer Seite erhalten habe, »füllt Ordner«, so Bergner. 287 Ebd. 288 Zum ›Schulbuchstreit‹ vgl. Kapitel 4.4.2.2, zur Argumentation der türkischen Diplomatie z. B. [Rh]: Türkische Wahrheiten in: Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 28.01.2005. Darin: »Sein Argument [des türkischen Konsuls, d. A.], die Erwähnung des Genozids im Unterricht könne zu ›fremdenfeindlichen Übergriffen gegen Türken‹ führen, entbehrt zwar der Logik, wird aber gern auch von anderen benutzt, um den Status quo des Schweigens zu begründen.« Ähnlich der türkische Präsident Gül: Die »völlige Integration der Türken in Deutschland« werde »durch die Konfrontation der deutschen Öffentlichkeit mit dem Thema Armenien erschwert.« ([löw]: Bundestag rügt Gedenkpraxis in der Türkei. »Massaker an Armeniern wird immer noch verharmlost« / Ankara reagiert mit scharfer Kritik, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 17.06.2005.
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Bundestag die Berechtigung zu einer Resolution in dieser Sache abspricht und eine solche als Einmischung in ihre inneren Angelegenheiten betrachtet, warnt sie vor den innenpolitischen Folgen für die Bundesrepublik. Aufgrund der lautstarken Äußerungen und massiven Kampagnen des türkischen Partners wird deutschen Politikern indes bewusst sein, dass die Durchsetzung eines authentischen Geschichtsbilds in Deutschland gerade auch gegenüber türkischstämmigen Bürgern gegen die Auffassung der Türkei und der türkischen Verbände und Vereine in Deutschland ein schwieriges Unterfangen wird. Es kann deshalb durchaus im Rahmen nüchterner Erwägungen liegen, den Streit mit der Türkei in dieser Sache nicht zu stark eskalieren zu lassen, um als unnötig betrachtete Dissonanzen mit derlei Organisationen zu vermeiden. 5.2.3.4 Fazit Die Rezeptionsfaktoren ergeben ein anderes Bild als in Frankreich: Zunächst ist festzuhalten, dass die Opportunitäten, die sich für Politiker durch die Thematisierung des Armeniergenozids ergeben, viel geringer sind als in Frankreich. Dies gilt nicht nur für wahltaktische Erwägungen mit Blick auf die Gruppe der Armenier, sondern auch für die Verknüpfung des Themas mit Fragen wie der Menschenrechtssituation in der Türkei oder einem eventuellen EU-Beitritt der Türkei. Hierfür ist die Haltung zum Völkermord an den Armeniern zwar ein mögliches, jedoch nicht zentrales Argument in Deutschland. Einzelinitiativen wie die des ZAD, Frau Merkel für ihren Besuch beim türkischen Ministerpräsidenten einen Brief zum Armeniergenozid an die Hand zu geben, finden daher auch keinen langfristigen Nachhall. Dass die Armenier politisch wenig Gehör für ihre Forderungen finden, liegt nicht nur an der innenpolitischen Minderheitensituation, sondern auch am im Vergleich zu Frankreich unterschiedlichen Framing der Materie. Das Gedenken des Armeniergenozids wird in Deutschland in erster Linie nicht als Dienst gegenüber den Armeniern betrachtet, um diesen Gerechtigkeit zu erweisen – der in den französischen Parlamentsdebatten so oft vorgebrachte Wunsch der »justice pour le peuple arménien« 289 findet im Bundestag kein semantisches Echo. Vielmehr geht es zunächst um eine Korrektur der offiziellen deutschen Geschichtsschreibung (indem die Thematisierung eines in der politischen Gedenkpraxis vernachlässigten Sujets erfolgt) und eine Distanzierung von der Haltung der damaligen Reichsregierung. Auch, was den Appell an die Türkei betrifft, unterscheiden sich die Ansichten: Während die von den Armeniern geforderte »Anerkennung« des Völkermords durch die Türkei für die französischen Parla-
289 U. a. René Rouquet in: JO-2011, S. 9119.
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mentarier in einer dem französischen Gesetz ähnlichen Deklaration zu bestehen scheinen soll, sehen die deutschen Abgeordneten eine aufrichtige Auseinandersetzung der türkischen Zivilgesellschaft und Politik mit ihrer Geschichte als Teil eines in kleinen Schritten voranschreitenden Demokratisierungsprozesses, den es zu ermutigen und nicht durch als allzu brüsk erachtete ausländische Einmischungen zu torpedieren gilt. Dieser Unterschied findet – neben der ›Gerechtigkeitsmaxime‹ – noch in einer weiteren Formulierung Niederschlag. In der Assemblée nationale wird als Ziel der Anerkennung des génocide arménien durch Frankreich angeführt, dass die Nachkommen der Opfer »sérénité« 290 finden durch die Benennung der Wahrheit. Die Vergangenheit soll also für die Opfer endlich ruhen können, indem sie offiziell als wahrhaftig erklärt wird. Auch in Deutschland ist das erklärte Ziel, dass die Vergangenheit »ruhen kann« – hingegen steht hier nicht allein die Ruhe der Opfernachfahren im Vordergrund. Prägend ist hier der Gedanke, dass für Deutschland die Verantwortungsübernahme im Hinblick auf die nationalsozialistische Vergangenheit Vorbedingung war für die Wiederaufnahme Deutschlands in eine europäische Gemeinschaft, die als Antithese zu den Großen Kriegen und als Friedensgarant betrachtet wird. Hier wird der funktionale Aspekt für die ›Täternation‹, aber auch für die internationale Gemeinschaft gegenüber der rein moralischen Verpflichtung gegenüber den Opfern herausgestellt: Die Thematisierung der Vergangenheit soll auch, aber nicht allein, das seelische Leiden der Opfergruppe mindern – letztendlich geht es jedoch um die Eliminierung eines Konfliktstoffes und die Schaffung einer Grundlage für ein künftiges friedliches Zusammenleben. Dies wird auch im Innern angestrebt: Für die innerdeutsche Situation wird ein Dialog zwischen Armeniern und Türken gefordert, der von Offenheit geprägt ist. Während Verfechter eines Gesetzes gegen die Leugnung des Armeniergenozids in Frankreich darin einen Garant für den sozialen Frieden sehen, indem es Propaganda für die ›türkische Sicht‹ auf französischem Boden unterbindet, schürt ein solches Vorgehen aus deutscher Sicht Radikalisierungen von Türken in Deutschland wie der Türkei.
290 Jean-Pierre Foucher in: Compte rendu intégral (1998), S. 14.
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5.2.4
Erklärungsmuster
5.2.4.1 Buße und Bewältigung: Vergangenheits-›Référentiels‹ in Deutschland Auch die im deutschen Bundestag genannten identitätsrelevanten Argumente beziehen ihre Wirkmacht durch den Rekurs auf teils sehr stark etablierte, teils unterschwellige Référentiels. Zunächst wurde die deutsche »Mitschuld«291 thematisiert und die Verpflichtungen, die sich aus Sicht mehrerer Redner daraus ergeben. »Authentisches Gedenken ist Voraussetzung für entlastete Gegenwart«292, ist die Formulierung, mit der der dieser Argumentation zugrunde liegende Gedanke in Kapitel 4.4.3.2 zusammengefasst wurde: Damit die Schuld nicht weiter auf das Heute drückt, ist ein Bekenntnis zur Vergangenheit in Verbindung mit Reue erforderlich. Ulrike Jureit hat diese Kernhaltung deutscher Erinnerungskultur in ihrer 2010 gemeinsam mit Christian Schneider publizierten kritischen Erhebung auf die Vermischung von christlicher Erlösungshoffnung und historischem Erinnern in Richard von Weizsäckers berühmter Rede zum 08. Mai 1985 zurückgeführt.293 Darin zitiert von Weizsäcker die in Deutschland inzwischen zum geflügelten Wort avancierte jüdische Weisheit »[...] das Geheimnis der Erlösung heißt Erinnerung.«294 Laut Jureit ist dieses »staatspolitisch bekräftigte Erlösungsversprechen« 295 ein Eckpfeiler deutscher Geschichtspolitik geworden, da insbesondere die dem Krieg nachfolgenden Generationen durch ›Aufarbeitung‹ und Reue ihre Entlastung von der schuldbeladenen Vergangenheit ihrer Vorfahren angestrebt hätten und anstrebten. Auch in der hier angeführten Bundestagsdebatte von 2005 erinnert Friedbert Pflüger in seinem Redebeitrag an dieses durch von Weizsäcker als Versprechen vorgetragene Sprichwort – es wirkt also nicht nur indirekt nach.296 Jureit kritisiert die so zu Tage tretende Vermischung verschiedener Dimensio-
291 Fritz Kuhn in: Plenarprotokoll 15/172, S. 16131, vgl. Kapitel 4.3.2.2. 292 Vgl. Kap. 4.3.2.2. 293 Jureit, Ulrike und Christian Schneider: Gefühlte Opfer. Illusionen der Vergangenheitsbewältigung, Bonn: Bundeszentrale für politische Bildung 2010, hier S. 38 ff. 294 Rede von Bundespräsident Richard von Weizsäcker bei der Gedenkveranstaltung im Plenarsaal des Deutschen Bundestages zum 40. Jahrestag des Endes des Zweiten Weltkrieges in Europa unter http://www.bundespraesident.de/SharedDocs/Reden/ DE/Richard-von-Weizsaecker/Reden/1985/05/19850508_Rede.html, Stand: 30.09. 2013. 295 Jureit in: Jureit/Schneider (2010), S. 39. 296 Friedbert Pflüger in: Plenarprotokoll 15/172, S. 16133.
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nen: Eine aus dem kulturellen Kontext gerissene chassidische Weisheit, in der es um die Vergegenwärtigung des Vergangenen nach jüdischer Tradition gehe, werde als »eschatologische[s] Heilsversprechen«297 nach christlicher Lehre aufgefasst und als solches in einen areligiösen, nämlich politischen Betrieb eingebracht, in dem es Integration und Versöhnung in Aussicht stelle. Diese Schlussfolgerung sei falsch: »Um es ganz deutlich zu sagen: Niemand wird wegen permanenten Erinnerns von der eigenen oder überlieferten Schuld freigesprochen werden.«298 Als Grund für das scheinbar unausweichliche Gebot des Erinnerns sehen Sabrow wie Margalit eine weitere Strömung: Der geschichtspolitische Diskurs sei nicht nur von christlichen Ideen, sondern auch den Erkenntnissen der Psychoanalyse geleitet. (Ver-)Schweigen sei nach dieser Sichtweise eine Störung, durch die unkontrollierbare Effekte drohten. Aktive Aufarbeitung hingegen gelte als Chance auch auf eigene Heilung.299 Heil und Heilung sind demnach die beiden Erfolge, die sich die Deutschen aufgrund des Weizsäcker’schen Erlösungsversprechens von der Thematisierung ihrer Vergangenheit erwarten. Plausibel ist diese Vorstellung, weil sie den Anspruch eines Abschlusses impliziert, der mit dem zweiten Argument der Europäisierung korrespondiert. Um dies zu erläutern, ist ein Blick auf Jörn Rüsens Phasenmodell hilfreich. Rüsen vertritt, dass die Vergangenheitsaufarbeitung kein einheitlicher, kontinuierlicher Prozess ist. Seine
297 Jureit in: Jureit/Schneider (2010), S. 41. 298 Ebd., S. 42. 299 Vgl. zur Bedeutung der Psychoanalyse in diesem Zusammenhang Sabrow, Martin: »Erinnerung« als Pathosformel der Gegenwart, in: ders. [Hrsg.]: Der Streit um die Erinnerung [Reihe: Helmstedter Kolloquien, Band 10], Leipzig: Akademische Verlagsanstalt 2008, S. 9-24, hier S. 9 sowie Margalit, Avishai: The ethics of memory, Cambridge (MA) / London: Harvard University Press 2002, insb. S. 1-4 sowie Brudholm, Thomas und Valérie Rosoux: The unforgiving. Reflections on the resistance to forgiveness after atrocity, in: Alexander Keller Hirsch [Hrsg.]: Theorizing postconflict reconciliation. Agonism, restitution and repair, Oxon / New York: Routledge 2012, S. 115-130, hier S. 115. Die Bedeutung der christlichen Lehre für die Propagierung von Versöhnung als Wert an sich betonen darüber hinaus Levy und Sznaider: S. 108: »What has pushed forgiveness to the forefront of public and political attention? The answer is Christian morality, or rather its secular embodiments such as universalism, which have elevated forgiveness to the status of a supreme, even constitutive value [...].«(Levy, Daniel und Natan Sznaider: Human Rights and Memory, University Park (PA): The Pennsylvania State University Press 2010, S. 108).
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Unterteilung der bundesdeutschen Erinnerungsarbeit in die drei Phasen »Beschweigen«, »Moralisierung« und »Historisierung« 300 zeigt den Wechsel der einzelnen Regime. Die – chronologisch – nun anstehende Histori-sierung begreift Rüsen als Teil einer »Normalisierung«301, die, wenn sie ›richtig‹ gestaltet sein soll, eine Einbettung in eine europäische Geschichtskultur bedeuten müsse. Rüsen verbindet damit den in Kapitel 2.1.2 erwähnten kulturwissenschaftlichen Trend, transnationale, verbindliche Erinnerungsorte herauszuarbeiten mit dem politischen Wunsch nach ›Unterfütterung‹ einer politischen Union Europas durch ein geteiltes Geschichtsbild, so wie ihn die Bundestagsredner im zweiten in Kapitel 5.2.3.2 angeführten Argument kundtun. Dass das Streben nach Europäisierung auch für sie mit einem Historisierungsverständnis einhergeht, zeigt sich an der Art, wie sie die Aufarbeitung für Deutschland vorerst oder zumindest in einer ersten Etappe als abgeschlossen darstellen. Die Appelle an die Türkei, sich in die »europäische Erinnerungskultur«302 zu integrieren, können daher auch im Kontext der ›Überwindung‹ einer partikularen Aufarbeitung, zu der Deutschland national verpflichtet ist, hin zu einer universellen Gedenkkultur, die europaweit als moralische Referenz dient, gesehen werden.303 Schließlich ist die pädagogische Verantwortung, die gegenüber der Türkei demonstriert wird, eine Variante dessen, was Jureit innerhalb Deutschlands bereits als »generationelles Deutungsmonopol«304 identifiziert hat. Sie zeigt anhand von Äußerungen Wolfgang Thierses als Befürworter des Mahnmals für die ermordeten Juden in Berlin, dass mit solchen Maßnahmen einer möglichen Verän-
300 Rüsen, Jörn und Friedrich Jaeger: Erinnerungskultur in der Geschichte der Bundesrepublik Deutschland, in: Jörn Rüsen: Kultur macht Sinn. Orientierung zwischen Gestern und Morgen, Köln / Weimar / Wien: Böhlau Verlag 2006, S. 65-107, hier S. 96-99. 301 Ebd., S. 102. 302 Christoph Bergner in: Plenarprotokoll 15/172, S. 16128. 303 Wie Aleida Assmann schreibt, erwächst aus diesem Weg aus deutscher Sicht in jüngster Zeit auch eine Befreiung von konketer Schuld: »Täter gibt es keine mehr. Was bleibt, ist ein allgemeines katastrophisches Schicksal, das alle teilen, und ein vages Pathos [...].« (aus: Trauma und Tabu. Schattierungen zwischen Täter- und Opfer-gedächtnis, in: Landkammer, Joachim, Thomas Noetzel und Walther C. Zimmerli [Hrsg.]: Erinnerungs-Management. Systemtransformation und Vergangenheitspolitik im internationalen Vergleich, München: Fink 2006, S. 235-255, hier S. 239). 304 Jureit in: Jureit/Schneider (2010), S. 83 f.
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derung des Gedenkens durch nachfolgende Generationen, gar »Neubewertung und Umorientierung«305 vorgegriffen werden soll. Mit Rückgriff auf Rüsens Phasen der bundesrepublikanischen Erinnerung lässt sich jedenfalls feststellen, dass die Akteure der »Moralisierung« ihre Paradigmen – mit Blick auf das Holocaust-Mahnmal insbesondere die Singularitätsthese – auch für eine historisierte Sichtweise als maßgebend betrachten. Hier wird deutlich, dass die politischen Akteure aus der Ablehnung der Grausamkeiten des Nationalsozialismus und des auf ihn folgenden »Beschweigens« zum Teil eine große moralische Sicherheit ziehen: der bisherige Weg der ›Aufarbeitung‹ und die aus ihm gezogenen Lehren werden als so positiv und überdies alternativlos betrachtet, dass sich der um das Gedenken etablierte Konsens möglichst wenig wandeln soll. Der »pädagogische Gestus, der hier deutlich hervortritt«306 impliziert indes nicht nur Sorge um den Erhalt von Wertmaßstäben, sondern auch das Gefühl der moralischen Überlegenheit gegenüber früher wie später Geborenen. Selbiges kann für die pädagogische Haltung gegenüber der Türkei festgehalten werden. In den Ermutigungen an die »türkischen Freunde und Partner«307 und den Verweisen auf eigene »jahrzehntelange, schmerzhafte Erfahrungen« 308 vergewissert sich das Parlament des eigenen moralischen Fortschritts. Zudem verweist es auf die europaweite Verbindlichkeit des eigenen Ansatzes und nimmt Rekurs auf Versöhnungs- und Erlösungsterminologie: Vor dem Hintergrund eines jahrzehntelangen Ringens um ›Bewältigung‹ der Stigmata des ›Dritten Reichs‹ kann die Bundestagsdebatte zum Völkermord an den Armeniern als Paradebeispiel der eigenen Situierung gelten. Im Prinzip ist dies auch den Akteuren bewusst: Christoph Bergner charakterisiert sie als einen »Schritt der Selbstvergewisserung – im Verhältnis zur Türkei, aber auch zur eigenen Geschichte.«309 5.2.4.2 Zugang zur ›Armenierfrage‹ – eine Bildungsbürgerangelegenheit In dem gerade erwähnten Zitat Christoph Bergners wird noch einmal deutlich, wie stark die Aktion deutscher Politiker im Hinblick auf den Völkermord an den Armeniern als der eigenen Nation und dem Verhältnis zur Türkei geschuldet gilt und wie wenig sie mit den Armeniern selbst in Verbindung gebracht wird. Dies
305 Ebd., S. 84. 306 Ebd., S. 85. 307 Christoph Bergner in: Plenarprotokoll 15/172, S. 16128. 308 Rainer Stinner in: Plenarprotokoll 15/172, S. 16130. 309 Interview mit Christoph Bergner vom 29.11.2012.
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erklärt sich neben dem geschichtlichen Hintergrund Deutschlands auch daraus, dass viele deutsche Politiker, Journalisten etc. – im Gegensatz zu ihren französischen Kollegen – ihre Informationen dazu in erster Linie nicht von Armeniern selbst erhalten. Die Literatur beispielsweise ist im Vergleich zu Frankreich eine wesentlich ausschlaggebendere Informationsquelle: Mehrere Interviewpartner haben bekundet, ihr erstes Wissen zu dem Thema aus dem Roman »Die vierzig Tage des Musa Dagh« (1933) von Franz Werfel bezogen zu haben.310 Werfel schildert darin den Widerstand einiger tausend Armenier, die sich im Sommer 1915 auf den am Mittelmeer gelegenen »Mosesberg« geflüchtet hatten und schließlich von einem französischen Kriegsschiff gerettet wurden.311 Die häufige Nennung des Romans zeigt, welch breite Resonanz und vor allem welchen Einfluss das Werk noch immer hat, zumal es für viele Bildungsbürger den ersten Zugang zur Problematik des Völkermords an den Armeniern verkörpert. Eine weitere prominente Quelle, wenngleich literaturgeschichtlich nicht dem Stellenwert von Werfels Musa Dagh entsprechend und nicht gleichermaßen bekannt, ist »Das Märchen vom letzten Gedanken« (1989) von Edgar Hilsenrath.312 Beide gemeinsam bezeichnet Schäfgen als »die wichtigsten Erinnerungsträger dieses Geschichtskapitels in der Bundesrepublik.«313 Wenn auch dadurch das Wissen um das Geschehen als solches in einigen Gesellschaftskreisen sehr verbreitet ist, wird es vor allem als historische Tragödie, nicht jedoch als politische Frage rezipiert. Selbst Bergner als Initiator der Bundestagsresolution gibt an, mit armenischen Organisationen erst in Kontakt getreten zu sein, nachdem sein Resolutionsvorschlag bereits verabschiedet worden sei.314 5.2.5 Fazit: Einfluss armenischer Verbände In Deutschland ist der Völkermord an den Armeniern insgesamt deutlich weniger rezipiert als in Frankreich. Trotz wiederkehrender Berichterstattung zu bestimmten Anlässen bleibt er ein Nischenthema, das selten Beachtung auf der
310 Interviews mit Christoph Bergner vom 29.11.2012 sowie mit Markus Meckel und 16 vom 27.11.2012. 311 Werfel, Franz: Die vierzig Tage des Musa Dagh, Frankfurt am Main: Fischer Verlag, 19. Auflage 1990. 312 Hilsenrath, Edgar: Das Märchen vom letzten Gedanken, 3. Auflage, München: Deutscher Taschenbuch Verlag 2011. 313 Schaefgen (2006), S. 151. 314 Interview mit Christoph Bergner vom 29.11.2012.
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politischen Bühne findet. Neben der geringen Häufigkeit, mit der er diskutiert wird, stehen dabei auch die Forderungen armenischer Gruppierungen weniger im Vordergrund als in Frankreich. Schließlich bleibt ein wichtiger Deutungsunterschied bestehen: Zwar ist ein Großteil der Politiker, denen das Thema bekannt ist, davon überzeugt, dass es sich 1915 um einen Genozid am armenischen Volk gehandelt hat. 315 Indes sind anderslautende Sichtweisen nicht annähernd tabuisiert wie in Frankreich.316 Dafür liefert nicht nur Schäfgens Beobachtung, dass in den 1980er Jahren die ›türkische Auffassung‹ der ›armenischen‹ in den deutschen Medien oft gleichberechtigt gegenübergestellt wurde, 317 ein Indiz. Noch 2006 vermutet Eberhard Jäckel in einer Buchbesprechung für die Frankfurter Allgemeine Zeitung in Guenter Lewys The Armenian Massacres in Ottoman Turkey. A Disputed Genocide einen hinreichenden Anlass zu der Vermutung »Hunderttausende Armenier kamen 1915/16 wohl ohne Absicht um«318. Wie ist dies mit den Aktivitäten und der Situation der Armenier im Land korreliert? Die Betrachtung hat gezeigt, dass das Beziehungsnetz, das die armenischen Verbände mit der Politik verbindet, weitaus weniger engmaschig ist als in Frankreich. Dies spiegelt sich auch in der Übernahme der Forderungen wider. Es ist evident geworden, dass persönliche Beziehungen der entscheidende Faktor sind, wenn es darum geht, einem Projekt zur Durchsetzung zu verhelfen. So ist die Petition zur Anerkennung des Genozids an den Armeniern mit 16.000 Unterzeichnern aus dem Jahr 2000 gescheitert; die persönliche Freundschaft zwischen Prof. Hermann Goltz und dem Bundestagsabgeordneten Christoph Bergner hingegen hat dem Erfolg der Bundestagsresolution 2005 den Weg geebnet. Daraus ergibt sich allerdings, dass die Einflussmöglichkeiten armenischer Organisationen, die sich erst im Nachhinein zu der Initiative äußern konnten, sehr gering waren: Es blieb nur die Kritik an der als solcher empfundenen ›Halbherzigkeit‹ der Resolution. Diese scheint im Übrigen mit zeitlichem Abstand gewachsen zu sein: Bergner berichtet, im direkten Anschluss an seine Initiative überwiegend
315 Fritz Kuhn verbalisiert das im Zuge der Bundestagsdebatte, vgl. Plenarprotokoll 15/172, S. 16131, auch Özdemir spricht explizit vom »Genozid« (Interview mit Cem Özdemir vom 25.02.2013). 316 Vgl. Kap. 4.3.2.1. 317 Vgl. Kap. 5.2.2.2. 318 Jäckel, Eberhard: Genozid oder nicht? Hunderttausende Armenier kamen 1915/16 wohl ohne Absicht um, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 23.03.2006, unter http://www.faz.net/aktuell/feuilleton/politik/genozid-oder-nicht-1307094.html, Stand: 04.04.2014.
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»schöne Bestätigung«319 erfahren zu haben. Die steigende Unzufriedenheit auf armenischer Seite mag aus den unterschiedlichen Erwartungshaltungen herrühren: Während für Abgeordnete wie Bergner mit der Resolution ein offenes Wort nachgeholt wurde, das es erlaubte, der Sache genüge zu tun,320 scheint sie von den Armeniern als Auftakt aufgefasst worden sein, der versprach, dass ihre Positionen stärker vertreten werden würden. Dabei haben die Beteiligten übersehen, dass sie das Ansinnen aus verschiedenen Gründen unterstützt haben. Für die deutsche Politik ging es um die eigene geschichtspolitische Aufrichtigkeit sowie die Übertragung dieses Prinzips auf die Türkei, während die Armenier zuvorderst eine klare Bestätigung ihrer Position forderten. Für die nächsten Jahre bleibt abzuwarten, ob sich diese Unterschiede auflösen. Im Auswärtigen Amt antizipierte man 2012 für die nahe Zukunft vor allem regionale Initiativen, jedoch keine signifikante Änderung der bundesdeutschen Haltung.321 Dagegen fordern armenische Vertreter zumindest die offizielle Anerkennung der Bezeichnung »Völkermord« durch die Bundesrepublik bis 2015. Der direkte Austausch mit der Politik, wie er in jüngster Zeit zu organisieren versucht wird, ist auf Basis der obigen Ausführungen ein erfolgversprechender Ansatz, verlässlichere Sprachrohre zu gewinnen. Inwieweit die Armenier über diese mit ihren Forderungen durchdringen, dürfte indes vor allem von der Förderung oder Eindämmung demokratischer Entwicklungen in der Türkei abhängen, die die deutsche Politik nicht stören bzw. der sie entgegentreten möchte.
319 Ebd. 320 Vgl. Kap. 5.2.2.1 321 Interview 10 vom 29.11.2012.
6
Funktionale Analyse geschichtspolitischen Engagements
6.1 G EHÖR FINDEN – GESCHICHTSPOLITISCHE D URCHSETZUNGSPROZESSE 6.1.1 Umsetzung politischer Ziele der Armenier in Frankreich und Deutschland In Kapitel 2.3.2 ist ›Erinnerungslobbying‹ definiert worden als »Versuch sozialer Gruppen bzw. nicht-staatlicher Akteure [...], Einfluss auf Träger politischer Mandate bzw. die Administration auszuüben, um einem geschichtlichen Ereignis gemäß dem in der Gruppe vorherrschenden Narrativ offizielle Anerkennung zu verschaffen durch politische Erklärungen sowie durch Vermittlung an die Bevölkerung durch die Instrumente der Geschichtspolitik.« Im Fall der Armenier sind die Bestrebungen, den an ihnen begangenen Genozid von 1915 anerkennen zu lassen, sehr deutlich. Auch der Wunsch nach Vermittlung an die Bevölkerung ist dargelegt worden – die Forderungen nach Teilnahme hochrangiger Politiker an Gedenkveranstaltungen und nach Vermittlung im Schulunterricht sind hierfür exemplarisch. Zu untersuchen ist ferner die Formulierung »gemäß dem in der Gruppe vorherrschenden Narrativ«. Hier ist nicht nur die einhellig bestehende Überzeugung zu nennen, dass es sich bei den Aktionen gegen die Armenier im Osmanischen Reich 1915 nicht um Kollateralschäden kriegsbedingter Maßnahmen, sondern um einen Völkermord gehandelt hat, zu nennen. Zentral ist auch das in Kapitel 4.1.2.2 zitierte »root paradigm of an endangered people.«1 Zum Narrativ innerhalb der armenischen Gemeinde gehört also nicht nur die Definition von 1915 als Genozid, sondern auch die daraus abgeleitete fortwährende Bedrohungswahrnehmung. Aus dieser Bedrohungs-
1
Nach Susan P. Pattie, a.a.O.
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wahrnehmung sowie aus dem Verpflichtungsgefühl gegenüber den Vorfahren erwächst das Gefühl nach fortbestehender Handlungsnotwendigkeit. Dazu gehört einerseits der Schutz des einzelnen Menschen in seiner physischen Integrität, aber auch der armenischen Kultur, verkörpert in Kirche, Sprache und historischen Stätten. Hinsichtlich der Umsetzung sind Unterschiede zu beobachten, die anhand der in Kapitel 2.3.2.2 festegelegten Kriterien erläutert werden sollen: Was die Anerkennung anbelangt, so ist sie in Frankreich vollumfänglich erfüllt. Zum einen spricht die Legislative hier explizit von einem Genozid, zum anderen tut sie dies per Gesetz. Die Vermittlung ist ebenfalls fortgeschritten: ein Großteil der erwachsenen Bevölkerung ist mit der Geschichte der Armenier vertraut, im französischen Geschichtsunterricht wird der Genozid an den Armeniern in den Schulbüchern gelehrt. Zahlreiche Gedenkfeiern erinnern, auch unter politischer Beteiligung, an den Genozid. Was die Verteidigung des historischen Ereignisses gegenüber Kritikern vor allem aus dem türkischen Lager anbelangt, so sind Bestrebungen zu einer strafrechtlichen Sanktionierung nur knapp gescheitert. Indes zeigen zivilrechtliche Prozesse wie die um den Orientalisten Lewis oder die Enzyklopädie Quid wie auch der ›Veinstein-Skandal‹, dass eine Infragestellung des Genozids an den Armeniern in Frankreich öffentlich und teils auch juristisch nicht akzeptiert wird. Das Geschichtsbild der Politiker, die sich für die ›armenische Sache‹ engagieren, weist eine hohe inhaltliche Kongruenz mit dem ihrer Klientel auf: Der Völkermord an den Armeniern wird in ihren Reden als einschneidendes historisches Ereignis isoliert und zum Gründungsmythos einer Gruppe, deren beispielhafte Integration in Frankreich die Attraktivität der französischen Republik verdeutlicht. Damit greifen sie sowohl die Bedeutung des Genozids als auch das idealisierte Frankreichbild der armenischstämmigen Bevölkerung auf. In Deutschland sind die armenischen Forderungen nicht zum gleichen Grad umgesetzt. Zwar hat sich die Politik offiziell zum Schicksal der Armenier geäußert, sich in der Beurteilung jedoch terminologisch nicht festgelegt. Die Vorbehalte gegenüber der Türkei, die im französischen Parlament in Verlautbarungen wie denen Devedjians deutlich zum Ausdruck kommen und ein auch von armenischer Seite empfundendes Bedrohungsszenario nachzeichnen, fehlen in Deutschland. Das in Potsdam beheimatete Lepsiushaus soll der Vermittlung der historischen Umstände des Genozids und des Wirkens von Johannes Lepsius dienen, Brandenburg bleibt jedoch das einzige Bundesland, in dessen Lehrplan der Völkermord an den Armeniern Gegenstand ist. Gesetze zur strafrechtlichenVerfolgung von Genozidleugnung über die Shoah hinaus haben bislang keine politische Basis gefunden. Es kann daher festgehalten werden, dass Anerken-
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nung, inhaltliche Kongruenz und Vermittlung in Deutschland teilweise gegeben sind, die Verteidigung der armenischen Erinnerung indes nur durch Positionierungen erfolgt und keine strafrechtlichen Konsequenzen, wie von armenischer Seite gefordert, angestrebt werden. 6.1.2 Merkmale des ›Erinnerungslobbyings‹ Das Verlangen nach Anerkennung und Schutz wird von den Armeniern durch verschiedene Maßnahmen an die Politik herangetragen. Als Strategien sind in diesem Kontext die Homogenisierung der Forderungen, die Umwandlung von partikularen Forderungen in Allianzen und Advokatenaufträge, die Beeinflussung der öffentlichen Meinung und die Etablierung elektoralen Drucks identifiziert worden.2 An den Erfolgen, die gerade in Frankreich dadurch erzielt werden konnten, wird deutlich, dass schwache Interessen deutlich an Durchsetzungskraft gewonnen haben. Gründe hierfür sind ein insgesamt hohes Ausbildungsniveau und die hervorragende Integration der Armenier spätestens ab der dritten Generation. Dies bedingt ihre Vernetzung innerhalb des politischen Systems, aber auch die Kenntnis von dessen Funktionsweise. Darüber hinaus gibt es bereits seit langem einen verhältnismäßig hohen Organisationsgrad durch zahlreiche Vereine. Im Zuge der Politisierung sind diese in Dachverbänden gebündelt und besser finanziell ausgestattet worden. So ist eine Professionalisierung der Interessenvertretung erreicht worden, die es einer ursprünglich schwachen Interessengemeinschaft erlaubt hat, sich als feste Größe in der politischen Landschaft zu etablieren. Wenn auch der Gegenstand und die Argumentation vor allem moralisch basiert ist, ermöglicht die Erstarkung als Interessengemeinschaft den Rückgriff auf Strategien, die eigentlich dem ›klassischen‹ Lobbying vorbehalten sind: Wie gezeigt werden konnte, spielt der persönliche Kontakt zu Politikern eine entscheidenden Rolle für die Vertretung der eigenen Forderungen im nationalen Rahmen und damit für deren Durchsetzungswahrscheinlichkeit. Von einer reinen ›Kampagnenstrategie‹ kann deshalb nicht die Rede sein. Hier wird deutlich, dass das ›Lobbying‹ im geschichtspolitischen Kontext ein ähnliches Vorgehen nutzt wie viele andere soziale Bewegungen, so genannte ›moralisch-politische Mobilisierungsagenturen‹: auch diese nutzen die öffentliche Aufmerksamkeit, um anschließend zu einer »démarche de lobbying traditionnel«3 überzugehen. Um diese Aufmerksamkeit zu gewinnen, finden auch die von David beschriebenen Inst-
2
Vgl. Kap. 4.2.6.
3
Vgl. Kapitel 2.2.2.2.
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rumente Anwendung: Petitionen, Demonstrationen, Internetkommunikation und die ›Schirmherrschaft‹ berühmter Persönlichkeiten.4 Im Fall der Armenier von einer ›hybriden Lobbyingstrategie‹ zu sprechen, hat umso mehr seine Berechtigung, als dass innergemeinschaftliche Medien wie die Nouvelles d’Arménie Magazine selbst keine Scheu vor dem Lobbyingbegriff hegen. Die Befassung von NAM mit dem Thema Ende der neunziger Jahre zeigt gar, dass den Erfolgen in Frankreich durchaus eine bewusste Auseinandersetzung mit erfolgversprechenden Strategien und der Erarbeitung eines Lobbyingkonzepts vorausging. 5 Die Zurückweisung des Lobbyingbegriffs, wenn sie erfolgt, erfolgt aus der Befürchtung allgemein negativer Assoziationen bzw. deren Nutzung durch die türkische Lobbyingkampagne, die versucht, durch den Verweis auf die »armenische Lobby« (in diesem Fall mit diffusem bis verschwörungstheoretischem Beiklang) den Inhalten der armenischen Seite die Legitimität abzusprechen. Gerade aufgrund des zuletzt genannten Missbrauchs des Konzeptes bleibt die Verwendung des Lobbyingbegriffs durch Außenstehende im Fall der Armenier delikat. Die Betrachtung der Aktivitäten hat jedoch gezeigt, dass er im Rahmen der eingangs vorgestellten Definitionen durchaus angebracht ist. Die verschiedenen, durch die Politikwissenschaft erarbeiteten Kategorien helfen überdies, Transparenz zu schaffen und die Besonderheit des geschichtspolitischen Lobbyings herauszustellen. Dies gilt auch für Hassenteufels Aufteilung zur medialen Wahrnehmung einer bestimmten Thematik:6 Die von ihm ausgemachten vier Faktoren erhellen zum einen einige Aspekte des von den Armeniern forcierten Framings ihrer Anliegen; darüber hinaus erklären sie auch Unterschiede hinsichtlich deren erzielter Erfolge in Frankreich und Deutschland. Zunächst ist hier die dramatische Intensität des Problems zu nennen. Die Betonung des Genozidcharakters der Massaker an und Vertreibung von Armeniern zeugt von deren Bedeutung. Betroffenheit würde auch durch eine reine Schilderung der Geschehnisse erzeugt; die Bezeichnung »Genozid« jedoch hebt das Ereignis von anderen historischen Grausamkeiten ab. »In short, war makes everyone a victim, while genocide and ethnic cleansing imply a focus on a perpetrator and a victim.«7 Die Außergewöhnlichkeit wird ferner dadurch betont, dass dem Völkermord an den Armeniern ein ›Vorbildcharakter‹ für die folgenden Genozide des 20. Jahrhunderts zugeschrieben wird, womit er den Status eines Vorboten der als singulär anerkannten Sho-
4
Vgl David in Beaufort (2008), S. 69, zit. in Kap. 2.2.2.2.
5
Vgl. Kap. 4.3.5.1.
6
Vgl. Kap. 2.2.2.2.
7
Levy / Sznaider (2010), S. 135.
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ah erhält. Für die wissenschaftliche Legitimität des Problems sind, wie bei anderen geschichtlichen Ereignissen, die Opferzahlen von Bedeutung. Die Zahl von 1,5 Millionen Toten hat aus armenischer Sicht daher Symbolkraft, von türkischer Seite werden hingegen sehr niedrige Zahlen angesetzt. Die Rückgriffsoptionen, die ein Problem in den öffentlichen Raum tragen, haben sich in Frankreich bewährt. Die deutlich größere Anzahl prominenter Fürsprecher hat den armenischen Anliegen dort zu erhöhter Aufmerksamkeit verholfen. Schließlich ist die Empfänglichkeit der öffentlichen Meinung für das Problem in Frankreich höher: Dies ist, wie offenbar wurde, bedingt durch andere nationale Narrative, durch eine andere Verbindung mit den gültigen Référentiels. Insofern eröffnen die eingangs vorgestellten Konzepte der Lobbyingforschung durchaus einen erhellenden Blick auf die geschichtspolitischen Bestrebungen einzelner Gruppen und deren Durchsetzung. Dabei wird deutlich, dass ein erfolgreiches ›Lobbying‹ Züge sowohl der klassischen Interessenvertretung trägt als auch der grassroots mobilization. Geschichtspolitisches Lobbying weist damit große Ähnlichkeit auf mit anderen sozialen Bewegungen, die zur Vertretung ihrer Klientel ebenfalls auf die Mobilisierung der Öffentlichkeit wie auf direkte Kontakte zu Politik und Entscheidern setzt. Druck auf Letztere auszuüben, ist dabei zwar wichtig, moralische Überzeugungskraft zu entfalten jedoch ebenfalls. Anhand der im theoretischen Teil formulierten ›Erfolgsfaktoren‹ wird nun ausgewertet, wie sich diese Aspekte zueinander verhalten.
6.2 R EZEPTIONSFAKTOREN DES ›E RINNERUNGSLOBBYINGS ‹ 6.2.1 Politische Opportunität (Wahltaktik) Für die Bewertung des Kriteriums der ›Politischen Opportunität‹ ist der deutschfranzösische Vergleich im Hinblick auf den Umgang mit dem Genozid an den Armeniern aufschlussreich. Während in Frankreich häufig unterstellt wird, die Prominenz des Themas lasse sich auf rein wahltaktische Erwägungen zurückführen, ist die Situation in Deutschland fast umgekehrt: Einem geringen Gewicht armenischer Wähler steht eine große türkische Gemeinde gegenüber. Wenn dies auch zu einer gewissen Vorsicht führen mag, so ist doch festzuhalten, dass auch deutsche Politiker sich nicht grundsätzlich vor der Auseinandersetzung mit dem Völkermord scheuen. Vielmehr sind beiderseits des Rheins individuelle Faktoren dominant: In Frankreich stammen die Politiker, die für die Belange der Armenier eintreten, zumeist aus Wahlkreisen mit großem armenischstämmigen Bevölke-
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rungsanteil. Gleichwohl zeigt das Beispiel François Rochebloines, dass dies nicht nur die wahltaktischen Erwägungen beeinflusst, sondern vor allem das Verständnis des Problems: der intensive Austausch mit armenischstämmigen Gruppen prägt das Bewusstsein der jeweiligen Politiker in einer Weise, die vom kollektiven Gedächtnis der Armenier zeugt. Dieses legt dringenden Handlungsbedarf nahe, um die andauernde Ungerechtigkeit zu überwinden bzw. sich in irgendeiner Form ›zu wehren‹. In Deutschland sind die individuellen Motive anders ausgeprägt. Neben persönlichen Kontakten (Bergner, Drobinski-Weiß) und eigenem Hintergrund (Özdemir) interessieren sich mehrere Politiker aufgrund ihres außenpolitischen Schwerpunktes (Polenz, Pflüger, Kofler) oder geschichtspolitischen Bewusstseins (Meckel, Lammert) dafür. Sie vermeiden keine Äußerungen, etwa aufgrund des Gewichts der türkischen Minderheit, haben aber oft einen anderen Zugang zur Problematik als ihre französischen Kollegen. Auf nationaler Ebene hingegen sind zwei andere Punkte hervorstechend: Zum einen die Verwendung als Argument innerhalb anderer Diskussionen (z.B. EU-Beitritt der Türkei). Zum anderen wird das Thema zur Profilierung eingesetzt, allerdings in anderer Weise als auf lokaler Ebene, wo es vor allem darum geht, durch die Besetzung eines Themas zu Prominenz zu gelangen. Nationale Politiker, die bereits einen gewissen Bekanntheitsgrad erlangt haben, versuchen hierüber, ihr Profil zu schärfen. Am Beispiel Sarkozys ist gezeigt worden, dass sich das Engagement in sein Bestreben einfügt, als Anwalt von Menschenrechten anerkannt zu werden, eine Ambition, die sich schon zu anderen Anlässen in sprunghaftem Agieren geäußert hatte.8 Aus den Wahlergebnissen lassen sich konkrete Einflüsse jedenfalls nicht ablesen: Selbst bei den regional gebundenen Politikern gibt es – trotz entsprechender Aufrufe im Netz – keinerlei Unterschied bei der Wiederwahlquote zwischen Unterstützern und Gegnern der armenischen Forderungen. Insgesamt lässt sich daher festhalten, dass der gefühlte Druck, zu den Anliegen der Armenier Position ergreifen zu müssen, größer zu sein scheint als der tatsächliche Einfluss, der daraus erwächst. Insbesondere in Anlehnung an das von Comtat beobachtete Wahlverhalten der Pieds-Noirs nach vote enjeu und vote sanction ist fraglich, inwieweit Versprechungen überhaupt die Wahl beeinflussen. Aufgrund der für diese Studie geführten Gespräche müsste diese Aufteilung eher um ein vote récompense ergänzt werden, durch das langjähriger,
8
Wie z. B. bei Sarkozys Erwägung, seine Teilnahme an der Eröffnungszeremonie der Olympischen Spiele in Peking abzusagen, um gegen Menschenrechtsverletzungen in Tibet zu protestieren.
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kontinuierlicher Einsatz für die Forderungen einer bestimmten Gruppe durch deren Mitglieder belohnt wird.9 Der Armeniergenozid ist aus einer rein funktionalen Betrachtung insbesondere auf nationalem Niveau für die Politiker grundsätzlich austauschbar. Damit ihm eine herausgehobene Stellung und Handlungsrelevanz zugeschrieben wird, muss seine Bedeutung vor dem jeweiligen Landeshintergrund auch argumentativ untermauert werden (um das hier als solches bezeichnete ›wertegebundene Framing‹ zu verstärken). Wie dies geschieht, wird im folgenden Punkt zusammengefasst. 6.2.2 Identitäts- und Wertrelevanz Im Teil »Identitätsrelevanz« der Untersuchung ist vor allem festgestellt worden, dass auf nationaler Ebene die Argumente für partikulare erinnerungspolitische Forderungen dergestalt sein müssen, dass die ganze Nation sich darin ihrer selbst vergewissern kann. Dabei hat sich das Konzept der Référentiels als hilfreich erwiesen, um zu zeigen, dass zu diesem Zweck der Rückgriff auf etablierte Narrative erfolgt. In der Abbildung 9 sind die in Frankreich und Deutschland angeführten Argumente mit ihren jeweiligen korrespondierenden Référentiels abgebildet. Gerade jedoch der Akt der sehr positiven Selbstvergewisserung kann kontrovers aufgefasst werden: Wo zum einen im geschichtspolitischen Kontext eine moralische Begründung unumgänglich ist, kann die damit einhergehende positive Selbstbetrachtung auch als narzisstisch erscheinen. In Frankreich erfolgt die Situierung des Themas hauptsächlich innerhalb eines klassisch republikanischen Diskurses, in dem Frankreich als unteilbare Nation, als Bewahrer der Menschenrechte dargestellt wird. Hier wird auf einen lange etablierten Mythos zurückgegriffen, der für Frankreich stark identitätsstiftend war und ist, nach außen jedoch auch auf Unverständnis trifft: Was nach innen als Einheit schaffend gilt und vor dem Hintergrund des nationalen Geschichtsnarrativs seine Berechtigung zu haben scheint, sieht sich in einem globalisierten Umfeld immer stärker der Kontrastierung durch auswärtige Blicke ausgesetzt.
9
Vgl. die Aussage Rochebloines, dass 80% der armenischstämmigen Wähler in seinem Wahlbezirk bei der letzten Parlamentswahl für ihn gestimmt hätten, und das gegen einen armenischstämmigen Gegenkandidaten (Kapitel 5.1.3.1).
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Abbildung 9: Identitäre Argumente und korrespondierende Référentiels in Frankreich und Deutschland
Für Deutschland ist der Versuch der positiven Selbstdarstellung weniger offensichtlich. Auf den ersten Blick scheinen die Rednerbeiträge der Bundestagsdebatte von 2005 mit Selbstkritik einherzugehen. Erst bei wiederholter Lektüre zeigt sich: Das Schuldbekenntnis ist sehr genau eingegrenzt. Vielmehr wird auf ein religiös anmutendes Dogma rekurriert, nach dem Konfrontation mit der eigenen Vergangenheit eine Befreiung von Schuld (»Erlösung«) verspricht. Als Paradebeispiel dieser ›Aufarbeitung‹ oder gar ›Bewältigung‹ gibt Deutschland durch seine Parlamentarier hier die eigenen gelernten Lektionen weiter. Auffällig ist der unterschiedliche Grad nationalen Bezugs, der hierbei deutlich wird. Während die deutsche ›Mitschuld‹ lediglich eine Distanzierung von der damaligen Entscheidung, nicht in das Geschehen einzugreifen, erforderlich zu machen scheint, ist mit dem Appell an die Integrationsleistung der Armenier in Frankreich offenbar eine stärkere Verbindlichkeit zwischen nationaler Gesellschaft und sozialer Gruppe etabliert. Eine Erklärung hierfür kann sein, dass im Falle Deutschlands zwar eine Implikation in das historische Geschehen – den Völkermord – besteht, diese jedoch indirekter Natur ist. Deutschland bekennt sich zum moralischen Versagen des Nichteingreifens, ist jedoch nicht Urheber der Tragödie. Beim Nachbarn wird hingegen nicht primär über den Akt der Flüchtlingsaufnahme durch Frankreich gesprochen, sondern über die Integration der Armenier seitdem. Aufgrund deren Anpassungsleistung wird eine Schuld Frankreichs gegenüber den Armeniern postuliert. Scheinbar paradoxerweise werden so der historische Bezug und die Handlungsnotwendigkeit in Frankreich als stärker betrachtet als in Deutschland. Hier wird deutlich: Das Leid anderer scheint keine hinreichende Motivation zu sein, geschichtspolitisch tätig zu wer-
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den. Vielmehr muss eine Überzeugung vorherrschen, der Opfergruppe Anerkennung im nationalen Rahmen schuldig zu sein.10 In beiden Ländern, Frankreich wie Deutschland, zeigt das Thema daher auch einen Konsens hinsichtlich des jeweiligen Selbstbildes. Die Referenzierung auf starke, breit akzeptierte Référentiels erschwert den Widerspruch. Dies gilt nicht für das Gegenargument, es sei nicht Sache des Parlamentes, die Geschichte festzulegen, welches in Frankreich mittlerweile selbst als Référentiel etabliert ist. Bei der Gegenüberstellung von moralisch Wünschenswertem und ›realpolitischen‹ Einwänden hingegen wird dies sehr deutlich. 6.2.3 Realpolitische Argumente Hinsichtlich der ›realpolitischen‹ Argumente haben sich deutliche Unterschiede zwischen Deutschland und Frankreich gezeigt. Dabei geht es weniger um die Einwände als solche als deren Repräsentation im politischen Diskurs. Die Position der Außenministerien ist in beiden Ländern von Zurückhaltung geprägt. Dabei haben diese nicht nur Handelsaspekte im Blick, sondern auch ihre diplomatische Glaubwürdigkeit und, darauf basierend, ihre weiteren Handlungsoptionen. Allein in Frankreich werden diese nicht als Expertise zur Kenntnis genommen, sondern diskursiv zur markthörigen Opposition einer moralisch zwingenden Handlung degradiert. Dieser Kontrast besteht in Deutschland zunächst nicht. Zwar kann auch hier davon ausgegangen werden, dass das Auswärtige Amt einer Resolution wie der von 2005 eher ablehnend gegenüberstand. Indes wird es weder aus den Reihen des Bundestags in dieser Sache attackiert, noch werden Einwände vernachlässigt, im Gegenteil: Ein großer Teil der Diskussion im Bundestag wird darauf verwendet, nicht den moralischen Gehalt der Resolution zu verdeutlichen, sondern ihre Wirkung in der Türkei zu antizipieren. Die Auswirkungen der jeweiligen Maßnahmen sind ebenfalls unterschiedlich: Während für die deutsch-türkischen Beziehungen das Thema derzeit keine Rolle zu spielen scheint, hat die Position der französischen Diplomatie in den Augen der Türkei sehr gelitten. Zwar betonen Vertreter der armenischen Seite allenthalben, dass das Handelsvolumen zwischen Frankreich und der Türkei über die letzten
10 Entsprechend ist bei den Debatten um das »Zentrum gegen Vertreibungen« bzw. die gesetzliche Verankerung der Leistungen der Français d’outre-mer (2005) immer wieder auf das »Sonderopfer« der ›Heimatvertriebenen‹ im Vergleich zu den übrigen Deutschen sowie auf deren Leistung beim Wiederaufbau der Bundesrepublik bzw. auf die Benachteiligung der Pieds-Noirs in der französischen Gesellschaft hingewiesen worden.
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Jahre stetig gestiegen sei – indes scheinen sie bei dieser Lesart der eigenen Reduktion der gesamten diplomatischen Implikationen auf rein ökonomische Aspekte aufgesessen zu sein. Während die Rücksichtnahme auf das real Erreichbare, auch auf mögliche negative Reaktionen, in Deutschland also als Begründung zumindest für die Ausgestaltung der Bundestagsresolution dient, so gilt sie in Frankreich als Antipode zur Verwirklichung ›historischer Gerechtigkeit‹. Vielmehr als von außenwirtschaftlichen Konsequenzen dominiert, sind die realpolitischen Erwägungen in Deutschland inländischer Natur. Dabei geht es nicht nur um den Opportunitätsfaktor, den die Stimmen der türkisch(stämmig)en Wähler darstellen, sondern um die Besorgnis, dass ein zu forscher Entschluss auf heftigen internen Protest stoßen könnte.
6.3 U MKÄMPFTE G ESCHICHTE – E RLÄUTERUNG ANHAND DES F ELDMODELLS 6.3.1 Repräsentativität, Distinktion, Kompetenzgewinn: Verstärkung emotionaler Aufladung Die Dynamik im geschichtspolitischen Bereich ist auch mit einer Eigenschaft des politischen Felds zu erklären. Neben der Bedeutung der Machtbeziehungen ist dies das Charakteristikum der Repräsentativität.11 Um die Unterstützung ihrer ›Mandanten‹ zu gewinnen, ist den Repräsentanten daran gelegen, sich von ihren Mitbewerbern im Feld abzugrenzen und ihre potentielle Basis zu mobilisieren. Für beides werden starke Positionen benötigt, die als idées-forces Durchsetzungsfähigkeit haben und zugleich die Bedeutung der eigenen Person als starker Vertreter einer solchen mobilisierenden Idee herausstellen. Im Fallbeispiel ist für Frankreich dargestellt worden, dass der Einsatz für die ›armenische Sache‹ in den letzten Jahren große Mobilisierungswirkung entfaltet hat. Die Analyse des Rezeptionsfaktors ›Identitäts- und Wertrelevanz‹ hat gezeigt, woher sie diese Kraft bezieht: als idée-force ist sie kein reines Gruppenanliegen mehr, sondern eine konkrete politische Forderung, die ihre Durchschlagskraft aus dem Rückgriff auf bestimmte Référentiels zieht. Weil sie im Einklang ist mit gültigen Référentiels, wird die Forderung als gut bzw. als moralisch richtig empfunden und als Verkörperung derjenigen Référentiels, auf die sie zurückgreift, aufgefaßt. Weil in der idée-force ein politisches Projekt durch die moralische Implikation zum persönlichen Auftrag und zur Chance wird, sich für das
11 Vgl. Kapitel 2.3.1.2.
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Gute einzusetzen, ist ihre Wirkmacht so groß. Um den Erfolg der Forderung nicht zu gefährden, haben weder die Politiker, die für die Durchsetzung eines geschichtspolitischen Vorhabens arbeiten, noch die soziale Gruppe, um deren Anliegen es geht, ein Interesse daran, diesen Zusammenhang zwischen Forderung und Référentiel(s) in Zweifel zu ziehen. Für den Politiker, der das Anliegen als Repräsentant vertritt, ist die idée-force auch die Verbindung zur Gruppe, seinen Mandanten, da sie den diskursiven Zusammenhang zwischen kollektiver Erinnerung der sozialen Gruppe und politischer Handlungsnotwendigkeit herstellt. Auch deshalb wird er dazu neigen, diesen Zusammenhang zu verteidigen: gerade durch seine Kompromisslosigkeit und Durchsetzungsbereitschaft in dieser Sache beweist der Repräsentant die Kongruenz seiner Werte mit denen seiner Mandanten – und grenzt sich von weniger ›engagierten‹ Konkurrenten ab. Inhaltliche Diskussionen über Alternativ- oder Kompromisslösungen sind nicht nur der Wirkmacht der idée-force abträglich – die ja gerade den Zusammenhang zwischen der konkreten politischen Forderung und moralischer Legitimation postuliert – sie sind in dieser Logik politisch auch nicht erstrebenswert. Für eventuelle Gegenargumente kann indes Ähnliches behauptet werden. Die Ablehnung des französischen Gesetzes, welches die Leugnung des Armeniergenozids strafbar machen sollte, fußte, wie aufgezeigt werden konnte, ebenfalls auf einem verbreiteten, mobilisierenden Argument (»Liberté pour l’Histoire«) und wurde nur in Ausnahmenfällen mit so genannten ›realpolitischen‹ Argumenten begründet. 12 Die Kopplung eines moralisch wünschenswerten Ergebnisses mit einem bestimmten legislativen (oder auf andere Art konkreten) Projekt befördert so zwar die Auseinandersetzung, reduziert sie inhaltlich indes auf eine Dualität zwischen Befürwortern und Gegnern. Zwar ist eine solche Dualität den meisten politischen Vorhaben eigen; bei geschichtspolitischen Themen kommt jedoch ein Charakteristikum hinzu: Dabei handelt es sich um die Verknüpfung von historischen und Identitätsfragen. Die Themen erhalten dadurch eine besondere Sensibilität, aber auch ein hohes Mobilisierungspotential. Wenn vor dem Ende des Ost-West-Konfliktes die Auto- und Zugehörigkeitsdefinition vor allem von dem Bekenntnis zur einen oder anderen ideologischen Fragestellung – und damit zur Vorstellung von der Zukunft – abhing, ist sie zunehmend von der Betrachtung der Vergangenheit bestimmt.13 Das Mobilisierungspotential hat sich entsprechend verschoben. Die gegenseitige Abhängigkeit von Repräsentant und Gruppe ist im geschichtspolitischen Feld also in besonderem Maße dazu angetan, Diskursivität
12 Vgl. die Einwände Colonnas im Parlament, Kapitel 5.1.3.3. 13 Vgl. Kapitel 5.1.4.1.
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nicht als Mittel historischer Aufarbeitung einzusetzen, sondern vielmehr zur Etablierung von idées-forces zu verwenden, die der Durchsetzung eines spezifischen Anliegens entscheidende Bedeutung verleihen. Einmal mehr wird dabei die zentrale Rolle der Référentiels deutlich, durch die die konkrete Forderung den Charakter der scheinbar moralisch zwingenden Lösung erhält. Dass die Diskussion damit weitgehend auf die Konfrontation von idées-forces beschränkt bleibt, hängt nicht nur mit deren überlegenem Mobilisierungspotential und ihrer Funktion als Brücke zwischen Repräsentant und Mandanten zusammen; auch die Legitimierung zur Beteiligung am Diskurs ist durch die moralische Implikation eingeschränkt, wie im nächsten Punkt gezeigt wird. 6.3.2 In- und Exklusion: (Nicht-)Teilhabe als Verstärkung von Konfliktpotential Die vorangegangenen Ausführungen haben gezeigt, dass einer sozialen Gruppe mit Blick auf politische Opportunität und nationale Identität verschiedene Einflussmöglichkeiten offenstehen. Gleichzeitig ist sie aber nationalen Rahmenbedingungen unterworfen, von denen die Akzeptanz ihres Anliegens, insbesondere aber dessen ›Übersetzung‹ in eine nationale Handlungsnotwendigkeit, abhängt. Als Integrationshilfe in diesen Rahmen kann der Gruppe der Rekurs auf Référentiels dienen. Idealerweise wird auf diesem Weg eine Schuldigkeit der Nation gegenüber der Gruppe postuliert. Es bleibt der Aspekt der realpolitischen Faktoren, die die jeweilige Gruppe schwerlich beeinflussen kann. Entscheidend ist daher, inwiefern diese in Be-tracht gezogen werden oder Gültigkeit im Diskurs besitzen. Hier kommt die Bedeutung der idées-forces noch einmal zum Tragen: Nicht nur durch die Mobilisierungswirkung, die sie im Verhältnis Repräsentant – Mandanten entfaltet, befördert deren Nutzung die Durchsetzung geschichtspolitischer Anliegen. Eine verstärkende Wirkung erzielt sie durch einen Nebeneffekt: Sie teilt die Teilnehmer des politischen Diskurses in Kompetente und Nicht-Kompetente und beschränkt somit die Zahl derer, deren Wort in der Debatte Gültigkeit zugesprochen wird. Deutlich wird dies an den Debatten der Assemblée nationale: Diejenigen Opponenten des Gesetzes gegen die Leugnung des Armeniergenozids, die sich auf die Freiheit der Geschichtswissenschaft und damit auf ein anerkanntes Référentiel berufen, finden zwar nicht die Zustimmung der Gesetzesbefürworter; ihre Argumente werden allerdings aufgegriffen und diskutiert. So genannte ›realpolitische‹ Argumente hingegen werden als moralisch nicht gleichberechtigt und damit als illegitim verworfen. Dabei wird allen Erwägungen, die die Wirkung der anvisierten Maßnahme in der Türkei in Betracht ziehen, eine ökonomische Motivation unterstellt. Diese Sub-
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sumierung sämtlicher außenpolitischer Einwände unter ein vermutetes Diktat wirtschaftlicher Notwendigkeiten brandmarkt deren Vertreter als unredlich und verwirft damit eine Prüfung ihrer Argumente. Kompetenz spielt in diesem Zusammenhang also eine Rolle, wird aber anders definiert als bei Bourdieu: Während Bourdieu vor allem von einer linguistischen Kompetenz ausgeht, wird im geschichtspolitischen Zusammenhang moralische Kompetenz gefordert, bevor Sprachmacht überhaupt zum Einsatz kommen kann. Insofern diese moralische Kompetenz allerdings nicht in den handelnden Personen begründet liegt, sondern über ein diskursives Konstrukt postuliert wird, erweist sich auch hier die Diskurshoheit als entscheidendes Kriterium, indem sie potentielle Teilnehmer legitimiert bzw. delegitimiert. Bezieht man Einflüsse von sozialer Vernetzung einer Gruppe sowie von diskursiver Macht durch die Verwertbarkeit des jeweiligen ›Gruppenkapitals‹ ein, ergibt sich für die Rezeptionsfaktoren somit folgender Wirkungskreis: Abbildung 10: ›Wirkungskreis‹ des geschichtspolitischen Felds
Konkret bedeutet dies, dass geschichtspolitische Fragen vorwiegend vor dem Hintergrund des politischen Nutzens, den die Forderungen stellende Gruppe bzw. ihr Anliegen verspricht, sowie des identitären Werts, den die Forderung im jeweiligen nationalen Rahmen darstellt, verhandelt werden. Ob darüber hinaus ›realpolitische‹ Argumente in die Debatte einbezogen werden, hängt davon ab, ob sie vor dem Hintergrund des jeweiligen wertebezogenen Framings als legitim
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gelten können. Der Vergleich Frankreichs mit Deutschland, wo die vermutete Wirkung der Bundestagsresolution stark thematisiert wird, zeigt, dass dies umso weniger der Fall ist, je stärker es der Gruppe gelingt, ein nationales Pflichtgefühl gegenüber ihren Forderungen zu etablieren.
6.4 F AZIT : M ACHT
IM GESCHICHTSPOLITISCHEN
F ELD
In Anlehnung an Max Weber ist politische Macht als die Fähigkeit zu betrachten, politische Ergebnisse auch gegen Widerstände zu erzielen. 14 Geschichtspolitische Macht ist analog dazu zunächst die Fähigkeit, eine historische Lesart auch gegen Einwände durchzusetzen und ihr legitimierende Funktion für die Gegenwart zu verleihen.15 Dabei sind zwei Eigenschaften der geschichtspolitischen Macht auffällig: Wie das ganze Feld der Geschichtspolitik ist sie in besonderem Maße vom Diskurs abhängig, von Semantik, von überzeugenden Rückgriffen auf die Vergangenheit und deren sinnhafter Kontextualisierung in der Gegenwart. Daraus ergibt sich das zweite Merkmal: geschichtspolitische Macht beruht auf moralischer Akzeptanz; sie ist insofern immer abhängig vom epochalen und kulturellen Umfeld. Knut Berner nennt dieses Attribut gar allgemein als Kennzeichen von Macht: »Entgegen verbreiteter Meinung stehen Macht und Moral nicht in erster Linie in einem Konkurrenzverhältnis zueinander, sondern stüzten sich gegenseitig in ihren Geltungsansprüchen, was gelingen kann, da sie Imperative darstellen, die subtil die von ihnen affizierten Individuen verändern und zu Verhaltenswesisen animieren, die den Vorgaben eines jeweils installierten Regel- und Kommunikationssystems adäquat sind.«16
14 »Unter ›Macht‹ wollen wir dabei hier ganz allemein die Chance eines Menschen oder einer Mehrzahl solcher verstehen, den eigenen Willen in einem Gemeinschaftshandeln auch gegen den Widerstand anderer daran Beteiligter durchzusetzen.« (Weber, Max: Wirtschaft und Gesellschaft. Die Wirtschaft und die gesellschaftlichen Ordnungen und Mächte. Nachlaß, Teilband 1: Gemeinschaften, hrsg. von Wolfgang J. Mommsen und Michael Meyer, in: Horst Baier et al. [Hrsg.]: Max Weber, Gesamtausgabe, Tübingen: J. C. B. Mohr (Paul Siebeck) 2001, hier Band I/22-1, S. 252. 15 Vgl. die Ausführungen zur Geschichtspolitik in Kapitel 2.1.3. 16 Berner, Knut: Die Verwobenheit von Macht und Moral in: Matthias Junge [Hrsg.]: Macht und Moral. Beiträge zur Dekonstruktion von Moral, Wiesbaden: Westdeutscher Verlag/GWV Fachverlage 2003, S. 119-142, hier S. 122.
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Die enge Verbindung von Macht und Moral rührt, wenn man Byung-Chul Han folgt, aus der Fähigkeit wirklicher Macht, Menschen zum Handeln im eigenen Sinne zu bewegen, ohne Zwang ausüben zu müssen.17 Die symbolische Macht einer sozialen Gruppe im geschichtspolitischen Feld ist vor dem Hintergrund der Verschiebungen in der Gedenkpraxis des 20. Jahrhunderts zu betrachten: Ausgehend von einer heroisch orientierten Geschichtspolitik, die die Errungenschaften, Siege und damit verbundenen Persönlichkeiten vergangener Zeiten zu Eckpunkten der nationalen ›Erinnerung‹ machte, hat sie sich dahingehend entwickelt, auch die Verfehlungen der Vergangenheit zu benennen und die heutige Identität in Abgrenzung dazu zu erklären. Schlüssel zum Verständnis dieses Wandels ist der Menschenrechtsbegriff, dessen Kodifizierung 1948 unter dem Eindruck der Verbrechen des Zweiten Weltkriegs stand und dem Schutz ebendieser Rechte dienen sollte. Arenhövel nennt die Menschenrechte deshalb einen »werthaften Erinnerungsposten« 18 . Die Janusköpfigkeit dieses Paradigmas beschreibt Martin Sabrow: »Allein der Glaube, dass aus der Geschichte gelernt und damit ihre Wiederholung verhindert werden könne, sichert der Historie in unserer Zeit materielle und immaterielle Ressourcen, die ihrer disziplinären Leistungskraft enorm zugute kommen – und nimmt sie gleichzeitig in den Dienst eines volkspädagogischen Zwecks, der die kritische Auseinandersetzung mit den gesellschaftlich anerkannten Meistererzählungen ihrer eigenen Zeit erschwert.«19
Eine Gruppe, die unter Menschenrechtsverletzungen besonders gelitten hat, wird damit zum lebenden Mahnmal: Sie gibt den traumatischen und physischen Auswirkungen, die diese haben, ein Gesicht, und gilt zugleich als in be-
17 »Egos Macht erreicht gerade in der Konstellation ihr Maximum, in der Alter sich freiwillig seinem Willen fügt. Ego drängt sich nicht Alter auf. Die freie Macht ist kein Oxymoron. Sie besagt: Alter folgt Ego in Freiheit.« (Han, Byung-Chul: Was ist Macht?, Stuttgart: Reclam 2005, S. 14, Hervorhebungen im Original). 18 Arenhövel, Mark: Das Gedächtnis der Systeme, in: Heinrich, Horst-August und Michael Kohlstruck [Hrsg.]: Geschichtspolitik und sozialwissenschaftliche Theorie, Stuttgart: Franz Steiner Verlag 2008, S. 59-74, hier S. 72. Levy und Sznaider betonen gar eine gewisse sakrale Aura, die aus dem ›Menschenrechtsglauben‹ erwachse: S. 26: »Human rights have turned into issues of belief and carry an aura of the sacred.« (Levy / Sznaider (2010), S. 26). 19 Sabrow, Martin: Geschichte als Instrument: Variationen über ein schwieriges Thema, in: Aus Politik und Zeitgeschichte 63(2013)42–43, S. 3-11, hier S. 9.
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sonderer Weise befähigt, die Schrecken durch ihre Zeugenschaft zu vergegenwärtigen.20 So erhält einerseits der Status des Opfers eine besondere Bedeutung im politischen Betrieb. Als ›Opfer‹ anerkannt zu sein, ist ein symbolisches ›Kapital‹, das zur Beteiligung am politischen Diskurs berechtigt und die Berücksichtigung der eigenen Aussage erforderlich macht: »Se proclamer victime, et mieux, être reconnu victime, c’est revendiquer une condition spécifique et obtenir un statut social et politique, une condition et un statut particulièrement enviables, une condition et un statut pour l’obtention desquels, des individus, mais aussi de plus en plus de groupes, de communautés, se livrent à une surenchère et à une guerre de mots et d’images sans merci et sans limites.«21
Das symbolische Kapital erwächst also aus dem Status des ›Opfers‹ (und seiner Nachfahren) und meint die Aufmerksamkeit, Autorität und Legitimität, die diesem aufgrund seines speziellen Status beigemessen wird. Die moralische Kompetenz ist allerdings nicht nur dadurch bedingt, welcher Status der sozialen Gruppe als solcher zuerkannt wird. Dass die Gruppe der Armenier in Deutschland deutlich weniger politische Deutungsmacht über das historische Ereignis des Völkermords innehat als in Frankreich, liegt nicht nur daran, dass die Würdigung anderer Genozidopfer als jenen des Holocaust in Deutschland mehr Vorbehalte erfährt als in Frankreich. Grund ist auch ein vergleichsweiser Mangel an kulturellen Bezügen zwischen der deutschen und armenischen Nationalgeschichte: So fehlen in Deutschland einerseits nationale ›Helden‹ wie der Résistance-Kämpfer Manoukian oder auch der zeitgenössische Chansonnier Aznavour, die die engen Bande zwischen beiden verkörpern. Zudem kann ein politischer Umgang mit dem Armeniergenozid, der sich an die Armenier als Gruppe richtet, diesen schwerlich mit einem positiven deutschen Narrativ verknüpfen. Der vorgefundene Diskurs hingegen, der die Problematik externalisiert und sich vor allem mit Ratschlägen an die Türkei wendet, greift wenig auf die belastete Rolle Deutschlands im Kontext des historischen Gesche-
20 Zur Autorität der Zeugenschaft vgl. das folgende Unterkapitel. 21 Rousseau, Frédéric: L’histoire du XXe siècle au risque du relativisme, in: Luba Jurgensen und Alexandre Prstojevic [Hrsg]: Des témoins aux héritiers. L’écriture de la Shoah et la culture européenne, Paris: Éditions Pétra 2012, S. S. 135-157, hier S. 139.
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hens zurück und fokussiert auf die auch extern beglaubigte Vorbildfunktion der Bundesrepublik in Sachen ›Aufarbeitung‹.22 Das symbolische Kapital einer Gruppe mit Blick auf ihre geschichtspolitischen Forderungen liegt also in ihr und ihrer Geschichte selbst begründet – dafür, inwieweit ihr inhaltliche Deutungshoheit in der Umsetzung ihrer Anliegen zugesprochen wird, ist allerdings auch ihr kulturelles Kapital entscheidend, das davon abhängt, inwieweit sie das nationale ›imaginaire‹23 anzusprechen vermag. In der vorausgehenden Studie ist indes gezeigt worden, dass geschichtspolitische Autorität nicht rein diskursiv etabliert wird. Die Aktivitäten der Gruppe der Armenier in Deutschland und Frankreich zur Anerkennung ihrer identitären Referenzpunkte entsprechen nicht nur in Teilen klassischen Lobbyingstrategien, indem sie eine systematische Vernetzung mit politischen Einfluss- und Entscheidungsträgern anstreben – die Thematisierung der armenischen Anliegen in der politischen Arena ist auch weitenteils vom Fortschritt des Aufbaus solcherlei sozialen Kapitals abhängig. Armenische Organisationen nutzen – und benötigen – dieses, um Zugang zur politischen Arena zu erlangen. Auch wenn ›grassroots campaigning‹ als Mittel des Lobbyings an Bedeutung gewonnen hat und auch in diesem Kontext betrieben wird, setzt die Übernahme von (z. B. Petitions-)Initiativen voraus, dass zumindest ein Teil des politischen Personals für den Sachverhalt besonders sensibilisiert ist. Zugleich gibt es offenbar einen Anteil von Abgeordneten, der aufgrund der Zusammensetzung der Wähler es sich nicht leisten zu können glaubt, offen gegen einen bereits aufgebrachten Vorschlag zu opponieren. Das soziale ›Kapital‹ einer Gruppe, ihre Vernetzung, aber auch ihre (vermutete) Größe, regionale Konzentration etc. bedingen also, inwiefern die Anliegen der Gruppe politisches Gehör finden.
22 Vgl. Friedman und Kenney (2005), S. 5, die im Vorwort zu ihrem Sammelband mit dem Untertitel The Past in Contemporary Global Politics Deutschland als Maßstab für alle Länder bezeichnen, die sich heute kritisch mit ihrer eigenen Geschichte auseinandersetzen. 23 Zum Begriff des ›imaginaire‹ vgl. Jérôme Jamin: Conclusion, in: ders. u. Geoffrey Grandjean [Hrsg.]: La concurrence mémorielle, Paris: Armand Collin 2011, S. 197203, hier S. 198: »Dans le contexte de la recherche sur la concurrence mémorielle, l’imaginaire renvoie à notre capacité individuelle et collective à créer un ensemble de valeurs, de normes et de vérités qui façonnent notre vision de la politique et de l’histoire, qui oriente notre comportement, et qui parvient surtout à s’autonomiser [...].«
7
Ausblick: Geschichte als politische Herausforderung
7.1 S TAATLICHES I NTERESSE AN ›E RINNERUNGSGEMEINSCHAFTEN ‹ 7.1.1 Erinnerungsgemeinschaften als Instrument nationaler Identität Dass Staaten Geschichtspolitik als Integrationsinstrument nutzen, ist nicht neu: ›nationale Meistererzählungen‹ sind seit dem 19. Jahrhundert darauf ausgelegt, dem Volk Kohärenz und Regierbarkeit zu verleihen. Im 20. Jahrhundert ist indes hinzugekommen, dass sich das Phänomen der nationalen Erzählung, die für ihre Zwecke auf Geschichte zurückgreift, auf vermehrte Migrationsbewegungen trifft: durch Arbeitsmigration, vielerorts jedoch auch durch Flucht und Vertreibung. Die neuen ›Heimatstaaten‹ haben ein Interesse daran, diese Personen und ihre Geschichte in ihr nationales Narrativ zu integrieren – was gerade bei einer von Gewalt belasteten Geschichte bedeutet, sich mit konfliktären ›Erinnerungen‹ konfrontiert zu sehen. Johann Michel sieht darin das Ziel der staatlichen Bemühungen im geschichtspolitischen Bereich: »ranimer une politique mémorielle d’unité nationale, seule à même de réintégrer les ›désintégrés‹ dans le giron de la nation.«1 Gerade für Frankreich konnte dies auch am Beispiel der Armenier beobachtet werden. Der Rückgriff auf die Vergangenheit scheint ein probates und vor allem relativ einfaches und kostengünstiges Mittel der Integration. Daraus folgt nicht nur in Frankreich, dass eine nationale ›Identitätskrise‹ dessen vermehrte Nutzung befördert: »Moderne Gesellschaften, die einem hohen Veränderungsgrad unter-
1
Michel (2010), S. 148.
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liegen und damit einem permanenten ›Vertrauensschwund‹ ausgesetzt sind, produzieren offenbar in besonderem Maße Erinnerungsinstanzen.«2 Die Mobilität der Gegenwart erhöht die Diversität von Gesellschaften einerseits; zugleich sieht sich die Politik weiterhin mit sozialen Ungleichheiten konfrontiert. Finkielkraut wehrt sich dagegen, in Anbetracht dessen ›Gedenkkonzessionen‹ als Lösung anzubieten: »Ce n’est pas parce que l’enseignement de l’esclavage sera répandu dès les classes primaires que les problèmes d’intégration disparaîtront.« 3 Hinzu kommt, dass eine immer stärkere Produktion von Gedenkpraktiken im öffentlichen Raum immer öfter als unaufrichtiges Pflichtritual empfunden wird. Die Rede ist dann von der Errichtung so genannter »Kranzabwurfstellen«4, die mehr der Politik zur Selbstinszenierung als der Sache an sich dienen. Zehfuss sieht darin eine Banalisierung, die das Vergessen nur kaschiert: »In other words, official commemoration may actually conceal forgetting: the dropping of wreaths by politicians creates no more than an illusion of remembering.« 5 Im Interview wird dies auch für Frankreich bestätigt: Zwar würde die Teilnahme hochrangiger Politiker bei Gedenkveranstaltungen häufig eingefordert, so die befragte Senatorin, von diesen jedoch als Pflichttermin wahrgenommen, bei dem sie parallel in ihr Telefon tippten und andere Dinge erledigten.6 Zusammenfassend kann festgehalten werden, dass Anerkennung einer sozialen Gruppe durch gemeinsames Gedenken durchaus von Staaten favorisiert wird, um die kulturelle Einbeziehung der Gruppe zu symbolisieren. Kritik lastet auf dieser Praxis, weil sie zur Verschiebung des Fokus gegenwärtiger Probleme auf vergangenes Schicksal verleitet und oft nur rituell wahrgenommen wird. Für Trigano wird dabei der instrumentelle Charakter einer vorgeblich moralisch motivierten Handlung offenbar – er notiert mit Blick auf das französische Shoah-
2
Wolfrum (1999), S. 14.
3
Finkielkraut, Alain in: Rapport Accoyer (2008), S. 284.
4
Vgl. Prenninger, Alexander: KZ-Erinnerung im Wandel. Rituelle Verfolgungserinnerungen, »Pilgerfahrten« und der 60. Jahrestag der Befreiung der Konzentrationslager, in: Siegfried Mattl, Gerhard Bolz, Stefan Kerner und Helmut Konrad [Hrsg.]: Krieg Erinnerung Geschichtswissenschaft, Wien / Köln / Weimar: Böhlau Verlag 2009, S. 301-322, hier S. 309; beispielhaft auch der Beitrag von Alexa Hennings vom 02.05.2008: Keine Kranzabwurfstelle. Vom schwierigen Gedenken an EuthanasieOpfer nicht nur in Schwerin in Deutschlandradio Kultur, unter http://www.deutsch landradiokultur.de/keine-kranzabwurfstelle.1001.de.html?dram:article_id=156533, Stand: 06.02.2014.
5
Zehfuss (2006), S. 219.
6
Interview 21 vom 02.04.2013.
A USBLICK: G ESCHICHTE
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Gedenken: »Celle-ci n’est qu’en apparence une repentance morale, une autoculpabilisation, une reconnaissance de l’état de victimes des Juifs. Elle est avant tout un acte politique qui restaure et reconduit l’unité brisée de la nation.«7 Wenn damit auch ein überzeugendes Bild vom Gedenken im öffentlichen Raum als integrierendes Moment gezeichnet ist, so funktioniert dieses nicht nur, indem es den einzelnen Gruppen und ihren ›Gedächtnissen‹ staatliche Anerkennung zubilligt. Über die jeweils betroffene soziale Gruppe hinaus wird die gesamte Gesellschaft angesprochen, der mit der staatlichen Haltung die gültigen Werte vermittelt werden. Die Geschichte der einzelnen Gruppen wird dazu mit den ›klassischen‹ nationalen Referenzpunkten in Verbindung gebracht, so dass sie als deren Verkörperung erscheint – und somit das nationale Narrativ stärkt. Im Fall der Armenier war dies in Deutschland die selbstkritische Haltung, die Offenheit auch gegenüber schwierigen Passagen der eigenen Geschichte und die Vorreiterschaft in der ›Vergangenheitsaufarbeitung‹, in der sich letztlich die Distanzierung der heutigen Bundesrepublik vom Deutschland des ›Dritten Reichs‹ manifestieren soll. In Frankreich steht das Selbstbild als ›Land der Menschenrechte‹ im Fokus der Verweise auf ein traditionalles nationales Selbstverständnis. Dies kommt im Übrigen nicht nur bei den Armeniern zum Tragen. So beobachtet Michel im Fall der Pieds-Noirs, der ehemaligen Algerienfranzosen und ihrer Nachkommen, ein ganz ähnliches staatliches Ziel: »Le choix lexical des défenseurs de la loi de février 2005 n’est pas seulement imprégné de connotations nationales ou nationalistes, mais également d’une sémantique révolutionnaire et républicaine [...].«8 Und mochte die Aufarbeitung der Shoah noch eine gewisse Betonung einer eigenen jüdischen Identität in Frankreich bedingt haben – nach Badie »l’une des premières brèches visibles dans la muraille du jacobinisme un et indivisible«9 – verfolgt die Politik zumindest heute auch genau das Gegenteil: die Einheit der Nation anhand ihrer zentralen Werte wiederherzustellen und zu propagieren. 7.1.2 Nationale Identität als internationale Legitimation Der Bezug der Erinnerungsgemeinschaft zur nationalen Identität hat indes nicht nur für die nationale Einheit Relevanz. In der Haltung zur Vergangenheit – ausgedrückt durch Erinnerungspflicht oder Schuldbekenntnisse – kann auch der Wunsch zum Ausdruck kommen, die moralische Position der ganzen Nation zu
7
Trigano (2006), S. 41 f.
8
Michel (2010), S. 154.
9
Badie (2012), S. 231.
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verbessern. Deutlich wird dies im folgenden Zitat Philippe Petits, der die Kritik Henry Roussos an einer überzogenen Erwartungshaltung hinsichtlich des devoir de mémoire so formuliert: »Tout se passe aujourd’hui comme s’il fallait à tout prix exorciser les crimes du passé. On se sert de la justice et de la mémoire pour en finir une fois pour toutes avec la tragédie. On voudrait, affirme Henry Rousso ›imposer à son inconscient un devoir de mémoire‹, comme on voudrait imposer à l’Histoire un devoir de justice.«10
Das Pathos des Gedenkens resultiert demnach nicht aus der Erinnerung an das Verbrechen, sondern aus dem gegenwärtigen Wunsch, durch das Gedenken die Ungerechtigkeit der Vergangenheit zu mildern, der Last der Vergangenheit zu entkommen. Hier tritt ein transnationales Référentiel zutage, das – je nach nationalem Kontext – verschiedene Ausprägungen aufweist. Während aus französischer Sicht das Land selbst Akteur bleibt bei der ›Vergangenheitskorrektur‹ – Frankreich ›schafft Gerechtigkeit‹ durch Erinnerung11 – dominiert auf deutscher Seite die Hoffnung auf eine von außen kommende ›Erlösung‹ von Schuld. Dies tradiert sich auch in der gefühlten Handlungsnotwendigkeit: Frankreich sieht sich selbst in der Pflicht, Deutschland appelliert vor allem an die Türkei, die durch eigene Aufarbeitung ›Erlösung‹ von der Last der Vergangenheit finden soll. Die Zielrichtung ist jedoch gleich und kann mit Benbassas Worten wiedergegeben werden: »Ainsi se trahit une nouvelle fois le penchant de l’Occident à répertorier ses ›péchés‹ et ceux des autres, dans sa recherche infinie d’innocence.«12 Insofern scheint Geschichte nichts von ihrer legitmierenden Funktion eingebüßt zu haben. Bezog diese sich klassischerweise auf Helden, Siege und solche Momente der Vergangenheit, die Ruhm vermitteln und Stärke suggerierten, entsteht Legitimität inzwischen aus der Abrenzung zu vergangenem Unrecht. Dem
10 Petit, Philippe: Avant-propos, in: Rousso, Henry: La hantise du passé (entretien avec Philippe Petit), Paris: Les éditions Textuel 1998, S. 6-10, hier S. 8 f. 11 In einer dezidierten Analyse der Rolle des ›Genozid‹-Begriffs in den französischen Parlamentsdebatten zum Völkermord an den Armeniern habe ich diesbezüglich von »retrospektivem Interventionismus« gesprochen; vgl. Kirsten Staudt: Der Genozidbegriff als Beispiel für die politische Bedeutung der Semantik bei der historischen Darstellung von Gewalt, unter http://www.uni-gr.eu/ueber-uns/pilotaktivitaeten/forschu ng/logos.html (»Veröffentlichungen der EDT-Tagung in Saarbrücken (2013)), Stand: 06.04.2014. 12 Benbassa (2007), S. 240.
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Akt der Entschuldigung kommt die Funktion einer Ent-Schuldung zu; die Positionierung zur Geschichte soll die Glaubwürdigkeit von Staaten sichern, die ihr internationales Handeln vor allem mit dem Schutz der Menschenrechte begründen. Erinnerungsgemeinschaften finden deshalb im Staat nicht unbedingt einen Opponenten ihrer Anliegen – es kann gar eine »Interessenparallelität« 13 zwischen beiden bestehen. In diesem Kontext ist vor allem die moralische Position von Erinnerungsgemeinschaften staatlich relevant. Um diese zu unterstreichen, können Erinnerungsgemeinschaften auf ihr spezifisches moralisches und kulturelles Kapital zurückgreifen. Zwei Beispiel hierfür werden im folgenden Punkt beschrieben.
7.2 S YMBOLISCHES UND KULTURELLES K APITAL VON E RINNERUNGSGEMEINSCHAFTEN 7.2.1 Der ›Zeuge‹ als historische Autorität Erinnerungsgemeinschaften können auf die oben beschriebene Weise die ihnen zur Verfügung stehenden ›Kapitalarten‹ zur Durchsetzung ihres Anliegens einbringen. Um aber ihr kollektives Gedächtnis auch gegen Widerstände ›offizialisieren zu lassen‹, gilt es auch, solche zu vermeiden oder zu überwinden. Wie dargestellt, hat es sich hierbei als hilfreich erwiesen, Gegenmeinungen die Berechtigung zur Teilnahme an der Diskussion abzusprechen. Wurde in Kapitel 5.3.3 dabei jedoch darauf verwiesen, wie im französischen Diskurs außenpolitische Akteure delegitimiert werden sollten, indem die moralische Lauterkeit ihrer Motive in Zweifel gezogen wurde, soll es hier nun darum gehen, das umgekehrte Phänomen zu erläutern: Die Überlegenheit der Kompetenz der Erinnerungsgemeinschaft hinsichtlich des Sachverhaltes. Die Kompetenz der Betroffenen leitet sich dabei aus der Quasi-Sakralität der ›Erinnerungspflicht‹ ab. Wenn es eine Pflicht gibt, sich vergangener Verbrechen zu erinnern, dann ist der Grund dafür der Schaden, den die Opfer dabei genommen haben – und der »nie wieder«
13 Von Weizsäcker wendet den Begriff der »Interessenparallelität« auf das Verhältnis von Staaten und Nichtregierungsorganisationen an; das Phänomen ist in diesem Fall durchaus übertragbar (Vgl. Weizsäcker, Ernst Ulrich von: Zur Frage der Legitimität der NGOs im globalen Machtkonflikt. Ein einführender Beitrag, in: Achim Brunnengräber, Ansgar Klein und Heike Walk [Hrsg.]: NGOs als Legitimationsressource. Zivilgesellschaftliche Partizipationsformen im Globalisierungsprozess, Opladen: Leske und Budrich 2001, S. 23-26, hier S. 24.
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auftreten soll. Das Opfer wird zum Grund des Gedenkens und damit auch zum Maßstab des dabei ›Sagbaren‹ – während sich die Rolle des Nichtbetroffenen oder gar des ›Täternachfahren‹ auf die Solidarisierung mit der ›Erinnerungsgemeinschaft‹ beschränkt. Die historische Kontextualisierung von Leid und Unrecht ist sensibel: Wo ein historischer Konsens besteht, macht das Zeugnis von Überlebenden und Betroffenen die Schrecken der Vergangenheit erlebbar und warnt deshalb die Gegenwart. Indes sind auch Fälle zu beobachten, in denen eben dieses Zeugnis verwendet wird, um die historische Aufarbeitung überflüssig erscheinen zu lassen: Wenn Patrick Devedjian feststellt, die Beweise für den Genozid an den Armeniern seien so erdrückend, dass es nicht notwendig sei, zu dieser Frage noch Historiker einzuberufen (»Nul besoin de réunir les historiens pour savoir s’il y a eu ou non un génocide.«14), dann bezieht er sich damit einerseits auf die türkische Forderung nach einer ›Historikerkommission‹. Andererseits findet sich eine derartige Zurückweisung von Klärungsbedarf auch an ganz anderer Stelle: »Ein Historikerstreit darüber ist müßig. Es reicht, die Zeitzeugen zu hören«15, behauptet die Präsidentin des Bundes der deutschen Vertriebenen, Erika Steinbach, im Zuge der Debatte um das Zentrum gegen Vertreibungen in einem Zeitungskommentar. Obwohl in anderem Kontext, stoßen damit beide ins selbe Horn: Die Fachkenntnis professioneller Historiker soll zurücktreten hinter der vermeintlichen Aussagekraft einzelner Dokumente und Aussagen, die, selbst wenn zuhauf vorhanden,16 zwar ein eindrucksvolles und schockierendes Bild erlebter Grausamkeit bieten, Zusammenhänge jedoch nicht zu erklären vermögen und drohen, unvollständig in der Gesamtdarstellung zu bleiben. Annette Wieviorka bemerkt dazu: »C’est tout simplement substituer aux enseignants le témoin supposé porteur d’un savoir qu’il ne possède malheureusement pas davantage que tout un chacun.«17 Die Stellung des Zeugen geht einher mit dem Glauben an die Authentizität von ›Erinnerung‹. Maja Zehfuss sieht darin ein »understanding of memory that
14 Patrick Devedjian in: JO-2011, S. 9128. 15 Steinbach, Erika: Leid und Leistung der Vertriebenen, in: Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung,15.05.2005. 16 Für die deutschen Vertriebenen sei hier auf die auf Veranlassung der Bundesregierung in den 1950er Jahren zusammengetragene, umfassende Dokumentation »Die Vertreibung der deutschen Bevölkerung aus den Gebieten östlich der Oder-Neiße« verwiesen. 17 Wieviorka, Annette: L’Ère du témoin, Paris: Plon 1998, S. 168.
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renders it as telling the truth about the past.«18 Damit wird ein zentraler Konflikt der Diskussion um das Primat der ›Geschichte‹ oder der ›Erinnerung‹ deutlich. Stéphane Dufoix beschreibt diesen so: »Car, plus qu’une question de relations entre l’histoire et la mémoire, [...] le cœur de l’affaire est ici la question de la vérité: qu’est-ce qui est vrai? Qui dit le vrai? Qui peut dire le vrai?«19 Dieser Anspruch auf Wahrheit wird in der Regel dem Zeugen, dem Opfer, das unter dem hsitorischen Unrecht zu leiden hatte, zugebilligt. Aus diesem an sich bereits problematischen Postulat entspringt laut Zehfuss eine zweite, ebenso problematische Übertragung auf die Gegenwart: »What is more, the supposed ›knowledge‹ about the past is presented as an answer to an ethico-political question in the present: we know what is right because we remember.«20 Dabei kommt den Opfererfahrungen eine besondere Rolle zu. Wie Gensburger schreibt, werde den durch das historische Verbrechen Geschädigten pauschal eine positive Lernerfahrung unterstellt. »Mit anderen Worten: Das Opfer wird aufgrund dessen, was es erlebt hat, von vornherein unter demokratischen Vorzeichen betrachtet, geradezu im Sinne eines Idealtyps.«21 Diese Verquickung sieht Wieviorka kritisch: »Comment avoir le courage de dire que l’expérience concentrationnaire ne donne aucun talent prophétique, qu’elle ne permet malheureusement pas de mieux savoir comment lutter contre la barbarie à venir?«22 ›Der Zeuge‹ scheint zweierlei zu verbürgen: die ›Wahrheit‹ über die Vergangenheit, und mit diesem Wissen – und basierend auf dem Glauben, dass die Kenntnis der Vergangenheit vor ihrer Wiederholung schützt – in der Gegenwart als Instanz zu fungieren. Dabei soll er sowohl moralisch wie auch inhaltlich urteilsbefähigt sein, das heißt, die Aufgabe des Zeugen beschränkt sich nicht dar-
18 Zehfuss, Maja: Remembering to Forget / Forgetting to Remember, in: Duncan Bell [Hrsg.]: Memory, Trauma and World Politics. Reflections on the Relationship between Past and Present, New York / Basingstoke: Palgrave Macmillan 2010, S. 213230, hier S. 228. 19 Dufoix, Stéphane: Historiens et mnémographes, in: Controverses 1(2006)2, S. 15-38, hier S. 31. 20 Ebd. 21 Gensburger, Sarah: »Erinnerung der Opfer« und demokratische Identität – zwischen nationaler Geschichte und individueller Erzählung in: Gesine Schwan, Jerzy Holzer, Marie-Claire Lavabre und Birgit Schwelling [Hrsg.]: Demokratische politische Identität. Deutschland, Polen und Frankreich im Vergleich, Wiesbaden: VS Verlag für Sozialwissenschaften / GWV Fachverlage GmbH 2006, S. 251-284, hier S. 252. 22 A. Wieviorka (1998), S. 169.
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auf, die Erkenntnisse der Geschichtswissenschaft zu veranschaulichen. Darüber hinaus wird ihm zugesprochen, selbst zu einer historischen Wertung gelangen zu können und dabei nicht weniger kompetent (oder gar kompetenter) zu sein als der professionelle Historiker. 7.2.2 Die ›Sprache des Gedenkens‹ als selbstreferenzieller Diskurs Vorstehend sind die Argumente genannt worden, die von der Gruppe der Armenier in Deutschland und Frankreich zur Durchsetzung ihrer Anliegen angeführt werden. Bei deren Betrachtung fällt auf, dass sie erstaunliche Parallelen bis hin zu wortgleichen Formulierungen im Vergleich mit anderen sozialen Gruppen aufweisen. Die Bedeutung rechtlicher Kategorien ist hierbei bereits ausführlich dargestellt worden.23 Das Gewicht juristischer Lexik wird indes nicht nur daran deutlich, dass viele Vertreter armenischer Organisationen nur mit einer bestimmten – wenn auch sicherlich durchaus korrekten – Terminologie einverstanden sind, um über die Ereignisse von 1915 zu sprechen. Im deutschen Kontext fällt auf, dass das vom Bund der Vertriebenen angestrebte ›Zentrum gegen Vertreibungen‹ aus Sicht der Vertriebenenfunktionäre dazu dienen soll, »Genozid und Vertreibung« weltweit zu ächten – womit eine Annäherung der beiden Begriffe erfolgt, ohne dass es sich bei der Vertreibung, um die es dabei hauptsächlich geht, selbst um einen Völkermord gehandelt hätte.24 Die ›Verbrechenspyramide‹, die dabei unterstellt und in die eine ›Eingruppierung‹ vorgenommen wird, drückt sich indes in weiteren Merkmalen aus: Der Vergleich der Opfer: die Opferanzahl als Teil der Hierarchisierung Bezüglich des Völkermords an den Armeniern ist von armenischer Seite allgemein von 1,5 Millionen Toten die Rede. Dass über die Anzahl der Opfer die
23 Vgl. Kapitel 4.1.1.3. 24 Vgl. die Rubrik »Aufgaben und Ziele« auf der Webseite des Zentrums gegen Vertreibungen, http://www.z-g-v.de/aktuelles/?id=35: »Sie [die Stiftung, Anmerkung d. A.] steht in Solidarität zu allen Opfern von Vertreibung und Genozid.« (Stand: 06.03.2014); diese Terminologie benutzt auch Steinbach, z. B. in ihrer Rede zum Tag der Heimat 2006: »Alle Opfer von Genozid und Vertreibung brauchen einen Platz im historischen Gedächtnis Europas.« (Steinbach, Erika: Rede der Präsidentin Erika Steinbach MdB am 2. September 2006 im Internationalen Congress Centrum Berlin, als pdf unter http://www.bund-der-vertriebenen.de/files/steinbach2006.pdf (Stand: 06.03.2014), hier S. 4).
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Schätzungen auseinandergehen, ist bereits dargelegt worden. Gleichwohl scheint die oben genannte Zahl in Ansprachen, Erörterungen, Demonstrationen und Ähnlichem auf armenischer Seite bzw. im Diskurs der Unterstützer sakrosant. Dabei ist die Anzahl der Getöteten für die Qualifizierung des Verbrechens als ›Genozid‹ gar nicht entscheidend. Die fixe Quantifizierung deutet daher darauf hin, dass, unabhängig vom juristischen Urteil über die Natur eines Vorfalls, auch die Anzahl der Opfer Aufschluss geben soll über dessen historische Relevanz. Dies gilt umso mehr, als auch für andere Opfergruppen eine bestimmte Quantifizierung emblematisch ist bzw. als solches gelten soll. Bekanntestes Beispiel ist der Genozid an den europäischen Juden, dessen sechs Millionen Opfer symbolisch stehen für das Ausmaß der nationalsozialistischen Vernichtungsmaschinerie. Die Zahl ist – trotz unterschiedlicher Schätzungen im Detail25 – allgemein akzeptiert und gehört zum festen, invariablen Begriffsinventar der Holocaust-Darstellungen in der Öffentlichkeit. Die deutschen Heimatvertriebenen verweisen auf die »Millionen« Betroffenen durch die Vertreibung der Deutschen infolge des Zweiten Weltkriegs.26 Wenn diese näher beziffert werden, wird auf die »mehr als 15 Millionen deutschen Deportations- und Vertreibungsopfer«27 Rekurs genommen. Die Zahl suggeriert Vergleichbarkeit; umso mehr, als sie nicht inhaltlich spezifiziert wird. Eine Übersicht der Stiftung ›Zentrum gegen Vertreibungen‹ listet die deutschen Vertriebenen genauso wie die Opfer des Armeniergenozids noch heute in einer Aufstellung mit den ›vertriebenen‹ sechs Millionen Juden auf.28
25 Vgl. Dörner, Bernward: Der Holocaust. Die »Endlösung der Judenfrage«, in: Wolfgang Benz [Hrsg.]: Voruteil und Genozid. Ideologische Prämissen der Völkermords, Wien / Köln / Weimar: Böhlau 2010, S. 87-119(120). 26 Bei Steinbach (2006) ist vom »Schicksal der vielen Millionen deutschen Deportationsund Vertreibungsopfer« die Rede (a.a.O., S. 4); in den Jahren zuvor auch in der Steigerungsform von »Millionen und Abermillionen« (Steinbach, Erika: Tag der Heimat 2005, Rede der Präsidentin Erika Steinbach MdB am 6. August 2005 im Internationalen Congress Centrum Berlin. Vertreibungen weltweit ächten, als pdf unter http:// www.bund-der-vertriebenen.de/files/redesteinbach.pdf, hier S. 3, Stand: 06.03.2014) bzw. in der Verbindung »millionenfaches deutsches Leiden« (Steinbach, Erika: Dialog führen – Europa gestalten. Rede zum Tag der Heimat, 4. September 2004, als pdf unter http://www.bund-der-vertriebenen.de/download/Steinbachtdh.pdf, hier S. 3, Stand: 06.03.2014). 27 Vgl. Steinbach (2004), a.a.O., S.1; dies. (2005), a.a.O., S.7. 28 Erstaunlich (und erstaunlicherweise im öffentlichen Diskurs unkommentiert) bleibt dieser Ansatz der Stiftung Zentrum gegen Vertreibungen, den Holocaust als eine
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In Anlehnung an die Shoah werden Zahlen so durchaus zu einer, wenn auch impliziten, Hierarchisierung verwendet. Da die Zahl für das Ausmaß des Verbrechens steht, würde, wer eine andere verwendet, sich dem Verdacht der Relativierung des Geschehenen aussetzen. Das Verhältnis zur ›Mehrheit‹: ›Sonderbelastungen‹ als Schuldigkeitsbegründung In Kapitel 4.2.5.2 und Kapitel 5.3.1 ist auf das scheinbare Paradoxon hingewiesen worden, dass im französischen politischen Diskurs eine weitaus größere Schuldigkeit gegenüber der armenischstämmigen Minderheit postuliert wird als im deutschen. Erklärt worden ist dies durch eine seit vielen Jahrzehnten geteilte nationale Geschichte in Frankreich, die es den Armeniern erlaubt hat, einen wichtigen Beitrag zur Entwicklung des Landes zu leisten. Vor diesem Hintergrund wird Frankreich nun seinerseits in der Pflicht gesehen, die im Vergleich zum Rest der Nation besonders leidvollen Erfahrungen der Armenier zu würdigen. Bei den Pieds-Noirs ist dies in geringerem Maß der Fall, auch wenn Savarèse festhält: »[...] être Pieds-Noirs, dans de telles circonstances, c’est d’abord devoir assumer une souffrance collective méconnue de tous parce qu’insuffisamment reconnue en France.«29 Wichtig ist hierbei die Diskrepanz zwischen dem Eigenund Fremdbild hinsichtlich der Rolle im Kontext der französischen Nation: Während die Pieds-Noirs sich in Algerien als Verteidiger französischer Werte sahen, die in dieser Eigenschaft während des Krieges von 1954-62 besonderer Gefahr ausgesetzt waren, überwog in den ersten Jahrzehnten nach ihrer Ankunft im ›Mutterland‹ unter ihren dortigen Landsleuten eine Haltung, nach der die PiedsNoirs als ehemalige Kolonisatoren nicht als Beispiel des französischen Huma-
Unterform des wechselseitigen Vertreibungsgeschehens im 20. Jahrhundert innerhalb Europas darzustellen, zumindest suggeriert dies eine Übersicht unter dem Titel Chronik der Vertreibungen europäischer Völker im 20. Jahrhundert auf der Webseite der Stiftung (http://www.z-g-v.de/aktuelles/?id=58, Stand: 06.03.2014). Dort wird von der ›Vertreibung‹ von 6 Millionen Juden durch Deutsche in »europäische Länder und alle anderen Kontinente« gesprochen, wobei es 5,86 Millionen Todesopfer gegeben habe. Der Völkermord an den Armeniern erscheint ebenfalls in dieser Rubrik; in der gleichen Tabelle werden die Vertreibungen der ethnischen Deutschen aus Osteuropa während und infolge des Zweiten Weltkriegs aufgelistet ebenso wie die Opfer der Balkankonflikte der 1990er Jahre etc. 29 Savarèse (2002), S. 116.
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nismus dienten.30 Die Heimatvertriebenen hingen betonen sehr stark das angebliche »Sonderopfer«, das sie im Vergleich zu den nicht vertriebenen Deutschen erbracht hätten,31 weswegen sie Anspruch auf materielle oder zumindest symbolische Kompensation hätten. Zugleich unterstreichen sie ihre Aufbauleistung im Nachkriegsdeutschland und ihren ›Verzicht‹ auf Vergeltung des ihnen zugefügten Leids.32 Hier scheint ebenfalls das Bild eines besonderen Patriotismus durch, der in der Kombination mit der speziellen Leiderfahrung eine Schuldigkeit der Nation gegenüber der Gruppe begründet. Die Semantik des Erfolgs : Angleichung der Forderungsformulierung Die Forderung nach der Anerkennung kollektiver Gedächtnisse tritt in verschiedenen Formen auf; für die Armenier sind diese in den ersten Teilen der Arbeit umfassend dargestellt worden. Dabei haben gesetzliche Regelungen in Frankreich weitaus größeres Gewicht als in Deutschland. Dies rührt aus der Etablierung der so genannten lois mémorielles seit 1990 her, entspringt jedoch auch dem kulturellen Kontext: »Or il n’y a qu’un seul soleil en France, c’est l’État auquel est demandé une reconnaissance officielle inscrite dans la loi.«33 Während daher in Frankreich die Forderung nach Gesetzen naheliegt, springt in Deutschland eine dezidierte Formulierung im Zusammenhang mit dem Wunsch nach Mahnmalen ins Auge. So nennen die Armenier das von ihnen angeregte zentrale Denkmal im Zentrum Berlins ein »sichtbares Zeichen«.34 Der Begriff hat in Deutschland fast schon Tradition: Nachdem 2005 das HolocaustMahnmal (Stelenfeld) in Berlin als ›sichtbares Zeichen‹ des Gedenkens eröffnet wurde, griff die BdV-Vorsitzende Erika Steinbach den Begriff 2007 für die ge-
30 Vgl. Michel-Chich (1990), S. 88, S. 171; Michèle Baussant: Pieds-Noirs – Mémoires d’exils, Paris: Stock 2002, S. 371. 31 Vgl. Steinbach (2006), a.a.O., S. 3; außerdem dies. (2004), a.a.O., S. 6 und dies.: Rede der Präsidentin des Bundes der Vertriebenen Erika Steinbach MdB, vor der BdVBundesversammlung am 26.2.2005 in Berlin als pdf unter http://www.bund-dervertriebenen.de/download/26-02-2005-Rede%20Steinbach.pdf, S. 2, Stand: 06.03.14. Auf der Webseite der Landsmannschaft Ostpreußen wird die »Anerkennung der Sonderopfer der vertriebenen Ostdeutschen und ihre Entschädigung für Zwangsarbeit und verlorenes Eigentum« gefordert, vgl. http://www.ostpreussen.de/lo/portraet.html, Stand: 06.03.2014. 32 Vgl. Steinbach (2006), a.a.O., S. 5. 33 Trigano (2006), S. 41. 34 Vgl. Kapitel 4.3.2.1.
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plante Gedenkstätte der Vertriebenen auf. 35 Damit setzte sie sich durch: 2008 schlug der Beauftrage der Bundesregierung für Kultur und Medien in seinem Konzeptpapier ein »sichtbares Zeichen gegen Flucht und Vertreibung«36 vor. Bei der Einweihung des Mahnmals der im Nationalsozialismus ermordeten Sinti und Roma dankte der Essener Weihbischof all jenen, »die sich in den vergangenen Jahrzehnten für ein sichtbares Zeichen der Anerkennung des Völkermordes an den Sinti und Roma und für die Überwindung der kulturell tief verwurzelten Vorbehalte gegenüber diesen Menschen eingesetzt haben.«37 Wenn dies auch nur erste Beispiele sind, die einen Themenkomplex für eine separate Untersuchung öffnen, so legen sie doch nahe, dass die zunehmende Anzahl von Gruppen, die geschichtspolitische Forderungen an den Staat stellen, dazu auf bestimmte Motive der Argumentation und der Forderungsformulierung zurückgreifen, welche sich im geschichtspolitischen Kontext etabliert haben. Dies erhöht einerseits ihre Chancen, Gehör zu finden. Zugleich birgt es jedoch auch die Gefahr, einem Jargon das Wort zu reden, dessen einzelne Motive ob ihrer Gängigkeit einleuchtend erscheinen und nicht mehr hinterfragt werden.
7.3 G ESCHICHTSPOLITIK
UND
AUßENWIRKUNG
7.3.1 Erinnerung – Mittel oder Gegenstand internationaler Konflikte? ›Erinnerung‹ tritt in den internationalen Beziehungen in zweierlei Problemstellung auf: Einerseits ist sie seit den 1990er Jahren, wenn man Michael Jeismann folgt, zum Instrument internationalen Handelns geworden: »Sie wurde mit
35 Vgl. Graw, Ansgar: Kein ›Zentrum‹ aber ein ›sichtbares Zeichen‹, in: Die Welt vom 26.10.2007 unter http://www.welt.de/politik/article1301871/Kein-Zentrum-aber-einsichtbares-Zeichen.html, Stand: 08.02.2014. 36 Beauftragter der Bundesregierung für Kultur und Medien: Sichtbares Zeichen gegen Flucht und Vertreibung. Ausstellungs-, Dokumentations- und Informationszentrum in Berlin vom 19.03.2008, als pdf abrufbar auf der Webseite der Stiftung Flucht, Vertreibung,
Versöhnung unter
http://www.sfvv.de/sites/default/files/downloads/
konzeption_bundesregierung_2008_sfvv.pdf, Stand: 08.02.2014. 37 Zit. nach: Deutsche Bischofskonferenz: Weihbischof Vorrath zur Einweihung des Denkmals für Sinti und Roma. Mahnende Erinnerung als öffentlicher Ausdruck, Pressemeldung Nr. 170 vom 24.10.2012, unter http://www.dbk.de/de/presse/details/? presseid=2195&cHash=79d9987da9a734de2a7a62fb7ac67070, Stand: 08.02.2014.
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den Bedürfnissen der internationalen Politik synchronisiert.« 38 Er geht damit mit Enzo Traverso konform, der Erinnerung eine wichtige unterstützende Rolle bei der Legitimation gerade kriegerischer Auseinandersetzungen zubilligte: »Alle Kriege der letzten Jahre, der erste und zweite Golfkrieg, die Kriege im Kosovo und in Afghanistan, sind auch Kriege der Erinnerung, denn sie wurden durch das rituelle Heraufbeschwören der Erinnerungsarbeit gerechtfertigt.«39
Die »Erinnerungsarbeit« spielt in diesem Kontext eine besondere Rolle: Sie legitimiert eine bestimmte politische Entscheidung (hier: des Eingreifens), indem sie diese aus den ›Lehren‹ der Vergangenheit ableitet. Maja Zehfuss’ Formulierung des »We know what is right because we remember« findet hier ihre Analogie auf internationaler Ebene. Dabei übernimmt nicht mehr die Gruppe der ›Betroffenen‹ eines ›Menschheitsverbrechens‹ (beziehungsweise deren Nachfahren) die ›Zeugenfunktion‹, aus denen sich die moralische Autorität ableitet, sondern die Staaten, die die ›Erinnerung‹ an ein solches Verbrechen in ihre Gedenkpraxis integriert haben – und leiten daraus eine Entscheidungskompetenz, gar Handlungsnotwendigkeit für die Gegenwart ab. Insofern werden die geschichtspolitischen Ankerpunkte einiger Staaten von anderen allein deshalb abgelehnt, weil diese aktuell andere Interessen verfolgen – und bestimmte Rechtfertigungen daher nicht gelten lassen wollen. Ein Beispiel hierfür ist die Leugnung des Holocaust durch den früheren iranischen Präsidenten Ahmadinedschad.40 Jedoch machen Friedman und Kenney darauf aufmerksam, dass internationale Konflikte über Geschichte nicht nur dort ausbrechen, wo diese zur Legitimation herangezogen wird. Gerade die Differenzen über die Geschichte seien oft der ganze Inhalt einer Auseinandersetzung zwischen zwei Staaten: »But history is not mere background, something one absorbs before coming to grips with more current concerns: it is often the very stuff of contemporary political con-
38 Jeismann, Michael: Erinnerung und Intervention. Wozu nutzt das politische Gedächtnis? in: Martin Sabrow [Hrsg.]: Abschied von der Nation? Deutsche Geschichte und europäische Zukunft [Helmstedter Colloquien, Heft 5], Leipzig: Akademische Verlagsanstalt 2003, S. 73-82, hier S. 73. 39 Traverso, Enzo: Gebrauchsanleitungen für die Vergangenheit. Geschichte, Erinnerung, Politik, Münster: UNRAST-Verlag 2007, S. 12. 40 Hier unterstellend, dass Ahmadinedschad bei seinen Aktivitäten gegen das HolocaustGedenken mehr utilitaristisch motiviert handelte als dass er selbst von der Richtigkeit seiner Äußerungen überzeugt gewesen wäre.
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flict, as all our cases demonstrate.«41 Lindenberger und Blaive sprechen in diesem Zusammenhang von »memory clashes«42. Wenn sie den Begriff auch auf den nationalen wie internationalen Rahmen anwenden, so erhält er doch gerade auf der internationalen Bühne eine besondere Konnotation: Er erinnert auffällig an Samuel Huntingtons »clash of civilizations«43. Dies impliziert, dass mit dem Streit über Erinnerungsfragen auch Wertfragen und Selbstverständnisse kollidieren, die sich in ihrem Bild von, beziehungsweise in ihrem Zugang zur Vergangenheit unterscheiden. Minassian sieht hier die großen Kulturräume aufeinanderprallen: »Cette poussée d’histoire globale rime avec la contestation des normes. Ne pas comprendre cette complémentarité entre relations internationales et sciences sociales, c’est ne pas saisir la rupture systémique de l’architecture du monde [...].«44
Und doch scheint der Zankapfel der Erinnerung nicht auf zwischenstaatliche Beziehungen beschränkt, bei denen sich Vertreter ganz unterschiedlicher Wertesysteme gegenüberstehen: Mit Blick auf die heftigen geschichtsbezogenen Dispute, die es beispielsweise zwischen Deutschland und Polen gegeben hat, muss eine andere Erklärung angeboten werden. Um dies zu tun, ist es hilfreich, sich in Erinnerung zu rufen, wie die kollektiven Gedächtnisse einzelner Gruppen auf nationaler Ebene integriert werden: Geht es dabei vordergründig darum, bestimmten Werten (wie Wahrheit, Gerechtigkeit) zu entsprechen, stehen die Gruppengedächtnisse indes nie für sich alleine: Sie übernehmen eine Funktion im nationalen Narrativ, in das sie eingegliedert werden und das sie auch repräsentieren. Hier wird die Differenz zwischen Anspruch und Wirklichkeit der Gedenkpraxis ›westlicher‹ Prägung offenbar: Auf dem Wunsch nach Menschenrechtsschutz beruhend, will sie vor allem universell sein und an der Seite der Benachteiligten der Geschichte stehen. Zugleich werden die darin bedachten Ereignisse durch eine nationale Brille betrachtet, die umso weniger auffällig ist, als sie im Gewand des Mitgefühls und der Empathie mit den Opfern daherkommt. Was an sich versöhnlich gemeint und lobenswert ist, wird dann problematisch, wenn es divergierende Narrative ausblendet bezie-
41 Friedman und Kenney (2005), S. 3. 42 Lindenberger und Blaive (2012), S. 24. 43 Huntington, Samuel P.: The clash of civilizations and the remaking of world order, New York: Simon & Schuster 1996. 44 Minassian, Gaïdz: Bataille mondiale sur les normes (2012), a.a.O.
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hungsweise das erlebte Trauma singularisiert – kulturell, epochal, kontextuell. Marcel van der Linden fasst deshalb zusammen: »Kollektive Erinnerungen können so in mindestens zweierlei Weise eine weltgesellschaftliche Kommunikation erschweren: indem sie verschiedene oder sogar einander entgegengesetzte Interessen ausdrücken oder weil sie stets nur ein Bruchstück eines größeren Ganzen erfassen.«45
Beides stellt die Politik vor die Herausforderung, dass eine angemessene Gedenkkultur weiterhin, und möglicherweise mehr denn je, benötigt wird. Mehr denn je sieht diese sich aber auch in internationale Zusammenhänge eingebettet, die – erwartete und unerwartete – Resonanzen hervorrufen. Während sich immer mehr Wissenschaftler an möglichen Inhalten eines »europäischen Gedächtnisses« abarbeiten, zeichnen Lindenberger und Blaive deshalb auch innerhalb Europas eine düstere Perspektive für die Rolle der Erinnerung: »Während die Grenzen der Nationalstaaten im Europa von heute mehr oder weniger sakrosant sind, es bis auf Weiteres wohl bleiben werden und es keine Neuauflage der Konflikte um die Territorien der um Selbständigkeit ringenden Nationen geben wird wie in der ersten Hälfte des 20 Jahrhunderts, bieten die in kollektiven Gedächtnissen gründenden Gemeinschaften reichlich Anlässe zu heftigen Konflikten und Konkurrenzen.«46
Um dem vorzubeugen und der gestiegenen Komplexität von Erinnerung und Gedächtnis im nationalen wie internationalen Raum zu begegnen, werden im folgenden Unterkapitel Handlungsreichungen vorgestellt, die thesenartig formuliert sind. 7.3.2
›Erinnerungslobbying‹ als Faktor in den bilateralen Beziehungen
7.3.2.1 Choix du passé – wer wählt? In Kapitel 3.1.2.1 ist die Opposition zwischen ›gewählter‹ Vergangenheit und ›belastender‹ Vergangenheit mit den Termini choix du passé und poids du passé
45 Van der Linden, Marcel: Gegensätzliche und entkoppelte Erinnerungen: Zur Frage weltgesellschaftlicher Lerngrenzen, in: Bouvier, Beatrix und Michael Schneider [Hrsg.]: Geschichtspolitik und demokratische Kultur. Bilanz und Perspektiven, Bonn: Dietz 2008, S. 161-165, hier S. 162. 46 Lindenberger und Blaive (2012), S. 24.
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vorgestellt worden. Diesen liegt das staatliche Bestreben zugrunde, eine mémoire officielle zu etablieren, die sowohl identitätsstärkend nach innen wirkt und zugleich in den Außenbeziehungen Brücken baut. Limitiert wird dies durch durch den Autoritätsgrad der handelnden Politiker und die mémoire vive in der Bevölkerung, das heißt, die Etablierung eines kulturellen Gedächtnisses darf der Erfahrungswirklichkeit der im kommunikativen Gedächtnis weitergegebenen Erinnerung nicht diametral entgegenlaufen. Diese Beobachtungen sind für bilaterale Verhältnisse, die beiderseitig historisch stark belastet sind (wie das französisch-algerische oder das französischdeutsche) sicher zutreffend. Sie reichen allerdings nicht aus, um historische Debatten zwischen Ländern zu erklären, deren gemeinsame Geschichte nicht oder nur gering belastet ist. Hier ist die durchgeführte Fallstudie erhellend, denn sie macht anhand der Organisation und Vernetzung einer verhältnismäßig kleinen Gruppe deutlich, wie auch eine solche Gruppe die Rolle von Geschichte im bilateralen Verhältnis signifikant beeinflussen kann. Zunächst ist festzuhalten, dass das, was von Rosoux als mémoire vive bezeichnet wird, nicht trennscharf von einer gedachten, staatlich erwünschten und orchestrierten mémoire officielle vorhanden ist: Im Hinblick auf die Bevölkerung kann nicht von einem kommunikativem Gedächtnis gesprochen werden; tatsächlich handelt es sich um eine Vielzahl kollektiver Erinnerungen, die die parallele Existenz mehrerer Identitäten innerhalb einer Gesellschaft dokumentieren. Dass diese nur teilweise in der staatlichen Gedenkpraxis reflektiert sind, bedeutet jedoch nicht, dass sie nicht formalisiert sind: Auch innerhalb einer Gruppe dominieren bestimmte Narrative und Motive, die an Gedenktagen und bei Zusammenkünften betont und gepflegt werden. Dem Bild eines selektiven, ritualisierten staatlichen Gedächtnisses muss deshalb die Realität zahlreicher, unterschiedlich stark strukturierter ›Gedächtnisse‹ gegenüber gestellt werden. Dabei ist es kennzeichnend für jedwede identitäre Gruppe, ob national, sub- oder supranational, die eigene Identität nicht konstruktivistisch zu begreifen. Die heutige Verfasstheit der Gemeinschaft wird als Folge der Geschichte begriffen, nicht als Schlussfolgerung; Geschichte selbst als Wahrheit, nicht als Narrativ betrachtet.47
47 Suny hält mit Blick auf das Verhältnis der Armenier zu ihrer Geschichte fest: »Both in Armenia and the diaspora, histories are being constructed as part of the effort to give content to Armenian identity, yet at the same time most Armenians, and even their historians in the diaspora, resist the turn toward a constructivist view of history and identity.« Suny, Ronald Grigor: Constructing Primordialism in Armenia and Kazakhstan: Old Histories for New Nations, in: Max Paul Friedman und Padraic Kenney
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Ebenso kann die Ablehnung historischer Kontextualisierung und der Verweis auf das Primat von ›Zeitzeugen‹ und ›Erinnerung‹ dahingehend interpretiert werden, einem bestimmten, bezeugten Narrativ Vorrang zu gewähren, welches die identitären Grundlagen der Gemeinschaft bestätigt. Zwischen dem Gruppengedächtnis und dem ›offiziellen Geächtnis‹ wird so ein moralischer Gegensatz zu etablieren versucht: Das Gruppengedächtnis scheint dem offiziellen Gedächtnis überlegen, weil es durch die Berichte der Zeitzeugen legitimiert ist und von aktuellen Interessen und (politischen) Erwägungen unabhängig zu sein vorgibt. Aus dieser Sicht verschiebt sich das von Rosoux dargestellte Verhältnis von mémoire officielle und mémoire vive teilweise: Nicht länger handelt es sich dabei um eine staatliche Konstruktion, die durch authentische Erinnerung mehr oder minder passiv auf ihren Wahrheitsgehalt überprüft und entsprechend akzeptiert oder zurückgewiesen wird. Vielmehr ist das geschichtspolitische Feld als Austausch zwischen den beiden Sphären mémoire officielle und mémoire vive zu denken, wobei letztere durchaus bereits Vorprägungen aufweist, die gezielt im offiziellen Gedächtnis verortet zu werden suchen. Hier wird der konstruktivistische Aspekt der Entstehung internationaler Politik deutlich illustriert. Die Einflussnahme einzelner Gruppen gerade auch über die Herstellung von Verbindungen zwischen der staatlichen und der Gruppenidentität steht im Gegensatz auch zu Rosoux’ Ansatz, der das – wenn auch eingeschränkte – Monopol eines offiziellen Gedächtnisses bei den staatlichen Akteuren sieht und dieses als überwiegend interessengeleitet betrachtet. Durch den Einfluss der Gruppen wird erstens das staatliche Monopol relativiert, das zwar weiterhin besteht, aber aktiv mitgestaltet wird. Zugleich zeigt das Beispiel des Armeniergenozids, dass Außenpolitik in der Tat auch von staatlicher Identität dominiert wird – die Bedeutung der Identitäts- und Wertrelevanz für die Übernahme armenischer Forderungen in Frankreich und Deutschland demonstriert dies eindrucksvoll. Das offizielle Gedächtnis ist also umso weniger politischen Erwägungen und diplomatischen Rücksichtnahmen unterworfen, je mehr solche im politischen Diskurs als explizit unmoralisch und mit der Identität des jeweils handelnden Staates unvereinbar gelten. Dadurch gewinnen Erinnerungsgemeinschaften an Einfluss auch auf die außenpolitischen Beziehungen. Gerade diasporaähnliche Situationen begünstigen eine solche Entwicklung: durch den globalen Migrationstrend differenzieren sich die Identitäten innerhalb von Staaten immer stärker aus, während die Bezüge der einzelnen Gruppen zu anderen Staaten als demjeni-
[Hrsg.]: Partisan Histories. The Past in Contemporary Global Politics, New York / Basingstoke: Palgrave Macmillan 2005, S. 91-110, hier S. 107.
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gen, in dem sie ihren Wohnsitz haben, wachsen. Es ist also mit einem Mehr an Einfluss und damit auch an Konflikten durch Erinnerungsgemeinschaften zu rechnen. Im nächsten Punkt soll untersucht werden, inwieweit dies zur Beförderung historischer Verantwortung oder gar Gerechtigkeit beiträgt respektive hilft, Wertestandards im internationalen System zu verankern. 7.3.2.2 ›Erinnerungslobbying‹ und ›historische Gerechtigkeit‹ – Beitrag oder Hindernis? ›Erinnerungslobbying‹ ist eingangs als »Teil des konstitutiven Prozesses von Geschichtspolitik« definiert worden: Gedenken im staatlichen Raum, das für die den Zusammenhalt einer Nation notwendig ist, entsteht auch dadurch, dass einzelne soziale Gruppen die historischen Grundlagen ihrer Identität und deren Bedeutung für die nationalstaatlichen Werte aufzeigen. Typisch für das Erinnerungslobbying ist aber auch, dass es seinen Debattenbeitrag nicht nur mit der Forderung nach Aufmerksamkeit und Diskussion leistet, sondern konkrete Formen der Umsetzung zum Ziel hat. Dass diese nicht einheitlich sind, sondern auch innerhalb der armenischen Gemeinschaft in Abhängigkeit des Sprechers variieren, ist bereits aufgezeigt worden. Doch gerade mit Blick auf die organisierte Vertretung in Deutschland und Frankreich konnten auch weitgehende Gemeinsamkeiten herausgearbeitet werden: so zählen die Errichtung zentraler Mahnmale, die Integration in den staatlichen Geschichtsunterricht, die staatliche Anerkennung des Genozids und die strafrechtliche Verfolgung von dessen Leugnung zu den Kernforderungen. Bei der Frage nach deren moralischer Wirkung sind verschiedene Ebenen zu unterscheiden. Zunächst der schwierige Begriff der ›historischen Gerechtigkeit‹, der sich vor allem auf die Perspektive des Opfers, in diesem Fall also der Armenier, bezieht. Gerechtigkeit könnte aus deren Sicht durch Anerkennung ihrer Leidensgeschichte, durch symbolische und finanzielle Kompensation sowie durch Bestrafung der ›Täter‹, also der Türkei, erfolgen. Der erste Punkt findet teilweise Satisfaktion, wenn einzelne Staaten den Genozid anerkennen. Indes bleibt die Frage, wie nachhaltig diese Erfolge sind. Schließlich handelt es sich dabei, wie eine Aktivistin bestätigt, lediglich um eine »hilfsweise« Anerkennung in Ermangelung einer offiziellen Bestätigung durch die Türkei. Kritisch ist also, inwieweit diese ›hilfsweisen‹ Akte eine Vergangenheitsdiskussion innerhalb der Türkei befördern, oder ob sie für diese eher hinderlich sind. Wie bereits ausgeführt wurde, sind die Meinungen hierzu reichlich ambivalent. Ebensolches gilt für die symbolische und finanzielle Kompensation: Eine offizielle Anerkennung des Genozids mag das Gedenken in einzelnen Staaten erleichtern und auch den Zugang zu eingefrorenen oder verloren geglaubten finanziellen Mitteln ermögli-
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chen; der Erhalt armenischen Kulturguts auf ehemals osmanischem Boden ist damit nicht sichergestellt, Entschuldigungen oder gar gemeinsames Gedenken durch und mit türkischen Vetreter(n) kommt nicht zustande. Es bleibt der Aspekt der ›Bestrafung‹, als welche die Aufmerksamkeit, die das moralische Abseits der Türkei in dieser Sache erfährt, durchaus gewertet werden kann – insbesondere, wenn diese im Zusammenhang mit strategischen Zielen der Türkei, wie dem EUBeitritt, steigt und als Hindernis für die Durchsetzung türkischer Anliegen empfunden wird. Aus dieser Sicht ähnelt das armenische Engagement einem Gerichtsprozess, bei dem der partout nicht geständige Täter von einem Geschworenengremium schuldig gesprochen wird. Das mag für das klagende Opfer eine Form der Genugtuung sein – anders als im personenbezogenen Strafrecht bleibt damit indes ein internationaler Krisenherd bestehen. Zudem sind die Bestraften nicht identisch mit den Tätern – auch, wenn sie sich aus armenischer Sicht in deren Ideologie einschreiben. Vor diesem Hintergrund gewinnt der Begriff der ›historischen Verantwortung‹ an Bedeutung: Hier geht es darum, aus der ›Täterperspektive‹ einen Zugang zu der eigenen, belasteten Vergangenheit zu finden. Die Mittel sind im Wesentlichen die gleichen wie die eben beschriebenen, allein die Perspektive verschiebt sich. Inwieweit einer Opfergruppe ›Gerechtigkeit‹ widerfährt, betrifft vor allem die Gruppe selbst; inwieweit die Nachfahren der Täter bereit sind, ›Verantwortung‹ zu übernehmen, sagt etwas über die Gesellschaft des Täterlandes aus – weshalb in Kapitel 3.1.2.2 auch die Rede war vom ›DemokratieGradmesser‹. Theoretisch müssen historische Aufarbeitung und Demokratie nicht korreliert sein – schließlich kann eine Gesellschaft auch auf demokratische Weise zu dem Schluss kommen, einzelnen Themen keine Beachtung schenken zu wollen. Praktisch hingegen ist es tatsächlich unwahrscheinlich, dass in einer wahrhaft demokratischen, freien Gesellschaft die Schuldfrage über historisches Unbill nicht früher oder später offen thematisiert wird. Die politische Führung eines Landes kann sich dem Prozess der Aufarbeitung verschreiben oder ihm in den Weg stellen. Indes ist auch sie limitiert: durch politische und gesellschaftliche Gegenkräfte – wobei sie, wie Rosoux gezeigt hat, sich umso stärker auf die Akzeptanz ihres Kurses verlassen kann, je stärker ihre eigene Glaubwürdigkeit in Fragen der Identität ist. Zweitens ist die Akzeptanz auch von weiteren Entwicklungen innerhalb des Landes und damit auch vom Zeitfaktor abhängig. Beides gilt es somit zu berücksichtigen, soll die Verantwortungsübernahme durch ein Land befördert werden. Dass dies angestrebt wird, liegt wohl daran, dass nicht nur die Auseinandersetzung mit der eigenen Vergangenheit ein »Gradmesser für [...] Demokratisierung« ist, sondern umgekehrt auch die Auseinandersetzung die Demokratisierung unterstützen soll. Zudem wird von dritten Parteien,
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wie im Falle Deutschlands im Hinblick auf die Türkei und Armenien, zum Zwecke der Befriedung die Ver- bzw. Aussöhnung der beiden Länder zu erreichen gesucht. Die ›Aussöhnung‹ gesellt sich als dritter Begriff zur Produktion ›historischer Gerechtigkeit‹ und der Übernahme ›historischer Verantwortung‹ hinzu. Dabei ist es schwierig vorstellbar, wie ein Versöhnungsprozess ohne vorherige Übernahme von Verantwortung eingeleitet werden soll. Dies wurde auch im Rahmen dieser Arbeit oft von armenischen Interviewpartnern postuliert: Erst müsse die Türkei den Genozid anerkennen, dann könne man über ›Versöhnung‹ sprechen.48 Die obigen Ausführungen zu den Abhängigkeiten der Politik innenpolitischen Zwängen und populären Erwartungshaltungen machen jedoch auch klar, wie schwierig eine solche Voraussetzung jedweden Dialog macht. Wenn das erwähnte Zitat Brumliks zutrifft, nach dem Gerechtigkeit ein Prozess ist, »in dessen Verlauf beide Parteien eine gemeinsame Sprache zur ›Wiedergutmachung‹ der Vergangenheit entwickeln müssen«49, so erweist sich das ›Erinnerungslobbying‹ als zweischneidig: Es dient der Thematisierung und bringt so schwelende Konflikte an den Tag, unter deren Umgehung langfristig keine versöhnliche Perspektive in Sicht ist. Indem es dabei aber die Geschichte in einer bestimmten Terminologie sakralisiert und die Diskussion ausschließt, droht es, die Sprachlosigkeit zwischen den Parteien zu verstetigen. Zwar kann es nicht Ziel der Aufarbeitung sein, historisches Unrecht ›wegzudialogisieren‹ – Druck ohne Dialog hingegen birgt die Gefahr, Ablehnung und Vorurteile zu verschärfen, zumal, wenn er durch einen Dritten ausgeübt wird, der im Verdacht der Parteilichkeit steht. So bezeugte ein Diplomat, dass ein Gesetz wie das französische vom Dezember 2011 gegen die Leugnung des Völkermords an den Armeniern von deutscher Seite in Richtung Türkei womöglich wirksamer gewesen wäre – auf französische Aktionen im Hinblick auf die Armenier reagiere man in der Türkei hingegen reflexhaft.50 Zusammenfassend lässt sich festhalten, dass Erinnerungsgemeinschaften durch organisiertes und koordiniertes ›Lobbying‹ hinsichtlich der Thematisierung ihrer Anliegen sehr erfolgreich sein können. Ferner ist jedoch zu hinterfragen, welcher Effekt genau erzielt werden soll. Dabei ist zu beachten, dass die Forderungen einer Erinnerungsgemeinschaft sich gegebenenfalls aus einer Identität speisen, die in einem vergangenen, traumatischen Ereignis begründet liegt und der Blickwinkel der Gemeinschaft deshalb nicht notwendigerweise den Veränderungen der Zeit und dem Aspekt der Zukunftsgerechtigkeit Rechnung trägt.
48 Interview 7 vom 28.11.2012. 49 Wie in Kapitel 3.1.2.2. 50 Interview 25 vom 14.03.2013.
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Im Rahmen der für diese Studie geführten Interviews wurde immer wieder die Frage aufgeworfen, ob es sich beim Völkermord an den Armeniern um ein innen- oder außenpolitisches Problem handele. Während in Deutschland die Antwort recht einhellig »außenpolitisch« lautete, sprachen die französischen Gesprächspartner ganz überwiegend von einem innenpolitischen Thema. Die Minderheitenverhältnisse in den jeweiligen Ländern mögen hierfür als Erklärung dienen. Die Vielschichtigkeit der Frage nach ›historischer Gerechtigkeit‹ zeigt jedoch, dass die Antwort so klar nicht getroffen werden kann. Die Problematik des ›Erinnerungslobbyings‹ liegt denn auch nicht im eventuellen Aufreißen eines ›poids du passé‹ – es ist, im Gegenteil, Aufgabe der gesellschaftlichen Kräfte in einer Demokratie, auf derlei Defizite hinzuweisen. Sie besteht indes darin, eine Maßnahme zu formulieren, deren Notwendigkeit nicht mit ihrer Wirkung, sondern dem moralischen Status des Opfers begründet wird und deshalb schwierig Objekt einer sachlichen Diskussion sein kann. 7.3.2.3 Nationale Erinnerungspolitik, internationale Konflikte – ein institutionelles Problem? Wie gezeigt wurde, liegt das Konfliktpotenital historischer Themen in ihrer Idenitätsrelevanz. Wo es oberflächlich leichter scheint, über historisches Unrecht zu sprechen – weil es weit zurückliegt und daher vermeintlich ein langer Zeitraum zur Auseinandersetzung mit den vergangenen Geschehnissen bestand, haben sich in der Realität Narrative teils über Jahrzehnte verfestigt und sind nur langsam zu revidieren. Um diese Narrative, aber auch deren Bedetung in der gegenwärtigen politischen Struktur eines Landes berücksichtigen zu können, bedarf es sowohl vertiefter Kenntnisse hinsichtlich der beteiligten Parteien als auch einer gewissen Empathie – möglicherweise nicht für jedwede der Positionen, jedoch für den Prozess deren Zustandekommens. Wie das Beispiel des Politikers François Rochebloine, aber auch die Sozialisierung weiterer französischer Politiker gezeigt haben, adressiert das ›Erinnerungslobbying‹ oft Personen, die mit der historischen Fragestellung und deren Bedeutung für die Erinnerungsgemeinschaft gut vertraut, außenpolitisch jedoch nicht als Experten gelten.51 Hier könnte eine verbesserte Integration der Expertise zum Beispiel des Außenministeriums hilfreich sein, jedoch besteht zwischen diesen Kanälen kein Austausch. Im Gegenteil, durch die argumentative Exklusion außenpolitischer Aspekte werden derlei Punkte bewusst von Advokaten der ›armenischen Sache‹ zu vermeiden gesucht. Umgekehrt bleibt auch der Quai d’Orsay passiv und bemüht sich nicht um eine proaktive Integration der Anlie-
51 Vgl. Kapitel 5.1.2.1.
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gen der armenischen Erinnerungsgemeinschaft in eine Strategie gegenüber der Türkei. Tatsächlich wird das Thema von diplomatischer Seite vor allem zu vermeiden gesucht: Entgegen der gesetzlichen Anerkennung des Genozids durch Frankreich im Jahr 2001 ist auf diplomatischer Ebene seitens Frankreich immer noch von »les événements des 1915« und ähnlichen Umschreibungen die Rede. Auch fördert das französische Außenministerium keine Initiativen, die explizit eine positive Entwicklung in dieser Frage zum Ziel haben. 52 Das Auswärtige Amt vertritt in der Sache gleichfalls eine zurückhaltende Position: In Ermangelung einer offiziellen deutschen Feststellung, dass es sich bei dem strittigen Ereignis um einen Völkermord gehandelt habe, hält auch das Amt davon Abstand. Indes fördert das Auswärtige Amt mit der Initiative »Speaking to one another« ein Projekt, das sich für eine Aufarbeitung der Geschichte und die Annäherung der Zivilgesellschaften einsetzt.53 Auf Seiten der Politik stellt sich die Lage deshalb anders dar als in Frankreich, weil in Deutschland vor allem außenpolitisch profilierte Politiker ein besonderes Interesse für das Thema des Völkermords an den Armeniern aufbringen. Einen Gesprächskanal zwischen Auswärtigem Amt und armenischen Organisationen gibt es jedoch auch hier nicht. Die Umgehung der Außenministerien in dieser Frage wird zudem dadurch begünstigt, dass diese in den vergangenen Jahrzehnten an Macht immer mehr eingebüßt haben und Entscheidungen zunehmend im Élysée-Palast beziehungsweise im Kanzleramt getroffen werden. Entscheidend für die Erinnerungsgemeinschaften ist in diesem Fall der Zugang zu den entsprechenden Beratern. Als ›Chefsache‹ bleibt wiederum wenig Raum für offene Diskussion. Ähnliches geschieht, wenn an höchster Stelle das Thema nicht auf der Agenda erscheint: Wie Meckel vermutet, ist die französische Nationalversammlung auch deshalb so motiviert, zu Erinnerungszwecken Gesetze zu erlassen, weil dies es einem Parlament, dessen Kompetenzen vergleichsweise eingeschränkt seien, ermögliche, sich unabhängig von der Regierung zu positionieren.54
52 Interview mit 26 vom 15.05.2013. 53 Vgl. ebd.; der armenische Ex-Außenminister Oskanian bemängelt zu recht, dass solche Initiativen »die Verhandlungen auf staatlicher Ebene nicht ersetzen«. (zit. nach: Armenien und die Türkei müssen ihren Dialog bei null beginnen. Armeniens ExAußenminister Vartan Oskanian im ADK-Gespräch (Fragen: Raffi Kantian), in: ADK (2011-2)152, S. 2-3, hier S. 3. 54 Interview mit Markus Meckel vom 27.11.2012; vgl. dazu auch Dulong (2010), S. 10: »Mais comment ignorer qu’entre la fin du XIXe et celui du XXe siècle, la République a cessé de se confondre avec le régime parlementaire, que le pouvoir autrefois confié
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In einer solchen Konstellation werden derzeit die einen zu heroischen Vorkämpfern für den Schutz der Menschenrecht, während die anderen versuchen, den außenpolitischen Schaden zu begrenzen. Wenn Özdemir seinen »armenischen Freunden« in Erinnerung ruft: »Die Heilung Eurer Wunden wird nicht in Deutschland stattfinden« 55 , verweist er auf den Umstand dass eine einseitige ›Lösung‹ des Problems keinen Erfolg haben wird und die Türkei einbeziehen muss. Insofern erscheint die Opposition zwischen innenpolitischer Durchsetzung und außenpolitischen Konsequenzen weiterhin problematisch.
7.4 I DEEN FÜR BESSERE V EREINBARKEIT VON I DENTITÄTS - UND A UßENPOLITIK Während der Forschungsarbeiten und Gespräche im Rahmen dieser Studie sind ein paar Muster aufgetreten, die die Konfliktträchtigkeit des Umgangs mit der Vergangenheit zu forcieren scheinen. Darauf basieren die folgenden drei Anregungen an die Politik hinsichtlich des Umgang mit Geschichte. Dekonstruktion Erlebtes Leid, Traumata, erscheinen oft so eindrucksvoll, dass sich unmittelbare Solidarisierung mit den Opfern einstellt. Dabei erscheint die Frage nach den konstruktivistischen Aspekten des kollektiven Gedächtnisses einer Gruppe – gerade im Anblick großer historischer Traumata – mitunter als ungehörig. Der Respekt vor dem Leid anderer gebietet es, dieses nicht durch die Brille der Funktionalität zu betrachten. Gleichwohl gilt es, sich bewusst zu machen, dass Konflikte um Vergangenheit selten aus historischen Sachverhalten selbst herrühren, sondern in der Regel aus deren Bewertung und deren Rolle für das Selbstbild entspringen. Erinnerungskonflikte sind vor allem Identitätskonflikte. Um diese zu entschärfen, gilt es jedoch, den offenen Blick für beide Seiten zu bewahren. Das muss nicht bedeuten, beiden Seiten gleichermaßen Recht zu geben. Doch gerade damit authentische Geschichtsbilder Verbreitung finden, ist es möglicherweise notwendig, klare Standpunkte zu beziehen, ohne eine Seite direkt zu verprellen. Cem Özdemir riet deshalb im Gespräch dazu, es sich im Umgang mit derart sensibler Thematik nicht zu leicht zu machen:
aux élus de la Nation est désormais entre les mains du Président et de son Premier ministre?« 55 Interview mit Cem Özdemir vom 25.02.2013.
306 | STRATEGIEN DES G EHÖRTWERDENS »Die Forderungen an die Politik, so ist mein Eindruck, haben deshalb oft auch einen gewissen ›Mutprobencharakter‹, das heißt, wer am schärfsten über das Thema spricht, wird als der größte Freund der Armenier wahrgenommen. Das finde ich etwas unterkomplex.«56
Die verschiedenen Standpunkte müssen deshalb nicht nur bewertet, sondern zunächst vor dem Hintergrund ihrer Entstehung verstanden werden. Die Dekonstruktion der einzelnen Positionen ist deshalb notwendige Voraussetzung nachhaltigen Handelns im geschichtspolitischen Kontext. Wie die vorliegende Studie gezeigt hat, schließt dies nicht nur die Positionen der unmittelbar Beteiligten ein – auch diejenigen Dritter sind von deren jeweiliger nationaler nationaler Historie beeinflusst. Letztlich geht es daher auch darum, den eigenen Standpunkt und die eigenen Argumente besser zu verstehen, indem man darauf anwendet, was von einem – möglicherweise schwierigen – Gesprächspartner angestrebt wird: Gesprächsbereitschaft zu entwickeln durch Distanznahme zu den eigenen Positionen: »Das Verständnis für die Leiden der anderen als Europäischer Grundwert. Aber um ihn wirklich anzuwenden, sollte ein anderer Grundwert formuliert und anerkannt werden, der leider nirgends direkt niedergeschrieben wurde, noch verkündet wird. Es geht um die Aufklärungsarbeit an sich selber, um die Distanznahme zu den eigenen Zugehörigkeiten, um den notwendigen ständigen Versuch, festzustellen, ob man nicht denkt wie man denkt, urteilt wie man urteilt, nur weil man Deutscher ist oder Katholik, oder Gewerkschaftler oder Unternehmer. Zunächst muss eingesehen werden, dass jeder eine Vielfalt von Identitäten hat. Jede ausschließliche Identität ist Quelle von Unverständnis und Intoleranz, besonders wenn man auf eine Identität reduziert wird durch den Finger, der auf einen zeigt.«57
Der Autor dieser Zeilen, Alfred Grosser, hat sich nicht umsonst lange und aus Überzeugung für die Anerkennung des Völkermords an den Armeniern eingesetzt.58 Wenn es um das Verbot von dessen Leugnung geht, zieht er allerdings die Grenze – der Einsatz für die historische Richtig- und Vollständigkeit ist ihm zwar wichtig; zugleich hinterfragt er die Mittel, die zur Durchsetzung von Geschichtsbildern förderlich und verhältnismäßig sind.59
56 Interview mit Cem Özdemir vom 25.02.2013. 57 Grosser, Alfred: Die Frage nach der Leitkultur, in: Caroline Y. Robertson-von Trotha [Hrsg., unter Mitarbeit von Christine Mielke]: Kultur und Gerechtigkeit [Reihe: Kulturwissenschaften interdisziplinär], Baden-Baden: Nomos 2007, S. 13-21, hier S. 19. 58 Vgl. ebd. 59 Vgl. Grosser, Alfred in: Nouvelles d’Arménie Magazine (1996), a.a.O.
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Proaktivität Wie die vorstehende Untersuchung gezeigt hat, erfolgen geschichtspolitische Initiativen in der Regel reaktiv, in Antwort auf das von einer bestimmten Gruppe formulierte Anliegen. Hierdurch sind die Handlungsoptionen der Politik begrenzt: sie werden entweder als Bejahung oder Ablehnug eines solchen Anliegens aufgefasst. Die Enge des Kontakts zur Gruppe ist dabei oft entscheidend. Im Gegensatz zu anderen Politikfeldern wie der Energie- oder Umweltpolitik, der Justiz oder der Verteidigung fühlt sich in der Geschichtspolitik wegen des Bezugs zur eigenen Identität eine große Anzahl von Personen berufen, Meinungen zu vertreten; indes gibt es nur eine sehr geringe Anzahl von Politikern, die sich tatächlich auf den Umgang mit Geschichte spezialisiert haben; die mit den verschiedenen kritischen Sachverhalten vertraut sind und gleichzeitig über das theoretische Wissen verfügen, um die Forderungen an den Staat entsprechend einordnen zu können.60 Hierdurch wird Geschichtspolitik insbesondere im Hinblick auf die Ansprüche sozialer Gruppen zu einem Themenfeld, auf dem gut organisierte Gruppen Politiker mit konkreten Initiativen ›vor sich her treiben‹ können. Zwar ist grundsätzlich nichts gegen Anregungen und Forderungen von allen Seiten einzuwenden, doch ist Geschichtspolitik ein zu wichtiges Feld, um es auf die Zustimmung oder Ablehnung partikularer Interessen zu beschränken. Zugleich meint mehr Proaktivität aber auch: mehr Kontinuität und Zielstrebigkeit in der Verfolgung einzelner Themen. Dass bald ein Jahrzehnt nach der Bundestagsresolution zu den Geschehnissen von 1915 Brandenburg das einzige Bundesland ist, in dem die Geschichte der Armenier im Schulunterricht thematisiert wird, mutet befremdlich an. Wie kann also mehr positive Dynamik in die geschichtspolitische Arbeit eingebracht werden? In Frankreich hat sich die Mission um den damaligen Parlamentspräsidenten Bernard Accoyer der Aufgabe gestellt, Empfehlungen für einen systematischeren Umgang mit Geschichte auszuarbeiten. Dass dies neue Konflikte um den französischen ›Phantomschmerz‹61 der Vergangenheitsbewältigung nicht hat eindämmen können, liegt möglicherweise auch daran, dass die Mission keine konkrete Antwort darauf gefunden hat, wie die Forderungen sozialer Gruppen von staatlicher Seite evaluiert und eingebunden werden können.
60 Auch Markus Meckel bestätigte im Interview, dass die meisten Parlamentarier sich nicht oft mit solchen Themen beschäftigten; Interview mit Markus Meckel vom 27.11.2012. 61 Vgl. Kap. 5.2.2.2.
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In Deutschland zeichnet sich derzeit mit Blick auf das Jahr 2015 ein wenig proaktives Bild ab: Während armenische Organisationen, insbesondere der Zentralrat der Armenier, sich auf das Gedenkjahr vorbereiten und Aktionen planen,62 scheint die politische Seite hierauf kein besonderes Augenmerk zu haben. Im Auswärtigen Amt erwartet man vor allem regionale Initiativen, keine Änderung der bundesdeutschen Haltung in der Sache.63 Kooperation Die meisten geschichtspolitischen Themen, die die nationalen Grenzen übersteigen, beziehen sich auf nicht mehr als zwei Länder. Andererseits können sich auch solche eigentlich bilateralen Themen, wie das Beispiel des Völkermords an den Armeniern zeigt, zu multilateralen Fragen entwickeln.64 Trotzdem scheinen sie kaum als solche behandelt zu werden: Hervorgestochen ist in der vorliegenden Untersuchung, wie wenig Interaktion es zwischen Deutschland und Frankreich in ›Erinnerungsfragen‹, die nicht die gemeinsame Geschichte betreffen, gibt. François hat dies bereits für die wissenschaftliche Auseinandersetzung festgestellt: »Es fällt auf, dass der Rahmen innerhalb dessen sich die Beschäftigung mit den Gedächtniskultuen abspielt, weitgehend ein nationaler Rahmen bleibt – auch wenn man sich dabei mit transnationalen und europäischen Themen und Objekten befasst.«65
Dies scheint für die Politik und für die Medien gleichermaßen zu gelten: In Frankreich erntete die deutsche Auseinandersetzung mit der armenischen Geschichte kaum mediale Aufmerksamkeit. Dabei könnte ein verstärkter Austausch dreierlei befördern: Zum einen würde er der Dekonstruktion kollektiver Gedächtnisse Vorschub leisten und somit eine offenere Debatte ermöglichen. Zwei-
62 Vgl. »Neuer ZAD-Vorstand gewählt«, Pressemitteilung des Zentralrats der Armenier vom 04.02.2014, unter http://zentralrat.org/de/node/10950, Stand: 10.02.2014. 63 Interview 10 vom 29.11.2012. 64 Inwiefern der Völkermord an den Armeniern ein bilaterales Thema ist, bleibt auch zu diskutieren. Guillaume Perrier meint hierzu: »Le débat sur la mémoire du génocide arménien de 1915 est un débat interne à la Turquie, ce que beaucoup peinent à comprendre. Ni un débat ›entre la Turquie et l’Arménie‹ comme le voudraient les Turcs.« in: La France, la Turquie et le génocide arménien, Le Monde Blog: Au fil du Bosphore, Eintrag vom 22.12.2011, unter http://istanbul.blog.lemonde.fr/2011/12/22/lafrance-la-turquie-et-le-genocide-armenien/, Stand: 10.02.2014. 65 François (2009), S. 18.
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tens würde er den Verdacht der Wahltaktik entschärfen. Und schließlich sei auf die erwähnte diplomatische Sichtweise verwiesen, nach der dies auch der Effektivität von Maßnahmen nützen würde.66 Welcher Weg auch immer gewählt wird – die Politik wird memory clashes nicht von Historikern allein zu lösen vermögen. Denn diese sind politische Fragestellungen und es obliegt der Politik, hiermit einen Umgang zu finden – wenn auch keine endgültige Antwort. Dabei kann sie die Deutungshoheit weder den Historikern überlassen, deren Berufsinhalt nicht die politische Dimension der Fragestellung umfasst, noch den Nachfahren der Betroffenen, die berechtigterweise einfordern, gehört zu werden – in deren kollektivem Gedächtnis die Geschichte jedoch oft mythische Züge annimmt und sich damit möglicherweise ebenfalls einer vielschichtigen Betrachtung entzieht.
66 Interview 25 vom 14.03.2013. Darin wurde die Einschätzung geäußert, dass ein Handeln von deutscher Seite in der Armenierthematik 2011 mit Blick auf die Türkei wirkungsvoller gewesen wäre als von französischer, da Deutschland hier als weniger voreingenommen gilt und bislang weniger Maßnahmen ergriffen hat.
8
Schlussbetrachtung
8.1 Z USAMMENFÜHRUNG
DER
E RGEBNISSE
Die vorliegende Untersuchung galt der Einflussnahme sozialer Gruppen auf staatliche Geschichtspolitik. Darüber hinaus wurde auf dieser Basis eine Eingliederung jener Gruppen als Akteure der internationalen Politik vorgenommen. Die Maßnahmen, derer die Gruppen sich bedienen, um ihre geschichtspolitischen Anliegen durchzusetzen, wurden unter den Vorzeichen der Interessenforschung betrachtet. Dabei ist festgehalten worden, dass der in Medien und Literatur zuweilen verwendete Begriff des ›Erinnerungslobbyings‹ durchaus Anwendung findet, da die Durchsetzungsmethoden jenen des ›klassischen Lobbyings‹ und der ›moralisch-politischen Mobilisierungsagenturen‹ zuzuordnen sind. Um die Erfolgsaussichten der verschiedenen ›Strategien des Gehörtwerdens‹ zu evaluieren, ist auf Pierre Bourdieus Feldmodell zurückgegriffen worden. In diesem Sinn ist Geschichtspolitik als ›Feld‹ gedacht worden, auf dem verschiedene Akteure das ihnen jeweils zur Verfügung stehende ökonomische, soziale, kulturelle und symbolische ›Kapital‹ einsetzen. Überraschend war hierbei, dass die typischen Instrumente ›moralisch-politischer Mobilisierungsagenturen‹ – Kampagnen, breite Unterstützung der Öffentlichkeit – sich als weniger entscheidend herausgestellt haben als das soziale Kapital in Form von Netzwerken. Diese werden lokal aufgebaut und mit Kampagen zur Erzeugung von Aufmerksamkeit kombiniert. Auf diese Weise erreicht eine Gruppe wie die Armenier, auch national Gehör und Advokaten für die eigene Sache zu finden. Andrieus These, dass auf nationalem Niveau eine größere Spezialisierung herrsche, die soziale und ökonomische Erwägungen bei der symbolpolitischen Gestaltung gegenüber der lokalen Ebene zurücktreten lasse,1 muss deshalb sehr nuanciert betrachtet werden und ist in dieser Pauschalität sicher nicht gültig.
1
Vgl. Andrieu, Claire: Introduction: le pouvoir central en France et ses usages du passé, de 1970 à nos jours, in: dies., Marie-Claire Lavabre und Danielle Tartakowsky
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Zugleich ist der politische Diskurs hinsichtlich des Themas nicht unbedingt kongruent mit dem medialen. Für die politische Integration scheint vielmehr ausschlaggebend, auf welche Art die Züge des kollektiven Gedächtnisses einer Gruppe mit denen der jeweiligen Nation in Einklang gebracht werden können – si cette mémoire parle à l‹imaginaire national. Übertragen auf den internationalen Kontext illustriert dies die konstruktivistische Annahme, dass Identität für Staaten durchaus handlungsleitend wirkt. »The Armenian case is instructive, as it shows how the transformation of memories is bound up with the general status of human rights values and their frailty, both domestically and internationally« 2 , meinen deshalb nicht nur Levy und Sznaider. Die vorliegende Analyse hat darüber hinaus zweierlei geleistet: Sie hat gezeigt, durch welche Schritte die Gruppe der Armenier das politische Augenmerk auf ihre Anliegen lenkt. Zum anderen hat sie dargelegt, dass die Rezeption durch die Politik auch davon abhängt, wie einer allgemeinen humanitären Frage nationale Bedeutung verliehen wird. Das heißt, dass die Durchsetzung von Geschichtspolitik nicht nur von den in der Öffentlichkeit zumeist kolportierten zwei Polen determiniert ist: Der Schaffung von Gerechtigkeit gegenüber realpolitischen Erwägungen einerseits und wahltaktischem Opportunismus andererseits. Vielmehr nehmen die jeweiligen nationalen Narrative eine entscheidende Rolle für das erfolgreiche ›Framing‹ eines Anliegens ein. Auf diese Weise ist demonstriert worden, dass ›Erinnerungsgemeinschaften‹ via die nationale Ebene internationale Wirkung entfalten können: durch die Beteiligung an Fragen nationaler Identität finden sie Widerhall im internationalen System. Durch die explizite Verknüpfung ihrer konkreten Anliegen mit dieser Identität gelingt es ihnen darüber hinaus, den Einsatz ihres Heimatstaates für die Anliegen zu mobilisieren. Ausblickend ist festzuhalten, dass die Existenz von Diasporastrukturen die Diversifizierung staatlicher Identität und damit die Konfrontation einzelner Staaten mit neuen Anerkennungsforderungen begünstigt – bilaterale ›Erinnerung‹ als freier choix, wie Rosoux ihn vorstellt, wird hierdurch unwahrscheinlicher. Während das so zunehmend thematisierte poids du passé hierdurch zwar einen Raum findet, um zum Ausdruck zu kommen, ist das Erreichen historischer Verantwor-
[Hrsg.]: Politiques du passé. Usages politiques du passé dans la France contemporaine, Aix-en-Provence: Publications de l’Université de Provence 2006, S. 15-26, hier S. 16 : »Le niveau national permettrait une meilleure séparation des fonctions et une spécialisation plus nette de la politique symbolique en dehors des débats de politique économique et sociale.« 2
Levy / Sznaider (2010), S. 66.
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tung oder gar historischer Gerechtigkeit durch vollständige Übernahme der Forderungen von ›Erinnerungsgemeinschaften‹ fraglich. Vielmehr scheint eine stringentere und weniger reaktive politische Herangehensweise an geschichtspolitische Fragen wünschenswert. Das Potential, das diese Problematiken hinsichtlich der Integration verschiedener Teile der Gesellschaft, aber auch der Selbstvergewisserung nationaler Werte bietet, sollte ein Hinterfragen der verschiedenen Aspekte und Funktionsweisen sowohl auf gruppenspezifischer als auch auf nationaler Seite nicht obsolet erscheinen lassen. Oder, wie es Jenny Edkins formuliert: »In other words, the study of memory and commemoration is even more important than it appears.«3
8.2 E PILOG »Il n’est pire crime pour la démocratie que l’oubli [...].«4 In Boyers Zitat kommt eine quasi-religiöse Überzeugung zum Ausdruck, die vielen ›westlichen‹ Staaten heute zu eigen zu sein scheint: das derzeitige System – Demokratie, Pluralismus, Menschenrechtsschutz – erscheinen darin als Antipode zu den Verfehlungen der Vergangenheit. Der Staat legitimiert sich, indem er sich von Verbrechen, die in seinem Namen begangen worden sind, aber auch von Menschenrechtsverletzungen allgemein, distanziert. Das Gedenken hat zweierlei Zweck: Es soll die zu einem bestimmten Zeitpunkt diskriminierten Minderheiten in die Gesellschaft eingliedern, ihnen vermitteln, dass ihre Geschichte Teil der Nation ist und gewürdigt wird. Zugleich ritualisiert das Gedenken die Betonung der Opposition zwischen dem Vergangenen und dem Heute beziehungsweise gemahnt daran, dass das Heute anders sein sollte – diskriminierungsfrei, gleichberechtigt, freiheitlich.... Einem solchen Ritual liegt die Überzeugung zugrunde, dass die Einsicht in vergangenes Unrecht der Gegenwart moralische Orientierung bietet. Diese Vermutung ist nicht von der Hand zu weisen. Sie wird dort problematisch, wo die Vergangenheit als einziger moralischer Kompass, als höchste Instanz für die Gegenwart erscheint. Das We know what is right because we re-
3
Edkins, Jenny: Remembering Relationality. Trauma Time and Politics, in: Duncan Bell [Hrsg.]: Memory, Trauma and World Politics. Reflections on the Relationship between Past and Present, New York / Basingstoke: Palgrave Macmillan 2010, S. 99115, S. 101.
4
S. Kap. 1.1.1, Fußnote 1.
314 | STRATEGIEN DES G EHÖRTWERDENS
member5 hat eine perverse Implikation: Es würdigt das Verbrechen, indem es ihm wichtige Lehren zubilligt. Die Lebenden glauben sich moralisch kompetent, weil sie meinen, die Fehler der Toten erkannt zu haben – insbesondere gegenüber einer bestimmten Gruppe – und durch eine »catharsis sociale«6 gegangen zu sein. Doch ist das notwendige Voraussetzung für ethisch korrektes Verhalten? Provokant formuliert: Wüsste die Gesellschaft – ob in Deutschland, Frankreich oder andernorts – wirklich nicht, wie humanes Verhalten gegenüber den Juden, den Sinti und Roma, den Armeniern, den Homosexuellen etc. aussieht, wären diese in den vergangenen hundert Jahren nicht bereits einmal einem Vernichtungsversuch zum Opfer gefallen? Ob es für die Demokratie tatsächlich nichts Schlimmeres gibt als das ›Vergessen‹, hängt von der Beantwortung dieser Frage ab. Doch selbst wenn man nun Boyers Behauptung in Zweifel ziehen sollte, soll das kein Plädoyer dafür sein, den Mantel des Schweigens über die Geschichte zu breiten. Vielmehr muss ein Zugang zu ihr gefunden werden, der es erlaubt, sie zu thematisieren, auch zu vergegenwärtigen, ohne sie zu sakralisieren. Dazu ist zu klären: Was heißt es, nicht zu vergessen? Geht es darum, das Vergangene im Funktionsgedächtnis lebendig zu halten oder in ein Speichergedächtnis zu überführen, kurz: Lautet das Mittel gegen das ›Vergessen‹ Historisierung oder Erinnerung? Und wie muss eine Erinnerung aussehen, die als Demokratieträger fungiert? Wie gezeigt wurde, gilt das Gedächtnis einer Gruppe, die in der Geschichte Opfer kollektiver Gewalt geworden ist, aufgrund der Autorität des Zeugenberichtes oft als besonders authentisch. Indes kann es auch besonders problematisch sein, wenn das Trauma zum Hauptbezugspunkt der eigenen Identität geworden ist. Margalit erzählt, wie sein jüdischer Vater sich gegen eine solche Selbstdefinition gewehrt hat: »It is a horrible prospect for anyone to live just for the sake of retaining the memory of the dead. That is what the Armenians opted to do. And they made a terrible mistake. Better to create a community that thinks predominantly about the future and reacts to the present, not a community that is governed from mass graves.«7
Jenny Tillmanns hat als Prämisse für ›historische Verantwortung‹ benannt, die Trennung zwischen ›Tätern‹ und ›Opfern‹ aufrecht zu erhalten. Das ist – in his-
5 6
Vgl Kap. 6.1.3.1. Viaux, Dominique: Que faire du passé? Histoire et mémoires [Reihe: Convictions & société], Lyon: Éditions Olivétan 2009, S. 23.
7
Margalit (2002), S. VIII f.
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torischer Perspektive – sicherlich richtig. Gleichzeitig gebietet es die Verantwortung für Gegenwart und Zukunft, Veränderungen zur Kenntnis zu nehmen und, bei entsprechend langer zeitlicher Distanz, deren Nichtidentität mit der Vergangenheit zu akzeptieren. Guroian meinte bereits 1986, dass auf Verständnis basierte Begegnungen sonst auch im armenisch-türkischen Fall nicht möglich würden: »In light of these observations, Armenians certainly have had good ground upon which to hold Turkish persons and governments morally accountable for the Armenocide. The mistake in the Armenian argument has been to make such demands in a judgmental way, having conflated what Weber refers to as the context of self-awareness with the context of formal moral argument. This has left discussion between Armenians and Turks on an emotive level in which the accused persist in denying, justifying, and excusing themselves, and the accusers, in the face of such intractability, resort to revenge. Possibilities for truthful encounter and reconciliation are reduced as tribalistic and atavistic attitudes increase.«8
Wie soll sich die Politik in einer emotional derart aufgeladenen Debatte positionieren? Die Antwort ist noch komplexer, als es zunächst scheinen mag. Einerseits ist es naheliegend, die Partei des historischen Opfers zu ergreifen, inbesondere, wenn dessen Leidensgeschichte im öffentlichen Raum und mit großem Aufwand geleugnet wird. Andererseits birgt dies die Gefahr der Fokussierung auf historisches Leid als einzigem Fluchtpunkt der Debatte. Für ein Oral-History-Projekt erzählt der Armenier Vasak Toroyan, welch emotionale Herausforderung es sein kann, die weitergegebene ›Erinnerung‹ mit dem aktuellen Bild in Übereinstimmung zu bringen. Im Jahr 2000 hat Toroyan das Heimatdorf seines Großvaters, Arpi in der heutigen türkischen Region Bitlis, besucht. Als er sich dem Dorf näherte, waren seine Gefühle gespalten: »...I went through a lot of stress ...there was a big drought that year, that August. I am getting closer and closer to the village wondering if I was going to see the paradise my father used to tell me about, but I do not see the trees of this paradise. So I am getting closer and closer and to be frank, I asked to stop the car. Now there were two things: what is more
8
Guroian, Vigen: Collective Responsibility and Official Excuse Making: The Case of the Turkish Genocide of the Armenians, in: Richard Hovannisian [Hrsg.]: The Armenian Genocide in perspective, New Brunswick et al.: Transaction Publishers 1986, S. 135-152, hier S. 149.
316 | STRATEGIEN DES G EHÖRTWERDENS important? The memory or the loss of the memory... What if the loss is better... I was hesitating whether to go back or go and see the truth.«9
Das Dilemma, das Toroyan hier beschreibt, illustriert die Konflikte zwischen ›Erinnerung‹ und Gegenwart, der vor- und nachtraumatischen Zeit, den konservierten Bildern des verlorenen Paradieses und der sich fortenwickelnden Realität. Es zeigt auch, warum ›Erinnerung‹ ein zweischneidiges Schwert sein kann. Als Ausdruck von Empathie baut sie Brücken und zeugt von Verbundenheit. Sie kann jedoch auch Gräben verstärken: »Still, memory breathes revenge as often as it breathes reconciliation, and the hope of reaching catharsis through liberated memories might turn out to be an illusion.« 10 Aufgabe von Geschichtspolitik muss es deshalb sein, der Erinnerung Raum zu geben und dabei gleichzeitig ihre verschiedenen Funktionen und Funktionsweisen zu verstehen, damit sie nicht zum Imperativ wird, sondern Raum schafft für Austausch und Verständigung. Dabei darf sie Grundsätzliches jedoch nicht zur Disposition stellen. In der Auseinandersetzung zwischen Frankreich und der Türkei um den Völkermord an den Armeniern kann man die französischen Gesetze zwar kritisch sehen. Wenn man jedoch die Reaktion von türkischer Seite, den Vorwurf an Frankreich, einen Genozid an den Algeriern begangen zu haben, hinnimmt, droht eine begriffliche Beliebigkeit, die nicht nur Frankreich nicht akzeptieren kann, wenn ein in der westlichen Hemisphäre mühsam etablierter Wertekonsens nicht infrage gestellt werden soll. In diesem Minenfeld erfolgreich zu agieren, setzt Mut voraus, aber auch Offenheit und das Wissen um die Verbindungen von Geschichte, Erinnerung und Macht, im nationalen wie im internationalen Kontext. Bei aller Entschiedenheit in der Sache dürfen dabei zwei Dinge nicht verloren gehen: Das Bewusstsein für die identitären Motivationen aller Parteien – und der Blick nach vorn. Toroyan hat beim Anblick des Dorfes, das nicht seinen Vorstellungen entsprach, mit sich ringen müssen. Und trotzdem: »At the end I decided to go«.11
9
Zit. nach: Hranush Kharatyan-Araqelyan: Research in Armenia: »Whom to Forgive? What to Forgive?«, in: Liz Erçevik Amado und Nouneh Dilanyan [Hrsg.]: Speaking to One Another: Personal Memories of the Past in Armenia and Turkey, Bonn: dvv international 2010, S. 75-165, hier S. 98.
10 Margalit (2002), S. 5. 11 Zit. nach Hranush Kharatyan-Araqelyan (2010), a.a.O. (Punkt auch im Original nach dem wörtlichen Zitat).
9
Literaturverzeichnis
9.1
P RIMÄRQUELLEN
9.1.1
Zeitungsartikel
9.1.1.1 Pressekorpus Artikel, auf die explizit referiert wird, sind in den Fußnoten vollständig zitiert. Grundlage der Auswahl und der quantitativen Auswertung war der folgende Korpus: Zeitraum: 01.01.2005 – 31.07.2005 bzw. 01.11.2011 – 30.06.2012 Quellen / Datenbanken: Lexis Nexis (La Croix, Le Figaro, Le Monde, L’Humanité, taz, Die Welt, Frankfurter Rundschau); europress (Libération); online-Archive der Frankfurter Allgemeinen Zeitung sowie der Süddeutschen Zeitung Filterkriterien: Frankreich: »génocide arménien« Deutschland: »Armeniergenozid«, »Genozid UND Armenier« »Völkermord UND Armenier«. Anmerkung: Alle mit diesen Filterkriterien identifizierten Artikel wurden einer Sichtung unterzogen. Dopplungen oder solche Beiträge, in denen der Suchbegriff nur am Rande auftauchte bzw. die nur eine Randnotiz (z. B. Hinweis auf einen diesbezüglichen Fernsehfilm im Programmteil ohne inhaltlichen Kommentar) darstellten, wurden aussortiert, um nur diejenigen Artikel zu erhalten, die sich explizit mit dem Thema des Armeniergenozids befassen. Untersuchte Zeitungen (in Klammern: Anzahl der in den Korpus aufgenommen Artikel für den Untersuchungszeitraum 2005/2012):
318 | STRATEGIEN DES G EHÖRTWERDENS
Frankreich: La Croix (12/16), Le Figaro (11/11), Le Monde (13/25), L’Humanité (12/10), Libération (7/30) Deutschland: die tageszeitung (taz) (16/9), Die Welt (20/5), Frankfurter Allgemeine Zeitung (27/12), Frankfurter Rundschau (32/8), Süddeutsche Zeitung (19/11) 9.1.1.2 Weitere Zeitungsartikel (zitierte Auswahl aus den Dossiers de Presse von Sciences Po) Brocard, Véronique: Mitterrand aux Arméniens: je vous ai compris, comprenezmoi, in: Libération vom 09.01.1984 Castagnet, Mathieu: Le long combat des Arméniens de France, in: La Croix vom 18.01.2001 De Chazournes, Renaud: Les Arméniens, un peuple écartelé, in: Quotidien de Paris vom 16.6.1988 Eudes, Yves: Pour la première fois, Jacques Chirac participe à la commémoration du génocide arménien, in: Le Monde vom 24./25.04.2005 Fabre, Clarisse: La reconnaissance du génocide arménien embarrasse les députés, in: Le Monde vom 12.11.2000 Gouyoumdjian, Alexandre: Une rupture sur le génocide arménien, in: La Croix vom 01.07.1999 Govciyan, Alexis: Le génocide arménien, in: Le Figaro vom 20.04.1999 P. J.: Les revendications arméniennes font l’unanimité des grands partis politiques, in: Le Monde vom 8. März 1986 Lacombe, Marcia (2000a): Le Sénat reconnaît le génocide arménien, in: Libération vom 09.11.2000 — (2000b): Le génocide arménien aux portes du Sénat, in: Libération vom 21.03.2000 Langellier, Jean-Pierre: Les Arméniens, un mois après la reconnaissance du génocide, in: Le Monde vom 21.02.2001 Mani, Jégo: La reconnaissance du génocide arménien par la France, in: Le Monde vom 31.01.2001 Pope, Nicole: La Turquie a mis en garde les autorités françaises, in: Le Monde vom 30.05.1998 Roquelle, Sophie: L’Assemblée reconnaît le génocide arménien, in: Le Figaro vom 18.01.2001 Szlakmann, Charles: La quatrième génération de la diaspora, in: Le Monde vom 13./14.04.1986 Théolleyre, Jean-Marc: Être Arménien en France, in: Le Monde vom 06.03.1981
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Un entretien avec Anahide Ter-Minassian et Claude Mutafian, in: Le Monde. 26.04.1994, S. 2 ›L’Arménie c’est notre folklore‹ déclare Charles Aznavour, in: Le Monde vom 21.11.1980 [o. A.]: Les partis français et la cause arménienne, in: Le Monde vom 14. Juni 1984; [o. A.]: La France vous aidera à faire triompher votre cause déclare M. Gaston Defferre aux Arméniens, in: Le Monde vom 27.04.1982 9.1.1.3 Online abgerufene Zeitungsartikel Benvenuto, Francesca Maria: Das Weltgericht. Der Internationale Strafgerichtshof soll globale Gerechtigkeit üben - in politischen Grenzen in: Le Monde Diplomatique Nr. 10255 vom 8.11.2013, abgerufen unter http://www.mondediplomatique.de/pm/2013/11/08.mondeText1.artikel,a0033.idx,8, Stand: 01.12.2013 Beuth, Patrick: Bürgerbeteiligung mit fragwürdigen Ergebnissen in: Zeit online vom 13.04.2012, http://www.zeit.de/digital/internet/2012-04/dialog-fuerdeutschland-ergebnis-manipulation, Stand: 21.08.2012 Broder, Henryk M.: Meine Kippa liegt im Ring, Tagesspiegel vom 21.10.2009, http://www.tagesspiegel.de/meinung/kommentare/zentralrat-der-judenhenryk-m-broder-meine-kippa-liegt-im-ring/1282018.html, Stand: 24.01.13 Brumlik, Micha: Bund der Durchtriebenen. Wie das Konzept für das »Zentrum gegen Vertreibungen« die Unterschiede zwischen den Opfern verwischt, in: Jüdische Allgemeine vom 19.01.2006, unter http://www.juedischeallgemeine.de/article/view/id/5101, Stand: 10.04.2014 Decker, Kerstin: Historische Gerechtigkeit: Kriminalfall Geschichte vom 26.07. 2001 unter http://www.tagesspiegel.de/weltspiegel/gesundheit/historischegerechtigkeit-kriminalfall-geschichte/244162.html, Stand: 01.12.2013 Dubouloz, Catherine: La campagne bleu marine de Sarkozy in: Le Temps vom 02.05.2012, zitiert nach Courrier International http://www.courrierinter national.com/article/2012/05/02/la-campagne-bleu-marine-de-sarkozy, Stand: 25.07.2013 Eckian, Jean: Deir es Zor, un modèle pour Auschwitz? in: NAM online vom 15.12.2011 unter http://www.armenews.com/article.php3?id_article=75244, Stand: 12.02.2014 Gathmann, Florian: Merkels Bürger-Dialog im Kanzleramt: »Insgesamt sind wir ja sehr tolerant durchgekommen«, Spiegel online vom 03.07.12 unter http://www.spiegel.de/politik/deutschland/wie-merkel-mit-den-buergerndiskutiert-a-842305.html, Stand: 06.05.13
320 | STRATEGIEN DES G EHÖRTWERDENS
Graw, Ansgar: Kein ›Zentrum‹ aber ein ›sichtbares Zeichen‹ in: Die Welt vom 26.10.2007 unter http://www.welt.de/politik/article1301871/Kein-Zentrumaber-ein-sichtbares-Zeichen.html, Stand: 08.02.2014 Jäckel, Eberhard: Genozid oder nicht? Hunderttausende Armenier kamen 1915/ 16 wohl ohne Absicht um, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 23.03.2006, unter http://www.faz.net/aktuell/feuilleton/politik/genozid-odernicht-1307094.html, Stand: 04.04.2014 Keetman, Jan: Die illegalen Armenier von Istanbul in: Die Presse vom 01.04. 2010, abgerufen unter http://diepresse.com/home/panorama/welt/555832/ Die-illegalen-Armenier-von-Istanbul, Stand: 22.10.2012 Mesnard, Philippe: La représentation des bourreaux in: Vacarme 02, printemps 1997, unter http://www.vacarme.org/article958.html, Stand: 12.08.2013 Musharbash, Yassin: Vorstadt-Unruhen: Rebellion gegen die Grande Nation in: Spiegel online vom 04.11.2005 unter http://www.spiegel.de/politik/ausland/ vorstadt-unruhen-rebellion-gegen-die-grande-nation-a-383288.html, Stand: 23.07.2013 Nordhausen, Frank: Anti-armenische Faust der Türkei in: Frankfurter Rundschau vom 13.03.2012, unter http://www.fr-online.de/meinung/auslese-rassismus-in-der-tuerkei-anti-armenische-faust-der-tuerkei,1472602, 11884188.html, Stand: 08.08.2013 Papazian, Séta: Génocide arménien: le dérapage de Pierre Nora in: L’Arche vom 18.11.2011, online abgeufen unter http://larchemag.fr/2011/11/18/184/ genocide-armenien-le-derapage-de-pierre-nora-ii/; Stand: 11.07.2013 Perrier, Guillaume: La France, la Turquie et le génocide arménien, Le Monde Blog: Au fil du Bosphore, Eintrag vom 22.12.2011 unter http://istanbul. blog.lemonde.fr/2011/12/22/la-france-la-turquie-et-le-genocide-armenien/, Stand: 10.02.2014 Raspiengeaus, Jean-Claude: La mémoire du survivant et les mots du bourreau in: La Croix vom 16.01.2012 unter http://www.lacroix.com/Culture/Actualite/ La-memoire-du-survivant-et-les-mots-du-bourreau-_EP_-2012-01-16-7583 75 (Stand: 12.08.2013) Van Eeckhout,Laetitia: Nicolas Sarkozy relance le débat sur l'identité nationale in: Le Monde vom 21.04.2009 unter http://www.lemonde.fr/politique/article/ 2009/04/21/nicolas-sarkozy-relance-le-debat-sur-l-identite-nationale_118337 2_823448.html, Stand: 23.07.201 Vlassova, Olga: Nicolas Sarkozy : monsieur Sécurité, zitiert nach: Courrier International, Supplément au N°1121 vom 26.04.2012 unter http://www. courrierinternational.com/article/2012/04/26/nicolas-sarkozy-monsieur-secur ite, Stand: 13.08.2013
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Woitier, Chloé : Génocide arménien: 13 ans de blocage au Parlement français vom 19.12.2011 unter http://www.lefigaro.fr/actualite-france/2011/12/16/ 01016-20111216ARTFIG00439-genocide-armenien-13-ans-de-blocage-au-p arlement-francais.php, Stand: 19.05.13 [o. A.]: Génocide arménien : Hollande confirme un nouveau texte in: Le Figaro vom 07.07.2012 (aktualisiert am 09.07.2012), unter http://www.lefigaro.fr/ politique/2012/07/07/01002-20120707ARTFIG00459-genocide-armenien-ho llande-confirme-un-nouveau-texte.php, Stand: 08.08.2013 [o. A./AFP-Meldung]: Sarkozy et Hollande présents à la commémoration du génocide arménien vom 24.04.2012 auf Le Point.fr unter http://www.lepoint.fr/ societe/sarkozy-et-hollande-presents-a-la-commemoration-du-genocide-arme nien-24-04-2012-1454676_23.php, Stand: 25.07.2013 [ohne Autorennennung]: Roma-Abschiebungen: Paris schimpft über »Entgleisungen« der EU in: Spiegel online vom 15.09.2010 unter http://www.spiegel. de/politik/ausland/0,1518,717648,00.html, Stand: 20.07.2013 In der Türkei ist die Debatte schon weiter, Interview mit Cem Özdemir in: die tageszeitung vom 12.01.2007 unter http://www.taz.de/1/archiv/archiv/?dig =2007/01/12/a0224, Stand: 12.11.2013 Reconnaissance: la démission allemande, Interview mit Tessa Hoffmann [Propos recueillis par Marie-Aude Panossian et Ara Toranian] in: Nouvelles d’Arménie Magazine unter http://www.aga-online.org/documents/ attachments/aga_31.pdf, Stand: 12.08.2013 9.1.1.4 Beiträge aus Online-Nachrichtenportalen u. ä. Garibow, Konstantin: Türkei sollte sich über Völkermord an Algeriern keine Sorgen machen in: radio Stimme Russlands vom 17.01.2012 unter http:// german.ruvr.ru/2012/01/17/64017859/, Stand: 24.01.2014 Hennings, Alexa: Keine Kranzabwurfstelle. Vom schwierigen Gedenken an Euthanasie-Opfer nicht nur in Schwerin in Deutschlandradio Kultur vom 02.05.2008 unter http://www.deutschlandradiokultur.de/keine-kranzabwurf stelle.1001.de.html?dram:article_id=156533, Stand: 06.02.2014 Iskyan, Kim: Forget Constantinople. Can Armenians remember genocide without ignoring the future? vom 22.04.04 unter http://www.slate.com/articles/ news_and_politics/foreigners/2004/04/forget_constantinople.html, Stand: 29.07.13 Özdemir, Cem: Alles Verräter in: Die Zeit Nr. 24 vom 09.06.2005, unter http://www.zeit.de/2005/24/H_9frriyet-t_9frk_Medien, Stand: 07.03.2014 Rainsford, Sarah: Turkish children drawn into Armenia row vom 21.03.2009 unter http://news.bbc.co.uk/2/hi/7956056.stm, Stand: 04.03.2014
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Tossati, Marco: Israel and the Armenian Genocide in: Vatican Insider vom 06.03.2012 unter http://vaticaninsider.lastampa.it/en/blog-san-pietro-e-din torni-en/detail/articolo/15965/; Stand: 15.08.2013 Vedrenne, Gabriel mit Catherine Boullay: Arménie: le double discours de Sarkozy vom 07.11.2011 unter http://www.europe1.fr/International/Armenie-ledouble-discours-de-Sarkozy-756227/, Stand: 06.05.13 Vercasson, Ania: France: Les manuels scolaires et la question du génocide arménien, 31.08.12 unter www.actualitte.com/scolarite/france-les-manuelsscolaires-et-la-question-du-génocide-armenien-36403.htm, Stand: 17.04.13 Wildermann, Marie: Leugnung von Völkermord soll bestraft werden. Christlichalevitischer Freundeskreis der CDU fordert Rechtsgrundlage in: deutschlandfunk (online) vom 11.01.2012 unter http://www.dradio.de/dlf/sendungen/ tagfuertag/1649189/, Stand: 12.09.2013 [o. A.]: Ankara réagit à l’enseignement du «génocide arménien» dans les manuels scolaires unter http://www.turquie-fr.com/ankara-reagit-a-lenseigne ment-du-genocide-armenien-dans-les-manuels-scolaires/06/09/2012/, Stand: 09.08.2013 [o. A.]: France-Rwanda : il est grand temps d'ouvrir les archives, in: Le Monde vom 07.04.2014, unter http://www.lemonde.fr/afrique/article/2014/04/07/ france-rwanda-il-est-grand-temps-d-ouvrir-les-archives_4396889_3212.html, Stand: 09.04.2014 »Mord verjährt nicht«. Historiker Norbert Frei über die letzten NS-Prozesse gegen »vergleichsweise kleine Einzeltäter«; Interview von Ute Welty mit Norbert Frei vom 27.12.2012 unter http://www.deutschlandradiokultur.de/ mord-verjaehrt-nicht.1008.de.html?dram:article_id=232344, Stand: 02.12. 2013 Bundesberufungsgericht überdenkt Urteil zu Versicherungsauszahlungen an armenische Nachkommen des Genozids unter http://haypressnews. wordpress.com/2011/11/10/bundesberufungsgericht-uberdenkt-urteil-zu-vers icherungsauszahlungen-an-armenische-nachkommen-des-genozids/, Stand: 22.04.12 Pierre Nora im Interview mit France Inter vom 12.10.2011, abrufbar unter http://www.franceinter.fr/emission-linvite-pierre-nora?&comments=votes, Stand: 11.07.13
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9.1.2 Reden und öffentliche Dokumente Assemblée Nationale: Assemblée Nationale – XIe Législature: Rapport n° 925.- Rapport fait au nom de la commission des affaires étrangères sur la proposition de loi de M. Didier Migaud et plusieurs de ses collègues (n° 895), relative à la reconnaissance du génocide arménien de 1915, Rapporteur: René Rouquet; Mise en distribution: 28. Mai 1998, http://www.assemblee-nationale.fr/11/pdf/rapports/ r0925.pdf, Stand: 25.07.2013 (zitiert als: Rapport Rouquet (1998)) — XIIIe Législature: Rapport d’information n°1262: Rassembler la Nation autour d’une mémoire partagée [Rapport d’information fait en application de l’article 145 du Règlement au nom de la mission d’information sur les questions mémorielles, Président – Rapporteur: M. Bernard Accoyer, Président de l’Assemblée nationale], Paris: November 2008 (zitiert als: Rapport Accoyer) — Proposition de loi n°3842 portant transposition du droit communautaire sur la lutte contre le racisme et réprimant la contestation de l’existence du génocide arménien, als pdf abgerufen unter http://www.assemblee-nationale.fr/13/pdf/ propositions/pion3842.pdf, Stand: 30.01.2014 — Proposition de loi n°690 tendant à la transposition en droit interne de la Décision-cadre 2008/913/JAI du 28 novembre 2008 sur la lutte contre certaines formes et manifestations de racisme et de xénophobie au moyen du droit pénal unter http://www.assemblee-nationale-fr/14/pdf/propositions/pion0690. pdf. Stand: 30.01.2014 — Débats parlementaires. Journal Officiel de la République française (2011)128: Compte rendu intégral de la séance du jeudi 22 décembre 2011 (zitiert als: JO-2011 — Débats parlementaires. Journal Officiel de la République française (2006)82: Compte rendu intégral des séances du jeudi 12 octobre 2006 (zitiert als: JO2006) — Débats parlementaires. Journal Officiel de la République française (2001)6: Compte rendu intégral des séances du jeudi 18 janvier 2001 (zitiert als: JO2001) — XIIIe Législature: Rapport d’information n°1262: Rassembler la Nation autour d’une mémoire partagée [Rapport d’information fait en application de l’article 145 du Règlement au nom de la mission d’information sur les questions mémorielles, Président – Rapporteur: M. Bernard Accoyer, Président de l’Assemblée nationale], Paris: November 2008 (zitiert als: Rapport Accoyer (2008))
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Deutscher Bundestag: Deutscher Bundestag: Drucksache 16/8453 vom 07.03.2008: “Einführung eines verpflichtenden Lobbyistenregisters” Antrag der Abgeordneten Wolfgang Neskovic, Ulla Jelpke, Sevim Dagdelen, Jan Korte, Ulla Lötzer, Kersten Naumann, Petra Pau und der Fraktion DIE LINKE. — Ständig aktualisierte Fassung der öffentlichen Liste über die Registrierung von Verbänden und deren Vertretern unter http://www.bundestag.de/ dokumente/lobbyliste/lobbylisteaktuell.pdf, Stand: 08.02.2013 — Plenarprotokoll 15/172 – Stenografischer Bericht der 172. Sitzung vom Donnerstag, den 21. April 2005 (im Folgenden zitiert als: Plenarprotokoll 15/172) — Drucksache 15/5689 – Antrag der Fraktionen SPD, CDU/CSU, BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und FDP: Erinnerung und Gedenken an die Vertreibungen und Massaker an den Armeniern 1915 – Deutschland muss zur Versöhnung zwischen Türken und Armeniern beitragen vom 15.06.2005 Bundestagsdrucksache 14/9857 vom 12.08.2002: Kleine Anfrage der Abgeordneten Uwe Hiksch, Ulla Jelpke, Dr. Winfried Wolf und der Fraktion der PDS – Anerkennung des Völkermordes an den Armeniern Bundestagsdrucksache 17/678 vom 10.02.2010: Kleine Anfrage der Abgeordneten Katrin Werner, Jan van Aken, Christine Buchholz, Wolfgang Gehrcke, Annette Groth, Stefan Liebich und der Fraktion DIE LINKE Bundestagsdrucksache 17/1798 vom 19.05.2010: Kleine Anfrage der Abgeordneten Katrin Werner, Wolfgang Gehrcke, Annette Groth, Andrej Hunko, Harald Koch, Stefan Liebich und der Fraktion DIE LINKE: Deutsche Mitverantwortung für den Völkermord an den Armeniern Bundesdrucksache 17/1956 vom 04.06.2010: Kleine Anfrage der Abgeordneten Katrin Werner, Wolfgang Gehrcke, Annette Groth, weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE Plenarrede Erika Steinbach MdB, Donnerstag, 25. März 2010, TOP 12a, ca. 18 Uhr: Menschenrechte weltweit schützen Drs.-Nr. 17/257 Weitere offizielle Dokumente: Bundesministerium des Innern / Bundesamt für Migration und Flüchtlinge: Migrationsbericht des Bundesamtes für Migration und Flüchtlinge im Auftrag der Bundesregierung: Migrationsbericht 2012, veröffentlicht am 15.01.2014, als pdf abrufbar unter http://www.bamf.de/SharedDocs/Anlagen/DE/Publika tionen/Migrationsberichte/migrationsbericht2012.pdf?__blob=publication File, Stand: 04.03.2014
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Département des Statistiques, des Études et de la Documentation: Infos migrations Numéro 10 – octobre 2009 (auteur: Corinne Régnard), unter http:// www.immigration.gouv.fr/IMG/pdf/IM10popetrangere06.pdf, Stand: 11.03. 2013 Bret, Jean-Paul: Rapport d’information [présenté à la suite de la mission effectuée en Arménie du 16 au 22 avril 2000 par une délégation du Groupe d’Amitié France-Arménie], Paris: Assemblée nationale 2000 LOI no 2001-70 du 29 janvier 2001 relative à la reconnaissance du génocide arménien de 1915 (1) in: Journal Officiel de la République Française n°25 vom 30. Januar 2001, S. 1590 Conseil Constitutionnel: Décision n° 2012−647 DC du 28 février 2012, als pdf unter http://www.conseil-constitutionnel.fr/conseil-constitutionnel/root/bank/ pdf/conseil-constitutionnel-104949.pdf, Stand: 08.08.2013 Konvention über die Verhütung und Bestrafung des Völkermordes vom 09. Dezember 1948, zit. nach Christian Tomuschat / Christian Walter: Völkerrecht, Textsammlung, 6. Auflage, Baden-Baden: Nomos 2014, S. 132-134 Reden: Ackermann, Stephan: Ansprache zur zentralen Gedenkfeier zum Völkermord an den Armeniern am 24. April 2010; nachzulesen auf der Webseite von Radio Vatikan: http://de.radiovaticana.va/storico/2010/04/25/d:_%E2%80%9Eden_ v%C3%B6lkermord_anerkennen%E2%80%9C/ted-375057, Stand: 25.02. 2014 Giordano, Ralph: Aghet. Ansprache bei der Zentralen Gedenkfeier zum Völkermord an den Armeniern am 24. April 2010 in der Frankfurter Paulskirche unter http://www.zentralrat.org/files/Paulskirche-2010-Gedenkrede-Ralf%20 Giordano.pdf, Stand: 26.02.2014 Mangelsen, Jochen: Gedenkrede an der Gedenkfeier für die Opfer des Genozids an den Armeniern, Am Khatchkar Bremen, 24.04.2011 unter http://www. zentralrat.org/files/Microsoft%20Word%20-%20Gedenkrede_Jochen_ Mangelsen_in_Bremen,%2024.04.2011.pdf, Stand: 05.03.2014 — Rede zur Gedenkfeier am 24. April 2010 in Kehl unter http://www. zentralrat.org/files/Kehl_2010_Gendenkrede_Dr.Jochen_Mangelsen.pdf, Stand: 26.02.2014 Martirosyan, Armen: Grußwort von Armen Martirosyan, Botschafter der Republik Armenien in der Bundesrepublik bei der Gedenkfeier zum Völkermord an den Armeniern am 24.04.2011 in der Frankfurter Paulskirche, als pdf unter http://www.a-rm.de/wp-content/uploads/2008/04/Paulskirche-2011-Grusswo rt-Botschafter-Martirosyan.pdf, Stand: 04.03.2014
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Meckel, Markus: Rede zum Gedenktag für die Opfer des Völkermords an den Armeniern 1915 am 24. April 2009 im Französischen Dom zu Berlin anläßlich der Armenischen Gemeinde zu Berlin, abrufbar auf der Webseite der Armenischen Gemeinde zu Berlin: http://www.armenische-gemeinde-zuberlin.de/downloads.html, abgerufen: 05.01.13 Rede von Bundeskanzlerin Merkel bei der 9. ordentlichen Mitgliederversammlung der Türkisch-Deutschen IHK vom 24.06.2013 in Berlin unter https:// www.bundesregierung.de/Content/DE/Rede/2013/06/2013-06-25-dt-tuerkihk.html, Stand: 28.08.2013 Ordukhanyan, Azat: Eröffnungsrede zur Gedenkfeier zum Völkermord an den Armeniern, Ostersonntag, 24. April 2011, Frankfurter Paulskirche unter http://www.a-rm.de/wp-content/uploads/2008/04/Paulskirche-2011-Er%C3% B6ffnungsrede-Ordukhanyan.pdf, Stand: 12.08.2013 Owassapian, Schawarsch: Eröffnungsrede zur zentralen Gedenkfeier zum Völkermord an den Armeniern, 24. April 2009, Frankfurter Paulskirche unter http://www.a-rm.de/wp-content/uploads/2008/04/paulskirche-2009-eroffnun gsrede-dr-owassapian.pdf, Stand: 12.08.2013 — Ansprache zur zentralen Gedenkfeier zum Völkermord an den Armeniern, 24. April 2004, Frankfurter Paulskirche unter http://www.zentralrat.org/files/ Begruessung-Dr.Owassapian_24.04.2004.pdf, Stand: 12.08.2013 Papazian, Mourad: Discours prononcé le 24 avril 2006 par Mourad Papazian, abrufbar auf der Webseite des CCAF unter http://www.ccaf.info/item.php?r= 0&id=154, Stand: 12.08.2013 — Rede von Mourad Papazian, erstem Sekretär der französischen DaschnakPartei, am 03.04.2007 in Alfortville zur Unterstützung der sozialistischen Präsidentschaftskandidatin Ségolène Royal, unter http://www.cdca.asso.fr/s/ detail.php?r=9&id=471, Stand: 03.04.2014 Reemtsma, Jan Philipp: Ansprache zum 24.4.2007 zum Gedenken an die Opfer des Genozids von 1915 im Französischen Dom zu Berlin, abrufbar auf der Webseite der Armenischen Gemeinde zu Berlin: http://www.armenischegemeinde-zu-berlin.de/downloads.html, Stand: 05.01.2013 Steinbach, Erika: Ansprache von Erika Steinbach, Mitglied des Deutschen Bundestags zur Gedenkfeier zum Völkermord an den Armeniern, Ostersonntag, 24. April 2011, Frankfurter Paulskirche unter http://www.a-rm.de/wpcontent/uploads/2008/04/Paulskirche-2011-Ansprache-Steinbach.pdf, Stand: 13.08.2013 — Rede der Präsidentin [des BdV] Erika Steinbach MdB am 2. September 2006 im Internationalen Congress Centrum Berlin, als pdf unter http://www.bundder-vertriebenen.de/files/steinbach2006.pdf
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— Rede zur Verleihung des Franz-Werfel-Menschenrechts-preises am 25. Juni 2005 in der Frankfurter Paulskirche, unter http://www.zentralrat.org/files/ Rede_Steinbach_25.Juni_2005.pdf, Stand: 26.02.2014 Vaatz, Arnold: Die historische Gerechtigkeit wiederherstellen. Rede zur SEDOpferrente vom 01.03.2007 unter http://www.cducsu.de/Titel__die_ historische_gerechtigkeit_wiederherstellen/TabID__1/SubTabID__2/Inhalt TypID__2/InhaltID__6866/inhalte.aspx, Stand: 01.12.2013 Deutsche Bischofskonferenz: Weihbischof Vorrath zur Einweihung des Denkmals für Sinti und Roma. Mahnende Erinnerung als öffentlicher Ausdruck, Pressemeldung Nr. 170 vom 24.10.2012 unter http://www.dbk.de/de/presse/ details/?presseid=2195&cHash=79d9987da9a734de2a7a62fb7ac67070, Stand: 08.02.2014 Weizsäcker, Richard von: Rede von Bundespräsident Richard von Weizsäcker bei der Gedenkveranstaltung im Plenarsaal des Deutschen Bundestages zum 40. Jahrestag des Endes des Zweiten Weltkrieges in Europa unter http://www.bundespraesident.de/SharedDocs/Reden/DE/Richard-von-Weizsa ecker/Reden/1985/05/19850508_Rede.html, Stand: 30.09.2013 Gemeinsame Erklärung zur Entscheidung des Petitionsausschusses des Deutschen Bundestages, abrufbar auf der Webseite der Arbeitsgruppe Anerkennung unter http://www.aga-online.org/documents/attachments/aga_14.pdf, Stand: 12.08.2013; außerdem das Schreiben vom 06.09.2001 des Leiters des Parlaments- und Kabinettreferats im Auswärtigen Amt an die Petenten unter http://www.aga-online.org/documents/attachments/aga_12.pdf, Stand: 13.02. 2014 9.1.3 Interviews Eine Tabelle mit einer Aufstellung aller geführten Interviews findet sich im Anschluss an das Literaturverzeichnis. 9.1.4 Zeitschriften Nouvelles d’Arménie Magazine – NAM Gesichtete Jahrgänge: 1996, 2001, 2005, 2011 zitierte Beiträge: Gaillard., Franck; R. Kotcharian ou l’art de l’équilibrisme, NAM N°65, juin 01, S. 22-26 Govciyan, Alexis: La priorité est au consensus [Interview, propos recueillis par Ara Toranian], in: NAM N° 63, April 2001
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Mallié, Richard: Non, la Turquie n’a rien à voir avec l’Europe in: NAM N°105, Februar 2005, S. 90 Marian, Michel: L’identité n’est pas qu’une affaire de sang ou de papiers in: NAM N°10, Februar 1996, S. 29-30 Muradian, Vahé: Une nationalité citoyenne in: NAM N°10, Februar 1996, S. 31 Radelat, Ana: Lobbying, mode d’emploi in: NAM N°13, Mai 1996, S. 8-13 Toranian, Ara: Le génocide arménien au Parlement in: NAM N°14, Juni 1996, S. 22 François Rochebloine, Interview mit F. Rochebloine [propos receuillis par Ara Toranian] in: NAM N°11, März 1996, S. 26-27 Le défi démocratique, Interview mit Mourad Papazian [propos receuillis par Ara Toranian] in: NAM N°63, April 2001, S. 14-15 Catastrophe: Les mots pour le dire, Interview mit Yves Ternon [propos receuillis par Ara Toranian] in: NAM N°105, Februar 2005, S. 30-31 Interview mit Hervé de la Charette [propos receuillis par Ara Toranian] in: NAM N°17, November 1996, S.16-18 Les Français et le génocide arménien, Umfrageergebnisse einer vom Institut Louis Harris durchgeführten Umfrage unter 1002 Personen in: NAM N°12, April 1996, S. 4-8 Titelseite der NAM N°105 vom Februar 2005 Armenisch-deutsche Korrespondenz (ADK) (Vierteljahresschrift der deutsch-armenischen Gesellschaft) Gesichtete Jahrgänge: 2001, 2005, 2011 Zitierte Beiträge: Minassian, Gaïdz [Interview]: Der Südkaukasus, Russland und die USA. Gaïdz Minassian im ADK-Gespräch in: ADK (2011-1)151, S. 2-3 Kantian, Raffi: Miteinander reden. »Wenn sie bloß nicht weggegangen wären«/ »Wem soll man verzeihen? Was soll man verzeihen« in: ADK (2011-3)153, S. 51-52 Kantian, Raffi: Die Knesset und der Völkermord an den Armeniern, in: ADK (2011-2)152, S. 25 Armenien und die Türkei müssen ihren Dialog bei null beginnen. Armeniens ExAußenminister Vartan Oskanian im ADK-Gespräch (Fragen: Raffi Kantian), in: ADK (2011-2)152, S. 2-3
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9.1.5 Webseiten von Verbänden, Institutionen etc. (Einzelne Beiträge der jeweiligen Seiten sind in der jeweiligen Fußnote vollständig angegeben) Arbeitsgruppe Anerkennung – gegen Genozid, für Völkerverständigung e.V. (AGA), www.aga-online.org, Stand: 22.04.13 Webseite der armenischen Botschaft in Deutschland: http://www.germany. mfa.am/de/overview, Stand: 08.10.2012 Armenian National Committee of America unter http://www.anca.org/assets/ pdf/hill_notes/032505.pdf, Stand: 29.07.13 Armenische Gemeinde zu Berlin e. V., www.armenische-gemeinde-zu-berlin.de, Stand: 15.08.2012 Association Culturelle Arménienne de Marne-la-Vallée unter http://www.acamfrance.org/contacts/diaspora-france/les-assos.htm, Stand: 05.01.13 Centre du Patrimoine Arménien: http://www.patrimoinearmenien.org/, Stand : 20.07.2013 Conseil de Coordination des Organsations Arméniennes de France: http://www. ccaf.info/item.php?r=1&id=364, Stand: 11.01.2009, abgerufen am 05.01.13 Vigilance Arménienne contre le Négationnisme: http://www.collectifvan.org, Stand: 11.07.2013 Daschnak-Partei in Frankreich, http://www.fra-france.com/print_article.php? id=727, Stand: 13.08.2013 Deutsch-Armenische Gesellschaft, http://www.deutscharmenischegesellschaft. de/?p=3947, Stand: 08.05.13 Facebook, www.facebook.com, insbesondere Facebook-Seiten/Gruppen, die den Armeniergenozid thematisieren und auf denen dessen Anerkennung gefordert wird, Stand jeweils 06.05.13 Imprescriptible.fr; www.imprescriptible.fr, Stand: 05.03.2014 Institut für Diaspora- und Genozidforschung: http://www.ruhr-unibochum. de/idg/, Stand: 20.12.2012 Lobbycontrol.de: : http://www.lobbycontrol.de/schwerpunkt/lobbyplanet-berlin/, Stand: 12.02.2013 MESROP-Arbeitsstelle für armenische Studien an der Universität Halle: http://www.mesrop.uni-halle.de/, Stand: 20.10.2012 Vartian, Madlen: Blog [Madlens Blog. Armenier und andere Unmöglichkeiten], unter http://madlens-blog.blogspot.de/, Stand: 19.02.13 Webseite des türkischen Außenministeriums: The Armenian Allegation Of Genocide The Issue And The Facts unter http://www.mfa.gov.tr/the-armenianallegation-of-genocide-the-issue-and-the-facts.en.mfa, Stand: 25.02.2014.
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Die Übersicht aller Stellungnahmen und Publikationen des türkischen Außenministeriums findet sich unter http://www.mfa.gov.tr/sub.en.mfa?c4aa 6758-dde9-477c-98c6-335c94c2fe18 unter dem Titel Controversy between Turkey and Armenia about the Events of 1915, Stand: 25.02.2014 Tête de turc – Le site des amis de la Turquie, http://www.tetedeturc.com/ home/), Stand : 12.03.2014 Vigilance arménienne contre le négationnisme: www.collectifvan.org, Stand: 05.03.2014 Zentralrat der Armenier in Deutschland: www.zentralrat.org, (diverse Pressemitteilungen und Erklärungen sind im Text mit Adresse und Abrufdatum zitiert) Webseite des Zentralrats der Juden: http://www.zentralratdjuden.de/de/topic/5.html, abgerufen: 24.01.13, sowie ddpInterview mit ZDJ-Generalsekretär Stephan J. Kramer vom 21.04.10: unter http://www.zentralratdjuden.de/de/article/2966.html , Stand: 22.01.12 Webseite der Stiftung Zentrum gegen Vertreibungen, insb. Chronik der Vertreibungen europäischer Völker im 20. Jahrhundert unter http://www.z-gv.de/aktuelles/?id=58, Stand: 08.02.2014
9.2 S EKUNDÄRLITERATUR 9.2.1 Monographien Akçam, Taner: The Young Turk’s Crime against Humanity: the Armenian genocide and ethnic cleansing in the Ottoman Empire, Princeton: Princeton University Press 2012 — Dialogue Across an International Divide: Essays Towards a TurkishArmenian Dialogue, Cambridge (MA): Zoryan Institute 2001 Alexander, Jeffrey C.: Toward a theory of cultural trauma in: ders. et al.: Cultural trauma and collective identity, Berkeley/London: University of California Press 2004, S. 1 – 30 Alexanian, Jacques der: Arménies, Arménie. Un nom pour héritage 1987-2000, Paris et al.: L’Harmattan 2001 Ambrosio, Thomas: Irredentism. Ethnic conflict and International Politics, Westport (CT): Praeger Publishers 2001 Assmann, Aleida: Auf dem Weg zu einer europäischen Gedächtniskultur? Wiener Vorlesungen, Wien: Picus 2012
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— Erinnerungsräume. Formen und Wandlungen des kulturellen Gedächtnisses, München: C. H. Beck 1999 — Der lange Schatten der Vergangenheit. Erinnerungskultur und Geschichtspolitik, München: Beck 2006 Assmann, Jan: Das kulturelle Gedächtnis: Schrift, Erinnerung und politische Identität in frühen Hochkulturen, 6. Auflage, München: Beck 2007 Badie, Bertrand: Nouveaux mondes. Carnets d’après Guerre froide, Paris: Le Monde Interactif / CNRS Éditions 2012 — La diplomatie des droits de l’homme. Entre éthique et volonté de puissance, Paris: Fayard 2002 Balakian, Peter: The Burning Tigris. The Armenian Genocide and America’s Response, New York: HarperCollins Publishers 2003 Baumgartner, Frank R. et al.: Lobbying and Policy Change. Who wins, who loses and why, Chicago / London: The University of Chicago Press 2009 Baussant, Michèle: Pieds-Noirs – Mémoires d’exils, Paris: Stock 2002 Bayraktar, Seyhan: Politik und Erinnerung. Der Diskurs über den Armeniermord in der Türkei zwischen Nationalismus und Europäisierung, Bielefeld: transcript Verlag 2009 Beaufort, Viviane de: Lobbying, portraits croisés. Pour en finir avec les idées reçues, Paris: Éditions Autrement 2008 Benbassa, Esther: La souffrance comme identité, Paris: Fayard 2007 Bensaïd, Daniel: Qui est le juge? Pour en finir avec le tribunal de l’Histoire, Paris: Fayard 1999 Bizeul, Yves: Glaube und Politik, Wiesbaden: VS Verlag für Sozialwissenschaften / GWV Fachverlage GmbH 2009 Blatter, Joachim K., Frank Janning und Claudius Wagemann: Qualitative Politikanalyse. Eine Einführung in Forschungsansätze und Methoden, Wiesbaden: VS Verlag für Sozialwissenschaften / GWV Fachverlage GmbH 2007 Blum, Sonja und Klaus Schubert: Politikfeldanalyse, 2. Auflage, Wiesbaden: VS Verlag für Sozialwissenschaften / Springer Fachmedien 2011 Bourdieu, Pierre: Propos sur le champ politique [avec une introduction de Philippe Fritsch], Lyon: Presses universitaires de Lyon 2000 — (avec Loïc J. D. Wacquant): Réponses. Pour une anthropologie réflexive, Paris: Éditions du Seuil 1992 — Questions de sociologie, Paris: Les Éditions de Minuit 1980 Çetin, Fethiye: My grandmother. An Armenian-Turkish Memoir, London / New York: Verso 2008 (konsultiert: Taschenbuchauflage 2012) Chaliand, Gérard: Mémoire de ma mémoire, Paris: Éditions Julliard 2003
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— mit Yves Ternon: 1915, le génocide des Arméniens, Brüssel: Éditions Complexe, 5. Auflage 2006 Chaumont, Jean-Michel: La concurrence des victimes. Génocide, identité, reconnaissance, Paris: Éditions La Découverte 1997 Citron, Suzanne: Le mythe national. L’histoire de France revisitée, Paris: Les Éditions de l’Atelier / Éditions Ouvrières 2008 Comtat, Emmanuelle: Les pieds-noirs et la politique. Quarante ans après le retour, Paris: Presses de la Fondation nationale des sciences politiques 2009 Coquery-Vidrovitch, Catherine: Enjeux politiques de l’histoire coloniale, Marseille: Agone 2009 Dadrian, Vahakn: Histoire du génocide arménien, Paris: Éditions Stock, 2. Auflage 1999 Delafon, Gilles: Le règne du mépris. Nicolas Sarkozy et les diplomates 2007 – 2011, Paris: éditions du Toucan 2012 Dink, Hrant: Deux peuples proches, deux voisins lointains, Arles: Actes Sud 2009 Dulong, Delphine: La construction du champ politique, Rennes: Presses universitaires de Rennes 2010 [Collection Didact Sciences politiques] Erll, Astrid: Kollektives Gedächtnis und Erinnerungskulturen, 2. Auflage, Stuttgart / Weimar: J. B. Metzler 2011 Erner, Guillaume: La société des victimes, Paris: Éditions La Découverte 2006 Eyerman, Ron: Cultural Trauma. Slavery and the Formation of African American Identity, Cambridge (UK): Cambridge University Press 2001 Fassin, Didier und Richard Rechtman: The Empire of Trauma. An inquiry into the condition of victimhood, Princeton / Oxford: Princeton University Press 2009 Frei, Norbert: Vergangenheitspolitik. Die Anfänge der Bundesrepublik und die NS-Vergangenheit, München: Beck 1996 – 1945 und wir. Das Dritte Reich im Bewusstsein der Deutschen, München: Deutscher Taschenbuch-Verlag 2009 Friedberg, Erhard: Le pouvoir et la règle. Dynamiques de l’action organisée, Deuxième édition revue et complétée, Paris: Éditions du Seuil 1997 Gaudin, Jean-Pierre: L’Action publique. Sociologie et politique, Paris: Presses de Sciences Po / Dalloz 2004 Gensburger, Sarah: Les Justes de France. Politiques publiques de la mémoire. Paris: Presses de la Fondation nationale des Sciences politiques 2010 Govciyan, Alexis: 24 avril. Témoignage sur la reconnaissance par la France du génocide arménien de 1915, Paris: le cherche midi 2003
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Chivallon, Christine: Introduction – Diaspora: ferveur académique autour d’un mot, in: dies. und William Berthomière [Hrsg.]: Les diasporas dans le monde contemporain. Un état des lieux, Paris / Pessac: Éd. Karthala und MSHA 2006, S. 15-27 Clement, Ute et al.: Einleitung: Public Governance und schwache Interessen, in: dies. et al. [Hrsg.]: Public Governance und schwache Interessen, Wiesbaden: VS Verlag für Sozialwissenschaften 2010, S. 7-26 Debouzy, Olivier: Lobbying: The French Way, in: Institut français des relations internationales (IFRI) [Hrsg.]: les notes de l’ifri n°54: Entreprises et politique étrangère. Le lobbying à Paris, Washington et Bruxelles, Paris: Ifri 2003, S. 5-23 Diaz-Bone, Rainer: Die interpretative Analytik als methodologische Position, in: Brigitte Kerchner und Silke Schneider [Hrsg.]: Foucault: Diskursanalyse der Politik. Eine Einführung, Wiesbaden: VS Verlag für Sozialwissenschaften / GWV Fachverlage GmbH 2006, S. 68-84 Donati, Paolo R.: Die Rahmenanalyse politischer Diskurse, in: Keller et al. [Hrsg.] (2011), S. 159-191 Edkins, Jenny: Remembering Relationality. Trauma Time and Politics, in: Bell [Hrsg.] (2010), S. 99-115 Erll, Astrid und Ansgar Nünning [Hrsg.]: A companion to cultural memory studies, Berlin / New York: De Gruyter 2010 Fache, Thomas: Gegenwartsbewältigungen. Dresdens Gedenken an die alliierten Luftangriffe vor und nach 1989, in: Jürg Arnold, Dietmar Süß und Malte Thießen [Hrsg.]: Luftkrieg. Erinnerungen in Deutschland und Europa, Göttigen: Wallstein 2009, S. 221-238 Faulenbach, Bernd: Zeitenwende 1989/90 – Pardigmenwechsel in der Geschichtspolitik?, in: Bouvier/Schneider [Hrsg.] (2008), S. 85-95 François, Étienne: Ist eine gesamteuropäische Erinnerungskultur vorstellbar? Eine Einleitung, in: Bernd Hennigsen, Hendriette Kliemann-Geisinger, Stefan Troebst [Hrsg.]: Transnationale Erinnerungsorte: Nord- und südeuropäische Perspektiven, Berlin, Berliner Wissenschafts-Verlag 2009, S. 13-30 — Frankreich und das Vichy-Syndrom, in: Harald Schmid und Justyna Krzymianowska [Hrsg.]: Politische Erinnerung. Geschichte und kollektive Identität (Peter Reichel zum 65. Geburtstag), Würzburg: Köngishausen & Neumann 2007, S. 185-195 — Pierre Nora und die »Lieux de mémoire«, in: Pierre Nora [Hrsg.]: Erinnerungsorte Frankreichs, München: C. H. Beck 2005, S. 7-14 — mit Hagen Schulze [Hrsg.]: Deutsche Erinnerungsorte, München: C. H. Beck 2001
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Heinrich, Horst-Alfred: Geschichtspolitische Akteure im Umgang mit der Stasi: Eine Einleitung, in: Fröhlich, Claudia und Horst-August Heinrich [Hrsg.]: Geschichtspolitik. Wer sind ihre Akteure, wer sind ihre Rezipienten? Stuttgart: Franz Steiner Verlag 2004, S. 9-32 Hettlage, Robert: Diaspora: Umrisse zu einer soziologischen Theorie, in: Platt / Dabag [Hrsg.] (1993), S. 75-105 Heyd, David: Ressentiment and Reconciliation. Alternative Responses to Historical Evil, in: Meyer [Hrsg.] (2004), S. 185-197 Hobuß, Steffi und Ulrich Lölke [Hrsg.]: Erinnern verhandeln. Kolonialismus im kollektiven Gedächtnis Afrikas und Europas, Münster: Westfälisches Dampfboot, 2. Auflage 2007 Hudemann, Rainer: Transnationale Erinnerung. Methoden – Strukturen – Faktoren, in: Majerus, Benoît, Sonja Kmec, Michel Margue und Pit Péporté [Hrsg]: Dépasser le cadre national des ›lieux de mémoire‹; innovations méthodologiques, approches comparatives, lectures transnationales, Brüssel: Lang 2009, S. 263-274 Jäger, Siegfried: Diskurs und Wissen. Theoretische und methodische Aspekte einer Kritischen Diskurs- und Dispositionsanalyse, in: Keller et al. [Hrsg.] (2011), S. 91-124 Jamin, Jérôme: Conclusion in: ders. u. Geoffrey Grandjean [Hrsg.]: La concurrence mémorielle, Paris: Armand Collin 2011, S. 197-203 Janning, Frank et al.: Diskursnetzwerkanalyse. Überlegungen zur Theoriebildung und Methodik, in: ders. et al [Hrsg.]: Politiknetzwerke. Modelle, Anwendungen und Visualisierungen, Wiesbaden: VS Verlag für Sozialwissenschaften / GWV Fachverlage 2009, S. 59-92 Jansen, Jan C.: Politics of remembrance, Colonialism an the Algerian War of independence in France, in: Pakier, Małgorzata und Bo Stråth [Hrsg.]: A European Memory? Contested Histories and Politics of Remembrance, New York (u.a.): Berghahn Books 2010, S. 275-293 Jarausch, Konrad H. und Martin Sabrow: »Meistererzählung« – zur Karriere eines Begriffs, in: dies. [Hrsg.]: Die historische Meistererzählung: Deutungslinien der deutschen Nationalgeschichte nach 1945, Göttingen: Vandenhoeck und Rupprecht 2002, S. 9-32 Jeismann, Michael: Erinnerung und Intervention. Wozu nutzt das politische Gedächtnis?, in: Martin Sabrow [Hrsg.]: Abschied von der Nation? Deutsche Geschichte und europäische Zukunft [Helmstedter Colloquien, Heft 5], Leipzig: Akademische Verlagsanstalt 2003, S. 73-82 Jung, Matthias: Diskurshistorische Analyse – eine linguistische Perspektive, in: Keller et al. [Hrsg.] (2011), S. 35-59
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Schmid, Harald: Konstruktion, Bedeutung, Macht. Zum kulturwissenschaftlichen Profil einer Analyse von Geschichtspolitik, in: Heinrich / Kohlstruck (2008), S. 75-98 Schwelling, Birgit: Politische Erinnerung. Eine akteurs- und handlungsbezogene Perspektive auf den Zusammenhang von Gedächtnis, Erinnerung und Politik, in: Heinrich / Kohlstruck (2008), S. 99-121 Shannon, Vaughn P.: Introduction: Ideational Allies – Psychology, Constructivism, and International Relations, in: ders. / Kowert [Hrsg.] (2012), S. 1-29 Skowronek, Andreas: Bloß nichts Verbindliches. Das Zusammenspiel von Ministerien und Lobbyisten, in: Thomas Leif und Rudolf Speth [Hrsg.]: Die stille Macht. Lobbyismus in Deutschland, hier zitiert nach einer pdf-Ausgabe des Westdeutschen Rundfunks: http://www.wdr.de/tv/monitor/dossiers/pdf/ leif_speth_lobbyismus.pdf , S. 375-380 Stahl, Bernhard und Sebastian Harnisch: Nationale Identitäten und Außenpolitiken: Erkenntnisse, Desiderate und neue Wege in der Diskursforschung, in: dies. [Hrsg.]: Vergleichende Außenpolitikforschung und nationale Identitäten. Die Europäische Union im Kosovo-Konflikt 1996 – 2008, Baden-Baden: Nomos 2009, S. 31-58 Stora, Benjamin: Préface: La France et »ses« guerres de mémoires, in: Blanchard/Veyrat-Masson [Hrsg.] (2008), S. 7-13 Suny, Ronald Grigor, Fatma Müge Göçek und Norman M. Naimark: A question of genocide: Armenians and Turks at the end of the Ottoman Empire, Oxford / New York: Oxford University Press 2011 Suny, Ronald Grigor und Fatma Müge Göçek: Introduction: Leaving It to the Historians, in Suny / Göçek / Naimark (2011), S. 3-11 Suny, Ronald Grigor: Writing Genocide. The Fate of the Ottoman Armenians, in: Suny / Göçek / Naimark (2011), S. 15-41 — Constructing Primordialism in Armenia and Kazakhstan: Old Histories for New Nations, in: Friedman / Kenney [Hrsg.] (2005), S. 91-110 Take, Ingo: Zwischen Lobbyismus und Aktivismus, in: Kleinfeld / Zimmer / Willems [Hrsg.] (2009), S. 196-216 Thompson, Janna: Collective Responsibility for Historical Injustices, in: Meyer [Hrsg.] (2004), S. 101-115 Ulbert, Cornelia: Konstruktivistische Analysen in der internationalen Politik. Theoretische Ansätze und methodische Herangehensweisen, in: dies. / Weller [Hrsg.] (2005), S. 9-34 Ulbert, Cornelia und Christoph Weller [Hrsg.]: Konstruktivistische Analysen der internationalen Politik, Wiesbaden: VS Verlag für Sozialwissenschaften / GWV Fachverlage GmbH 2005
346 | STRATEGIEN DES G EHÖRTWERDENS
Van der Linden, Marcel: Gegensätzliche und entkoppelte Erinnerungen: Zur Frage weltgesellschaftlicher Lerngrenzen, in: Bouvier / Schneider [Hrsg.] (2008), S. 161-165 Verdeja, Ernesto: The elements of political reconciliation, in: Keller Hirsch [Hrsg.] (2012), S. 166-181 Videlier, Philippe: French Society and the Armenian Genocide, in: Richard Hovannisian [Hrsg.]: The Armenian Genocide. Cultural and Ethical Legacies, New Brunswick / London: Transaction Publishers 2007, S. 325-333 Vowe, Gerhard: Das Spannungsfeld von Verbänden und Medien: Mehr als öffentlicher Druck und politischer Einfluss, von Winter / Willems [Hrsg.] (2007), S. 465-488 Wagner, Bernd für das Institut für Kulturpolitik der kulturpolitischen Gesellschaft e. V. [Hrsg.]: Jahrbuch für Kulturpolitik 2009. Thema: Erinnerungskulturen und Geschichtspolitik, Essen: Klartext Verlag 2009 Wehrmann, Iris: Lobbying in Deutschland – Begriff und Trends, in: Kleinfeld / Zimmer / Willems [Hrsg.] (2009), S. 27-64 Weizsäcker, Ernst Ulrich von: Zur Frage der Legitimität der NGOs im globalen Machtkonflikt. Ein einführender Beitrag, in: Achim Brunnengräber, Ansgar Klein und Heike Walk [Hrsg.]: NGOs als Legitimationsressource. Zivilgesellschaftliche Partizipationsformen im Globalisierungsprozess, Opladen: Leske und Budrich 2001, S. 23-26 Weller, Christoph: Perspektiven eines reflexiven Konstruktivismus für die Internationalen Beziehungen, in: ders./Ulbert [Hrsg.] (2005), S. 35-64 Welzer, Harald und Claudia Lenz: Opa in Europa. Erste Befunde einer vergleichenden Tradierungsforschung, in: Harald Welzer [Hrsg.]: Der Krieg der Erinnerung. Holocaust, Kollaboration und Widerstand im europäischen Gedächtnis, Frankfurt am Main: Fischer Taschenbuch-Verlag 2007, S. 7-40 Werner, Michael: Disymmetrien und symmetrische Modellbildungen in der Forschung zum Kulturtransfer, in: Hans-Jürgen Lüsebrink und Rolf Reichardt [Hrsg.]: Kulturtransfer im Epochenumbruch. Frankreich – Deutschland 1770 bis 1815, Leipzig: Leipziger Universitätsverlag 1997, S. 87-101 Winter, Thomas von und Ulrich Willems [Hrsg.]: Interessenverbände in Deutschland, Wiesbaden: VS Verlag für Sozialwissenschaften 2007, darin dies.: Interessenverbände als intermediäre Organisationen. Zum Wandel ihrer Strukturen, Funktionen, Strategien und Effekte in einer veränderten Umwelt, S. 13-50 — Die politische Repräsentation schwacher Interessen: Anmerkungen zum Stand und zu den Perspektiven der Forschung, in: dies. [Hrsg.]: Politische
L ITERATURVERZEICHNIS | 347
Repräsentation schwacher Interessen, Opladen: Leske und Budrich 2000, S. 9-38 Winter, Thomas von: Soziale Marginalität und kollektives Handeln. Bausteine einer Theorie schwacher Interessen in: Von Winter/Willems (2000), S. 39-60 Zehfuss, Maja: Remembering to Forget / Forgetting to Remember, in: Bell [Hrsg.] (2010), S. 213-230 9.2.3 Beiträge aus Zeitschriften Adamson, Fiona B. und Madeleine Demetriou: Remapping the Boundaries of ›State‹ and ›National Identity‹: Incorporating Diasporas into IR Theorizing, in: European Journal of International Relations 2007 13:489, S. 489-526 Alemann, Ulrich von und Florian Eckert: Lobbyismus als Schattenpolitik, in: Aus Politik und Zeitgeschichte 15-16/2006 vom 10.04.2006, S. 3-10 Autesserre, Séverine: Dangerous tales: Dominant narratives on the Congo and their unintended consequences, in: African Affairs 111(2012)443, S. 202-222 Burdy, Jean-Paul: La Turquie candidate et le génocide des Arméniens: entre négation nationaliste et société civile, in: Pôle Sud (2005)23, S. 77-93 Butler, Kim D.: Defining Diaspora, Refining a Discourse, in: Diaspora 10(2001)2, S. 189-219 Chaliand, Gérard: Mémoire et Modernité, in: Les Temps Modernes (1988)504505-506, S. 434-449 Dixon, Jennifer M.: Education and National Narratives: Changing Representations of the Armenian Genocide in History Textbooks in Turkey, in: The International Journal for Education Law and Policy, Sonderausgabe zu Legitimation and Stability of Political Systems: The Contribution of National Narratives (2010), S. 103-126 Dufoix, Stéphane: Historiens et mnémographes, in: Controverses 1(2006)2, S. 15-38 Fraisseix, Patrick: Le droit mémoriel, in: Revue française de droit constitutionnel 2006/3, n°67, S. 483-508 Hervieu-Léger, Benoît: Génocide arménien - Blocage sénatorial, in: Réforme N° 2872 vom 27.04.2000 Kundrus, Birthe und Henning Strotbek: »Genozid«. Grenzen und Möglichkeiten eines Forschungsbegriffs – ein Literaturbericht, in: Neue Politische Literatur 51(2006)2-3, S. 397-423
348 | STRATEGIEN DES G EHÖRTWERDENS
Kundrus, Birthe: Entscheidung für Völkermord? Einleitende Überlegungen zu einem historiographischen Problem, in: Mittelweg Nr. 36 (6/2006), S. 4-17 Lefebvre, Barbara und Shmuel Trigano: Introduction: Mémoire et État, état des lieux et perspectives, in: Controverses 1(2006)2, S. 12-14 Lindenberger, Thomas und Muriel Blaive: Zeitgeschichte und Erinnerungskonflikte in Europa, in: Aus Politik und Zeitgeschichte (2012)1-3, S. 21-27 Lüsebrink, Hans-Jürgen und Rolf Reichardt: La »Bastille« dans l’imaginaire social de la France à la fin du XVIIIe siècle (1774-1789), in: Revue d’Histoire Moderne et Contemporaine, Nr. 30, April-Juni 1983, S. 196-234 Marian, Michel: La diaspora arménienne de France et la Turquie: un regard historique, in: ders. und Christian Makarian: Les Arméniens de France
et la Turquie
La possibilité d’un dialogue ?, Note franco-turque N°5, Institut français des relations internationales [Programme Turquie contemporaine], Janvier 2011, S. 5-15 Martirosian, Tigran: Recognition oft he Armenian genocide as part of South Caucasian and Mid-Eastern politics, in: Central Asia and the Caucasus 26(2004)2, S. 164-169 Masseret, Olivier: „La France reconnaît le génocide arménien de 1915“. Loi pour la mémoire ou geste diplomatique?, in: Confluences Méditerranée (2001)39, S. 141-152 Niquège, Sylvain: Les résolutions parlementaires de l’article 34-1 de la Constitution, in: Revue française de droit constitutionnel n°84 (Oktober 2010), S. 865-890 Pekesen, Berna: Mißverstandener Druck von außen. Über Rolf Hosfelds Buch »Operation Nemesis« und die aufkeimende türkische Vergangenheitsdebatte, in: Internationale Politik Juni 2005, S. 90-94 Piepenbrink, Johannes: Editorial, in: Aus Politik und Zeitgeschichte 19/2010 vom 10.05.3020, S. 2 Ricœur, Paul: Entre mémoire et histoire, in: Projet n°248 – hiver 1996-1997, S. 7-16 Sabrow, Martin: Geschichte als Instrument: Variationen über ein schwieriges Thema, in: Aus Politik und Zeitgeschichte 63(2013)42–43, S. 3-11 Savarèse, Eric: Mobilisations politiques et posture victimaire chez les militants associatifs pieds-noirs, in: Raisons politiques 2008/2 n°30, S. 41-57 Schäfer, Bernd: Historical Justice in International Perspective: How Societies Are Trying to Right the Wrongs of the Past, Konferenzbericht der vom 27.29. März 2003 am GHI gehaltenen Konferenz, in: GHI Bulletin (2003)33, S. 92-98
L ITERATURVERZEICHNIS | 349
Schefczyk, Michael: Der Unterschied zwischen historischem Unrecht und historischem Übel, in: Journal für Generationengerechtigkeit 9(2009)1, S. 1-9 Scioldo-Zürcher, Yann: Memory and influence on the Web: French colonial repatriates from 1950 to the present, in: Social Sciene Information 51(4) 475– 501 Speth, Rudolf: Das Bezugssystem Politik – Lobby – Öffentlichkeit, in: Aus Politik und Zeitgeschichte 19/2010 vom 10.05.3020, S. 9-15 Stora, Benjamin [Interview mit BS, propos recueillis par Régis Meyran]: „L’Histoire ne sert pas à guérir les mémoires blessées“, in: BDIC / Matériaux pour l’histoire de notre temps, 2007/1, Nr. 85, S. 10-13 Ter Minassian, Anahide: Les arméniens de France, in: Les Temps Modernes (1988)504-505-506, S. 189-234 Traverso, Enzo: Gebrauchsanleitungen für die Vergangenheit. Geschichte, Erinnerung, Politik, Münster: UNRAST-Verlag 2007 Trigano, Shmuel: »ABUS de mémoire« et »concurrence des victimes« - une dépolitisation des problèmes, in : Controverses 1(2006)2, S. 39-44 Welzer, Harald: Erinnerungskultur und Zukunftsgedächtnis, in: Aus Politik und Zeitgeschichte (2010)25-26, S. 16-23 Wieviorka, Annette: L’Etat et les mémoires: Où en est-on?, Entretien avec Annette Wieviorka du 01.04.2009 in: Regards sur l’actualité no. 350, S. 79-94 Zaoui, Michel: Droit et MÉMOIRE, in: Controverses 1(2006)2, S. 45-53 [keine Namensnennung]: That controversial G-word, in: The Economist, 03.02.2001 9.2.4 Wissenschaftliche Internetbeiträge Barth, Boris: Genozid und Genozidforschung, Version: 1.0, in: DocupediaZeitgeschichte, 03.05.2011, unter www. docupedia.de/zg/Genozid_und_ Genozidforschung.pdf, Stand: 10.03.2013 Benz, Wolfgang: Unglücklicher Staatsakt - Philipp Jenningers Rede zum 50. Jahrestag der Novemberpogrome 1938, in: Deutschland Archiv Online, 04.11.2013, unter http://www.bpb.de/171555, Stand: 03.02.2014 Hardt, Lucas und Kirsten Staudt: Tagungsbericht Die Nation und ihre Rückkehrer: Die deutschen Vertriebenen und die Pieds-Noirs. 07.03.2012-09.03. 2012, Paris, in: H-Soz-u-Kult, 19.05.2012, unter http://hsozkult.geschichte. hu-berlin.de/tagungsberichte/id=4241, abgerufen am 29.05.2012 Huhle, Rainer: Vom schwierigen Umgang mit ›Verbrechen gegen die Menschheit‹ in Nürnberg und danach, Nürnberger Menschenrechtszentrum, Februar 2009, unter http://www.stiftung-evz.de/fileadmin/user_upload/EVZ_Uplads/
350 | STRATEGIEN DES G EHÖRTWERDENS
Handlungsfelder/Handeln_fuer_Menschenrechte/Menschen_Rechte_ Bilden/huhle-verbrechen_gegen_die_menschheit.pdf, Stand: 12.12.2014 Jensen, Uffa: Keine „Identität“ ohne Identitäter? Eine Sammelrezension, H-Sozu-Kult vom 19.11.2000, unter: http://hsozkult.geschichte.hu-berlin.de/rezen sio/buecher/2000/jeuf1100.html, Stand: 12.02.201 Karpinski, Franziska: Raphael Lemkin (1900-1959), Legal scholar and creator of the term „genocide“, in: Transatlantic Perspectives vom 07.03.2013 unter http://www.transatlanticperspectives.org/entry.php?rec=137, Stand: 15.08. 2013 Loew, Peter Oliver: Review of , Erinnerungsorte in Ostmitteleuropa. Erfahrungen der Vergan- genheit und Perspektiven. H-Soz-u-Kult, H-Net Reviews. February, 2008 (pdf) URL: http://www.h-net.org/reviews/showrev.php?id= 28000, abgerufen am 15.04.2012 Manceron, Gilles: Les images et l’impensé colonial en France, unter http://www. crasc-dz.org/article-868.html, Stand: 10.02.2014 Sarian, Toros: Der Völkermord an den Armeniern und die deutsche Öffentlichkeit, Tagungsbericht zur gleichnamigen Fachtagung der Heinrich-BöllStiftung am 22.09.2011, URL: http://www.armenieninfo.net/toros-sarian/ 2237-genozid-an-den-armeniern-und-die-deutsche-oeffentlichkeit.html, Stand: 19.02.13 Stanton, Gregory H.: The 8 Stages of Genocide, als pdf unter http://www. genocidewatch.org/images/8StagesBriefingpaper.pdf, Stand: 07.08.2013 Tayla, Alican: „La loi sur les génocides pousse la Turquie à se replier sur ellemême“ Interview par Armin Arefi (Le Point.fr, 28 décembre 2011) http:// www.iris-france.org/informez-vous/tribune.php?numero=299, abgerufen am 24.01.13 9.2.5 Sonstige Internetquellen / -beiträge Aznavour, Charles: Ich habe einen Traum, in: Die Zeit Nr 14/2005; online verfügbar unter http://www.zeit.de/2005/14/Traum_2fAznavour_14, Stand: 12.02.2013 — Ansprache bei einer Demonstration für ein Anti-Negationismus-Gesetz vor dem französischen Senat am 12.03.2011; unter http://www.youtube.com/ watch?v=yS-KU9ojHeA, Stand: 12.08.2013 Armenia Diaspora unter der Rubrik „Population“ die Gesamtzahl der Armenier weltweit mit etwa 10 Millionen beziffert, von denen 2,08 Millionen auf die Türkei entfielen, was auch in den Kommentaren Widerspruch erntet – vgl. http://www.armeniadiaspora.com/population.html, Stand: 29.07.13
L ITERATURVERZEICHNIS | 351
Bahcivanoglu, Talin: Erika Steinbach und der Stein der Weisheit unter http:// www.hay-society.de/haysociety/meinung-a-debatte/163-erika-steinbach-undder-stein-der-weisheit.html, Stand: 19.01.15 Beauftragter der Bundesregierung für Kultur und Medien: Sichtbares Zeichen gegen Flucht und Vertreibung. Ausstellungs-, Dokumentations- und Informationszentrum in Berlin vom 19.03.2008, als pdf abrufbar auf der Webseite der Stiftung Flucht, Vertreibung, Versöhnung unter http://www.sfvv.de/ sites/default/files/downloads/konzeption_bundesregierung_2008_sfvv.pdf, Stand: 08.02.2014 Cerciello-Bachy, Marie: Le centre du Patrimoine arménien, Veröffentlichung des Centre du Patrimoine arménien, als pdf abrufbar unter http://doc.ocim. fr/LO/LO092/LO.92(2)pp.11-16.pdf, Stand: 05.01.13 Finkielkraut, Alain: Loi Gayssot et Génocide arménien, unter http://www. dailymotion.com/video/x23uw6_finkielkraut-genocide-armenien-loi_people# .Ud15thbKBd0, Stand: 10.07.2013 Webseite des Dialog über Deutschland, www.dialog-ueber-deutschland.de, insb.Gesetz gegen die Leugnung des Völkermordes an den Armeniern und Aramäern, am 03.02.2012 um 08:12 Uhr von Norbert Voll erstellt unter https://www.dialog-ueber-deutschland.de/DE/20-Vorschlaege/10-Wie-Leben /Einzelansicht/vorschlaege_einzelansicht_node.html?cms_idIdea=2487, Stand: 12.08.2013 https://www.dialog-ueber-deutschland.de/DE/20-Vorschlaege/10-WieLeben/vorschlag_einstieg_node.html?cms_gts=476850_Dokumente% 253Dvotes#Inhalt, Stand: 06.05.13 Kanzlerin Merkel empfängt Teilnehmer des Online-Bürgerdialogs vom 04.07. 2012 unter https://www.dialog-ueber-deutschland.de/SharedDocs/Blog/DE/ 2012-07-04_Kanzlerin_trifft_TN_Online-Dialog.html, Stand: 12.09.2012 Webseite des Christlich-alevitischen Freundeskreises der CDU, Stellungnahme: Leugnung von Völkermorden muss bestraft werden vom 22.12.2011 unter http://www.cafcdu.de/index.php?ka=1&ska=4&idn=12, Stand: 19.02.13 Rat der Evangelischen Kirche Deutschlands: Erinnern um der Versöhnung willen: Erklärung zum Völkermord an den Armeniern, 21.04.2005, abrufbar unter http://www.ekd.de/presse/pm68_2005_ratserklaerung_armenier.html, Stand: 25.02.2014 Mouradian, Khatchig und Hilmar Kaiser: An interview with Hilmar Kaiser (08.03.2008) http://khatchigmouradian.blogspot.de/2008/03/interview-withhilmar-kaiser.html Stand: 01.02.2014 Salor, Audrey: Maison de l’histoire de France : le soupçon de l’identité mythifiée vom 20.03.20212 unter http://tempsreel.nouvelobs.com/election-presi
352 | STRATEGIEN DES G EHÖRTWERDENS
dentielle-2012/20120318.OBS4039/maison-de-l-histoire-de-france-le-soupco n-de-l-identite-mythifiee.html, Stand: 10.02.2014 Sarian, Toros: Erika Steinbach und der Zentralrat der Armenier in Deutschland, Blogbeitrag vom 25.09.2010 unter http://spyurk.de/toros-sarian-artikel-erikasteinbach-und-der-zentralrat-der-armenier-in-deutschland/, Stand: 19.01.15 Jansen, Jan C.: ›Memory Lobbying‹ and the Shaping of »Colonial Memories« in France (Ankündigung des gleichnamigen Vortrags bei einer Konferenz am Deutschen Historischen Institut Paris vom 07.-09.03.2012, als pdf unter http://www.dhi-paris.fr/uploads/tx_dhipevent/Pieds_noirs_programme_01. pdf, Stand: 10.02.2014 Kazimierz Wóycicki u. a. bei den Gesprächen über Polen und Deutschland (2. Teil, 31.07.2007) unter www.deutsch-polnischer-journalistenpreis.de/_files/ gesprache_de.doc, Stand: 15.01.2012 Ordukhanyan, Azat / Zentralrat der Armenier in Deutschland: Persönliche Erinnerungen an die Vergangenheit in Armenien und in der Türkei. Stellungnahme des Zentralrats zum Ausstellungsprojekt "Speaking to One Ather" unter http://www.hay-society.de/haysociety/gemeindeleben/266-deutschland-istkein-ehrlicher-makler, Stand: 12.08.2013 Steinbach, Erika: Die Türkei disqualifiziert sich selbst! – Pressemitteilung vom 19.03.2010 Nouvelles d’Arménie Magazine: www.armenews.com, insbesondere armenews / ›Stéphane‹: Appel Important à Agir : les Arméniens d’Allemagne ont besoin du Soutien de la Communauté Arménienne du Monde, Aufruf vom 20.03.2012, http://www.armenews.com/article.php3?id_article=78042, abgerufen am 12.07.12 und zuletzt am 24.01.13 (inzwischen nur noch mit Abonnement vollständig abrufbar). —Übersicht der Gedenkveranstaltungen zum 24.04.2013: http://www.armenews. com/article.php3?id_article=88712, Stand: 23.04.13 Toranian, Ara: La France a commémoré officiellement le génocide des Arméniens vom 27.04.12 unter http://www.crif.org/fr/tribune/la-france-comm% C3%A9mor%C3%A9-officiellement-le-g%C3%A9nocide-des-arm%C3%A9 niens/30939, Stand: 25.02.2014 Vignoli, Maria Elena: ICC on trial before the African Union vom 11.10.2013 unter http://beyondthehague.com/2013/10/11/icc-on-trial-before-the-african-uni on/, Stand: 07.12.2013
L ITERATURVERZEICHNIS | 353
9.3 I NTERVIEWS Num
Dt. (D) / Organisation / Funktion / Bezug zur Thematik
mer
Frz. (F)
Datum
Ort
1
D
Dr. Christoph Bergner, MdB
29.11.12
Berlin
2
D
Elvira Drobinski-Weiß, MdB
29.11.12
Berlin
3
D
Dr. Bärbel Kofler, MdB, Mitglied des Auswär- 26.02.13
Berlin
tigen Ausschusses des Bundestags 4
D
Cem Özdemir, Bundesvorsitzender der Partei
25.02.13
Berlin
Bündnis 90 / Die Grünen 5
D
Bernhard von Grünberg, MdL
20.12.12
Bonn
6
D
Repräsentant eines armenischen Verbandes in
19.12.12
Bochum
28.11.12
Berlin
Deutschland 7
D
Mitglied einer armenischen Gemeinde und engagiert in der Verbandsarbeit
8
D
Mitglied und Repräsentantin armenischer Ver- 22.02.13
Köln
bände, politisch engagiert 9
D
Expertin bzgl. des Völkermords an den Arme-
26.02.13
Berlin
29.11.12
Berlin
niern und langjährige Aktivistin für dessen Anerkennung in Deutschland 10
D
11
D
Referent im Auswärtigen Amt
Nazat Nazaretyan, Deutscher Volkshochschul- 30.10.12
Bonn
Verband e. V. 12
D
Matthias Klingenberg, Deutscher Volkshoch-
06.11.12
schul-Verband e. V.
München/ Tiflis (Skype)
13
D
Markus Meckel, ehem. MdB und Außenminis- 27.11.12
Berlin
ter a. D. 14
D
Dr. Berna Pekesen, Islamwissenschaftlerin und 20.12.12 Turkologin
Bochum
354 | STRATEGIEN DES G EHÖRTWERDENS
15
D
Dr. Rolf Hosfeld, Leiter des Lepsius-Hauses in 30.11.12
Potsdam
Potsdam 16
D
17
D
18
F
Cem Sey, Journalist / Korrespondent
27.11.12
Dr. Raffi Kantian, ehem. Chefredakteur der
01.03.13
Berlin telefo-
»Deutsch-Armenischen Korrespondenz«
nisch
Michel Diefenbacher, ehem. Abgeordneter der 08.04.13
Paris
Assemblée Nationale 19
F
François Rochebloine, Abgeordneter in der
15.05.13
Paris
Assemblée Nationale 20
F
Abgeordneter der Assemblée Nationale
21.03.13
Paris
21
F
Frz. Senatorin, Publizistin
02.04.13
Paris
22
F
Langjähriges Mitglied und Repräsentant eines
17.03.13
Paris
Dr. Michel Marian, Lehrbeauftragter an Scien- 06.03.13
Paris
großen armenischen Verbands 23
F
ces Po Paris 24
F
Ehem. Vorsitzender einer der größten armeni-
07.03.13
Paris
Diplomat im Quai d’Orsay
14.03.13
Paris
Referenten des französischen Außenministe-
15.05.13
Paris
04.03.13
Paris
schen Jugendorganisationen in Frankreich 25
F
26
F
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Dr. Gaïdz Minassian, Redakteur (Le Monde), Publizist und Lehrbeauftragter
10 Abbildungsverzeichnis
Abbildung 1
Rezeptionsfaktoren im geschichtspolitischen Feld
S. 82
Abbildung 2
Einfluss des geschichtspolitischen ›Kapitals‹ auf die Rezeptionsfaktoren
S. 84
Abbildung 3
Entwicklung der Berichterstattung – Frankreich S. 191 gesamt
Abbildung 4
Frankreich – Korpus nach Zeitungen
S. 192
Abbildung 5
Positionen zur Loi Boyer in der Tagespresse 2012
S. 193
Abbildung 6
Wiederwahlquoten der Befürworter / Gegner der Loi Boyer bei den Parlamentswahlen 2012
S. 206
Abbildung 7
Entwicklung der Berichterstattung – Deutschland gesamt
S. 240
Abbildung 8
Deutschland – Korpus nach Zeitungen
S. 241
Abbildung 9
Identitäre Argumente und korrespondierende Référentiels in Frankreich und Deutschland
S. 272
Abbildung 10
›Wirkungskreis‹ des geschichtspolitischen Felds
S. 277
Danksagung
Wie eingangs erwähnt, ist das vorliegene Buch die – vor allem formal – überarbeitete Version einer Studie, die im April 2014 an der Universität des Saarlandes als Dissertation eingereicht wurde. In diesem Zusammenhang möchte ich die Gelegenheit nutzen, einigen Menschen zu danken: Zuerst Herrn Prof. Dr. Hans-Jürgen Lüsebrink, der mein Thema angenommen, mich in dem gewählten Ansatz bestärkt, viele Anregungen geliefert und diese Arbeit mit großem Engagement betreut hat. Herr Prof. Dr. Rainer Hudemann hat mir mit seinen kritischen Fragen und vielen wertvollen Diskussionen ebenfalls sehr geholfen. Auch ihm ein herzliches Danke. Den nächsten Dank schulde ich natürlich meinen Gesprächs- und Interviewpartnern. Ich war beeindruckt von der Offenheit, mit der sie mir begegnet sind und von der Bereitschaft, sich für die Beantwortung meiner Fragen Zeit zu nehmen. Ohne sie wäre diese Arbeit in dieser Form nicht möglich gewesen. Von den Doktorandenkolloquien Herrn Lüsebrinks an der Universität des Saarlandes sowie den deutsch-französischen Kolloquien von Herrn Prof. Hudemann, Frau Prof. Dr. Hélène Miard-Delacroix und Herrn Prof. Dr. Dietmar Hüser an der Universität Paris-Sorbonne habe ich enorm profitiert. Danke an meine Kommilitonen für die ausgezeichneten Vorträge, die lebhaften Debatten und die Hinweise und Denkanstöße. Durch die zweijährige Freistellung durch meinen damaligen Arbeitgeber konnte ich mich zeitlich überhaupt erst an die Realisierung dieser Dissertation wagen. Mein besonderer Dank geht an meine frühere Vorgesetzte, Dr. Katharina Beumelburg, die mich in dem Entschluss zu promovieren bestärkt und dessen Umsetzung ermöglicht hat, und deren Ratschläge für mich sehr hilfreich gewesen sind. Zahlreiche Freunde haben sich immer wieder nach dem Fortgang der Arbeit erkundigt, haben einzelne Themen mit mir diskutiert und sich über Erfolge ge-
358 | STRATEGIEN DES G EHÖRTWERDENS
freut. Sie haben mich auch abgelenkt, wenn es mal nötig war, aufgemuntert und motivert. Ohne jetzt jeden Einzelnen aufzuzählen: Danke. Große Neugier – auf neues Wissen wie auf neue Lebenserfahrungen – bringt oft große Abenteuer mit sich, wie auch eine Dissertation eines ist. Diese sind ohne den notwendigen Rückhalt kaum zu bewältigen. Ein ganz besonderes Dankeschön daher an meine Familie und insbesondere an meine Eltern, die mich immer ermutigt haben, meinen Interessen nachzugehen und auf deren emotionale wie materielle Unterstützung ich dabei stets habe zählen können. Berlin, im April 2015 Kirsten Staudt
Edition Kulturwissenschaft Sybille Bauriedl (Hg.) Wörterbuch Klimadebatte November 2015, ca. 250 Seiten, kart., zahlr. Abb., ca. 24,99 €, ISBN 978-3-8376-3238-5
Felix Hüttemann, Kevin Liggieri (Hg.) Die Grenze »Mensch« Diskurse des Transhumanismus Februar 2016, ca. 230 Seiten, kart., ca. 29,99 €, ISBN 978-3-8376-3193-7
Thomas Kirchhoff (Hg.) Konkurrenz Historische, strukturelle und normative Perspektiven April 2015, 402 Seiten, kart., 34,99 €, ISBN 978-3-8376-2589-9
Leseproben, weitere Informationen und Bestellmöglichkeiten finden Sie unter www.transcript-verlag.de
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3) ANZ3075.p 399552097622
Edition Kulturwissenschaft Gudrun M. König, Gabriele Mentges, Michael R. Müller (Hg.) Die Wissenschaften der Mode Mai 2015, 222 Seiten, kart., 24,99 €, ISBN 978-3-8376-2200-3
Elisabeth Mixa, Sarah Miriam Pritz, Markus Tumeltshammer, Monica Greco (Hg.) Un-Wohl-Gefühle Eine Kulturanalyse gegenwärtiger Befindlichkeiten Oktober 2015, ca. 300 Seiten, kart., ca. 29,99 €, ISBN 978-3-8376-2630-8
Stephanie Wodianka (Hg.) Inflation der Mythen? Zur Vernetzung und Stabilität eines modernen Phänomens Mai 2016, ca. 220 Seiten, kart., ca. 29,99 €, ISBN 978-3-8376-3106-7
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Edition Kulturwissenschaft Kathrin Ackermann, Christopher F. Laferl (Hg.) Kitsch und Nation Zur kulturellen Modellierung eines polemischen Begriffs September 2015, ca. 230 Seiten, kart., zahlr. z.T. farb. Abb., ca. 29,99 €, ISBN 978-3-8376-2947-7
Marie-Hélène Adam, Szilvia Gellai, Julia Knifka (Hg.) Technisierte Lebenswelt Über den Prozess der Figuration von Mensch und Technik September 2015, ca. 280 Seiten, kart., ca. 29,99 €, ISBN 978-3-8376-3079-4
Gabriele Brandstetter, Bettina Brandl-Risi, Kai van Eikels Szenen des Virtuosen August 2015, ca. 328 Seiten, kart., zahlr. Abb., ca. 29,80 €, ISBN 978-3-8376-1703-0
Gabriele Brandstetter, Maren Butte, Kirsten Maar (Hg.) Topographien des Flüchtigen: Choreographie als Verfahren September 2015, ca. 340 Seiten, kart., ca. 34,99 €, ISBN 978-3-8376-2943-9
Ivan Bazak, Gordon Kampe, Katharina Ortmann (Hg.) Plätze. Dächer. Leute. Wege. Die Stadt als utopische Bühne
Werner Hennings, Uwe Horst, Jürgen Kramer Die Stadt als Bühne Macht und Herrschaft im öffentlichen Raum von Rom, Paris und London im 17. Jahrhundert
Mai 2015, 114 Seiten, kart., zahlr. Abb., 14,99 €, ISBN 978-3-8376-3197-5
September 2015, ca. 270 Seiten, kart., ca. 34,99 €, ISBN 978-3-8376-2951-4
Hanno Berger, Frédéric Döhl, Thomas Morsch (Hg.) Prekäre Genres Zur Ästhetik peripherer, apokrypher und liminaler Gattungen
Anke J. Hübel Vom Salon ins Leben Jazz, Populärkultur und die Neuerfindung des Künstlers in der frühen Avantgarde
Mai 2015, 310 Seiten, kart., zahlr. z.T. farb. Abb., 34,99 €, ISBN 978-3-8376-2930-9
September 2015, ca. 150 Seiten, kart., zahlr. Abb., ca. 24,99 €, ISBN 978-3-8376-3168-5
Andreas Bihrer, Anja Franke-Schwenk, Tine Stein (Hg.) Endlichkeit Zur Vergänglichkeit und Begrenztheit von Mensch, Natur und Gesellschaft
Wiebke Ohlendorf, André Reichart, Gunnar Schmidtchen (Hg.) Wissenschaft meets Pop Eine interdisziplinäre Annäherung an die Populärkultur
August 2015, ca. 300 Seiten, kart., ca. 29,99 €, ISBN 978-3-8376-2945-3
August 2015, ca. 200 Seiten, kart., ca. 29,99 €, ISBN 978-3-8376-3100-5
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